Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie
0309
2020
978-3-8385-5239-2
978-3-8252-5239-7
UTB
Christian Fuchs
Dieses Buch bietet eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation und die Kritik der politischen Ökonomie der Kommunikation. Es zeigt, wie Leben und Arbeit im Kapitalismus von den Menschen in gesellschaftlichen Verhältnissen durch Kommunikationsprozesse organisiert werden.
Der Autor veranschaulicht die Theoriegrundlagen des kommunikativen Materialismus. Zu diesen Grundkonzepten gehören der Materialismus, die Gesellschaft, der Kapitalismus, die Kommunikationstechnologie, die Kommunikationsgesellschaft, die politische Kommunikation, die Ideologie, der Nationalismus, die globale Kommunikation, der Imperialismus, die Gemeingüter, der Tod, die Liebe, gesellschaftliche Kämpfe und Alternativen.
Das Buch zeigt, warum die Organisation der Kommunikation als Geschäft und in der Form der Kapitalakkumulation Gefahren für die Menschen, die Demokratie, die Öffentlichkeit, die Kultur und die Wirtschaft darstellt. Es zeigt die Grenzen und Probleme des kommunikativen Kapitalismus auf und verdeutlicht Argumente für die Etablierung einer gemeingutorientierten Kommunikationsgesellschaft.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfcdjh! ISBN 978-3-8252-5239-7 Christian Fuchs Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie Dieses Buch bietet eine Einführung in die kritische Theorie der Kommunikation und die Kritik der politischen Ökonomie der Kommunikation. Es zeigt, wie Leben und Arbeit im Kapitalismus durch Kommunikationsprozesse organisiert werden. Der Autor veranschaulicht die Theoriegrundlagen des kommunikativen Materialismus. Hierzu gehören der Materialismus, die Gesellschaft, der Kapitalismus, die Kommunikationstechnologien, die Kommunikationsgesellschaft, die politische Kommunikation, die Ideologie, der Nationalismus, die globale Kommunikation, der Imperialismus, die Gemeingüter, der Tod, die Liebe, gesellschaftliche Kämpfe und Alternativen. Das Buch zeigt, warum die Organisation der Kommunikation als Geschäft Gefahren für die Menschen, die Demokratie, die Öffentlichkeit, die Kultur und die Wirtschaft darstellt. Soziologie | Kommunikationswissenschaft Philosophie | Wirtschaftswissenschaften Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie Fuchs Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52397 Fuchs_M-5239.indd 1 52397 Fuchs_M-5239.indd 1 03.02.20 11: 32 03.02.20 11: 32 <?page no="3"?> Christian Fuchs Kommunikation und Kapitalismus: Eine Kritische Theorie UVK Verlag · München <?page no="4"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. UVK Verlag ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Nymphenburger Straße 48 · 80335 München www.uvk.de © 2020 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen www.narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck UTB-Nr.: 5239 ISBN 978-3-8252-5239-7 Print ISBN 978-3-8385-5239-2 ePDF Umschlagmotiv: iStockphoto, gremlin Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / / dnb.ddb.de abrufbar. <?page no="5"?> Dieses Buch ist dem Andenken an meinen Vater Gerhard Fuchs (2.9.1948- 9.10.2018) gewidmet Keep on rockin’! <?page no="7"?> 1. 13 1.1 13 1.2. 20 1.3. 33 1.4. 36 43 2. 45 2.1. 45 2.2. 50 2.3. 60 3. 63 3.1 63 3.2. 69 3.3. 72 3.4. 80 3.5. 90 3.6. 95 4. 97 4.1. 103 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marxistische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie . . . . . . . Dialektischer, Humanistischer Marxismus und Kommunikationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anti-Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Grundlagen des Kommunikativen Materialismus . . . . . . . . . . Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Materialismus und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte . . . . . . . . . . . . . Wirtschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die moderne Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4.2. 114 4.3. 121 4.4 125 4.5. 145 147 5. 149 5.1. 149 5.2. 160 5.3. 166 5.4. 174 5.5. 192 5.6. 200 6. 203 6.1. 203 6.2. 211 6.3. 219 6.4. 226 7. 229 7.1. 229 7.2. 234 Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Die Produktion der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Kommunikation in der Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation, Erkenntnis und Information . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Teil II: Kommunikation in der Kapitalistischen Gesellschaft . . . . . . Kapitalismus und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalakkumulation und Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalismus und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation . . . . . . . Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typen der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus Technologischer Fetischismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 8 <?page no="9"?> 7.3. 243 7.4 255 8. 259 8.1. 259 8.2. 271 8.3. 284 9. 287 9.1. 287 9.2. 290 9.3. 296 9.4. 302 9.5 307 10. 309 10.1. 310 10.2. 322 10.3. 325 10.4. 333 10.5. 339 11. 341 11.1. 341 11.2. 351 11.3. 353 Indikatoren der Informationsgesellschaft: Die Messung des Informationskapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . Kapitalismus und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation in der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verdinglichung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Ideologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus, Kommunikation, Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus und Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kommunikation nationalistischer Ideologie . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Globale Kommunikation und Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globaler Raum und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalismus und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt 9 <?page no="10"?> 11.4. 374 11.5. 381 385 12. 387 12.1. 387 12.2. 390 12.3. 399 12.4. 409 13. 417 13.1. 417 13.2. 419 13.3. 428 13.4. 433 13.5. 438 13.6. 442 14. 447 14.1. 447 14.2. 453 14.3. 466 Kommunikation, Kapitalismus und Globalisierung . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Teil III: Die Materialistische Transzendenz des Kommunikativen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation als gemeinsames gesellschaftliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Kritischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod, die Liebe und die Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tod und Entfremdung: Der Tod als Endfremdung . . . . . . . . . Trauerarbeit und die Kommunikation der Trauer und des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterblichkeit und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxiskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Medien als Kritische Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt 10 <?page no="11"?> 15. 469 15.1. 469 15.2. 482 15.3. 486 15.4. 490 492 495 499 Schlussfolgerungen: Die Entwicklung einer Dialektischen, Humanistischen, Kritischen Theorie der Kommunikation und der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habermas’ Dualismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphern der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Gesellschaft als dialektisches Tanzen . Transzendenz des Kapitalismus, Transzendenz der kapitalistischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Inhalt 11 <?page no="13"?> 1. Einleitung Dieses Buch präsentiert eine Einführung in die kritische Theorie der Kom‐ munikation. Es fragt: Was ist Kommunikation? Was sind die Rollen der Kommunikation in der Gesellschaft? Wie kann die Kommunikation mit Hilfe eines materialistischen Ansatzes (kom‐ munikativer Materialismus) kritisch analysiert werden? Was sind die Rollen der Kommunikation im Kapitalismus? Welche Alternativen zur kapitalistischen Kommunikation gibt es? Danke! Über die Jahre hinweg hatte ich das Privileg, mit herausragenden Menschen zusammenzuarbeiten, wofür ich sehr dankbar bin. Dazu gehören u.a.: Ma‐ risol Sandoval, Thomas Allmer, Sebastian Sevignani, Wolfgang Hofkirchner, Dimitris Boucas, David Chandler, Eran Fisher, Pete Goodwin, Denise Rose Hansen, Anastasia Kavada, Manfred Knoche, Verena Kreilinger, Andrew Lockett, Arwid Lund, Maria Michalis, Lara Monticelli, Vincent Mosco, Yuqi Na, Jack Qiu, Daniel Trottier, Pieter Verdegem, Frank Welz. 1.1 Marxistische Theorie Zur Zeit der und in den Jahren nach der Studentenrebellionen von 1968 blühten die sozialistische Politik und die radikale Gesellschaftstheorie auf. Aktivisten und insbesondere junge Menschen suchten nach alternativen Lebensweisen und Perspektiven, die über den Kapitalismus und imperialis‐ tische Kriege hinauswiesen. Die Neue Linke war eine Bewegung für Sozia‐ lismus, die die Politik und Kultur der 1960er- und 1970er-Jahre stark beein‐ flusste. Das Lesen und die Interpretation von Marx‘ Theorie war damals ein wichtiger Teil der Universität und des Aktivismus. Der Aktivismus ver‐ suchte, Marx‘ Theorie in die Praxis umzusetzen. In den 1970er-Jahren gab es aber auch eine große Wirtschaftskrise, die zum Aufstieg der neoliberalen Politik und der Kommodifizierung von Allem <?page no="14"?> 1 Siehe David Harvey. 2007. Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich: Rotpunktver‐ lag. 2 David Harvey. 1990. The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cul‐ tural Change. Cambridge, MA: Blackwell. 3 Übersetzung aus dem Englischen: Stuart Hall & Sut Jhally. 2016. Stuart Hall: The Last Interview. Cultural Studies 30 (2): 332-345. S. 337. führte 1 . Der Thatcherismus und die Reagonomics setzten die neoliberale Theorie von Friedrich Hayek und Milton Friedman in die Praxis um und wurden zum vorherrschenden politischen Paradigma der Welt. Unter dem Einfluss des neoliberalen Kapitalismus wurde die Gesellschaft als Ganzes zu einem kapitalistischen Geschäft und die Universitäten verwandelten sich zunehmend in Wirtschaftshochschulen, die unter der Kontrolle neoliberaler Manger stehen, die Studenten als gebührenbezahlende Kunden betrachten, durch die Profit geschöpft wird, Wissen als Instrument des Kapitals ansehen und Akademiker als Maschinen zur Produktion von „Outputs“, „Impacts“ und extern finanzierten Forschungsprojekten erachten. Unter diesen Bedin‐ gungen wurde Marx‘ Theorie über Jahrzehnte hinweg als verfehlte Theorie präsentiert und Sozialismus als verfehltes Gesellschaftsmodell, das der marxistischen Theorie entspricht. Der Aufstieg neuer sozialer Bewegungen, des Individualismus, der neo‐ liberale Druck auf die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, das lange Erbe des Stalinismus, ein flexibles Akkumulationsregime, die Globalisierung sowie die Informatisierung beeinflussten die Entstehung der postmodernen und der poststrukturalistischen Theorie. David Harvey argumentiert, dass der Postmodernismus die Ideologie des Kapitalismus mit flexiblem Akku‐ mulationsregime darstellt 2 . Während die marxistische Theorie Solidarität, Klassenbeziehungen, Produktionsweisen, Wirtschaft, Materie, Arbeit, Ma‐ kro-Analyse, Totalität, Produktion und Dialektik betont, hebt die postmo‐ derne Theorie Differenz, Identität, Netzwerke, Kultur, Sprache, Mikro-Ana‐ lyse, Kontextualisierung und Spezifizität, Konsum und Artikulation hervor. Wissen und Kommunikation haben seit der Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmend wichtige Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft gehabt, was jede Gesellschaftstheorie beachten muss. In seinem letzten Interview sagte Stuart Hall, dass das Problem der verschiedenen Versionen der postmodernen Theorie darin besteht, dass „sie in ihrem Versuch, sich vom ökonomischen Reduktionismus loszulösen, vergessen haben, dass es eine Wirtschaft gibt“ 3 . Als Ergebnis davon hat die postmoderne Theorie eine antimarxistische Aus‐ richtung. 14 1. Einleitung 14 <?page no="15"?> 4 Siehe Christian Fuchs. 2017. Marx lesen im Informationszeitalter. Münster: Unrast. Christian Fuchs. 2019. Rereading Marx in the Age of Digital Capitalism. 2019. London: Pluto Press. Christian Fuchs. 2020. Marxism: Karl Marx’s Fifteen Key Concepts for Cul‐ tural and Communication Studies. New York: Routledge. 5 Terry Eagleton. 2018. Warum Marx recht hat. Berlin: Ullstein. 2. Auflage. Im Jahr 2008 begann eine neue Weltwirtschaftskrise. Es wurde mit einem Schlag klar, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte darstellt. Die Konsequenz davon war ein erneutes Interesse an Marx’ Theorie und an der sozialistischen Politik. Immer mehr Menschen wurden davon überzeugt, dass uns Marx’ Theorie etwas Wichtiges über die heutige Gesellschaft sagt. Marx war nicht nur ein Theoretiker des Kapitalismus, sondern auch ein kri‐ tischer Theoretiker der Kommunikation und der Technik 4 . Marx’ Denken ist daher ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für eine zeitgenössische kritische Theorie der Kommunikation und der Kommunikationstechnologie. Eine marxistische Theorie der Kommunikation möchte zeigen, wie kapitalisti‐ sche Kommunikationssysteme arbeiten und welche Antagonismen sie auf‐ weisen. Sie möchte außerdem Praxisformen informieren, die über kapita‐ listische Kommunikationssysteme zur sozialistischen Kommunikation hinausweisen. Dieses Buch ist ein Beitrag zu derartigen Theoriegrundlagen. Stalinistische Versionen der marxistischen Theorie haben tatsächlich Herrschaft gerechtfertigt und sind deterministisch, ökonomisch reduktio‐ nistisch, antihumanistisch und antidemokratisch. Solche Interpretationen haben jedoch nichts mit Marx und seiner Theorie zu tun. Vorurteile gegen Marx bauen auf derartigen Missverständnissen auf 5 . Marx’ Theorie ist eine radikale Kritik jeder Form der Ausbeutung und der Herrschaft, sie befördert eine Dialektik von Notwendigkeit und Zufall, eine Dialektik der Wirtschaft und des Nichtwirtschaftlichen sowie den sozialistischen Humanismus. Sie versteht den Sozialismus als wahre und vollständige Demokratie. Der diesem Buch zugrundeliegende Ansatz In den letzten zwanzig Jahren habe ich an der Analyse des Kapitalismus und der Kommunikation gearbeitet. Diese Arbeit hat zu einer signifikanten Anzahl von Publikationen, Studien und Projekten geführt, die mit spezifi‐ schen Problemen und Themen zu tun hatten. Ich habe kritische Theorie, empirische Forschung und Ethik in diesen Studien verwendet. Ein gemein‐ sames Merkmal all dieser Arbeiten ist mein Interesse an der kritischen Ge‐ 15 1.1 Marxistische Theorie 15 <?page no="16"?> 6 Siehe Ilya Prigogine and Isabelle Stengers. 1984/ 2017. Order Out of Chaos: Man’s New Dialogue With Nature. London: Verso. sellschaftstheorie, die Karl Marx‘ Arbeiten und sozialistische Politik als ihren Ausgangspunkt nimmt. Man kann die Kommunikation nicht richtig analysieren, ohne zugleich eine tiefgreifende Analyse der Gesellschaft als Totalität durchzuführen. Die Analyse der Kommunikation und der Gesellschaft interagieren daher not‐ wendigerweise in einer kritischen Theorie der Kommunikation. Bei den meisten in der Kommunikationswissenschaft (sowie in den meisten oder sogar allen anderen wissenschaftlichen Feldern, sogar in der Philosophie) durchgeführten Analysen handelt es sich um Mikrostudien, die sich mit Einzelphänomenen in einzelnen Kontexten auseinandersetzen. Die marxis‐ tische Theorie ist eine kritische, interdisziplinäre Analyse des Kapitalismus als Totalität. Es handelt sich um eine wahre Form der Interdisziplinarität. Sie beruht auf einer Dialektik allgemeiner und der konkreter Analyseebe‐ nen. Sie ist zugleich universell und spezifisch. Die marxistische Theorie hat einen konstanten Einfluss auf meine Arbeit ausgeübt und ist daher ein allgegenwärtiger Aspekt meiner Forschung. Die konkreten Manifestationen dieses Interesses haben sich über die Jahre hin‐ weg verändert. In früheren Arbeiten habe ich oft versucht, marxistische Theorie und die Hegelsche Dialektik mit der Komplexitäts- und Selbstorga‐ nisationstheorie zu kombinieren. Die Komplexitätstheorie ist eine Form der Systemtheorie, die analysiert, wie Ordnung aus Unordnung entsteht 6 . Solche Systeme werden auch als selbstorganisierende Systeme bezeichnet, da sie als komplexe, dynamische Systeme aus sich selbst heraus Veränderungen produzieren. Später verlor ich das Interesse an der Komplexitätstheorie, da sie zu strukturalistisch ist und in den Arbeiten von Leuten wie Luhmann und Hayek eine Theorieform annimmt, die den Neoliberalismus ideologisch rechtfertigt. Es ist möglich, die Kategorien der Komplexitätstheorie - wie Selbstorganisation, Bifurkation, Chaos, Ordnung aus Unordnung, usw. - in Kategorien der Dialektik zu übersetzen und sie mit einer kritischen Gesell‐ schaftstheorie zu kombinieren. In den Jahren von 1998 bis 2008 widmete ich dieser Aufgabe sehr viel Denkarbeit, was zu einer signifikanten Anzahl an Publikationen führte (die meistens den Begriff „Selbstorganisation“ im Titel tragen). 16 1. Einleitung 16 <?page no="17"?> 7 Christian Fuchs. 2003. The Self-Organization of Matter. Nature, Society, and Thought 16 (3): 281-313. 8 Christian Fuchs. 2008. Internet and Society: Social Theory in the Information Age. New York: Routledge. Kapitel 2 & 3. In einer kritischen Phase ist der Zustand eines komplexen, selbstorgani‐ sierenden Systems unvorherbestimmt. Die Teile des Systems wirken dann so zusammen, dass etwas Neues entsteht, das mehr ist als die Summe der Teile des Systems. Dieser Prozess wird auch als Emergenz bezeichnet. Es gibt bestimmte philosophische Parallellen zwischen dem Emergenzbegriff und dem dialektischen Konzept der Aufhebung 7 . Aufhebung hat eine drei‐ fache Bedeutung: Eliminierung, Bewahrung und Hochheben. In einem kri‐ tischen Punkt (der in der Komplexitätstheorie auch als Bifurkationspunkt bezeichnet wird), emergiert eine neue Qualität eines Systems oder ein neues System. Dadurch werden bestimmte alte Qualitäten eliminiert, andere alte Qualitäten bewahrt und neue Qualitäten entstehen auf einer neuen Orga‐ nisationsstufe. Die Möglichkeit der Kombination der dialektischen Philosophie mit der Komplexitätstheorie kann aber nicht dem Umstand ungeschehen machen, dass evolutionäre Ökonomen und andere bürgerliche Denker (wie Friedrich Hayek oder Niklas Luhmann) Begriffen wie der Selbstorganisation bour‐ geoise Bedeutungen gegeben haben 8 . Wird argumentiert, dass wir in einer sich selbstorganisierenden Marktwirtschaft leben, so klingt dies nach einer Welt, in der alles gut läuft und es keine sozialen Probleme gibt. Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen der Informationsgesellschaft und der Netz‐ werkgesellschaft. Marxisten argumentieren im Gegensatz dazu, dass wir in einem antagonistischen kapitalistischen System leben, das wegen seines widersprüchlichen Charakters immanent krisenanfällig ist. Dieser Ansatz ist kritisch, da die Existenz von Problemen bereits durch die Negativität von Kategorien wie dem Kapitalismus angedeutet wird. Ich bin also zur Überzeugung gelangt, dass eine Aktualisierung von Marx‘ Theorie und Hegels Philosophie im 21. Jahrhundert ein fruchtbarer Ansatz für die kritische Theorie ist, der sich nicht Erklärungen bei der Komplexi‐ tätstheorie ausborgen muss, um konsistent und erklärungsstark zu sein. Der hegelianische Marxismus hat eine reichhaltige und vielfältige Tradition und Geschichte, die heute oft vergessen wird, aber einen ungeheuren intellek‐ tuellen und politischen Reichtum bietet, aus dem die kritische Theorie des 21. Jahrhunderts ihre Grundlagen schöpfen kann. 17 1.1 Marxistische Theorie 17 <?page no="18"?> Die reichhaltige Tradition der marxistischen Theorie ist ein wichtiger Fundus für die kritische Analyse der Gesellschaft, der Kommunikation und der Kultur. Die neoliberale Wende und die postmoderne Wende führten dazu, dass viele marxistische Ansätze zur Analyse der Gesellschaft, der Kommunikation und der Kultur heute vergessen sind. Mein Ansatz baut auf Marx und auf Theorien, die von Marx inspiriert sind, auf, um eine marxis‐ tische Theorie der Kommunikation grundzulegen. Ich interessiere mich im vorliegenden Buch weniger für Theorien, die die kapitalistische Gesellschaft rechtfertigen oder diese nicht kritisieren. Der‐ artige Theorien dominieren die Wissenschaftslandschaft. „Bürgerliche“ Theorien sollten natürlich gelesen und kritisiert werden. Die Auseinander‐ setzung mit ihnen kann aber auch dazu führen, dass unsere ohnehin be‐ grenzt verfügbare Zeit nicht genug dafür benutzt werden kann, dass wir unsere eigenen, kritischen Theorien schaffen und unsere eigenen kritischen Analysen der Gesellschaft durchführen. Indem ich mich über die Jahre hinweg mit einer Vielzahl konkreter ge‐ sellschaftlicher Analysen der Gesellschaft und der Kommunikation ausein‐ andergesetzt habe, habe ich eine Reihe theoretischer Erkenntnisse produ‐ ziert. Diese Einsichten, Konzepte und Analysen waren niemals statisch, sondern haben sich entwickelt. Die kritische Theorie ist selbst dialektisch. Durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen kritischen und bourgeoi‐ sen Theorien und die Ausarbeitung von Analysen eines Spektrums gesell‐ schaftlicher Phänomene (wie zum Beispiel Privatsphäre, Überwachung, di‐ gitale Arbeit, soziale Medien, Internet, Autoritarismus, Nationalismus, Protest, Werbung, Globalisierung, Imperialismus, Natur, Nachhaltigkeit, Partizipation, Demokratie, Öffentlichkeit, Kultur, Gemeinschaft, usw.), habe ich an verschiedenen Plätzen und in meinem Denken einige Elemente einer kritischen, dialektischen Theorie des Kapitalismus und der Kommunikation ausgearbeitet. Die Dialektik ist eine Logik, die die Reduktion der Welt auf Einzelphäno‐ mene und die entweder/ oder Logik, die oft in vereinfachenden Analysen verwendet wird, verweigert. Sie benutzt die Logik des sowohl/ als auch und analysiert die Welt als offene, dynamische Totalität, die aus einem Netzwerk von Widersprüchen besteht. In einem Widerspruch existiert ein Moment als ein individuelles Phänomen, das seine eigenen Qualitäten hat und zugleich nur durch ein anderes Moment existiert. Bei beiden Momenten eines dia‐ lektischen Verhältnisses sind voneinander abhängig und unabhängig. Sie greifen auch ineinander über. Eine Dialektik ist ein dynamisches, wider‐ 18 1. Einleitung 18 <?page no="19"?> sprüchliches Verhältnis. Wird ein dialektisches Verhältnis aufgehoben, so bricht sein Widerspruch zusammen und ein neues Phänomen emergiert, das wiederum auf einer dialektischen Beziehung basiert. Im Kapitalismus ist der Klassenantagonismus zwischen der kapitalisti‐ schen Klasse und der Arbeiterklasse ein Beispiel der gesellschaftlichen Dia‐ lektik: Die Arbeitenden sind dazu gezwungen, Waren zu produzieren, die den Kapitalisten gehören und die diese verkaufen, um Profit zu erzielen. Die Arbeiterschaft kann im Kapitalismus nicht überleben, ohne von der Kapi‐ talistenklasse ausgebeutet zu werden. Das Kapital kann nicht ohne Arbeit existieren, die Waren und Profit produziert. Wird der kapitalistische Klas‐ senantagonismus aufgehoben, so bedeutet dies, dass eine klassenlose Orga‐ nisation der Arbeit und der Gesellschaft etabliert wird. So ist zum Beispiel in einem selbstverwalteten Betrieb, der sich im kollektiven Besitz und in der kollektiven Kontrolle der Arbeiterschaft befindet, der Klassenantagonismus aufgehoben. Im vorliegenden Buch wird die Dialektik auf Kommunikation und Kapi‐ talismus angewendet. Die Struktur des vorliegenden Buches Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einige Grundlagen einer kritischen Theorie der Kommunikation und des Kapitalismus zu präsentieren. Jedes Kapitel setzt sich mit einem grundlegenden Thema einer kritischen Theorie der Kommunikation auseinander und setzt den Kommunikationsbegriff in Bezug auf das jeweilige Thema. Es geht der Reihe nach im vorliegenden Buch um den Materialismus (Kapitel 2), die materialistische Analyse der Gesell‐ schaft (Kapitel 3), Kommunikation und Gesellschaft (Kapitel 4), Kapitalismus und Kommunikation (Kapitel 5), Kommunikationstechnologien (Kapitel 6), die Kommunikationsgesellschaft (Kapitel 7), politische Kommunikation in der Öffentlichkeit (Kapitel 8), Ideologie (Kapitel 9), Nationalismus (Kapitel 10), globale Kommunikation und Imperialismus (Kapitel 11), die Gemein‐ güter (Kapitel 12), Tod und Liebe (Kapitel 13) sowie gesellschaftliche Kämpfe um Alternativen (Kapitel 14). Die Kapitel dieses Buches sind in drei Abschnitte gegliedert: In Teil I geht es um die Grundlagen des kommunikativen Materialismus (Kapitel 2, 3, 4), in Teil II um Kommunikation in der kapitalistischen Gesellschaft (Kapitel 5-11) und in Teil III um materialistische Transzendenz des kommunikativen Kapitalismus (Kapitel 12, 13, 14). Während in Teil I die Grundlagen der all‐ 19 1.1 Marxistische Theorie 19 <?page no="20"?> 9 Übersetzung aus dem Englischen: Peter Golding, and Graham Murdock. 1978. Theories of Communication and Theories of Society. Communication Research 5 (3): 339-356. S. 346. 10 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 350. gemeinen materialistischen Analyse der Welt und der Gesellschaft analy‐ siert werden, werden diese Grundlagen in Teil II weiterentwickelt, um eine immanente Kritik der Kommunikation im Kapitalismus und des Kapitalis‐ mus auszuarbeiten. Immanenz und Transzendenz stehen in einer Dialektik. Die immanente Kritik braucht die transzendente Kritik, also das Nachden‐ ken über und den Kampf für die Alternativen jenseits der Herrschaft. Dazu bedarf es alternativen Gesellschaftsentwürfen, politischer Praxis, Klassen‐ kämpfen, Ethik und Metaphysik (Metaphysik verstanden als die Lehre des Trans-Empirischen). Teil III setzt sich mit transzendentalen Aspekten des kommunikativen Materialismus auseinander, wozu die Gesellschaft der Ge‐ meingüter, metaphysische Überlegungen zu Tod und Liebe sowie gesell‐ schaftliche Kämpfe für Alternativen gehören. Ich bin auf Ideen von früheren Arbeiten zurückgegangen, habe diese neu betrachtet und aktualisiert. Dabei habe ich die Analyse auf die Gesellschaft als Totalität konzentriert. Bei der Durcharbeitung von theoretischen Momenten sind neue theoretische Momente entstanden, während ältere Momente kontextualisiert und aktualisiert oder revidiert wurden. 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie Das vorliegende Buch ist sowohl ein Beitrag zur Gesellschafstheorie als auch zur Kommunikationstheorie. Peter Golding und Graham Murdock zeigen, dass der Mainstream der Kommunikationstheorie historisch betrachtet idea‐ listisch und positivistisch war und ist. Dieser Mainstream hat die Annahme befördert, dass Gesellschaftsprobleme „ein Kommunikationsproblem“ sind, wodurch sie „die Schlüsselprobleme der Macht und der Ungleichheit in strukturellen Beziehungen, ohne die die Gesellschaftstheorie unfruchtbar ist, aus der Analyse entfernt“ 9 . Derartige Ansätze haben Kommunikations‐ systeme oft als die entscheidende Determinante der Gesellschaft verstanden, wodurch „die gesellschaftlichen Kontexte der Produktion und Rezeption und die Beziehungen zu den zentralen Institutionen und Prozessen der Klassen‐ gesellschaften“ 10 missachtet werden. 20 1. Einleitung 20 <?page no="21"?> 11 Übersetzung aus dem Englischen: Peter Golding. 2018. New Technologies, Old Questi‐ ons: The Enduring Issues of Communications Research. Javnost - The Public 25 (1-2): 202-209. S. 208. Eine dialektische, kritische Theorie der Kommunikation kann nicht ein‐ fach eine Theorie der Kommunikation sein, sondern muss zugleich eine dia‐ lektische, kritische Theorie der Gesellschaft sein. Sie muss verstehen, wie die Antagonismen der Klasse und der Herrschaft mit Kommunikationsproz‐ essen interagieren. Eine derartige Theorie ist daher eine kritische Gesell‐ schaftstheorie der Kommunikation und eine kritische Kommunikationsthe‐ orie der Gesellschaft. Es handelt sich also um einen Ansatz, der die Dialektiken der Kommunikation und der Gesellschaft im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Antagonismen analysiert. Eine derartige Theorie muss sich mit Kommunikation im Kontext gesellschaftlicher Antagonismen und im Kontext von Klasse, Herrschaft, Ausbeutung, Machtstrukturen, Pro‐ duktion, Arbeit, Kapital, Ideologie, Staat, Gewalt, Krieg, Imperialismus, in‐ ternationalem und globalem Kapitalismus, Autoritarismus, Patriarchat, Fa‐ schismus, Ungleichheit, Krisen, gesellschaftlichen Kämpfen, sozialen Bewegungen, Öffentlichkeit und des Strebens nach Sozialismus auseinan‐ dersetzen. Um Kommunikation zu verstehen, müssen wir die „große Erzäh‐ lung“ der Gesellschaft verstehen 11 . Drei Marxistische Theorieansätze Drei intellektuelle Traditionen haben das vorliegende Buch stark beein‐ flusst: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, der Humanistische Marxismus und die Kritische Politische Ökonomie der Kommunikation. Der Humanistische Marxismus betont die Rolle der Menschen in der Gesell‐ schaft, die Rolle der Entfremdung in Klassengesellschaft und die Rolle der Praxis im Kampf für eine gerechte Welt. Die Frankfurter Schule ergänzt die‐ sen Ansatz dadurch, dass sie der Ideologiekritik besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Marxistische Politische Ökonomie der Kommunikation ist ein Ansatz, der im Feld der Medien- und Kommunikationswissenschaft ent‐ standen ist. Er analysiert die Verhältnisse zwischen Kommunikation einer‐ seits und Klasse, Kapitalismus, Herrschaft und gesellschaftlichen Kämpfen andererseits. Diese drei Traditionen beruhen auf Marx‘ Theorie. Der in die‐ sem Buch verwendete Ansatz ist von Elementen dieser drei marxistischen Traditionen beeinflusst worden. 21 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 21 <?page no="22"?> Was ist Humanistischer Sozialismus? Worum handelt es sich aber beim humanistischen Sozialismus? Es ist ein Ansatz, der auf einigen grundlegenden ontologischen, epistemologischen und axiologischen Prinzipien beruht: Ontologie: ■ Die Gesellschaft beruht auf menschlichen Praktiken und der gesell‐ schaftlichen Produktion. ■ Eine menschengerechte Gesellschaft kann nur durch die Menschen selbst in der politischen Praxis erkämpft werden. ■ Kapitalismus, Klasse und Herrschaft konstituieren eine Form der menschlichen Entfremdung, wodurch eine Differenz zwischen dem, wie das gesellschaftliche Leben aussieht und wie es potenziell ausse‐ hen kann, entsteht. Epistemologie: ■ Marx’ Frühschriften, insbesondere die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte, sind wichtige intellektuelle Grundlagen des humanisti‐ schen Marxismus. ■ Es gibt keinen epistemologischen Bruch in Marx‘ Arbeiten, der ihm vom Humanismus weggelenkt hat. Marx‘ spätere Arbeiten wurden von den allgemeinen Prinzipien geleitet, die er in seinen früheren Ar‐ beiten formulierte. ■ Der Humanismus benötigt offene Formen der Theorie, Dialektik und Praxis. Formen der Orthodoxie wie der Stalinismus verwandeln den Sozialismus in eine dogmatische, deterministische, mechanistische, reduktionistische und quasi-religiöse Praktik. Axiologie: ■ Da die Gesellschaft auf der menschlichen Praxis und der gesellschaft‐ lichen Produktion beruht, sollten die Menschen die Bedingungen und Resultate ihrer Aktivitäten kollektiv kontrollieren. ■ Der demokratische Sozialismus ist die dem Menschen entsprechende Gesellschaft. Er ist nicht auf die Politik beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die kollektive Selbstverwaltung der Wirtschaft und der 22 1. Einleitung 22 <?page no="23"?> 12 Theodor W. Adorno. 1957. Soziologie und empirische Forschung. In Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften I, 196-216. Frankfurt am Main, Suhrkamp. S. 196. Gesellschaft. Der demokratische Sozialismus ist die Grundlage für die volle Realisierung der Potentiale der Menschen und der Gesellschaft. Die Kritische Theorie Die auf Marx aufbauenden Theorien sind kritische Theorien, da sie Klasse, Ausbeutung und Herrschaft analysieren, um zu deren Aufhebung beizutra‐ gen. Unter der Kritischen Theorie wird aber auch der Ansatz der Frankfurter Schule verstanden. Das Institut für Sozialforschung wurde 1923 an der Goe‐ the-Universität Frankfurt gegründet. 1930 wurde Max Horkheimer Instituts‐ direktor. Er arbeitete gemeinsam mit Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Erich Fromm, Otto Kirchheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Franz Neumann und Friedrich Pollock an einer interdisziplinären, kritischen Ge‐ sellschaftstheorie. Nach der Machtübernahme durch Hitler und der Nazis im Jahr 1933 mussten die Mitglieder des Instituts, die Marxisten waren und jü‐ dischen Familienhintergrund hatten, in die USA fliehen, wo sie das Institut im Exil weiterbetrieben und die Zeitschrift für Sozialforschung herausgaben. 1950 wurde das Institut an der Universität Frankfurt wiedereingerichtet. Während Horkheimer, Adorno und Pollock nach Deutschland zurückkehr‐ ten, blieben Marcuse, Neumann, Löwenthal und Kirchheimer in den USA. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule ist eine Kritik der instru‐ mentellen Vernunft. Unter instrumenteller Vernunft ist eine Logik zu ver‐ stehen, die den Menschen als Instrument für Herrschaftszwecke sieht. Sie entmenschlicht den Menschen und reduziert ihn auf den Status eines Dings und einer Maschine. Technologische Rationalität ist daher ein anderer Be‐ griff für die instrumenteller Vernunft. Marx‘ Konzept des Warenfetischismus und Georg Lukács‘ Begriff der Verdinglichung haben einen großen Einfluss auf die Frankfurter Schule gehabt. Die kritische Theorie möchte aufdecken, wie die verborgenen und verdeckten Mechanismen der Herrschaft und der Ausbeutung operieren. Sie „will benennen, was insgeheim das Getriebe zu‐ sammenhält. […] Sie möchte den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet“ 12 . Die Kritik der instrumentellen Vernunft der Kritischen Theorie operiert auf mehreren Ebenen: 23 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 23 <?page no="24"?> 13 Friedrich Engels. 1878. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In MEW Band 20, 1-303. Berlin: Dietz. S. 139. ■ Die Kritische Theorie analysiert, wie die Menschen im Kapitalismus und in Klassengesellschaften im Allgemeinen durch Ausbeutung ver‐ dinglicht werden. ■ Die Kritische Theorie analysiert autoritäre Charakter- und Gesell‐ schaftsstrukturen. ■ Die Kritische Theorie analysiert den Faschismus als die extremste Form der instrumentellen Vernunft und des Kapitalismus. ■ Die Kritische Theorie analysiert die Instrumentalisierung des mensch‐ lichen Bewusstseins als Ideologie und falsches Bewusstsein. ■ Die Kritische Theorie kritisiert pervertierte, dogmatische Formen des Marxismus wie den Stalinismus als Formen der instrumentellen Ver‐ nunft. ■ Die Theoretiker der Frankfurter Schule setzten der instrumentellen Vernunft die Logik der kritischen, dialektischen Vernunft entgegen. Kritische Politische Ökonomie der Kommunikation Marx’ Hauptwerk Das Kapital trägt den Untertitel „Kritik der politischen Ökonomie“. Es handelt sich um eine Kritik des Kapitalismus, eine Kritik der Klassengesellschaften und eine Kritik der Intellektuellen, die den Kapitalis‐ mus auf unkritische Weise analysiert haben. Friedrich Engels hat darauf hingewiesen, dass die politische Ökonomie eine Analyse der „Bedingungen und Formen, unter denen die verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht und unter denen sich demgemäß jedesmal die Produkte verteilt haben“ 13 , ist. Marx lernte viel vom Studium der Arbeiten der klassischen politischen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts. Dazu gehörten zum Beispiel die Werke von Adam Smith, David Ricardo, James Steuart, Jean-Baptiste Say oder John Stuart Mill. Zugleich sind Marx’ Ar‐ beiten eine Kritik der klassischen politischen Ökonomie, die den Kapitalis‐ mus und die Klassengesellschaften oft als natürliche Gesellschaftsformen verdinglicht. Marx‘ Ansatz ist eine kritische Analyse der Produktion, Ver‐ teilung und des Konsums der Waren in der kapitalistischen Gesellschaft so‐ wie der historischen Entwicklung und Widersprüche des Kapitalismus und den in dieser Gesellschaft stattfindenden Kämpfen. 24 1. Einleitung 24 <?page no="25"?> 14 Übersetzung aus dem Englischen: Vincent Mosco. 2009. The Political Economy of Com‐ munication. London: Sage. 2. Auflage. S. 24. 15 Übersetzung aus dem Englischen: Graham Murdock und Peter Golding. 2005 Culture, Communications and Political Economy. In Mass Media and Society, hrsg. James Curran and Michael Gurevitch, 60-83. London: Hodder Arnold. S. 61. 16 Für eine kurze Geschichte dieser Sektion siehe: Janet Wasko. 2013. The IAMCR Political Economy Section: A Retrospective. The Political Economy of Communication 1 (1): 4-8. 17 Siehe zum Überblick: Mosco, The Political Economy of Communication. Peter Golding and Graham Murdock, Hrsg. 1997. The Political Economy of the Media I & II. Cheltenham: Edward Elgar. Janet Wasko, Graham Murdock & Helena Sousa, Hrsg. 2011. The Hand‐ book of Political Economy of Communications. Malden, MA: Wiley-Blackwell. Christian Fuchs & Vincent Mosco, Hrsg. 2017. Marx and the Political Economy of the Media. Chi‐ cago, IL: Haymarket Books. Christian Fuchs & Vincent Mosco, Hrsg. 2017. Marx in the Age of Digital Capitalism. Chicago, IL: Haymarket Books. Janet Wasko. 2014. The Study of the Political Economy of the Media in the Twenty-First Century. International Journal of Media & Cultural Politics 10 (3): 259-271. Jonathan Hardy. 2014. Critical Political Eco‐ nomy of the Media. An Introduction. Abingdon: Routledge. Paula Chakravarrty & Yuezhi Zhao, Hrsg. 2008. Global Communications: Toward a Transcultural Political Economy. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. Dwayne Winseck & Dal Yong Jin, Hrsg. 2011. The Political Economies of Media. London: Bloomsbury Academic. Benjamin J. Birkinbine, Rodrigo Gómez & Janet Wasko, Hrsg. 2017. Global Media Giants. New York: Routledge. Vincent Mosco versteht die Politische Ökonomie der Kommunikation als „das Studium der gesellschaftlichen Beziehungen, insbesondere der Macht‐ verhältnisse, die die Produktion, die Distribution und den Konsum von Ressourcen wechselseitig konstituieren, wozu auch die Kommunikations‐ mittel zählen“ 14 . Es gibt verschiedene Traditionen der politischen Ökonomie der Kommunikation wie etwa den marxistischen, den (neo-)keynesiani‐ schen, den neoklassischen oder den institutionenökonomischen Ansatz. Insgesamt ist die Politische Ökonomie der Kommunikation aber „weitge‐ hend marxistisch“ 15 . Die Politische Ökonomie der Kommunikation ist in der 1978 gegründeten Sektion für Politische Ökonomie innerhalb der Interna‐ tional Association for Media and Communication Research (IAMCR) 16 , im universitären Lehrbetrieb, in der Literatur 17 , durch Studien sowie durch Zeitschriften wie tripleC: Communication, Captialism & Critique (http: / / ww w.triple-c.at) und The Political Economy of Communication (http: / / www.pole com.org) institutionalisiert worden. Typologien der Kommunikationstheorie Eine kritische, marxistische Theorie der Kommunikation kann durch eine Diskussion von Typologien der Kommunikationstheorie im Feld der Kom‐ 25 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 25 <?page no="26"?> 18 Armand Mattelart & Michèle Mattelart. 1998. Theories of Communication: A Short Int‐ roduction. London: Sage. 19 Hanno Hardt. 1992. Critical Communication Studies: Communication, History and Theory in America. Abingdon: Routledge. Hanno Hardt. 2001. Social Theories of the Press. Con‐ stituents of Communication Research, 1840s to 1920s. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. Paddy Scannell. 2007. Media and Communication. London: Sage. Everett Rogers. 1994. A History of Communication Study: A Biographical Approach. New York: The Free Press. Dan Schiller. 1996. Theorizing Communication: A History. New York: Oxford University Press. 20 Vgl. Peter Simonson & David W. Park, Hrsg. 2016. The International History of Commu‐ nication Study. New York: Routledge. munikationswissenschaft verortet werden. Es gibt sowohl historische und logische Typologien der Kommunikationstheorien. Die ersten geben einen historischen Theorieüberblick, die zweiten präsentieren logische Unter‐ scheidungen von Kommunikationstheorien. Armand Mattelart und Michèle Mattelart 18 geben einen historischen Überblick über einige Theorien der Kommunikation. Sie argumentieren, dass im 19. Jahrhundert die Gesellschaft als Organismus angesehen wurde und Kommunikationssysteme als Netzwerke für den physischen Transport von Waren und als die Entstehung der Massenkommunikation. Im frühen 20. Jahrhundert entstanden die empiristische und funktionalistische Kom‐ munikationsforschung. Zu weiteren Entwicklungen der Kommunikations‐ theorie im 20. Jahrhundert, die Armand und Michèle Mattelart diskutieren, gehören die Informationstheorie (mathematische Theorie der Kommunika‐ tion, Kybernetik), die Kritische Theorie, der Strukturalismus, die Cultural Studies, die politische Ökonomie der Kommunikation, intersubjektive Kom‐ munikationstheorien, Netzwerktheorien, Theorien der Informationsgesell‐ schaft sowie Theorien der Globalisierung und der globalen Medien. Andere historische Studien der Kommunikationstheorie und der Kom‐ munikationswissenschaft wurden zum Beispiel von Hanno Hardt, Everett Rogers, Paddy Scannell oder Dan Schiller 19 veröffentlicht. Eine sehr wichtige Aufgabe ist die Dokumentation der Geschichte der Kommunikationswis‐ senschaft auf der internationalen Ebene und in nichtwestlichen Gesellschaf‐ ten 20 . Die wichtigste Einsicht, die man aus solchen historischen Studien zie‐ hen kann, ist, dass es die marxistische Kommunikationswissenschaft in einem akademischen Feld, das von traditionellen, instrumentellen Ansätzen dominiert worden ist, schwer gehabt hat, sodass ihre Vertreter und Vertre‐ terinnen immer wieder mit Diskriminierungen und kontinuierlichen Ver‐ 26 1. Einleitung 26 <?page no="27"?> 21 Vgl. John A. Lent, Hrsg. 1995. A Different Road Taken: Profiles in Critical Communica‐ tion. Boulder, CO: Westview Press. John John A. & Michelle A. Amazeen, Hrsg. 2015. Key Thinkers in Critical Communication Scholarship. From the Pioneers to the Next Ge‐ neration. Basingstoke: Palgrave Macmillan. 22 Diana Iulia Nastasia & Lana F. Rakow. 2004. Towards a Philosophy of Communication Theories: An Ontological, Epistemological and Ideological Approach: Paper presented at the annual meeting of the International Communication Association. New Orleans Sheraton, New Orleans. May 27, 2004. http: / / allacademic.com/ meta/ p113255_index.htm l (aufgerufen am 26. März 2018). 23 Robert T. Craig. 1999. Communication Theory as a Field. Communication Theory 9 (2): 119-161. suchen, ihre Forschung zu marginalisieren, konfrontiert gewesen sind 21 . Die vorliegende Arbeit ist Teil des Kampfes der kritischen Kommunikationsfor‐ schung gegen die dominante, positivistische, unkritische, instrumentelle, kapitalistische, neoliberale Logik der Wissenschaft. Logische Typologien bilden den zweiten Ansatz zur Meta-Analyse der Kommunikationstheorien. Iulia Nastasia and Lana Rakow 22 unterscheiden Kommunikationstheorien nach der Art der Ontologie (O), der Epistemologie (E) und der Axiologie (A), die diese verwenden. Sie unterscheiden fünf Hauptströmungen der Kommunikationstheorie: Rationalismus (O: Idealis‐ mus, E: Rationalismus, A: Absolutismus), Funktionalismus (O: Realismus, E: Empirizismus, A: Elitismus), Kritik (O: Materialismus, E: Materialistische Dialektik, A: Revolution), Interpretivismus (O: subjektiver Nominalismus, E: Humanismus, A: Pluralismus) und Postmodernismus (O: Solipsismus/ Relativismus, E: Skeptizismus/ Konstruktivismus, A: Anarchie/ Post-Ideolo‐ gie). Nastasia und Rakow argumentieren, dass die Frankfurter Schule und die kritische politische Ökonomie in den dritten Bereich der kritischen Theorien gehören. Der in diesem Buch präsentierte Ansatz ist auch Teil die‐ ser Kategorie, da er auf marxistischer Theorie fußt. Robert T. Craig 23 diskutiert sieben verschiedene Kommunikationstheo‐ rien, nämlich den rhetorischen Ansatz, die Semiotik, die Phänomenologie, die Kybernetik, sozio-psychologische Ansätze, sozio-kulturelle Ansätze und die kritische Theorie. Diese Kommunikationstheorien unterscheiden sich dadurch, wie sie die Kommunikation theoretisieren: Kommunikation wird als Diskurs (rhetorischer Ansatz), Zeichen (Semiotik), Dialog (Phänomeno‐ logie), Informationsverarbeitung (Kybernetik), Interaktion (Sozialpsycholo‐ gie), (Re-)Produktion der sozialen Ordnung (sozio-kulturelle Ansätze) oder als Kritik und diskursive Reflexion (kritische Theorie) aufgefasst. Das vor‐ liegende Buch zählt zum letztgenannten Ansatz. Die Tradition der kritischen 27 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 27 <?page no="28"?> 24 James A. Anderson & Geoffrey Baym. 2004. Philosophies and Philosophic Issues in Com‐ munication, 1995-2004. Journal of Communication 54 (4): 589-615. Kommunikationstheorie analysiert Kommunikation im Kontext von Aus‐ beutung und Herrschaft, Klasse und Macht, Ideologie, gesellschaftlichen Kämpfen und dem Streben nach einer alternativen, herrschaftsfreien, klas‐ senlosen Gesellschaft. Während einige Ansätze die Rolle von Ausbeutung und Klasse unberücksichtigt lassen und sich nur auf Herrschaft, Macht, Po‐ litik und Kultur konzentrieren, ohne die Rolle von Ausbeutung, Klasse und der Wirtschaft zu erklären, analysiert eine marxistische Kommunikations‐ theorie Kommunikation im Kontext der Dialektik von Klasse und Herrschaft und des Kapitalismus als einer gesellschaftlichen Totalität, die in der Logik der Akkumulation gründet und Ungleichheit schafft. James A. Anderson und Geoffrey Baim 24 charakterisieren kommunikations‐ wissenschaftliche Ansätze entlang von zwei Achsen: analytische Forschung/ empirische Forschung, Grundlagenforschung/ Reflexive Forschung. Die Grundlagenforschung sehen sie als gekennzeichnet durch einen modernisti‐ schen Fokus auf Gewissheit, Kausalität, Schließung, während die reflexive Forschung postmodernistisch sei und radikale Brüche, Handlungen und Un‐ bestimmtheit betone. In Andersons und Baims Typologie bevorzugen analyti‐ sche Ansätze Theorie, Modelle, Konzepte und Werte, während empirische Ansätze Beobachtung, Messung und Erfahrung betonen. Daraus ergeben sich vier verschiedene Ansätze: der grundlagenforschungsorientierte analytische Ansatz, der reflexiv-analytische Ansatz, der grundlagenforschungsorientierte empirische Ansatz und der reflexiv-empirische Ansatz. Marxistische Theorien der Kommunikation und die Kritische Theorie werden als grundlagenorien‐ tiert-analytisch charakterisiert und Ansätze des kulturellen Marxismus als reflexiv-analytisch. Das Problem dieser Typologie ist ihr undialektischer Cha‐ rakter, der es nicht erlaubt, dialektische Ansätze angemessen zu charakterisie‐ ren. Die hegelianisch-marxistische Theorie betont die Dialektiken von Objekt/ Subjekt, Strukturen/ Praktiken, Notwendigkeit/ Zufall, Kontinuität/ Diskonti‐ nuität, Gesellschaft/ Individuum, Theorie/ Empirie, Vernunft/ Erfahrung, Natur/ Kultur, Gesellschaft/ Wirtschaft, usw. Die Typologie von Anderson und Baim kann die Dialektik nicht richtig erfassen, was dazu führt, dass marxistische Ansätze der Kommunikationswissenschaft falsch dargestellt werden. Kommu‐ nikation ist ein Prozess, der in die (Re)produktion der Dialektiken der Gesell‐ schaft eingebettet ist. Es ist nicht überraschend, dass Anderson in einer ande‐ ren Publikation dialektische Ansätze verzerrt darstellt, indem er schreibt, dass 28 1. Einleitung 28 <?page no="29"?> 25 Übersetzung aus dem Englischen: James A. Anderson. 1996. Communication Theory. Epis‐ temological Foundations. New York: The Guilford Press. S. 86. 26 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. In MEW Band 40, 465-588. Ber‐ lin: Dietz. S. 538-539. 27 Karl Erik Rosengren. 1983. Communication Research: One Paradigm, or Four? Journal of Communication 33 (3): 185-207. Karl Erik Rosengren. 1993. From Field to Frog Ponds. Jour‐ nal of Communication 43 (3): 6-17. 28 Gibson Burrell & Gareth Morgan. 1979. Sociological Paradigms and Organizational Analy‐ sis. Aldershot: Gower. 29 Karl Erik Rosengren. 2000. Communication: An Introduction. London: Sage. S. 8. „Hegel und Marx fortgesetzt das Individuum untertauchen” 25 , obwohl Marx von einer Dialektik des Individuums und der Gesellschaft sprach: „Es ist vor allem zu vermeiden, die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das indi‐ viduelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch - und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Le‐ ben ist” 26 . Eine dualistische Typologie von Kommunikationstheorien, die der von An‐ derson/ Baim nicht unähnlich ist, ist Karl Erik Rosengrens 27 Anwendung von Burrells und Morgans Typologie der Gesellschaftstheorien 28 auf die Kommu‐ nikationstheorie. Burrell und Morgan unterscheiden Theorien entlang von zwei Achsen: Subjektivismus/ Objektivismus, radikaler Wandel/ Kontinuität. Daraus ergeben sich vier verschiedene Paradigmen: Interpretivismus (Subjek‐ tivismus/ Kontinuität), Funktionalismus (Objektivismus/ Kontinuität), radikaler Humanismus (Subjektivismus/ radikaler Wandel), radikaler Strukturalismus (Objektivismus/ radikaler Wandel). In einer späteren Publikation ersetzte Ro‐ sengren 29 die Achse Wandel/ Kontinuität durch Konflikt/ Konsens. Rosengren charakterisiert die Kritische Theorie als radikalen Humanismus (Subjektivis‐ mus/ radikaler Wandel) und den Marxismus als radikalen Strukturalismus (Objektivismus/ radikaler Wandel). Es gibt strukturalistische Versionen des Marxismus, wie etwa Althussers Theorie und die darauf aufbauende Gedan‐ kenschule, die die Dialektik des Individuums und der Gesellschaft vernachläs‐ sigen und daher in diese Typologie passen. Humanistische, dialektische mar‐ xistische Theorien können aber nicht so einfach als subjektivistisch und auf 29 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 29 <?page no="30"?> 30 Siehe: Christian Fuchs. 2016. Herbert Marcuse and Social Media. In Critical Theory of Com‐ munication: New Readings of Lukács, Adorno, Honneth and Habermas in the Age of the In‐ ternet, 111-152. London: University of Westminster Press. 31 Vgl.: Christian Fuchs. 2011. Foundations of Critical Media and Information Studies. London: Routledge. Kapitel 3. Judith N. Martin & Thomas K. Nakayama. 1999. Thinking Dialecti‐ cally About Culture and Communication. Communication Theory 9 (1): 1-25. 32 Denis McQuail. 2010. McQuail’s Mass Communication Theory. London: Sage. 6. Auflage. 33 Ebd., S. 12. 34 Ebd., S. 91. 35 Ebd., S. 204. 36 Ebd., S. 81. 37 Ebd., S. 137. 38 Ebd., S. 148. 39 Ebd., S. 234. 40 Ebd., S. 238. radikalen Wandel orientiert charakterisiert werden. Sie analysieren wie Marx die Dialektiken von Praktiken und Strukturen und von Kontinuität und Wan‐ del in Klassengesellschaften 30 . Eine Krise des Kapitalismus ist ein Zeitpunkt der Diskontinuität, in dem sich Möglichkeiten des radikalen Wandels der Gesell‐ schaft eröffnen. Wenn emanzipatorische Klassenkämpfe in dieser Situation versagen, so kann sich die kapitalistische Herrschaft rekonstituieren, sodass es eine Kontinuität des Kapitalismus durch seinen eigenen Wandel gibt. Die marxistische Dialektik passt nicht in dualistische Typologien, sondern tran‐ szendiert diese. Ein wichtiger Punkt, der im vorliegenden Buch verdeutlicht wird, ist, dass die Kommunikation ein sozialer und gesellschaftlicher Prozess ist, eine Dialektik, die Dualismen überschreitet 31 . Kommunikation ist der Pro‐ zess, durch den die Menschen die Dialektiken der Gesellschaft produzieren und reproduzieren. In seinem wegeweisenden Buch Mass Communication Theory entwickelt Denis McQuail 32 häufig Typologien, die aus der Überschneidung von zwei Achsen bestehen, die jeweils zwei Pole haben, um Kommunikationsphäno‐ mene und theoretische Ansätze darzustellen. Das Ergebnis davon sind Vier‐ heiten von Ansätzen und Dimensionen, also Typologien mit jeweils vier Kategorien. McQuail wendet den Ansatz der Vierheit an, um metatheoreti‐ sche Aspekte von Medien- und Kommunikationstheorien 33 , Theorien der Konsequenzen von Medien und Kommunikation für die Gesellschaft 34 , Theorien des Zusammenhangs von Medien und Ordnung 35 darzustellen und um die Beziehungen zwischen Medienkultur und Gesellschaft 36 , die Bezie‐ hungen zwischen interpersoneller Kommunikation und Massenkommuni‐ kation 37 , Informationsverhalten 38 , Medienpolitik 39 , Medientypen 40 und Me‐ 30 1. Einleitung 30 <?page no="31"?> 41 Ebd., S. 466. 42 Übersetzung aus dem Englischen: Denis McQuail. 2008. Models of Communication. In The International Encyclopedia of Communication, hrsg. Wolfgang Donsbach, 3143-3150. Malden, MA: Blackwell. S. 3143. 43 McQuail, McQuail’s Mass Communication Theory, S. 12. 44 Ebd., S. 91. 45 Raymond Williams. 1977. Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press. Siehe auch: Christian Fuchs. 2017. Raymond Williams’ Communicative Material‐ ism. European Journal of Cultural Studies 20 (6): 744-762, dieneffekte 41 zu theoretisieren. Derartige dualistische Modelle haben sicherlich eine heuristische Bedeutung, da sie „bei der Beschreibung und Erklärung der Kommunikation helfen“ und „eine Quelle von Hypothesen, ein Leitfaden für die Forschung und ein Format zur Ordnung von For‐ schungsergebnissen“ 42 sind. Ein Problem dualistischer Typologien ist aber, dass sie Phänomene und Ansätze, die zwischen Kategorien angesiedelt sind oder diese transzendieren, nicht erklären können. Sie können die Dialekt‐ iken der Kommunikation nicht erfassen. McQuail präsentiert eine Typologie der Kommunikationstheorien mit der Hilfe von zwei Achsen 43 . Eine Achse unterscheidet dabei zwischen auf die Medien und auf die Gesellschaft konzentrierten Ansätzen, während die zweite Achse entlang der beiden Pole des Kulturalismus und des Materia‐ lismus verläuft. Das Ergebnis sind vier Ansätze, die McQuail als Medien-Kul‐ turalismus, Medien-Materialismus, gesellschaftlichen Kulturalismus und gesellschaftlichen Materialismus bezeichnet. In einer anderen Typologie präsentiert McQuail Theorien der Medien und der Gesellschaft als die Über‐ lappung von zwei Achsen, wobei eine Achse zentrifugale oder zentripetale Kräfte (die zur Fragmentierung bzw. zur Integration führen) darstellt und die andere Achse zwischen Optimismus und Pessimismus unterscheidet 44 . In der ersten Typologie ist die Unterscheidung zwischen Materialismus und Kulturalismus unangebracht. Raymond Williams zeigt, dass die Kultur eine Sphäre der gesellschaftlichen Produktion und daher materiell ist 45 . Ma‐ terie ist nicht das Gegenteil der Kultur, und die Kultur ist nicht immateriell. McQuail möchte wahrscheinlich die Unterscheidung zwischen Subjekt/ Objekt oder jene zwischen Kultur/ Wirtschaft zum Ausdruck bringen. In beiden Fällen kann aber keine strikte dualistische Trennung vorgenommen werden, da es Theorien der kulturellen Ökonomie, der Kultur in der Wirt‐ schaft, der Dialektik von Subjekt/ Objekt und der Dialektik von Medien/ Gesellschaft gibt. In der zweiten Typologie kann man zentrifugale und zen‐ 31 1.2. Kritische und Marxistische Kommunikationstheorie 31 <?page no="32"?> tripetale Kräfte nicht immer deutlich unterscheiden. Diese beiden Kräfte greifen oft dialektisch ineinander über. So schaffen zum Beispiel die flexible Produktion und das Nischenmarketing eine Vielzahl von Waren, sodass die Kapitalakkumulation in der Kulturindustrie als die Integration unterschied‐ licher und individualisierter Waren operiert, die gemeinsam haben, dass sie die Produkte kultureller Arbeit sind, für den Verkauf auf dem Markt be‐ stimmt sind und eine Vergegenständlichung von Mehrwert darstellen, aus dem Profit wird. Dialektische Ansätze transzendieren in derselben Typolo‐ gie McQuails Unterscheidung zwischen Medienoptimismus und Medien‐ pessimismus, indem sie betonen, dass die Gesellschaft und Kommunikati‐ onssysteme eine Unzahl antagonistischer Potentiale haben und dass Gesellschafts- und Klassenkämpfe entscheiden, ob Kommunikationsmittel eher positive oder eher negative Effekte in der Gesellschaft haben. Eine dia‐ lektische kritische Theorie transzendiert die Dualismen traditioneller Kom‐ munikationstheorien. Das vorliegende Buch präsentiert einen derartigen Ansatz. Kommunikation und Kapitalismus: Eine Kritische Theorie ist sowohl ein Beitrag zur marxistischen Theorie als auch zur Kommunikationstheorie. Ich bin überzeugt davon, dass die Kommunikationswissenschaft wichtige Lek‐ tionen von der marxistischen Theorie lernen kann und muss und dass um‐ gekehrt die marxistische Theorie durch die Kommunikationstheorie inspi‐ riert werden kann. Oft wird aber das Thema der Kommunikation im Marxismus nicht ernst genug genommen und der Marxismus wird in der Mainstream-Forschung (nicht nur, aber auch in der Kommunikationswis‐ senschaft) zurückgewiesen und diskriminiert. Die von mir verwendete Arbeitsweise operiert auf mehreren Ebenen: Sie kombiniert kritische Theorie, empirische Sozialforschung und Ethik. Man arbeitet sich bei ihr durch verschiedene bekannte und unbekannte marxis‐ tische Ansätze, um Elemente von ihnen für eine kritische Theorie der Kom‐ munikation zu aktualisieren. Es gibt zu viel Aufmerksamkeit für die neues‐ ten bürgerlichen Trends in der Gesellschaftstheorie (wie den Posthumanismus, die Actor Network-Theorie, den neuen Materialismus usw.), die die Wissenschaftler vergessen lässt, dass der Marxismus eine kraftvolle inter‐ disziplinäre, dialektische Methodologie hat und Erkenntnis politisch rele‐ vant macht. 32 1. Einleitung 32 <?page no="33"?> 46 Siehe Ernst Bloch. 1963. Avicenna und die Aristotelische Linke. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. Georg Lukács. 1984. Georg Lukács Werke Band 13: Zur Ontologie des gesellschaft‐ lichen Seins. 1. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. Georg Lukács. 1986. Georg Lukács Werke Band 14: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband. Darmstadt: Luch‐ terhand. George E. McCarthy. 1990. Marx and the Ancients: Classical Ethics, Social Justice, and Nineteenth-Century Political Economy. Savage, MD: Rowman & Littlefield. George E. McCarthy, Hrsg. 1992. Marx and Aristotle: Nineteenth-Century German Social Theory and Classical Antiquity. Savage, MD: Rowman & Littlefield. Scott Meikle. 1985. Exis‐ tentialism in the Thought of Karl Marx. London: Duckworth. Jonathan E. Pike. 1999. From Aristotle to Marx: Aristotelianism in Marxist Social Ontology. Aldershot: Ashgate. 1.3. Dialektischer, Humanistischer Marxismus und Kommunikationstheorie Der in diesem Buch präsentierte Ansatz steht in der Tradition von Hegel und Marx. Zu dieser Denklinie habe ich in jüngerer Zeit Aristoteles hinzu‐ gefügt, da ich davon überzeugt wurde, dass Aristoteles einen großen Einfluss auf Marx ausübte. Aristoteles‘ Philosophie hat insbesondere in Bezug auf den dialektischen Materiebegriff, den dialektischen Wesensbegriff, die Dia‐ lektik von Möglichkeit und Wirklichkeit, die teleologische Ontologie der Produktion, Technik (Techne) als Praktik, den Gebrauchswert, den Tausch‐ wert, die Wertformen, die Geldform sowie die Ethik und Politik des Ge‐ meinwesens Einfluss auf Marx und humanistische Sozialisten wie Georg Lukács ausgeübt 46 . Die Denklinie Aristoteles - Hegel - Marx, die meinen Ansatz geprägt hat, ist von der Auseinandersetzung mit einer Reihe von kritischen Theorien beeinflusst worden: Theodor W. Adorno, Günther An‐ ders, Avicenna, Veronika Bennholdt-Thomsen, Ernst Bloch, Angela Davis, Erich Fromm, Lucien Goldmann, Gustavo Gutiérrez, Michael Hardt/ Antonio Negri, Jürgen Habermas, David Harvey, Hans Heinz Holz, Horst Holzer, Max Horkheimer, C.L.R. James, Manfred Knoche, Henri Lefebvre, Georg Lukács, Rosa Luxemburg, Alasdair MacIntyre, Herbert Marcuse, Maria Mies, Tho‐ mas Nagel, Franz Neumann, Mogobe B. Ramose, Dallas W. Smythe, Edward P. Thompson, Mario Tronti, Raymond Williams und Slavoj Žižek. Aristotelischer, dialektischer, humanistischer Marxismus Die Begründung eines Ansatzes durch aristotelischen, dialektischen, huma‐ nistischen Marxismus wird oft mit dem Etikett des „Eurozentrismus“ abge‐ tan, wobei angenommen wird, dass europäisches und aristotelisches Denken einen inhärent imperialistischen Charakter haben. Solche Argumente lassen 33 1.3. Dialektischer, Humanistischer Marxismus und Kommunikationstheorie 33 <?page no="34"?> 47 Innocent C. Onyewuenyi. 1993. The African Origin of Greek Philosophy. Nsukka: Uni‐ versity of Nigeria Press. 48 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 284. 49 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 285. 50 Ernst Bloch. 1963. Avicenna und die Aristotelische Linke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 51 Theodor W. Adorno. 2006. Metaphysik. Begriff und Probleme. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. S. 58. aber außer Acht, dass das aristotelische Denken Wurzeln in der afrikani‐ schen Philosophie hat: Innocent C. Onyewuenyi 47 zeigt, dass die Philosophie, Mathematik, Medizin, Landwirtschaft, das Recht und die Religion Ägyptens das griechische Denken beeinflusst haben. Griechische Philosophen wie Thales besuchten Ägypten, wo sie durch die dortige Philosophie beeinflusst wurden. Es gibt „ägyptische Ursprünge der griechischen Philosophie und Zivilisation“ 48 . Die ägyptische Philosophie beeinflusste auch Aristoteles: „Aristoteles lernte die Lehren und Ideen der ägyptischen Priester-Gelehrten kennen, die Platon nicht kannte und nicht lehrte. Daher kommen der Reich‐ tum und die Vielfalt der Spekulationen des aristotelischen Werkes und sein philosophischer Fortschritt gegenüber Platon“ 49 . Aristoteles Philosophie wurde in materialistischer Weise von der „Aristotelischen Linken“ weiter‐ entwickelt, wozu Avicenna und Averroes gehören, die die Materie als (selbst)produzierend und dialektisch auffassen 50 . Aristoteles‘ Philosophie ist eine „Vermittlungstheorie“ 51 . Die Frage nach dem Verhältnis der Phänomene ist eine Grundfrage der Philosophie. Bei Aristoteles wird das Vermittlungsproblem dadurch gelöst, dass die Mitte zwischen zwei Extremen betont wird. Dialektik besteht aber darin, dass zwei gegensätzliche Pole identisch und nichtidentisch, also widersprüchlich sind, wodurch ein Potential der Aufhebung ihres Widerspruches besteht. Das Vermittlungsproblem wird erst bei Hegel und Marx dialektisch gelöst. Aris‐ toteles‘ Philosophie ist wie jene von Hegel und Marx triadisch und betont das Verhältnis von zwei Polen. Die Auflösung von Widersprüchen geschieht bei Aristoteles jedoch nicht wie bei Hegel und Marx als Aufhebung inein‐ andergreifender Pole, sondern als Mäßigung und als die Mitte zweier Ex‐ treme. Aristoteles‘ Philosophie ist eine rudimentäre, unterentwickelte und eher konservative Form der Dialektik. Entscheidend ist aber in Aristoteles‘ Philosophie etwas anderes, nämlich dass sie die Frage nach der Vermittlung stellt. Es ist „die unermessliche Neuerung, die Aristoteles in der Philosophie durchgeführt hat, dass er als 34 1. Einleitung 34 <?page no="35"?> 52 Ebd., S. 70. 53 Aristoteles. 2004. Topik. Stuttgart: Reclam. §104a. 54 Ebd., §101b. 55 Ernst Bloch. 1972. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. erster auf diese Problematik der Vermittlung gestoßen ist“ 52 . Während an‐ dere philosophische Ansätze von der Unvermitteltheit der Welt ausgehen und einen radikalen Dualismus und Relativismus predigen, geht Aristoteles von der Vermitteltheit der Welt aus und hat damit Grundlagen für die dialektische Philosophie geschaffen. Heute sind der radikale Relativismus und das radikale Unvermitteltheitsdenken (der Fetischismus der Differenz) in der Form verschiedener Ansätze des Poststrukturalismus präsent. Dia‐ lektik ist heute nicht nur Widerstand gegen den Positivismus, sondern auch gegen den Poststrukturalismus. Das Problem der Vermittlung stellt sich für jede Gesellschaftstheorie als das Problem des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Subjekt und den gesellschaftlichen Objekten dar. Im dialek‐ tischen, humanistischen Marxismus gibt es eine Subjekt-Objekt-Dialektik, in der die menschliche Produktion den entscheidenden Prozess der Repro‐ duktion der Gesellschaft darstellt. In der Kommunikationstheorie nimmt das dualistische Denken die Form der Separierung von Produktion/ Kommuni‐ kation, Werktätigkeit/ Interaktion, Wirtschaft/ Kultur, Arbeit/ Ideologie, Pro‐ duktion/ Konsum, usw. an. Eine dialektische Theorie der Kommunikation und der Gesellschaft muss die Dualismen der Kommunikation durch Sub‐ jekt-Objekt-Dialektiken ersetzen. Für Aristoteles ist die Dialektik eine Methode der Diskussion, des Fragens, der Auseinandersetzung mit Problemen und des Antwortens, die sich auf Widersprüche konzentriert. In der aristotelischen Dialektik geht es um „an‐ erkannte Meinungen“ und „Gegenteile der gültigen anerkannten Meinun‐ gen“ 53 . Die Dialektik ist ein „Prüfungsverfahren“ und Kritikverfahren von Meinungen 54 . Aristoteles muss Anerkennung dafür gegeben werden, dass Widersprüche ein wichtiges Prinzip und Moment der Dialektik sind. Sein Konzept der Dialektik ist aber auf den Bereich der Logik und der in Diskus‐ sionen gemachten Argumente beschränkt. Hegel und Marx erweiterten den Geltungsbereich der Dialektik vom Bereich der Argumentation und Logik auf die Gesellschaft und die Natur, wobei es dabei Unterschiede in Bezug auf die Frage gibt, was die treibende Kraft der Dialektik ist. Während für Hegel der Geist die treibende Kraft darstellt, betont Marx den materiellen Charak‐ ter der Dialektik. Ernst Bloch 55 verdeutlicht, dass es bereits bei Aristoteles 35 1.3. Dialektischer, Humanistischer Marxismus und Kommunikationstheorie 35 <?page no="36"?> 56 Louis Althusser und Étienne Balibar. 1968/ 1972. Das Kapital lessen. Reinbek bei Ham‐ burg: Rowohlt. S. 242. Grundlagen des dialektischen Materialismus gibt, indem Aristoteles die Ma‐ terie als dynamische, produktive Möglichkeit begreift (dynámei ón, In-Mög‐ lichkeit-Seiendes), aus der als Materialursache durch die Wirkursache kon‐ krete Formen produziert werden. 1.4. Der Anti-Humanismus Seit den 1960er-Jahren haben sich verschiedene Formen der anti-humanis‐ tischen Gesellschaftstheorie ausgebreitet. In diesem Abschnitt werden ei‐ nige wichtige anti-humanistische Ansätze kurz dargestellt. Der dialektische, humanistische Marxismus steht dem Anti-Humanismus kritisch gegenüber. Das Negative Erbe Louis Althussers Obwohl ich dafür bin, ein breites Spektrum kritischer Theorien zu entwi‐ ckeln und zu verwenden, gibt es Traditionen, die meiner Einschätzung nach der kritischen Theorie viel Schaden zugefügt haben: der Althusserianismus, der Postmodernismus, der Poststrukturalismus und der Anti- und Posthu‐ manismus. Althusser schreibt, dass „die Struktur der Produktionsverhält‐ nisse die Stellen und Funktionen bestimmt, die die Produzenten dann be‐ setzen und übernehmen; die Produzenten sind immer nur in dem Maße die Inhaber bestimmter Stellen, wie sie auch die ‚Träger‘ bestimmter Funktionen sind“ 56 . Er lässt außer Acht, dass die menschliche Werktätigkeit die Produk‐ tionsverhältnisse reproduziert und verändert, dass menschliche Praktiken Gesellschaftsstrukturen produzieren und reproduzieren und dass gesell‐ schaftliche Kämpfe und Klassenkämpfe das Potential haben, derartige Struk‐ turen zu verändern und zu transzendieren. Althusser vernachlässigt eine Seite der Dialektik von Strukturen und Handlung. Folglich beschreibt er seinen Ansatz als eine antihumanistische Lesart von Marx. Das Hauptpro‐ blem des Althusserianismus ist, dass er die Idee des Todes des menschlichen Subjekts vorangetrieben hat, die mehrere Generationen von Wissenschaft‐ lern beeinflusst hat, und dass er zu antihumanistischem Denken geführt hat, dass unter dem Deckmantel der Kritik neue Formen des unterdrückerischen Denkens hervorgebracht hat. 36 1. Einleitung 36 <?page no="37"?> 57 Niklas Luhmann. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp S. 558. 58 Roland Barthes.1968/ 1977. The Death of the Author. In Roland Barthes: Image Music Text, 142-148. London: Fontana Press. 59 Übersetzung aus dem Englischen: Michel Foucault. 1977. What Is An Author? In Lang‐ uage, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews by Michel Foucault, hrsg. Donald F. Bouchard, 113-138. Ithaca, NY: Cornell University Press. S. 138. 60 Michel Foucault. 1974. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf‐ ten. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 454. 61 Übersetzung aus dem Englischen: Bruno Latour. 2004. Politics of Nature. How to Bring the Sciences into Democracy. Cambridge, MA: Harvard University Press. S. 69. Luhmann, Barthes, Foucault Niklas Luhmann betrieb eine politisch konservative Gesellschaftstheorie, die in mancher Hinsicht Parallelen zu Althusser aufweist. Luhmann argu‐ mentiert in seiner Systemtheorie, dass die Menschen „als psychische und körperliche Systeme […] Sensoren“ in der Umwelt sozialer Systeme sind 57 . Für Luhmann ist ein soziales System ein menschenloser Zusammenhang sich in selbstreferentieller Weise produzierender Kommunikationen. Er macht Kommunikationsstrukturen zum Subjekt, wodurch außer Acht ge‐ lassen wird, dass Kommunikation ein von Menschen produzierter Prozess ist. Michel Foucault teilt Roland Barthes’ These des Todes des menschlichen Subjektes 58 und reduziert die Menschen auf Diskursfunktionen: Das „Subjekt (und seine Substitute) muss seiner kreativen Rolle beraubt werden und als komplexe und variable Funktion des Diskurses analysiert werden“ 59 . Indem er Diskursstrukturen als gesellschaftsdeterminierend konzeptualisiert, fasst Foucault die Gesellschaft strukturalistisch und funktionalistisch auf. Fou‐ cault argumentiert, dass der Strukturalismus nicht aufhört, den Menschen „‚kaputt‘ zu machen, der in den Humanwissenschaften seine Positivität bil‐ det und erneut bildet“ 60 . Foucault hieß die antihumanistische Absicht des Strukturalismus, den Menschen den Strukturen unterzuordnen, sehr will‐ kommen und praktizierte den Anti-Humanismus als sein eigenes Programm. Akteur-Netzwerk-Theorie, Posthumanismus, Cyborgs Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist eine bestimmte Form des Poststruktura‐ lismus. Bruno Labour definiert ein Akteursnetzwerk als „Assemblage von Menschen und Nichtmenschen“ 61 . Er sieht Nichtmenschen (wie Technolo‐ gien, Laboratorien, Instrumente, Materialien, usw.) als soziale Subjekte und 37 1.4. Der Anti-Humanismus 37 <?page no="38"?> 62 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 69. 63 Rick Dolphijn & Iris van der Tuin, Hrsg. 2012. New Materialism: Interviews & Cartogra‐ phies. Ann Arbor, MI: Open Humanities Press. 64 Übersetzung aus dem Englischen: Rosi Braidotti. 2013. The Posthuman. Cambridge: Po‐ lity. S. 49. 65 Übersetzung aus dem Englischen: Rosi Braidotti & Maria Hlavajova, Hrsg. Posthuman Glossary. London: Bloomsbury Academic. S. 340. 66 Donna Haraway. 1985/ 1995. Ein Manifest für Cyborgs. In: Donna Haraway: Die Neu‐ erfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, 33-72. Frankfurt am Main: Campus, 1995. S. 33. 67 Zum Beispiel: Haraway, Ein Manifest für Cyborgs. 68 Ray Kurzweil. 2005. The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology. London: Viking. Ray Kurzweil & Terry Grossman. 2004. Fantastic Voyage: Live Long Enough to Live Forever. Emmaus, PA: Rodale. spricht daher zum Beispiel von „der Stimme der Nichtmenschen“ 62 . Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie verwischen den Unterschied zwischen Menschen und Nichtmenschen, indem sie behaupten, dass letztere soziale Akteure sind. Latours Theorie und verwandte Ansätze werden auch als Neuer Materialismus 63 bezeichnet, wobei es sich um einen Vulgärmateria‐ lismus handelt, der die Materie nicht als dynamischen Prozess der (Selbst-) Produktion auffasst, sondern als Dinge und Objekte. Der Posthumanismus ist eine Version des Neuen Materialismus. Er betont ein „Subjekt, das über Differenzen hinaus“ 64 funktioniert und dass „Subjek‐ tivität Beziehungen mit einer Vielzahl nichtmenschlicher ‚Anderer‘ inklu‐ diert“ 65 . Der Posthumanismus betont speziell die Subjektposition der Cy‐ borgs. Cyborgs sind Hybride aus Menschen und Technologien oder aus Menschen und Nichtmenschen, die mit der Hilfe von Computertechnolo‐ gien, Künstlicher Intelligenz, Robotik und Gentechnik hergestellt werden. „Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Or‐ ganismus” 66 . Während einige den vorhergesagten Aufstieg der Cyborgs als das herannahende Ende des Patriarchats sehen 67 , argumentieren andere (wie Ray Kurzweil 68 ), dass die Cyborgs den Menschen unsterblich machen wer‐ den. Der Posthumanismus ist eine Version des naiven technologischen Determinismus und des Techno-Optimismus, die annimmt, dass sich die Gesellschaft und die Menschheit durch den Aufstieg neuer Technologien radikal verändern. Die postmoderne Theorie ist in einem post-Althusser‘schen Klima ent‐ standen. Ihre schlimmste gegen die kritische Theorie gerichtete Tat ist, dass sie den Antimarxismus gefördert hat, was zur Vernachlässigung und zum Herunterspielen der Bedeutung von Klasse und Kapitalismus in der Gesell‐ 38 1. Einleitung 38 <?page no="39"?> 69 Übersetzung aus dem Englischen: Marshall McLuhan. 1997. Essential McLuhan, hrsg. Eric McLuhan & Frank Zingrone. London: Routledge. S. 141, 157. 70 Marshall McLuhan. 1962/ 1995. Die Gutenberg Galaxis: Das Ende des Buchzeitalters. Bonn: Addison-Wesely. S. 39. 71 Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Kittler. 2009. Towards an Ontology of Media. Theory, Culture & Society 26 (2-3): 23-31. S. 24. 72 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 28. 73 Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Kittler. 1986. Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. S. 3. 74 Friedrich Kittler. 2002. Optische Medien: Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve. S 31. schaft und von Marx und der auf ihm aufbauenden Ansätze der kritischen Theorie geführt hat. Damit einhergegangen ist die Entstehung reformisti‐ scher Identitätspolitik, die die Totalität der Ausbeutung und der Herrschaft nicht in Frage stellt. Technologischer Determinismus: Marshall McLuhan & Friedrich Kittler Technikzentrierte Theorien der Medien dezentrieren genauso wie der Post‐ strukturalismus die Rollen der menschlichen Praktiken und des Menschen in der Gesellschaft. Beispiele dafür sind Marshall McLuhans Medientheorie und Friedrich Kittlers Mediengeschichte. McLuhan argumentiert, dass Drucktech‐ nologien negative Effekte in der Gesellschaft hervorrufen und elektronische Medien positive Effekte haben. Er schreibt, dass der Buchdruck „Nationalis‐ mus verursacht“ und „Individualismus und Nationalismus schuf“ 69 . Elektroni‐ sche Technologien hätten ein globales Dorf geschaffen: „Sicherlich haben die elektromagnetischen Entdeckungen das simultane ‚Feld‘ in allen menschli‐ chen Bereichen wieder entstehen lassen, sodass die Menschenfamilie jetzt un‐ ter den Bedingungen eines ‚globalen Dorfes‘ lebt“ 70 . Friedrich Kittler spricht sich für eine Ontologie aus, die sich auf „Beziehun‐ gen zwischen Dingen im Raum und in der Zeit“ 71 konzentriert, sodass die „Ontologie zu einer Ontologie der Entfernungen, der Übertragungen und der Medien wird“ 72 . Als Ergebnis davon schrieb Kittler eine Geschichte der Kom‐ munikationstechnologien ohne Gesellschaftsgeschichte. Für ihn ist die Tech‐ nologie ein handelndes Subjekt. Kittler postuliert eine klare Determinierung der Gesellschaft und der Menschen durch Medientechnologien: „Medien be‐ stimmen unsere Lage“ 73 ; „Technische Medien […] sind […] Modelle des soge‐ nannten Menschen“ 74 . Während Lukács und die Frankfurter Schule davor war‐ nen, dass die Quantifizierungslogik der instrumentellen Vernunft die 39 1.4. Der Anti-Humanismus 39 <?page no="40"?> 75 Friedrich Kittler. 1980. Einleitung. In Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, hrsg. Friedrich Kittler, 7-14. Paderborn: Ferdinand Schönigh. S. 8. 76 Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, S. 6. 77 Übersetzung aus dem Englischen: John Durham Peters. 2010. Introduction: Friedrich Kittler’s Light Shows. In Friedrich Kittler: Optical Media: Berlin Lectures 1999, 1-18. Cambridge: Polity. S. 5 78 Übersetzung aus dem Englischen: W.J.T. Mitchell & Mark B.N. Hansen, Hrsg. 2010. Critical Terms for Media Studies. Chicago, IL: The University of Chicago Press. S. xiii-xiv. 79 Übersetzung aus dem Englischen: Sybille Krämer. 2006. The Cultural Techniques of Time Axis Manipulation. On Friedrich Kittler’s Conception of Media. Theory, Culture & Society 23 (7-8): 93-109. Gesellschaft, die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften kolonialisiert, heißt Kittler diese Entwicklung willkommen, empfiehlt und propagiert sie. Kittler geht es darum, den Strukturalismus und die Logik der Maschinen, der Mathe‐ matik und der Computerwissenschaft auf die Geisteswissenschaften und die Gesellschaft anzuwenden und „Geschichte, Geist, Mensch -: die drei Elemente der Geisteswissenschaften“ systematisch zu bestreiten 75 . Programmatisch heißt der von Kittler im Jahr 1980 herausgegebene Sammelband, aus dessen Einlei‐ tung gerade zitiert wurde, daher Austreibung des Geistes aus den Geisteswissen‐ schaften. Während die materialistische, dialektische Gesellschaftskritik das Potential hat, den Individualismus und den Idealismus der Geistes- und Ge‐ sellschaftswissenschaften aufzuheben, ist Kittlers Austreibung die Anbetung der Maschinen und daher der kapitalistischen Verdinglichung und des kapita‐ listischen Fetischcharakters, was bedeutet, dass Kittlers Ansatz einen Rückfall in den mechanischen Materialismus darstellt. Indem er Technologien als Subjekte interpretiert, argumentiert Kittler, dass die Technik handelt. Er schreibt etwa, dass Kriege zwischen Technolo‐ gien geführt werden und nicht von Menschen, die Macht erreichen oder verteidigen wollen: Es „ist auch klargestellt, dass die wahren Kriege nicht um Leute oder Vaterländer gehen, sondern Kriege zwischen verschiedenen Medien, Nachrichtentechniken, Datenströmen sind“ 76 . John Durham Peters argumentiert in diesem Zusammenhang: „Kittler schreibt nicht lebendigen, atmenden Akteuren, sondern Abstraktionen wie Weltkriegen Handlungs‐ fähigkeit zu. Er interessiert sich nicht für das Publikum oder Effekte, Wi‐ derstand oder Hegemonie, Persönlichkeiten der Genres. Er beschäftigt sich nicht mit Subkulturen, Postkolonialität, Geschlechte, Rasse, Sexualität, Eth‐ nizität oder Klasse“ 77 . Kittlers Ansatz ist ein „antihumanistischer technolo‐ gischer Determinismus“ 78 , der durch „Hardware-Euphorie“ 79 gekennzeich‐ 40 1. Einleitung 40 <?page no="41"?> 80 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1974/ 2003. Television: Technology and Cultural Form. London: Routledge. S. 130. 81 Ebd., S. 131. 82 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. In MEW Band 40, 465-588. S. 537. net ist. McLuhan und Kittler sind beide technologische Deterministen, auf die Raymond Williams‘ Kritik anwendbar ist, dass im technologischen De‐ terminismus menschliche „Intentionen […] irrelevant sind“ 80 und Techno‐ logie „als eine Ursache“ 81 präsentiert wird. Der Antihumanismus des Strukturalismus Ansätze wie die eben erwähnten Theorien - Althussers Strukturalismus, Luhmanns Systemtheorie, Foucaults Diskurstheorie, der Poststrukturalis‐ mus, die Akteur-Netzwerk-Theorie, der Neue Materialismus, der Posthu‐ manismus, McLuhans Medientheorie, Kittlers Mediengeschichte - beruhen auf der gemeinsamen Annahme, dass die Gesellschaft keine Sphäre mensch‐ licher Praktiken ist, die als Dialektik von Strukturen und Handeln organi‐ siert ist. Vielmehr wird die Gesellschaft auf soziale, sprachliche oder tech‐ nologische Strukturen reduziert, von denen gesagt wird, dass sie unabhängig von den Menschen und deren Praktiken sind und als Subjekte handeln. Strukturen werden zu Subjekten gemacht. Dabei wird übersehen, dass Strukturen durch menschliche Praktiken produziert und reproduziert wer‐ den, die wiederum durch Strukturen bedingt, ermöglicht und beschränkt werden. Der Antihumanismus ist der Kern der diskutierten Ansätze. Um den ökonomischen, politischen, methodologischen, philosophischen und ideo‐ logischen Individualismus und Idealismus in Frage zu stellen, fetischisieren strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze die Strukturen. Sie übersehen dabei, dass die Miss- und Verachtung des Menschen, die Über‐ betonung der Strukturen und die Vernachlässigung der Dialektik von Prak‐ tiken und Strukturen sehr leicht menschenfeindliche politische Implikatio‐ nen haben kann. Der Antihumanismus ist undialektisch und missachtet die in der Gesellschaft stattfindende Dialektik von menschlichen Praktiken und Strukturen, die Marx in den folgenden Wörtern auf den Punkt bringt: „wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert“ 82 . Im Gegensatz und in Opposition zur anti-humanistischen Theorie ist es die Aufgabe des vorliegenden Buches, die Rollen herauszuar‐ beiten, die die Kommunikation in den Dialektiken der Menschen und der 41 1.4. Der Anti-Humanismus 41 <?page no="42"?> Gesellschaft, der Praktiken und der Strukturen und des Individuums und sozialer Systeme spielen. Die Bücher, die mein Denken am meisten beeinflusst haben und aus denen ich sehr viel gelernt habe, sind Marx‘ Ökonomisch-Philosophische Manu‐ skripte, Kapital und Grundrisse; Hegels Enzyklopädische Logik (die oft als „Kleine Logik“ bezeichnet wird, was impliziert, dass die Wissenschaft der Logik wichtiger ist, obwohl die Enzyklopädische Logik Hegels systema‐ tischste und ultimative dialektische Arbeit ist und daher seine „Universelle Logik“ darstellt), Herbert Marcuses Vernunft und Revolution und Georg Lu‐ kács‘ Ontologie des gesellschaftlichen Seins. In einer negativen Dialektik hat sich der neoliberale Kapitalismus zum autoritären Kapitalismus und den Grundlagen eines neuen Faschismus ge‐ wandelt. Der demokratische Sozialismus ist das einzige wirkliche Gegen‐ modell zum Faschismus und zum Kapitalismus. In einer Situation höchster Gefahr besteht die Aufgabe zuallererst in der Verteidigung und Ausweitung des Humanismus. Nur durch den Humanismus können wir zum Sozialismus kommen. Der in diesem Buch und im Allgemeinen von mir vertretene An‐ satz kann als dialektischer, humanistischer Marxismus und humanistischer Sozialismus bezeichnet werden. Die politische Aufgabe ist und bleibt bis auf weiteres, dass wir zusam‐ menkommen und in gesellschaftlichen Kämpfen den kommunikativen Ka‐ pitalismus in eine gemeingutorientierte Gesellschaft und in kommunikative Gemeingüter umwandeln. Der Humanismus ist nur als gemeingutorientierte Gemeinschaft der Menschheit wahr und vollständig. Die Ge‐ meingüter können nur als Humanismus wahr werden. Abkürzungen MEW: Karl Marx und Friedrich Engels. Werke. Berlin: Dietz. 42 1. Einleitung 42 <?page no="43"?> Teil I: Grundlagen des Kommunikativen Materialismus <?page no="45"?> 1 Aristoteles. 1966. Metaphysik. Reinbek: Rowohlt. 2 Ebd., § 1033b. 3 Ebd., § 1035b. 4 Ebd., § 1029a. 5 Ebd., § 1049b. 2. Materialismus Eine kritische Theorie ist eine materialistische Theorie. Unter Materialismus ist dabei weder die Betonung einer Determinierung durch die Wirtschaft noch die Betonung des Dinghaften zu verstehen. Der Materialismus fasst die Welt als Verhältnis, Dynamik, Prozess und Dialektik, also eine Form von Widersprüchen, die Veränderung und Entwicklung ermöglichen. Dieses Ka‐ pitel geht auf einige Grundlagen der materialistischen Philosophie ein, näm‐ lich den Materiebegriff (2.1) und die Dialektik (2.2). 2.1. Materie Aristoteles 1 lehnte den reduktionistischen Materialismus der Atomisten, wie er sich etwa bei Leukipp, Demokrit, Empedokles oder Anaxagoras findet, ab. Der Atomismus führt jedes Sein auf die Atome als Ursubstanz zurück. Er bestimmt die Materie (hylé) im Verhältnis zur Form (morphé, eîdos). Sie bil‐ den gemeinsam die Wesenheit. Die Form ist „die Gestaltung (morphé) des Sinnlichen” 2 , das „Wesenswas“ 3 . „Ich nenne aber Materie das, was an sich weder als etwas noch als ein irgendwie großes noch durch irgendein anderes der Prädikate bezeichnet wird, durch welche das Seiende bestimmt wird“ 4 , „ein Erstes, was nicht erst noch nach einem Anderen als aus diesem beste‐ hend bezeichnet wird“ 5 . Aristoteles Die Materie hat das Vermögen (dynámei) zur Veränderung, sie kann sich zum Dasein formen, ist also Möglichkeit. Damit ist die Materie aber der Form vorgelagert. „Ferner ist der Stoff dem Vermögen nach, weil er zur Form ge‐ <?page no="46"?> 6 Ebd., § 1050a. 7 Ebd., § 1044b. 8 Ebd., § 1034a. 9 Ebd., § 1034a. 10 Ebd., § 1043b. 11 Ernst Bloch, Ernst. 1972. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ernst Bloch.1963. Avicenna und die Aristotelische Linke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. langen kann; sobald er aber in Wirklichkeit ist, dann ist er in der Form“ 6 . Bei Aristoteles ist die Materie also anders als bei den Atomisten nicht statisch, sondern dynamisch: Materie gibt es „von dem, was auseinander entsteht und ineinander übergeht“ 7 . Die Materie ist in der Natur (z. B. Steine, Feuer) „einer Bewegung durch sich selbst fähig” 8 , während sie in der Gesellschaft (Aris‐ toteles nennt das Tanzen als Beispiel) „durch ein anderes” 9 bewegt wird, den Menschen. Aristoteles wendet sich auch gegen den reduktionistischen Ma‐ teriebegriff der Atomisten: Das Ganze, das durch Zusammensetzung und Mischung der Teile entsteht, ist nicht auf diese reduzierbar 10 , d. h. das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aristoteles war einer der ersten dialektischen Materialisten. Ernst Bloch 11 argumentiert, dass die Aristotelische Linke hervorhebt, dass die Materie für Aristoteles dynamisch ist, In-Möglichkeit-Seiendes (dynámei ón), also ob‐ jektive Möglichkeit. Bloch betont, dass dieses Aristotelische Materiekonzept den mechanischen Materialismus in Frage stellt und sich auch in den Werken von Avicenna, Averroes, Giordano Bruno, Spinoza, Schelling, Hegel und Marx findet. Marx und Engels erfassten die Gesellschaft als materielles Sys‐ tem, in dem die gesellschaftlichen Momente von Menschen produzierte Ver‐ hältnisse und Prozesse sind, widersprüchlichen Charakter haben und sich entwickelnde Totalitäten bilden. Raum und Zeit Raum und Zeit sind zwei zentrale Dimensionen der Organisation der Ma‐ terie. Die Zeit hat mit der Veränderung spezifischer Materieformen zu tun. Sie ist die Existenzform der Materie. Da die Materie nicht statisch, sondern dynamisch ist, verändert sie ihre Form. Einerseits kann über längere Zeit‐ räume hinweg eine Materieform in neue Organisationsformen der Materie übergehen. Andererseits differenziert aber jedes Dasein auch seine Form. In leblosen Objekten wie Steinen ist dieser Veränderungsprozess langsamer als 46 2. Materialismus 46 <?page no="47"?> 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 1986. Werke 9: Enzyklopädie der philosophischen Wis‐ senschaften im Grundrisse: 1830. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. § 258. 13 Ebd., § 258, Zusatz. 14 Ebd., § 259. 15 Hans Heinz Holz. 2005. Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dia‐ lektik. Stuttgart: J.B. Metzler. S. 170. in lebenden Formen des Seins, findet aber dennoch durch Naturprozesse statt. Beim lebendigen Sein handelt es sich um Zellorganismen, deren Zellen sich reproduzieren und differenzieren. In der Gesellschaft verändern die Menschen durch Handlung und Kommunikation Strukturen, die weitere Handlungen und Kommunikationen ermöglichen und bedingen. Wenn man den Zustand eines Daseins festhält und dann wartet, und wiederum den Zustand festhält, so kann man auf einer bestimmten Organisationsstufe Veränderungen feststellen. Solche Veränderungen sind Anzeichen dafür, dass sich Strukturen zeitlich entwickeln. Die Zeit ist die Entwicklung des Daseins von einem Zustand zum Nächsten. Die Zeit ist die Dauer eines Pro‐ zesses, eine Sequenz von Ereignissen, die einen Prozess bilden. Sie ist irre‐ versibel, was bedeutet, dass ein Dasein, das sich zu einem bestimmten Zeit‐ punkt in einem gewissen Zustand befindet, zu einem anderen Zeitpunkt nicht in exakt denselben Zustand zurückkehren kann. Das Werden der Materie Da die Materie dynamisch ist, verändert sie sich kontinuierlich in der Zeit. Die Zeit „selbst ist dies Werden, Entstehen und Vergehen“ 12 . Materieformen haben als Dasein einen Anfang und ein Ende. Da die Materie die Seinsform des Seins selbst ist, ist sie unendlich. Sie ist die Prozess-Substanz der Welt. Die Materie ist also universell: Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Daher ist auch die Zeit ewig 13 . Die Zeit ist die Ordnung und Gerichtetheit des Seins in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Die Dimensionen der Zeit, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, sind das Werden der Äußerlichkeit als solches und dessen Auflösung in die Unterschiede des Seins als des Über‐ gehens in Nichts und des Nichts als des Übergehens in Sein” 14 . Die Dialektik der Materie besteht darin, dass Dasein nebeneinander und nacheinander existiert. „Wie die Zeit das Nacheinander der auftretenden Inhalte ist, so der Raum das Nebeneinander der Dinge” 15 . Materieformen existieren nebeneinander im Raum, in dem sich ihre Existenz wechselseitig 47 2.1. Materie 47 <?page no="48"?> 16 Hegel, Werke 9, Enzyklopädie: Die Naturphilosophie, § 261. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 1986. Werke 8: Enzyklopädie der philosophischen Wis‐ senschaften im Grundrisse: 1830. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den münd‐ lichen Zusätzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. § 88. 18 Ebd., § 93. bedingt. Der Inhalt der Materie ist ein Nacheinander von Ereignissen, in denen Formen, die nebeneinander existieren, ineinander übergehen. Materie ist die dialektische Einheit des räumlichen Nebeneinanders und des zeitli‐ chen Nacheinanders. Hegel betont daher, dass die Materie die dynamische, dialektische Einheit von Raum und Zeit ist: „Dies Vergehen und Sichwieder‐ erzeugen des Raums in Zeit und der Zeit in Raum, dass die Zeit sich räumlich als Ort, aber diese gleichgültige Räumlichkeit ebenso unmittelbar zeitlich gesetzt wird, ist die Bewegung. - Dies Werden ist aber selbst ebensosehr das in sich Zusammenfallen seines Widerspruchs, die unmittelbar identische da‐ seiende Einheit beider, die Materie“ 16 . Raum und Zeit der Materie stehen also in einem engen Zusammenhang der Dialektik des Seins und des Nichts, die das Werden konstituiert. „Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Exis‐ tenz ist das Werden“ 17 . Unter der Entwicklung der Materie ist zu verstehen, dass etwas Neues aus dem Alten entsteht, so dass das alte Dasein aufhört, in seiner spezifischen Form da zu sein, aber im aufgehobenen Dasein eine neue Form annimmt. Die Dialektik des Seins und des Nichts ist die Ent‐ wicklungsdynamik der Materie, wodurch diese Prozess-Substanz ist: „Etwas wird ein Anderes, aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird es gleich‐ falls ein Anderes, und so fort ins Unendliche“ 18 . Materie, Interaktion, Kommunikation Materie interagiert, aber sie kommuniziert nicht notwendigerweise. Bei ei‐ nem Steinschlag kommunizieren die Steine nicht miteinander. Sie sagen einander nicht „Komm lass uns ins Tal hinabstürzen“, sondern ihre gleich‐ zeitige Bewegung, bei der sie gegeneinanderprallen, auseinanderbrechen und schlussendlich auf einer ebenen Fläche in neuer Anordnung zersplittert liegenbleiben, wird von außen durch Erosion, Regenwasser, Schmelzwasser oder von Lebewesen angestoßen. Interaktion ist die Einwirkung von Mate‐ rieformen aufeinander. Der Stein weiß nicht, dass er stürzt, bricht und lie‐ genbleibt. Wenn in einer Klassengesellschaft hingegen die Unterdrückten einen Punkt erreichen, an dem sie zueinander sagen „Lass‘ uns den Skla‐ 48 2. Materialismus 48 <?page no="49"?> 19 Alasdair MacIntyre. 1999. Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues. Chicago, IL: Open Court. S. 50-51, 20 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 193. venmeister stürzen, seine Herrschaft brechen, sodass seine Herrschafts‐ weise tot liegenbleibt“, so können wir von Interaktion als Kommunikation sprechen, da eine Auseinandersetzung über Intentionalitäten stattfindet. Kommunikation ist also zielorientierte Verständigung. Das bedeutet aber nicht, dass nur der Mensch kommuniziert. Auch hochentwickelte Säugetiere wie Delphine, Hunde, Gorillas, Schimpansen und Elefanten kommunizieren, nehmen dabei Intentionalität wechselseitig wahr, reagieren aufeinander und lernen gemeinsam 19 . Der Mensch kommuniziert im Gegensatz zum Tier mit praktischer Rationalität, er verwendet Sprache auf komplexe Weise und ur‐ teilt über den Zustand der Welt, bevor, während und nachdem er handelt und kommuniziert. Menschen können durch Kommunikation ihr soziales Handeln evaluieren, modifizieren und verändern. Die Steine haben einander nichts zu sagen, sie kommunizieren nicht. Hö‐ here Säugetiere haben einander etwas zu sagen, um ihre blanke Existenz zu organisieren. Sie kommunizieren vorsprachlich. Menschen evaluieren, re‐ flektieren und antizipieren die Welt in der Kommunikation und der Werk‐ tätigkeit. Marx analysiert den antizipativen Charakter der menschlichen Tätigkeit folgendermaßen: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachs‐ zellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war” 20 . Die Komplexität der Gesellschaft reflektiert sich in der Komplexität der sprachlichen Kommunikation. Die Kommunikation ist wie die Werktätigkeit Moment der tätigen Welterzeugung des Menschen, der Produktion und Re‐ produktion der Gesellschaft. Menschen bringen die gesellschaftliche Welt in der reflexiven, selbstbewussten, antizipativen und kommunikativen Tätig‐ keit und der tätigen Kommunikation gemeinsam hervor. Die Materie ist die sich selbstproduzierende und selbstreproduzierende Prozess-Substanz der Welt. Man kann über jede Materieform fragen und feststellen, wann sie beginnt und endet. Für die Materie selbst macht diese 49 2.1. Materie 49 <?page no="50"?> 21 Slavoj Žižek. 2016. Absoluter Gegenstoß: Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus. Frankfurt am Main: S. Fischer. Frage keinen Sinn, da Etwas nicht aus Nichts entstehen kann, sondern nur aus etwas Anderem. Hier unterscheidet sich der Materialismus von aller religiösen Ideologie, die an die göttliche Schöpfung glaubt. Die Materie ist, während die Religion glaubt. Es muss immer Etwas sein. Vor und nach jeder bestimmten Materieform gibt es eine andere Materieform oder Instanzen davon. Die Materie ist unendlich. Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Sie entwickelt sich. Die Materie ist dialektisch. Wovon aber handelt die Dialek‐ tik? Der nächste Abschnitt wird sich mit dieser Frage beschäftigen. 2.2. Dialektik Für Slavoj Žižek 21 ist die Retroaktivität die zeitliche Dimension der dialek‐ tischen Logik des Seins. Materieformen, die aufeinander bezogen sind, wi‐ dersprechen sich. Sie negieren sich, was bedeutet, dass sie einander zugleich ausschließen und bedingen. Entwicklung bedeutet, dass Zeitpunkte erreicht werden, an denen die Negation selbst negiert wird, der Widerspruch schlägt in neue Qualitäten des Seins um. Nach einer derartigen Negation der Nega‐ tion wird aus dem Ergebnis der Entwicklung der Anfang eines neuen dia‐ lektischen Prozesses. Die Dialektik ist also unendlich, ihr Ergebnis wird als die Voraussetzung und der Anfang eines neuen dialektischen Widerspruches gesetzt. Die Setzung des Endes und des Ergebnisses als Anfang und neuer Ausgangspunkt ist ein Moment der dialektischen Logik, wodurch das Wer‐ den möglich wird. Aufhebung In einem dialektischen Prozess entsteht Etwas aus Etwas und zugleich ver‐ schwindet Etwas ins Nichts. Das Sein hebt sich auf. Dass dialektische Ent‐ wicklung „Aufhebung“ ist, bedeutet, dass sich Etwas a) bewahrt, b) Etwas eliminiert und c) Etwas auf eine neue Stufe gehoben wird. Die Materie ist dialektisch und die Dialektik materialistisch: Die Welt hat eine dynamische materielle Substanz, die unendlich ist und immer existiert. Diese Substanz ist aber nicht statisch, sondern eine Prozess-Substanz, die sich entwickelt, indem durch Negation der Negation, also dem Aufheben von Widersprü‐ 50 2. Materialismus 50 <?page no="51"?> 22 Aristoteles, Metaphysik. § 1003 a. chen, Etwas zugleich zu Nichts und zu etwas Anderem wird. Ein Wider‐ spruch wird auch als „Negation“ bezeichnet, da in einem Widerspruch, der zwischen A und B besteht, A B negiert (A ist gegen B gerichtet) und B A negiert (B ist gegen A gerichtet). A und B sind entgegengesetzt. In der Ne‐ gation der Negation wird ein Widerspruch negiert, was bedeutet, dass er durch eine Transformation, die den Widerspruch zerbricht, herausgefordert wird. Bei einer Aufhebung/ Negation der Negation emergiert Etwas aus Etwas. Dieses neue Etwas ist aber etwas Anderes. Da das Andere aber Etwas ist, bleibt das Sein bestehen, bleibt Sein und kehrt in sich selbst durch Verän‐ derung zurück. Die Kontinuität des Seins ist durch dialektischen Wandel möglich, dialektischer Wandel durch Kontinuität des Seins. Die Aufhebung bewahrt, eliminiert und schafft neue Qualitäten. Dass Etwas aus Etwas ent‐ steht ist aber nur eine Dimension der Dialektik. Ein neues Etwas hat neue Qualitäten, was bedeutet, dass Aspekte des Seins zu Nichts werden. Schaf‐ fung ist nicht nur Schaffung (Emergenz) von Neuem, sondern auch die Im‐ mergenz, das Verschwinden von Aspekten des Alten. In der dialektischen Entwicklung taucht also auch das Sein in das Nichts hinab. Indem Sein zu neuem Sein wird, wird Dasein zu Nichts und Nichtseiendes, das möglich ist, zu Dasein. Die Dialektik der Entstehung von Neuem und der Eliminierung des Alten geht daher einher mit der Realisierung von Möglichkeiten. Die Materie ist, wie bereits Aristoteles betonte, in Möglichkeit. Die Möglichkeit kann zum Dasein werden, sie ist Noch-Nicht-Sein. In der Aufhebung wird Mögliches real, zu aktuellem Dasein. Nicht alles ist möglich. Ein Mensch mit Katzen‐ schweif, zwanzig Ohren und vierzig Nasen ist keine wirkliche Möglichkeit, einer ohne Katzenschweif und mit zwei Ohren und einer Nase jedoch schon. Es gibt also Möglichkeitsräume. In jeder Aufhebung entsteht ein neuer Möglichkeitsraum, der aus dem Noch-Nicht-Existierenden, den reinen Mög‐ lichkeiten, besteht. In der Aufhebung wird aus der nichtseienden Möglich‐ keit Dasein. Es „wird nichts von dem, dem zu sein unmöglich ist“. 22 Die Dialektik als das Feuer der Materie Heraklit lebte etwa von 520 bis 460 vor Christus in Ephesos, also mehr als hundert Jahre vor Aristoteles (384-322 vor Christus). Er war vielleicht einer 51 2.2. Dialektik 51 <?page no="52"?> 23 Heraklit. 2007. Fragmente und Zeugnisse. In Die Vorsokratiker, Band 1: Thales, Anaxi‐ mander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, hg. M. Laura Gemelli Marciano. Düsseldorf: Artemis & Winkler. S. 309. 24 Vgl. Žižek, Absoluter Gegenstoß. der ersten Dialektiker. Religion ist das Gegenteil von Dialektik, da sie an Gott als einen unbewegten Beweger der Materie glaubt, was die Selbstbe‐ wegungsfähigkeit der Materie verkennt. Herrschaft mobilisiert häufig Ideo‐ logie zu ihrer Rechtfertigung, um den Menschen glauben zu machen, sie können sich nicht selbst bestimmen, sondern benötigen Bestimmung durch andere. Herrschaft hat daher immer ein religiöses Element in sich. Im Ka‐ pitalismus ist die Religion durch die Ware und den Warenfetisch sogar in die Strukturen der Wirtschaft eingebaut. Heraklit: „Dieses ordentliche Ge‐ bilde hier, dasselbe für alle, schuf weder einer der Götter noch einer der Menschen, sondern es war immer und ist und wird sein; ewig lebendiges Feuer, entflammend nach Maßen und erlöschend nach Maßen“ 23 . Heraklit betont, dass die Materie ewig ist und ihre Ewigkeit und Kontinuität in ihrer und durch ihre Veränderung besteht. Die Dialektik ist ein Feuer, das sich selbst auslöscht und entflammt. Sie ist ein absoluter Gegenstoß, der seine Voraussetzungen selbst setzt 24 . Damit diese Selbstreferentialität und Selbst‐ produktion der Materie möglich ist, in der Etwas sich als Identität setzt und etwas Anderes wird, das eine neue widersprüchliche Differenz konstituiert, die eine Differenz in der Welt ausmacht, muss die Dialektik brennen wie ein Feuer. Das dialektische Feuer löscht einen Widerspruch und damit sich selbst aus. Diese Auslöschung ist aber zugleich die Selbstentflammung der Dia‐ lektik und die Entfachung eines neuen dialektischen Feuers, in dem das Alte aufgehoben ist und das Neue sich als neuer Widerspruch konstituiert. Die Dialektik ist der absolute Gegenstoß, indem sie ein Feuer ist, dass sich kon‐ tinuierlich selbst auslöscht und wiederentfacht. Die Dialektik als Selbstorganisation der Materie Die Materie ist causa sui, Ursache von sich selbst. Sie hat die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren und dadurch neue Formen und Organisationsstufen der Materie zu produzieren. Bei jedem Übergang von einer Organisations‐ stufe der Materie zur Nächsten (also zum Beispiel dem Übergang von un‐ belebter zu belebter Natur, von Tier zu Mensch, vom Kapitalismus zum So‐ zialismus, usw.), setzt die Materie ihre eigenen Voraussetzungen, nämlich 52 2. Materialismus 52 <?page no="53"?> 25 Georg Lukács. 1986. Georg Lukács Werke Band 14: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 34. 26 Ebd., S. 34. 27 Ebd., S. 35. 28 Ebd., S. 36. die Fähigkeit, Materieformen zu produzieren und damit sich selbst zu re‐ produzieren. Der Mensch als Materieform besitzt die Qualität, sich über die Produktion aktiver Verhältnisse bewusst zu sein. Die Menschen konstituieren und pro‐ duzieren miteinander die Gesellschaft durch ihre Werktätigkeit und ihre so‐ ziale Interaktion. Menschen als eine bestimmte Organisationsstufe der Ma‐ terie fragen sich „Was ist der Gegenstand dieses Gegenstandes in der Gesellschaft? “. Sie besitzen also die Fähigkeit, aktiv darüber zu reflektieren, wie die Gesellschaft aussieht, aussehen soll und wie sie verändert werden soll. Dass die Menschen Gesellschaft bewusst entwerfen, bedeutet nicht, dass sie ihre Ziele immer erfolgreich erreichen und dass sie keine Fehler machen, sondern dass die Menschen und dadurch die Gesellschaft die sich entwickelnde Fähigkeit besitzen, ihre eigene Freiheit herzustellen und eine Gesellschaft als Reich der Freiheit vom Mangel und als Reich der Freiheit von der Notwendigkeit zu erzeugen. Die Materie ist nur absoluter Gegenstoß durch die dialektische Produktion, als das Feuer, das sich selbst auslöscht und entzündet. Bewusstsein und Reflexion Die Reflexion ist eine Form des Bewusstseins, die laut Georg Lukács im „ak‐ tiven und produktiven Sein des Setzens von Kausalzusammenhängen“ eine Rolle spielt 25 . Während die Auswahl eines bestimmten Stocks oder Steins als Instrument beim Tier „mit biologischer Notwendigkeit“ 26 determiniert ist und das Bewusstsein daher natürlich bestimmt wird, ist die Auswahl einer Technik oder eines Instruments beim Menschen gesellschaftlich bestimmt, wodurch ein Nachdenken über alternative Optionen des Handelns und Wege zum Erreichen von Zielen gegeben ist. Im Werktätigkeitsprozess werden bewusste Entscheidungen zwischen Alternativen getroffen, sodass die „Kau‐ salkette“ 27 nicht wie in der Natur automatisch, sondern durch bewusste Ent‐ scheidungen erfolgt. Die Kausalketten der Entwicklung sind in der Gesell‐ schaft „Ketten von Alternativen“ 28 . Wenn zum Beispiel ein Programmierer Softwarecode schreibt, so muss er bewusst entscheiden, welche Algorith‐ 53 2.2. Dialektik 53 <?page no="54"?> 29 Ebd., S. 45. 30 Karl Marx und Friedrich Engels. 1845/ 46. Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 26. 31 Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband, S. 50. 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd., S. 95. men und Datenstrukturen verwendet werden, welche Programmiersprache verwendet wird, ob und wie Kommentare zur Nachvollziehbarkeit des Codes eingebaut werden, usw. Das menschliche reflektierende Bewusstsein er‐ möglicht in der Werktätigkeit die „Selbstbeherrschung des Menschen“, das Beherrschen der Affekte, das „Sichselbstschaffen des Menschen als Men‐ schen“, die „Selbstverwirklichung“ und das gesellschaftliche Sein 29 . Wenn Marx sagt, dass die „Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Be‐ wusstseins “ zunächst unmittelbar verflochten ist „in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“, die „Sprache des wirklichen Lebens“ 30 , so bringt er zum Ausdruck, dass das Bewusstsein und die Kom‐ munikation nicht nur produziert werden, sondern ihren Ursprung in der Werktätigkeit haben. Die Menschen haben angefangen, miteinander zu re‐ den, da sie sich etwas darüber zu sagen hatten, wie die Komplexität der Produktion organisiert werden soll. Und sie haben begonnen, zu denken, da die Komplexität der durch Werktätigkeit hervorgebrachten und organisier‐ ten Welt die Benennung von Alternativen, Formen und Handlungen not‐ wendig machte. Das menschliche Bewusstsein wird „in der Arbeit, für die Arbeit, durch die Arbeit ins Leben gerufen“ 31 . Die Realität wird nicht photographisch ins Bewusstsein kopiert, sondern ist von den menschlichen Zielen und „der ge‐ sellschaftlichen Reproduktion des Lebens“ 32 beeinflusst. Bewusstsein und Werktätigkeit sind verbunden und autonom. Bewusstsein alleine ist weder Verhalten noch Werktätigkeit, stellt aber eine Grundlage beider dar. Das Bewusstsein hat eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, da es dem Menschen ermöglicht, Ziele zu setzen und ein „distanziert-kritische[s] Verhalten […] zur eigenen Person“ 33 einzunehmen. Tätigkeit hat immer Aspekte der Be‐ wusstheit, da Menschen über die Ziele, Mittel und Konsequenzen ihres Han‐ delns nachdenken. Die Welt der Ideen und die Veränderung der Welt sind daher nicht unabhängig, sondern Teil einer Subjekt-Objekt-Dialektik, die die Werktätigkeit prägt. 54 2. Materialismus 54 <?page no="55"?> 34 Vgl. Christian Fuchs. 2003. The Self-Organization of Matter. Nature, Society, and Thought 16 (3): 281-313. Materie und Geist In einer materialistischen Philosophie gibt es nichts außerhalb der Materie, da die Materie als die Substanz der Welt gilt. Wird vom Geist, der Informa‐ tion, der Erkenntnis, dem Gedanken, der Ästhetik, usw. als „immateriell“ oder „nichtmateriell“ gesprochen, so deutet dies auf eine nichtmaterialisti‐ sche Philosophie hin. Eine derartige Annahme führt dazu, dass entweder der Geist als die Substanz der Welt gilt und die Dinge auf den Geist reduziert werden, oder dass Geist und Materie als die zwei unabhängigen Substanzen der Welt postuliert werden. Bei beiden Annahmen handelt es sich um Ver‐ sionen des philosophischen Idealismus. Wenn es etwas außerhalb der Materie gibt, dann hat die Welt in der ersten und letzten Instanz keinen zureichenden Grund. Der philosophische Satz des Grundes besagt, dass jedes Dasein einen Grund hat. Sind Geist und Ma‐ terie zwei in letzter Instanz die Welt grundlegende Substanzen, so kann die Frage nicht beantwortet werden, woher Geist und Materie kommen und was ihr gemeinsamer Grund ist. Man muss die Frage unbeantwortet lassen oder annehmen, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschuf. Es gibt zwei Spiel‐ arten dieser Argumentation, nämlich dass a) Gott als übersinnliches Wesen der Grund der zwei Substanzen ist, und dass b) Gott als absoluter Geist die Materie erschuf. Es gibt aber keinen Beweis für die Existenz Gottes. Der Materialismus vermeidet mit der Einsicht, dass die gesamte Welt materiell ist und die Materie die Prozess-Substanz der Welt ist, diese Probleme. Die Materie ist ihr eigener Grund, sie hat die Fähigkeit, sich selbst zu organisie‐ ren. Die Komplexitätstheorie bestätigt diese Einsicht 34 . Die Selbstorganisa‐ tionsfähigkeit der Materie ist ein für die Erklärung der Existenz der Welt zureichender Grund. Der Materialismus braucht zur Welterklärung nicht auf die Religion, die Esoterik oder andere externe Faktoren zurückzugreifen. Er ist eine bessere Welterklärung als der Dualismus und der idealistische Re‐ duktionismus, die die zwei Spielarten des Idealismus bei der Welterklärung darstellen. Ockhams Rasiermesser ist ein philosophisches Prinzip, das be‐ sagt, dass jene Theorie oder Erklärung besser ist, die mit weniger Annahmen auskommt. Der Materialismus braucht weniger Annahmen, um die Welt zu erklären, als der Dualismus und der Reduktionismus. 55 2.2. Dialektik 55 <?page no="56"?> 35 Vgl. Michael R. W. Dawson. 2013. Mind, Body, World: Foundations of Cognitive Science. Vancouver: UBC Press. Jay Friedenberg and Gordon Silverman. 2016. Cognitive Science: An Introduction to the Study of Mind. Thousand Oaks, CA: Sage. 3. Auflage. José Luiz Bermúdez. 2014. Cognitive Science. An Introduction to the Science of the Mind. Cambridge: Cambridge University Press. 2. Auflage. Am Materialismus, auch in seiner marxistischen Form, wird häufiger kri‐ tisiert, dass er die „immaterielle“ Welt vernachlässige, dem Geist, der Kom‐ munikation und der Symbolwelt keine Eigenständigkeit zugestehe und diese Phänomene auf Produktion und Materie reduziere. Dieses Argument über‐ sieht aber, dass die Welt dynamisch ist: Alles, das existiert, muss zu Dasein geworden sein. Es wird also produziert. Die Welt ist nicht statisch, sondern ist auf bestimmten Organisationsstufen immer in Bewegung. Wenn etwas gleichbleibt, so ist dies nur dadurch möglich, dass es auf darunterliegenden Organisationsstufen Veränderung gibt. Die Reproduktion benötigt und re‐ produziert die Produktion. Die Produktion produziert die Reproduktion. Gedanken, Zeichen und Kommunikation existieren nicht einfach, sondern müssen produziert und reproduziert werden. Die Kommunikation ist kein Austausch, sondern die soziale Produktion geteilter Bedeutungen, durch die die Menschen einander, die Natur, die Gesellschaft sowie die soziale, wirt‐ schaftliche, technische, politische und kulturelle Welt interpretieren. Die materialistische Annahme, dass die Materie eine Prozess-Substanz ist, die ihre eigene Ursache ist und die Fähigkeit der Produktion und Selbstor‐ ganisation besitzt, erlaubt eine dialektische Erklärung des Geistes. Der Geist ist eine Organisationsstufe der Materie, die mit und im Rahmen der Entste‐ hung von Mensch und Gesellschaft entstand. Ohne der physikalischen und biologischen Welt, auf der die menschliche Welt aufbaut ufinden. Diese Fra‐ gen werdennd aus der sie entstanden sind, gäbe es keinen Menschen und keinen Geist. Gleichzeitig unterscheidet sich der Geist aber von der organi‐ schen und anorganischen Natur, da der Mensch ein selbstbewusstes, bewusst und zielorientiert produzierendes und moralisches Wesen ist, das wir in der Natur nicht antreffen. Die geistige Welt der Ideen wird im menschlichen Gehirn erzeugt und braucht ein physikalisches Medium, um existieren zu können. Die Erfor‐ schung der Funktionsweise des Gehirns gibt der Wissenschaft Rätsel auf. Wir wissen heute aus der Kognitionswissenschaft und Gehirnforschung 35 , dass Gedanken das emergente Ergebnis selbstreferentieller Aktivitätszu‐ stände von Neuronennetzwerken im Gehirn sind. Der Gedanke ist nicht stofflich, aber basiert auf und emergiert aus den vernetzten Aktivitäten der 56 2. Materialismus 56 <?page no="57"?> 36 Hegel, Werke 8, Enzyklopädie: Logik. § 90. 37 Ebd., Zusatz zu § 91. 38 Ebd., § 142. Komponenten eines physikalischen Systems, des Gehirns. Dass der Geist materiell ist, bedeutet, dass das Denken aus der dynamischen, vernetzten Produktionstätigkeit des Gehirns entsteht. Das Gehirn und der Rest des Körpers stehen in einer dialektischen Verbindung. Die im Gehirn organi‐ sierten Denkprozesse hören auf, wenn ein Lebewesen stirbt. Zur Erklärung des Geistes bedarf es keiner Religion, keiner Esoterik und keiner idealisti‐ schen Philosophie. Reales, Symbolisches und Imaginäres Man kann nun einwenden und fragen: Sind Träume, Fantasien, Ideologien, die Figuren in einem Roman, Mythen oder die Idee von Gott nicht immate‐ riell, da sie anscheinend kein Korrelat und Substrat in der Realität haben? Und sind abstraktes, formales Wissen wie Theorien, Software oder Mathe‐ matik materiell und real? Wie alle ideellen Phänomene sind auch die eben genannten materiell, da sie von spezifischen Menschen oder Gruppen gelebt und ausgedrückt wer‐ den. Jede Idee hat eine Beziehung zu einem Gegenstand, sie hat neben einer Form auch einen Inhalt. Jeder Bewusstseinsinhalt und jede Idee hat einen Bezug zur Realität (Reales), benutzt Zeichen (Symbolisches) und hat imagi‐ näre Aspekte (Imaginäres). Für Hegel sind das Dasein und die Realität „Sein mit einer Bestimmtheit“, das unmittelbar und Qualität ist 36 . Die Realität ist „nicht nur ein Inneres, Subjektives, sondern ins Dasein herausgetreten“ 37 . Die Realität ist ein Aspekt des qualitativen Seins. Etwas, das keine Referenz zur Realität hat, ist kein reales Sein, sondern imaginär. Realität und Wirk‐ lichkeit sind nicht dasselbe. Für Hegel ist die Wirklichkeit die Einheit des Wesens und der Existenz 38 . Wirklichkeit ist vernünftiges Sein. Ein Haus, das jemand gebaut hat, ist genauso real, wie die Gedanken, die diese Person darüber hat. Der Inhalt der Gedanken darüber, wie das noch nicht gebaute Haus aussehen soll, sind imaginär (also nichtreal), da sie auf einen nicht existierenden Referenten verweisen. Das in der Vorstellung konstruierte Haus ist zwar imaginär, aber dennoch potenzielle Realität, so‐ weit es physikalisch realisierbar ist. Ein Traum über ein aus Schokolade ge‐ bautes Haus auf dem imaginären Planeten Schokoladenmond ist zwar ma‐ 57 2.2. Dialektik 57 <?page no="58"?> teriell und existiert in einem realen menschlichen Subjekt, aber das geträumte Haus ist imaginär und unmöglich und daher keine potenzielle Realität. Bei diesem Trauminhalt handelt es sich also um imaginäres, irrea‐ les, unmögliches Sein. Unsere Ideen können sich auf Reales, Imaginäres, Mögliches oder Unmögliches beziehen. Gedanken sind materiell und exis‐ tieren in realen Subjekten, beziehen sich aber nicht immer auf reales Sein, sondern auch auf nichtreales Sein, also Imaginationen. Das nichtreale Sein, das durch die Vorstellungskraft imaginiert wird, kann entweder potenziell real (also mögliche Realität) oder unmöglich (also eine Vorstellung, die keine Realität werden kann) sein. Das Bewusstsein, egal ob es nur in unserem Gehirn als Traum oder Idee oder in externalisierter Form in einem Buch oder Theaterstück oder Fernsehfilm auftritt, ist immer materiell und hat einen Bezug zu einem realen Subjekt. Bewusstseinsinhalte haben in bestimmter Weise immer einen Bezug zur Realität sowie symbolische und imaginäre Aspekte, die je nach Bewusstseinsform unterschiedliche Rollen und Wer‐ tigkeiten haben. Träume handeln von einer vorgestellten Welt, die aber oft Symbole für reale Erfahrungen und bewusste sowie unterbewusste Wünsche sind, die real im menschlichen Subjekt existieren. Der Roman stellt eine fiktive Welt vor, die durch Schrift im Buch und Gedanken im Gehirn bezeichnet werden und die oft sehr indirekt Aussagen über die gesellschaftliche Realität ma‐ chen. Die Religion ist eine Auseinandersetzung mit metaphysischen Aspek‐ ten der realen Gesellschaft wie den Ursprung, den Tod, den Sinn des Lebens, Gut und Böse (Moral, Ethik) und die Zukunft der Welt. Die Metaphysik ist eine Auseinandersetzung mit Phänomenen und Fragen, die wir nicht un‐ mittelbar erfahren können. Sie ist ein Teilaspekt der Philosophie, aber auch Gegenstand unseres alltäglichen Denkens. Religion ist eine Antwort auf das reale Bedürfnis der Menschen, Antworten auf metaphysische Fragen zu fin‐ den. Diese Fragen werden oft in ritualisierter Form behandelt, einer Zei‐ chenwelt von Gebeten, Liturgien (Zeremonien, Riten, Gottesdienst), Glau‐ benstexten, Wallfahrten, Dingen (Bilder, Ritual-Objekte, etc.), usw. Diese symbolischen Praktiken und Dinge sind einer rein imaginären Welt gewid‐ met, der Welt von Gott und des Jenseits, die Antworten auf die metaphysi‐ schen Fragen der Welt verspricht. Die Ideologie setzt sich mit meist realen politischen Fragen der Gesell‐ schaft auseinander. Sie hat wie Religionen, Romane und Träume stark ima‐ ginäre Aspekte. Die Ideologie behauptet einen Zustand der Welt oder eine Lösung für Probleme, die nicht dem realen Zustand entsprechen und keine 58 2. Materialismus 58 <?page no="59"?> realen Lösungen bieten, um Herrschaftsverhältnisse einerseits zu vernebeln und andererseits zu legitimieren. In der Ideologie kommen meist Sünden‐ böcke vor, die als Symbole für Gesellschaftsprobleme vorgestellt und ima‐ giniert werden, deren Ursachen reale Machtverhältnisse sind, die vernebelt werden. Die Ideologie präsentiert das Imaginäre als Realität. In abstrakten theoretischen und wissenschaftlichen Gebilden wie einer Theorie oder Softwarecode ist der Bezug zur Realität die Beschreibung oder Modellierung von Aspekten der realen Welt und/ oder die Verwendung in der Gesellschaft. Die symbolische Ebene besteht in der Verwendung einer durch Kategorien oder artifizielle Symbole (Programmiersprache, mathe‐ matische Symbole und Formeln) konstituierten Sprache. Wissenschaft hat in der Regel den Anspruch, die Realität wahrheitsgetreu darzustellen und keine imaginären Beschreibungen der Welt zu geben, sondern aufzudecken und zu analysieren, wie die Welt real aussieht. Ein Computerspiel gleicht hingegen oft mehr einem Roman, da der abstrakte Code verwendet wird, um eine fiktive Welt darzustellen. Positivistische und bürgerliche Wissen‐ schaft hat aber oft eine ideologische Rolle im Kapitalismus, da Herrschaft legitimiert und fetischisiert wird. Hinter ihrem eigenen Rücken und Be‐ wusstsein tritt also die imaginäre Komponente in der Form von Ideologie in der bürgerlichen Wissenschaft hervor. Die kritische Wissenschaft hingegen möchte derartige Ideologien der bürgerlichen Wissenschaft und des bür‐ gerlichen Denkens aufzeigen, worin der Gegenstand der Kritik besteht. Sie hat aber zugleich auch eine imaginäre Komponente, die jedoch nichtideo‐ logisch ist: Sie möchte verdeutlichen, wie die Gesellschaft aussehen könnte, wenn sie ihre Möglichkeiten wahrnimmt und Herrschaft abschafft. Was sind die Implikationen dieser Überlegungen für die Kommunikation? Die Kommunikation ist ein materieller und realer Prozess, der soziale Rea‐ lität schafft und reproduziert, indem die Menschen in Symbolform Inter‐ pretationen über reales und imaginäres Sein sowie über mögliches und un‐ mögliches Sein an andere Menschen vermitteln. Diese Menschen nehmen diese Vermittlung als Anlass, um ihrerseits bestimmte Interpretationen der Welt zu machen, die sich auf Reales, Imaginäres, Mögliches oder Unmögli‐ ches beziehen. Im Kommunikationsprozess interagiert ein Mensch A sym‐ bolisch mit mindestens einem anderen Menschen B (oder einer größeren Anzahl von Menschen), und B interagiert symbolisch mit A. Sie bedeuten einander und interpretieren wechselseitig die Handlungen des anderen. Als Ergebnis der Kommunikation schaffen oder verändern die involvierten Menschen soziale Beziehungen. Kommunikation ist der Produktionsprozess 59 2.2. Dialektik 59 <?page no="60"?> der Sozialität. Dass die Kommunikation Sozialität produziert ist nur ein an‐ derer Ausdruck dafür, dass die Menschen nicht nicht kommunizieren kön‐ nen, wenn sie auf andere Menschen treffen. Wenn wir mit einer Kommunikation konfrontiert sind, die Imaginäres erfindet und behauptet, dass dieses Sein nicht imaginär, sondern real ist, um Herrschaft und Herrschaftsinteressen zu legitimieren, dann haben wir es mit Ideologie zu tun. Ideologiekritik ist eine wichtige Aufgabe kritischer Kommunikationstheorie. Kommunikative Praktiken, die darauf ausgerich‐ tet sind, die vollen Möglichkeit der Gesellschaft real und wirklich werden zu lassen, sind ein Moment der Politik. Die Ideologie wirkt auf das Bewusstsein, hat aber keine determinierende Wirkung. Durch die Produktion und Verwendung von Ideologie zielen Men‐ schen darauf ab, falsches Bewusstsein zu erzeugen, also ein Bewusstsein, dass die Welt verkehrt auffasst, ein Bewusstsein, in dem das Sein als Schein erscheint, also Scheinrealität ist. Ideologen intendieren, ein Bewusstsein zu schaffen, in dem Wesen, Wirklichkeit und Realität der Welt verdeckt sind. Ob sie dieses Ziel erreichen können, ist eine Frage der gesellschaftlichen Umstände und gesellschaftlicher Kämpfe. 2.3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die wichtigsten Schlussfolgerungen dieses Kapitels können folgenderma‐ ßen zusammengefasst werden: ■ Der Materialismus betont, dass die gesamte Welt als Produktionszu‐ sammenhang der sich selbst produzierenden und sich selbst organi‐ sierenden Materie besteht und sich entwickelt. Er ist idealistischen, dualistischen und religiösen Weltanschauungen entgegengesetzt. ■ Reduktionistische Formen des Materialismus reduzieren die Welt auf einzelne Teile und sehen nicht, dass die Materie prozesshaft ist. Die Dialektik ist dieser Anschauung entgegengesetzt. Sie erfasst die Ma‐ terie als Prozess-Substanz, die sich durch Widersprüche und Aufhe‐ bungen entwickelt und neue Organisationsstufen produziert. ■ Der Geist und die menschliche Kommunikation existieren nicht au‐ ßerhalb der Materie, sondern als Aspekte der menschlichen und ge‐ sellschaftlichen Organisationsform der Materie, in der die Menschen durch reflexive, selbstbewusste, antizipative, soziale und kommuni‐ 60 2. Materialismus 60 <?page no="61"?> kative Tätigkeit und tätige Kommunikation gesellschaftliche Realität hervorbringen, reproduzieren und verändern. Auf Basis dieser Auseinandersetzung mit den Begriffen der Materie und der Dialektik wird im nächsten Kapitel die Frage aufgeworfen, wie die Grund‐ lagen einer materialistischen Theorie der Gesellschaft aussehen. 61 2.3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 61 <?page no="63"?> 1 Max Weber. 1976. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tü‐ bingen: Mohr. 5. Auflage (Originalausgabe 1921/ 1922). 2 Émile Durkheim. 1984. Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp (Französische Originalausgabe 1895). 3 Anthony Giddens. 1995. Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main: Campus. 3. Materialismus und Gesellschaft Dieses Kapitel diskutiert die materialistische Gesellschaftsanalyse. Zu den Grundlagen einer materialistischen Gesellschaftstheorie gehört die Ausein‐ andersetzung mit den Fragen, in welchem Verhältnis Subjekt und Objekt stehen (3.1), wie das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit aussieht (3.2). welche Kräfte und Verhältnisse die menschliche Produktion prägen (3.3), in welchem Verhältnis Wirtschaft und Gesellschaft zueinanderstehen (3.4) und was die moderne Gesellschaft kennzeichnet (3.5). 3.1 Subjekt und Objekt Der Strukturalismus betont, wie die Produktionsweise, Institutionen, Macht, der Staat, Ideologie und andere Strukturen den Menschen als Subjekt, d. h. sein Denken und seine Tätigkeiten, bestimmen, einschränken und (re)pro‐ duzieren, wodurch die Menschen Träger von Strukturen sind, denen be‐ stimmte Funktionen in der Gesellschaft zugewiesen werden. Handlungs- und praxisorientierte Ansätze betonen hingegen, wie die Menschen als aktive Wesen die Gesellschaft und deren Strukturen hervorbringen, verän‐ dern und reproduzieren, wodurch sie Geschichte machen. In der klassischen Soziologie wird dieser Gegensatz deutlich an Hand des Unterschiedes der beiden Ansätze von Max Weber und Émile Durkheim, der Handlungstheorie und dem Strukturalismus/ Funktionalismus. Während Weber hervorhebt, dass die Gesellschaft ein Zusammenhang des sozialen Handelns der Men‐ schen ist 1 , betont Durkheim, dass soziale Tatbestände unabhängig vom In‐ dividuum existieren und auf die Menschen äußere Zwänge ausüben 2 . Soziologen wie Anthony Giddens 3 brüsten sich damit, dass ihre Ansätze die Kluft zwischen Handlungstheorie und Strukturalismus überwunden ha‐ <?page no="64"?> 4 MEW Band 40, S. 537. 5 Karl Marx und Friedrich Engels. 1845/ 46. Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 20. 6 Ebd., S. 21. 7 MEW Band 3, S. 17-100. 8 Ebd., S. 28. 9 Ebd., S. 28. 10 Ebd., S. 28. 11 Ebd., S. 26. ben. Diese Kluft wurde aber bereits von Marx‘ Dialektik aufgehoben. Marx schrieb 1844 in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten: „wie die Ge‐ sellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert” 4 . Die auf Marx fußende Philosophie und Theorie geht von einer Dialektik von Subjekt und Objekt aus. Der Ausgangspunkt der Gesellschaftsanalyse ist „die Existenz lebendiger menschlicher Individuen“ 5 , die „ihr materielles Leben selbst“ 6 produzieren und in sozialen Beziehungen zueinanderstehen. Die Gesellschaft ist ein menschlicher Produktionszusammenhang sozialer Verhältnisse. Was ist ge‐ sellschaftliche Materie, d. h. die Organisation der Materie im Bereich des Menschen und der Gesellschaft? Karl Marx hat darauf unter anderem im Feuerbach-Kapitel der Deutschen Ideologie 7 eine Antwort gegeben: Die Ma‐ terialität der Gesellschaft besteht in der Sozialität und Gesellschaftlichkeit der Produktion. Die Menschen produzieren gesellschaftlich. Gesellschaft und soziale Produktion Marx sagt, dass Gesellschaft ein Zusammenhang ist, in dem die Menschen die Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erzeugen 8 . In der Gesellschaft produzieren die Menschen in sozialen Verhältnissen die Mittel, um sich „am Leben zu erhalten“ 9 . „Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere” 10 . Materialismus der Gesell‐ schaft bedeutet nun aber nicht, dass es in der Gesellschaft nur um die Pro‐ duktion von Essen und Trinken geht. Vielmehr gehört zum Leben, Überleben und guten Leben „noch einiges Andere“ wie die Freundschaft, die Liebe, die Politik, die Kultur, die Auseinandersetzung mit Anderen, usw. Entscheidend ist, dass die Gesellschaft ein Zusammenhang ist, in dem die Menschen ihr Leben bewusst sozial und gesellschaftlich, also im Verhältnis zueinander, produzieren. Zur gesellschaftlichen Produktion gehört auch die „Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins“ 11 . Dass diese „verflochten“ sind 64 3. Materialismus und Gesellschaft 64 <?page no="65"?> 12 Ebd., S. 26. 13 Ebd., S. 26. 14 Max Weber. 1922. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Sozialökonomik. Tübingen: J. C. B. Mohr. S. 13. 15 MEW Band 23, S. 793. 16 Ebd., S. 71. 17 Ebd., S. 71. 18 MEW Band 3, S. 6 & 534. „in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“ 12 bedeutet nicht, dass die Wirtschaft das Denken determiniert, sondern dass die Ideen von Menschen in gesellschaftlichen Verhältnissen, die in Klassen‐ gesellschaften Herrschaftsverhältnisse sind, produziert werden. Bewusst‐ sein und Kommunikation sind also in gesellschaftliche Verhältnisse einge‐ bunden, die als Medium die „Sprache des wirklichen Lebens“ 13 bilden, also die Produktion unterschiedlicher Strukturen vermitteln. In der bürgerlichen Soziologie hat Max Weber eine soziale Beziehung als „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und da‐ durch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ definiert 14 . Diese Einsicht ist je‐ doch nicht neu. So verwies Marx darauf, dass wir es in der menschlichen Welt mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben. In seiner Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus erarbeitete Marx zugleich eine all‐ gemeine Soziologie. Im Kapitalismus und der Gesellschaft im Allgemeinen existiert alles in und durch gesellschaftliche Verhältnisse. Die Ware, das Ka‐ pital, die Arbeit, das Geld, der Wert, die Klassen, die Ausbeutung, die Herr‐ schaft, der Kapitalismus, Kämpfe, der Sozialismus, usw. sind gesellschaftli‐ che Verhältnisse. So schreibt Marx zum Beispiel im Kapital, dass „das Kapital nicht eine Sache ist, sondern ein durch Sachen vermitteltes Verhältnis zwi‐ schen Personen” 15 , dass der Wert „etwas rein Gesellschaftliches” 16 ist oder dass die „relative Wertform einer Ware […] ein gesellschaftliches Verhält‐ nis” 17 verbirgt. Marx schrieb 1845 in seiner sechsten Feuerbach-These, dass das „mensch‐ liche Wesen […] das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist“ 18 . Die Menschen gehen in ihrem alltäglichen Leben ständig Beziehungen ein, sie leben in und durch soziale Beziehungen, wodurch sie die Gesellschaft produzieren und reproduzieren. Die Gesellschaft ist die Totalität der sozialen Beziehungen zwischen Menschen. Soziale Systeme als kleinere Totalitäten sozialer Beziehungen sind durch die unterschiedlichen Rollen, Beziehungen und Aktivitäten der Menschen miteinander verbunden. Die sozialen Bezie‐ 65 3.1 Subjekt und Objekt 65 <?page no="66"?> hungen der Menschen sind immer gesellschaftliche Beziehungen, da die all‐ täglichen Praktiken der Menschen die Gesellschaft als Totalität hervorbrin‐ gen und die Gesellschaft unser Denken und Handeln bedingt und beeinflusst. Soziale Beziehungen können flüchtig und kurzlebig sein oder aber auch zu Strukturen werden. Eine Struktur ist eine regularisierte soziale Bezie‐ hung, die durch Wiederholung und Wiederholbarkeit Kontinuität und eine gewisse Stabilität im Raum und in der Zeit hat. Strukturen sind nicht das spontane Ergebnis einmaliger Handlungen, sondern entstehen nur durch kontinuierliches Handeln in bestimmten Räumen und zu bestimmten Zeit‐ punkten, die wiederholt werden. Strukturen sind das rekursive Resultat menschlicher Praktiken: Die Menschen produzieren und reproduzieren durch die Praktiken in ihren sozialen Beziehungen Strukturen, die weitere Praktiken bedingen, ermöglichen und einschränken. Praktiken produzieren und reproduzieren Strukturen, die weitere Praktiken ermöglichen, die wie‐ derum Strukturen reproduzieren, usw. Es gibt also eine Dialektik von Struk‐ turen und Praktiken, von Objekt und Subjekt, in der Gesellschaft. Abbildung 3.1 veranschaulicht diese Dialektik. Ein soziales System ist ein Zusammen‐ hang sozialer Beziehungen, der räumliche und zeitliche Grenzen sowie Mit‐ gliedschaftsgrenzen hat. Brechen wichtige soziale Beziehungen, die ein so‐ ziales System konstituieren, zusammen, so kommt es zum Ende des Systems. Jedes Sozialsystem ist ein Ensemble sozialer Verhältnisse, das in der Gesell‐ schaft organisiert ist. Die Gesellschaft ist eine Totalität sozialer Systeme und daher zugleich eine Totalität gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse und daher eine Totalität menschlicher Praktiken. 66 3. Materialismus und Gesellschaft 66 <?page no="67"?> 19 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. In MEW Band 40, S. 516. 20 Ebd., S. 539. AKTEURE STRUKTUREN Praktiken Bedingung, Ermöglichung, Einschränkung Abbildung 3.1: Die Dialektik von Strukturen und Praktiken Der Mensch als Gattungswesen Marx spricht vom Menschen als Gattungswesen, da er bewusst produziert, um seine Bedürfnisse zu befriedigen („die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen” 19 ), wobei er einen Stoffwechsel mit der Natur eingeht und sich mit anderen Menschen auseinandersetzt. Dass der Mensch ein Gattungswesen ist, bedeutet, dass er ein natürliches, sinnliches, soziales, gesellschaftliches, produzierendes Wesen ist. Dazu gehört auch, dass er ein denkendes und kommunizierendes Wesen ist, da Produktion, Denken und Kommunikation nur gemeinsam existieren können: „Als Gat‐ tungsbewusstsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das Gat‐ tungssein sich im Gattungsbewusstsein bestätigt und in seiner Allgemein‐ heit, als denkendes Wesen, für sich ist“ 20 . Ludwig Feuerbach betont, dass Sprache und Kommunikation Teil des Wesens der menschlichen Gattung sind: „Die Sprache ist nichts Anderes, als die Realisation der Gattung, die 67 3.1 Subjekt und Objekt 67 <?page no="68"?> 21 Ludwig Feuerbach. 1839. Kritik der Hegel’schen Philosophie. In Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke. Zweiter Band: Philosophische Kritiken und Grundsätze, 185-232. Leip‐ zig: Otto Wigand Verlag. S. 196. 22 Übersetzung aus dem Englischen: Martha Nussbaum. 1992. Human Functioning and Social Justice. In Defsense of Aristotelian Essentialism. Political Theory 20 (2): 202-246. S. 205. 23 Übersetzung aus dem Englischen: Scott Meikle. 1985. Existentialism in the Thought of Karl Marx. London: Duckworth. S. 8. Vermittlung des Ich mit dem Du, um durch die Aufhebung ihrer individu‐ ellen Getrenntheit die Einheit der Gattung darzustellen“ 21 . Vom menschlichen Gattungswesen zu sprechen bedeutet, dass man be‐ hauptet, dass es ein universelles Wesen aller Menschen gibt. Alle Menschen sind soziale, gesellschaftliche und produzierende Wesen. Kommunikation ist Teil der Produktion und geht zugleich über diese hinaus. Die Menschen produzieren durch Kommunikation soziale Beziehungen (produktive Kom‐ munikation) und kommunizieren in der Produktion. Konstruktivisten stellen oft jeden Anspruch auf Universalismus und das menschliche Wesen mit dem Argument in Frage, dass Universalismus oft ein falscher Universa‐ lismus ist, der bestimmte Gruppen exkludiert. Oder sie lehnen den Univer‐ salismus ab, indem sie sagen, dass die Lebensumstände der Menschen un‐ terschiedlich, kontextabhängig, lokal und unvergleichbar sind und dass jeder Universalismus die unterschiedlichen menschlichen Bedürfnisse und Lebensumstände vernachlässigt. Martha Nussbaum warnt davor, dass der Konstruktivismus leicht zu einem „extremen Relativismus“ 22 führen kann, der Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Ausbeutung im Namen des Anti- Universalismus, des Anti-Essentialismus und der Differenz rechtfer‐ tigt. Scott Meikle argumentiert, dass Louis Althusser großen Einfluss auf den Aufstieg des zeitgenössischen Anti-Essentialismus gehabt hat. Der an‐ tiessentialistische Relativismus „ist seit den 1960ern in all den Modeströ‐ mungen und Unterformen des Althusserismus, die ihr Moment gehabt ha‐ ben, reproduziert worden“ 23 . Nussbaum verteidigt im Gegensatz dazu den aristotelischen Essentialismus, indem sie argumentiert, dass das menschli‐ che Wesen in grundlegenden menschlichen Fähigkeiten (Capabilities) be‐ steht, die die Bedürfnisse des Menschen definieren. Menschliche Vermögen wie die Fähigkeit zur Liebe, die Bedürfnisse nach Liebe, Gesundheit, einem erfüllten und guten Leben, gemeinsam mit und für andere zu leben usw. bilden eine Einheit in der Vielfalt der Menschen. Es handelt sich um uni‐ 68 3. Materialismus und Gesellschaft 68 <?page no="69"?> 24 Georg Lukács. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis. S. 499-500. 25 Ebd., S. 174. 26 Ebd., S. 482. verselle Vermögen und Bedürfnisse, die in unterschiedlichen Kontexten ver‐ schiedene Ausdrucksformen annehmen. Eine wichtige Grundfrage der Gesellschaftsanalyse ist jene nach dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Der nächste Abschnitt setzt sich damit auseinander. 3.2. Freiheit und Notwendigkeit Der strukturalistische Determinismus nimmt an, dass wirtschaftliche oder andere Strukturen mit Notwendigkeit die Menschen zu bestimmten Prakti‐ ken (wie einer Revolution) treiben oder zum Zusammenbruch sozialer Sys‐ teme führen. Der voluntaristische Individualismus geht hingegen von der absoluten Freiheit und zwanglosen Existenz des Menschen aus, die unab‐ hängig von Gesellschaftsstrukturen alles erreichen können, was sie wollen, wenn sie es wollen. Der erste Ansatz fetischisiert die Notwendigkeit, der zweite die Freiheit, die Spontanität und den Zufall. Georg Lukács kritisiert an diesen Ansätzen, dass sie das bürgerliche „Di‐ lemma von Voluntarismus und Fatalismus“ 24 konstituieren, in dem sie „ein‐ ander notwendig zugeordnete Pole“ 25 des bürgerlichen Denkens darstellen. Der Strukturalismus fetischisiert die Notwendigkeit bis hin zu einem me‐ chanischen Determinismus, in dem die Menschen gar keine Handlungsfrei‐ heiten und -optionen haben und hundertprozentig als Charaktermasken in vorprogrammierten Handlungsweisen gefangen sind. Der Voluntarismus reduziert die Gesellschaft auf das Individuum und hat ein individualistisches Verständnis der Gesellschaft, in dem Veränderung rein spontan passiert und nahezu alle Veränderungen jederzeit möglich sind. Lukács argumentiert für eine nicht fatalistische und nicht-ökonomistische Theorie 26 , die zugleich nichtvoluntaristisch und nichtindividualistisch ist. Eine solche Theorie muss von einer Dialektik von Subjekt/ Objekt, Individuum/ Gesellschaft, Politik/ Ökonomie, Praktiken/ Strukturen und Zufall/ Notwendigkeit ausgehen. Marx hat in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte einen solchen Ansatz formuliert, indem er betont, dass die Menschen „ihre 69 3.2. Freiheit und Notwendigkeit 69 <?page no="70"?> 27 MEW Band 21, S. 115. 28 Wladimir I. Lenin. 1920. Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommu‐ nismus. In Lenin Werke Band 21. Berlin: Dietz. S. 71. eigene Geschichte“ machen, aber „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ 27 . Lenin hat diese Einsicht von Marx auf die Frage angewendet, wie und wann fundamentale gesellschaftliche Verän‐ derungen stattfinden: „Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die aus‐ gebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewusst werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die »Unterschichten« das Alte nicht mehr wollen und die »Oberschichten« in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen. […] Die Revo‐ lution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Aus‐ beuter erfassende) Krise” 28 . Strukturelle Krisen beeinflussen die Bedin‐ gungen des politischen Handelns. Es gibt immer Reaktionen auf Krisen, ob diese jedoch zu emanzipatorischen Bewegungen führen, indem sich kritisches Bewußtsein regt und in der Form gesellschaftlicher Kämpfe von Unten organisiert, ist nicht vorherbestimmt. Die Krise muss die Notwen‐ digkeit der Veränderung auf die politische Tagesordnung setzen (man kann nicht „in der alten Weise“ weitermachen) und in dieser Situation müssen die Unterdrückten grundlegenden Wandel wollen („das Alte nicht mehr wollen“), damit die Entstehung emanzipatorischer politischer Prak‐ tiken (Praxis) möglich ist. Die Dialektik von Subjekt und Objekt konstituiert eine prozessuale On‐ tologie der Gesellschaft und der Geschichte. Strukturen (wie Kapital, Markt, Staat, Ideologien, usw.) beeinflussen und bedingen menschliche Praktiken, wodurch Strukturen produziert und reproduziert werden. Krisen eröffnen historische Möglichkeiten für grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, wobei jedoch nicht determiniert ist, ob dieser eintritt und wie genau er aus‐ sieht. Diese Fragen sind davon abhängig, ob die unterdrückten Klassen und Gruppen kollektives kritisches Bewusstsein ausbilden, sich politisch orga‐ nisieren, Klassenkämpfe durchführen und sich gegen entgegenwirkende Kräfte (wie ideologische, psychologische, strukturelle, physische und staat‐ liche Gewalt) durchsetzen können. Eine historische neue Form der Gesell‐ 70 3. Materialismus und Gesellschaft 70 <?page no="71"?> 29 Herbert Marcuse. 1941/ 1989. Schriften Band 4: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 276. 30 Herbert Marcuse. 1966/ 1984. Zur Geschichte der Dialektik, In Schriften Band 8. Frank‐ furt am Main: Suhrkamp. S. 224. schaft entsteht aus Krisen, in denen sich revolutionäre Praxis gegen kon‐ servative Kräfte durchsetzt. Das menschliche Selbstbewusstsein ermöglicht Freiheit in der Notwen‐ digkeit, also menschliche Handlungsmöglichkeiten und -optionen unter nicht selbstgewählten Bedingungen. Bewusstes menschliches Handeln er‐ möglicht also einen gewissen Handlungsspielraum und ist ein Aspekt des relativen Zufalls. Herbert Marcuse argumentiert, dass die objektive Dialektik des Kapita‐ lismus in der Entwicklung von Krisen aus den strukturellen Widersprüchen dieser Gesellschaftsformation besteht und dass die Menschen in solchen Si‐ tuationen die Zukunft in ihren eigenen Händen halten, indem sie durch kollektive politische Praxis Geschichte schreiben und machen können, worin die subjektive Dimension der gesellschaftlichen Dialektik besteht: „Die Negativität und ihre Negation sind zwei verschiedene Phasen des näm‐ lichen historischen Prozesses, die durch die historische Aktion des Men‐ schen auseinander hervorgehen. Der ›neue‹ Zustand ist ›die Wahrheit‹ des alten. Aber jene Wahrheit wächst nicht allmählich und automatisch aus dem früheren Zustand hervor: sie kann nur durch einen autonomen Akt der Menschen freigesetzt werden, der den existierenden negativen Zustand als Ganzes aufhebt” 29 . Die Notwendigkeit geschieht „nur durch die gesellschaft‐ liche Praxis“ 30 . Durch die Entwicklung und die Widersprüche des Kapitalismus wird ein Möglichkeitsfeld für die Zukunft der Gesellschaft aufgespannt. In einer Krise wird die Frage aktuell, wie die Zukunft aussehen soll und welche Möglich‐ keit der Gesellschaftsentwicklung, welcher positive Inhalt der Negation der Negation, also welche bestimmte Negation, verwirklicht werden soll. Die möglichen Optionen setzen sich niemals von allein, also mit bestimmter Notwendigkeit, durch, sondern sind von der Praxis der Menschen abhängig. Die Freiheit ist die erfasste und ergriffene Notwendigkeit, die Einsicht, aus der Not, wenden zu müssen, zu handeln. Ideologische, strukturelle und di‐ rekte Gewalt können die Freiheit einschränken und behindern, wodurch Alternativen unterdrückt werden. Aber egal, wie hoffnungslos die Situation erscheint, die bestimmte Negation, die Praxis inmitten der und gegen die 71 3.2. Freiheit und Notwendigkeit 71 <?page no="72"?> 31 MEW Band 3, S. 21. 32 Vgl. Robert Tressell. 1914/ 2012. The Ragged Trousered Philanthropists. London: Words‐ worth. Unterdrückung als Perspektive der Freiheit, wird niemals unmöglich, son‐ dern bleibt eine Möglichkeit. Da die Gesellschaft ein Produktionszusammenhang der Menschen ist, muss der Begriff der Produktion näher spezifiziert werden, was zu den Be‐ griffen der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte führt. 3.3. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte Der Mensch produziert seine bedürfnisbefriedigenden Produkte in sozialen Verhältnissen. Dazu benutzt er seine körperlichen und geistigen Kräfte, die in Lernprozessen entwickelt werden und sein Produktionsvermögen dar‐ stellen. Diese Kräfte des Subjekts organisieren und verwenden in der Werk‐ tätigkeit Produktionsmittel - Instrumente und Ressourcen -, um neue Pro‐ dukte herzustellen, die menschliche Bedürfnisse befriedigen sollen. Die wesentliche Produktivkraft ist die menschliche Produktionskraft, die durch die menschliche Verwendung von gesellschaftlich organisierten Naturkräf‐ ten (Naturwissenschaft, Technik) und rein gesellschaftlichen Kräften (Pro‐ duktionsmethoden, praktisches Wissen, die Organisation der Werktätigkeit, Regulationsweise, Werktätigkeitskultur) unterstützt wird. Die Produktionsweise ist „eine bestimmte Art der Tätigkeit“ der „Indivi‐ duen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzie‐ ren, als auch damit, wie sie produzieren” 31 . Das System der Produktivkräfte ist ein Prozess, in dem die Produktionssubjekte mit Produktionsobjekten werktätig sind. Menschen produzieren nicht allein, sondern nur auf der Basis von und in sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Mensch ist nicht wie Daniel Defoes Robinson Crusoe ein einsam produzierendes Wesen, sondern wie Robert Tressels Frank Owen 32 ein die Sozialität und Gesellschaft produzierendes und sozial und gesellschaftlich produzierendes Wesen. Die Produktivkräfte sind Produktionsverhältnisse zwischen Menschen, zwi‐ schen Mensch und Natur und zwischen Mensch und den Produktionsmit‐ teln. Die Produktionsverhältnisse sind soziale Kräfte, die das menschliche 72 3. Materialismus und Gesellschaft 72 <?page no="73"?> Produktionsvermögen und die Produktionsmittel im Produktionsprozess organisieren. Abbildung 3.2 stellt die Produktionsweise als Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften dar. Produktivkräfte ó Produktionsverhältnisse Eigentumsverhältnisse: Produktionskraft/ -vermögen, Produktionsmittel, Produkte der Werktätigkeit Unterdrückungsweise: Keine Physische Gewalt Strukturelle Gewalt Ideologische und psychologische Gewalt Distributionsweise: Jedem nach seinen Bedürfnissen, Tausch Tausch zur Erzielung von Tauschwert Tausch zur Maximierung des Tauschwertes, Tausch zur Kapitalakkumulation Arbeitsteilung (AT): keine (allseitiges Individuum), Haushaltsarbeit/ Lohnarbeit, geschlechtsspezifische AT, physische/ geistige Arbeit, Management/ Arbeiter, Generalisten/ Spezialisten, Politik: Volk/ Politiker, Stadt/ Land, internationale AT Subjekt, Produktionskraft: Geistige und körperliche Kräfte (Produktionsvermögen), Lebens- und Reproduktionsmittel: Individuell, sozial, institutionell Objekt, Produktionsmittel: Produktionsmittel: Körper, Geist, Instrumente, Maschinen, Raum-Zeit Produktionsgegenstand: natürliche, industrielle und informationelle Ressourcen Subjekt-Objekt, Produkte: Naturprodukte Industrieprodukte Dienstleistungen Informationsprodukte Abbildung 3.2: Dimensionen der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse 73 3.3. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte 73 <?page no="74"?> Im Kapitalismus ist die Produktionsweise ein Verhältnis zwischen den Or‐ ganisationsformen von Kapital, Werktätigkeit und Technologie (Produktiv‐ kräfte) und den Klassenverhältnissen, also dem Kapital-Arbeit-Verhältnis. Die Klassenverhältnisse sind gesellschaftliche Verhältnisse, in denen fest‐ gelegt wird, wer das Eigentum an den Produktionsmitteln und gesellschaft‐ lichen Produkten kontrolliert und die Macht hat, andere Gruppen Güter und Mehrprodukte produzieren zu lassen, die die Produzenten nicht besitzen, sondern das Eigentum einer besitzenden Klasse sind. Klassenverhältnisse sind also ein Verhältnis zwischen einer besitzenden und einer besitzlosen Klasse, in denen die besitzlose Klasse gezwungen ist, Mehrprodukte und Mehrwert für die besitzende Klasse zu produzieren. Die Produktionsverhältnisse bestimmen die Eigentumsverhältnisse, die festlegen, wer welchen Teil (gesamter Teil, bestimmte Teile, keinen Teil) der Produktionskraft, der Produktionsmittel und der Produkte besitzt und wer die Unterdrückungsweise, mit der die Produktionsverhältnisse verteidigt werden, die Distributionsweise, die definiert, wie Produkte in der Gesell‐ schaft verteilt werden, und die Arbeitsteilung kontrolliert. Klassenverhältnisse sind Kontroll- und Machtverhältnisse. Sie legen fest, wer die Produktionsmittel, die Organisation der Werktätigkeit, die Produkte, die Verteilung, die Politik und gesellschaftlich einflussreiche Institutionen kontrolliert. In jeder Wirtschaft wird ein bestimmtes Ausmaß an Gütern pro Jahr pro‐ duziert. Wenn es keine Krisenerscheinungen gibt und die Wirtschaft auf Wachstum orientiert ist, so entsteht am Ende des Jahres ein Mehrprodukt. Die Eigentumsverhältnisse definieren rechtlich, wem die Ressourcen und das Mehrprodukt gehören. Tabelle 3.1 gibt einen Überblick über verschie‐ dene Produktionsweisen (Patriarchat, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus, Kommunismus), die auf bestimmten Eigentums- und Klassenverhältnissen beruhen. Eigentümer der Arbeitskraft Eigentümer der Produktionsmittel Eigentümer der Arbeitsprodukte Patriarchat Patriarch Patriarch Familie Sklaverei Sklavenhalter Sklavenhalter Sklavenhalter Feudalismus Teilweise Selbst‐ kontrolle, teilweise Feudalherr Teilweise Selbstkon‐ trolle, teilweise Feu‐ dalherr Teilweise Selbst‐ kontrolle, teilweise Feudalherr 74 3. Materialismus und Gesellschaft 74 <?page no="75"?> Kapitalismus Arbeiter (besitzt, aber verkauft Ar‐ beitskraft) Kapitalist Kapitalist Sozialismus Selbstkontrolle Alle (Arbeiterselbst‐ verwaltung) Teilweise alle, teil‐ weise Individuum Tabelle 3.1: Die Hauptformen des Eigentums in verschiedenen Produktionsweisen Die Unterdrückungsweise inkludiert alle Praktiken, Verhältnisse, Struktu‐ ren und Institutionen, die die Menschen dazu bringen wollen, Herrschaft zu akzeptieren und sie zwingen, in Herrschaftsverhältnissen zu agieren. Dazu gehören physische Repression (Aufseher, Sicherheitskräfte, Militär, Polizei), strukturelle Repression (Märkte, Lohnarbeitsverhältnisse, Rechtsschutz des Privateigentums etc.) und kulturelle Repression (psychologische Repression, die mit Ängsten operiert; ideologische Repression, die die bestehende Ord‐ nung durch Sündenbockpolitik und Manipulation legitimiert und von den realen Ursachen gesellschaftlicher Probleme ablenkt, um gesellschaftliche Veränderungen zu verhindern). In einer freien Gesellschaft bedarf es hin‐ gegen keiner Unterdrückungsweise. Die Distributionsweise definiert, wie Güter zugeteilt und verteilt werden. In einer kommunistischen Gesellschaft bekommt jede Person das, was sie benö‐ tigt, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und gut leben zu können. In Tausch‐ gesellschaften wird die Verteilung durch den Tausch geregelt, d. h. die Menge eines Produktes wird gegen eine Menge eines anderen Produktes oder gegen eine bestimmte Geldmenge getauscht. Besitzt man nichts, so kann man in Tauschgesellschaften keine Güter und Dienste erhalten. Eine Ausnahme stel‐ len jene Produkte dar, die nicht getauscht werden, sondern frei verfügbar sind. Der Lohnarbeiter besitzt nur seine Arbeitskraft, ist also gezwungen, diese am Arbeitsmarkt zu verkaufen, um zu überleben. Es gibt verschiedene Formen der Tauschorganisation: allgemeiner Tausch ohne Tauschwert, Tausch zur Erzie‐ lung von Tauschwert (x Ware A = y Ware B), Tausch zur Maximierung des Tauschwertes, Tausch zur Kapitalakkumulation. Die Arbeitsteilung definiert, wer welche Arbeiten im Haushalt, der Wirt‐ schaft, der Politik und der Kultur ausführt. Historisch betrachtet gab es zu‐ nächst eine altersspezifische und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sowie eine Arbeitsteilung zwischen Jägern und Sammlern. Später kamen die Teilung der Arbeit zwischen Hand- und Kopfarbeit, die Aufspaltung in Haus- und Lohnarbeit, planende und ausführende Tätigkeit (Management und Arbeit), die 75 3.3. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte 75 <?page no="76"?> Spezialisierung, die regionale Aufspaltung der Arbeit zwischen Stadt und Land und mit der Globalisierung der Produktion und dem Imperialismus die inter‐ nationale Arbeitsteilung hinzu. Die Entstehung und Entwicklung der Arbeits‐ teilung gehen mit der Entwicklung der Klassengesellschaft einher. Eine freie Gesellschaft ohne Klassen, die technisch hochentwickelt ist, ermöglicht die Aufhebung der Arbeitsteilung, sodass die Menschen universell und allseitig tätig sind, in allgemeinem Wohlstand leben und das Mehrprodukt sowie das Eigentum an Produktionsmitteln kollektiv kontrollieren. Im Kapitalismus stehen die Produktivkräfte derart im Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen, dass die technische Entwicklung die Grundlagen neuer Formen der Kooperation und des kooperativen Eigentums schafft, die unter den Bedingungen der Klassenverhältnisse immer neue Formen der Ausbeutung und des prekären Lebens schaffen. Nur der Übergang in eine postkapitalistische Produktionsweise kann diesen Widerspruch entschärfen. Eine neue Produktionsweise hebt die vorausgehenden Produktionswei‐ sen auf. Diese werden nicht vollständig eliminiert, sondern können in der neuen Produktionsweise weiterexistieren und diese prägen und von ihr ge‐ prägt werden. So sind das Patriarchat und die Sklaverei älter als der Kapi‐ talismus, existieren heute aber im Rahmen der geschlechtsspezifischen Ar‐ beitsteilung und der Haushaltsökonomie, die zur Reproduktion der Arbeitskraft beitragen, und der internationalen Arbeitsteilung weiter. Die Entwicklung der Produktivkräfte erfolgt in der Form der dialektischen Aufhebung, inkludiert also ein a) Hochheben, b) eine Eliminierung und eine c) eine Bewahrung: a) Neue Qualitäten der Wirtschaft entstehen, 2) Aspekte der alten Produktionsweise verschwinden, 3) alte Produktionsweisen exis‐ tieren in der neuen Produktionsweise weiter und interagieren mit dieser auf bestimmte Arten. Eine Aufhebung kann mehr oder weniger radikal sein. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus bedeutet eine grundlegende Veränderung, wobei sich aber die Frage stellt, ob dies unmittelbar möglich ist oder nicht. Die Eliminierung und Bewahrung können beim Übergang von einer zu einer anderen Produktionsweise unterschiedliche Grade annehmen und sind variabel. Es gibt also keine lineare Entwicklung der Produktions‐ weisen. Neue Produktionsweisen können Elemente alter Produktionsweisen enthalten, Dominanzumschläge sind möglich, bei denen eine untergeord‐ nete Produktionsweise dominant wird usw. 76 3. Materialismus und Gesellschaft 76 <?page no="77"?> Die Rolle von Körper und Geist in der Produktionsweise Bei den Produktionsmitteln kann es sich um den menschlichen Körper, den Geist, mechanische Technologien und komplexe Maschinensysteme han‐ deln. Auch Kombinationen davon treten auf. Zu den Produktionsmitteln gehören auch bestimmte Organisationsformen von Raum und Zeit, also Produktionsorte und Produktionsstandorte, in und an denen zu bestimmten Zeiten produziert wird. Die notwendige Arbeitszeit, also jene Zeit, die in einer Gesellschaft benötigt wird, um die für das Leben der Menschen not‐ wendigen Produkte herzustellen, ist vom Stand der Produktivkräfte, also vom Niveau der Produktivität, abhängig. Eine bestimmte Summe von Ar‐ beitsstunden wird pro Jahr benötigt, um die Existenz und Reproduktion der Gesellschaft und der Menschen zu sichern. Die Arbeitsgegenstände und Ar‐ beitsprodukte können Naturprodukte, industrielle Produkte, Informations‐ produkte oder Kombinationen davon sein. Die Produktivkräfte sind ein System der Produktion, durch das Güter und Dienstleistungen produziert werden, die menschliche Bedürfnisse befriedi‐ gen. Es gibt verschiedene Organisationsweisen der Produktivkräfte, nämlich die landwirtschaftlichen Produktivkräfte, die industriellen Produktivkräfte und die informationellen Produktivkräfte (siehe Tabelle 3.2) Organisations‐ weise Produktions‐ mittel Produktionsge‐ genstand Produkte der Werktätigkeit Landwirtschaftli‐ che Produktiv‐ kräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Natur Naturprodukte Industrielle Pro‐ duktivkräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Naturprodukte, Industrieprodukte Industrieprodukte Informationelle Produktivkräfte Körper, Gehirn, Geräte, Maschinen Erfahrungen, Ideen Informationspro‐ dukte Tabelle 3.2: Drei Organisationsweisen der Produktivkräfte Das menschliche Subjekt hat ein sich entwickelndes und von körperlichen und geistigen Fertigkeiten abhängiges Produktionsvermögen. Die Interak‐ tion des geistigen Produktionsvermögens mit dem körperlichen Produkti‐ onsvermögen konstituiert die Produktionskraft. Unter Reproduktionstätig‐ keit ist Tätigkeit zu verstehen, die die menschliche Existenz aufrechterhält 77 3.3. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte 77 <?page no="78"?> und reproduziert. Sie schafft und organisiert die Subsistenzmittel, die der Mensch zum Überleben benötigt. Die Subsistenzmittel sind jene Mittel, die der Mensch benötigt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen und zu leben. Im Kapitalismus ist die Reproduktionsarbeit zum großen Teil unbezahlt und reproduziert die Lohnarbeit, wodurch der Wert der Arbeitskraft und ein Teil des Warenwertes geschaffen wird. Das Kapital vernutzt die Reproduk‐ tionsarbeit und beutet sie als Gratisressource aus. Die Produktion der Sub‐ sistenzmittel findet auf drei interagierenden Organisationsstufen statt: dem individuellen, dem sozialen und dem institutionellen Bereich. Der Mensch hat individuelle, soziale und institutionelle Bedürfnisse. Tabelle 3.3 gibt ei‐ nen Überblick über unterschiedliche Subsistenzmittel, die bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigen. Geist und Kultur Körper und Natur Institutionelle Bedürfnisse Bildungsinstitutionen, Gesundheitsvorsorge, Forschungsinstitutio‐ nen, Medien, Kunst, Ver‐ eine, Institutionen zur Gestaltung der freien Zeit, politische Organi‐ sationen, Arbeitsplatz Gesundheitsvorsorge, Organisationen zur kör‐ perlichen Betätigung, Arbeitsplatz Soziale Be‐ dürfnisse Soziale Beziehungen, Kommunikation, Spra‐ che, Liebe, Freundschaf‐ ten, Kooperation, Zu‐ wendung Sexualität, Kooperation, Fortpflanzung Individuelle Bedürfnisse Geistige Auseinanderset‐ zung, Affekte, Wissen, Fertigkeiten, Kreativität, psychisches Wohlbefin‐ den, Selbstachtung, Selbstwert, Schönheit, Selbstverwirklichung, Werte, Moral, Lebenssinn, Lebensaufgaben Essen, Wasser, Luft, Ob‐ dach, Schlaf, Ruhe, Af‐ fekte, Sexualität, körper‐ liche Gesundheit, Wärme Tabelle 3.3: Menschliche Bedürfnisse und Subsistenzmittel Die Subsistenzmittel sind in Tabelle 3.3 einerseits nach der Unterscheidung zwischen individuellen, sozialen und institutionellen Bedürfnissen geord‐ net. Andererseits sind sie danach organisiert, ob sie primär einen Charakter 78 3. Materialismus und Gesellschaft 78 <?page no="79"?> haben, der am Körper und der Natur oder am Geist und der Kultur orientiert sind. Diese beiden Aspekte können nicht strikt getrennt werden. Geist und Körper interagieren bei der Stillung aller Bedürfnisse und der Produktion aller Güter. Dennoch lässt sich sagen, ob ein gewisses Produkt oder eine gewisse Tätigkeit primär körperlicher oder geistiger Natur ist. Zur Kom‐ munikation benötigt der Mensch den gesamten Körper, inklusive des Ge‐ hirns, das ein spezieller physischer Bereich des Körpers ist. Dennoch sind die geäußerten Bewusstseinsinhalte ausschlaggebend, weswegen die Kom‐ munikation als primär geistiges (aber dennoch materielles! ) Phänomen klas‐ sifiziert werden kann. Die Pfeile in der Tabelle deuten an, dass die einzelnen Dimensionen nicht getrennt existieren, sondern ineinander übergreifen und miteinander interagieren. Es gibt eine Dialektik von Geist und Körper, eine Dialektik von Individuum und Gruppe, Gruppe und Institutionen, Indivi‐ duum und Institutionen. Körper und Geist und die Organisationsstufen des Menschen (Indivi‐ duum, Gruppe/ Organisation, Institutionen, Gesellschaft) sind zwar zu einem gewissen Grad eigenständig, gehören aber auch zusammen, können also nicht unabhängig voneinander existieren. Sie konstituieren sich wechsel‐ seitig und haben dadurch auch relativ eigenständige Existenzweisen. Bei körperlicher Tätigkeit wie der Gartenarbeit kombiniert der Mensch kreati‐ ves Denken (darüber, in welcher Form die Pflanzen gesetzt werden sollen etc.) mit körperlicher Bewegung und physischer Kraftanstrengung. Der Zu‐ stand und die Entwicklung des Gartens ist Anlass dafür, dass der Gärtner darüber reflektiert, welche Verbesserungen durchgeführt werden sollen. Die Umsetzung dieser Reflexionen in die Tat führt zur physischen Differenzie‐ rung der Gartenform. Die Organisation der Bedürfnisbefriedigung findet auf der Basis bestimm‐ ter Produktionsweisen statt (siehe Tabelle 3.1). In der modernen Gesellschaft ist der Kapitalismus die dominante Produktionsweise, durch die die Bedürf‐ nisbefriedigung organisiert wird. Aber auch das Patriarchat spielt eine bedeutende Rolle genauso wie individuelle, kommunale, öffentliche und zi‐ vilgesellschaftliche Organisationsformen. Im Rahmen der neoliberalen Re‐ gulationsweise, die seit den 1970er Jahren zur dominanten Form der Regu‐ lation des Kapitalismus geworden ist, sind immer mehr gesellschaftliche Bereiche, Subsistenzmittel und Reproduktionsbereiche durch die Logik der Warenform und der Kapitalakkumulation geprägt worden. Das Privateigen‐ tum und die kapitalistische Kontrolle wurden immer dominanter und führ‐ 79 3.3. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte 79 <?page no="80"?> 33 Vgl. David Harvey. 2005. Der neue Imperialismus. Hamburg: VSA. David Harvey. 2007. Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich: Rotpunktverlag. ten zur Akkumulation durch Enteignung 33 . Die Separierung von Körper und Geist ist Teil der Arbeitsteilung in der kapitalistischen Produktionsweise. Sie hilft, die Kluft zwischen Management und Arbeit, Kopf- und Handarbeit, Landwirtschaft/ Industrie/ Informationswirtschaft, Stadt und Land zu orga‐ nisieren. Sie hat traditionell auch eine Rolle in der patriarchalen, ge‐ schlechtsspezifischen Arbeitsteilung gespielt. Ein Körper/ Geist-Dualismus spielt dabei eine ideologische Rolle, um ungleiche Macht zu legitimieren. Die Dialektik von Körper und Geist wird also durch Machtverhältnisse verformt und tendenziell zerstört. Der Sozialismus ist daher auch eine dialektische Versöhnung von Körper und Geist. Auf Basis der erarbeiteten Grundlagen der Wirtschaftsanalyse können wir im nächsten Abschnitt das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft diskutieren. 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft Gesellschaft In bestimmten marxistischen Theorien werden Kultur, Ideen, Kommunika‐ tion, Information, Wissen, Moral und Ideologien oft als Teil eines immate‐ riellen Überbaus beschrieben, der räumlich auf einer materiellen, wirtschaft‐ lichen Basis ruht und der zeitlich nach dieser Basis angefangen hat zu existieren. Dieser Umstand ist damit zu erklären, dass man vermeiden will, die Welt wie in der idealistischen Philosophie und Theorie als geistig zu erklären und die Welt der Ideen und das Bewusstsein als für Gesellschafts‐ veränderung ausreichende Faktoren zu hypostasieren. Man unterschätzt damit aber den Bereich der Kultur und der Politik. Das Basis/ Über‐ bau-Modell ist statisch und oft auch reduktionistisch: Veränderungen wer‐ den rein wirtschaftlich erklärt. Bürgerliche Gegenmodelle der Gesellschaft (wie zum Beispiel die postmoderne Theorie oder die Systemtheorie) sind aber fehlerhaft: Sie erklären entweder Kultur oder Politik zum Supersystem der Gesellschaft, wodurch die Rolle von Wirtschaft, Klassen und Arbeit in der Gesellschaft ausgeklammert wird oder deren reale Bedeutung unter‐ schätzt wird. Oder es wird eine Multifaktorenanalyse gemacht, in der alle 80 3. Materialismus und Gesellschaft 80 <?page no="81"?> 34 Terry Eagleton. 2001. Was ist Kultur? Eine Einführung. München: C. H. Beck. S. 57. Subsysteme der Gesellschaft als gleich wichtig postuliert werden. Diese Analyse wird dann oft als „komplex“ und „nichtreduktionistisch“ präsen‐ tiert. Ihr Problem ist jedoch, dass sie die Gesellschaft nicht zureichend be‐ gründen kann und eine dualistische Analyse gemacht wird, in der Teile der Gesellschaft als unabhängig gelten. Es kann nicht erklärt werden, worin die gemeinsame Logik gesellschaftlicher Momente in der modernen Gesell‐ schaft besteht. Die verwendete Logik ist eine der Vielfalt ohne Einheit, die den Satz des Grundes nicht berücksichtigt. Es kommt darauf an, die Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft weder zu überschätzen noch zu unter‐ schätzen. Das Basis-Überbau-Problem fragt danach, wie das Ökonomische und das Nicht-Ökonomische in Verbindung stehen. Die Stärke der marxis‐ tischen Theorie besteht darin, dass sie darauf aufmerksam macht, dass wir über die Wirtschaft reden müssen, wenn wir über Politik und Kultur reden, und umgekehrt. Als einen der Ausgangspunkte einer kritischen Gesellschaftstheorie kann man drei miteinander verbundene und ineinander übergreifende Organisa‐ tionsstufen und Subsysteme der Gesellschaft unterscheiden: ■ Wirtschaft: Die Wirtschaft ist ein System, in dem die Menschen in bestimmten Produktionsverhältnissen Gebrauchswerte produzieren, die menschliche Bedürfnisse befriedigen. ■ Politik: Die Politik ist das System, in dem die Menschen kollektive Entscheidungen treffen, durch die die Gesellschaft reguliert und re‐ giert wird. ■ Kultur: Die Kultur ist das System der Reproduktion des Menschen, wozu die Reproduktion des Geistes und des Körpers gehört. „Kultur bedeutet das Feld sozialer Subjektivität - ein Feld, das weiter ist als die Ideologie, aber enger als die Gesellschaft, weniger handfest als die Wirtschaft, aber greifbarer als die Theorie“ 34 . In der Kultur bedeuten die Menschen die Welt und entwickeln ihren Geist und Körper, ihre menschliche Identität. Zur Kultur gehören also zum Beispiel das Bil‐ dungssystem, die Medizin, die Psychologie, die Wissenschaft, das Me‐ diensystem, sportliche Betätigung, Ausstellungen, Radfahren, Schach spielen, Essen, Kochen, Restaurants, das Spielen eines Instrumentes, das Malen eines Bildes, das Besuchen eines Konzertes oder Fußball‐ spieles, die Architektur einer Kirche und die Praktiken der darin Be‐ 81 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft 81 <?page no="82"?> 35 Übersetzung aus dem Englischen: Wolfgang Hofkirchner. 2013. Emergent information. A Unified Theory of Information Framework. Singapore: World Scientific. S. 123-124. 36 Ebd., S. 115. tenden; Liebe, Freundschaft und Familie als gefühlsbetonte Praktiken und Beziehungen; Moral, Normen und Ethik etc. Bei der Kultur geht es nicht nur um Geist, Denken und Ideen. Es geht in ihr zugleich um den Körper und den Geist. Wirtschaft und Gesellschaft Der Philosoph Wolfgang Hofkirchner hat ein Stufenmodell konzeptualisiert, mit dem die Logik der Verbindungen zwischen verschiedenen Organisati‐ onsstufen der Realität philosophisch erklärt werden kann. In einem Stufen‐ modell „ist ein Schritt in einem bestimmten System, durch den eine neue Ebene produziert wird, abhängig von der vorausgesetzten Stufe, kann aber nicht umgekehrt werden! […] Ebenen […] bauen auf darunterliegenden Ebenen auf, können aber nicht auf diese reduziert werden! “ 35 . Emergenz ist das einem Stufenmodell zugrundeliegende Prinzip 36 : Organisationsstufen der Materie haben emergente Qualitäten. Das bedeutet, dass die Systeme, die sich auf jeder Stufe selbst organisieren, mehr als die Summe ihrer Teile sind, auf die sie nicht reduziert werden können. Eine Organisationsebene hat also neue Qualitäten, die auf den darunterliegenden Ebenen, Momenten und Systemen beruht. Eine neue Organisationsstufe hebt eine darunterlie‐ gende auf im Sinn der Hegelschen Bedeutung der Aufhebung als Einheit a) des Höherhebens, b) der Bewahrung und c) der Eliminierung. Die Synergien von Momenten einer Organisationsstufe führen zur Entstehung einer neuen Stufe, die a) neue, nichtreduzierbare Qualitäten hat, b) wobei sich bestimmte Qualitäten der darunterliegenden Stufen auch auf der neuen Stufe zeigen, also bewahrt werden und c) die neue Stufe auf die darunterliegenden rück‐ wirkt, diese dadurch verändert, also eine Differenzierung hervorbringt, wo‐ durch der alte Zustand dieser Organisationsstufen eliminiert wird. Abbil‐ dung 3.3 zeigt, wie die dialektische Logik des Stufenmodells angewendet werden kann, um das Verhältnis von Wirtschaft und Nicht-Wirtschaft in der Gesellschaft zu erklären. 82 3. Materialismus und Gesellschaft 82 <?page no="83"?> DAS ÖKONOMISCHE KOMMUNIKATION, KOLLEKTIVE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG, BEDEUTEN DER WELT, IDENTITÄTSENTWICKLUNG, USW. WERKTÄTIGKEIT, PRODUKTION DAS NICHT- ÖKONOMISCHE (POLITK & KULTUR) Abbildung 3.3: Die Beziehung des Ökonomischen und Nicht-Ökonomischen in der Gesellschaft Das Nicht-Ökonomische ist negativ dadurch bestimmt, dass seine Rolle in der Gesellschaft nicht nur der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Positiv formuliert bedeutet dies, dass Politik und Kultur das Nicht-Ökono‐ mische konstituieren. In diesen beiden Stufen der Gesellschaft treffen die Menschen kollektive Entscheidungen (Politik) und bedeuten die Gesell‐ schaft und sich selbst als Subjekte (Kultur). Es wäre nun aber falsch, Politik und Kultur von der Wirtschaft abzutrennen. Die Wirtschaft ist als darun‐ terliegende Organisationsstufe in Politik und Kultur aufgehoben. In Politik und Kultur gibt es wie in der Wirtschaft Produktion und Werktätigkeit, wo‐ durch das wirtschaftliche Moment in der Kultur und der Politik existiert. Politische und kulturelle Produktion haben aber emergente Qualitäten. Sie sind Produktionszusammenhänge, jedoch spezielle Produktionszusammen‐ hänge: In der Politik werden kollektive Entscheidungen produziert, wo‐ durch die Gesellschaft entscheidungs- und handlungsfähig ist. In der Kultur werden Bedeutungen und Definition des Selbst produziert, wodurch die Ge‐ sellschaft und die Menschen Identitäten ausbilden. Kollektive Entscheidun‐ gen und Identitäten sind Gebrauchswerte, allerdings Gebrauchswerte mit speziellen, emergenten Qualitäten. Die Demokratie als ein politisches Phä‐ nomen und die Anerkennung als ein kulturelles Phänomen sind weder rein nicht-wirtschaftlich noch rein wirtschaftlich. Sie sind, wie alle politischen und kulturellen Momente, zugleich wirtschaftlich, da gesellschaftliche Pro‐ 83 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft 83 <?page no="84"?> duktion den Gesamtzusammenhang der Menschen darstellt, und nicht-wirt‐ schaftlich, da die Produktion von Öffentlichkeit in der Politik und die Pro‐ duktion von Identität in der Kultur spezielle Qualitäten der Gesellschaft ausmachen. Die Verabschiedung von Gesetzen in Parlamenten ist eine Form der Pro‐ duktion, bei der nicht nur die Arbeit der Parlamentarier eine Rolle spielt, sondern auch die Arbeiten von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die gegen bestimmte politische Ausrichtungen des Gesetzes auftreten und pro‐ testieren, sowie die Arbeiten von Beratern, Forschern, Parteiangestellten, Administratoren, Archivaren, PR-Beauftragten usw. Eine Tageszeitung ist ein kulturelles Artefakt, das Menschen bestimmte Bedeutungen der Welt anbietet und nahelegt und dessen Artikel Anlass zur Kommunikation und zum Nachdenken über den Zustand der Welt bieten. In der Produktion einer Tageszeitung spielen die Arbeiten von Journalisten, Druckern, Herausge‐ bern, Designern, Werbe- und PR-Fachleuten, Web-Gestaltern und Web-Pro‐ grammierern, Social Media-Experten usw. eine Rolle. Das Gesetz als politisches und die Zeitung als kulturelles Artefakt haben jedoch nicht nur diesen wirtschaftlichen Aspekt der Arbeit und Produktion, sondern darüberhinausgehende emergente Qualitäten, die bestimmte Rollen in der Gesellschaft konstituieren. Das Gesetz nimmt in der Gesellschaft die Rolle der Regulation des menschlichen Zusammenlebens nach bestimmten Regeln ein, die Tageszeitung die Rolle der Informierung der Menschen über neue Entwicklungen in der Gesellschaft („Nachrichten“). Obwohl dies po‐ sitive Bestimmungen sind, ist natürlich kein gesellschaftlicher Komplex un‐ abhängig von den realen Machtstrukturen. In von Herrschaft und Klassen‐ strukturen geprägten Gesellschaften können also alle Organisationsebenen, ihre Komplexe (Subsysteme) und Organisationen negative Rollen spielen. So legitimiert das Gesetz im faschistischen Staat Rassismus und die Ver‐ nichtung politischer Gegner. Und rassistische kapitalistische Boulevardzei‐ tungen betreiben Desinformation durch Vereinfachung, Skandalisierung und Manipulation, rechte Propaganda und Hetze. Das materialistische Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Produk‐ tion sprengt das Basis-Überbau-Modell, in dem Wirtschaft und Nicht-Wirt‐ schaft getrennt werden. Das Ökonomische und das Nicht-Ökonomische greifen ineinander über und sind von der Produktion, die nach der Logik der menschlichen Werktätigkeit geformt ist, als der übergreifenden gesellschaft‐ lichen Praktik geprägt, durch die sich der gesellschaftliche Gesamtzusam‐ 84 3. Materialismus und Gesellschaft 84 <?page no="85"?> 37 Vgl. Pierre Bourdieu. 1982. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils‐ kraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. menhang herstellt. Die Produktion ist das übergreifende Modell der mensch‐ lichen Tätigkeit und des gesellschaftlichen Seins. Worin besteht dabei aber die Rolle der Kommunikation? Kommunika‐ tion ist der soziale Prozess der symbolischen Interaktion, durch die ver‐ schiedene Akteure in der Produktion und Verwendung von Objekten (also Artefakten und soziale Strukturen) zusammenkommen und in Verhält‐ nisse treten. In der Produktion von Gebrauchswerten koordinieren sich die Menschen über Kommunikationsprozesse. Auch die Ver- und Anwen‐ dung dieser Gebrauchswerte wird durch Kommunikationsprozesse koor‐ diniert. Ein Beispiel: Jemand isst eine in einem Restaurant zubereitete Mahlzeit. Der Prozess des Essens ist eine körperliche Tätigkeit, die dazu dient, dass der Mensch satt wird und nicht verhungert. Wird Essen aber als soziales Ereignis organisiert, so ist es auch eine Möglichkeit zur Sozialisierung mit Freunden, Familie, Kollegen, usw. durch Kommunikation. Die Auswahl des Restaurants und des spezifischen Essens und Trinkens im Lokal sowie der Kleidung, die wir bei einem Abendessen in einem Restaurant anziehen, usw. haben symbolischen Charakter. Es handelt sich um Symbole, die etwas über unseren Status, unsere Klassenzugehörigkeit, unser Selbstverständnis kom‐ munizieren und die durch kulturelle Prozesse Unterscheidungen produzie‐ ren 37 . Essen ist ein Objekt, das von der Natur und Menschen koproduziert wird. Durch seinen Verzehr wird nicht nur der menschliche Körper repro‐ duziert, sondern werden auch Sozialität, Status, Ruf und Macht reproduziert. Die Praktik des Essens ist zugleich biologisch, körperlich, psychologisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch. In dem angeführten Beispiel werden durch Kommunikation Speisen und Getränke zu Objekten, die die Beziehung zwischen Menschen vermitteln. Da die Kommunikation die Pro‐ duktion von sozialen Beziehungen und sozialen Systemen ist, spielt sie in allen gesellschaftlichen Prozessen und Systemen eine wichtige Rolle. Wenn von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gesprochen wird, so bedeutet dies nicht, dass die Wirtschaft nicht Teil der Gesellschaft ist und unter dem Begriff der Gesellschaft nur die Politik und die Kultur subsummiert werden. Vielmehr ist die Gesellschaft eine sich durch wirtschaftliche, kulturelle und politische Praktiken der Menschen konstituierende Totalität, in der die Produktion, die ihren Ursprung in der Wirtschaft hat, als Moment agiert, das den Gesamtzu‐ 85 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft 85 <?page no="86"?> 38 Georg Lukács. 1986. Georg Lukács Werke Band 14: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 46. 39 Ebd., S. 56. 40 Ebd., S. 55. 41 Ebd., S. 56. 42 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1977. Marxism and Literature. Ox‐ ford: Oxford University Press. S. 97. 43 Louis Althusser. 1977. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxisti‐ schen Theorie. Hamburg: VSA, S. 113-116. sammenhang der Gesellschaft herstellt. Die Produktion ist „das Modell einer jeden gesellschaftliche Praxis, eines jeden aktiven gesellschaftlichen Verhal‐ tens“ 38 . Die Produktion ist „die grundlegende und darum die einfachste und eindeutigste Form jener Komplexe […], deren dynamisches Zusammen die Ei‐ genart der gesellschaftlichen Praxis ausmacht“ 39 . Ihr dialektischer Charakter „als Modell für die gesellschaftliche Praxis“ besteht „gerade darin, dass diese in ihren weiter entwickelten Formen viele Abweichungen von der Arbeit selbst zeigt“ 40 . Es gibt eine „Identität der Identität und Nicht-Identität“ 41 der Werktä‐ tigkeit und anderen Formen menschlicher Praktiken. Der Fluss der Gesellschaft Die Gesellschaft ist eine Totalität, in der menschliche Praktiken dialektische und ineinander übergreifende wirtschaftliche, politische und kulturelle Struk‐ turen, Systeme und Institutionen produzieren und reproduzieren, die Prakti‐ ken wiederum bedingen, beeinflussen, ermöglichen und beschränken. In der marxistischen Theorie sind Kategorien wie Determinierung, Widerspiege‐ lung, Vermittlung, Typisierung, Repräsentation, Illustration, Homologie und Korrespondenz verwendet worden, um das Verhältnis zwischen „Basis“ und „Überbau“ zu beschreiben. All diese Kategorien separieren jedoch Wirtschaft und Nicht-Wirtschaft und sind daher „nicht materialistisch genug“ 42 . In seinem Aufsatz Ideologie und ideologische Staatsapparate verwendet der Strukturalist Louis Althusser die Metapher eines Gebäudes mit verschiede‐ nen Stockwerken, um das Verhältnis von Basis und Überbau darzustellen 43 . „Die Metapher des Gebäudes hat also zum Ziel, vor allem die »Determinie‐ rung in letzter Instanz« durch die ökonomische Basis zu zeigen. Diese räum‐ liche Metapher bewirkt also die Zuordnung eines Wirksamkeitsmerkmals zur Basis, das bekannt ist durch die berühmten Worte: Determinierung in letzter Instanz dessen, was sich in den »Etagen« (des Überbaus) abspielt, 86 3. Materialismus und Gesellschaft 86 <?page no="87"?> 44 Ebd., S. 114. durch das, was sich in der ökonomischen Basis abspielt” 44 . Das Problem von Althussers Verwendung der Metapher des Gebäudes ist, dass die Gesell‐ schaft dadurch als statisch und mechanisch von der Wirtschaft program‐ miert erscheint. Während ein Haus gerade gebaut ist, sind die Stufen im Haus notwendig schräg angelegt, damit man sie emporsteigen kann. In einer Stufenkon‐ struktion hat jede Ebene eine gewisse Autonomie gegenüber der darunter‐ liegenden Stufe, während in einem Haus alles von der Qualität des Funda‐ ments abhängt. Althussers Gesellschaftsmodell ist reduktionistisch und mechanistisch. Das in Abbildung 3.3 präsentierte Stufenmodell erfasst die dialektische Logik der Gesellschaft im Sinn der gleichzeitigen Identität und Nicht-Iden‐ tität der Momente der Gesellschaft, des Übergreifens der Momente und eines daraus entstehenden Gesamtzusammenhangs. Es kann aber nicht die Dy‐ namik und Veränderung der Gesellschaft darstellen. Daher muss das Modell der Gesellschaft um ein Flussmodell ergänzt werden (siehe Abbildung 3.4). W I R T S C H A F T P O L I TI K KUL TUR Abbildung 3.4: Der Fluss der gesellschaftlichen Entwicklung Wenn wir uns die Gesellschaft als Fluss vorstellen, dann ist die Wirtschaft der Hauptstrom, von dem aus sich die Politik und Kultur als Ausläufer ver‐ zweigen, die weitere Ausläufer (also Subsysteme) hervorbringen und wieder 87 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft 87 <?page no="88"?> 45 Georg Lukács. 1963. Die Eigenart des Ästhetischen. 1. Halbband. Georg Lukács Werke Band 11. Darmstadt: Luchterhand. S. 13. 46 Platon. 1957. Sämtliche Werke 2. Hamburg: Rowohlt. § 402a, S. 144. 47 Aristoteles. 1966. Metaphysik. Reinbek: Rowohlt. § 1078b. 48 Ebd., § 1069b. 49 Ebd., § 1010a. in den Hauptstrom zurückfließen, wodurch dieser seine Qualitäten verän‐ dert. Politik und Kultur differenzieren sich aus der Wirtschaft heraus, nehmen einen jeweils eigenen Entwicklungsverlauf an, der in die Wirtschaft zurückfließt und deren Fluss dieser umformt. Georg Lukács meint in diesem Zusammenhang: „D. h. wenn man sich den Alltag als einen großen Strom vorstellt, so zweigen in höheren Aufnahme- und Reproduktionsformen der Wirklichkeit Wissenschaft und Kunst [und Politik und Kultur im Allgemei‐ nen, Anm.] aus diesem ab, differenzieren sich und bilden sich ihren spezi‐ fischen Zielsetzungen entsprechend aus, erreichen ihre reine Form in dieser - aus den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Lebens entspringenden - Ei‐ genart, um dann infolge ihre Wirkungen, ihrer Einwirkungen auf das Leben der Menschen wieder im Strom des Alltagslebens zu münden. Dieser berei‐ chert sich also andauernd mit den höchsten Ergebnissen des menschlichen Geistes, assimiliert diese seinen täglichen, praktischen Bedürfnissen, woraus dann wieder, als Fragen und Forderungen, neue Abzweigungen der höheren Objektivationsformen entstehen” 45 . Die Metapher des Flusses für den Wandel ist ein altes philosophisches Thema. Platon berichtet in Kratylus, dass Sokrates in einem Dialog davon sprach, dass „Herakleitos sagt […], dass alles davongeht und nichts bleibt“ und „alles Seiende einem strömenden Flusse vergleicht“ 46 . Und Aristoteles schreibt in seiner Metaphysik, dass es Teil der „Heraklitischen Lehre” ist, „dass alles Sinnliche in beständigem Fluss sei (aeì rheîn)“ 47 , betont dabei je‐ doch, dass die Veränderung in einer Dialektik mit der Kontinuität steht: „bei der Veränderung beharrt etwas“ 48 ; „Denn das Werdende, indem es eine Ei‐ genschaft eben verliert, hat noch etwas von dem, was es verliert, und muss schon etwas von dem sein, was es wird” 49 . Für Lukács ist die gesellschaftliche Welt ein dynamischer Fluss des All‐ tagslebens, das Leben der Produktion, aus dem alternative Flüsse heraus‐ strömen und in das sie wieder zurückströmen, um die Produktion anzurei‐ chern. Er verwendet den Fluss als Metapher, um zu beschreiben, wie menschliche Produktion und kulturelle sowie politische Organisationen miteinander verbunden sind. Während es sich bei einem Gebäude um eine 88 3. Materialismus und Gesellschaft 88 <?page no="89"?> rein räumliche Metapher für die Gesellschaft handelt, ist der Fluss eine raum-zeitliche Metapher. In der dialektischen Philosophie ist die Welt widersprüchlich und Wider‐ sprüche produzieren Potentiale für Veränderung. Lukács‘ Metapher des Flusses für die Dialektik der Gesellschaft betont den dynamischen Charakter des Alltagslebens, die Netzwerke, Prozesse und Ströme der menschlichen Produktion. Flüsse verzweigen sich und haben die produktive Kapazität, neue Verzweigungen zu erschaffen, wodurch das produktive und wider‐ sprüchliche Wesen dialektischer Prozesse und der menschlichen Aktivität in der Gesellschaft betont wird. Dass die Wirtschaft den Hauptfluss der gesellschaftlichen Ströme dar‐ stellt, bedeutet, dass alle Aspekte der Gesellschaft durch die dynamischen, vernetzten, ineinandergreifenden und widersprüchlichen menschlichen Sphären der Produktion und Reproduktion konstituiert werden. In der Ge‐ sellschaft produzieren die Menschen soziale und gesellschaftliche Bezie‐ hungen, Gebrauchswerte, Entscheidungen und Bedeutungen. In spezifi‐ schen sozialen Systemen interagieren all diese Aspekte der Produktion miteinander im Alltagsleben. Die Menschen produzieren bestimmte Struk‐ turen nicht nur einmal, sondern reproduzieren diese auch durch Kommu‐ nikationsprozesse, wodurch sie die Sphären der Gesellschaft und die Ge‐ sellschaft als solche reproduzieren. In der Gesellschaft produzieren die Menschen immer wieder Strukturen und soziale Beziehungen. Sie re-pro‐ duzieren. Der Fluss der Gesellschaft ist die Interaktion der ineinandergrei‐ fenden menschlichen Reproduktionsprozesse, wodurch die Menschen die Gesellschaft als offene Totalität reproduzieren. Man sollte es vermeiden, die Gesellschaft und ihre Flüsse zu idealisieren. Die Donau ist nicht mehr die „schöne blaue Donau“, von der Johann Strauss‘ Donauwalzer handelt, sondern eine braune Pfütze. Flüsse sind heutzutage oft verunreinigt, überfluten das Land oder vertrocknen. Der verschmutzte Fluss ist eine Metapher für den Kapitalismus und wie dieser alltäglich das Leben der Menschen gefährdet und beschmutzt. Kommunikation ist der Prozess der Produktion sozialer Beziehungen und der Sozialität. Die Menschen produzieren nicht allein, sondern gemeinsam und in Beziehung zueinander (und in Klassengesellschaften auch gegenein‐ ander). Das Alltagsleben ist produktiv und diese Produktion benötigt Kom‐ munikation in der Form der kommunikativen Produktion und der Produk‐ tion der Kommunikation. In der Gesellschaft gibt es ohne Produktion keine Kommunikation und ohne Kommunikation keine Produktion. Kommuni‐ 89 3.4. Wirtschaft und Gesellschaft 89 <?page no="90"?> kation und Werktätigkeit, die Sozialität und das Ökonomische, sind zugleich identisch und nichtidentisch. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation besteht in der Pro‐ duktion der Kommunikation und der Kommunikation in der Produktion. Die Produktion der Kommunikation produziert und reproduziert soziale Beziehungen, die unterschiedliche Formen der Produktion ermöglichen. Diese verschiedenen Produktionsformen verzweigen sich im Fluss des All‐ tagslebens als dialektische Spiralen, in denen die Menschen neue Qualitäten der Gesellschaft produzieren, die in den Fluss des Alltags einströmen. Auf Basis der bisher erarbeiteten Grundlagen der allgemeinen Gesell‐ schaftsanalyse, wird im nächsten Abschnitt ein Konzept der modernen Ge‐ sellschaft eingeführt. 3.5. Die moderne Gesellschaft Abbildung 3.5 veranschaulicht ein Modell der modernen Gesellschaft. Es beruht auf der Einsicht, dass es in der Gesellschaft eine Dialektik von Struk‐ turen und Praktiken gibt und dass sie aus Organisationsstufen besteht, die ineinander übergreifen. Die moderne Gesellschaft besteht aus den ineinan‐ der übergreifenden Sphären des Staates, der modernen Wirtschaft und der modernen Kultur. Um dieses Modell derart zu visualisieren, dass ästhetische Verwirrung vermieden werden kann, ist der kulturelle Bereich so dargestellt, dass er nicht mit den Bereichen der Politik und der Wirtschaft überlappt. Der Grund dafür ist, dass in Abbildung 3.5 der Bereich der Öffentlichkeit gut sichtbar sein soll. In Wirklichkeit überlappen sich die drei Bereiche der Kul‐ tur, der Politik und der Wirtschaft und greifen ineinander über. Die Öffentlichkeit ist eine vermittelnde Sphäre, in denen sozio-politische, sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Gruppen als Schnittstellen zwi‐ schen den drei gesellschaftlichen Bereichen agieren. Der Staat ist nicht gleichbedeutend mit der Zivilgesellschaft, sondern besteht aus repressiven Staatsapparaten und staatlich kontrollierten Teilen der Wirtschaft (verstaat‐ lichte Industrie) und staatlich organisierten Institutionen (z. B. öffentliche Schulen, Universitäten und Krankenhäuser). 90 3. Materialismus und Gesellschaft 90 <?page no="91"?> J ßà J J ßà J J Öffentlichkeit Kultur Staat Wirtschaft Die moderne Gesellschaft Strukturebene Handlungsebene Kognition Kommunikation Kooperation Sozio- Politik Sozio- Ökonomie Sozio- Kultur Privatsphäre Abbildung 3.5: Ein Modell der modernen Gesellschaft Das dominante Modell der modernen Wirtschaft besteht in der kapitalisti‐ schen Organisationsform der Produktion, der Distribution und des Kon‐ sums. Die kapitalistische Wirtschaft ist ein System der Akkumulation von Geldkapital, die dadurch erreicht wird, dass von Arbeitern produzierte Wa‐ ren mit Profitorientierung verkauft werden. Die Arbeiter werden strukturell genötigt, ihre Arbeitskraft ans Kapital zu verkaufen und mit den sich im Privateigentum der Kapitalisten befindlichen Produktionsmitteln Güter zu produzieren, die nicht im Eigentum ihrer unmittelbaren Produzenten ste‐ hen, sondern als Waren auf Märkten gehandelt werden. Da die wirtschaft‐ liche Produktion das Modell für Praktiken in Politik und Kultur darstellt, beruhen in der kapitalistischen Gesellschaft der Staat und die Kultur auch auf dem Modell der kapitalistischen Wirtschaft, haben mit dieser ein ge‐ meinsames Strukturprinzip (das Akkumulationsprinzip) und ihre jeweils ei‐ gene relative Autonomie. Das moderne politische System ist ein bürokrati‐ scher Staat. In der Version des Staates als liberaler parlamentarischer Demokratie gibt es eine parlamentarische und durch Wahlen organisierte Konkurrenz von Parteien, durch die Verfassung garantierte Grundfreiheiten (Freiheit der Meinung, Versammlung, Vereinigung, Presse, Bewegung, des 91 3.5. Die moderne Gesellschaft 91 <?page no="92"?> Eigentums, Glaubens, Denkens und Ausdrucks) sowie ein staatliches Ge‐ waltmonopol, das in der Form repressiver Staatsapparate (Polizei, Militär, Justiz, Gefängnisse) organisiert ist, die die Reproduktion der bestehenden Ordnung garantieren. In dieser Version der Politik ist jede Partei bestrebt, so viel Entscheidungsmacht wie möglich zu akkumulieren. In autoritären Staatsformen wie dem Faschismus ist die politische Macht monopolisiert und es gibt nur eine von einem Staatsführer gelenkte Partei, die absolute Macht ausübt. Außerdem ist der faschistische Staat durch Terror, die Zer‐ schlagung der Arbeiterbewegung, Nationalismus, Feindbildpolitik, eine starke Hierarchisierung, Militarismus und das Patriarchat gekennzeichnet. Die moderne Kultur besteht aus der Privatsphäre und der öffentlichen Kul‐ tur. Es geht in der modernen Kultur um die Akkumulation von Definitions‐ macht und Reputation, die benutzt werden, um dominante Bedeutungen und Weltanschauungen zu schaffen, verbreiten, reproduzieren und herauszu‐ fordern. Im Kapitalismus ist der einzelne Kapitalist dazu gezwungen, zu versuchen, immer mehr Kapital und Profit seiner Firma anzuhäufen, um ökonomisch überleben zu können. Die Akkumulation ist die Logik des quantitativen An‐ wachsens. Die kapitalistische Wirtschaft wächst durch die Ausbeutung der Arbeit. Die Akkumulation kombiniert die Quantifizierung mit der Instru‐ mentalisierung. Der Versuch, den Profit zu erhöhen, wird mit der Instru‐ mentalisierung der Arbeit des Menschen kombiniert. Die Logik der Akku‐ mulation wurde von der modernen Wirtschaft in die moderne Politik und die moderne Kultur transferiert, wo sie spezifische Formen annimmt, die eine relative Autonomie und emergente Qualitäten haben. Im politischen System versuchen politische Akteure ihre politische Macht zu erhöhen und zu monopolisieren. Sie verwenden dazu Wahlkampagnen, die Medien, Pu‐ blic Relations, die Öffentlichkeit, Krieg, Gewalt, Überwachung, Kontrolle, usw. als Mittel, um andere Menschen politisch zu instrumentalisieren. In der modernen Kultur versuchen Akteure ihren Ruf und ihre Anerkennung zu erhöhen, indem sie versuchen, das menschliche Bewusstsein durch Ideolo‐ gien zu instrumentalisieren. Die drei Sphären der modernen Gesellschaft sind materiell, da es sich um Systeme der Produktion handelt. Die Gesellschaft ist im Allgemeinen ma‐ teriell, da in ihr Menschen soziale Beziehungen, Strukturen, soziale Systeme und Sozialität produzieren, wodurch sich die Gesellschaft reproduzieren kann. In der modernen Gesellschaft sind diese Produktionsprozesse zugleich 92 3. Materialismus und Gesellschaft 92 <?page no="93"?> 50 Jürgen Habermas. 1988. Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 51 Hannah Arendt. 1967/ 1981. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. S. 52. Akkumulationsprozesse von Macht, wodurch Klassen und Machtungleich‐ gewichte geschaffen werden. Gesellschaftliche Rollen Jürgen Habermas 50 erwähnt die folgenden gesellschaftlichen Rollen als kon‐ stitutiv für die moderne Gesellschaft: Arbeiter und Angestellte, Konsumen‐ ten, Klienten des Staates und Bürger. Weitere Rollen wie jene der Hausar‐ beitenden, der Kapitalisten, der Immigranten, der Sträflinge etc. können sicherlich hinzugefügt werden. Für die kapitalistische Gesellschaft ist nicht nur die Trennung der Sphären und Rollen kennzeichnend, sondern auch die Schaffung von Machtstruktu‐ ren, in denen Menschen soziale Rollen in Machtverhältnissen (z. B. zwischen Kapital/ Arbeit, Staatsbürokratie/ Bürger, Staat/ Einwanderer usw.) einneh‐ men und darin Praktiken ausüben, die zur Produktion und Akkumulation von Macht führen. Unter Macht ist dabei die Kontrolle von Akteuren über Mittel zu verstehen, die es ihnen ermöglicht, Strukturen zu bestimmen, Pro‐ zesse zu beeinflussen und Entscheidungen in ihrem eigenen Interesse zu treffen. In der kapitalistischen Wirtschaft agieren die Menschen in den Rol‐ len der Kapitaleigentümer und der Arbeiterschaft. Im modernen politischen System gibt es die Rollen des Politikers und des Bürgers. In der modernen Kultur finden wir Rollen wie jene der Freunde, der Liebhaber, der Familien‐ mitglieder und der Konsumenten. Die Differenzierung der modernen Gesellschaft in verschiedene Sphären geht einher mit der Schaffung gesellschaftlicher Rollen, in denen die Menschen in diesen Sphären handeln. In der Öffentlichkeit agieren die Men‐ schen nicht privat, sondern gemeinsam und für andere sichtbar. Die Öffent‐ lichkeit als „die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen und verhin‐ dert, dass sie gleichsam über- und ineinanderfallen“ 51 . In der Öffentlichkeit der modernen Gesellschaft organisieren sich die Menschen in Gesellschafts‐ gruppen auf der Basis bestimmter gemeinsamer Interessen. Sie nehmen da‐ bei sozio-ökonomische, sozio-politische und sozio-kulturelle Rollen ein. Ta‐ belle 3.4 gibt einen Überblick über die Rollen in der modernen Gesellschaft. Da die kapitalistische Moderne auf der Separierung der Rollen und Sphären 93 3.5. Die moderne Gesellschaft 93 <?page no="94"?> beruht und die einzelnen Rollen im Rahmen von Machtverhältnissen in Konkurrenz zueinander setzt, sodass die Logik der Akkumulation von Macht vorherrscht, gibt es Interessenskonflikte über die Kontrolle von Eigentum, Entscheidungs- und Definitionsmacht, woraus sich gesellschaftliche Kämpfe ergeben. Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rollen sind in der kapitalistischen Moderne in der Form von Klassen, Parteien, po‐ litischen Gruppen und Interessensgemeinschaften organisiert, die um die Kontrolle der Macht wetteifern. Gesell‐ schaftliche Dimension Rollen Rollen, die sich durch die Überlappung einer gesellschaftlichen Dimension mit der Öffentlichkeit definieren Politik Politische Rollen Bürger, Politiker, Bürokrat, Partei‐ mitglied Sozio-politische Rollen: Datenschutzrechtler, Aktivsten für Wahl‐ rechtsreformen, feministische Aktivisten, Aktivisten für die Rechte Homosexueller, antirassistische Aktivisten, Mitglieder von politischen Jugendbewegungen, Friedensak‐ tivisten, Aktivisten für die Rechte von Ge‐ fangenen, Menschenrechtsaktivisten, Anti-Psychiatrie-Aktivisten, Mitglieder von und Aktivisten in Nichtregierungsorganisa‐ tionen, Mitglieder von außerparlamentari‐ schen Oppositionsgruppen, Studentenakti‐ visten, antifaschistische Aktivisten, faschistische Aktivisten, Mitglieder der au‐ ßerparlamentarischen Linken, Mitglieder der außerparlamentarischen Rechten usw. Wirtschaft Wirtschaftliche Rollen: Kapitaleigentümer, Unternehmer, Ma‐ nager, Angestellte/ Arbeiterschaft, Pro‐ sumenten, Selb‐ ständige, Freiberuf‐ ler, Bauern, Kulturarbeiter usw. Sozio-ökonomische Rollen: Arbeiteraktivist, Gewerkschaftler, Konsu‐ mentenschützer, Umweltaktivisten Kultur Private Rollen: Liebhaber, Famili‐ enmitglied, Freund, Konsument, Publi‐ kum, Nutzer Sozio-kulturelle Rollen: Mitglieder von Sportgruppen, Fangemein‐ schaften, Mitglieder einer Religion/ Sekte/ eines Kultes, Berufsgruppen, Selbsthilfe‐ gruppen, Nachbarschaftsgruppen usw. Tabelle 3.4: Gesellschaftliche Rollen in der kapitalistischen Moderne 94 3. Materialismus und Gesellschaft 94 <?page no="95"?> Macht Macht ist die Kapazität menschlicher Akteure, auf die Entwicklung sozialer Zusammenhänge Einfluss zu nehmen. Macht gibt es nicht nur im politischen System. Es gibt wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht (siehe Ta‐ belle 3.5). Unter Macht ist zu verstehen, dass Akteure Mittel kontrollieren, die es ihnen erlauben, Strukturen zu kontrollieren, Prozesse zu beeinflussen und Entscheidungen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Dimension Macht Machtstrukturen in der kapitalis‐ tischen Moderne Wirtschaft Kontrolle von Eigentum, Gebrauchswerten und anderen Ressourcen, die produziert, verteilt und konsumiert werden Kontrolle von Geld, Kapital und Pro‐ duktionsmitteln Politik Einfluss auf kollektive Entscheidungen, die das Leben der Menschen be‐ einflussen und regulie‐ ren Kontrolle der Regierung, Bürokratie, staatliche Institutionen, des Parla‐ ments, Militärs, der Polizei, von Lob‐ bygruppen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, der Sexualität, von Minderheiten, gesellschaftlicher Gruppen usw. Kultur Einfluss auf die Defini‐ tion von moralischen Werten und Bedeutun‐ gen, die beeinflussen, was als wichtig, ehrbar und reputationswürdig gilt Kontrolle von Strukturen, die Bedeu‐ tungen und Identitäten beeinflussen (Universitäten, Glaubensgemein‐ schaften, intellektuelle Zirkel, Medi‐ enorganisationen, wissenschaftliche Vereinigungen etc.). Tabelle 3.5: Drei Formen der Macht 3.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Die Gesellschaft ist die Totalität der Produktionszusammenhänge, in denen sich die Dialektik von menschlichen Subjekten und strukturel‐ len Objekten manifestiert. Die Produktion agiert dabei als Modell, durch das sich der Gesamtzusammenhang der Gesellschaft herstellt. 95 3.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 95 <?page no="96"?> ■ Die Dialektik von Wirtschaft und Nicht-Wirtschaft (Politik und Kul‐ tur) besteht darin, dass die Wirtschaft in Form der Produktion in der Politik und der Kultur wirkt, diese Systeme aber relativ eigenständige, emergente Qualitäten in der Gesellschaft haben, die aus den und durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse konstituiert werden. Die Metapher eines Hauses oder Gebäudes beschreibt die Dialektik der Gesellschaft nicht adäquat, während jene des Flusses die Dynamik der Produktionszusammenhänge in der Gesellschaft erfasst. ■ In der modernen, kapitalistischen Gesellschaft besteht die Dialektik von Wirtschaft und Nicht-Wirtschaft darin, dass einerseits die Akku‐ mulationslogik die gesamte Gesellschaft prägt und andererseits die Akkumulation von Kapital, Entscheidungs- und Definitionsmacht be‐ stimmte Widersprüche und Dynamiken hervorbringt. ■ In der Gesellschaftstheorie gibt es sowohl strukturalistisch-funktio‐ nalistische als auch handlungstheoretische Ansätze. Marx ging hin‐ gegen von einer Dialektik von Praxis und Strukturen in der gesell‐ schaftlichen und geschichtlichen Entwicklung aus, wodurch eine Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit konstituiert wird, die ins‐ besondere in strukturellen Krisen der Gesellschaft die Frage nach fun‐ damentalem gesellschaftlichen Wandel aufwirft. Auf der Basis der in Kapitel 3 dargestellten gesellschaftstheoretischen Grundlagen stellt das nächste Kapitel die Frage: Was ist die Rolle der Kom‐ munikation in der Gesellschaft? 96 3. Materialismus und Gesellschaft 96 <?page no="97"?> 1 Denis McQuail. 2010. McQuail’s Mass Communication Theory. London: Sage. Sixth edi‐ tion. S. 69-75. 2 Friedrich Krotz. 2007. Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 3 Ebd., Kapitel 2. 4. Kommunikation und Gesellschaft Welche Rolle spielt die Kommunikation in der Gesellschaft? Um auf diese Frage eine materialistische Antwort zu geben, ist es unausweichlich, sich mit dem Verhältnis der Kommunikation zur Produktion, Werktätigkeit und Arbeit auseinanderzusetzen. Dieses Kapitel nimmt diese Frage in Angriff, indem es sich mit den Begriffen der Arbeit und der Werktätigkeit (Abschnitt 4.1), mit der Dialektik von Kommunikation und Produktion (Abschnitte 4.2 & 4.3) und dem Zusammenhang von Kommunikation, Erkenntnis und Information (Abschnitt 4.4) auseinandersetzt. Modelle der Kommunikation Denis McQuail umreißt vier Modelle der Kommunikation 1 : ■ Kommunikation als Informationsübertragung; ■ Kommunikation als Ritual, durch das die Menschen Bedeutungen ausdrücken und an der Gesellschaft teilhaben; ■ Kommunikation als die Erzeugung von Aufmerksamkeit und Öffent‐ lichkeit; ■ Kommunikation als Rezeption, zu der die Kodierung und Dekodierung von Bedeutungen notwendig ist. Friedrich Krotz 2 argumentiert, dass das Informationsübertragungsmodell das dominante Modell der Medien- und Kommunikationswissenschaft dar‐ stellt. Er fasst Kommunikation zugleich als Informationsübertragung und symbolische Interaktion, die sowohl ein innerer als auch ein äußerer Prozess ist, bei dem die Menschen sich auf die Definition einer Situationen einigen, sich jedes Subjekt in die Rolle des anderen Subjektes denkt und sich die Perspektiven wechselseitig verschränken 3 . <?page no="98"?> 4 Siehe zum Beispiel: Friedrich Krotz. 2007. Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Andreas Hepp. 2013. Medienkultur: Die Kultur mediatisierter Welten. Wiesbaden: Springer VS. 2. Auflage. Stig Hjarvard. 2013. The Mediatization of Culture and Society. Abingdon: Routledge. Friedrich Krotz and Andreas Hepp. 2013. A Concretization of Mediatization: How Mediatization Works and Why “Mediatized Worlds” Are A Helpful Concept for Empirical Mediatiza‐ tion Research. Empedocles: Journal for the Philosophy of Communication 3 (2): 119-134. Friedrich Krotz. 2017. Explaining the Mediatisation Approach. Javnost - The Public 24 (2): 103-118. Das im vorliegenden Buch vertretene Konzept der Kommunikation ist materialistisch, dialektisch und humanistisch. Es wird dabei die fundamen‐ tale Rolle der sozialen und gesellschaftlichen Produktion in der sozialen Produktion der Gesellschaft betont, wozu die Dialektik der Kommunikation und der Produktion gehört. Zu dieser Dialektik von Kommunikation und Produktion gehören Unter-Dialektiken wie die Dialektik der Internalisie‐ rung und Externalisierung der Information, die Dialektik der Kommunika‐ tion als Praktik und der Kommunikationsmittel als Strukturen, die Dialektik von Kommunikation und Gesellschaft, die Dialektik von Subjekt und Objekt, die Dialektik von individueller Erkenntnis und sozialem Wissen, die Dia‐ lektik von Gesellschafsstrukturen/ Wissensstrukturen, die Dialektik von Ko‐ gnition/ Kommunikation, die Dialektik von Kommunikation/ Kooperation, die Dialektik individueller Semiose und sozialer Semiose, die Dialektik von sozialer Semiose und gesellschaftlicher Semiose, die Dialektik der individu‐ ellen Psyche und des Gesellschaftscharakters, die Dialektik von Autorita‐ rismus und Humanismus, usw. Das vierte Kapitel dieses Buches verdeutlicht die Grundlagen des dialektisch-materialistisch-humanistischen Ansatzes der Kommunikationstheorie. Die Mediatisierung der Gesellschaft In der Medien- und Kommunikationstheorie hat eine signifikante Anzahl von Autor/ inn/ en das Konzept der Mediatisierung verwendet, um das Ver‐ hältnis von Medien und Gesellschaft zu beschreiben 4 . Sehen wir uns drei Definitionen der Mediatisierung an: 98 4. Kommunikation und Gesellschaft 98 <?page no="99"?> 5 Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Krotz. 2017. Explaining the Mediatisation Approach. Javnost - The Public 24 (2): 103-118. S. 108-109. 6 Übersetzung aus dem Englischen: Stig Hjarvard. 2013. The Mediatization of Culture and Society. Abingdon: Routledge. S. 17. 7 Andreas Hepp. 2013. Medienkultur: Die Kultur mediatisierter Welten. Wiesbaden: Sprin‐ ger VS. 2. Auflage. S. 67. ■ Friedrich Krotz definiert Mediatisierung als „die Transformation des Alltagslebens, der Kultur und der Gesellschaft im Kontext der Trans‐ formation der Medien“ 5 . ■ Stig Hjarvard gibt die folgende Definition: „Unter der Mediatisierung der Kultur und der Gesellschaft verstehen wird den Prozess, durch den Kultur und Gesellschaft zu einem zunehmenden Grad von den Medien und deren Logik abhängig werden. Dieser Prozess ist durch eine Dua‐ lität gekennzeichnet, indem die Medien in die Operationen anderer gesellschaftlicher Institutionen und kultureller Sphären integriert worden sind, während sie auch für sich genommen den Status gesell‐ schaftlicher Institutionen erlangt haben. Als Konsequenz davon findet soziale Interaktion - innerhalb der jeweiligen Institutionen, zwischen Institutionen und in der Gesellschaft insgesamt - immer mehr über die Medien statt“ 6 . ■ Andreas Hepp schreibt: „Mediatisierung fasst […] den Prozess der Etablierung dieser unterschiedlichen Typen von Medienkommunika‐ tion über verschiedene Kontextfelder hinweg und deren Durchdrin‐ gung mit diesen. […] Im Kern geht es nämlich um Kommunikation und die Frage, wie deren Wandel auf den soziokulturellen Wandel verweist“. 7 Der gemeinsame Kern dieser drei Definitionen besteht darin, dass es sich bei der Mediatisierung um den Prozess handelt, bei dem Medien die Gesell‐ schaft, die Kultur, das Alltagsleben, gesellschaftliche Institutionen, soziale Interaktion und gesellschaftliche Kontexte so verändern, dass Sozialität zu‐ nehmend über die Medien stattfindet. Der Begriff der Mediatisierung beruht auf dem Konzept des Mediums. „Ein Medium sollte dann als Einzelobjekt und als Objekttyp definiert wer‐ den, der der Existenz, der Transformation und der Modifikation der Kom‐ 99 4. Kommunikation und Gesellschaft 99 <?page no="100"?> 8 Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Krotz. 2014. Media, Mediatization and Me‐ diatized Worlds: A Discussion of the Basic Concepts. In Mediatized Worlds: Culture and Society in a Media Age, hrsg. Andreas Hepp and Friedrich Krotz, 72-87. Basingstoke: Palgrave Macmillan. S. 79. 9 Ebd., S. 79-80. 10 Friedrich Krotz. 2017. Explaining the Mediatisation Approach. Javnost - The Public 24 (2): 103-118. p. .108. Friedrich Krotz. 2007. The Meta-Process of “Mediatization” as a Conceptual Frame. Global Media and Communication 3 (3): 256-260. 11 Zum Beispiel: Krotz, Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. 12 Siehe zum Beispiel: Peter Gentzel, Friedrich Krotz, Jeffrey Wimmer & Rainer Winter, Hrsg. 2019. Das vergessene Subjekt: Subjektkonstitutionen in mediatisierten Alltagswel‐ ten. Wiesbaden: Springer VS. 13 Graham Murdock. 2017. Mediatisation and the Transformation of Capitalism: The Ele‐ phant in the Room. Javnost - The Public 24 (2): 119-135. munikation dient” 8 . Bei einem Medium gibt es Aspekte der Praktiken, näm‐ lich dass es aus symbolischen Äußerungen besteht und dass es ein Erfahrungs- und Erlebnisraum ist, und Strukturaspekte, nämlich Medien‐ technologie und das Medium als gesellschaftliche Institution 9 . Krotz argu‐ mentiert, dass die Mediatisierung neben der Globalisierung, der Individua‐ lisierung und der Kommerzialisierung einen Metaprozess der Moderne darstellt 10 . Der Begriff der Mediatisierung stellt sicherlich Mediensysteme gegenüber Kommunikationspraktiken in den Vordergrund. Man kann aber nicht auto‐ matisch annehmen, dass der Mediatisierungsansatz strukturalistisch ist, da er teilweise gemeinsam mit einem Konzept der Kommunikation entwickelt wurde 11 und es Debatten gegeben hat, die die Rolle des menschlichen Sub‐ jekts in Mediatisierungsprozessen betonen 12 . Die Kritik der Politischen Ökonomie der Kommunikation Graham Murdock 13 argumentiert, dass das Modell der Mediatisierung „mit Nachdruck das Primat der kapitalistischen Dynamik bei der Gestaltung der zentralen Konturen der Moderne ignoriert. […] Die führenden urbanen Zentren der heutigen Welt wurden als Industrie-, Finanz-, Handels-, Export- und Verwal‐ tungszentren gebaut, die dem Kapital dienen. Die gegenwärtigen Muster der Glo‐ balisierung sind unauslöschlich von kapitalistischer Kolonisierung und Imperia‐ lismen und deren Erbe geprägt worden. In dem unermüdlichen Bestreben, Wachstumsmodelle aufrechtzuerhalten, die auf einem immer höheren persönli‐ chen Konsumniveau basieren, wurden Vorstellungen von Individualität zuneh‐ 100 4. Kommunikation und Gesellschaft 100 <?page no="101"?> 14 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 121. 15 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 130. 16 Übersetzung aus dem Englischen: Krotz, The Meta-Process of “Mediatization” as a Con‐ ceptual Frame, S. 259. 17 Friedrich Krotz. 2019. Wie konstituiert das Kommunizieren den Menschen? Zum Sub‐ jektkonzept der Kommunikationswissenschaft im Zeitalter digital mediatisierter Le‐ bensweisen. In Das vergessene Subjekt: Subjektkonstitutionen in mediatisierten Alltags‐ welten, hrsg. Peter Gentzel, Friedrich Krotz, Jeffrey Wimmer and Rainer Winter, 17-37. Wiesbaden: Springer VS. S. 35. mend von der kapitalistischen Kernideologie des possessiven Individualismus annektiert. Autoren, die über die Mediatisierung schreiben, zählen wirtschaftliche Dynamiken oft unter dem Schlagwort der ‚Kommerzialisierung‘ zu ihren Auf‐ stellungen der heutigen Transformationsprozesse, aber Veränderungen der Or‐ ganisation des Mediensystems seit der Mitte der 1970er-Jahre werden niemals in der umfassenderen Transformation des Kapitalismus und seiner vielfältigen Aus‐ wirkungen auf die Organisation der wirtschaftlichen und der symbolischen Macht situiert. Diese Abwesenheit erscheint wie ein Gespenst, das die jüngsten Kommentare der führenden Mediatisierungs-Autoren verfolgt. Bei ihren Bemü‐ hungen, eine vollständigere Darstellung des Elefanten zu geben, haben sie ver‐ gessen zu fragen, in wessen Eigentum er sich befindet, wer ihn dressiert und was er im Zimmer macht” 14 . Graham Murdock betont: „Wir müssen die Analyse mit der Tiefendynamik des Kapitalismus und nicht der Tiefendynamik der Mediatisierung begin‐ nen“ 15 . Krotz argumentiert, dass „in einer kapitalistischen Welt alle solchen Metaprozesse von der wirtschaftlichen Dimension abhängen. Daher ist die Kommerzialisierung der grundlegende Prozess, der alle Handlung stimu‐ liert“ 16 . Anderswo betont er: „Kommunikation wird funktionalisiert und an den Prozess des Warentauschs gebunden, die kommunikative Reproduktion des Menschen richtet sich zunehmend gegen ihn selbst - Marx hat dies als Entfremdung bezeichnet” 17 . Der Mediatisierungsansatz hat bisher keine umfassenden Analysen der Kommunikation und der Mediatisierung im Kontext der kapitalistischen Gesellschaft geschaffen. Der Prozess der Kommerzialisierung ist nur auf den Tausch von Waren gegen Geld auf Märkten fokussiert, also auf das, was Marx als die Zirkulationssphäre bezeichnet. Es gibt aber auch die Sphäre der Warenproduktion, in der die menschliche Arbeit Güter und Dienstleistun‐ gen als Waren produziert, weswegen die Prozesse der Kommodifizierung und der Kapitalisierung neben der Kommerzialisierung wesentliche Aspekte 101 4. Kommunikation und Gesellschaft 101 <?page no="102"?> 18 Manfred Knoche. 1999. Das Kapital als Strukturwandler der Medienindustrie - und der Staat als sein Agent? Lehrstücke der Medienökonomie im Zeitalter digitaler Kommu‐ nikation. In Strukturwandel der Medienwirtschaft im Zeitalter digitaler Kommunikation, hrsg. Manfred Knoche & Gabriele Siegert, 149-193. München: Verlag Reinhard Fischer. 19 Übersetzung aus dem Englischen: Murdock, Mediatisation and the Transformation of Capitalism: The Elephant in the Room, S. 132. der Kommunikation im Kapitalismus darstellen. Das Kapital ist, wie Man‐ fred Knoche betont, ein Strukturwandler der Medien 18 . Die Wirtschaft ist sicherlich, wie Krotz betont, ein wesentlicher Aspekt der Organisation und Transformation der kapitalistischen Gesellschaft. Dies gilt aber nicht nur in Bezug auf die Warenzirkulation, sondern auch im Kontext der Produktion (Werktätigkeit und Arbeit) und des Konsums. Der im vorliegenden Buch vertretene Ansatz zeigt auf, dass die Wirtschaft als die Sphäre der sozialen Produktion die entscheidende Grundlage der Ge‐ sellschaft ist, da alle sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen Produkti‐ onsverhältnisse sind. Jede gesellschaftliche Sphäre hat emergente Qualitä‐ ten, die über die Produktion hinausgehen und auf der sozialen Produktion basieren und aufbauen. Bei der Kommodifizierung, der Kapitalisierung, der Kommerzialisierung, der Individualisierung, der Globalisierung und der Me‐ diatisierung handelt es sich nicht um die einzigen Metaprozesse der moder‐ nen Gesellschaft. Im Bereich der modernen Politik finden wir Prozesse der Bürokratisierung, der Kontrolle, der Herrschaft und der Überwachung. Und im Bereich der Kultur finden wir den Prozess der Ideologisierung. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die Menschen das Vermögen dazu besitzen, all diese Prozesse der wirtschaftlichen, politischen und kul‐ turellen Entfremdung durch Prozesse der Aneignung aufzuheben, also durch Klassenkämpfe, politische Proteste und Kämpfe für Anerkennung (siehe Kapitel 8, 12 und 14 dieses Buches). Der im vorliegenden Buch vertretene dialektisch-materialistisch-humanistische Ansatz der Kommunikationsthe‐ orie beruht auf der Annahme der Kritik der Politischen Ökonomie der Kom‐ munikation, dass es „ohne eine anhaltende Untersuchung der Dynamik und der Widersprüche des marktwirtschaftlichen Kapitalismus unmöglich ist, die treibenden Kräfte, die die Mediatisierung vorantreiben und organisieren, vollständig zu erklären, Konsequenzen für das institutionelle und intime Leben richtig zu erfassen oder mögliche Wege zur Infragestellung und für Veränderungen zu identifizieren” 19 . Bei der Analyse der Dialektiken von Medien/ Kommunikation und Gesellschaft müssen wir insbesondere die po‐ litische Ökonomie, soziale Produktion, Ideologie, Entfremdung, Klassen‐ 102 4. Kommunikation und Gesellschaft 102 <?page no="103"?> 20 Siehe auch: Christian Fuchs. 2020. Marxism: Karl Marx’s Fifteen Key Concepts for Cul‐ tural and Communication Studies. New York: Routledge. strukturen, gesellschaftliche Kämpfe und Emanzipationsbewegungen be‐ rücksichtigen 20 . Das vorliegende Buch präsentiert eine derartige Analyse, indem es vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigt: Es beschäftigt sich zu‐ nächst mit Aspekten der Produktion der Materie im Allgemeinen (Kapitel 2) und der sozialen Produktion in der Gesellschaft (Kapitel 3, 4, 5, 6), wozu auch die Dialektik der Produktion und der Kommunikation (Kapitel 4) sowie die Dialektik von kommunikativen Praktiken und Kommunikationsmitteln (Kapitel 6) gehört. Durch Anwendung dieser Grundlagen analysiert das Buch die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekte der Kom‐ munikation in der kapitalistischen Gesellschaft (Kapitel 5, 7, 8, 9, 10, 11). Daran anschließend setzt es sich mit der Transzendenz, der Aufhebung und der Negation der Negativität des Kapitalismus und der kapitalistischen Kommunikation durch Kämpfe, Humanismus und die kommunikativen Ge‐ meingüter auseinander (Kapitel 12, 13, 14). 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit Werktätigkeit und Arbeit In Abbildung 4.1 wird die Etymologie der Begriffe „Arbeit“, „labour“, „work“ und „Werktätigkeit“ dargestellt. Das Wort „labour“ geht auf das Lateinische „laborem“ zurück, das Mühsal, Not und Pein bezeichnet. Das deutsche Wort „Arbeit“ geht zurück auf den germanischen Terminus „arba“, worunter der Sklave zu verstehen ist. Die Begriffe „Werktätigkeit“ im Deutschen und „work“ im Englischen sind verwandt und haben einen anderen Ursprung als „Arbeit“ und „labour“. Sie gehen zurück auf den indo-europäischen Begriff „uerg“, womit wirkungsvolles Machen, Handeln und Schaffen gemeint ist. Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff der Werktätigkeit heute ver‐ gessen und jener der Arbeit wird sowohl für das Werken im Allgemeinen als auch für die entfremdete Arbeit verwendet. Im Kapitalismus hat sich also der Sprachgebrauch zu einer verdinglichenden Begriffsverwendung gewan‐ delt, sodass sprachlich nicht mehr zwischen entfremdeter und nichtent‐ fremdeter Tätigkeit unterschieden werden kann, wodurch die entfremdete Arbeit als das allgemeine Modell der Tätigkeit erscheint. Im Englischen kann 103 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 103 <?page no="104"?> man im heutigen Sprachgebrauch zwischen work und labour differenzieren, aber die beiden Begriffe werden zumeist (nicht nur im Alltag, sondern auch in wissenschaftlichen Arbeiten) als gleichbedeutend verwendet, wodurch dieselbe fetischierende Sprachwirkung eintritt. Deutsch Arbeit arba (Sklave) Werk, werken wirken Englisch work MODERNES ENGLISCH weorc MITTELENGLISCH ALTENGLISCH: wyrcan (schaffen, werken), wircan (bewirken, wiren) uerg (machen, handeln, wirkungsvoll sein) INDO-EUROPÄISCH labour ENGLISCH labor ALTFRAN- ZÖSISCH laborem LATEIN (Mühe, Not, Pein) Abbildung 4.1: Die Etymologie der Wörter „Arbeit“, „Werken“, „labour“ und „work“ Produktionsvermögen (Subjekt) Andere Subjekte Subjekt-Objekt: Produkt der Werktätigkeit Produktionsmittel (Objekt) Produktionsgegenstand Produktionsinstrumente Produktionsverhältnisse Abbildung 4.2: Die Dialektik von Subjekt und Objekt in der Werktätigkeit 104 4. Kommunikation und Gesellschaft 104 <?page no="105"?> In Kapitel 3 wurden die Subjekt-Objekt-Dialektik und die Begriffe der Pro‐ duktivkräfte und der Produktionsverhältnisse diskutiert. Vom Standpunkt der Werktätigkeit betrachtet handelt es sich bei den Produktivkräften um ein System, in dem das menschliche Produktionsvermögen (die geistigen und körperlichen Fertigkeiten des Menschen) in der Werktätigkeit einge‐ setzt werden. Dabei benutzen die Menschen Objekte als Produktionsmittel, um neue Produkte herzustellen. Zu den Produktionsmitteln gehören einer‐ seits bestehende Rohstoffe (der Produktionsgegenstand), die von den menschlichen Subjekten mit der Hilfe von Technologien (den Produktions‐ instrumenten) in neue Produkte verwandelt werden. Die Werktätigkeit ist ein dynamischer, dialektischer Prozess, in dem menschliche Subjekte Pro‐ duktionsmittel verwenden, um neue Produkte zu erzeugen (siehe Abbildung 4.2). Die Menschen werken gemeinsam, um die Befriedigung von Bedürf‐ nissen zu bewirken. Das Werken ist ein Wirken, wodurch Bedürfnisver‐ wirklichung in der Gesellschaft bewirkt werden soll. Oft wird, wenn Werk‐ tätigkeit im Allgemeinen gemeint ist, von Arbeitsvermögen, Arbeitsmitteln, Arbeitsinstrumenten, Arbeitsgegenstand und Arbeitsprodukten anstelle von Produktionsvermögen, Produktionsmitteln, Produktionsinstrumenten, Produktionsgegenstand und Produkten der Werktätigkeit gesprochen. Ist nicht explizit Arbeit, also Werktätigkeit in entfremdeten Produktionsver‐ hältnissen gemeint, so fetischisiert dieser Sprachgebrauch die Arbeit und den Kapitalismus und lässt dadurch die entfremdete Arbeit als das allge‐ meine Modell der Wirtschaft und der Gesellschaft erscheinen, obwohl sie nur in Klassenverhältnissen existiert. Der Begriff „Werktätigkeitsteilung“ oder „Teilung der Werktätigkeit“ ist hingegen unsinnig, da die Arbeitsteilung immer Klassenverhältnisse voraussetzt und in einer sozialistischen Gesell‐ schaft aufgehoben ist. Der Arbeitsfetisch ist die Kehrseite des Kapital- und Warenfetischismus. In der Arbeit verwirken die Menschen ihr Leben für die herrschende Klasse und entwirklichen sich ihrer Menschheit, indem sie durch die Ausbeutung vernutzt und wie Dinge behandelt werden. In einer sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Arbeit, sondern nur selbstbe‐ stimmte Werktätigkeit der allseitig tätigen Individuen. 105 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 105 <?page no="106"?> 21 Edward P. Thompson. 1978. The Poverty of Theory & Other Essays. London: Merlin. S. 8-10, 164, 171. 22 Raymond Williams. 1977. Marxism and Literature. Oxford: Oxford University Press. S. 128-135. 23 Vgl. Christian Fuchs. 2019. Revisiting the Althusser/ E.P. Thompson-Controversy: To‐ wards a Marxist Theory of Communication. Communication and the Public 4 (1): 3-20. Christian Fuchs. 2017. Raymond Williams’ Communicative Materialism. European Jour‐ nal of Cultural Studies 20 (6): 744-762. 24 Georg Lukács. 1986. Georg Lukács Werke Band 14: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 14. 25 Georg Lukács. 1984. Georg Lukács Werke Band 13: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 1. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 316. 26 Ebd., S. 54. Im humanistischen Marxismus wurden die Konzepte der Klassenerfah‐ rung 21 und der Gefühlsstruktur 22 verwendet, um klarzumachen, dass die Subjektivität, wozu Ideen, Gefühle, Normen, Glauben, Moral, Werte, Tradi‐ tionen und Kultur gehören, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv ist. Was zu diesen Ansätzen hinzugefügt werden muss, ist die Einsicht, dass es zwischen individueller Subjektivität und Kollektivität einen vermittelnden Produktionsprozess gibt, der durch die Kommunikation organisiert wird. 23 Die teleologische Setzung Für Georg Lukács ist die Gesellschaft ein Komplex von Komplexen, in dem die Menschen die Welt teleologisch setzen. Unter der teleologischen Setzung ist zu verstehen, dass der Mensch durch Werktätigkeit bewusst gesetzte Ziele zu erreichen versucht und dazu bestimmte Produktionsmittel einsetzt. Te‐ leologische Setzung der Werktätigkeit bedeutet einerseits „ihre Zweckmä‐ ßigkeit, ihr Gerichtetsein auf ein Ziel” und andererseits, dass sie „einen be‐ wussten Urheber haben muss” 24 . Jede teleologische Setzung „bezweckt, einen konkret bestimmten Einzelzusammenhang für die Zwecke einer kon‐ kret-einzelnen Zielsetzung nutzbar zu machen” 25 . Die teleologische Setzung ist eine „bewusst vollzogene“ soziale Handlung, die imstande ist, „kausale Prozesse ins Leben zu setzen, die sonst bloß spontan funktionierenden Pro‐ zesse, Gegenstände etc. des Seins zu modifizieren, ja Gegenständlichkeiten seiend zu machen, die vor der Arbeit überhaupt nicht existierten” 26 . In dieser marxistisch-aristotelischen Auffassung der Wirtschaft ist das Telos keine außerhalb der Gesellschaft existierende esoterische Kraft wie Hegels Weltgeist oder Anaxagoras’ Nous, sondern eine immanente gesell‐ 106 4. Kommunikation und Gesellschaft 106 <?page no="107"?> 27 Aristoteles. 1983. Nikomachische Ethik. Aristoteles Werke Band 6. Übersetzt und kom‐ mentiert von Franz Dirlmeier. Berlin: Akademie-Verlag. § 1139b. 28 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 193. 29 Aristoteles. 2016. Physik. Scotts Valley, CA: CreateSpace. Buch 2, Kapitel 3. 30 Aristoteles. 1966. Metaphysik. Reinbek: Rowohlt. Buch 1, Kapitel 3 & 7. schaftliche Kraft, die aus der bewussten menschlichen Produktionsorientie‐ rung entspringt. Aristoteles formuliert dieses immanente Konzept der Te‐ leologie folgendermaßen: „jeder, der etwas hervorbringt, tut dies zu einem bestimmten Zweck, und das Hervorbringen als Vorgang […] ist bezogen auf etwas und Gestaltung von etwas“ 27 . Marx meint ähnlich, dass der Mensch in der Werktätigkeit „seinen Zweck“ verwirklicht: „Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksam‐ keit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt. […] Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Ar‐ beit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel” 28 . Aristoteles unterscheidet in seiner Physik 29 und Metaphysik 30 vier zusam‐ menwirkende Ursachen: die Materialursache (causa materialis), die Wirk‐ ursache (causa efficiens), die Formursache (causa formalis) und die Zweck‐ ursache (causa finalis). Bei jeder Veränderung kann man daher vier Dimensionen unterscheiden, die sich in der Form von vier Fragen darstellen lassen: Woraus? Woher? Was? Warum? Woraus wird die Veränderung ge‐ macht (Materialursache)? Wovon und woher geht die Veränderung aus (Wirkursache)? Was passiert mit dem zu Grunde liegenden Material (Form‐ ursache)? Was ist das Ziel, weswegen und warum gibt es Veränderung (Zweckursache)? Auf die Werktätigkeit bezogen ist unter der Materialursache der Produk‐ tionsgegenstand als Rohstoff zu verstehen, unter der Wirkursache das werk‐ tätige menschliche Subjekt mit seinem Produktionsvermögen und der Fer‐ tigkeit, die Produktionsinstrumente anzuwenden; unter der Formursache das Zusammenwirken von Subjekt und Objekt im Werktätigkeitsprozess, wodurch der Produktionsgegenstand in eine neue Form gebracht wird; und unter der Zweckursache das Produktionsziel der Herstellung bestimmter Produkte als Gebrauchsgegenstände, die bestimmte Bedürfnisse des Men‐ schen befriedigen. Marx ist in Hinsicht auf die Unterscheidung von Gegen‐ stand, Subjekt, Prozess und Produkt der Werktätigkeit durchwegs Aristote‐ liker. Und auch Georg Lukács Begriff der teleologischen Setzung ist 107 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 107 <?page no="108"?> 31 Monte Ransome Johnson. 2005. Aristotle on Teleology. Oxford: Oxford University Press. S. 66 aristotelisch geprägt und hebt die bewusst gestaltete Zweckursache in der menschlichen Produktion hervor. Tabelle 4.1 zeigt eine Übersicht der vier Aristotelischen Ursachen und wendet diese auf Werktätigkeit und Kommunikation an. Bei der Kommuni‐ kation wenden menschliche Subjekte (Wirkursache) im Kommunikations‐ prozess (Formursache) bestimmte Kommunikationsmittel an, um die Kultur (Materialursache), die die Totalität der Ideen und Bedeutungen der Gesell‐ schaft ist, in eine neue Form zu bringen, sodass bestimmte soziale Bezie‐ hungen und die Gesellschaft (re)produziert werden (Zweckursache). Ursache Questions Werktätigkeit Kommunikation Causa materia‐ lis: Materialursa‐ che Woraus? Ressourcen, Mate‐ rialien Kultur als Totalität der Ideen und Bedeutungen Causa efficiens: Wirkursache Woher? Wovon? Die Werktätigen Menschliche Subjekte Causa formalis: Formursache Was? Werkprozess (Werktätige wen‐ den Produktions‐ mittel an, um Mate‐ rialien zu verändern und ih‐ nen eine neue Form zu geben) Kommunikationsprozess Causa finalis: Zweckursache Warum? Wozu? (Wofür? Für wen? ) Befriedigung be‐ stimmter menschli‐ cher Bedürfnisse (Re-)Produktion sozialer Beziehungen und der Ge‐ sellschaft Tabelle 4.1: Die vier Aristotelischen Ursachen Die Aristotelische Linke Monte Ransome Johnson weist darauf hin, dass Aristoteles zwischen zwei Dimensionen der Zweckursache unterscheide 31 . Fragt man danach, was der Zweck ist, so muss man danach fragen, für welchen Zweck etwas getan wird („Wofür? “), und um wessen Zweck es sich handelt („Für wen? “). Aristoteles 108 4. Kommunikation und Gesellschaft 108 <?page no="109"?> 32 Aristoteles. 1983. Nikomachische Ethik. Aristoteles Werke Band 6. Übersetzt und kom‐ mentiert von Franz Dirlmeier. Berlin: Akademie-Verlag. § 1159b. 33 Aristoteles. 1989. Politik. Ditzingen: Reclam. § 1254b. 34 Ebd., §1254b. 35 Vgl. Alfred Sohn-Rethel. 1989. Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte. Weinheim: VCH. Revidierte und ergänzte Neuauflage. 36 Ernst Bloch. 1963. Avicenna und die Aristotelische Linke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. trifft eine Unterscheidung zwischen „Zielen, ‚wegen denen‘ gehandelt wird und Nutznießer, ‚für deren Zweck‘ gehandelt wird“. So kann man etwa fra‐ gen: Was ist der Zweck der Wirtschaft? Und jemand mag antworten: Die Aufgabe und das Ziel der Wirtschaft ist es, Wohlstand zu produzieren. Diese Frage und ihre Antwort sind aber unvollständig, da man eine Frage an‐ schließen muss: Für wessen Zweck wird Wohlstand geschaffen? In einer kapitalistischen Wirtschaft gibt es Ungleichheit zwischen den Klassen, da die kapitalistische Klasse den Wohlstand besitzt, den die Arbeiterklasse pro‐ duziert. Im Kapitalismus ist der Zweck der Produktion der sich im Besitz von Wenigen befindende Profit und Wohlstand. Im Gegensatz dazu wird in einer sozialistischen Gesellschaft Wohlstand produziert, um Vorteile für alle zu bringen. Das Beispiel zeigt, dass es je nach Gesellschaftsstruktur unter‐ schiedliche Zweckursachen gibt. In Klassengesellschaften ist die Zweckur‐ sache geprägt von der instrumentellen Vernunft, sodass bestimmte Gruppen davon profitieren, dass sie andere instrumentalisieren und auf Kosten dieser Vorteile haben. In sozialistischen Gesellschaften ist die Zweckursache von der Logik des Gemeinwesens geprägt. Obwohl Aristoteles die Logik des Allgemeinwohls und der Gemeingüter förderte, indem er argumentierte, dass Freundschaft und Gerechtigkeit mit dem Teilen zusammenhängen - „Freundesgut, gemeinsam‘ Gut“ 32 -, dachte er das Prinzip des Gemeingutes in seiner eigenen Philosophie nicht zu Ende. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn er sagt, dass Herrschaft, Sklaverei und Patriarchat natürlich sind 33 . Die Implikationen der Logik der Gemeingüter wurden später von sozialistischen Denkern wie Marx vollständig entwickelt. Bei Aristoteles geht die Rechtfertigung der Herrschaft auf die falsche An‐ nahme in seiner Politik zurück, dass „die Seele […] über den Körper eine Herrenherrschaft“ 34 ausübt. Die Herrschenden werden mit dem Geist gleich‐ gesetzt und die Beherrschten mit dem Körper. Tatsächlich ist die Klassen‐ herrschaft so alt wie die Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit 35 , woraus aber nicht folgt, dass die Herrschaft natürlich ist. Ernst Bloch weist darauf hin, dass es zwei politische Aristoteles-Interpretationen gibt 36 : Die 109 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 109 <?page no="110"?> 37 Ebd., S. 48. 38 Aristoteles. 2011. Über die Seele. Stuttgart: Reclam. §414a. 39 Ernst Bloch, Ernst. 1972. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 143. 40 Ebd., S. 145. aristotelische Rechte, zu der im Mittelalter z. B. Thomas von Aquin (1225-1274) zählte, trennt Körper und Geist. Sie wertet in platonischer Ma‐ nier die Materie ab und geht von der Herrschaft des Geistes über die Materie aus. Die aristotelische Linke, zu der Averroes (Ibn Ruschd, 1126-1198), Avi‐ cenna (Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā, 980-1037) und Giordano Bruno (1548-1600) zählen, integriert Geist und die Formursache dialektisch in die Materie, sodass die Materie als produktiv und selbstproduzierend auf‐ gefasst wird, was auch eine Voraussetzung einer Aristoteles-Interpretation ist, die sich gegen Herrschaft und Ausbeutung wendet. Hatten linke aristo‐ telische Denker wie Avicenna, Averroes und Giordano Bruno „die Aristote‐ lische Trennung der Formen, vorab der höheren, vom Stoff erst verringert, dann aufgehoben, so dualisiert Thomas [von Aquin] die formae separatae [die geistige Form] und die formae inhaerentes [die materielle Form] weit über Aristoteles hinaus“ 37 . In Über die Seele (De Anima) betont Aristoteles, dass die Materie eine Möglichkeit ist, aus der sich konkrete Formen entwickeln (siehe Kapitel 2 [Abschnitt 2.1] im vorliegenden Buch), was für den Menschen bedeutet, dass der Körper die Möglichkeit für die Seele ist. Die Materie ist „die Möglichkeit, die Form aber die vollendete Wirklichkeit, da nun die Verbindung beider das Beseelte ist“, so ist „die Seele die vollendete Wirklichkeit eines bestimmten Körpers. Deshalb ist auch die Annahme derer richtig, die meinen, die Seele könne weder ohne Körper sein, noch sei sie selbst Körper. Sie ist zwar nicht Körper, aber doch Sache des Körpers, und darum ist sie auch im Körper gegenwärtig, und zwar in einem ganz bestimmten Körper“ 38 . Die Seele ist Teil des menschlichen Körpers und hat emergente Qualitäten wie das Den‐ ken, das Empfinden, die Vernunft, die Wahrnehmung und die Erinnerung. Für Aristoteles ist die Materie ein „gärendes Möglichkeitssubstrat“ 39 . Der „Idealist-Materialist Aristoteles“ hat „kräftiger zum Begriff der gärenden, der dialektischen Materie beigetragen als Demokrit“ 40 . Marx hat ähnlich wie Aristoteles den Geist materiell begriffen. Der Gedanke und die kommuni‐ zierten Bedeutungen sind an das menschliche Subjekt gebunden. Marx drückt diesen Umstand so aus: „Man kann den Gedanken nicht von einer 110 4. Kommunikation und Gesellschaft 110 <?page no="111"?> 41 Friedrich Engels und Karl Marx. 1845. Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. In Marx Engels Werke (MEW) Band 2, 3-223. Berlin: Dietz. S. 136. 42 Horst Holzer. 1975. Theorie des Fernsehens: Fernseh-Kommunikation in der Bundesrepu‐ blik Deutschland. Hamburg: Hoffmann und Campe. S. 30. Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen” 41 . In der Heiligen Familie spricht Marx also von einer Dialektik von Gedanken und Materie, also einer dialektischen Lösung des Leib-Seele-Problems, die den Cartesianischen Dualismus aufhebt. Der Gedanke hat eine materielle Basis, den menschlichen Körper und das menschliche Gehirn, und zugleich auch emergente Qualitäten. Aristoteles‘ dialektischer Materiebegriff, bei dem der Geist dialektisch auf der Potentialität des Körpers basiert, widerspricht sei‐ ner eigenen Rechtfertigung der Sklaverei und des Patriarchats in der Poli‐ tik, einer Schrift, die auf der undialektischen Annahme einer Trennung von Körper und Geist beruht. Kommunikation als teleologische Setzung Die Kommunikation ist kein von der Produktion und Werktätigkeit grund‐ verschiedener Prozess, denn auch sie produziert und hilft dem Menschen, Ziele zu erreichen, nämlich sich zu verständigen, sich zu informieren, die Produktion von Ideen, die Stärkung der Vorstellungskraft, sich zu unterhal‐ ten etc. Es besteht eine Dialektik von Produktion und Kommunikation: Das heißt „nichts anderes, als dass die Menschen kommunizierend produzieren und produzierend kommunizieren“ 42 . Die Menschen kommunizieren produ‐ zierend (produzierende Kommunikation), da Kommunikation soziale Bezie‐ hungen, soziale Strukturen, soziale Systeme, Institutionen, die Gesellschaft als Totalität und die menschliche Sozialität produziert und reproduziert. Die Werktätigkeit ist keine isolierte und individuelle Produktion, sondern eine soziale und kooperative Form der Tätigkeit, in deren Organisation die Men‐ schen kommunizieren (kommunikative Produktion). Die Produktion (Werktätigkeit) und die Kommunikation greifen dialek‐ tisch ineinander über. Während die Kommunikation eine spezielle Form der verständigungs- und sozialisationsorientierten Produktion ist, ist die Pro‐ duktion nur durch Kommunikation sozial und gesellschaftlich. Die Werk‐ tätigkeit hat einen Kommunikationscharakter und die Kommunikation ei‐ nen Werktätigkeitscharakter. 111 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 111 <?page no="112"?> 43 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1980/ 2005. Culture and Materi‐ alism. London: Verso. S. 50. 44 Aristoteles. 1989. Politik. Ditzingen: Reclam. § 1253a. 45 Hannah Arendt. 1967/ 1981. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. S. 30. Charles Taylor. 2016. The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic Capa‐ city. Cambridge, MA: The Belknap Press. S. 338. Charles Taylor. 2015. Human Agency and Language. Philosophical Papers 1. Cambridge: Cambridge University Press. S. 217. Die Werktätigkeit ist eine soziale Beziehung, in der die Menschen koope‐ rieren, um neue Realität zu koproduzieren, durch die menschliche Bedürf‐ nisse befriedigt werden. Kommunikation koordiniert den Produktionspro‐ zess. Raymond Williams schreibt in diesem Zusammenhang, dass die „Kommunikation und ihre materiellen Mittel allen Formen der Werktätig‐ keit und sozialen Organisation inhärent sind“ 43 . Umgekehrt ist die Werktä‐ tigkeit der Kommunikation inhärent, da die Produktion als teleologische Setzung von Zielen das Modell für alle gesellschaftlichen Praktiken der Menschen formt und somit auch in der Kommunikation als (Re-)Produktion der Sozialität eine spezifische Gestalt annimmt. Kommunikation ist nicht nur Produktion, sondern auch die Grundlage des menschlichen Verständnisses der Welt. Durch Kommunikations- und Informationsprozesse lernen wir die Welt und die Motivationen und An‐ sichten anderer Menschen kennen. Verständnis bedeutet nicht notwendi‐ gerweise moralische Zustimmung, sondern das Begreifen von Sachverhal‐ ten. Kommunikation ist Produktion, aber zugleich als Verständigungsorientierung auch mehr als Kommunikation. Sie hat emergente Qualitäten. Umgekehrt ist die Produktion als Werktätigkeit kommunikativ, ist aber als die Produktion von spezifischen Gebrauchswerten mehr als nur reine Kom‐ munikation. In der Politik schreibt Aristoteles: λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων - „Über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch” 44 . Aristoteles beschreibt die Menschen als ζῷον λόγοϛ ἔχων (zōon logon echon). Eine weit verbreitete Übersetzung davon ist, dass der Mensch ein rationales Tier ist. Hannah Arendt und Charles Taylor argumentieren, dass es unange‐ messen ist, diese Kategorie als das rationale Tier zu übersetzen 45 . Im Griechi‐ schen bedeutet λόγος (logos) sowohl Rationalität als auch Sprache/ Äußerung. Diese doppelte Bedeutung umreißt das menschliche Wesen: Der Mensch ist ein rationales/ teleologisches, kommunikatives Wesen. Kommunikation und Werktätigkeit sind als Formen der Produktion Mittel, um Ziele zu erreichen. Kommunikation und Produktion greifen dialektisch ineinander über. Rationa‐ 112 4. Kommunikation und Gesellschaft 112 <?page no="113"?> 46 Karl Marx. 1867. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 346. 47 Avicenna, Kompendium über die Seele. In Samuel Landauer. 1876. Die Psychologie des Ibn Sīnā. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 29 (3/ 4): 335-418. S. 405. 48 Mogobe B. Ramose. 2003c. The Struggle for Reason in Africa. In The African Philosophy Reader, hrsg. Pieter H. Coetzee and Abraham P.J. Roux, 1-9. London: Routledge. Second edition. 49 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 1. 50 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 2. 51 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 3. 52 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 3. lität bedeutet, dass Ziele identifiziert werden und Mittel verwendet werden, um diese Ziele zu erreichen. Die Produktion ist der menschliche Prozess der Rationalität, der Prozess, durch den die Menschen versuchen, definierte Ziele zu erreichen. Die Kommunikation ist eine Form der Rationalität, nämlich die Produktion der Sozialität, Vergesellschaftung und Gesellschaftlichkeit des Menschen. Wenn Marx betont, dass der Mensch ein „gesellschaftliches Tier” ist 46 , so können wir dies am besten so auffassen, dass a) die Menschen die Ge‐ sellschaft und die Sozialität durch kommunikatives Handeln (re)produzieren (Kommunikation als Produktion) und dass b) die Produktion ein sozialitäts- und gesellschaftskonstituierender Prozess ist, der durch die Kommunikation orga‐ nisiert wird (Kommunikation in der Produktion). Avicenna kommentiert, dass Aristoteles’ Verständnis des Menschen als sprechendes, rationales Tier auch als „hylischer Verstand“ 47 benannt wird, also als „potentieller Verstand“, wodurch der menschliche Geist an die Ma‐ terie (ὕλη, hylē) gebunden ist. Avicenna verdeutlicht also, dass Kommuni‐ kation, die Sprachfähigkeit und der Geist nicht unabhängig von der Materie sind. Das Gehirn ist ein Teil des menschlichen Körpers, das spezifische vitale Potentiale hat. Es umfasst die Möglichkeiten des Denkens, der Sprache und der Rationalität, die von konkreten Individuen praktiziert werden. Avicenna verdeutlicht den produktiven, materiellen Charakter des Geistes. Mogobe B. Ramose 48 argumentiert, dass eine partielle und parikularisti‐ sche Interpretation von Aristoteles’ Annahme, dass „der Mensch ein ratio‐ nales Tier“ 49 ist, von der „Afrikaner/ innen, amerikanische Ureinwohner/ innen und Ozeanier/ innen ausgeschlossen sind” 50 , eine der ideologischen Grundlagen von „Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei“ 51 ist. Dieser Par‐ tikularismus hat Schwarzen die Humanität abgesprochen, indem angenom‐ men worden ist, dass „die Kolonisierten per Definition vernunftlos sind” 52 . 113 4.1. Kommunikation, Werktätigkeit und Arbeit 113 <?page no="114"?> 53 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 4. 54 Charles Taylor, The Language Animal. 55 Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband, S. 10. Farbigen Menschen ist nicht nur abgesprochen worden, dass sie rational sind, sondern auch der Status als kommunikative Wesen. Beruhend auf dem Argument, dass sie nicht rational sind, haben der Kolonialismus und der Rassismus angenommen, dass sie nichts Wichtiges oder nur gefährliches zu sagen haben, weswegen ihnen ein gleiches Recht, in der Öffentlichkeit zu sprechen und gehört zu werden, versagt worden ist. Ramose argumentiert, dass die einzig zulässige Interpretation von Aristoteles ist, dass „alle Men‐ schen rationale Tiere sind“ 53 . Daher muss man auch annehmen, dass alle Menschen kommunikative, sprachgebrauchende Wesen sind. Es reicht aber auch nicht aus, wie Charles Taylor 54 zu argumentieren, dass das menschliche Wesen das sprachbegabte Tier ist, da die Menschen auch zielorientierte, ak‐ tiv produzierende, arbeitende Wesen sind. Sie kommunizieren in der Pro‐ duktion und produzieren Kommunikation, was bedeutet, dass es eine menschliche Dialektik von Kommunikation und Sprache gibt. Produktion und Kommunikation sind also von beiden Seiten her betrach‐ tet zugleich identisch und nichtidentisch, was nur eine andere Formulierung dafür ist, dass eine Dialektik zwischen ihnen besteht. Wir werden in den nächsten zwei Abschnitt weiter auf diese Dialektik eingehen, indem die Produktion der Kommunikation (4.2) und die Kommunikation in der Pro‐ duktion (4.3) diskutiert werden. 4.2. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Die Produktion der Kommunikation Die produktive Rolle der Kommunikation in der gesellschaftlichen Dialektik von Subjekt und Objekt Laut Lukács konstituieren Werktätigkeit und Produktion das „Modell des gesellschaftlichen Seins“ 55 . Daher beruhen auch die Kommunikation und die Sprache auf diesem Modell, was seine Ausprägung darin findet, dass bei der menschlichen Anwendung der Sprache in der Kommunikation soziale Be‐ ziehungen produziert und reproduziert werden. Die Kommunikation ist eine 114 4. Kommunikation und Gesellschaft 114 <?page no="115"?> 56 Ebd., S. 172-173. 57 Ebd., S. 180. 58 Georg Lukács. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis. S. 346. 59 Ebd., S. 338. bestimmte Form der teleologischen Setzung, durch die teleologische Set‐ zungen organisiert werden 56 . Die Kommunikation ist nicht ein Komplex, der außerhalb der Wirtschaft, Politik und Kultur steht, sondern ist ein inhärenter Bestandteil aller Pro‐ duktionsprozesse in all diesen Teilsystemen der Gesellschaft. Kommunika‐ tion ist also eine meta-teleologische Setzung, die soziale Beziehungen orga‐ nisiert, produziert und reproduziert, wodurch Produktion in sozialen Beziehungen möglich wird. Die Sprache hat eine „gesellschaftliche Univer‐ salität und Ubiquität […], indem es keinen einzigen Komplex im gesell‐ schaftlichen Sein gibt, der ohne die Vermittlungsfunktion der Sprache exis‐ tieren und sich weiterbilden könnte“ 57 . Genauso wie die Kommunikation ist aber auch die Produktion in der Gesellschaft universell, da alle menschliche Aktivität Resultate produzieren. Durch die menschliche Kommunikation verbinden die Menschen Gesell‐ schaftsstrukturen mit ihren alltäglichen Erfahrungen und ihre alltäglichen Erfahrungen gehen in die Strukturen der Gesellschaft ein. Dass Strukturen menschliche Praktiken bedingen und ermöglichen, bedeutet, dass sie die Kommunikation ermöglichen, durch die sich die Individuen informieren, vernetzen und soziale Beziehungen produzieren und reproduzieren. Die Ge‐ sellschaft ist untrennbar mit der Dialektik von Strukturen und Praktiken verbunden. Und zu dieser Dialektik gehört auch, dass die Kommunikation soziale Beziehungen vermittelt. Die Kommunikation ist also die Vermitt‐ lungsebene in den Dialektiken von Subjekt und Objekt, Akteuren und Struk‐ turen, Individuum und Gruppe, Individuum/ Gruppen und Organisationen, Individuum/ Gruppen/ Organisationen und Institutionen, Individuum/ Grup‐ pen/ Organisationen/ Institutionen und Gesellschaft. Die Vermittlung des Handelns der Menschen bedeutet das „Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der Empirie“ 58 . Gesellschaftliches und individuelles Sein sind keine Dinge-an-sich, sondern existieren nur durch Vermittlung, also durch gesellschaftliche Verhältnisse, die „reale Bewegungstendenzen“ 59 sind. Diese Vermittlung kann nur über Kommunikation erzielt werden. In der Sprache Hegels bedeutet dies, dass das gesellschaftliche Sein-An-Sich nur als gesellschaftliches Sein-Für-Andere existiert. Der Mensch ist, wie 115 4.2. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Die Produktion der Kommunikation 115 <?page no="116"?> 60 MEW Band 3, S. 6 & 534. 61 Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband, S. 339. Marx sagt, „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ 60 . Gesell‐ schaftliche Verhältnisse wie das Kapital können meist weiter existieren, wenn ein einzelner Arbeiter oder Kapitalist stirbt oder ausscheidet, da sie ersetzt werden können. Gesellschaftliche Verhältnisse sind also allgemein. Soziale Beziehungen sind hingegen konkret und interpersonell. Es handelt sich dabei um die Beziehungen, die die Menschen in ihrem Alltagsleben eingehen. Peter arbeitet gemeinsam mit seinen Kollegen Maria und Josef und hat einen Konflikt über die Arbeitszeit, Überstunden und das Lohnni‐ veau mit Managerin Sandra. Wenn Sandra das Unternehmen verlässt, so ist dadurch der Arbeitskonflikt nicht notwendigerweise gelöst, da sie einfach durch einen gleichermaßen rücksichtlosen und brutalen Manager, der das Kapitalinteresse repräsentiert, ersetzt werden kann. Soziale Beziehungen finden alltäglich zu bestimmten Zeiten an bestimm‐ ten Orten statt. Kommunikation als der vermittelnde Prozess, der soziale Beziehungen (re)produziert, ist daher alltäglich. Peter und seine Kollegen kommunizieren, dass sie Überstunden hassen und denken, dass ihr Lohn viel zu gering ist, indem sie Sandra und der Gewerkschaft davon berichten, die dadurch angehalten sind, auf diese Beschwerde zu reagieren. Sandra tut dies im Sinn des Kapitals, wie die Gewerkschaft reagiert (beschwichtigend, ver‐ handelnd, eskalierend) ist hingegen nicht so eindeutig. Machtbeziehungen sind abstrakte gesellschaftliche Beziehungen, die in und durch Kommuni‐ kationsprozesse im Alltag instanziiert, gelebt, ausgeführt, reproduziert und potentiell hinterfragt, herausgefordert und radikal verändert werden. Kommunikation beruht darauf, dass der Mensch „ein antwortendes We‐ sen“ 61 ist. Eine Antwort setzt Fragen voraus. Der Mensch ist also auch ein fragendes Wesen. Er stellt Fragen über die Zusammenhänge in der Natur und in der Gesellschaft und über sich selbst. Wenn wir diese Idee also zu Ende denken, so bedeutet dies, dass Kommunikation eine Dialektik von Fra‐ gen und Antworten beinhaltet, sodass das Stellen von Fragen zur Suche nach Antworten führt, gesellschaftliche Veränderung neue Fragen aufwirft, auf die wiederum mit einer Suche nach Antworten reagiert wird etc. Die Suche nach Antworten auf durch die Gesellschaft aufgeworfene Fragen ist einer der allgemeinen Antriebsfaktoren der gesellschaftlichen Veränderung. Da Herrschaftsstrukturen jedoch widersprüchlich sind, sind in Klassengesell‐ 116 4. Kommunikation und Gesellschaft 116 <?page no="117"?> 62 Ebd., S. 155. schaften die Antworten und Lösungen auf Fragen umstritten und umkämpft und in gesellschaftliche Konflikte und Kämpfe eingebunden. Die Menschen (re)produzieren durch ihre alltägliche Kommunikation so‐ ziale Strukturen, durch die gesellschaftliche Strukturen (re)produziert wer‐ den, die weitere kommunikative Produktionsprozesse des Alltages bedin‐ gen, ermöglichen und einschränken. Die Gesellschaft ist die Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse. Jedes gesellschaftliche Verhältnis emergiert aus und enthält unzählige soziale Verhältnisse. Ein gesellschaftliches Ver‐ hältnis (wie das Klassenverhältnis zwischen Kapital und Arbeit) ist eine To‐ talität bestimmter sozialer Verhältnisse. So besteht das Klassenverhältnis aus unzähligen kapitalistischen Organisationen, in denen konkrete Arbeiter tagtäglich konkreten Kapitalisten gegenüberstehen. Gesellschaftliche Ver‐ hältnisse sind nicht isoliert, sondern Momente, die in andere Momente über‐ greifen, woraus Totalitäten emergieren. Eine Totalität ist nicht dasselbe wie Totalitarismus. Jede Gesellschaft ist eine Totalität von ineinander übergrei‐ fenden Momenten. Das gesellschaftlich Konkrete ist nichts Partikularisti‐ sches, Individualistisches, Atomisiertes, sondern ein Moment einer Totalität, das notwendigerweise in andere Momente übergreift. Die Gesellschaft ist ein „Komplex aus Komplexen“, die als Momente interagieren und die Ge‐ sellschaft reproduzieren 62 . Kommunikation produziert Bedeutungen. Durch die Kommunikation be‐ deuten die Menschen die Gesellschaft, die Natur, sich selbst und einander. Nicht jedes Verhalten ist kommunikativ. Nichtsoziales Verhalten ist nicht‐ kommunikativ. Singe ich allein in der Dusche oder denkt man alleine über die Welt nach, so reflektiert man und produziert Symbole für sich selbst, kommuniziert aber nicht mit anderen Menschen. Der soziale Kontext fehlt. Anders als der professionelle Sänger, der nicht nur für sich selbst, sondern für andere singt, ist das Singen in der Dusche oft keine soziale Tätigkeit. Anders liegt der Fall falls jemand zuhört („Hör‘ auf derartig schrecklichen Lärm während dem Duschen zu machen“) und sich über den Duschgesang beschwert oder diesen lobt („Du bist ein Gesangstalent und solltest dich bei einer Castingshow wie Das Supertalent, Starmania, Deutschland sucht den Superstar, Popstars oder Voice of Germany bewerben“). Die Grenze zwischen dem Individuellen und dem Sozialen ist zugleich die Grenze zwischen nichtkommunikativem Verhalten und kommunikativem Verhalten. Verhalten und Kommunikation sind nicht zwei getrennte, son‐ 117 4.2. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Die Produktion der Kommunikation 117 <?page no="118"?> dern verbundene Momente. Es gibt also eine Dialektik des Individuums und des Sozialen: Das Individuum ist das soziale und gesellschaftliche Wesen, das sich nur im Verhältnis zu anderen Menschen individualisieren kann. Das Soziale ist das produktive Verhältnis zwischen Individuen, durch das Struk‐ turen in sozialen Systemen und der Gesellschaft produziert und reproduziert werden. Ein Modell der Kommunikation als sozialem und gesellschaftlichem Produktionsprozess Akteur A Sozialität, soziale Beziehung, soziale Struktur, soziales System, gesellschaftliche Beziehung, Gesellschaft Akteur B Kommunikation Abbildung 4.3: Modell der Kommunikation als Produktionsprozess des Sozialen und der Gesellschaft Abbildung 4.3 zeigt ein Modell der Kommunikation als Produktionsprozess des Sozialen: : Die Menschen produzieren im Kommunikationsprozess das Soziale, das in immer neue Kommunikationsprozesse eingeht, die wiederum Sozialität hervorbringen. Dadurch konstituieren die Menschen die Sozialität als dynamischen Prozess und offene Totalität. Zur Produktion des Sozialen gehört die Produktion sozialer Beziehungen, sozialer Strukturen, sozialer Systeme (Gruppen, Organisationen, Institutionen, gesellschaftliche Teilsys‐ 118 4. Kommunikation und Gesellschaft 118 <?page no="119"?> 63 Übersetzung aus dem Englischen: Charles Taylor. 2016. The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic Capacity. Cambridge, MA: The Belknap Press. S. 261. teme), gesellschaftlicher Verhältnisse und der Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität sind dynamische Prozesse, die durch die Menschen in retro‐ aktiver dialektischer Weise produziert werden: Jeder Endpunkt der Produk‐ tion (von Kommunikation bzw. Sozialität) ist der Ausgangspunkt einer wei‐ teren Produktion. Die Gesellschaft ist eine Sphäre, die konstant neu aus der produktiven Dialektik von Strukturen und menschlichen Praktiken emer‐ giert, in der die Kommunikation der produktive Vermittlungsprozess ist, durch den die Menschen soziale Strukturen koproduzieren und reproduzie‐ ren, die Praktiken ermöglichen und einschränken, sodass sich diese Dialek‐ tik, Sozialität, Strukturen und die Gesellschaft dynamisch reproduzieren. Die Kommunikation ist der produktive Vermittlungsprozess, der die Dialektik von Strukturen und Praktiken als offene Totalität organisiert. Kommunikation ist nicht nur ein sozialer Prozess, der positive Resultate der Sozialität mit sich bringt. Kommunikation ist nicht automatisch mora‐ lisch gut. Eine Gruppe von Menschen, die plant, andere zu versklaven oder auszubeuten, muss kommunizieren, um ihre Pläne umzusetzen. „Sprache wird auch verwendet, um Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen, zu ändern und zu zerbrechen“ 63 . Menschen kommunizieren nicht nur, um soziale Beziehungen zu produzieren und zu reproduzieren, sondern auch, um soziale Beziehungen zu verändern, zu beenden oder zu zerstören, sodass die Kommunikation in diesen Beziehungen gemeinsam mit diesen Verhält‐ nissen aufhört. Ein Kündigungsschreiben und ein Scheidungsverfahren sind Beispiele dafür. In beiden Fällen werden eine soziale Beziehung und die darin regelmäßig stattfindenden Kommunikationsprozesse beendet. Krieg, Geno‐ zid und Massenvernichtung sind die dramatischsten Beispiele kommunika‐ tiven Handelns, das Menschen umbringt und dadurch auch ihre sozialen Beziehungen zerstört. Krieg, Genozid und Massenvernichtung kommuni‐ zieren Hass, der gegen bestimmte Gruppen gerichtet ist. Während positivistische Begriffe der Kommunikation nur betonen, wie Kommunikation zu moralisch positiven Verbindungen führt, konzentrieren sich fatalistische Konzeptionen nur darauf, trennende Wirkungen der Kom‐ munikation hervorzuheben. Kommunikation ist aber ein dialektischer so‐ zialer Prozess, der die Potentiale hat, verschiedene Resultate zu produzieren, die auf einem Kontinuum von einem zum anderen Ende antagonistischer Polaritäten wie Konstruktion/ Destruktion, Frieden/ Krieg, Liebe/ Hass, Ver‐ 119 4.2. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Die Produktion der Kommunikation 119 <?page no="120"?> bindung/ Trennung, Vereinigung/ Trennung, Integration/ Desintegration, Gemeinschaft/ Disparität, Freundschaft/ Feindschaft, Kooperation/ Wettbe‐ werb, Beginn/ Ende, Geburt/ Tod usw. situiert sind. Die beiden einander ent‐ gegengesetzten Seiten dieser Antagonismen sind nicht nur Ausdrücke von zwei verschiedenen Formen der Gesellschaftslogik - der instrumentellen Logik und der humanistischen Logik -, sondern können auch ineinander übergreifen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Unternehmen zusammen‐ arbeiten, um Wettbewerb einzuschränken und andere Unternehmen zu zer‐ stören oder wenn Soldaten zusammenarbeiten, um identifizierte Gegner zu töten. Die Kommunikation der Auflösung sozialer Beziehungen ist eine Kommunikation der Produktion der Destruktion sozialer Beziehungen. Es handelt sich also um Kommunikation, die die Auflösung von Kommunika‐ tion ankündigt oder organisiert. Genauso wie es allgemeine Meta-Kommu‐ nikation gibt (Kommunikation über Kommunikation, zum Beispiel die Kom‐ munikation von Kommunikationsregeln, also Verhaltensregeln einer Organisation), gibt es auch negative Meta-Kommunikation, Kommunika‐ tion über das Verschwinden der Kommunikation. Eine Implikation der vermittelnden und sozial produktiven Rolle, die Kommunikation in sozialen Beziehungen einnimmt, ist, dass Sprache und Sprachgebrauch kontextabhängig sind. Auf der Ebene der Semantik ist die Bedeutung eines einzelnen Wortes abhängig von allen anderen Wörtern im selben Satz. Und die Bedeutung eines Satzes ist abhängig von den anderen Sätzen im selben Absatz und im Gesamttext. Sprache und Sprachgebrauch sind auch von sozialen und gesellschaftlichen Kontexten abhängig: Der Zu‐ stand einer Gesellschaft und einer Organisation beeinflusst die Bedeutung, die bestimmte Wörter, Symbole und Phrasen annehmen. Kommunikation ist eine Praktik, die Teil der Reproduktion und des Wandels sozialer Systeme und der Gesellschaft ist. Genauso wie die Gesellschaft die Sprache und die Kommunikation formt, formen Sprachgebrauch und Kommunikation die Gesellschaft. Menschen, die kommunizieren, tun dies als Mitglieder sozialer Systeme und der Gesellschaft. Sie kommunizieren in verschiedenen sozialen und gesellschaftlichen Rollen und verschiedenen sozialen und gesellschaft‐ lichen Kontexten. Sprache und Kommunikation sind dadurch Praktiken, die von sozialen Kontexten abhängen. Die menschliche Kommunikation wird von sozialen Kontexten geprägt und (re)produziert soziale Kontexte. Eine Implikation des sozialen und kon‐ textuellen Charakters der Sprache ist, dass die Menschen keine individuellen Atome sind, sondern soziale Wesen, die in und durch soziale Beziehungen 120 4. Kommunikation und Gesellschaft 120 <?page no="121"?> 64 Raymond Williams, Culture and Materialism, S. 51. 65 Ebd., S. 53. existieren. Der größere Kontext der Kommunikation geht über die unmit‐ telbare räumliche und zeitliche Ko-Präsenz der Menschen in der Faceto-Face-Kommunikation hinaus. Im Raum kann Kommunikation den loka‐ len Raum transzendieren. Zeitlich kann die Kommunikation durch asynchrone Kommunikation die synchrone Zeit transzendieren, und durch die Aufzeichnung der Kommunikation kann die Geschichte transzendiert werden. Die Gesellschaft konstituiert die Sprachen, und Kommunikation ist ein konstituierender Faktor der Gesellschaft. Zur Konstitution der Kommu‐ nikation und zur Konstitution durch die Kommunikation gehören sowohl Reproduktion als auch Differenzierung. Nachdem wir die Produktion der Kommunikation diskutiert haben, wer‐ den wir im nächsten Abschnitt einen Blick auf die Kommunikation in der Produktion werfen. 4.3. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Kommunikation in der Produktion Kommunikationsstrukturen In der Wirtschaft werden physische und nichtphysische Produkte produ‐ ziert, die menschliche Bedürfnisse befriedigen. Die ökonomische Produktion hat immer eine symbolische und kommunikative Dimension. In der Pro‐ duktion beziehen sich die Menschen kommunikativ aufeinander, um ihre Tätigkeiten zu koordinieren. In der Klassengesellschaft gehören zu dieser Koordination die Anordnung, die Kontrolle, die Überwachung, mit denen das Management die Ausbeutung der Arbeiterschaft organisiert. Die pro‐ duzierten und reproduzierten Strukturen (Waren, Kapital, Unternehmen, Märkte etc.) symbolisieren die Wirtschaft in der Gesellschaft. Kommunikation in der Produktion nimmt auch die Form von Kommuni‐ kationstechnologien an. Die Kommunikationsmittel sind „Mittel der sozia‐ len Produktion“ 64 , die „in jeder Form der Produktion eine immanente Rolle“ 65 spielen. Sprache, Bücher, Zeitungen, der Telegraph, das Telefon und der vernetzte Computer sind Beispiele für Kommunikationsmittel, die In‐ formation über räumliche Distanzen kommunizieren. Aufnahmetechnolo‐ 121 4.3. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Kommunikation in der Produktion 121 <?page no="122"?> 66 Vgl. Radovan Richta, Hrsg. 1971. Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsver‐ hältnisse. Frankfurt am Main: Makol-Verlag. gien besitzen die Fähigkeit, Information über längere Zeiträume hinweg zu speichern, sodass Information nicht nur in Echtzeit kommuniziert wird, sondern auch zeitversetzt als Aufzeichnung kommuniziert werden kann. Kommunikationstechnologien spielen eine Rolle bei der Produktion, Kom‐ munikation, dem Konsum, der Speicherung und dem Wiederabruf von In‐ formation. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass nicht nur moderne Kom‐ munikationstechnologien symbolische, speichernde und kommunikative Wirkung haben, sondern dass jede soziale Struktur das Soziale symbolisiert, soziales Handeln dauerhaft macht und Information über Macht, Reichtum, Einfluss und Status kommuniziert. Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen, dass die Produktion, Distribution und der Konsum von Gütern räumliche und zeit‐ liche Grenzen überschreiten, dass diese Prozesse über Distanzen hinweg koordiniert und organisiert werden. Durch die Speicherung von Information wird auch die Überwachung dieser Prozesse und der sie ausführenden Men‐ schen möglich. Mit dem Aufstieg des Computers, der Datenbanken, des In‐ ternets und sozialer Medien wurden neuen Möglichkeiten für das Manage‐ ment geschaffen, die Arbeiterschaft zu überwachen und zu kontrollieren. Ein weiterer Aspekt der Kommunikation in der Produktion hat mit den Qualitäten der hergestellten Güter zu tun. Einerseits werden Kommunika‐ tionstechnologien von Ingenieuren und Monteuren produziert. Andererseits werden Kommunikationstechnologien auch als Produktionsmittel von Ar‐ beitern eingesetzt, um nichtphysische, informationelle und kommunikative Güter zu erzeugen, also Informationen, soziale Dienstleistungen und soziale Beziehungen. Durch wissenschaftlich-technologischen Fortschritt distan‐ ziert sich die Werktätigkeit zu einem bestimmten Grad von der Produktion von Naturobjekten 66 . Die Werktätigkeit ist nicht nur ein Prozess zwischen Mensch und Natur, sondern auch zwischen Menschen, sodass die Menschen mit der Hilfe von Technologien physische, soziale und informationelle Ge‐ brauchswerte aus natürlichen, industriellen und kulturellen Ressourcen/ Produktionsgegenständen erzeugen (vgl. Tabelle 3.2 in Kapitel 3, Abschnitt 3.2: Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte). Das Soziale ist in der Form von Beziehungen, Intentionen, Erfahrungen und Wissen im Laufe der Gesellschaftsgeschichte immer mehr Teil der Pro‐ 122 4. Kommunikation und Gesellschaft 122 <?page no="123"?> 67 Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband, S. 136. duktionsgegenstände, Produktionsinstrumente und der hergestellten Pro‐ dukte geworden, sodass sich die Produktion zu einem gewissen Grad von der Natur entfernt hat. Das bedeutet nun aber nicht, dass die Produktion von Information die Produktion und Extraktion von Naturgütern und die Herstellung von Industriegütern ersetzt, sondern komplementiert. Ein an‐ schauliches Beispiel dafür ist, dass Software nutzlos ist ohne Hardware und Energiezufuhr. Sie interagiert als Informationsprodukt also in ihrer Anwen‐ dung und Herstellung mit industriellen Produkten (Hardware) und Natur‐ produkten (Energie). Lukács unterscheidet zwischen zwei Arten teleologi‐ scher Setzungen, nämlich jenen, die die Natur und jenen die das Soziale verändern. Durch die Entwicklung von Arbeit und Kooperation ist die zweite Art der Tätigkeit, die im Kapitalismus auch als der Komplex der „geistigen Arbeit“ bezeichnet werden kann, immer wichtiger geworden 67 . Kommunikationswerktätigkeit Die Kommunikationswerktätigkeit (vereinfachend im Alltagssprachge‐ brauch oft als „Kommunikationsarbeit“, „Wissensarbeit“ oder „Informati‐ onsarbeit“ bezeichnet) ist eine bestimmte Form der Tätigkeit, die Informa‐ tion produziert. Jede Werktätigkeit beruht auf einer Dialektik von Körper und Geist und von physischer und geistiger Aktivität. Dennoch kann man entscheiden, ob Werktätigkeit und Arbeit einen stärker körperlichen oder geistigen Charakter haben. Der Bergarbeiter und der Philosoph sind zwei gute Beispiel für die Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Natürlich gibt es auch Zwischenstufen, wie zum Beispiel den Chir‐ urgen, dessen Operationstätigkeit zugleich körperlich und geistig heraus‐ fordernd ist. Körperliche Werktätigkeit schafft dinghafte Produkte, die man angreifen kann. Information ist hingegen nicht greifbar (aber nicht imma‐ teriell, sondern materiell). Sie speichert und kommuniziert Bedeutungen und repräsentiert Etwas, für das sie als Symbol steht. Kommunikationswerktä‐ tigkeit ist eine Form der sozialen Produktion, die Information oder Infor‐ mationstechnologien schafft. Information wird mit der Hilfe von Informa‐ tionstechnologien wie dem vernetzten Computer produziert, kommuniziert und interpretiert. Die Produktion von Informationstechnologien ist Teil der Kommunikationswerktätigkeit, obwohl es sich um physische Produkte han‐ delt, die man angreifen kann. Eine Untermenge der körperlichen Werktä‐ 123 4.3. Die Dialektik von Produktion und Kommunikation: Kommunikation in der Produktion 123 <?page no="124"?> 68 Alfred Sohn-Rethel. 1989. Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abend‐ ländischen Geschichte. Weinheim: VCH. Revidierte und ergänzte Neuauflage. tigkeit und der Kommunikationswerktätigkeit schafft Kommunikations‐ technologien. Diese Art der Arbeit ist eine Mischung aus körperlicher und kommunikationsorientierter Werktätigkeit (körperliche Kommunikations‐ werktätigkeit). Die informationelle Werktätigkeit ist eine geistige Form der Kommunikationswerktätigkeit, die soziale Bedeutungen, Symbole, Inhalte und Information produziert. Bei der informationellen Werktätigkeit und der körperlichen Kommunikationswerktätigkeit handelt es sich um zwei ver‐ bundene Aspekte der Kommunikationswerktätigkeit. Sie erzeugen Kom‐ munikationstechnologien bzw. Information. Das Stufenmodell in Abbildung 4.4 visualisiert die eben beschriebenen Zusammenhänge. Abbildung 4.4: Das Verhältnis von körperlicher Werktätigkeit und Kommunikations‐ werktätigkeit Alfred Sohn-Rethel 68 hat gezeigt, dass es mit der Entstehung der Klassen‐ gesellschaft zu einer Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Ar‐ beit gekommen ist. Im Laufe der Entwicklung der modernen Klassengesell‐ 124 4. Kommunikation und Gesellschaft 124 <?page no="125"?> schaften sind die Tätigkeiten der Manager, Bürokraten, Planer, Politiker und Berater, die die Akkumulation von Macht planen, durchführen und kon‐ trollieren, als Professionen entstanden. Die Klassenherrschaft bedeutet Un‐ gleichheit und Ungerechtigkeit. Wo es Ungerechtigkeit gibt, wird eine Form des Managements und der Kontrolle eingesetzt, um zu versuchen, möglichen Widerstand unwahrscheinlich zu machen. Geht man nun aber davon aus, dass die Kommunikationsarbeit nur die Organisation, das Management und die Ausführung von Herrschaft ist, so greift dies zu kurz. Durch den Aufstieg der Kulturindustrie haben Kultur und Kommunikation zu einem gewissen Grade die Warenform angenommen. Kommunikationswaren wie Musik, Filme, Software, Werbung, Konsultationstätigkeiten, Informationstechno‐ logien, Unterhaltung, usw. werden von Kultur-/ Kommunikationsarbeitern produziert. Die Kommunikationsarbeit ist also auch „proletarisiert“, sodass viele unmittelbare Produzenten von Kommunikationsgütern in Klassenver‐ hältnissen ausgebeutet werden. Die Produktion der Kommunikation und Kommunikation in der Produk‐ tion beruhen auf menschlicher Erkenntnis und kommunizieren Informatio‐ nen als bestimmte Inhalte. Der nächste Abschnitt befasst sich mit dem Zu‐ sammenhang von Kommunikation, Erkenntnis und Information. 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information Natur, Kultur und Kommunikation Menschen unterscheiden sich von Tieren dadurch, dass sie selbstbewusst, antizipativ, moralisch urteilend und gesellschaftlich produzieren. Wie ist je‐ doch der Übergang vom Tier zum Menschen erfolgt? In der marxistischen Theorie wird argumentiert, dass es in der Entwicklung des Menschen durch und in der Werktätigkeit eine Dialektik der Entwicklung des Körpers und des Gehirns gab und dass die Entwicklung der aufrechten Haltung und damit einhergehend der greifenden Hände eine zentrale Entwicklung darstellte, was in weiterer Folge zur Zweck-Mittel-Umkehr, in Folge derer Instrumente nicht mehr spontan benutzt wurden, sondern als Technologien bewusst und planmäßig eingesetzt wurden, und schließlich zur Entstehung der Gesell‐ 125 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 125 <?page no="126"?> 69 Friedrich Engels. 1876. Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. In MEW Band 20. Berlin: Dietz. S. 444-455. Klaus Holzkamp. 1985. Grundlegung der Psychologie. Frankfurt: Campus. S. 162-206. 70 Ebd., S. 224-231. Vgl. Christian Fuchs. 2015. Culture and Economy in the Age of Social Media. London: Routledge. Abschnitt 3.2 (S. 55-62). 71 Vgl. Georg Lukács. 1986. Georg Lukács Werke Band 14: Zur Ontologie des gesellschaftli‐ chen Seins. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 23-24, 45, 69. schaft führte 69 . Sprache und sprachliche Kommunikation sind in und mit der Werktätigkeit entstanden, da man zur Organisation der Jagd und der Pro‐ duktion im Allgemeinen komplexe Prozesse koordinieren musste. Als die Tätigkeit komplexer wurde, wurde Kooperation notwendig, wozu prakti‐ sches Wissen und dessen Kommunikation durch Sprache notwendig wur‐ den 70 . Durch die Arbeit wurde der Übergang vom Tier zum Menschen, der Gesellschaft und der Kultur konstituiert. Die Naturschranken der Produktion sind immer weiter zurückgewichen und die Werktätigkeit wurde immer gesellschaftlicher, obwohl der Mensch natürlich immer notwendigerweise in einem Stoffwechsel mit der Natur steht 71 . Das Zurückweichen der Naturschranken in der Gesellschaft hat sich dadurch ausgedrückt, dass es zuerst eine Verminderung der landwirtschaft‐ lichen Arbeit und eine Zunahme der Industriearbeit gab und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den entwickelten Ländern eine Abnahme der landwirtschaftlichen und industriellen Arbeit (also der manuellen Arbeit) und eine Zunahme der Dienstleistungen und informationsproduzierenden Arbeiten. Die Kultur ist das System der Gesellschaft, in dem Bedeutungen, Subjek‐ tivität und Identitäten produziert werden. Kommunikation ist hingegen der Prozess der Produktion und Reproduktion sozialer Beziehungen. Wo auch immer es Kultur als soziale Beziehung gibt, gibt es Kommunikation. Und immer dann wenn wir kommunizieren, produzieren wir Kultur. Da der Mensch in der Kommunikation Bedeutungen über die Welt ande‐ ren Menschen zur Interpretation anbietet, haben soziale Beziehungen immer eine kulturelle Dimension. Dies bedeutet aber nicht, dass die Kultur in der Gesellschaft dominant ist. In jeder sozialen Beziehung gibt es wirtschaftli‐ che, politische und kulturelle Dimensionen. Ist eine dieser Dimensionen do‐ minant, so gehört diese Beziehung in ein bestimmtes gesellschaftliches Sub‐ system. In der Kommunikation am Arbeitsplatz gibt es in der Produktion von Waren und Klassenverhältnissen eine Arbeitskultur und Arbeitsregeln als eine Form der Mikropolitik. Dennoch ist das Unternehmen nicht Teil des 126 4. Kommunikation und Gesellschaft 126 <?page no="127"?> 72 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams, Culture and Materialism, S. 243. 73 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1958. Culture & Society, 1780-1950. New York: Columbia University Press. S. xviii & 325. 74 Raymond Williams. 1961/ 2011. The Long Revolution. Cardigan: Parthian. S. 70. 75 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 62. 76 Raymond Williams. 1981. Culture. Glasgow: Fontana-Collins. S. 13. 77 Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 2. Halbband, S. 417. 78 Ebd., S. 535. politischen oder kulturellen Systems, sondern des Wirtschaftssystems. Alle Unternehmen haben wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen, aber die ökonomische Dimension ist dominant. Während Kommunikation ein sozialer Prozess der Bedeutungsproduktion ist, handelt es sich bei der Kultur um das System der Totalität der Bedeutungsproduktionen. Die Kultur beeinflusst, bedingt, ermöglicht und beschränkt unsere alltägliche Kommu‐ nikation, die das kulturelle System und seine Strukturen reproduziert. Raymond Williams betont die „Zentralität der Sprache und der Kommu‐ nikation als prägende soziale Kräfte“ 72 . Williams versteht Kultur als eine „gesamte Lebensweise“ („whole way of life“) 73 . Zur Kultur gehören gelebte Kultur, aufgezeichnete Kultur und die traditionelle Kultur 74 . Zu allen drei gehören „charakteristische Formen, durch die die Mitglieder der Gesell‐ schaft kommunizieren“ 75 . Kultur ist für Williams ein Bedeutungssystem, das aus Praktiken besteht, durch die „eine soziale Ordnung kommuniziert, re‐ produziert, erfahren und erkundet wird“ 76 . Dies bedeutet, dass dort, wo kommuniziert wird, Kultur besteht, und Kultur kommuniziert werden muss, um sich reproduzieren zu können. In der Wirtschaft, in der die Werktätigkeit Güter zur Bedürfnisbefriedi‐ gung produziert, sind die intendierten Ziele wesentlich deutlicher definiert als in der Kultur, wo es eine große Variationsbreite zu Fragen des Geschma‐ ckes und des Spielraumes „gewünschter (oder unerwünschter) Reaktionen auf gesellschaftliche Tatbestände, Situationen, Aufgaben etc.” 77 gibt. Lukács bemerkt dazu, dass in der Wirtschaft „auf je einer konkreten Produktions‐ stufe der Wert des Produkts der Arbeit sich scharf danach scheidet, ob es unmittelbar brauchbar oder unbrauchbar ist, während im künstlerischen Schaffen das Feld, die Möglichkeit von Wert oder Unwert außerordentlich weit gestreckt, im Voraus kaum bestimmbar ist“ 78 . Bei der teleologischen Setzung sind Ideen leitend und zielsetzend, sodass die Kultur der Werktätigkeit immanent ist. In der Klassengesellschaft wer‐ den Leitideen der Arbeit nicht von den unmittelbaren Produzenten, sondern 127 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 127 <?page no="128"?> der herrschenden Klasse definiert. Der Mensch definiert sich Ziele, die von gesellschaftlichen Bedürfnissen beeinflusst werden. Die Kultur operiert als Bedeutungsformation in der Wirtschaft genauso wie die Wirtschaft als Pro‐ duktion in der Kultur operiert. Die Kultur ist daher wirtschaftlich und nicht‐ wirtschaftlich, die Wirtschaft kulturell und nichtkulturell. Erkenntnis und Kommunikation Im Prozess des Denkens nimmt der Mensch die Welt wahr, erkennt und inter‐ pretiert sie. In unserem Alltag produzieren wir in der Auseinandersetzung mit der Welt neue Erkenntnisse. Diese sind selten fundamental neu, helfen uns aber in jedem Fall dabei, unser Verhalten in der Welt zu koordinieren. Abbildung 4.5 stellt die Produktion der Erkenntnis grafisch dar. Die Men‐ schen müssen nicht notwendigerweise mit anderen Menschen kommuni‐ zieren, um neue Erkenntnisse zu produzieren. Auch durch individuelle Be‐ obachtung werden Erfahrungen gemacht, die in Erkenntnissen resultieren. Erkenntnis ist immer eine Erkenntnis von Aspekten der Gesellschaft und der Natur. Diese Kontexte beeinflussen und bedingen, aber determinieren nicht die Form und den Inhalt der Erkenntnis. In Kommunikationsprozessen externalisieren die Menschen Teile ihres Erkenntnisstandes der Welt und teilen Erkenntnisse anderen mit. Durch die Kommunikation erlangen Men‐ schen Kenntnis voneinander. Soziale Gruppen, Organisationen, soziale Sys‐ teme und die Gesellschaft schaffen auf Basis individueller Erkenntnisse und durch Kommunikations- und Kooperationsprozesse kollektives Wissen. Wissenschaftsdisziplinen/ wissenschaftliche Felder wie die Philosophie oder die Kommunikationswissenschaft sind Beispiele für Systeme, die kollektives Wissen produzieren. Ein derartiges Feld wird nicht von einzelnen Individuen und ihren wissenschaftlichen Einzelerkenntnissen produziert, sondern durch die Produktion von dominanten Paradigmen, Gegenparadigmen und Diskursen, die im Rahmen von Foren der wissenschaftlichen Öffentlichkeit (Publikationen, Konferenzen, Diskussionen etc.) geführt werden. Während die bürgerliche Wissenschaft bestrebt ist, die Klassengesellschaft analytisch zu beschreiben, wodurch Herrschaftswissen entsteht, geht es der kritischen Wissenschaft um die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis, die zur Ver‐ änderung und Überwindung der Klassenherrschaft beitragen kann, also um die Produktion von kritischem Wissen. In herrschaftsförmigen Gesellschaften repräsentieren Wissensstrukturen Klassen- und Herrschaftsstrukturen und es gibt Kämpfe darum, wie solches 128 4. Kommunikation und Gesellschaft 128 <?page no="129"?> Wissen definiert wird und wie und was in der Öffentlichkeit durch die Wis‐ senschaft kommuniziert werden soll. Daraus folgt nicht, dass der Klassen‐ hintergrund einer Person sein Bewusstsein dominiert. Marx und Engels ka‐ men aus bürgerlichen Familien, ihr Denken und Handeln war aber dennoch nicht bürgerlich, sondern sozialistisch. Wissen ist in der Klassengesellschaft umkämpft, d. h. es finden Kämpfe darüber statt, wer Erkenntnis über die Welt wie formuliert. Individuelle Erkenntnis, Kommunikation und soziales Wissen haben bestimmte Inhalte, in denen sich die menschlichen Beziehun‐ gen in der Gesellschaft und Beziehungen zur Natur manifestieren. Diese Manifestierung ist keine Spiegelung, sondern ein komplexes, nichtlineares Verhältnis. So entsteht zum Beispiel ein Gemälde in einer bestimmten ge‐ sellschaftlichen Situation, die auf zumindest indirekte Weise die künstleri‐ sche Tätigkeit prägt. Form und Inhalt können realistische Darstellungen von Teilen der Natur und der Gesellschaft sein oder Abstraktionen. In beiden Fällen ist das Resultat durch möglicherweise ähnliche gesellschaftliche Um‐ stände geprägt, das Kunstwerk als Wissensstruktur kann jedoch sehr un‐ terschiedliche Ausprägungen annehmen. Abbildung 4.5: Die Produktion der Erkenntnis 129 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 129 <?page no="130"?> 79 Georg. Lukács. 1963. Georg Lukács Werke Band 12: Die Eigenart des Ästhetischen. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. 80 Ebd., S. 21. 81 Ebd., S. 73. 82 Ebd., S. 27. 83 Ebd., S. 58. 84 Ebd., S. 68. 85 Ebd., S. 108. Im Kommunikationsprozess beziehen die Menschen ihre Erkenntnisse auf‐ einander und vermitteln aneinander, wie sie Teile der Welt, also der Gesell‐ schaft und der Natur, interpretieren. Es gibt dabei eine Dialektik des Indi‐ viduums, der Gesellschaft und der Natur. Im Kommunikationsprozess verhalten sich die Menschen symbolisch zueinander, indem sie ihre Bedeu‐ tungen der externen Welt teilen. Georg Lukács 79 analysiert den menschlichen Erkenntnisprozess mit der Hilfe des Konzeptes der Signalsysteme. Basierend auf den Arbeiten von Iwan Pawlow unterscheidet er verschiedene Signalsysteme: Signalsystem 1 orga‐ nisiert die unbewusst ablaufenden Körperbewegungen und Reflexe als Re‐ aktionen auf natürliche Eingangssignale und Körpersignale, hat also mit dem vegetativen Nervensystem zu tun. Das Signalsystem 2 ist die Sprache, mit Hilfe derer der Mensch auf die gesellschaftliche Welt reagiert. Signal‐ system 2, in dem gesprochene und visuelle Wörter verwendet werden, ist für den Menschen spezifisch. Lukács kritisiert, dass Pawlow keinen inhä‐ renten Zusammenhang zwischen der Werktätigkeit und der Sprache sieht 80 . Das Signalsystem 1‘ ist wie Signalsystem 2 ein System, das mit Signalen von Signalen operiert 81 . Signalsystem 1‘ verallgemeinert Signale von Signalen und macht sie bewusst 82 . Es definiert typische Aspekte von Beziehungen 83 . Lukács diskutiert Beispiele für Phänomene, die vom Signalsystem 1‘ produ‐ ziert werden: Fantasien, Gedanken, Kreativität, Erkenntnis der menschli‐ chen Natur, Liebe, Verständnis, spontane Entscheidungsfindung, Taktiken, die ästhetische Rezeption von Kunst und Kultur. Dadurch, dass Lukács sagt, dass das „Signalsystem 1’ vor allem der Erkenntnis des Menschen dient” 84 und das psychologische Leben bestimmt 85 , wird klar, dass mit dem Signal‐ system 1‘ das System des menschlichen Denkens und die Psyche, also die Prozesse des menschlichen Gehirns, gemeint sind. Durch Signalsystem 1‘ werden beruhend auf bestehenden Grundlagen und einer Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität neue Erkenntnisse 130 4. Kommunikation und Gesellschaft 130 <?page no="131"?> 86 Georg. Lukács. 1963. Georg Lukács Werke Band 12: Die Eigenart des Ästhetischen. 2. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 33-35. 87 Ebd., S. 64. 88 Ebd., S. 91. produziert 86 . „So sehen wir überall auf relativ entwickelter Gesellschafts‐ stufe, eine komplizierte, widerspruchsvolle Zusammenarbeit der Signalsys‐ teme 1’ und 2“ 87 . Signalsystem 1‘ transformiert die Signale (über Formen und Inhalte), die über Signalsystem 2 erlangt werden 88 . Es besteht eine Dialektik der menschlichen Kognition und Kommunikation: Die Menschen verhalten sich in und zu der natürlichen und gesellschaftlichen Welt, nehmen diese wahr und produzieren dabei Erkenntnisse. Die im Zuge des menschlichen Verhaltens wahrgenommenen Signale werden im menschlichen Gehirn transformiert und verarbeitet. Das menschliche Gehirn koordiniert also die Interaktion des Menschen in der gesellschaftlichen, sozialen und natürlichen Umwelt. Im Kommunikationsprozess externalisieren die Menschen Teile ihres Erkenntnisstandes über die Welt und internalisieren Erkenntnisse an‐ derer. Es findet also eine Dialektik von Externalisierung und Internalisierung der Erkenntnis im Kommunikationsprozess statt. Mit Hilfe des Signalsys‐ tems 1‘ produzieren die Menschen im Kognitionsprozess Erkenntnisse über die Welt. Im Kommunikationsprozess, der mit Hilfe des Signalsystems 2 (Sprache) organisiert wird, setzt sich der Mensch mit anderen Menschen auseinander, wodurch soziale Beziehungen und die Sozialität und damit die Gesellschaft produziert und reproduziert werden. Dadurch wird auch der Mensch als gesellschaftliches und soziales Wesen reproduziert. Die Signal‐ systeme des Menschen erlauben es ihm, instinktiv zu agieren, über die Welt zu reflektieren und zu kommunizieren. In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen agiert der Mensch nicht nur als gesellschaftliches, sondern zugleich auch als natürliches Wesen (Atmung, Herzschlag, körperliche Bewegungen etc.). Die sozialen und na‐ türlichen Aktivitäten des Menschen interagieren miteinander in der Kom‐ munikation. Dies wird daran deutlich, dass menschliche Erkenntnisse über die Sprache aus dem Gehirn mit Hilfe körperlicher Bewegungen (Einat‐ mung, Ausatmung, Schwingung der Stimmlippen im Kehlkopf, Verstärkung der in den Stimmlippen produzierten Töne durch Mund, Nase und Rachen; Bewegung des Mundes, der Lippen und der Zunge, nonverbale Kommuni‐ kation durch andere Körperteile usw.) externalisiert werden. 131 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 131 <?page no="132"?> Typen der Erkenntnis und des Wissens Die Gesellschaft ist in der Form miteinander interagierender Produktions‐ zusammenhänge organisiert, nämlich der Wirtschaft, der Politik und der Kultur. In jedem dieser Systeme wird eine spezifische Struktur produziert: Bedürfnisse befriedigende Gebrauchswerte in der Wirtschaft, kollektive Entscheidungen und Regeln in der Politik, Bedeutungen und Identitäten in der Kultur. Zur Produktion dieser Strukturen bedarf es auch spezifischer Erkenntnisse und Wissensformen (siehe Tabelle 4.2). Gesellschaftsstruktur Individuelle Kenntnisse Soziales Wissen Wirtschaft Gebrauchswerte, Pro‐ duktionsmittel Fertigkeiten Wissensprodukte Politik Regeln, kollektive Ent‐ scheidungen Politische Er‐ kenntnisse und Anschauungen Kollektive politische Weltanschauungen Kultur Kollektive Identitäten und Bedeutungen Identität, Bedeu‐ tungen Kollektive Identitä‐ ten und Bedeutungen Tabelle 4.2: Typen der individuellen Kenntnisse und des sozialen Wissens Wissensstrukturen stehen in einer Dialektik mit Gesellschaftsstrukturen. In der Produktion und Reproduktion von Gesellschaftsstrukturen wenden die Menschen ihre individuellen Kenntnisse und physischen Fertigkeiten an und externalisieren diese in der Produktion von Strukturen. Gemeinsam mit den Gesellschaftsstrukturen entstehen dabei auch kollektive Wissensstruk‐ turen. In der wirtschaftlichen Produktion von Gebrauchswerten werden in‐ dividuelle Fertigkeiten eingesetzt. Bei den Gebrauchswerten kann es sich um Wissensprodukte handeln, wie z. B. Musik, Software, Datenbanken, Un‐ terrichtsstunden, usw.. In aller sozialen Produktion sind mehrere Menschen involviert. Insofern diese direkt zusammenarbeiten wird auch ein gemein‐ sames Verständnis des Produktionsprozesses als soziale Wissensstruktur produziert. Dieses Verständnis ist in Klassengesellschaften oft umstritten, also ein Widerspruch. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Management und Arbeiter verschiedene Ursachen von Unternehmensproblemen sehen (Ma‐ nagement: „unproduktive Arbeiter“; Arbeiterschaft: „unfähiges Manage‐ ment, das Fehlentscheidungen trifft“). In der Politik handeln die Menschen 132 4. Kommunikation und Gesellschaft 132 <?page no="133"?> 89 Zur Einführung der Unterscheidung zwischen Kognition, Kommunikation und Koope‐ ration siehe: Wolfgang Hofkirchner. 2002. Projekt Eine Welt: Kognition - Kommunikation - Kooperation. Versuch über die Selbstorganisation der Informationsgesellschaft. Münster: LIT. auf Basis ihres politischen Verständnisses der Welt und ihrer politischen Weltanschauung. Das Resultat sind politische Regeln und kollektive Ent‐ scheidungen als Gesellschaftsstrukturen und kollektive politische Weltan‐ schauungen, die in Klassengesellschaften widersprüchlich und konflikthaft sind. In der Kultur werden auf der Basis individueller Identitäten und Be‐ deutungen der Welt kollektive Identitäten und Bedeutungen produziert. Es besteht dabei kein Unterschied zwischen Gesellschaftsstrukturen und Wis‐ sensstrukturen. Die Dialektik der individuellen Erkenntnis und des sozialen Wissens ist Teil der Dialektik von Strukturen und Praktiken, die allen Ge‐ sellschaften und allen sozialen Systemen inhärent ist. In welcher Beziehung steht Tabelle 4.2 zu Abbildung 4.5? Die individuel‐ len Erkenntnisse sind Teil der Subjektivität konkreter Menschen, während die Gesellschaftsstrukturen und die sozialen Wissensstrukturen in der Ge‐ sellschaft situiert sind. Die Menschen selbst existieren in und durch die Ge‐ sellschaft und ihre Produktions- und Kommunikationsprozesse finden auch innerhalb der Gesellschaft statt. Information und Kommunikation In der Semiotik wird der Informationsprozess als Prozess O - Z - B erachtet, in dem ein Objekte O durch ein Zeichen Z repräsentiert wird, dem bestimmte Bedeutungen B gegeben werden. Der gesamte Prozess O - Z - B der Infor‐ mationsgenerierung wird auch als Semiose bezeichnet. Die Semiose ist ein dynamischer Prozess: Bestehende Bedeutungen sind der Ausgangspunkt für weiteres Denken und Kommunikationsprozesse, durch die weitere Bedeu‐ tungen produziert und bestehende Bedeutungen reproduziert und differen‐ ziert werden. Alte Bedeutungen werden aufgehoben, woraus neue entste‐ hen. Die Semiose ist also ein dialektischer Prozess. Abbildung 4.6 veranschaulicht den semiotischen Prozess als Dialektik von Kognition, Kommu‐ nikation und Kooperation 89 . 133 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 133 <?page no="134"?> O Z B O Z B K Z Information (1): Kognition Information (1): Kognition Information (2): Kommunikation Information (3): Kooperation B Abbildung 4.6: Modell der Semiose/ Informationsproduktion Die Semiose besteht aus drei verkoppelten semiotischen Prozessen: 1. Die individuelle Semiose ist ein Denkprozess, also die Kognition, in der ein Individuum die Welt interpretiert und dabei mentale Repräsenta‐ tionen der Welt vornimmt. 2. Die individuelle Semiose steht in einer Dialektik mit der sozialen Se‐ miose, in der die Menschen mit der Hilfe der Sprache Bedeutungen der Welt mitteilen. Die Bedeutungswelt von mindestens zwei Perso‐ nen verändert sich im Kommunikationsprozess. Kommunizieren X und Y miteinander, so wird ein Teil der Bedeutungswelt B x der Person X zum Objekt O Y der von Person Y durchgeführten Semiose. Umge‐ kehrt werden Teile der Bedeutungswelt der Person Y B Y zum Objekt O X der von Person X durchgeführten Semiose. Soziale Semiose be‐ deutet also, dass sich die Bedeutungswelt von mindestens zwei Per‐ sonen durch einen Kommunikationsprozess, der zwischen ihnen stattfindet, verändert. 134 4. Kommunikation und Gesellschaft 134 <?page no="135"?> 3. Viele Kommunikationsprozesse sind flüchtig und führen zu keinen substanziellen strukturellen Gesellschaftsveränderungen. Manche so‐ zialen Beziehungen und Kommunikationen sind hingegen gesell‐ schaftstransformierend. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein neues soziales System geschaffen wird. In so einem Fall sind die in‐ dividuellen Semiosen und soziale Semiose die Basis für gesellschaftli‐ che Semiose: Die Kommunikation wird als Kooperation organisiert, bei der zwei oder mehrere Menschen zusammenwirken, sodass neue Ge‐ sellschaftsstrukturen entstehen oder bestehende verändert werden. In der Kooperation ist Kommunikation der Ausgangspunkt, der bedeutet wird und durch den gemeinsam produzierte Wissensstrukturen ent‐ stehen. Die Produktion der Information steht nicht außerhalb der Materie. Infor‐ mation ist auch keine zweite Substanz, die unabhängig von der Materie ist oder in irgendeiner Beziehung zu dieser steht. Information als Semiose von Semiosen und Dialektik von Dialektiken ist ein materieller Prozess, durch den Systeme in bestimmte Formen gebracht werden (Informierung). Soziale Beziehungen, soziale Systeme und die Gesellschaft sind Produktionszusam‐ menhänge zwischen Menschen. Die Information ist im Kontext des Men‐ schen ein sozialer und gesellschaftlicher Produktionsprozess, also eine spe‐ zifische Organisationsform der Materie. Sprache ist das Ergebnis der kommunikativen Tätigkeit der Menschen über viele Generationen hinweg. Wie jeder menschliche Komplex ist auch die Information am Modell der Produktion und Werktätigkeit orientiert (siehe Tabelle 4.3). Das Gehirn wirkt und werkt beim Denken. Der Körper und der Geist werken und wirken beim Sprechen zusammen. Menschen werken und wirken gemeinsam in der Kooperation. Wie die gesellschaftli‐ che Produktion im Allgemeinen ist auch die Produktion der Information ein Werken mit Wirkung und die Wirkung des Werkens. 135 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 135 <?page no="136"?> Subjekt Gegenstand Mittel Produkte Kognition = Gehirntätigkeit Mensch Erfahrungen Gehirn Gedanken, Ideen Kommunikation = eine Tätigkeit menschlicher Gruppen Gruppen von Men‐ schen Gedanken Gehirn, Mund, Ohren, Körper Bedeutung Kooperation = die synergetische Tätigkeit des Zu‐ sammenwirkens in menschlichen Gruppen Gruppen von Men‐ schen Bedeutungen Gehirn, Mund, Ohren, Körper Wissensprodukte, die geteilte und koproduzierte Be‐ deutungen reprä‐ sentieren Tabelle 4.3: Subjekt, Objekt und Produkt (= das Subjekt-Objekt) der Kognition, Kom‐ munikation und Kooperation Abbildung 4.7 veranschaulicht, dass die Prozesse der Kognition, der Kom‐ munikation und der Kooperation dialektisch vermittelt sind und gemeinsam den Prozess der Informationsproduktion als Form der Werktätigkeit dar‐ stellen. Jeder der drei Prozesse (Kognition, Kommunikation, Kooperation) ist eine Form der Werktätigkeit: In der Kognition ist das Gehirn das tätige Subjekt, in der Kommunikation und der Kooperation sind Gruppen von Menschen die tätigen Subjekte. Die Kommunikation beruht auf der Kogni‐ tion und benutzt deren Produkte, die Ideen und Erkenntnisse, als Gegen‐ stand der Produktion. Die Kooperation basiert auf der Kommunikation und benutzt die Produkte der Kommunikation, Bedeutungen, als Gegenstand der Kooperation. Information ist ein dynamischer Tätigkeitsprozess, in dem Ideen, Bedeutungen und Wissensprodukte produziert werden. In jedem dialektischen Produktionsprozess gibt es ein Subjekt, das auf Objekte einwirkt, um neue Produkte zu erzeugen. Das Produkt emergiert aus der Tätigkeit des Subjekts auf Basis von Objekten, nämlich dem Pro‐ duktionsgegenstand und den Produktionsinstrumenten als Produktionsmit‐ teln. Neue Produkte werden jedoch wiederum Grundlage weiterer Tätigkeit, also Teil des Objekts in einem neuen Produktionsprozess. Die Produktion ist dadurch ein dynamischer, selbstreferentieller Prozess (siehe Abbildung 4.3). 136 4. Kommunikation und Gesellschaft 136 <?page no="137"?> 90 Erich Fromm. 1965. Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die mar‐ xistische Theorie. In Erich Fromm Gesamtausgabe Band V: Politik und sozialistische Ge‐ sellschaftskritik, S. 399-411. Stuttgart: dtv. 91 Ebd., S. 401. Mensch Erfahrungen - Gehirn Gedanken, Ideen Gruppe Ideen, Gedanken - Gehirn, Mund, Ohren, Körper Bedeutung Gruppe Bedeutung - Gehirn, Mund, Ohren, Körper Wissensprodukte mit geteilter und koproduzierter Bedeutung KOGNITION KOMMUNIKATION KOOPERATION Abbildung 4.7: Der Informationsprozess als Prozess der Werktätigkeit Gesellschaft und menschliche Psyche Erich Fromm 90 argumentiert, dass der Gesellschafts-Charakter zwischen der Wirtschaft und der Kultur vermittelt. Der Gesellschafts-Charakter ist „die Matrix der einer Gruppe gemeinsamen Charakterstruktur“ 91 . Der Gesell‐ schafts-Charakter ist die Totalität der gemeinsamen psychologischen Charakteristika einer gesellschaftlichen Gruppe. Er wird durch die gesell‐ schaftlichen Institutionen geprägt, wozu die politische Ökonomie, die öko‐ nomische Struktur (in einer Klassengesellschaft also die Klassenstruktur), das Bildungssystem, Religion, Literatur, Gebräuche, die Arten, wie Eltern ihre Kinder erziehen etc. gehören. Die Wirtschaft ist der Bereich, in dem die Menschen Gebrauchsgüter pro‐ duzieren, die menschliche Bedürfnisse befriedigen. Die Kultur ist der Be‐ reich, in dem die Menschen die Welt bedeuten. Dass es eine Dialektik von 137 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 137 <?page no="138"?> Wirtschaft und Gesellschaft gibt bedeutet nicht einfach, dass diese Sphären interagieren, sondern dass sie zugleich identisch und nichtidentisch sind. Abbildung 4.8 zeigt ein Modell davon, wie die Wirtschaft und die Kultur in Beziehung stehen und die Rolle des Gesellschafts-Charakters. KULTURELLE PRAKTIKEN KULTURÖKONOMIE → KULTURPRODUKTE K K K K K K K K = Kommunikation KULTUR- PRODUKTE K K K K K KOLLEKTIVE BEDEUTUNGEN GESELLSCHAFTS- CHARAKTER WIRTSCHAFT KULTUR Abbildung 4.8: Das Verhältnis der Wirtschaft und der Kultur und die Rolle des Ge‐ sellschafts-Charakters und der Kommunikation in der Gesellschaft Abbildung 4.8 veranschaulicht das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur und die Rolle des Gesellschafts-Charakters und der Kommunikation in der Ge‐ sellschaft. Die Kultur operiert innerhalb und außerhalb der Wirtschaft und die Kultur innerhalb und außerhalb der Wirtschaft. Die Kulturökonomie ist die Überschneidung dieser beiden Sphären. In ihr erzeugen geistige Produ‐ zenten Kulturprodukte. Die Kulturprodukte (wozu zum Beispiel Zeitungen, Filme, Computerspiele usw. gehören) gehen in nichtökonomische gesell‐ schaftliche Praktiken ein, wozu auch die kulturellen Praktiken gehören. In kulturellen Praktiken schaffen die Menschen gemeinsam kollektive Bedeu‐ tungen der Welt. Die Kommunikation ist der Prozess, durch den soziale Be‐ ziehungen zwischen Menschen organisiert werden. Die Kommunikation ist daher kein Austausch von Ideen im Überbau der Gesellschaft. Vielmehr fin‐ 138 4. Kommunikation und Gesellschaft 138 <?page no="139"?> det sie in allen Bereichen der Gesellschaft statt, da alle menschliche Aktivität sozial und relational ist. Kulturprodukte sind eine Vergegenständlichung von Ideen. Kollektive Bedeutungen sind das Ergebnis der Kommunikation von Ideen über kulturelle Produkte im Kultursystem. Ideen gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft, also auch in der Kulturökonomie und im Kul‐ tursystem. Kollektive Bedeutungen (wie eine Ideologie, eine Weltanschau‐ ung, eine Philosophie, eine Religion usw.) beeinflussen andere Bereiche der Gesellschaft, also auch die Wirtschaft und die Kulturökonomie. In jedem Sozialsystem agieren bestimmte Gesellschaftsgruppen, die bestimmte ge‐ sellschaftliche Charakteristika haben. So bilden zum Beispiel die Arbeiter eine gesellschaftliche Gruppe der kapitalistischen Wirtschaft. Sie haben die gemeinsame gesellschaftliche Eigenschaft, dass sie ihre Arbeitskraft ver‐ kaufen müssen, um zu überleben. Bei dem, was Fromm als Gesellschafts- Charakter bezeichnet, handelt sich um eine bestimmte Gruppe und einen psychologischen Typus, deren Mitglieder bestimmte psychologische Dispo‐ sitionen haben. Ein Gesellschafts-Charakter operiert zugleich in mehreren sozialen Systemen. Für Fromm sind der autoritäre und der humanistische Charakter die beiden Hauptformen des Gesellschafts-Charakters. Be‐ stimmte gesellschaftliche Gruppen haben per Definition einen bestimmten Gesellschafts-Charakter. Gesellschaftliche Gruppen und der Gesellschafts- Charakter sind aber nicht dasselbe. So gibt es zum Beispiel autoritäre und nichtautoritäre Arbeiter. Herrschaftsförmige Gruppen sind aber zu einem bestimmten Grad immer autoritär. So werden zum Beispiel nur Individuen, die eine gewisse Lust daran haben, andere zu kontrollieren und auszubeuten, Manager oder Kapitalisten in einem profitorientierten Unternehmen. Der Gesellschafts-Charakter vermittelt zwischen den Ebenen der indivi‐ duellen Psyche und der Gesellschaft. Die Menschen bilden durch ihre Kom‐ munikationsprozesse in verschiedenen sozialen Systemen einen bestimmten Gesellschaft-Charakter aus, also eine für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe charakteristische Persönlichkeitsstruktur. Durch Kommunikation werden der Gesellschafts-Charakter und gesellschaftliche Strukturen pro‐ duziert und reproduziert. Vermittelt durch die Kommunikation in sozialen Beziehungen bedingen, also ermöglichen und beschränken, der Gesell‐ schafts-Charakter und gesellschaftliche Strukturen das individuelle Denken und Handeln. Für Erich Fromm ist der Humanismus dem Autoritarismus entgegenge‐ setzt. Daher unterscheidet er zwischen dem autoritären und dem humanis‐ tischen Charakter, der autoritären und der humanistischen Ethik sowie dem 139 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 139 <?page no="140"?> 92 Erich Fromm. 1985. Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Cha‐ rakterologie. München: dtv. 93 Ebd., S. 17. autoritären und dem humanistischen Gewissen 92 . Im Autoritarismus „be‐ stimmte eine Autorität, was für den Menschen gut ist“, während im Huma‐ nismus das menschliche Wesen „Ursache, Gestalter und Gegenstand der Norm“ ist 93 . Der Mensch ist ein individuelles Wesen, zugleich aber auch ein Gattungswesen. Dass der Mensch eine Gattung ist, bedeutet, dass er ein soziales und gesellschaftliches Wesen ist. Das Individuum kann nur dann wahrhaft leben und seine Möglichkeiten vollständig realisieren, wenn alle Menschen wahrhaft und vollständig leben und ihre Möglichkeiten realisie‐ ren können. Der Humanismus impliziert daher nicht nur das gute Leben des Individuums, sondern auch das gute Leben aller. Autoritarismus bedeutet, dass ein bestimmtes Individuum oder eine bestimmte Klasse oder Gruppe ihren Willen in der Gesellschaft gegen andere mit Zwang durchsetzen kann und will. Dadurch wird der individuelle, partikularistische Wille zum Ge‐ samtwillen der Gesellschaft. Umgekehrt führt ein Zustand, in dem es nur bezugslose individuelle Willen gibt, zu einer Ansammlung von Egoisten, in der es kein Teilen und keine Gemeinsamkeiten gibt. Ein derartiger Zustand hat einen Beziehungsmangel. Sowohl dem Autoritarismus als auch dem In‐ dividualismus ermangelt es an der Dialektik der Gesellschaft und des Indi‐ viduums, die das Herz des Humanismus bildet. Tabelle 4.4 zeigt einen Überblick verschiedener Gesellschafts-Charaktere, der auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem autoritären und dem humanistischen Charakter beruht. Autoritärer Charakter Humanistischer Charakter Wirtschaft Der Ausbeuter Der Sozialist Politik Der Diktator Der Demokrat Kultur Der Ideologe/ Demagoge Der Freund Tabelle 4.4: Der autoritäre und der humanistische Charakter in der Wirtschaft, der Politik und der Kultur Die in Tabelle 4.4 präsentierte Typologie beruht auf einer Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen, der politischen und der kulturellen Dimension 140 4. Kommunikation und Gesellschaft 140 <?page no="141"?> 94 Ebd., S. 92. 95 Ebd., S. 70. 96 Ebd., S. 58. 97 Ebd., S. 58. der Gesellschaft. Alle drei Sphären sind Bereiche der Produktion und der te‐ leologischen Setzung: Die wirtschaftliche Produktion erzeugt Gebrauchs‐ werte, die menschliche Bedürfnisse befriedigen. Die politische Produktion führt zu kollektiven Entscheidungen, die gesellschaftsweit gültig sind. Und die kulturelle Produktion führt zu kollektiven Bedeutungen der Welt. Während der Ausbeuter andere benutzt, instrumentalisiert und ausbeutet, befördert der Sozialist das Allgemeinwohl, durch das alle Vorteile haben, und Zustände, die von allen gemeinsam kontrolliert werden. Während der Diktator seinen politischen Willen anderen mit Gewalt aufzwingt, kommt der Demokrat mit anderen zusammen, um kollektive politische Entschei‐ dungen gemeinsam zu treffen. Während der Ideologe versucht, andere zu manipulieren, hilft der Freund anderen. Im Sozialisierungsprozess ist der liebende, vernunftorientierte Gesellschafts- Charakter dem masochistischen, dem sadistischen, dem destruktiven und dem indifferenten Gesellschafts- Charakter entgegengesetzt. Im Bereich der wirt‐ schaftlichen Beziehungen ist der werktätige Gesellschafts-Charakter, der etwas erschafft, dem rezeptiven, dem ausbeuterischen, dem hortenden und dem markt- und Marketing-orientierten Gesellschafts-Charakter entgegengesetzt 94 . Als Verallgemeinerung von Fromms Analyse können wir festhalten, dass der (idealtypische) autoritäre Charakter zerstörerisch, ausbeuterisch und wettbe‐ werbsorientiert in ökonomischen Beziehungen ist sowie aggressiv und hasser‐ füllt in sozialen Beziehungen im Allgemeinen (siehe Tabelle 4.5). Während eine produktive Orientierung die Fähigkeit ist, die Möglichkeiten des Menschen, der Menschheit und der Gesellschaft zu realisieren, sind der Autoritarismus und die Weise des Habens unproduktiv, da sie auf dem Prinzip „nimm [von anderen], was du brauchst“ beruht 95 . Die Ausbeutung ist daher der grundlegende Aspekt der Weise des Habens und des Autoritarismus. Jene, die die Ausbeutungslogik, vertreten, erwarten nicht, „etwas geschenkt zu bekommen“, sondern nehmen „es sich mit List oder Gewalt“ 96 . Die Logik der Ausbeutung ist eine Weise der ökonomischen Aneignung, die alle Bereiche des Seins durchdringen kann, wozu etwa die wirtschaftliche Produktion, die Liebe, die Gefühlswelt und die Welt des Wissens und der Erkenntnis gehören. Ausbeuter „stehlen Ideen, schaffen aber keine“ 97 . 141 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 141 <?page no="142"?> Autoritärer Gesell‐ schafts-Charakter Humanistischer Gesell‐ schafts-Charakter Wirtschaftliche Bezie‐ hungen Zerstörerisch, ausbeute‐ risch, konkurrenzorien‐ tiert Werktätig, schaffend Gesellschaftliche und soziale Beziehungen im Allgemeinen Aggressiv, hasserfüllt Liebevoll, kooperativ, hilfs‐ bereit Tabelle 4.5: Eine Variation von Fromms allgemeiner Typologie der Gesellschafts-Cha‐ raktere Autoritäre und humanistische Kommunikation Im Bereich der Information kann man zwischen autoritärem und humanis‐ tischem Wissen sowie zwischen autoritärer und humanistischer Kommuni‐ kation unterscheiden (siehe Tabelle 4.6). Autoritär Humanistisch Wirtschaftssystem Wissen und Kommunikation als Waren, Ausbeutung der Wissensarbeit, Kommunikati‐ onsmittel als Privateigentum Wissen und Kommunika‐ tion als Gemeingüter, ge‐ meinsames Eigentum und gemeinsame Produktion in selbstverwalteten wissens‐ erzeugenden Organisatio‐ nen Politisches System Diktatorische Kontrolle des Wissens und der Kommunika‐ tionsprozesse Partizipatorisches Wissen und demokratische Kom‐ munikation Kultursystem Ideologisches Wissen, ideologi‐ sche Kommunikation Sozialistisch-humanisti‐ sches Wissen und sozialis‐ tisch-humanistische Kom‐ munikation Tabelle 4.6: Autoritäre und humanistische Formen der Information Bei der autoritären wirtschaftlichen Organisation der Information sind Kom‐ munikation und Wissensproduktion in Klassenverhältnisse eingebunden. Als Konsequenz davon kontrolliert eine herrschende, besitzende Klasse die Kommunikationsmittel als Privateigentum und beutet Wissens- und Kom‐ 142 4. Kommunikation und Gesellschaft 142 <?page no="143"?> 98 Ebd., S. 127. munikationsarbeiter aus, die Wissen produzieren und öffentliche Formen der Kommunikation organisieren. Im Kapitalismus ist diese Organisation des Wissens ein System, in dem Kommunikation und Wissen Waren sind, deren Verkauf Profit generiert und die in ein System der Kapitalakkumula‐ tion eingebettet sind. Bei der humanistischen wirtschaftlichen Organisation der Information stehen die gesellschaftlichen Kommunikationsmittel im kol‐ lektiven Besitz und sind ein Allgemeingut. Wissensprodukte sind Geschenke und Allgemeingüter, also keine Waren. Die Unternehmen, in denen Wissen produziert wird, sind selbstverwaltete Kooperativen. Eine autoritäre politische Organisation des Wissens und der Kommunika‐ tion bedeutet, dass ein Individuum oder eine Gruppe als eine Autorität agiert, die mit der Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols die öffentlichen Kommu‐ nikationsmittel und das dadurch produzierte und kommunizierte Wissen kontrolliert. So wurde zum Beispiel in Nazi-Deutschland der Rundfunk po‐ litisch vom Staat kontrolliert. Alle regionalen Radiounternehmen wurden in einem Unternehmen vereinigt, nämlich der staatlich kontrollierten Reichs-Rundfunks-Gesellschaft (RRG). Die Reichsrundfunkkammer regis‐ trierte alle Menschen, die in der Medienindustrie arbeiteten. Die Medien wurden mit der Naziideologie gleichgeschalten. Die RRG betrieb zwanzig gleichgeschalte Radiostationen und einen Fernsehsender (Deutscher Fern‐ seh-Rundfunk). Bei der autoritären politischen Kommunikation können die Menschen nicht auf sich selbst hören. „Wir hören auf jede Stimme und auf jeden, wer es auch sein mag, nur nicht auf uns selbst. Wir sind in jedem Augenblick dem Getöse der Meinungen und Gedanken ausgeliefert, die aus allen Ecken auf uns einhämmern: Filme, Zeitungen, Radio, müßiges Ge‐ schwätz“ 98 . Bei der autoritären Kommunikation müssen die Menschen ei‐ nem Führer zuhören oder hören ihm zu, Dieser Führer kann ein Individuum, eine Gruppe, ein System oder eine Ideologie sein. Es wird von den Bürgern und Bürgerinnen erwartet, dass sie den Anweisungen des Führers folgen. Bei der humanistischen politischen Organisation der Information ist die Produktion des öffentlichen Wissens und der öffentlichen Kommunikation demokratisch geregelt, sodass die Bürger, Bürgerinnen, Arbeiterinnen und Arbeiter in den Entscheidungsstrukturen der Medienorganisationen reprä‐ sentiert sind. Die Kommunikationsmacht wird nicht zentral durch eine Dik‐ tatur kontrolliert. Vielmehr haben die einfachen Bürger und Bürgerinnen eine öffentliche Stimme und sind in öffentlich kommunizierten Informatio‐ 143 4.4 Kommunikation, Erkenntnis und Information 143 <?page no="144"?> 99 Ebd., S. 89. 100 Erich Fromm. 1976. Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Darmstadt: Deutsche Verlags-Anstalt. S. 108. 101 Fromm, Psychoanalyse und Ethik, S. 67. nen repräsentiert. „Auch sich selbst hören zu können, ist eine Vorbedingung dafür, dass man auf andere hören kann“ 99 . In einer humanistischen Organi‐ sation der politischen Kommunikation hören die Menschen auf sich selbst und aufeinander. Sie setzen sich miteinander auseinander. In einem autoritären Kultursystem wird ideologisches Wissen öffentlich kommuniziert. Ideologisches Wissen rechtfertig Ausbeutung und Herr‐ schaft und versucht, die Öffentlichkeit vom Glauben zu überzeugen, dass Ausbeutung und Herrschaft gut, notwendig, unvermeidbar oder natürlich sind. Bei der Kommunikation von Ideologie verwenden Ideologen Strategien wie Verheimlichung, Lügen, Verzerrung, Manipulation, Sündenbockpolitik, Personalisierung, Skandalisierung, Oberflächlichkeit, Verkürzung, Be‐ schleunigung usw. Ideologen produzieren und kommunizieren falsches Wissen, mit dem sie darauf abzielen, falsches Bewusstsein zu produzieren und zu reproduzieren. Im Gegensatz dazu ist ein humanistisches Kultursys‐ tem nichtideologisch. In einem solchen System produzieren und kommuni‐ zieren die Menschen Wissen, das die menschlichen Fertigkeiten und Prak‐ tiken des kritischen, komplexen und kreativen Denkens fördert. „In der Habensstruktur herrscht das tote Wort, in der Seinsstruktur die lebendige Erfahrung, für die es keinen Ausdruck gibt“ 100 . Bei der autoritären Organisation des Wissens und der Kommunikation werden Information und Informationsproduzenten als Dinge behandelt. Das Ziel ist die Akkumulation von Information oder die Akkumulation von Geld, Hegemonie und Macht mit der Hilfe von Information. Zum Beispiel wird im autoritären, auf dem Haben orientierten Lernen das Wissen als ein Ding behandelt, das der Mensch auswendig lernt, was durch autoritäre Lehrkräfte mit der Hilfe von Prüfungen und Noten überwacht wird. „Die Schüler sollen so vielerlei lernen, dass ihnen kaum noch Zeit und Kraft zum Denken bleibt” 101 . 144 4. Kommunikation und Gesellschaft 144 <?page no="145"?> 102 Max Horkheimer. 1954. Karl Kraus und die Sprachsoziologie. In Max Horkheimer Ge‐ sammelte Schriften Band 13: Nachgelassene Schriften 1949-1972, 19-24. Frankfurt am Main: Fischer. S. 20. 4.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Hauptergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Kommunikation und Gesellschaft sind dialektisch ineinander ver‐ flochten. Max Horkheimer sagt in diesem Zusammenhang: „Aber die Sprache ist zugleich, nicht bloß als universales Kommunikationsmit‐ tel, sondern gerade auch als Medium des Ausdrucks, in den realen gesellschaftlichen Zusammenhang verflochten“ 102 . ■ Die Werktätigkeit ist ein dialektischer Prozess, in dem Menschen als Subjekte mit Produktionsmitteln (Produktionsgegenstände und Pro‐ duktionsinstrumente) neue Produkte herstellen. Die Kommunikation ist kein von der Produktion und Werktätigkeit grundverschiedener Prozess, denn auch sie produziert und hilft dem Menschen, Ziele zu erreichen, nämlich sich zu verständigen und zu informieren. ■ Es besteht eine Dialektik von Produktion und Kommunikation. Die Menschen kommunizieren produktiv und produzieren kommunika‐ tiv. In der Produktion der Kommunikation produzieren und reprodu‐ zieren die Menschen soziale Beziehungen, soziale Strukturen, soziale Systeme, gesellschaftliche Beziehungen, die Gesellschaft als Totalität und die menschliche Sozialität. Zu Aspekten des kommunikativen Produzierens gehören die kommunikative Koordination des Produk‐ tionsprozesses, der Einsatz von Kommunikationstechnologien in der Produktion, Distribution und dem Konsum, die Produktion von Wis‐ sensgütern in der Kommunikationswerktätigkeit. ■ Die Menschen interagieren in der Produktion mit der Natur und mit‐ einander als gesellschaftliche Subjekte. Im Lauf der Geschichte der Gesellschaft sind durch die Produktivkraftentwicklung die Natur‐ schranken zurückgewichen, wodurch die Produktion von Wissens‐ gütern und die Kultur in der Wirtschaft sowie die Wirtschaft in der Kultur wichtiger wurden. ■ Die Produktion der Information beruht auf der Dialektik von Subjekt/ Objekt, individuellen Kenntnissen/ sozialem Wissen, Gesell‐ schaftsstrukturen/ Informationsstrukturen, Kognition/ Kommunika‐ 145 4.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 145 <?page no="146"?> tion, Kommunikation/ Kooperation, individueller Semiose/ sozialer Semiose, sozialer Semiose/ gesellschaftlicher Semiose. ■ Die Gesellschaft formt die menschliche Psyche in Prozessen der So‐ zialisierung. Der Gesellschafts-Charakter ist eine Vermittlungsebene zwischen der individuellen Psyche und der Gesellschaft. Der Huma‐ nismus und der Autoritarismus sind zwei antagonistische Formen des Gesellschafts-Charakters. Eine herrschaftsförmige und ausbeuteri‐ sche Gesellschaft wird von der Logik des Autoritarismus geprägt. Es kann auch zwischen autoritärer und humanistischer Kommunikation unterschieden werden. Der Kapitalismus ist die dominante Form der modernen Gesellschaft. Pro‐ duktion und daher auch die Produktion von Kommunikation und Wissen finden in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen statt. Eine kritische Theorie der Kommunikation beruht daher auf der Analyse des Zusammen‐ hanges von Kommunikation, Arbeit und Kapitalismus. Das nächste Kapitel diskutiert Aspekte dieses Zusammenhangs und eröffnet den zweiten Teil des vorliegenden Buches, in dem es um Kommunikation in der kapitalistischen Gesellschaft geht. 146 4. Kommunikation und Gesellschaft 146 <?page no="147"?> Teil II: Kommunikation in der Kapitalistischen Gesellschaft <?page no="149"?> 5. Kapitalismus und Kommunikation Dieses Kapitel bietet eine Einführung in den Zusammenhang des Kapitalis‐ mus und der Kommunikation. Dazu ist es notwendig, worum es sich beim Kapitalismus handelt und in welchen Verhältnissen er zur Kommunikation steht. Dieses Kapitel diskutiert erstens den Prozess der Kapitalakkumulation und die Frage, worum es sich beim Kapitalismus handelt (Abschnitt 5.1). Zweitens wird die Rolle der Arbeit im Kapitalismus analysiert (5.2). Drittens wird die zentrale Rolle der Zeit im Kapitalismus beleuchtet (5.3). Viertens wird das Verhältnis der kapitalistischen Wirtschaft und der Kommunikation diskutiert (5.4). Und fünftens diskutiert dieses Kapitel die Rolle der Kom‐ munikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft (5.5). 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus Klassenverhältnisse Klasse ist ein soziales Verhältnis und Machtverhältnis, in dem die ausge‐ beutete Klasse gezwungen wird, mit Produktionsmitteln, die ihr nicht ge‐ hören, Produkte herzustellen, die ihr ebenfalls nicht gehören. Die herr‐ schende Klasse ist im Besitz der Produktionsmittel und der produzierten Resultate. Klasse definiert sich durch Produktion und Eigentum. In Kapitel 3 wurde ein Überblick über diverse Klassenverhältnisse gegeben, die ver‐ schiedene Produktionsweisen definieren (siehe Tabelle 3.1). Im Kapitalismus stehen die Körper und der Arbeiter nicht wie in der Sklaverei im Besitz eines externen Eigentümers. Da aber die Arbeiter nicht überleben können, ohne zu arbeiten, müssen sie ihre Arbeitskraft am Arbeitsmarkt verkaufen, um Löhne zu verdienen, mit denen sie Waren als Lebens- und Subsistenzmittel kaufen können. Die Kapitalistenklasse besitzt im Gegensatz zur Arbeiter‐ klasse Produktiosnmittel, Unternehmen und die darin produzierten Güter und Profite. Klasse ist kein abstraktes Verhältnis. Die Definition der Klassenposition durch die Rolle in den Produktionsverhältnissen wird von den Menschen in Klassenverhältnissen im Alltag gelebt. Jeden Tag betreten und verlassen <?page no="150"?> 1 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 765. Menschen Fabriken, Büros, ihre Arbeitszimmer, mobilen Büros, öffentliche Räume, usw., in denen sie arbeiten und wo sie Waren produzieren, die ver‐ kauft werden, um Profit zu generieren, durch den das Kapital und die Ka‐ pitalisten existieren, und Löhne zu realisieren, durch die die Arbeiterschaft überlebt. Klasse als Klassenstruktur und Klassenbeziehung hat immer einen objektiven Charakter. Objektive Klassenbeziehungen werden von konkre‐ ten Menschen durch konkrete Praktiken gelebt, sodass das gesellschaftliche Klassenverhältnis zwischen Kapital und Arbeit im Alltag gelebt und kom‐ muniziert wird. Das Ergebnis davon ist eine Dialektik der objektiven Klas‐ senstrukturen (das allgemeine Klassenverhältnis zwischen Kapital und Ar‐ beit) und der Klassensubjektivität (Klasse wird im Alltag gelebt). Die Klassenobjektivität wird in Arbeitspraktiken subjektiviert, die Klassensub‐ jektivität wird in der Produktion von Waren objektiviert. Klassenbeziehun‐ gen und Klassenpraktiken werden in und durch Kommunikationsprozesse hergestellt, die zwischen dem strukturellen Klassenverhältnis der Gesell‐ schaft und der Klassensubjektivität (Bewusstsein und Praktiken) vermitteln. Die entscheidende politische Frage ist, ob sich die Arbeiterklasse über ihre Lage bewusst ist oder nicht und ob sie sich politisch in Klassenkämpfen gegen die Nachteile, die sie im Kapitalismus erfährt, organisiert oder nicht. Kapitalisten und Arbeiter sind rationale, bewusste, zielorientierte, leiden‐ schaftliche Wesen, die als aktive Subjekte im Prozess der Produktion und Reproduktion des Kapitalismus agieren. Arbeitsverträge zwingen die Mit‐ glieder der Arbeiterklasse, Klassenverhältnisse einzugehen, in denen ihre Arbeit ausgebeutet wird und einen Mehrwert produziert, der ihnen nicht gehört. Die Arbeiterschaft kann nicht so einfach die Arbeit verweigern, da der Arbeitsmarkt eine institutionalisierte und strukturelle Form der Gewalt ist, die sie zwingt, entweder ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder zu sterben. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom Arbeitsmarkt als dem „stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse” 1 . Der Kapitalist „setzt sich also daran, die von ihm gekaufte Ware, die Arbeitskraft, zu konsumie‐ ren, d. h., er läßt den Träger der Arbeitskraft, den Arbeiter, die Produktions‐ mittel durch seine Arbeit konsumieren. […] Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. […] Das Produkt ist 150 5. Kapitalismus und Kommunikation 150 <?page no="151"?> 2 Ebd., S. 199-200. 3 Pierre Bourdieu. 1986. The (Three) Forms of Capital. In Handbook of Theory and Research in the Sociology of Education, hrsg. John G. Richardson, 241-258. New York: Greenwood Press. 4 Erik Olin Wright. 1997. Class Counts. Cambridge: Cambridge University Press. Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Ar‐ beiters” 2 . Pierre Bourdieu 3 argumentiert, dass Klasse nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische und kulturelle Beziehung ist, die durch die Menge von ökonomischem Kapital (Geld, Produktionsmittel), politischem Kapital (Einfluss in sozialen Beziehungen) und kulturellem Kapital (Repu‐ tation), das ein Individuum kontrolliert, definiert wird. Bourdieu hat Recht damit, dass das Akkumulationsprinzip vom Bereich der Wirtschaft in die Politik und Kultur übergreift. Werden die Kategorien der Klasse und des Kapitals auf die beiden nichtwirtschaftlichen Gesellschaftsbereiche ange‐ wendet, so besteht jedoch die Gefahr, dass die spezielle Rolle der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft und in der Gesellschaft im Allgemeinen un‐ terschätzt wird. Der in diesem Buch vertretene Ansatz zieht es daher vor, die Begriffe des Kapitals und der Klasse auf den Wirtschaftsbereich zu be‐ schränken, während die Kategorie der Macht verwendet wird, um allge‐ meine Strukturen der Akkumulation in allen drei Bereichen der kapitalisti‐ schen Gesellschaft zu bezeichnen. Erik Olin Wright 4 nimmt das Thema des Verhältnisses der Wirtschaft zur Politik und Kultur ernst und hat gezeigt, dass politische Autorität und Kultur in der Form von Fertigkeiten und Aus‐ bildung eine Rolle in der Ausbildung von Klassenverhältnissen spielen. Er argumentiert, dass neben der Frage, ob jemand Produktionsmittel besitzt oder nicht, auch das Ausmaß der Autorität im Produktionsprozess und der Umfang der Kenntnisse und Fertigkeiten eine Rolle bei der Definition der Klassenpositionen spielen. Von Bourdieu können wir lernen, dass die Akkumulation der Wirtschaft auf Politik und Kultur übergreift, während wir von Wright die Idee verwen‐ den können, dass die Politik in der Form der Autorität und die Kultur in der Form differenzierter Fertigkeiten im Produktionsprozess und der Wirtschaft von Bedeutung sind. Daher haben jene, die mehr Autorität kontrollieren und über mehr Fer‐ tigkeiten und Kenntnisse verfügen, Vorteile gegenüber denen, die über ein niedrigeres Ausmaß davon besitzen. Sie kontrollieren mehr Macht in der Wirtschaft. Wright spricht daher von organisatorischer Ausbeutung und 151 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus 151 <?page no="152"?> 5 Erik Olin Wright. 1989. A General Framework for the Analysis of Class Structure. In The Debate on Classes, hrsg. Erik Olin Wright, 3-43. London: Verso. Erik Olin Wright. Exploitation, Identity, and Class Structure: A Reply to My Critics. In The Debate on Classes, hrsg. Erik Olin Wright, 191-211. London: Verso. Erik Olin Wright. 1989. Re‐ thinking, Once Again, the Concept of Class Structure. In The Debate on Classes, hrsg. Erik Olin Wright, 269-348. London: Verso. 6 Guy Standing. 2015. Prekariat: Die neue explosive Klasse. Münster: Unrast Qualifikationsausbeutung 5 , womit er meint, dass Machtvorteile in der Qua‐ lifikation und der Autorität zu höheren, überdurchschnittlichen Löhnen der Mächtigeren und besser Gebildeten führen. Im 20. Jahrhundert hat die Entstehung eines signifikanten Anteils von Kopfarbeit in der Beschäftigungsstruktur und des Managements neue Fra‐ gen für die Klassentheorie aufgeworfen. Die Manger sind oft nicht die Haupteigentümer der Produktionsmittel, obwohl in börsennotierten Unter‐ nehmen viele von ihnen Aktien besitzen. Formal betrachtet sind sie meistens Angestellte, die (hohe) Gehälter für ihre Tätigkeiten beziehen. Wenn das Management die Rolle der Organisation der Ausbeutung der Arbeiterschaft in der Produktion des Mehrwerts haben, dann handelt es sich bei Mangern sicher um einen Bestandteil der herrschenden Klasse. Kopfarbeiter produ‐ zieren Dienstleistungen und Wissen. Dass das Produkt, das sie produzieren, nicht physisch ist und ihre Arbeit daher qualitativ unterschiedlich von jener der Handarbeiter ist, impliziert nicht, dass es sich um eine andere Klasse handelt. Kopfarbeiter, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, sind sicherlich ein Teil der Arbeiterklasse. Die Freiberufler sind formal selbständige Arbeiter, die von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft mit Kurzzeitverträgen oder Einmalverträgen abhängig sind, um Einkommen zu erzielen. Der Aufstieg des Neoliberalismus in Kombination mit der Me‐ dien-, Kultur- und Digital-Industrie hat prekäres Freiberuflertum zu einem relativ weit verbreiteten Phänomen gemacht. Daher sprechen manche von der Entstehung des Prekariats 6 . Wenn Freiberufler niemanden anstellen, so ist ihre Klassenlage nicht sehr unterschiedlich von Lohnarbeitern, da sie ebenfalls gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, allerdings auf der Basis von Kurzzeitverträgen. Sie sind Teil der Arbeiter‐ klasse, wobei sie als eine Klassenfraktion angesehen werden könnten, nicht jedoch als eigenständige Klasse. Freiberufler, die so viel Kapital besitzen, dass sie beginnen, andere anzu‐ stellen und nicht mehr als Einpersonenbetriebe agieren, sondern als Firmen mit Arbeitskräften, in denen es eine Arbeitsteilung und eine Teilung in Pri‐ 152 5. Kapitalismus und Kommunikation 152 <?page no="153"?> 7 Für eine detaillierte Diskussion siehe: Christian Fuchs. 2017. Capitalism, Patriarchy, Slavery, and Racism in the Age of Digital Capitalism and Digital Labour. Critical Soci‐ ology 44 (4-5): 677-702. 8 Übersetzung aus dem Englischen: Antonio Negri 1982. Archaeology and Project: The Mass Worker and the Social Worker. In Revolution Retrieved: Selected Writings on Marx, Keynes, Capitalist Crisis & New Social Subjects 1967-83, 199-228. London: Red Notes. S. 209. vateigentum und Nichteigentum an den Produktionsmitteln gibt, werden von freiberuflichen Arbeitern zu Kapitalisten. Aufeinanderfolgende Wellen der Automatisierung haben zu struktureller Arbeitslosigkeit geführt. Sind die Arbeitslosen eine eigenständige Klasse? Sie bilden eine Reservearmee, die darauf wartet, ihre Arbeitskräfte zu verkaufen, kein Kapital besitzt und daher eine Fraktion der Arbeiterklasse darstellt. Auch Gruppen unbezahlter Arbeitender spielen wichtige Rollen im Ka‐ pitalismus. Die größte dieser Gruppen ist jene der Hausarbeitenden, die Re‐ produktionsarbeit durchführen, durch die die Arbeitskraft der Lohnarbei‐ tenden wiederhergestellt wird, sodass diese als Ware an das Kapital verkauft werden kann. Andere Beispiele für unbezahlte Arbeit sind moderne Sklaven, das Publikum von werbefinanzierten Medien und Facebook-Nutzer 7 . Die unterschiedlichen Gruppen unbezahlter Arbeiter unterscheiden sich durch die Art der Arbeit, die sie ausführen, Organisationsformen und den Unter‐ drückungsweisen, mit denen sie konfrontiert sind. Wenn unbezahlte Arbei‐ ter eine Ware produzieren, die in einem kapitalistischen Kontext verkauft wird, so sind sie sicherlich Teil der Arbeiterklasse. Betrachtet man all diese Aspekte der Klassenstrukturierung gemein‐ sam, so sieht man, dass das Klassenverhältnis zwischen Kapital und Ar‐ beit aus zwei Klassen besteht, sich in Klassenfraktionen unterteilen. Die kapitalistische Klasse besteht aus Fraktionen wie dem Industriekapital, dem Finanzkapital, dem kleinen Kapital, dem mittleren Kapital, dem Groß‐ kapital, dem transnationalen Kapital, usw. Kapital und Arbeit sind einer‐ seits objektiv vereint und andererseits ausdifferenziert. In Bezug auf die Arbeiterklasse spricht Toni Negri vom gesellschaftlichen Arbeiter, um zu betonen, dass sich die Ausbeutung und die Arbeiterklasse „jetzt über die gesamte Spanne der Produktion und Reproduktion“ 8 erstrecken, sodass es eine Vielzahl (Multitude) von Klassenfraktionen gibt, die gemeinsam die Arbeiterklasse bilden. „Multitude bezeichnet all jene, die unter der Herr‐ 153 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus 153 <?page no="154"?> 9 Michael Hardt and Antonio Negri. 2004. Multitude. Krieg und Demokratie im Em‐ pire. New York: Penguin. S. 125. 10 Michael Hardt and Antonio Negri. 2002. Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus. S. 66. 11 Mario Tronti. 1974. Arbeiter und Kapital. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik. S. 31. 12 Ebd., S. 34. schaft des Kapitals arbeiten und produzieren“ 9 und „all jene, deren Ar‐ beitskraft direkt oder indirekt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischen Normen unterworfen sind“ 10 . Zum gesell‐ schaftlichen Arbeiter gehören Lohnarbeitende als auch Nichtlohnarbei‐ tende, die Waren produzieren und das Kapital produzieren und reprodu‐ zieren. Mario Tronti beschreibt die Tendenz und wie die Interessen des Kapitals dazu führen, dass die kapitalistische Fabrik „ihre ausschließliche Herrschaft auf die ganze Gesellschaft“ 11 ausdehnt. „Die kapitalistische Entwicklung neigt dazu, jedes politische Verhältnis dem gesellschaftli‐ chen Verhältnis unterzuordnen, jedes gesellschaftliche Verhältnis dem Produktionsverhältnis, jedes Produktionsverhältnis dem Fabrikverhält‐ nis; denn nur dadurch kann er in der Fabrik den umgekehrten Weg ge‐ hen: der Kampf des Kapitalisten für die Zerstörung und Neuzusammen‐ setzung der antagonistischen Figur des Gesamtarbeiters nach seinem eigenen Bilde” 12 . Im Kapitalismus sind nicht nur die Fabrik und das Büro, sondern auch Räume wie der Haushalt, die Familie, die Universität, die Stadt, der Körper, das Gehirn oder kommerzielle Medien wie Facebook Sphären der Warenproduktion. Sie sind die sozialen und gesellschaftli‐ chen Fabriken des Kapitalismus. Kapitalakkumulation Abbildung 5.1 visualisiert den Prozess der Kapitalakkumulation, der das Herz und den Motor der kapitalistischen Wirtschaft bildet. 154 5. Kapitalismus und Kommunikation 154 <?page no="155"?> 13 Die Abbildung ist meine Visualisierung des Kapitalakkumulationsprozesses, wie er von Marx beschrieben wird: Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. Karl Marx. 1885/ 1893/ 1963. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationssprozeß des Kapitals. MEW Band 24. Berlin: Dietz. Ak G 1 + G 2 G W { .. P .. W’=W+ Δ w G’=G+ Δ g Pm Realisierung v c zir c fix c fix = c fix - Δ c , if c fix = 0 OR entwertet then Erneuerung Akkumulation, Kapitalisierung des Mehrwerts Zirkulationssphäre Produktionssphäre Zirkulationssphäre Beständige Reproduktion Beständige Reproduktion Unbeständige Reproduktion c zir : Roh- und Hilfsstoffe, Betriebsstoffe, Halbfertigprodukte c fix : Maschinen, Gebäude, Ausrüstung; zirkulierendes Kapital: z cir , v; fixes Kapital: c fix Abbildung 5.1: Der Prozess der Kapitalakkumulation 13 Die kapitalistische Wirtschaft ist eine Form der allgemeinen Warenproduk‐ tion: Die Ware ist die Hauptform der Organisation des Eigentums. Die Ar‐ beiterschaft ist gezwungen, Waren zu produzieren, die verkauft werden, so‐ dass die Kapitalisten immehr mehr Kapital akkumulieren können, also Geld, das darauf abzielt, sich immer weiter zu vermehren. Der Kapitalismus ist eine Einheit vieler Momente - nämlich des Geldes, der Waren, der Ausbeu‐ tung der Arbeitskraft, der Produktionsmittel, der Warenproduktion und des Kapitals. Diese funktionale Einheit hat emergente Qualitäten, sodass die Summe dieser Elemente mehr ist als die einzelnen Teile. Die Kapitalakku‐ mulation wird von all diesen Elementen ermöglicht, ist selbst aber eine neue Qualität der kapitalistischen Wirtschaft im Vergleich zu anderen Produkti‐ onsweisen. Die Ware ist eine der Zellformen des Kapitalismus. Die Akku‐ 155 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus 155 <?page no="156"?> mulation des Kapitals stellt den Gesamtkörper der Wirtschaft dar. Das Ka‐ pital ist ein Körper, der versucht, seine Größe auszudehnen, indem er die Arbeiter Waren produzieren lässt, die auf Märkten verkauft werden, damit das Kapital anwächst. Für Marx ist die kapitalistische Wirtschaft das System der Kapitalakkumu‐ lation. Sie hat die Form G - W .. P .. W’ - G’: Kapitalisten kaufen mit Geld G die Waren W (Arbeitskraft Ak, Produktionsmittel Pm). Im Produktionsprozess P schafft die Arbeit mit Hilfe der Produktionsmittel eine neue Ware W‘. In W‘ ist der Mehrwert objektiviert. Wird die einzelne Ware bzw. eine bestimmte Anzahl an Waren pro Finanzjahr zu einem Preis verkauft, der höher ist als die Investitionskosten, so wird der Mehrwert in Profit (p, Δg) verwandelt. Das in‐ vestierte Geldkapital G wird um einen Profit vermehrt, sodass die akkumu‐ lierte Geldsumme G‘ = G = Δg. Teile von G‘ (G 1 ) werden verwendet, um Zin‐ sen an Banken, Rente an Rentiers, die Eigentum (wie Land) an die Kapitalisten vermieten, Bonuszahlungen für Manager sowie Dividenden für Aktienbesit‐ zer zu bezahlen. Der andere Teil von G’ (G 2 ) wird reinvestiert, sodass ein neuer Kreislauf der Kapitalakkumulation beginnt. Der Endpunkt G‘ eines Akkumu‐ lationskreislaufes wird der Ausgangspunkt für den nächsten Kreislauf. In der Kapitalakkumulation besteht der dynamische Charakter der kapitalistischen Wirtschaft. Sie nimmt die Form G 1 - W 1 .. P 1 .. W 1 ’ - G 1 ’ = G 2 - W 2 .. P 2 .. W 2 ’ - G 2 ’ = G 3 - W 3 .. P 3 .. W 3 ’ - G 3 ’ = G 4 …. an. In Kapitel 4 (siehe vor allem Abschnitt 4.1 und Abbildung 4.2) wurde die Werktätigkeit als eine Dialektik von Subjekt und Objekt verstanden, in der die menschlichen Subjekte ihr Produktionsvermögen einsetzen, um die Pro‐ duktionsmittel (Gegenstand, Mittel) anzuwenden und neue Produkte her‐ zustellen. Im Kapitalismus ist das Subjekt die Arbeiterklasse, deren Mitglie‐ der gezwungen sind, ihre Arbeitskraft ans Kapital zu verkaufen, um zu überleben. Die Produktionsmittel sind Waren. Marx bezeichnet den Wert der Arbeitskraft und des Arbeitsgegenstandes als zirkulierendes Kapital, da diese Faktoren in der kapitalistischen Produktion unmittelbar aufgebraucht werden und erneuert werden müssen. Der Wert der Arbeitskraft wird va‐ riables Kapital (v) genannt, da sie neuen Wert schafft, den Mehrwert. Der Wert des Arbeitsgegenstandes wird zirkulierendes konstantes Kapital (c zir ) genannt, da dieser Wert vollständig in den Warenwert in einem Produkti‐ onsschritt eingeht und der Arbeitsgegenstand im nächsten Akkumulations‐ kreislauf erneuert werden muss. Die Arbeitsmittel (wie etwa die eingesetz‐ ten Technologien) haben einen dauerhafteren Charakter im Produktionsprozess. Nur ein Teil ihres Wertes vergegenständlicht sich in 156 5. Kapitalismus und Kommunikation 156 <?page no="157"?> 14 Karl Marx. 1885/ 1893/ 1963. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationssprozeß des Kapitals. MEW Band 24. Berlin: Dietz. S. 84. 15 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 621. 16 Ebd., S. 621. 17 Ebd., S. 328. 18 Ebd., S. 531. 19 Ebd., S. 531. 20 Karl Marx. 1863/ 1864/ 1988. Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Berlin: Dietz. S. 146. einer Ware. Der Wert der Arbeitsmittel wird daher als fixes konstantes Ka‐ pital bezeichnet (c fix ). Die Arbeitsmittel bleiben im Kapitalakkumulations‐ prozess fixiert, bis sie veraltet sind, da bessere Technologien existieren, die angekauft werden, oder da sie wegen Abnützung oder Fehlerhaftigkeit er‐ setzt werden müssen. Das zirkulierende konstante Kapital und das fixe kon‐ stante Kapital bilden gemeinsam die Produktionsmittel, deren Wert als kon‐ stantes Kapital (c) bezeichnet wird. Der Kapitalismus verwandelt die Arbeitskraft und die Produktionsmittel in Instrumente zur Produktion und Akkumulation von Kapital. Kapital ist „Geld heckendes Geld, Wert heckender Wert“ 14 . In der kapitalistischen Wirt‐ schaft ist die Produktion der Prozess der Warenproduktion und der Kapi‐ talakkumulation. Die Werktätigkeit ist als ausgebeutete Arbeit im Klassen‐ verhältnis zwischen Arbeit und Kapital organisiert, in dem die Dialektik von Subjekt und Objekt der Werktätigkeit die Form eines Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit annimmt. Im kapitalistischen System ist die Arbeiterklasse nur eine „Maschine zur Produktion von Mehrwert“ 15 und die Kapitalistenklasse eine „Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital“ 16 und ein „Auspumper von Mehrwert und Exploiteur von Ar‐ beitskraft” 17 . Der in Abbildung 5.1 dargestellte Prozess findet nicht nur in einem ein‐ zelnen Unternehmen statt, sondern auch auf der Ebene der Wirtschafts‐ branche, der Nationalökonomie und der globalen Wirtschaft. Das Modell beschreibt also einerseits ein Einzelkapital und andererseits auch das kol‐ lektive Kapital als Klasse. Die Arbeiterschaft ist eine in diesem Prozess auf allen der genannten Ebenen ausgebeutete Klasse, also beginnend auf der Unternehmensebene bis hin zur Ebene der Gesellschaft und der globalen Wirtschaft. Marx spricht daher vom „Gesamtarbeiter“ 18 , worunter er ein kombiniertes Arbeitspersonal 19 versteht, das ein „sozial kombiniertes Ar‐ beitsvermögen“ 20 hat und dessen „kombinierte Tätigkeit unmittelbar in ei‐ 157 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus 157 <?page no="158"?> 21 Ebd., S. 147. 22 Ebd., S. 147. 23 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 531. nem Gesamtprodukt, das zugleich eine Gesamtmasse von Waren ist“ 21 , resul‐ tiert. „Die Tätigkeit dieses Gesamtarbeitsvermögens ist seine unmittelbare produktive Konsumtion durch das Kapital, d. h. also Selbstverwertungspro‐ zess des Kapitals, unmittelbare Produktion von Mehrwert, und daher, wie dies später noch weiterentwickelt werden soll, unmittelbare Verwandlung desselben in Kapital” 22 . Die Entwicklung der Produktivkräfte und der Ko‐ operation befördert den kollektiven Charakter der Arbeiter als kooperie‐ rende Arbeitskräfte. „Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem un‐ mittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d. h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehn” 23 . Ist der Kapitalismus ein Wirtschaftssystem oder eine Gesellschaftsformation? Was ist der Kapitalismus? Eine wirtschaftliche Produktionsweise? Oder eine bestimmte Gesellschaftsformation? Für Marx ist Kapital sich selbst verwer‐ tender Wert, der in der Form von Geldprofit akkumuliert wird. Das Kapital muß ständig wachsen, um existieren zu können. Anderenfalls geraten die Kapitalakkumulation und die kapitalistische Wirtschaft in die Krise. Aus dem expansiven Charakter des Kapitalismus folgt nicht nur die Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern auch die Zerstörung der Natur, die Zentralisation und Konzentration des Kapitals, die ungleiche geographische Entwicklung des Kapitalismus, der Imperialismus, Kriege zur Ausdehnung des Kapitalis‐ mus, die Produktion von Milieus hochgradig ausgebeuteter, unbezahlter Ar‐ beit, die Erschöpfung nichterneuerbarer natürlicher Ressourcen usw. Das Akkumulationsprinzip der kapitalistischen Wirtschaft prägt die gesamte kapitalistische Gesellschaft. Der Kapitalismus ist eine Art der Gesellschaft, die auf dem Prinzip der Akkumulation von Kapital und Macht beruht und mit diesem Prinzip operiert. In Kapital 4 wurde argumentiert, dass Produktion und Arbeit die Modelle für die Kultur und das politische System in der Gesellschaft darstellen. In der kapitalistischen Gesellschaft ist das Prinzip der Kapitalakkumulation das 158 5. Kapitalismus und Kommunikation 158 <?page no="159"?> allgemeine Modell der gesellschaftlichen Produktion. Die kapitalistische Gesellschaft stellt eine allgemeine Sphäre der Akkumulation dar. Der Ak‐ kumulationstrieb ist nicht auf das Geldkapital beschränkt. In der Politik finden wir den Akkumulationsimperativ in der Form der Akkumulation politischer Entscheidungsmacht. Im kulturellen System drückt sich das Akkumulationsprinzip als Akkumulation von kultureller Unterscheidung, Reputation und Definitionsmacht aus. In der kapitalisti‐ schen Gesellschaft zielen die Klassen und gesellschaftliche Gruppen darauf ab, Wirtschaftsmacht (Geldkapital), politische Macht (Entscheidungsmacht: Einfluss auf kollektive Entscheidungen) und kulturelle Macht (Defintions‐ macht: Reputation, Einfluss auf die Definition von Weltanschauungen, kol‐ lektiven Bedeutungen und Identitäten) anzuhäufen. Der Kapitalismus ist nicht einfach eine wirtschaftliche Produktionsweise, sondern eine gesell‐ schaftliche Weise der Produktion, eine Gesellschaftsformation. Die kapita‐ listische Gesellschaft beruht auf dem Akkumulationsprinzip, mit dessen Hilfe sie organisiert wird. Die Logik der Akkumulation schafft Machtasymmetrien und Verteilungs‐ ungerechtigkeiten. In herrschaftsförmigen Gesellschaften gibt es Entfrem‐ dung: Herrschende Gruppen kontrollieren die Produkte der Arbeit, während den unmittelbaren Produzenten die Kontrolle und das Eigentum versagt wird. Die Herrschenden haben die Macht, andere zu zwingen, für sie zu arbeiten. Sie haben auch die Macht, sich die Arbeitsprodukte der beherrsch‐ ten Klasse anzueignen, ihre Ideologie politischen Entscheidungsprozessen aufzuprägen, Hierarchien der Anerkennung und der Reputation zu definie‐ ren und Kombinationen dieser Machtformen anzuwenden. Verschiedene Gruppen und Klassen können unterschiedliche Ausmaße an wirschaftlicher, kultureller und politischer Macht kontrollieren. In der kapitalistischen Ge‐ sellschaft ist Geld eine privilegierte Form der Macht. Es kann einfacher in politische und kulturelle Macht verwandelt werden als umgekehrt. Die Akkumulationslogik strukturiert die moderne Wirtschaft, Politik, Kultur, das Privatleben, den Alltag und die Beziehung der Gesellschaft zur Natur. Die Teilsysteme der modernen Gesellschaft organisieren bestimmte Formen der Akkumulationslogik. Sie haben spezifische Ökonomien der Pro‐ duktion, Zirkulation und Distribution der Macht. In der kapitalistischen Ge‐ sellschaft nimmt Macht wirtschaftliche, politische und kulturelle Formen der Akkumulation an. Der Kapitalismus schafft grundlegende Machtasym‐ metrien und Ungleichheiten. Es ist Marx‘ Leistung, dass er die Logik der Akkumulation, die dem Kapitalismus inhärent ist, entschleiert hat. Er hat 159 5.1. Kapitalakkumulation und Kapitalismus 159 <?page no="160"?> die immanenten Antagonismen und Ungerechtigkeiten aufgezeigt, die die Akkumulationslogik des Kapitalismus produziert. Im nächsten Abschnitt wird ein wichtiger Aspekt des Kapitalismus dis‐ kutiert: die Arbeit. 5.2. Arbeit und Kapitalismus Arbeitsbedingungen Um die Arbeitsbedingungen, also die Realität und Erfahrungen der Ausbeu‐ tung, mit der die Arbeiterschaft im Kapitalismus konfrontiert ist, zu analysie‐ ren, muss man verschiedene Dimensionen des Arbeitslebens unterscheiden. Zu derartigen Dimensionen der Arbeitsbedingugnen gehören, welche Tech‐ nologien verwendet werden, ihre Auswirkungen auf die Arbeit, die Implika‐ tionen der Arbeitsorganisation für die geistigen und körperlichen Fertigkeiten und die Gesundheit der Arbeiter; Aspekte der Produktionsverhältnisse wie etwa die Löhne, Arbeitsverträge, die Qualität der Arbeitsumgebung (der Ar‐ beitsplatz), Aspekte der Kontrolle und Überwachung der Arbeitskräfte, As‐ pekte der politischen Organisation (Gewerkschaften, Klassenkämpfe); und wie der Staat die Arbeitsbedingungen reguliert. Abbildung 5.2 und Tabelle 5.1 fas‐ sen diese Dimensionen zusammen. Tabelle 5.1 zeigt auch, wie die einzelnen Dimensionen in Verbindung zur Dialektik von Subjekt und Objekt des Ar‐ beitsprozesses stehen (vgl. Abbildungen 5.1 und 4.2). 160 5. Kapitalismus und Kommunikation 160 <?page no="161"?> 24 Dieses Modell wurde zuerst in folgendem Aufsatz eingeführt: Marisol Sandoval. 2013. Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age: Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China. tripleC: Communication, Capitalism & Cri‐ tique 11 (2): 318-347. Wiedergegeben mit Genehmigung. G à W .... P .... W‘ à G‘ PRODUKTIVKRÄFTE - ARBEIT * Charakteristika der Arbeitskräfte * Geistige und körperliche Gesundheit * Arbeitserfahrung PRODUKTIVKRÄFTE - PRODUKTIONS- MITTEL * Maschinen, Ausrüstung * Ressourcen PRODUKTIONSPROZESS * Wo? Arbeitsräume * Wann? Arbeitszeit * Wie? - Art der Arbeit - Kontrollmechanismen ERGEBNISSE DER PRODUKTION * Arbeitsprodukt PRODUKTIONSVERHÄLTNISSE * Arbeitsverträge * Löhne and Sozialleistungen * Arbeitskämpfe Ak PM DER STAAT: Gesetzgebung KAPITALISTISCHE PRODUKTION Abbildung 5.2: Dimensionen der Arbeitsbedingungen 24 Dimension Rolle dieser Dimension in der Subjekt-Objekt-Dialektik der Arbeit (siehe Abbildungen 5.1 und 4.2) Produktivkräfte - Produktionsmittel Maschinen und Aus‐ rüstung Objekt: Arbeitsmittel Ressourcen Objekt: Arbeitsgegenstand Produktivkräfte - Arbeit Charakteristika der Arbeitskräfte Subjekt Psychische und phy‐ sische Gesundheit Subjekt 161 5.2. Arbeit und Kapitalismus 161 <?page no="162"?> Arbeitserfahrungen Subjekt Produktionsver‐ hältnisse Arbeitsverträge Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Löhne und Sozialleis‐ tungen Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Arbeitskämpfe Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Produktionspro‐ zess Arbeitsräume, Ar‐ beitsplatz Objekt: Arbeitsmittel Arbeitszeit Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Arbeitsaktivitäten Subjekt Kontrollformen Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Resultate der Pro‐ duktion Arbeitsprodukte Subjekt-Objekt: Arbeitsprodukte Der Staat Arbeitsrecht Beziehungen zwischen Subjekten: Produktionsverhältnisse Tabelle 5.1: Dimensionen der Arbeitsbedingungen Tabelle 5.2 zeigt für jede der identifizierten Dimensionen, welche Fragen man bei einer Analyse konkreter Arbeitsbedingungen stellen sollte. Produktivkräfte - Produktionsmittel Maschinen und Aus‐ rüstung Welche Technologien werden im Produktionsprozess eingesetzt? Ressourcen Welche Ressourcen werden im Pro‐ duktionsprozess eingesetzt? Produktivkräfte - Arbeit Charakteristika der Arbeitskräfte Welche Eigenschaften haben die Ar‐ beitskräfte (Altersstruktur, Ge‐ schlechtsstruktur, Herkunftsstruk‐ tur, usw.)? Psychische und phy‐ sische Gesundheit Wie beeinflussen die verwendeten Produktionsmittel und der Arbeits‐ prozess die geistige und körperliche Gesundheit der Arbeitskräfte? 162 5. Kapitalismus und Kommunikation 162 <?page no="163"?> 25 Dieses Modell wurde zuerst in folgendem Aufsatz eingeführt: Marisol Sandoval. 2013. Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age: Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China. tripleC: Communication, Capitalism & Cri‐ tique 11 (2): 318-347. Wiedergegeben mit Genehmigung. Arbeitserfahrungen Wie erfahren die Arbeitskräfte ihre Arbeit? Produktionsver‐ hältnisse Arbeitsverträge Welche Verträge haben die Arbeiter und was wird darin wie reguliert? Löhne und Sozialleis‐ tungen Wie hoch/ niedrig sind die Löhne? Welche anderen Leistungen gibt es für die Arbeitskräfte? Arbeitskämpfe Wie organisieren sich die Arbeiter? Wie werden Verhandlungen mit dem Kapital geführt? Was ist die Rolle von Protestaktionen? Produktionspro‐ zess Arbeitsräume Wo findet der Produktionsprozess statt? Arbeitszeit Wie viele Stunden werden pro Woche im Durchschnitt gearbeitet? Wie wird die Arbeitszeit festgelegt? Wie sieht das Verhältnis von Arbeits- und Freizeit aus? Arbeitsaktivitäten Welchen Arten der geistigen und kör‐ perlichen Tätigkeiten gehen die Ar‐ beitskräfte im Arbeitsprozess nach? Kontrollformen Welche Mechanismen werden ver‐ wendet, um die Arbeitskräfte zu kon‐ trollieren und zu überwachen? Resultate der Pro‐ duktion Arbeitsprodukte Welche Güter oder Dienste werden produziert? Der Staat Arbeitsrecht Welche Regulationen gibt es hin‐ sichtlich Mindestlöhnen, Maximalar‐ beitszeit, Arbeitssicherheit, soziale Sicherheit etc. Wie werden diese Re‐ geln durchgesetzt? Tabelle 5.2: Dimensionen der Arbeitsbedingungen 25 163 5.2. Arbeit und Kapitalismus 163 <?page no="164"?> 26 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band 40 (Ergänzungsband 1), 465-588. Berlin: Dietz. S. 518. 27 Ebd., S. 516-517. 28 Ebd., S. 517. Wirtschaftliche Entfremdung Für Marx bedeutet wirtschaftliche Entfremdung, dass die kapitalistischen Strukturen der Ausbeutung der Arbeit in Klassenverhältnissen den Men‐ schen zu etwas machen, das sich von dem unterscheidet, was er sein könnte, also von den Möglichkeiten, die vom menschlichen Wesen als Gattungswe‐ sen definiert werden. Das Gattungswesen des Menschen besteht darin, dass er ein soziales und gesellschaftliches Wesen ist. Die kapitalistische Ausbeu‐ tung der Arbeit und das Privateigentum an wirtschaftlichem Eigentum ver‐ stümmelt und zerstört den sozialen Charakter des menschlichen Wesens. Die Gesellschaft ist daher, wenn es sich um eine kapitalistische Gesellschaft oder allgemeiner um eine Klassengesellschaft handelt, unvollständig sozial und keine vollständig entwickelte Gesellschaft. „Überhaupt, der Satz, daß der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist” 26 . Das Wort Gattungswesen kombiniert die Gattung und das Wesen. Das Gattungswesen bezeichnet das Wesen der Menschen, also das, was alle Menschen gemeinsam haben. Kapitalismus und Klasse führen zur Entfrem‐ dung des Menschen von seinem sozialen Wesen. Sie entmenschlichen die Menschen und machen sie zu nicht vollwertigen Menschen. Indem der Ka‐ pitalismus die Menschen zu Schrauben im Rad der Ausbeutung und der Herrschaft macht, ist er eine organisierte Form der Inhumanität und der Entmenschlichung. Die kapitalistische Entfremdung der Arbeit ist ein vierfacher Prozess 27 : 1) die Entfremdung der Menschen von der Natur; 2) die Entfremdung der Menschen von ihren Aktivitäten und ihrem Gattungswesen; 3) die Entfrem‐ dung der Menschen von ihren Körpern und von ihrem Geist, die Teil des menschlichen Wesens sind; 4) die Entfremdung des Menschen von „dem Produkt seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit“ 28 und als Folge davon von anderen Menschen und der Gesellschaft. Die wirtschaftliche Entfremdung macht die Arbeiter im Kapitalismus zu doppelt freien Arbeitern: „Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leib‐ eigne usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbst‐ 164 5. Kapitalismus und Kommunikation 164 <?page no="165"?> 29 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 742. wirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind” 29 . Die doppelt freien Arbeiter, die wir im Kapitalismus antreffen, sind nicht wie Sklaven das Eigentum der herrschenden Klasse, sondern sie sind mit der „Freiheit“ des Marktes konfrontiert, die Unfreiheit für sie bedeutet: Sie kön‐ nen nur überleben, indem sie ihre Arbeitskraft verkaufen und sind dadurch gezwungen, Klassenbeziehungen einzugehen, in denen ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird. Die kapitalistische „Freiheit“ ist also eine Freiheit von der Sklaverei und Leibeigenschaft, sodass die Menschen ihre Körper selbst be‐ sitzen, zugleich aber mit der Unfreiheit kapitalistischer Strukturen konfron‐ tiert sind, die die Menschen dazu nötigt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um Löhne zu verdienen, mit denen sie Waren kaufen können, die ihr Überleben ermöglichen. Im Kapitalismus werden die Subsistenzmittel und die Produk‐ tionsmittel als Waren organisiert. Die Entfremdung ist in den Strukturen des Kapitalismus verankert und vergegenständlicht, sodass die Masse der Men‐ schen nicht überleben kann, ohne in Klassenverhältnissen ausgebeutet zu werden. Abbildung 5.3 visualisiert, dass wirtschaftliche Entfremdung im Kapita‐ lismus bedeutet, dass die Arbeiterklasse von ihrer Subjektivität entfremdet ist, da sie ihre Arbeitskraft verkaufen muss; dass sie von den Produktions‐ mitteln (dem Arbeitsgegenstand und den Arbeitsmitteln) entfremdet ist, die sich nicht besitzt; und dass sie von den Produkten, die sie herstellt, entfrem‐ det ist, da diese im Besitz der kapitalistischen Klasse stehen. 165 5.2. Arbeit und Kapitalismus 165 <?page no="166"?> Entfremdung der Arbeitskraft (Subjekt) (Ökonomisches) Subjekt-Objekt: Entfremdung vom Produkt der Arbeit Entfremdung von den Produktionsmitteln (Objekt) Arbeitsgegenstand Arbeitsmittel Abbildung 5.3: Wirtschaftliche Entfremdung im Kapitalismus Die marxistische Wertkritik ist eine kritische Theorie der Zeit im Kapitalis‐ mus. Der Zusammenhang von Kapitalismus und Zeit wird im nächsten Ab‐ schnitt diskutiert. 5.3. Kapitalismus und Zeit Die Rolle der Zeit in der kapitalistischen Gesellschaft In der kapitalistischen Gesellschaft kontrollieren Eliten die wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht und versuchen, Macht zu akkumulieren. Akkumulation ist ein in der Zeit organisierter Prozess: Das Ziel der Akku‐ mulation ist, dass zu Zeitpunkt t+1 ein vorherrschender Akteur seine Macht im Vergleich zu Zeitpunkt t ausgeweitet hat. Gesellschaftliche Kämpfe kön‐ nen zu Krisen führen, sodass herrschende Gruppen ihre Macht zu Zeitpunkt t+1 nicht mehr weiter ausdehnen können. Die Zeit ist ein immanenter Aspekt der Akkumulation in der kapitalisti‐ schen Wirtschaft. Das Bedürfnis, immer mehr Kapital zu akkumulieren, kann durch absolute Mehrwertproduktion, also die Verlängerung des Ar‐ 166 5. Kapitalismus und Kommunikation 166 <?page no="167"?> 30 Wolfgang Streeck. 2015. Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalis‐ mus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Erweiterte Ausgabe. beitstages, erreicht warden. Die relative Mehrwertproduktion ist eine an‐ dere Strategie. Sie erhöht die Produktivität, indem wissenschaftlich-techni‐ sche Innovationen geschaffen und angewendet werden, sodass mehr Waren in einer bestimmten Zeitspanne produziert werden können als zuvor. Die durchschnittliche Produktionszeit der Waren nimmt dadurch ab. Weitere Strategien sind zum Beispiel die Reduktion der Zirkulations- und Distribu‐ tionszeit der Waren oder die Verkürzung der Lebensdauer der Waren durch geplante Obsoleszenz oder die Erzeugung von Begierde nach neuen Waren mit der Hilfe von Marketing, Werbung und Konsumismus, die als Ideologien menschlichen Bedürfnisse und Triebe manipulieren.. Kredite, der Aktienmarkt, Finanzderivate und Schulden konstituieren das Finanzkapital, das mit Anspruchsberechtigungen auf Zahlungen in der Zu‐ kunft operiert, nämlich dem Anspruch auf Beteiligung an zukünftigen Pro‐ fiten im Fall von Aktien, Firmenkrediten und Derivaten, dem Anspruch auf einen Teil des zukünftigen Lohnes im Fall von Verbraucherkrediten, dem Anspruch auf einen Teil zukünftiger Löhne oder Profite bei Schulden im Allgemeinen. Solche Finanzmechanismen beruhen auf der Logik, dass Zeit gekauft wird 30 . Zusammen betrachtet kann gesagt werden, dass die kapitalistische Wirt‐ schaft die Logik der Beschleunigung benötigt, um immer mehr Waren in immer weniger Zeit zu produzieren, zirkulieren und konsumieren. Der kapitalistische Staat steht in einem Verhältnis zur kapitalistischen Wirtschaft. Regierungen sind mit der Gefahr konfrontiert, dass Beschäfti‐ gung und Steuern in ihren Ländern verloren gehen, wenn Unternehmen umsiedeln und die Produktion auslagern. Regierungen sind daher anfällig dafür, eine unternehmensfreundliche Politik zu machen, die die Ausbeutung der Arbeiterklasse unterstützt. Im Kapitalismus ist die Politik auch durch Unterhaltung, Sensationsgier, Personalisierung, Individualismus und Wer‐ bung geprägt. Das Ergebnis davon ist, dass es oft einen Mangel an Zeit für Debatten und öffentlichen Diskussionen in der Politik gibt. Politische Ent‐ scheidungen werden auf der Basis einer Kurzzeitlogik getroffen, der es nur um die Maximierung der Macht und des Stimmenanteils bei der nächsten Wahl geht. Daher unterliegt die Politik in der kapitalistischen Gesellschaft einer Beschleunigungslogik, die darauf abzielt, immer mehr Entscheidungen in immer kürzerer Zeit zu treffen. 167 5.3. Kapitalismus und Zeit 167 <?page no="168"?> 31 Hartmut Rosa. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 288. 32 Ebd., S. 217. Auch die kapitalistische Kultur wird von der der Logik der Beschleuni‐ gung geprägt. Diese Logik manifestiert sich in einem Druck, permanent ak‐ tiv zu sein, neue Aktivitäten zu beginnen, die man niemals zu Ende bringen kann, da dazu nicht genug Zeit vorhanden ist. Außerdem äußert sich kul‐ turelle Geschwindigkeit als Hochleistungssport, Fast Food, schneller Le‐ bensstil, Konsumgüter und Elektronik mit kurzer Lebenszeit, die oft erneuert werden müssen, da es entweder geplante Obsoleszenz gibt oder die Konsu‐ menten die neueste Version haben wollen, um „cool“ und „trendig“ zu blei‐ ben. Kulturelle Beschleunigung bedeutet, dass immer mehr Erfahrungen in immer weniger verfügbare Zeit gepresst werden. Hartmut Rosa schreibt, dass die kulturelle Beschleunigung mit der Angst vor dem Tod zu tun hat, die zu einer Art „panischer Fluchtreaktion“ 31 in der Form einer „Erhöhung des Lebenstempos im Sinne eines Anstiegs der Handlungs- und Erlebnis‐ episoden pro Zeiteinheit führt 32 . Obwohl es sicherlich anthropologische Di‐ mensionen der Beschleunigung gibt, sollte man nicht übersehen, dass es eine spezifische kapitalistische Logik der kulturellen Beschleunigung gibt: Wer‐ bung und Konsumideologie manipulieren die Wünsche der Menschen, so‐ dass der Konsum durch die Schaffung künstlicher Bedürfnisse, die nur durch den Kauf von immer mehr und immer neueren Waren befriedigt werden können, beschleunigt wird Die Logik der Beschleunigung ist eine Manifestation der Akkumulations‐ logik der kapitalistischen Gesellschaft. Die Akkumulation wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht wird von bestimmten Formen der wirt‐ schaftlichen, politischen und kulturellen Beschleunigung begleitet. Abbil‐ dung 5.4 visualisiert die Geschwindigkeitslogik der kapitalistischen Gesell‐ schaft: In der kapitalistischen Wirtschaft drückt sich die Beschleunigung in dem Prinzip „Zeit ist Geld“ aus. Im politischen System des Kapitalismus ma‐ nifestiert sich die Beschleunigung im Prinzip „Zeit ist Macht“. In der kapi‐ talistischen Kultur drückt sich die Beschleunigung in den Prinzipien „Die Zeit drängt“ und „Das Leben ist kurz“ aus. Die Verbindung der Beschleuni‐ gung und des Kapitalismus besteht darin, dass es kombinierte Effekte der Synergien zwischen Akkumulation und der Beschleunigungslogik gibt: Es besteht ein struktureller Druck, immer mehr wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht in immer kürzeren Zeiträumen zu akkumulieren. Der Ka‐ 168 5. Kapitalismus und Kommunikation 168 <?page no="169"?> pitalist implementiert die strukturelle Logik, dass die Geschwindigkeit der Akkumulation erhöht werden muss, damit die Akteure die Konkurrenz überstehen können. Sie müssen entweder mehr in weniger Zeit produzieren und dabei ihre Konkurrenten zerstören oder sie werden selber zerstört. Der Kapitalismus beruht auf der zerstörerischen Logik des Wettbewerbs, die sich in der Akkumulation und der Beschleunigung ausdrückt. Beschleunigung der Wirtschaft: Wirtschaftliche Macht Produktion, Zirkulation und Konsum von mehr Waren in kürzerer Zeit Beschleunigung der Kultur: Kulturelle Macht Produktion und Organisation von mehr Erfahrungen in kürzerer Zeit Beschleunigung der Politik: Politische Macht Produktion und Organisation von mehr Entscheidungen und sozialen Beziehungen in kürzerer Zeit Logik der wirtschaftlichen Akkumulation - „Zeit ist Geld“ Logik der politischen Akkumulation - „Zeit ist Macht“ Logik der kulturellen Akkumulation - „Die Zeit drängt”, „Das Leben ist kurz“ Abbildung 5.4: Die Logik der Beschleunigung in der kapitalistischen Gesellschaft Wirtschaftliche, politische und kulturelle Beschleunigung beruhen nicht auf drei verschiedenen Logiken. Die Annahme, sie seien unabhängig, ist eine dualistische Erklärung, die keine Gemeinsamkeit gesellschaftlichen Seins identifizieren kann. Genauso wie die Produktion das allgemeine Modell der Gesellschaft ist, aber mit emergenten Logiken in den gesellschaftlichen Teil‐ systemen interagiert, beruht auch die Beschleunigung als modernes Phäno‐ men auf der kapitalistischen Logik der Akkumulation, die von der Logik der Kapitalakkumulation der kapitalistischen Wirtschaft geprägt ist. Zugleich hat aber auch jede Art der Beschleunigung eine emergente Form, die eine relative Autonomie besitzt. Die gemeinsame Logik der Beschleunigung in der kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, dass die Logik der Akkumu‐ lation und das ökonomische Prinzip „mehr in weniger Zeit“ der Beschleu‐ 169 5.3. Kapitalismus und Zeit 169 <?page no="170"?> 33 Karl Marx. 1857/ 58/ 1973. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Band 42. Berlin: Dietz. S. 105. nigung zugrunde liegen. Marx schreibt in diesem Zusammenhang: „Ökono‐ mie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf “ 33 . Es gibt drei Verbindungen der drei Logiken der kapitalistischen Beschleu‐ nigung: ■ Wirtschaft ⇔ Politik: Die Akkumulation des Kapitals führt zu Reak‐ tionen des Staates und der Politik. Die zunehmende Komplexität und Geschwindigkeit der Wirtschaft können die Geschwindigkeit der Ent‐ scheidungsfindung in der Politik beschleunigen. Die Beschleunigung der Politik kann umgekehrt die Beschleunigung wirtschaftlicher Pro‐ zesse prägen. ■ Politik ⇔ Kultur: Die Beschleunigung kultureller Prozesse führt zur Produktion und zum Konsum von mehr Erfahrungen pro Zeiteinheit. Als Konsequenz davon nimmt die Komplexität des Alltagslebens zu, was dazu führt, dass mehr kollektive Entscheidungen getroffen wer‐ den müssen und der Entscheidungsprozess schneller stattfinden muss. Die Beschleunigung der Politik bedeutet, dass mehr Entscheidungen pro Zeiteinheit getroffen werden, was zur Zunahme der Bürokratie und zu einer höheren Komplexität der Gesetze und der Regelwerke führt. Die Menschen sind davon in ihrem Alltagsleben betroffen, und es wird von ihnen erwartet, dass sie mit den Regeln, die das Alltags‐ leben regulieren, effizienter umgehen. ■ Wirtschaft ⇔ Kultur: Die Beschleunigung der kapitalistischen Wirt‐ schaft führt zu einem Anstieg der pro Zeiteinheit produzierten und konsumierten Waren. Die Kommodifizierung der Gesellschaft bringt die Erweiterung und Intensivierung der Konsumkultur mit sich. Im‐ mer mehr Waren werden den Menschen angeboten, und immer mehr Bereiche ihres Lebens werden von Waren geprägt. Der Konsum von immer mehr Waren als Teil des Alltagslebens ist eine der Konsequen‐ zen der Beschleunigung der Wirtschaft. Und die Beschleunigung der Kultur, die Intensifikation der Erfahrungen, befördert die wirtschaft‐ liche Beschleunigung, da die kapitalistische Kulturindustrie daran In‐ teresse hat, immer mehr kulturelle Waren zu produzieren, die im be‐ schleunigten Alltagsleben konsumiert werden. 170 5. Kapitalismus und Kommunikation 170 <?page no="171"?> 34 Ebd., S. 604. 35 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band, Kapitel 5. 36 Übersetzung aus dem Englischen: David Harvey. 1990. The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change. Cambridge, MA: Blackwell. S. 229. Die vom Kapitalismus verursachte Beschleunigung kann in Versuchen re‐ sultieren, Entschleunigung, Historizität, Traditionen und einen Sinn für Dauer und Permanenz zu fördern. Beispiele sind Slow Food, bewusstes Ab- oder Einstellen der Online-Verbindungen, Digital Detox-Camps, Yoga und Meditations-Urlaube, langsames Leben, usw. Derartige Reaktionen auf die Beschleunigung haben aber großteils einen ideologischen Charakter, da sie annehmen, dass es individualistische Lösungen für die strukturellen Pro‐ bleme der Gesellschaft wie in diesem Fall dem Zeitmangel gibt. Letztlich schaffen solche Bemühungen neue Sphären der Kapitalakkumulation, in denen die Menschen für die Verlangsamung und Entschleunigung bezahlen, um im Alltag fit für den Hochgeschwindigkeitskapitalismus zu bleiben. Nur die Abschaffung des Kapitalismus erlaubt es den Menschen, Kontrolle über die Organisation ihrer Zeit zu erlangen. „Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann [in einer sozia‐ listischen Gesellschaft] keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die dis‐ posable time das Maß des Reichtums” 34 . Die Rolle der Zeit in der kapitalistischen Wirtschaft Die Umschlagszeit des Kapitals definiert sich als die Gesamtzeit eines Kapitalakkumulationskreislaufes, wozu die Zeit gehört, die benötigt wird, um Kapital in den Kauf von Produktionsmitteln zu investieren, die Produk‐ tionszeit einer neuen Ware sowie die Zeit, die für den Verkauf und den Transport der Ware benötigt wird 35 . Die Umschlagszeit besteht aus der Pro‐ duktions- und der Zirkulationszeit der Ware. Der Kapitalismus ist „durch kontinuierliche Versuche gekennzeichnet, die Umlaufszeiten zu reduzieren und dadurch soziale Prozesse zu beschleunigen, während der Zeithorizont, der zur Verfügung steht, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen, verkürzt wird 36 . Das Modell in Abbildung 5.5 veranschaulicht die Rollen der Zeit in der kapitalistischen Wirtschaft. 171 5.3. Kapitalismus und Zeit 171 <?page no="172"?> 37 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 281. Abbildung 5.5: Zeit in der kapitalistischen Wirtschaft Zur Arbeitszeit gehören sowohl die Lohnarbeitszeit als auch die Reproduk‐ tionsarbeitszeit. Die Reproduktionsarbeitszeit ist die Zeit, die für Arbeit auf‐ gewendet wird, die zur Wiederherstellung (Reproduktion) der Arbeitskraft führt. Es gibt im Kapitalismus die Tendenz zur Ausbildung einer geschlechts‐ spezifischen Arbeitsteilung: eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gibt: Frauen haben weniger Freizeit als Männer. Sie müssen sich oft mehr um Reproduktionsarbeit wie Haushaltsarbeit, Erziehung der Kinder, Tätigkeiten für die Familie etc. kümmern als Männer. Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Kämpfe um die Arbeitszeit, wozu der Kampf um die Länge des Arbeitstages zählt. Das Ka‐ pital möchte die Mehrarbeitszeit und den produzierten Mehrwert maximie‐ ren. „Was es interessiert, ist einzig und allein das Maximum von Arbeitskraft, das in einem Arbeitstag flüssig gemacht werden kann” 37 . Die absolute Mehr‐ wertproduktion ist eine Politik der Zeit, in der die kapitalistische Klasse die absolute Zeit, die die Arbeiterschaft für eine bestimmte Lohnsumme arbeitet, verlängert. Die relative Mehrwertproduktion ist eine kapitalistische Politik 172 5. Kapitalismus und Kommunikation 172 <?page no="173"?> 38 Moishe Postone. 1993. Time, Labor, and Social Domination. A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory. Cambridge: Cambridge University Press. S. 289-290. 39 Karl Marx. 1894/ 1964. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. MEW Band 25. Translated by Ben Fowkes. Berlin: Dietz. S. 404. der Zeit, die die Qualität der Produktionsmittel verändert (zum Beispiel durch den Einsatz neuer Technologien), um die Produktivität, also den pro Zeiteinheit produzierten Wert und die Menge der pro Zeiteinheit herge‐ stellten Waren, zu erhöhen. Im Kapitalismus gibt es eine Dialektik von Arbeit und Zeit 38 . Zwei Stunden abstrakter Arbeit sind immer 120 Minuten Verausgabung von menschlicher Energie im Arbeitsprozess. Steigt die Produktivität, so nimmt die Anzahl der in diesen 120 Minuten produzierten Waren zu. Daher nimmt mit ansteigen‐ der Produktivität die durchschnittlich in der einzelnen Ware kristallisierte Arbeiszeit ab. Die Dialektik von Arbeit und Zeit hat zu der historischen Tendenz geführt, dass eine Stunde abstrakter (also wertschaffender) Arbeit zu einer zunehmenden Anzahl von pro Zeiteinheit durch die konkrete Arbeit hergestellten Gebrauchswerte führt. Der kapitalistische Antagonismus zwischen Produktivkräften und Pro‐ duktionsverhältnissen ist auch ein Antagonismus zwischen Arbeit und Zeit: Die kapitalistische Entwicklung weitet die Möglichkeiten aus, die harte Ar‐ beit abzuschaffen, die Normalarbeitszeit zu reduzieren und die freie Zeit, während der die Menschen frei von der notwendigen Arbeit sind, zu erhö‐ hen. Zugleich schlägt die Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalis‐ tischen Verhältnissen ins Gegenteil um: Die Arbeit ist entfremdet; einige machen sehr viele Überstunden, während andere arbeitslos sind, prekär ar‐ beiten oder lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können. Unter den kapitalistischen Bedingungen ist die Arbeitszeit entfremdete Arbeits‐ zeit. Der Kapitalismus produziert sozialistische Potentiale, befördert aber zugleich die Ausbeutung und Prekarität der Arbeit. Beim Finanzwesen handelt es sich um den ökonomischen Bereich der Produktion und Zirkulation des Geldes. Die Zirkulation des Finanzkapitals hat sich historisch durch Mittel wie Bankkonten, Banküberweisungen, Kre‐ dit- und Debitkarten, elektronische Bezahlung, algorithmischer und ver‐ netzter Finanzhandel, Kryptowährungen, usw. beschleunigt. Marx 39 argu‐ mentiert, dass das Finanzkapital der Formel G (Geld) - G‘ (mehr Geld) folgt. In Formen des Finanzkapitals wie Verbraucherkrediten, Hypotheken, Ak‐ tien, Bonds und Derivaten wird aus Geld mehr Geld. Dies wird vermittelt 173 5.3. Kapitalismus und Zeit 173 <?page no="174"?> 40 Ebd., Kapitel 25. 41 Ebd., S. 486. 42 Siehe: Harvey, The Condition of Postmodernity. über Schulden und den Aufschub von Zahlungen in die Zukunft. Das Fi‐ nanzkapital ist ein Anspruch auf Zahlungen, die in der Zukunft geleistet werden. Diese zukünftigen Zahlungen werden aus Profiten oder Löhnen getätigt. Da das Finanzkapital ein Versprechen und ein Anspruch auf Geld ist, das noch nicht existiert, und von dem erwartet wird, dass es in der Zu‐ kunft erwirtschaftet werden kann, spricht Marx vom Finanzkapital als dem fiktiven Kapital 40 . „Alle diese Papiere stellen in der Tat nichts vor als akku‐ mulierte Ansprüche, Rechtstitel, auf künftige Produktion” 41 . Wenn aber die dem Anspruch auf Zukünftiges zugrunde liegenden Sicherheiten zusam‐ menbrechen (wenn zum Beispiel eine Firma bankrott wird oder jemand ar‐ beitslos wird, sodass Schulden nicht mehr zurückgezahlt werden können), dann ist das Finanzkapital mit der Gefahr kontrontiert, keine Gewinne zu erzielen. Auf den Finanzmärkten ist der Wert der Aktien spekulativ und nicht an die realen Profite eines Unternehmens geknüpft, sondern an die Erwartungen zukünftiger Profite. Finanzderivate machen bestimmte Res‐ sourcen (wie etwa Subprime-Kredite im Fall der Finanzialisierung des Woh‐ nungsmarktes in den USA, die im Jahr 2008 eine Weltwirtschaftskrise aus‐ löste) zu hochspekultativen Instrumenten, die auf Finanzmärkten gehandelt werden. Das fiktive Kapital ist der Versuch des Kapitals, seine Akkumulati‐ onsprobleme zu überwinden und die Krise durch eine zeitliche Fixierung in die Zukunft zu verschieben 42 . Digitale Technologien und der algorithmische Finanzhandel haben dabei mitgeholfen, die Geschwindigkeit der Finanz‐ transaktionen zu erhöhen, was zugleich aber das Risiko der Finanzderivate und der Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Wirtschaft erhöht hat. Beruhend auf der bisherigen Analyse dieses Kapitels können wir im nächsten Abschnitt einen Blick auf die Rolle der Kommunikation in der ka‐ pitalistischen Wirtschaft werfen. 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation In diesem Abschnitt werden zwei miteinander verbundene Dimensionen des Verhältnisses von Kommunikation und Kapitalismus diskutiert: 1) Geld als die Warensprache, 2) Sprache und Kommunikation als Waren. 174 5. Kapitalismus und Kommunikation 174 <?page no="175"?> 43 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 66. 44 Ebd., S. 66-67. 45 Ebd., Kapitel 1, Abschnitt 3. Geld und Wert als Warensprache Das Geld ist eine besondere Struktur, die den Austausch von Waren in der Gesellschaft vermittelt. Eine derartige Vermittlung ist auch eine Form der Kommunikation, die einen besonderen Charakter hat: Geld vermittelt den Austausch als eine Form der Kommunikation, die instrumentell, nonverbal, vermittelt, anonym, unpersönlich, abstrakt, fetischiert (abstrahiert von un‐ mittelbaren sozialen Beziehungen), verdinglicht und bedeutungsleer ist. Die Rolle des Geldes im Kapitalismus ist die Kommunikation der Warenpreise auf den Warenmärkten, was ermöglicht, dass die Werte und Preise der Wa‐ ren im Tauschprozess abstrakt gleichgesetzt werden. Marx spricht daher vom Wert und vom Geld als „der Warensprache“ 43 : „Man sieht, alles, was uns die Analyse des Warenwerts vorher sagte, sagt die Leinwand selbst, sobald sie in Umgang mit andrer Ware, dem Rock, tritt. Nur verrät sie ihre Gedanken in der ihr allein geläufigen Sprache, der Wa‐ rensprache. Um zu sagen, dass die Arbeit in der abstrakten Eigenschaft menschlicher Arbeit ihren eignen Wert bildet, sagt sie, dass der Rock, soweit er ihr gleichgilt, also Wert ist, aus derselben Arbeit besteht wie die Leinwand. Um zu sagen, dass ihre sublime Wertgegenständlichkeit von ihrem steiflei‐ nenen Körper verschieden ist, sagt sie, dass Wert aussieht wie ein Rock und daher sie selbst als Wertding dem Rock gleicht wie ein Ei dem andern. Ne‐ benbei bemerkt, hat auch die Warensprache, außer dem Hebräischen, noch viele andre mehr oder minder korrekte Mundarten. Das deutsche »Wert‐ sein« drückt z. B. minder schlagend aus als das romanische Zeitwort valere, valer, valoir, dass die Gleichsetzung der Ware B mit der Ware A der eigne Wertausdruck der Ware A ist. Paris vaut bien une messe! “ 44 In Marx‘ Gleichung 20 Ellen Leinwand = 1 Rock = 2 Unzen Geld 45 , hat Geld die Rolle, dass es die Waren im Tauschprozess kommensurabel und vergleichbar macht, indem es deren Preise kommuniziert. Die verdinglichte Form der Sprache und der Kommunikation im Kapitalismus Geld und Wert sind nicht nur die Sprache der Waren, sondern die Logik der Warenform, des Werts und des Geldes - die Logik der Verdinglichung - prägt 175 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 175 <?page no="176"?> 46 Max Horkheimer. 1953-1955. Aristotelische Betrachtung über Zivilisation. In Max Hork‐ heimer Gesammelte Schriften Band 14: Nachgelassene Schriften 1949-1972, 64. Frankfurt am Main: Fischer. S. 64. 47 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. 1947. Dialektik der Aufklärung: Philoso‐ phische Fragmente. In Max Horkheimer Gesammelte Schriften Band 5: »Dialektik der Aufklärung« und Schriften 1940-1950, 5-290. Frankfurt am Main: Fischer. S. 252. 48 Ebd., S. 287. 49 Ebd., S. 17. 50 Herbert Marcuse. 1967/ 1994. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fort‐ geschrittenen Industriegesellschaft. München: dtv. S. 104. auch zu einem gewissen Grad den Sprachgebrauch im Kapitalismus. Sprache ist im Kapitalismus also eine verbogene, ideologische, eindimensionale Sprache. Die instrumentelle Vernunft zerstört nicht nur die grundlegende Dialektik der Kooperation als wesentliche Begegnung der Menschen in der Gesellschaft, sondern auch die geistige und sprachliche Fähigkeit des Men‐ schen, den Widerspruch zu denken und zu kommunizieren. Wo kommuni‐ ziert wird, aber die realen Widersprüche der Gesellschaft durch die und in der Kommunikation nicht benannt werden, verstummt die Wahrheit. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno meinen in diesem Zusammen‐ hang: „Anstelle der Dialektik tritt der Monolog der Macht, das Reden ist Schein, in Wahrheit ist alles stumm“ 46 . „Die Kommunikation besorgt [im Kapitalismus] die Angleichung der Menschen durch ihre Vereinzelung“ 47 . „Propaganda macht aus der Sprache ein Instrument, einen Hebel, eine Ma‐ schine“ 48 . „Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem un‐ entrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird, so muss der Versuch, solcher Depravation auf die Spur zu kommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen, ehe deren welthistorische Konsequenzen ihn vollends vereiteln” 49 . Herbert Marcuse argumentiert, dass Werbung, Propaganda, Ideologie, kommerzielle Medien und die Kulturindustrie zur systematischen „Förde‐ rung des positiven Denkens und Handelns” und zum „planmäßigen Angriff auf transzendente, kritische Begriffe” 50 führen. Die Schaffung und Verbrei‐ tung eindimensionaler Sprache zielt darauf ab, dass Konsumenten Waren kaufen, die Arbeiterschaft den Kapitalismus akzeptiert und nicht in Frage stellt und die Bürger der Herrschaft und der Ideologie zustimmen. Zwei Beispiele: Wird von der „unternehmerischen Gesellschaft“ gespro‐ chen, so entsteht der Eindruck, dass jeder ein Erfinder ist und sein kann, der Erfolg hat und reich wird, wobei im Universum der verwendeten Sprache unbeachtet bleibt, dass im Kapitalismus nur einige reich und erfolgreich 176 5. Kapitalismus und Kommunikation 176 <?page no="177"?> 51 Ebd., S. 88. 52 Ebd., S. 148. 53 Ebd., S. 119. sind, während andere mit den Konsequenzen der Ungleichheit, der Ausbeu‐ tung und mit Prekarität konfrontiert sind. Die Begriffe „Public Relations“ und „Öffentlichkeitsarbeit“ schaffen den Eindruck, dass Unternehmen und Demagogen darauf abzielen, die Öffentlichkeit neutral über Neuigkeiten zu informieren. Es wird dadurch ausgelassen, darauf hinzuweisen, dass öko‐ nomische Propaganda darauf abzielt, dass Waren verkauft werden, um Profit zu erzielen, und dass ideologische und politische Propaganda die Akkumu‐ lation und Zentralisation der Macht zum Ziel haben. Die Alternative ist eine dialektische, „nichtverdinglichte Sprache”, die es versteht, „das Negative mitzuteilen” 51 , und für die der „widerspruchsvolle, zweidimensionale Denkstil“ 52 charakteristisch ist, durch den die Antagonis‐ men der Gesellschaft benannt und kritisiert werden. So ist etwa Marx‘ Spra‐ che eine Form der dialektischen Kritik: Spricht Marx zum Beispiel von Klas‐ sen und der Klassengesellschaft, so ist die Implikation davon, dass eine klassenlose Gesellschaft politisch notwendig ist. Wird das Rätsel des Kapi‐ talismus als die Ausbeutung der Arbeit und die Produktion des Mehrwerts benannt, so folgen daraus die Forderung, dass die Ausbeutung und das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft werden sollen und eine gemeingutorientierte Gesellschaft, in der die Menschen gemeinsam be‐ sitzen, produzieren und entscheiden, an die Stelle der Klassengesellschaft gesetzt werden soll. „Die ‚Bourgeoisie‘ ist das Subjekt des technischen Fort‐ schritts, der Befreiung, des Sieges über die Natur, der Schaffung gesell‐ schaftlichen Reichtums und der Entstellung und Zerstörung dieser Errun‐ genschaften. Entsprechend hat das ‚Proletariat‘ die Attribute totaler Unterdrückung und totaler Aufhebung der Unterdrückung” 53 . Die kritische, dialektische Sprache benennt mit ihren Kategorien die Ne‐ gativität, also die bestehenden Antagonismen, und bringt damit zugleich die Anklage der Ungerechtigkeit und die Forderung nach Alternativen zum Ausdruck. „Wenn z. B. gesagt wird, dass Begriffe wie Arbeitslohn, Wert der Arbeit, Unternehmergewinn nur Kategorien für Erscheinungsformen sind, hinter denen die ‚wesentlichen Verhältnisse‘ der zweiten Begriffsreihe ver‐ borgen sind, so stellen diese wesentlichen Verhältnisse erst und nur insofern die Wahrheit der Erscheinungsform dar, als in den sie erfassenden Begriffen bereits ihre Aufhebung steckt: das Bild einer mehrwertlosen gesellschaftli‐ 177 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 177 <?page no="178"?> 54 Herbert Marcuse.1936. Zum Begriff des Wesens. Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1): 1-39. S. 37. chen Organisation. Die materialistischen Begriffe enthalten alle eine An‐ klage und eine Forderung“ 54 . Tabelle 5.3 zeigt Beispiele für Kategorien, die Marx verwendet, um die Reproduktion und Affirmation des Kapitalismus, der Herrschaft und der Klassengesellschaft zu beschreiben. Diese Kategorien sind negativ, also an‐ tagonistisch, da sie immer in einer Beziehung zu einer Alternative stehen, die in transzendenter Weise über die Ausbeutung und die Herrschaft hin‐ ausweist. Marx‘ affirmative Kategorien verweisen auf ihre eigene Trans‐ zendenz und ihre Selbstaufhebung, der die Aufhebung des Kapitalismus vorausgeht. Viele dieser Kategorien sind nicht automatisch kritisch und können in nichtmarxistischen Verwendungsweisen als Ideologie agieren, die den Kapitalismus affirmiert. Das Entscheidende an Marx’schen Katego‐ rien ist, dass sie immer negativ sind: Als Formen der Kritik wollen sie die Praxis und den Klassenkampf informieren, die auf die Schaffung einer klas‐ senlosen Gesellschaft abzielen, sodass die Phänomene, die die negativen Kategorien beschreiben, aufgehoben werden. Positivistische Kategorien af‐ firmieren im Gegensatz dazu Klasse und Herrschaft, indem es ihnen an der Perspektive des Klassenkampfes und des Sozialismus mangelt. Affirmation Transzendenz Kapitalismus Sozialismus Klassengesellschaft Klassenlose Gesellschaft Bourgeoisie Proletariat Ausbeutung Klassenkampf Privateigentum Gemeineigentum Ware Geschenk: jedem nach seinen Bedürfnissen Wertproduktion/ Verwertungs‐ prozess Produktionsprozess Tauschwert Gebrauchswert Arbeit Werktätigkeit: jeder nach seinen Fähigkeiten Abstrakte Arbeit Konkrete Arbeit 178 5. Kapitalismus und Kommunikation 178 <?page no="179"?> Mehrarbeitszeit Freie Zeit Reich der Notwendigkeit Reich der Freiheit Akkumulation/ Zirkulation/ Reproduktion des Kapitals Krise Ideologie Kritik Nationalismus Internationalismus Entfremdung Wirkliche Aneignung Tabelle 5.3: Die Dialektik affirmativer und transzendentaler Kategorien in der Marx’‐ schen Theorie Kommunikation als Ware Information und die Kommunikation der Information sind sonderbare Wa‐ ren: Information wird im Konsum nicht aufgebraucht, sodass es keine Ri‐ valität im Konsum gibt. Kaufe ich einen Apfel und esse ihn, so kann ihn keine andere Person essen. Kaufe ich hingegen ein Musikstück im Apple iTunes Store, so kann ich es immer wieder anhören und andere können dasselbe zum selben oder zu anderen Zeitpunkten machen. Es gibt keine physische Abnützung der Information. Da Information einfach und billig kopiert, publiziert, verbtreitet und heruntergeladen werden kann, ist es schwierig, andere vom Zugang dazu auszuschließen. Der sonderbare Cha‐ rakter der Information macht es schwieriger, sie als Ware zu verkaufen, als dies bei anderen Gütern der Fall ist. Das sogenannte „Raubkopieren“ von Information hat die Geschichte der Kulturindustrie und der digitalen Indus‐ trie im Kapitalismus begleitet. Unternehmen haben auch kontinuierlich ver‐ sucht, mit der Hilfe von Urheberrechtsschutztechnologien, Überwachungs‐ technologien und der Gesetzesgewalt neue Wege der Überwachung und der Kontrolle der Verbreitung von Informationswaren zu finden, sodass Urhe‐ berrechte durchgesetzt werden und Urheberrechtsverletzungen bestraft werden. Es gibt eine Fülle von Waren und daher auch von Kapitalakkumu‐ lationsmodellen in der kapitalistischen Kommunikationsindustrie. Tabelle 5.4 gibt einen Überblick. 179 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 179 <?page no="180"?> Name des Modells Beispiele Ware Warenproduzie‐ rende Arbeiter Medieninhalts-Mo‐ dell Microsoft, SAP, Adobe, Walt Disney, Universal Music, Sony Music, Warner Music, Sprin‐ ger, Elsevier, Pearson Inhalte (wie Soft‐ ware, Musik, Vi‐ deos, Film, Texte und andere Informa‐ tionen) Künstler, Inhalts‐ produzenten, Soft‐ wareingenieure Mediendienstleis‐ tungs-Modell Unternehmen, die Call‐ center und Unterneh‐ mensdienstleistungen bereitstellen wie z. B. Atento, DialAmerica, Qualfon; Werbe- und PR-Agenturen wie WPP, Omnicom, Publi‐ cis Groupe, Interpublic, etc. Mediale und digitale Dienstleistungen Dienstleister Werbungs-Modell Facebook, Google, WPP, Omnicom, Ten‐ cent, Baidu Werbung, Aufmerk‐ samkeit, persönli‐ che Daten Publikum, Nutzer (unbezahlte Publi‐ kumsarbeit und di‐ gitale Arbeit) Hardware-Modell Apple, HP, Dell, Hon Hai Precision, Hitachi, Nokia, Sony Technologien für die Produktion, Distri‐ bution und den Kon‐ sum von Informa‐ tion Ingenieure, Mon‐ teure Netzwerk-Modell AT&T, Comcast, Ver‐ izon, China Mobile, Deutsche Telekom, Te‐ lefónica Zugang zu Kommu‐ nikationsnetzwer‐ ken (Rundfunk, In‐ ternet, Telefon, Mobilfunk) Techniker, Dienst‐ leister Onlinehandel-Mo‐ dell Amazon, Alibaba, iTu‐ nes Vertrieb und Ver‐ kauf unterschiedli‐ cher (physischer und nichtphysischer Waren) über Online‐ shops Lagerarbeiter, In‐ genieure, Dienst‐ leister Abonnement und Streaming-Modell Netflix, Spotify, Ama‐ zon Prime, Disney Plus Zugang zu Biblio‐ theken mit digitalen Inhalten (Musik, Filme, Bücher, usw.) Techniker, Dienst‐ leister Cloud-Spei‐ cher-Modell Webhosting: GoDaddy, 1&1, Amazon Web Ser‐ vices; Cloudcompu‐ ting-Dienste: Dropbox, Apple iCloud, Mega, Sync, Amazon Drive Online-Speicher‐ platz, Web-Spei‐ cherplatz Techniker, Dienst‐ leister 180 5. Kapitalismus und Kommunikation 180 <?page no="181"?> Name des Modells Beispiele Ware Warenproduzie‐ rende Arbeiter Sharing Economy Plattform-Modell Upwork, Uber, Airbnb, Deliveroo, Amazon Mechanical Turk Rente für die die Vermittlung von Dienstleistungen über Online-Platt‐ formen Freiberufler, Crowd-Arbeiter, Online-Dienstleis‐ ter Gemischte Modelle Traditionelle Tageszei‐ tungen, die gedruckte Exemplare, Abos und Werbeplatz verkaufen: z. B. Yomiuri Group (publiziert die Zeitung Yomiuri Shimbun, die mit einer Auflage von fast 10 Millionen die weltgrößte Tageszei‐ tung ist), Gannett (USA Today), Dow Jones & Company (Wall Street Journal), Springer (Bild-Zeitung, Die Welt), usw.; Spotify (kombiniert Werbung und Abos für einen Musik-Strea‐ ming-Dienst); Amazon (Onlinehandel, Hard‐ ware [Kindle, Fire, Echo], Inhalte [Wa‐ shington Post], Web- und Cloud-Hosting, Streaming-Dienste [Prime, Music Unlimi‐ ted]); usw. Verkauf verschiede‐ ner Kommunikati‐ onswaren Verschiedene Kommunikations‐ arbeiter Tabelle 5.4: Modelle der Kapitalakkumulation in der kapitalistischen Kommunikati‐ onsindustrie Die in Tabelle 5.4 aufgelisteten Modelle schließen einander nicht aus. Es gibt Kommunikationskonzerne, die Kapital akkumulieren, indem sie verschie‐ dene Modelle kombinieren. Denken wir zum Beispiel an Amazon: Amazon verkauft stoffliche und nichtstoffliche Güter über einen Online-Shop, Hard‐ ware (Kindle), Streaming-Dienste (Prime), Inhalte/ Werbung/ Abonnements (Washington Post), Werbung (Amazon Advertising), und Web- und Cloud-Speicher-Dienste (Amazon Web Services). Kapitalistische Kommunikationsunternehmen unterscheiden sich durch die Art der Arbeiter, die sie beschäftigen, und die Art der Waren, die sie 181 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 181 <?page no="182"?> produzieren und verkaufen. Zur von Kommunikationsunternehmen ausge‐ beuteten Kommunikationsarbeit gehören körperliche Arbeiten (wie die Ar‐ beit der chinesischen Foxconn-Arbeitenden, die iPhones zusammenmontie‐ ren oder die Tätigkeit von Lagerarbeitern bei Amazon) sowie geistige/ informationelle/ wissensbasierte Arbeiten (wie etwa die Arbeit des Softwa‐ reingenieurs und des Designers, die Software für Adobe programmieren und gestalten; der Call Center-Angestellte, der eingehende Anrufe beantwortet oder versucht, durch Anrufe bestimmte Waren zu verkaufen). Zu den in der Kommunikationsindustrie verkauften Waren gehören physische Waren, insbesondere Hardware/ Medientechnologien, und nichtdingliche Waren wie Mediendienste, Werbungen, der Zugang zu Kommunikationsnetzwer‐ ken, der Verkauf (dinglicher und nichtdinglicher) Waren in Online-Shops, Zugang zu Bibliotheken mit bestimmten Inhalten, digitaler Speicherplatz, die Eintreibung von Renten für auf Plattformen geleistete Dienste, usw. Die Grenzen zwischen den Kapitalakkumulationsmodellen der kapitalistischen Kommunikationsindustrie sind flüssig, da viele transnationale Medienun‐ ternehmen Konglomerate sind, die verschiedene Arten von Kommunikati‐ onswaren verkaufen. Zeitungen und Magazine haben traditionellerweise gemischte Modelle verwendet, bei denen Exemplare, Abos und Werbung verkauft werden. Aber auch einige Online-Unternehmen wie Spotify ver‐ wenden ein gemischtes Modell, bei dem Werbung und Abos verkauft wer‐ den. Rupert Murdochs Medienimperium ist ein klassisches Beispiel für ein Konglomerat, das verschiedene Kommunikationsprodukte produziert und anbietet: Inhalte (News Corp besitzt Zeitungen wie The Wall Street Journal, The Times, The Sun, New York Post, The Australian usw.), Kommunika‐ tionsnetzwerke (Fox TV), Werbungen werden in einer Fülle von Murdoch- Medien präsentiert, einige Kanäle verwenden Abos oder Pay-per-View, usw. Ein Mediensegment, in dem das Murdoch-Imperium wirtschaftlich nicht besonders erfolgreich ist, ist jenes der Internetplattformen. So ist etwa der Kauf des sozialen Netzwerkes MySpace durch den Aufstieg von Facebook schiefgegangen. News Corporation kaufte MySpace im Jahr 2005 um 580 Millionen US-Dollar und verkaufte die Plattform im Jahr 2011 um etwa 35 Millionen US-Dollar. 182 5. Kapitalismus und Kommunikation 182 <?page no="183"?> 55 Zur Erläuterung des Konzepts der neuen internationalen kulturellen Arbeitsteilung siehe: Toby Miller, Nitin Govil, John McMurria, Richard Maxwell and Ting Wang. 2004. Global Hollywood 2. London: British Film Institute. Zur Erläuterung der Kategorie der internationalen Teilung der digitalen Arbeit siehe: Christian Fuchs. 2014. Digital Labour and Karl Marx. New York: Routledge. Christian Fuchs. 2015. Culture and Economy in the Age of Social Media. New York: Routledge. Bergarbeiter - S Natur - T Mineralien Verarbeiter - S O - T Bauelemente Monteure - S O - T Kommunikationstechnologien Informationsarbeiter - S O - T Information, Inhalte Extraktionsarbeit Industriearbeit Informations- und Dienstleistungsarbeit INTERNATIONALE TEILUNG DER KOMMUNIKATIONSARBEIT Abbildung 5.6: Die internationale Teilung der Kommunikationsarbeit Die verschiedenen Arten der Arbeit, die bei der Herstellung von Informati‐ ons- und Kommunikationsprodukten beteiligt sind, sind in einem interna‐ tionalen Klassenverhältnis organisiert - der internationalen Teilung der Kommunikationsarbeit (siehe Abbildung 5.6). Kommunikationskonzerne beuten Arbeiter aus, die unterschiedliche Kommunikationswaren herstellen (siehe Tabelle 5.4. & 5.5) und siedeln die Produktion in Regionen und Län‐ dern an, die es ihnnen erlauben, die Profite zu maximieren, indem die Arbeit so weit wie möglich ausgebeutet wird. Daraus resultiert die internationale Teilung der Kommunikationsarbeit 55 , in der die Produkte einer bestimmten Form der Kommunikationsarbeit den Input für eine andere Kommunikati‐ onsarbeit darstellen. Die globalen Kommunikationsarbeiter sind objektiv 183 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 183 <?page no="184"?> 56 Datenquelle: Forbes 2000 List of the World’s Largest Public Companies, Jahr 2018, http : / / forbes.com/ global2000/ list, aufgerufen am 28. August 2018. durch den Umstand vereint, dass sie für globale Kommunikationskonzerne produzieren und von diesen ausgebeutet werden. Ein Beispiel dafür, wie die internationale Teilung der Kommunikations‐ arbeit funktioniert: Hochgradig ausgebeutete und unterdrückte Arbeiter ex‐ trahieren in von Kriegen, Krisen und Konflikten erschütterten Regionen wie dem Kongo Mineralien wie Coltan, Kassiterit, Wolframit, Gold, Wolfram, Tantal oder Zinn, die die physische Grundlage von Kommunikationstech‐ nologien darstellen. Oft passiert das unter sklavenartigen Bedingungen. Sol‐ che Mineralien werden zu Komponenten verarbeitet, die von Monteurinnen in Unternehmen wie den Foxconn-Fabriken in China zusammengebaut wer‐ den, woraus iPhone-Telefone, Laptops, Konsolen, Desktop-Computer, Tab‐ lets, Drucker, usw. werden. Kulturschaffende wie die Freiberufler, die auf Plattformen wie Upwork nach Kurzzeitjobs suchen, verwenden das iPhone, Dell- oder Apple-Computer, usw. als Produktionsmittel, um kulturelle und digitale Inhalte zu produzieren. Auf derartigen Computern laufen Softwareanwendungen, die von Softwareingenieuren entwickelt werden, die für Unternehmen wie Microsoft, Adobe, SAP, usw. arbeiten. Wenn die Kom‐ munikationsarbeiter aufhören, ihre Produktionsmittel zu verwenden, so en‐ den diese Kommunikationstechnologien oft als Elektronikschrott in Ent‐ wicklungsländern, wo sie die Arbeiter, die die Maschinen auseinanderbauen, und die Umwelt vergiften. Die Produkte, die von Arbeitern produziert wer‐ den, die von globalen Kommunikationskonzernen (wie Foxconn, Apple, Up‐ work, Microsoft und Dell im diskutierten Beispiel) ausgebeutet werden, und die zu Grunde liegenden Arbeitsformen sind durch die internationale Tei‐ lung der Kommunikationsarbeit verknüpft. Diese Arbeitsteilung ist ein globales Klassenverhältnis zwischen ver‐ schiedenen Kommunikationsarbeitern auf der einen Seite und globalen Kommunikationskonzernen auf der anderen Seite. Letzte beuten erste aus, um massive Profite zu erzielen. So waren zum Beispiel im Jahr 2018 sieben Kommunikationskonzerne unter den 25 weltgrößten Konzernen: Apple (#8, Profit von 53,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017), Samsung Electronics (#14, 41 Mrd. US-Dollar), AT&T (#15, 30,6 Mrd. US-Dollar), Verizon Communica‐ tions (#18, 31,2 Mrd. US-Dollar), Microsoft (#20, 14,2 Mrd. US-Dollar), Al‐ phabet/ Google (#23, 16,6 Mrd. US-Dollar), China Mobile (#25, 16,9 Mrd. US-Dollar) 56 . Diese Konzerne operieren in den Bereichen Software, Wer‐ 184 5. Kapitalismus und Kommunikation 184 <?page no="185"?> 57 Datenquellen: McKinsey & Company. 2016. Global Media Report 2016. London: McKin‐ sey & Company. CSI Market (https: / / csimarket.com/ Industry/ Industry_Data.php), Sta‐ tista (http: / / www.statista.com), aufgerufen am 29. August 2018, bung, Kommunikationshardware, Telekommunikation, Onlinedienste und Cloud-Speicherung. Fünf dieser sieben globalen Konzerne haben ihre Hauptquartiere in den Vereinigten Staaten, eines der Unternehmen ist aus Südkorea (Samsung) und eines aus China (China Mobile). Industrie Umsatz 2018 Datenquelle Software 688 Mrd. US$ Statista/ Forrester Telekommunikationsdienste 643 Mrd. US$ Statista/ Forrester Technologieberatung und Systeminte‐ gration 637 Mrd. US$ Statista/ Forrester Breitband 577,324 Mrd. US$ McK Werbung 539,664 Mrd. US$ McK Outsourcing von Technologien und Hardwarewartung 537 Mrd. US$ Statista/ Forrester Fernsehen 458,461 Mrd. US$ McK Computertechnologien 367 Mrd. US$ Statista/ Forrester Kommunikationstechnologien 341 Mrd. US$ Statista/ Forrester Halbleiter 267,500 Mrd. US$ CSIMarket Internetdienste und soziale Medien 211,172 Mrd. US$ CSIMarket Buchverlage 118,08 Mrd. US$ Statista/ PwC Videospiele 114,214 Mrd. US$ McK Zeitungen 111,246 Mrd. US$ McK Musik (inklusive Radio, aufgezeichnete Musik, digitale Musik) 96,014 Mrd. US$ McK Magazine 47,566 Mrd. US$ McK Kino 46,252 Mrd. US$ McK Tabelle 5.5: Umsatz der Sektoren der globalen Kommunikationsindustrie im Jahr 2018 57 185 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 185 <?page no="186"?> 58 Manfred Knoche. 1999. Das Kapital als Strukturwandler der Medienindustrie - und der Staat als sein Agent? Lehrstücke der Medienökonomie im Zeitalter digitaler Kommu‐ nikation. In Strukturwandel der Medienwirtschaft im Zeitalter digitaler Kommunikation, hrsg. Manfred Knoche und Gabriele Siegert, 149-193. München: Verlag Reinhard Fi‐ scher. Tabelle 5.5 zeigt die Umsätze von verschiedenen Sektoren der globalen Kommunikationsindustrie im Jahr 2018. Bei den Daten handelt es sich um Schätzungen, die aus verschiedenen Studien und statistischen Quellen stam‐ men. Laut diesen Daten sind Software, Telekommunikation, technische Dienstleistungen, Werbung, Fernsehen und Kommunikationshardware die größten Kommunikationsindustrien. Manfred Knoche 58 hat gezeigt, dass die Tendenz zur Schaffung eines uni‐ versellen Mediensystems, die durch digitale Medien und das Internet geför‐ dert worden ist, das Ergebnis des kapitalistischen Akkumulationstriebes ist. Die Konvergenz von Medientechnologien ist das Ergebnis der Kapitalkon‐ zentration und von Monopolisierungstendenzen. Dieser Tendenz der uni‐ versellen Kommodifizierung der Kommunikation wird durch die Entwick‐ lung neuer nichtkommerzieller, nichtprofitierentierter, gemeingutorientierter Medien widersprochen. Ein universelles Mediensystem, in dem die Produktion, die Distribution und der Konsum der Information in einem Me‐ dium konvergieren, ist mit dem Aufstieg von vernetzten Digitalmedien wie dem Internet realisiert worden. Sogenannte „soziale Medien“ fördern eine andere Form der Konvergenz, nämlich die Konvergenz von Produktion/ Konsumption (Prosumenten, Prosumption), Arbeitszeit/ Freizeit und von Privatsphäre/ Öffentlichkeit. Die Werbeindustrie Die meisten kapitalistischen Kommunikationsindustrien folgen dem klassi‐ schen Muster der Kapitalakkumulation G - W .. P .. W’ - G’: Arbeiter produ‐ zieren eine Kommunikationsware wie zum Beispiel den Zugang zu Inhalten, Kommunikationstechnologien, Software oder Kommunikationsdienste, die an Konsumenten verkauft wird, um Kapital zu akkumulieren. Bei der Werbung verhält es sich etwas anders. Wirtschaftlich betrachtet ist die Werbung nicht nur eine der größten Kommunikationsindustrien, sondern sie hat auch eine sonderbare Kommunikationsware. Eine Ware ist ein Gut, das im Austausch ist für Geld verkauft wird. Der Inhalt einer Werbung wird nicht an Konsumenten verkauft. Konsumenten zahlen nicht für den Zugang zur Werbung. 186 5. Kapitalismus und Kommunikation 186 <?page no="187"?> 59 McKinsey & Company. 2016. Global Media Report 2016. London: McKinsey & Company. S. 13. 60 Ofcom. 2012. International Communications Market Report 2012. London: Ofcom. S. 21. 61 Ebd. 62 Datenquelle: Global GDP data in current prices, US$: IMF Data Mapper, http: / / www.im f.org, aufgerufen am 29. August 2018. Daten zum Werbeumsatz laut: McKinsey & Com‐ pany, Global Media Report 2016. Laut einer Studie hat der globale Werbeumsatz von 360 Milliarden briti‐ sche Pfund im Jahr 2010 auf 540 Milliarden im Jahr 2018 und 602 Milliarden im Jahr 2020 zugenommen 59 . Im Jahr 2009 nahmen die globalen Werbeaus‐ gaben um 10 Prozent ab 60 . Die Weltwirtschaftskrise, die im Jahr 2008 begann, resultierte in einer Welle von Konkursen und fallenden Profitraten. Das führte dazu, dass weniger Kapital für Werbeinvestitionen vorhanden war, und es weniger Appetit bei den Konsumenten zur Ausweitung des Waren‐ konsumes gab. Im Jahr 2011 erreichte der globale Werbeumsatz dasselbe absolute Niveau wie im Jahr 2008 61 . Der Anteil des globalen Werbeumsatzes am globalen Bruttosozialprodukt betrug 0,5 Prozent im Jahr 2010 und 0,6 Prozent in den Jahren 2018 und 2020 62 . Insgesamt ist also die relative Größe der Werbeausgaben innerhalb der Zeitdauer von einer Dekade relativ kon‐ stant geblieben. c (Technologien, Infrastruktur) G - W . . P 1 . . P 2 . . W - G v 1 (bezahlt) v 2 (Unbezahlte Arbeit des Publikums und der Nutzer) Abbildung 5.7: Der Kreislauf der Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie Werbefinanzierte Kommunikationsunternehmen stellen eine sonderbare Art des kapitalistischen Unternehmens dar. Werbung ist Warenideologie, die versucht, die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche zu manipulieren, um den Warenverkauf zu fördern. Abbildung 5.7 veranschaulicht den Prozess der Kapitalakkumulation in der Werbeindustrie. Zu den werbefinanzierten 187 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 187 <?page no="188"?> 63 Dallas W. Smythe 1977. Communications: Blindspot of Western Marxism. Canadian Journal of Political and Social Theory 1 (3): 1-27. S. 5. 64 Ebd. Medien gehören zum Beispiel Onlinemedien wie Google und Facebook, kommerzielle Fernsehsender wie CBS, NBC, ABC oder Fox TV und Gratis‐ zeitungen wie Metro oder The Evening Standard. Werbefinanzierte Medien bieten ein Gratisprodukt als kommunikative „kostenlose Mahlzeit“ 63 an. Diese Kommunikationsprodukte sind keine Waren, da sie nicht verkauft werden. Werbefinanzierte Unternehmen stellen Lohnarbeiter (variables Ka‐ pital v 1 ) wie Journalisten, Schreiber, Nachrichtensprecher, Moderatoren, PR-Experten, Techniker, usw. an. Auch eine technische Infrastruktur und Ressourcen (konstantes Kapital c 1 ) werden benötigt, um Medienprodukte zu produzieren und zu verteilen (Produktionsprozess P 1 ). Die „kostenlose Mahl‐ zeit“ wird verwendet, um ein Publikum (beziehungsweise Nutzer im Fall von Online-Medien) anzulocken. Dallas Smythe 64 betont, dass die Aufmerksamkeit des Publikums die Ware (W‘) der werbefinanzierten Unternehmen ist, die die an Werbetreibende verkauft wird, um Profit zu generieren. Der bei werbefinanzierten Medien stattfindende Austausch ist einer von dem von Medienunternehmen bereit‐ gestellten Zugang zur Aufmerksamkeit der Zuseher und Geld, das die Wer‐ betreibenden für diesen Zuganz bezahlen (W‘ - G‘). Im Prinzip ist es so, dass für ein größeres Publikum höhere Werbepreise verrechnet werden können. Das Publikum produziert Aufmerksamkeit für Werbung und werbefinan‐ zierte Programme (Produktionsprozess P 2 ). Die Mitglieder des Publikums sind daher Publikumsarbeiter, deren Arbeit den Wert und die Profite der werbefinanzierten Kommunikationsunternehmen produziert. Werbung ist Ausbeutung der Publikumsarbeit, die Aufmerksamkeit produziert, und der digitalen Arbeit der Nutzer, die Aufmerksamkeit und persönliche Daten produziert. Die Werbung zielt darauf ab, ideologisch den Konsumismus zu fördern, sodass Realisierungskrisen, in denen die Waren nicht verkauft werden kön‐ nen, verhindert werden können. Werbung ist ein ideologisches Phänomen und ein Klassenphänomen. Die digitale Werbung in Online- und auf mobilen Medien unterscheidet sich von traditioneller Werbung im Rundfunk und in Zeitungen: Sie zielt durch Personalisierung auf die individuellen Nutzer ab. Dazu wird kontinuierlich das Online-Verhalten der Nutzer überwacht. Di‐ gitale Werbung benutzt Big Data, die aus der wirtschaftlichen Überwachung 188 5. Kapitalismus und Kommunikation 188 <?page no="189"?> der Nutzer stammen, um die Werbung zu personalisieren. Sie verwendet algorithmischen Werbeverkauf und algorithmische Mechanismen der Aus‐ wahl des Publikums. Sie operiert in der Online-Umgebung, in der das Pu‐ blikum nicht nur wie das Rundfunkpublikum die Inhalte interpretiert, son‐ dern als Prosumenten (produzierende Konsumenten von Informtion) agieren, die soziale Verhältnisse und nutzergenerierte Inhalte herstellen. Das in Prozess P 1 hergestellte Produkt (ein Medium, Inhalt oder eine Plattform) ist keine Ware. Im Produktionsprozess P 2 kommt diesem Produkt P 1 die Rolle des fixen Kapitals zu, das in der Produktion der Publikumsaufmerksam‐ keitsware als Produktionsmittel dient. c (Technologien, Infrastruktur) G - W . . P 1 . . P 2 . . W‘ --- G‘ v 1 (bezahlt) v 2 Publikumsarbeit Reguläre Unternehmen Werbefinanzierte Medienunternehmen Werbeagenturen Werbekampagnen, Marken Publikumsware Publikumsanalysen Werbe- und Marktforschungsunternehmen G W { .. P .. W’=W+ D w G’ G W { .. P .. W’=W+ D w G’ Ak (v) Pm (c) Ak (v) Pm (c) G W { .. P .. W’=W+ D w G’ Ak (v) Pm (c) Abbildung 5.8: Das Verhältnis werbefinanzierter Medienunternehmen zu anderen Unternehmen Abbildung 5.8 stellt dar, in welchen Verhältnissen werbefinanzierte Medien und andere Unternehmen stehen. Reguläre Unternehmen machen Profit, indem sie Geld G in die Produktion von Waren W‘ investieren, die verkauft werden, um Profit G‘ zu erzielen. Teile des investierten Kapitals G werden benutzt, um a) Werbeflächen von werbefinanzierten Medienunternehmen, 189 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 189 <?page no="190"?> b) Werbekampagnen von Werbeagenturen und c) Publikumsanalysen von Marketing- Werbeforschungsunternehmen zu kaufen. Es gibt separate Kreisläufe der Kapitalakkumulation in a) der werbefinanzierten Medienin‐ dustrie, b) der Industrie der Werbeagenturen und c) der Publikumsfor‐ schung. Diese Industrien werden von den Werbeinvestitionen regulärer Un‐ ternehmen angetrieben. Sie haben einen diversen Charakter und stammen aus allen möglichen Industrien. Werbeagenturen tätigen auch Investitionen. Entscheidend ist für sie zum Beispiel der Kauf von Werbeflächen von Me‐ dienunternehmen, um die Werbungen der Werbekampagnen, die sie an Un‐ ternehmen verkaufen, auf einem publikumsorientierten Medium zu präsen‐ tieren. Werbefinanzierte Medien verkaufen die Aufmerksamkeit ihres Publikums an Werbekunden. Sie kaufen auch Publikumsanalysen von Markt- und Werbeforschungsunternehmen. c (Technologien, Infrastruktur) G - W . . P 1 . . P 2 . . W‘ 2 --- G‘ v 1 (bezahlt) v 2 Publikumsarbeit Reguläre Unternehmen Gemischtes Medienunternehmen Werbeagenturen Werbekampagnen, Marken Publikumsware Publikumsanalysen Werbe- und Marktforschungsunternehmen G W { .. P .. W’=W+ D w G’ G W { .. P .. W’=W+ D w G’ Ak (v) Pm (c) Ak (v) Pm (c) G W { .. P .. W’=W+ D w G’ Ak (v) Pm (c) W‘ 1 Abbildung 5.9: Kapitalakkumulation in der gemischten Medienindustrie, die Wer‐ bung und andere Kapitalakkumulationsstrategien einsetzt Die Werbeindustrie hat sich seit dem Aufstieg des Internets gewandelt. Wer‐ bung wurde digital, personalisiert, auf Individuen zugeschnitten und algo‐ 190 5. Kapitalismus und Kommunikation 190 <?page no="191"?> rithmisch. Digitale Werbung basiert auf Big Data und der Echtzeitüberwa‐ chugn des Online-Verhaltens. Die Nutzer von werbebasierten Plattformen produzieren Inhalte, Daten, Meta-Daten und soziale Beziehungen, die in die Personalisierung der Werbung eingehen. Dies hat dazu geführt, dass Publi‐ kumsarbeit zur digitalen Arbeit der Prosumenten (produzierende Konsu‐ menten) wurde. 0.0 5.0 10.0 15.0 20.0 25.0 30.0 35.0 40.0 45.0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Anteil von drei Werbungsarten am globalen Werbeumsatz (Datenquelle: WARC), in % Zeitungen TV Internet Abbildung 5.10: Die Entwicklung des Anteils von drei Typen der Werbung am globa‐ len Werbeumsatz Abbildung 5.10 verdeutlicht das schnelle Wachstum der digitalen Werbung im Internet. Ihr Anteil stieg von 0,1 Prozent im Jahr 1996 auf 34,7 Prozent im Jahr 2016, während der Anteil der Zeitungswerbung von 37,0 Prozent auf 10,3 Prozent fiel. Kommerzialisierung, Boulevardisierung, Monopolisierung und Digitalisierung führten zu einer Krise des Journalismus und der Zei‐ tungen. Gemischte Medienunternehmen kombinieren verschiedene Geschäfts‐ modelle. So verkaufen zum Beispiel die meisten Zeitungen und Zeitschriften Werbeflächen, Exemplare und Abos. Abbildung 5.9 zeigt, wie gemischte Medienunternehmen, die Werbung als eine ihrer Kapitalakkumulationsst‐ rategien verwenden, mit anderen Unternehmen interagieren. Gemischte Medienunternehmen produzieren zumindest zwei Waren: Die Aufmerk‐ 191 5.4. Die kapitalistische Wirtschaft und Kommunikation 191 <?page no="192"?> samkeit des Publikums (W’ 2 ) wird an Werbetreibende verkauft. Mindestens eine andere Ware (W‘ 1 ) wird auch an Konsumenten verkauft. Bei W‘ 1 handelt es sich oft um Inhalte. Es können aber auch andere Kommunikationswaren, wie etwa Kommunikationstechnologien, verkauft werden. Marken sind Waren mit hoher Symbolkraft. Sie werden als Teil eines Le‐ bensstils konsumiert und stehen als Symbole für einen bestimmten Lebens‐ stil, der von spezifischen Gruppen moralisch geschätzt wird. Viele Faktoren beeinflussen den Ruf einer Marke: die Struktur der relevanten Gemein‐ schaften, die vorherrschenden Mode- und Kulturtrends, gesellschaftliche Gefühlsstrukturen, Lebensstile, die Reputation von Persönlichkeiten und anderer öffentlicher Personen, die bestimmte Marken in der Öffentlichkeit konsumieren, die Art der Medienberichte über Marken und die Firmen, die Marken verkaufen, ob es Proteste über Firmen und ihre Marken gegeben hat sowie andere Machtverhältnisse. Wie die Konsumenten Marken beurteilen, ist von der Komplexität ihrer Lebenswelten und Erfahrungen, der Gefühls‐ struktur bestimmter Individuen, Gruppen und Klassen sowie der Interaktion solcher und anderer Faktoren abhängig. Wir haben einige Aspekte der Kommunikation im Kapitalismus disku‐ tiert. Als nächster Schritt wird eine systematische Analyse der Kommuni‐ kation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft präsentiert. 5.5. Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft Die kapitalistische Kommunikationsindustrie bildet ein differenziertes, of‐ fenes, verbundenes Ganzes, eine Totalität, die dialektisch miteinander in‐ teragierende Momente hat und die mit anderen Totalitäten in der kapitalis‐ tischen Wirtschaft interagiert. Im Kapitalismus interagieren die verschiedenen Industrien und auch verschiedene Unternehmen miteinander. So kom‐ binieren zum Beispiel kulturelle Konglomerate verschiedene Kapitalakku‐ mulationsmodelle (siehe Tabelle 5.4), Finanzunternehmen geben den Kom‐ munikationskonzernen Kredite und stellen Venture-Kapital zur Verfügung, usw. Kommunikationskonzerne bilden gemeinsam ein Ganzes, das sich dy‐ namisch verändert und das mit anderen Teilen der Wirtschaft sowie mit anderen Institutionen der Gesellschaft wie dem Staat, der die Industrie re‐ guliert, interagiert. Die Totalität der kapitalistischen Wirtschaft ist der Kon‐ text, in dem die kapitalistische Kommunikationsindustrie operiert. Tabelle 192 5. Kapitalismus und Kommunikation 192 <?page no="193"?> 5.6 identifiziert Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalisti‐ schen Ökonomie. Diese Rollen werden im Verhältnis zu der Produktion, der Zirkulation und dem Konsum der Waren dargestellt. Zirkulation Produktion Zirkulation Kon‐ sum G - W (Pm, Ak) .. P .. W’ - G’ Kommunikationsmittel als Mittel der Rationalisierung: m/ v Der Prozess der Kapitalkon‐ zentration und -zentralisierung in der Kom‐ munikationsindustrie Wissensarbeiter als Lohnarbeiter in Kommuni‐ kationsunternehmen Medien als Mittel der innerorganisatorischen Betriebskommunikation und Organisation => Abnahme von v und c Verwendung von Kommunikationsmitteln zur räumlichen Ausdehnung des Kapitalis‐ mus Kommunikationsmittel als Vermitt‐ ler von Werbung Übertragungsmedien als Formen des Kapitals Kommunikationsmittel und die Globalisierung des Handels Kommunikationsmittel und die räumliche Zentralisierung des Ka‐ pitals Medien als Träger und Verteilungs‐ kanäle von Ideologien Alternativmedien als negierende Kräfte in der Medienproduktion, -zirkulation und dem Medienkonsum Tabelle 5.6: Die Rollen der Kommunikationsmittel in der kapitalistischen Wirtschaft 193 5.5. Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft 193 <?page no="194"?> c G - W . . P . . W - G v c G - W . . P . . W - G v Medieninhaltskapital, Kulturindustrie, Werbeindustrie Medientechnikkapital, Medieninfrastrukturkapital Wissensarbeit, General Intellect Technologieproduzenten, General Intellect c G - W . . P . . W - G v Warenproduktion G - G Finanzkapital Alternativmedien Unternehmensinterne Kommunikation: c¯, v¯ Globalisierung der Produktion: c¯, v¯, m/ v- Rationalisierung der Produktion: c- => v¯ Globalisierung des Handels, Verkürzung der Zirkulationszeit der Waren Vertikale Integration Medienkonvergenz, horizontale Integration, Kapitalkonzentration, Kapitalzentralisation Horizontale Integration, Kapitalkonzentration, Kapitalzentralisation Werbung, Public Relations, Förderung des Warenabsatzes Rationalisierung: c- => v¯ Finanzialisierung Finanzialisierung Dominante Ausgehandelte Oppositionelle Manipulierte Kritische Rezeption Rezeption Rezeption Rezeption Rezeption Rezipienten Ideologie, Ideologiekritik, „wahres und „falsches Bewußtsein Produsers, Prosumenten, aktives Publikum Globalisierung und Beschleunigung der Finanzmärkte, Finanzialisierung Globalisierung der Kulturindustrie, „Kulturimperialismus Konzernverflechtung Publikumsware Abbildung 5.11: Die kapitalistische Kommunikationsindustrie und ihre Verhältnisse zur kapitalistischen Wirtschaft 194 5. Kapitalismus und Kommunikation 194 <?page no="195"?> Abbildung 5.11 veranschaulicht die Rolle der Kommunikationsmittel in der kapitalistischen Wirtschaft. Der Fokus liegt auf der kapitalistischen Ökono‐ mie, nicht auf dem politischen System und den kulturellen Institutionen. Das präsentierte Modell unterscheidet zwei Hauptsphären der Medienindustrie: die Medieninhaltsindsutrie und die Sphäre der Medieninfrastruktur. In der ersten werden Medieninhalte produziert, in der zweiten Medientechnolo‐ gien. Gemeinsam bilden die beiden Sphären im Kapitalismus die Totalität des Medienkapitals, die kapitalistische Kommunikations- und Medienin‐ dustrie. Die Werbeindustrie und die gemischte Medienindustrie, die in Ab‐ bildungen 5.8 und 5.9 dargestellt sind, wurden in Abbildung 5.11 nicht se‐ parat visualisiert, um das Modell nicht zu kompliziert zu machen. Die Werbeindustrie wurde in dem Modell in die Medieninhaltsindustrie sub‐ summiert. Werbungen sind ein spezifischer Medieninhalt. Die in Abbildung 5.11 dargestellte gepunktete Linie stellt eine Verbindung zwischen dem Publikum und der Medieninhaltsindustrie dar. Sie verdeut‐ licht, dass die Werbeindustrie eine Spezialform der Medieninhaltsindustrie ist, in der die Mitglieder des Publikums Publikumsarbeiter sind, die Auf‐ merksamkeit als Ware produzieren, und in der die Nutzer von werbefinan‐ zierten Internetplattformen digitale Arbeiter sind, die Aufmerksamkeit, Da‐ ten, Meta-Daten und soziale Beziehungen als Waren produzieren. Diese Waren werden an Werbetreibende verkauft, die dadurch dem Publikum und den Nutzern Werbung präsentieren können. Bei der Internetkommunikation ist das Publikum nicht nur Konsument von Information, sondern auch Pro‐ duzent und ein aktives Publikum, das Inhalte, Daten und soziale Beziehun‐ gen produziert. Es handelt sich um Produsers (Produzenten & Nutzer) und Prosumenten (Produzenten & Konsumenten). In Prozessen der vertikalen Medienintegration gibt es Zusammen‐ schlüsse, Übernahmen und Verschmelzungen, sodass zumindest zwei Un‐ ternehmen, von denen zumindest eines in der Medieninhaltsindustrie und eines in der Medieninfrastrukturindustrie operiert, zu einem Unternehmen konvergieren. Durch vertikale Integration verschwimmen die Grenzen zwi‐ schen den zwei Sphären der Medienindustrie. Medienkonzentration und horizontale Integration bedeutet, dass es Zusammenschlüsse, Übernahme und Verschmelzungen innerhalb einer Industrie gibt. Solche Prozesse sind dem Kapitalismus immanent und finden daher auch in den zwei Sphären der kapitalistischen Medienindustrie statt. Die Konvergenz der Kommunikati‐ onstechnologien (z. B. die Konvergenz von Technologien der Produktion, Zirkulation und Konsumption von Information in der Form der universellen 195 5.5. Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft 195 <?page no="196"?> 65 Siehe: Peter Golding and Phil Harris, Hrsg. 1997. Beyond Cultural Imperialism: Globa‐ lization, Communication & the New International Order. London: Sage. Christian Fuchs. 2010. New Imperialism: Information and Media Imperialism? Global Media and Com‐ munication 6 (1): 33-60. Oliver Boyd-Barrett. 2014. Media Imperialism. London: Sage. Tanner Mirrlees. 2013. Global Entertainment Media: Between Cultural Imperialism and Cultural Globalization. New York: Routledge. 66 Übersetzung aus dem Englischen: David Harvey. 2003. The New Imperialism. Oxford: Oxford University Press. S. 147. 67 David Harvey. 2015. Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Berlin: Ull‐ stein. S. 208. Informations- und Kommunikationstechnologie des Internets) findet in der Sphäre des Medieninfrastrukturkapitals statt. Die beiden Sphären des Me‐ dieninhaltskapitals und des Medieninfrastrukturkapitals fördern gemein‐ sam die Globalisierung der Kulturindustrie. In diesem Zusammenhang spie‐ len auch Fragen des „Kulturimperialismus“ eine Rolle 65 . Der Imperialismus wird in Kapitel 11 dieses Buches genauer diskutiert. Finanzkapital ist Kapital, das die Form G - G’ hat, in der aus Geld mehr Geld entsteht. Zum Finanzkapital gehören zum Beispiel Bankkredite, Kre‐ ditkarten, Finanzderivate, Hypotheken, Aktien und Venture-Kapital. Das Finanzkapital beeinflusst alle Bereiche des heutigen Kapitalismus. Finanz‐ ialisierung bedeutet, dass das Finanzkapital seine Formen diversifiziert und dass immer mehr Sphären des Lebens und der Wirtschaft unter den Einfluss des Finanzkapitals und seiner Finanzderivate kommen. „Die große Welle der Finanzialisierung, die nach 1973 [der Wirtschaftskrise 1973] einsetzte ist für ihren spekulativen und ebenso räuberischen Stil spektakulär gewesen“ 66 . „In der Geschichte des Kapitals hat es mehrere Finanzialisierungsphasen gege‐ ben (beispielsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). „Die Beson‐ derheit des gegenwärtigen Abschnitts erklärt sich aus dem Umstand, dass sich die Zirkulation des Geldkapitals ungeheuer beschleunigt hat und dass die Kosten für Finanztransaktionen in gleichem Maße gesunken sind. Die Mobilität von Geldkapital hat sich im Vergleich zur Zirkulationsgeschwin‐ digkeit anderer Kapitalformen (insbesondere von Waren und Produktion) extrem erhöht. Die Tendenz des Kapitals zur ‚Vernichtung des Raumes durch die Zeit‘ hat hierbei eine große Rolle gespielt“ 67 . Die Finanzialisierung hat die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus erhöht. So brauchen zum Beispiel viele Kapitalisten Kredite, um Investitionen zu tätigen. Venture-Kapital spielt in der kapitalistischen Kommunikationsindustrie eine bedeutende Rolle. Es speist Kapital in Start-up-Unternehmen ein, die keine Profite ma‐ chen. Dadurch wird es für diese Unternehmen oft möglich, dass sie zu bör‐ 196 5. Kapitalismus und Kommunikation 196 <?page no="197"?> sennotierten Unternehmen werden, die Aktien auf dem Aktienmarkt ver‐ kaufen. Venture-Kapital-Firmen bekommen eine spezielle Rolle und spezielle Rechte in solchen Unternehmen. Sie spekulieren mit einer Option auf die Zukunft und erwarten, dass sie große Gewinne machen werden, wenn die Unternehmen, in die Venture-Kapital investiert wird, es schaffen, profitabel zu werden. Venture-Kapital spielt im Silcon Valley-Modell des di‐ gitalen Kapitalismus eine wichtige Rolle. Informations- und Kommunikati‐ onstechnologien haben das Ausmaß und die Beschleunigung der Finanz‐ transaktionen vorangetrieben. Es gibt eine wechselseitige Beeinflussung der kapitalistischen Medienindustrie und des Finanzkapitals. In der unteren rechten Ecke von Abbildung 5.11 sind Akkumulationspro‐ zesse in der konventionellen kapitalistischen Wirtschaft außerhalb des Mediensektors und des Finanzsektors situiert. Dieser Bereich ist mit der Medienindustrie durch die Bildung von Konglomeraten verbunden. Kon‐ glomerate sind Formen der Zusammenschlüsse, Übernahmen und Ver‐ schmelzungen, bei denen Unternehmen, die unterschiedliche Warentypen produzieren, integriert werden. Kommunikationstechnologien fördern auch die Rationalisierung der Produktion in der Wirtschaft im Allgemeinen. Das Ziel der Rationalisierung ist es, die Produktivität zu erhöhen, was sich in einer Zunahme der Mehrwertrate (m/ v, p/ v), also dem Verhältnis des mo‐ netären Mehrwerts (= Profit) zum variablen Kapital, ausdrückt. Eine derar‐ tige Zunahme führt durch die qualitative Veränderung der Produktionsmit‐ tel zur Produktion von mehr Profit pro Zeiteinheit. Medientechnologien beeinflussen auch die Globalisierung der Produktion, Zirkulation und Kon‐ sumption der Waren. Die Globalisierung des Kapitalismus führt umgekehrt auch zum Bedürfnis nach und zur Entwicklung neuer Technologien. Es be‐ steht eine Dialektik der Globaliserung und der Entwicklung von Kommu‐ nikationstechnologien. Kommunikationstechnologien unterstützen außer‐ dem die Kommunikation in und zwischen Unternehmen. Rationalisierung, Globalisierung und Veränderungen der Unternehmenskommunikation zie‐ len darauf ab, die produzierten Profite zu vermehren, indem Investitions‐ kosten (sowohl variables als auch konstantes Kaptial) reduziert werden und die relative Mehrwertproduktion (die Produktion von mehr Wert, Waren und Profit pro Zeiteinheit) gefördert wird. Die Werbe- und Marketing-In‐ dustrie ist Teil der Medieninhaltsindustrie. Sie beeinflusst die Zirkulation des Kapitals in den allgemeinen Industrien außerhalb des Mediensektors. Werbung, PR und Marketing zielen darauf ab, die Anzahl der verkauften Waren und die Geschwindigkeit des Verkaufs und des Konsums der Waren 197 5.5. Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft 197 <?page no="198"?> 68 Stuart Hall. 1973. Encoding and Decoding in the Television Discourse. Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies Stencilled Occasional Papers #5. Birmingham: Uni‐ versity of Birmingham. zu steigern, indem kapitalistische Ideologie und Konsumdenken gefördert werden. Ihre Aufgabe ist es, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Wert der produzierten Waren durch Verkaufsprozesse als Profit realisiert wird. Bei den Alternativmedien handelt es sich um eine Sphäre der Medienin‐ dustrie, deren Kommunikationsprozesse den kapitalistischen Mediensektor herausfordern. Alternativmedien sind nicht profitorientiert, helfen dabei, kritische Inhalte zu schaffen und zu verteilen und stellen den Menschen Mittel zur Verfügung, die die kritische Reflexion über die Gesellschaft un‐ terstützen. Alternativmedien stellen den Kapitalismus und die Herrschaft in Frage. Inhalte, die über Kommunikationsmittel verbreitet werden, erreichen ein Publikum, das diese Inhalte interpretiert. Die Rezeption der Information ist im unteren linken Bereich von Abbildung 5.11 dargestellt. Das Modell un‐ terscheidet fünf Formen der Rezeption: Bei der dominanten Rezeption re‐ produzieren die Mitglieder des Publikums im Großen und Ganzen die von den Produzenten in den Medien kodierten Bedeutungen. Bei der oppositio‐ nellen Rezeption stellen die Publikumsmitglieder die dominanten Bedeu‐ tungen in Frage und schaffen andere Bedeutungen. In der gemischten/ ausgehandelten Rezeption gibt es eine Mischung von dominanten und op‐ positionellen Bedeutungen. Stuart Hall 68 hat in seinem Kodierungs-/ Deko‐ dierungs-Medienmodell diese drei Formen der Dekodierung unterschieden. Das Problem dabei ist, dass es Machtstrukturen gibt, die die Rezeption be‐ einflussen, sodass nicht alle Rezeptionsformen gleich wahrscheinlich sind. Faktoren wie der (un)demokratische Charakter der Öffentlichkeit, die vor‐ handenen Zeitressourcen, die Bildungs- und Kompetenzenstrukturen, do‐ minante politische Weltanschauungen, Klassenstrukturen, persönliche Er‐ fahrungen, usw. beeinflussen die Rezeption und welche Formen der Rezeption dominant sind. In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es häufig eine asymmetrische Verteilung der verschiedenen Formen der Dekodierung eines bestimmten Inhalts. Werden nur diese drei Formen der Rezeption unterschieden, so kann man die Interpretation von Information nicht in Kategorien des wahren und fal‐ schen Bewusstseins klassifizieren, was zu einer relativistischen, unkriti‐ 198 5. Kapitalismus und Kommunikation 198 <?page no="199"?> schen Theoretisierung der Medienrezeption führt. Jede Rezeption, die Herr‐ schaft oder Klassenverhältnisse rechtfertigt, ist ein Ausdruck von falschem Bewusstsein. Die Falschheit des Bewusstseins bezieht sich auf Weltanschau‐ ungen und Interpretationen, die Klassen- oder Herrschaftsverhältnisse, die die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen und der Gesellschaft ein‐ schränken, positiv evaluieren. Falsches Bewusstsein ist ideologisches Be‐ wusstsein, das die Realität oft verdinglicht, indem Herrschaft und Ausbeu‐ tung naturalisiert werden, wodurch verkannt wird, dass diese Phänomene gesellschaftliche Beziehungen sind und einen historischen Charakter haben. Limitiert man die Rezeptionsmöglichkeiten auf dominante, oppositionelle und gemischte/ ausgehandelte Dekodierung, dann ist in einer Situation, in der der Antifaschismus die dominante Weltanschauung ist, das faschistische Bewusstsein laut diesem Modell eine Form der oppositionellen Rezeption und des oppositionellen Bewusstseins. Um derartige Probleme zu vermei‐ den, muss man zu dem Modell zwei weitere Formen der Rezeption hinzu‐ fügen: Kritische Rezeption ist eine Form der Interpretation von Inhalten, bei der Mitglieder des Publikums kritisch über die Gesellschaft reflektieren, und eine Form des Bewusstseins, das Ausbeutung und Herrschaft in Frage stellt. Manipulierte Rezeption ist ein Ausdruck falschen Bewusstseins. Manipu‐ lierte Rezipienten sitzen Ideologien auf, glauben an und fördern Herrschaft und die Klassengesellschaft. Alternativmedien und Medienrezeption bilden einen Bereich, in dem Ideologien potentiell durch kritisches Bewusstsein, kritische Weltanschau‐ ungen und Praxis infrage gestellt werden und wo die kapitalistische Orga‐ nisationsweise des Kommunikationssystems möglicherweise herausgefor‐ dert wird. Das kapitalistische Medien- und Kommunikationssystem ist von Konflikten und Widersprüchen durchzogen. Es gibt allerdings keinen De‐ terminismus und Automatismus des Widerstands, der Alternativen und der Kämpfe. Der Kampf gegen den Kapitalismus ist eine Schufterei. Alternativen bleiben oft prekär, haben zu wenig Ressourcen, entwickeln interne Wider‐ sprüche, sind kurzlebig, usw. Die Geschichte der Alternativmedien ist eine Geschichte des Ressourcenmangels und der prekären, selbstausbeuterischen Arbeit. 199 5.5. Die Rollen der Kommunikation in der Totalität der kapitalistischen Wirtschaft 199 <?page no="200"?> 5.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Hauptschlussfolgerungen dieses Kapitels zusammenfassen: - Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft, in der die kapitalisti‐ sche Klasse die Arbeiter ausbeutet, um Kapital zu akkumulieren, und in der das Akkumulationsprinzip die Rolle eines allgemeinen Prinzips der Organisation von Machtstrukturen hat. Der Kapitalismus ist nicht nur in der Form der kapitalistischen Ökonomie ein Wirtschaftssystem, sondern ist eine Art der Gesellschaft, eine Gesellschaftsformation, de‐ ren Strukturprinzip die Akkumulationslogik ist. - Die Klassengesellschaft bedeutet wirtschaftliche Entfremdung, in der die Arbeiter nicht die Kontrolle über die Produktionsmittel und die von ihnen geschaffenen Produkte haben und diese Güter nicht besitzen. Sie sind von sich selbst und von ihrem sozialen und gesell‐ schaftlichen Gattungswesen entfremdet. Die Akkumulationslogik der kapitalistischen Gesellschaft interagiert mit der Logik der Beschleu‐ nigung und liegt dieser zugrunde. Herrschende Akteure versuchen, Kapital, politische Macht und kulturelle Macht zu akkumulieren, in‐ dem sie die Geschwindigkeit der Produktion, Zirkulation und Ver‐ wendung von Waren, kollektiven politischen Entscheidungen und Erfahrungen erhöhen. - Information und Kommunikation sind sonderbare Güter: Es ist schwierig, andere vom Zugang zu Information auszuschließen. Es gibt keine Rivalität im Konsum der Information. Daher kann Information leicht kopiert und als Gratisressource verteilt werden. Das Medien‐ kapital reagiert auf diesen sonderbaren Charakter der Information mit einer Reihe von Kapitalakkumulationsmodellen. Dazu gehören das Medieninhaltsmodell, das Mediendienstleistungsmodell, das Wer‐ bungsmodell, das Hardwaremodell, das Modell des Online-Handels, das Abo- und Streaming-Modell, das Cloud-Speicher-Modell, das Sha‐ ring Economy Plattform-Modell und gemischte Modelle. Den Kapi‐ talakkumulationsmodellen ist gemeinsam, dass sie Arbeit in Klassen‐ beziehungen im Kontext von Information und Kommunikation ausbeuten. In jedem dieser Modelle wird eine bestimmte Ware ver‐ kauft, die mit Kommunikation zu tun hat. Zu den Strategien, die im kapitalistischen Kommunikationssektor angewandt werden, gehören zum Beispiel die Kontrolle und der Verkauf des Zugangs zu Informa‐ 200 5. Kapitalismus und Kommunikation 200 <?page no="201"?> tion (wie ein Film oder ein Musikstück), der Verkauf von Online-Abos, die Zugang zu bestimmten Informationen bieten, der Verkauf des Zu‐ gangs zu Bibliotheken mit bestimmten Inhalten, der Verkauf von li‐ zensierten Versionen und Kopien von Inhalten; der Verkauf von Kom‐ munikationstechnologien, die für die Produktion, die Zirkulation und den Konsum von Inhalten benötigt werden; der Verkauf von Werbe‐ flächen, der Verkauf des Zugangs zu Kommunikationsnetzwerken, der Verkauf von Speicherplatz für Inhalte (Cloud Computing, Web Hosting usw.), die Verrechnung von Rente für die Verwendung be‐ stimmter Plattformen, über die Dienste angeboten werden usw. - Die kapitalistische Kommunikationsindustrie ist eine differenzierte, offene, vernetzte Totalität: Verschiedene Formen der Kommunikati‐ onsarbeit, die von Kommunikationsunternehmen ausgebeutet wer‐ den, stehen durch die internationale Teilung der Kommunikationsar‐ beit zueinander in Beziehung. Der Kommunikationssektor interagiert mit anderen Teilen der kapitalistischen Wirtschaft wie etwa regulären Unternehmen und dem Finanzkapital. Publikumsmitglieder agieren als Rezipienten, die Medieninhalte auf verschiedene Weise interpre‐ tieren. Bei werbefinanzierten Medien sind das Publikum und die Nut‐ zer Publikumsarbeiter bzw. digitale Arbeiter, die Aufmerksamkeit, das Publikum als Ware und Daten als Ware produzieren. Werbefinanzierte Medienunternehmen verkaufen diese sonderbaren Waren an Werbe‐ kunden, die für Zahlungen die Möglichkeit erwerben, dem Publikum bzw. den Nutzern Werbungen zu präsentieren. Die kapitalistische Kommunikationsindustrie hat einen widersprüchlichen Charakter. Alternative Medien und kritische Rezeption stellen die kapitalistische Kommunikation infrage. Eine kritische Theorie der Kommunikation muss verschiedene Formen der Kommunikationsmittel unterscheiden können. Das nächste Kapitel setzt sich daher mit der Frage auseinander, wie verschiedene soziale Formen der Kommunikation unterschieden werden können. 201 5.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 201 <?page no="203"?> 1 John B. Thompson. 1995. The Media and Modernity. A Social Theory of the Media. Cam‐ bridge: Polity. p. .85 2 Andreas Hepp. 2013. Medienkultur: Die Kultur mediatisierter Welten. Wiesbaden: Sprin‐ ger VS. 2. Auflage. S. 58-62. 3 Ebd., S. 60. 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel Bei Kommunikationstechnologien handelt es sich um die Mittel, die im Kommunikationsprozess eingesetzt werden. Dieses Kapital diskutiert Kom‐ munikationstechnologien aus der Perspektive einer materialistischen und kritischen Theorie. Dazu wird eine Typologie der Kommunikationstechno‐ logien (Abschnitt 6.1) eingeführt, die Rollen der Kommunikationstechnolo‐ gien im Kapitalismus werden diskutiert (6.2) und der Begriff des technolo‐ gischen Fetischismus wird erörtert (6.3). 6.1. Typen der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien John B. Thompson 1 unterscheidet drei Formen der Kommunikation: Faceto-Face-Interaktion, die dialogisch ist (z. B. ein Gespräch mit Freunden); me‐ diatisierte Interaktion, die dialogisch ist (z. B. ein Telefongespräch); und me‐ diatisierte Quasi-Interaktion, die monologisch ist (Massenmedien, wie z. B. eine Radio- oder Fernsehsendung oder ein Zeitungsartikel). Auf Thompsons Unterscheidung aufbauend und durch die Berücksichtigung digitaler Kom‐ munikation über diese hinausgehend, unterscheidet Andreas Hepp 2 vier Ty‐ pen der Kommunikation: direkte Kommunikation („das direkte Gespräch mit anderen Menschen“), wechselseitige Kommunikation („technisch ver‐ mittelte personale Kommunikation mit anderen Menschen [beispielsweise mittels eines Telefons], produzierte Medienkommunikation („Massenkom‐ munikation [Zeitung, Radio, Fernsehen]“), virtualisierte Medienkommuni‐ kation („Kommunikation mittels ‚interaktiver Systeme‘ […], die für diese Zwecke geschaffen wurden“) 3 . Friedrich Krotz unterscheidet neben der <?page no="204"?> 4 Friedrich Krotz. 2007. Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 16-17, 90. 5 Raymond Williams. 1976. Communications. Harmondsworth: Penguin Books. Aktuali‐ sierte Auflage. 6 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 9. 7 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 9. 8 Raymond Williams. 2014. On Culture & Society, hrsg. Jim McGuigan. London: Sage. S. 175. Face-to-Face-Kommunikation drei Formen der mediatisierten Kommunika‐ tion: Kommunikation mittels Medien (z. B. Brief, Telefon, Chat), Kommuni‐ kation mit Medien (z. B. Fernsehen, das Lesen von Texten) und die interak‐ tive Kommunikation mit Robotern und Computern 4 . Ein etwas anderer Ansatzpunkt zur Klassifizierung der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien findet sich in den Arbeiten von Ra‐ ymond Williams. Williams trifft eine Unterscheidung zwischen Kommuni‐ kation und Kommunikationstechnologien 5 . Kommunikation ist die „Wei‐ tergabe von Ideen, Information und Einstellungen von Mensch zu Mensch” 6 . Kommunikationstechnologien sind „die Institutionen und For‐ men, mit denen Ideen, Information und Einstellungen übermittelt und er‐ halten werden“ 7 . Kommunikation is ein Prozess und eine Praktik. Sie findet in der menschlichen Gesellschaft statt 8 . Kommunikationstechnologien sind im Gegensatz dazu nicht Praktiken, sondern Strukturen, Systeme, Institu‐ tionen und Formen. Kommunikation und Kommunikationstechnologien stehen in einem dialektischen Verhältnis: Die Menschen schaffen durch Kommunikation soziale Beziehungen. Und sie kommunizieren, indem sie Kommunikationstechnologien als Mittel der Kommunikation einsetzen. Kommunikationstechnologien sind nur dann bedeutungsvoll, wenn sie von Menschen in Kommunikationsprozessen ver- und angewendet werden. Kommunikationstechnologien ermöglichen und bedingen Kommunikation. Die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien ist ein sozialer Pro‐ zess, in den verschiedene Akteure involviert sind (Wissenschaftler, Inge‐ nieure, Praktiker, usw.) und der durch Kommunikationsprozesse organisiert wird, die auf Forschung und Entwicklung konzentriert sind. Tabelle 6.1 prä‐ sentiert eine Typologie der Kommunikationstechnologien, die auf Raymond Williams‘ Arbeit beruht. 204 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 204 <?page no="205"?> 9 Die Tabelle basiert auf: Raymond Williams. 1980/ 2005. Culture and Materialism. Lon‐ don: Verso Books. S. 53-63. Raymond Williams. 1981. Culture. Glasgow: Fontana-Collins. Kapitel 4. Kommunikation, die auf unmit‐ telbaren körperlichen Ressour‐ cen des Menschen basiert Verbale Kommuni‐ kation Gesprochene und ge‐ schriebene Sprache, Poe‐ sie, Lieder usw. Nonverbale Kom‐ munikation Körpersprache, Tänze, Körperhaltung, Gestik, Gesichtsausdrücke usw. Kommunikationstechnologien, die auf nichtmenschlichen Ma‐ terialien basieren, die durch die menschliche Werktätigkeit ge‐ sellschaftlich produziert wer‐ den Verstärkende Kommunikations‐ mittel Megaphon, Fernsehen, Ra‐ dio, Kabel- und Satelliten‐ fernsehen usw. Dauerhafte Kom‐ munikationsmittel (Speicherung) Siegel, Münzen, Medaillen, Gemälde, Skulpturen, Schnitzarbeiten, Holz‐ schnitte, geschriebene Texte, gedruckte Texte, Tonaufnahmen, Film, Vi‐ deo, Kassetten, DVDs usw. Alternative Kom‐ munikationsmittel Alternative Sprache, alter‐ natives Zuhören, alterna‐ tives Sehen und alterna‐ tive Aufnahmen, die in demokratischen Gemein‐ schaften verwendet wer‐ den, bei denen es Arbeiter‐ selbstverwaltung, Autonomie und kollektive kulturelle Produktion gibt: z. B. freie Radios Tabelle 6.1: Raymond Williams‘ Typologie der Kommunikationsmittel 9 Williams unterscheidet verschiedene soziale Formen der Kommunikations‐ technologien. Er identifiziert fünf Formen der Kommunikationsmittel: verbale Kommunikation, nonverbale Kommunikation, verstärkende Kommunikati‐ onsmittel, dauerhafte Kommunikationsmittel, alternative Kommunikations‐ mittel. Seine Typologie unterscheidet zwischen einerseits Kommunikations‐ mittel, die unmittelbare körperliche Ressourcen des Menschen verwenden (verbale Kommunikation, nichtverbale Kommunikation), und andererseits Kommunikationstechnologien (= Kommunikationssysteme). Kommunikati‐ 205 6.1. Typen der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien 205 <?page no="206"?> 10 Einen Überblick über Williams’ kommunikationstheoretischen Ansatz findet sich in: Chris‐ tian Fuchs. 2017. Raymond Williams’ Communicative Materialism. European Journal of Cultural Studies 20 (6): 744-762. 11 Siehe: Christian Fuchs. 2017. Sustainability and Community Networks. Telematics and In‐ formatics 34 (2): 628-639. onssysteme verwenden nichtmenschliche Materialien, die durch menschliche Tätigkeit geschaffen werden. Zu den technologischen Kommunikationssyste‐ men gehören verstärkende Kommunikationsmittel, dauerhafte Kommunikati‐ onsmittel und alternative Kommunikationsmittel 10 . Williams zeigt in seiner Arbeit, wie im Lauf der Geschichte durative und verstärkende Kommunikationsmittel unter die Kontrolle der herrschenden Klasse gekommen sind. Ein Ergebnis davon war die Konzentration und Mo‐ nopolisierung der Kommunikationsindustrie. Kommunikationsmonopole sind nicht nur Monopole wirtschaftlicher Macht, sondern auch Monopole des Sprechens, der Sichtbarkeit und des Zugangs. Williams identifiziert Schlüsselmerkmale der Kommunikation und der Kommunikationssysteme. Seine Typologie ist mit dem Problem sich überlap‐ pender Kategorien konfrontiert. Computernetzwerke sind Beispiele für die Überlappung der von Williams verwendeten Kategorien. Ein Computernetz‐ werk hat die Möglichkeit, die Sichtbarkeit von Information online zu verstär‐ ken. Computersysteme wie Web Host-Server speichern Inhalte, Daten und Meta-Daten. Individuelle Computer in einem Computernetzwerk sind Spei‐ chermedien, die Inhalte wie digitale Daten speichern, die mit hoher Geschwin‐ digkeit übertragbar sind. Computernetzwerke sind eine Alternative zu mensch‐ lichen Praktiken, da sie Information über menschliche Aktivitäten aufzeichnen, speichern und übertragen können, wodurch Information über die Gesellschaft dauerhaft wird. Computernetzwerke werden oft als kommerzielle, profitori‐ entierte Unternehmen organisiert. Die meisten Nutzer bezahlen Geld an pro‐ fitorientierte Internetanbieter, um Zugang zu vernetzten Ressourcen und zum Internet zu erlangen. Es gibt aber auch alternative, gemeingutorientierte Com‐ puternetzwerke (sogenannte „Gemeinschaftsnetzwerke“/ „Community-Netz‐ werke“), die Kommunikationsnetzwerke nicht als Ware, sondern als Gemein‐ gut erachten 11 . Kommunikationstechnologien brauchen Kommunikation, um die Pro‐ duktion, die Distribution und den Konsum von Information zu organisieren. Die Produktion, die Distribution und der Konsum von Information können auf der Natur, menschlichen Praktiken oder technologischen Systemen be‐ ruhen. Das Computernetzwerk ist eine Kommunikationstechnologie, bei der 206 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 206 <?page no="207"?> 12 Marisol Sandoval. 2014. From Corporate to Social Media. Critical Perspectives on Corporate Social Responsibility in Media and Communication Industries. Abingdon: Routledge. S. 42-50. eine Konvergenz der Produktion, der Distribution und des Konsums von Information stattfindet. Digitale Technologien ermöglichen ein universelles Format der Information. Zusätzlich ermöglichen Computernetzwerke die Produktion, Distribution und Konsumtion von Information mit der Hilfe einer Technologie. Der Computer und die Digitalisierung ermöglichen die Konvergenz von Formaten und der Organisation der Kommunikation. Eine weitere Dimension der Universalisierung der Kommunikation besteht darin, dass es der Computer Konsumenten ermöglicht, Information zu produzie‐ ren. Die Produktion und Konsum der Information konvergieren in einer Technologie. Der Computer ist eine universelle Maschine zur universellen Kommunikation. Traditionellerweise gab es eine Unterscheidung zwischen Maschinen als Produktionsmittel und Medien als Kommunikationsmittel. Kommunikati‐ onsmittel sind Produktionsmittel, da Rezipienten als Reaktion auf die Kom‐ munikation von Information Bedeutungen produzieren, indem sie die In‐ formation interpretieren. Der Computer geht über dieses grundlegende Verständnis von Kommunikationsmitteln als Produktionsmitteln hinaus. Der Computer unterscheidet sich von Medien wie dem Fernsehen, dem Ra‐ dio, dem Kino, der Zeitung und dem Buch dadurch, dass er es Nutzern er‐ möglicht, Information zu konsumieren, zu produzieren und zu veröffentli‐ chen. Computervermittelte Kommunikation ist nicht rein technisch: Die Computernutzung beruht auf menschlichen Aktivitäten (schreiben, tippen, Sprache, Körperbewegungen), die digitale Daten schaffen. Der Computer operiert als eine Kombination des menschlichen Körpers, des menschlichen Geistes und der Computertechnologie. Er kombiniert mehrere der von Wil‐ liams identifizierten Kommunikationstypen. Technisch vermittelte Kom‐ munikation ermöglicht es, dass Kommunikation über raum-zeitliche Dis‐ tanzen hinweg erfolgt. Kommunikationstechnologien fördern die raumzeitliche Schaffung und Überwindung von Distanzen der Kommunikation und die Globalisierung der Kommunikation. Vermittelte Kommunikation beruht und basiert immer auf den Aktivitäten des menschlichen Körpers und Geistes. Marisol Sandoval hat eine systematische Typologie der Kommunikati‐ onstechnologien erarbeitet 12 (Abbildung 6.1). Im Gegensatz dazu sind die 207 6.1. Typen der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien 207 <?page no="208"?> 13 Ebd., S. 48. meisten anderen Medientypologien beliebig und nicht theoretisch begrün‐ det. Sandoval setzt verschiedene Medientypen ins Verhältnis mit den Pro‐ zessen der Produktion, Distribution und Konsumtion von Information. Die Unterscheidung zwischen Produktion, Distribution und Konsumtion ist charakteristisch für Ansätze der politischen Ökonomie. Im Fall der Kom‐ munikation und der Kommunikationssysteme sind Information und Sym‐ bole die Güter, die produziert, verteilt und konsumiert werden. Sandoval fügt zu diesen drei Dimensionen eine vierte hinzu, nämlich die Prosumtion (produktive Konsumtion) der Information, die insbesondere durch digitale Medien ermöglicht wird. Genauso wie Williams unterscheidet Sandoval Kommunikationstechnologien an Hand der Frage, ob Kommunikation mit Hilfe des menschlichen Geistes und Körpers organisiert wird oder externe Technologien (zusätzlich zum Geist und zum Körper) verwendet werden. Sandoval verbindet diese Unterscheidung aber mit einem Fokus auf politi‐ sche Ökonomie. Dadurch etabliert sie eine systematische Typologie von fünf Arten der Kommunikationstechnologien: „Im ersten Fall wird keine Medientechnologie bei der Produktion, Distribution und dem Konsum eingesetzt. […] Im zweiten Fall wird Medientechnologie für die Kodierung von Inhalten verwendet, aber die Distribution und der Konsum sind ohne Medientechnologie möglich, so wie dies bei allen Printmedien der Fall ist. Im dritten Fall wird Medientechnologie zur Kodierung und Dekodierung von Medieninhalten benötigt; die Distribution findet aber ohne den Einsatz von Me‐ dientechnologie statt. […] Im vierten Fall beruhen alle Phasen des Prozesses der Medienproduktion, -distribution und -konsumtion auf Medientechnologien. […] Mit dem Computer und dem Internet ist ein fünfter Weg der Zirkulation von Medieninhalten entstanden, der es erlaubt, dass dieselben Medientechnologien sowohl für die Produktion als auch für den Konsum von Medieninhalten ver‐ wendet werden kann. Diese Technologien können daher als Medien-Prosumti‐ ons-Technologien bezeichnet werden. Durch diese Technologien ist eine inter‐ aktivere Weise der Produktion von Medieninhalten entstanden, in der alle Nutzer die technologischen Mittel haben, um nicht nur Information zu konsumieren, sondern auch Medieninhalte zu produzieren” 13 . 208 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 208 <?page no="209"?> 14 Die Darstellung beruht auf: Sandoval, From Corporate to Social Media. Critical Perspec‐ tives on Corporate Social Responsibility in Media and Communication Industries. S. 47. Medien- Infrastruktur- Industrie Medieninhalts- Industrie Medien- Distributions- Industrie Medieninfrastruktur- Industrie Kodierung mit Kommunikationstechnologien Dekodierung ohne Kommunikationstechnologien Distribution ohne Kommunikationstechnologien Distribution durch Kommunikationstechnologien Dekodierung mit Kommunikationstechnologien z.B. Theater, Konzerte, Aufführungen z.B. Zeitungen, Magazine z.B. CDs, DVDs z.B. Fernsehen, Radio, Telefon Medieninhalt Kodierung durch Kommunikationstechnologien Kodierung/ Dekodierung durch Medien- Prosumtions- Technologien S Medieninhalt Medieninhalt Medieninhalt Medieninhalt z.B. soziale Netzwerke, Suchmaschinen, Online-Zeitungen, Online-Video- Plattformen, Micro- Blogs R R R R Online- Medien- Industrie Medieninhalt Medieninhalt Medieninhalt Medieninhalt Medieninhalt M.i. M.i. M.i. M.i. M.i. M.i. M.i. M.i. M.i. R 1 5 432 PRODUKTION DISTRIBUTION KONSUM Medieninhalt PROSUMTION Medieninhalt Abbildung 6.1: Fünf Arten der Kommunikationstechnologien 14 Tabelle 6.2 fasst die Hauptaspekte der fünf Arten der Kommunikationstech‐ nologien, die in Abbildung 6.1 identifiziert werden, zusammen. Rolle der technischen Ver‐ mittlung Beispiele Primäre Kommuni‐ kationstechnolo‐ gien Menschlicher Körper und Geist, keine Kommunikations‐ technologien werden zur Pro‐ duktion, Distribution und Re‐ zeption von Information verwendet Theater, Konzerte, Aufführungen, inter‐ personelle Kommuni‐ kation Sekundäre Kommu‐ nikationstechnolo‐ gien Verwendung von Kommunika‐ tionstechnologien zur Produk‐ tion von Information Zeitungen, Magazine, Bücher, technologisch produzierte Kunst und Kultur 209 6.1. Typen der Kommunikation und der Kommunikationstechnologien 209 <?page no="210"?> Tertiäre Kommuni‐ kationstechnolo‐ gien Verwendung von Kommunika‐ tionstechnologien zur Produk‐ tion und Rezeption von Infor‐ mation, nicht zur Distribution CDs, DVDs, Kassetten, Schallplatten, Blu-ray, Festplatten Quartäre Kommuni‐ kationstechnolo‐ gien Verwendung von Kommunika‐ tionstechnologien zur Produk‐ tion, Distribution und Rezep‐ tion von Information TV, Radio, Film, Tele‐ fon, Internet Quintäre Kommuni‐ kationstechnolo‐ gien Digitale Technologien zur Pro‐ sumtion (produktive Konsum‐ tion), nutzergenerierte Inhalte Internet, soziale Me‐ dien Tabelle 6.2: Fünf Arten von Kommunikationstechnologien Tabelle 6.3. präsentiert eine Klassifikation von Kommunikationstechnolo‐ gien und Kommunikation entsprechend der menschlichen Sinne und Kör‐ perteile, die bei der Produktion und Rezeption hauptsächlich eingesetzt werden. Es wird auch dargestellt, welche Rollen Zeit und Raum spielen. Kommuni‐ kation Produk‐ tion Rezeption Formate Zeit Raum Print-Kommu‐ nikation/ Visu‐ elle Kommuni‐ kation Gehirn, Hände Gehirn, Au‐ gen Zeitungen, Zeitschrif‐ ten, Magazine, Bücher, Pamphlete, Comics, sa‐ tirische Druckmedien, Flyer, visuelle Kunst, Graffiti, Kleidung, Tex‐ tilien, Aufstecker, Auf‐ kleber, Wandbilder Asynchron Distanz Audio-Kom‐ munikation Gehirn, Mund Gehirn, Oh‐ ren Radio, Telefon Synchron Distanz Audio-Kom‐ munikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Oh‐ ren Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, Gespräch, Vorträge, Vorlesungen, das Singen von Liedern Synchron Anwe‐ senheit Audio-Kom‐ munikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Oh‐ ren, Körper Konzerte, Chor, Tanz Synchron Anwe‐ senheit Audio-Kom‐ munikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Oh‐ ren, Körper Tonaufzeichnungen, Ra‐ dio Asynchron Distanz 210 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 210 <?page no="211"?> 15 Die Tabelle basiert auf: Christian Fuchs. 2011. Foundations of Critical Media and Infor‐ mation Studies. London: Routledge. S. 93 (Tabelle 3.3). 16 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1983. Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford University Press. Aktualisierte Ausgabe. S. 315. Audio-visuelle Kommunika‐ tion Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Au‐ gen, Ohren Theater, Aufführungen Synchron Anwe‐ senheit Audio-visuelle Kommunika‐ tion Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Au‐ gen, Ohren Film, Video, Dokumen‐ tationen, Nachrichten Asynchron Distanz Audio-visuelle Kommunika‐ tion Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Au‐ gen, Ohren Live-Fernsehen Synchron Distanz Internet, digi‐ tale Kommu‐ nikation Gehirn, Hände, Mund, Körper Gehirn, Au‐ gen, Ohren Digitaler Text, digitaler Ton, digitales Video, Echtzeit-Text/ Ton/ Video-Chat, Online-Ra‐ dio, Online-Fernsehen Synchron oder asyn‐ chron Distanz Tabelle 6.3: Eine Klassifikation von Kommunikationsformen und Kommunikations‐ technologien nach der Rolle, die die menschlichen Sinne, der Körper, der Geist, Raum und Zeit spielen 15 Im nächsten Abschnitt diskutieren wir, welche Rollen die Kommunikati‐ onstechnologie im Kapitalismus hat. 6.2. Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus Bei der Technologie handelt es sich im Allgemeinen um ein Mittel, das die Menschen verwenden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Dazu gehören zum Beispiel das Überleben, die Organisation und die Bedeutung der Welt und ih‐ res Sinnes. Herrschaft und Klasse sind gesellschaftliche Verhältnisse, in denen die Menschen nicht ein Zweck in sich selbst, sondern ein Mittel und Instru‐ ment sind. Etymologisch stammt das Wort „Technologie“ vom griechischen Wort Techne (τέχνη) ab, womit „eine Kunst oder eine Kunstfertigkeit” 16 ge‐ meint ist. Seit dem 19. Jahrhundert hat das Wort „Technologie“ zunehmend die Bedeutung der Wissenschaft und der Anwendung der Wissenschaft in der 211 6.2. Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus 211 <?page no="212"?> 17 Ebd. 18 Aristoteles. 2018. Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Kra‐ pinger. Ditzingen: Reclam. § 1139b. 19 Ebd., § 1140a. 20 Ebd., § 1140a. 21 Ebd., § 1140a. Form von Maschinen als Produktionssystemen angenommen 17 . Die industri‐ elle Revolution hat zu einer Bedeutungsverschiebung des Wortes „Technolo‐ gie“ von subjektiven Praktiken zu Objekten, Dingen und Systemen geführt. Es hat also eine Verdinglichung stattgefunden. Für Aristoteles handelt es sich bei Techne um eine der fünf Vermögen des Denkens/ der Seele 18 : Techne (Kunst), Episteme (Erkenntnis), Phronesis (Klug‐ heit), Sophia (Weisheit), Nous (Verstand). Aristoteles versteht Techne als sachkundiges/ geschicktes Herstellen und definiert sie als „ein mit Vernunft verbundenes Verhalten des Herstellens“ und „mit richtiger Vernunft ver‐ bundenes Verhalten des Herstellens“ 19 . Er nennt als Beispiel die Baukunst. Techne produziert etwas Neues: „Jedes praktische Können bezieht sich auf ein Entstehen“ 20 . Techne stellt etwas her und erschafft etwas. Sie unterschei‐ det sich von der Natur, die sich selbst macht oder durch die Notwendigkeit bestimmt ist. Für Aristoteles ist Techne ein Verhalten, dessen „Ursprung im Herstellenden liegt und nicht im Hergestellten“ 21 . Aristoteles argumentiert also, dass der Grund und die Rationalität, die Techne regeln, nicht von einer externen Quelle, sondern von den Herstellern und Produzenten ausgehen. An sich ist es noch kein Problem, dass technologische Systeme als Pro‐ duktionsmittel in der modernen Gesellschaft entstanden sind. Das wirkliche Problem ist der Klassencharakter der Moderne. Das Problem, mit dem die Arbeiter konfrontiert sind, ist, dass sie die Produktionsmittel nicht, wie im Fall von Techne, kollektiv kontrollieren und besitzen (selbstverwaltete Be‐ triebe), sondern dass die Produktionsmittel Kapital sind, das im Besitz der Kapitalistenklasse steht. Der historische Wandel der Technologie von Kunst zu technologischen Systemen steht in Zusammenhang mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise, in der das Eigentum an den Mitteln und Resultaten der Produktion privatisiert ist. Eine Konsequenz davon ist, dass das Kapital die Technologie und alle anderen Produktionsmittel kon‐ trolliert und die Produktionsbedingungen von den unmittelbaren Produ‐ zenten entfremdet sind. Technologie ist dadurch ein entfremdetes System, das unter der Kontrolle des Kapitals steht und von diesem als Mittel der Ausbeutung, Kontrolle, Mehrwertproduktion und Kapitalakkumulation be‐ 212 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 212 <?page no="213"?> 22 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 674. nutzt wird. Im Kapitalismus werden die Produktionsmittel nicht von den „Herstellenden“ - also den unmittelbaren Produzenten, den Arbeitern - kontrolliert, sondern durch die Besitzer, die Kapitalisten. In einer sozialisti‐ schen Gesellschaft kontrollieren die unmittelbaren Produzenten die Tech‐ nologie kollektiv. Daher wird diese zu einer Form der Techne. Marx analy‐ siert diese Verkehrung von Subjekt und Objekt folgendermaßen: Innerhalb „des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbei‐ ters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Ar‐ beitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässi‐ gen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit” 22 . Abbildung 6.2 stellt die kapitalistische Verkehrung von Mittel und Zweck dar. Das Objekt - das Kapital - agiert als das Subjekt und die Arbeiter sind nicht Subjekte, sondern ausgebeutete Objekte des Kapitals. 213 6.2. Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus 213 <?page no="214"?> 23 Karl Marx. 1857/ 58/ 1973. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Band 42. Berlin: Dietz. S. 217. 24 Ebd., S. 218. 25 Ebd., S. 218. 26 Max Horkheimer. 1947/ 1967/ 1985. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: Fischer. Arbeitskraft (Subjekt) Produkt Produktionsmittel (Objekt) Die Verkehrung des Subjekts und des Objekts sowie der Mittel und des Zwecks im Kapitalismus: Technik als Herrschaftsmittel Arbeitskraft (Objekt) Produkt Produktionsmittel (Subjekt) Klassenbeziehungen: Arbeiterschaft - Kapital Abbildung 6.2: Die Verkehrung von Zweck und Mittel und von Subjekt und Objekt im Kapitalismus - Technik als kapitalistisches Mittel der Herrschaft und Ausbeutung Wegen der Verkehrung von Mittel und Zweck ist die Arbeit im Kapitalisms „die absolute Armut: die Armut, nicht als Mangel, sondern als völliges Aus‐ schließen des gegenständlichen Reichtums“ 23 . Ohne Arbeit kann das Kapital aber nicht existieren, da die Arbeit das Kapital produziert. Daher hat die Arbeit ein ungemeines Machtpotential, da sie „die allgemeine Möglichkeit des Reichtums als Subjekt und als Tätigkeit ist“ 24 . Die Arbeit hat daher ein widersprüchliches Dasein 25 . Sie ist das Subjekt der Produktion, aber zugleich auch das Nicht-Subjekt der Produktionsmittel, die im Besitz des Kapitals stehen. Mit dem Aufstieg der modernen Technologie unter kapitalistischen Be‐ dingungen ist die Logik der instrumentellen Vernuft 26 dominant geworden. Die Menschen werden auf zwei Arten instrumentalisiert: Sie werden erstens 214 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 214 <?page no="215"?> 27 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Kapitel 13. 28 Rosalind Gill. 2011. “Life is a Pitch”: Managing the Self in New Media Work. In Managing Media work, hrsg. Mark Deuze, 249-262. London: Sage. Rosalind Gill. 2002. Cool, Crea‐ tive and Egalitarian? Exploring Gender in Project-Based New Media Work in Europe. Information, Communication & Society 5 (1): 70-89. von den Herrschenden als Mittel zur Akkumulation von Kapital, Macht und Reputation instrumentalisiert. Und zweitens gibt es Ideologien, die darauf abzielen, das menschliche Bewusstsein zu instrumentalisieren, indem ver‐ sucht wird, die Menschen zu manipulieren und derart zu beeinflussen, dass sie keinen Widerstand gegen ihre Unterdrückung und Ausbeutung leisten, diesen Verhältnissen zustimmen und sie lieben. In Das Kapital Band 1 be‐ schreibt Marx im Kapitel Maschinerie und große Industrie, wie der Aufstieg der kapitalistischen Technologie mit der Verkehrung von Zweck und Mittel verbunden war 27 : Die Technologie wurde zu einem Mittel der Organisation der Ausbeutung, der Kontrolle und der Mehrwertproduktion. Die Menschen wurden zu einem Anhängsel der Maschinerie, sodass die Objekte als Kapital die Subjekte kontrollieren. Im Kapitalismus ist die Menschheit nicht der Zweck, sondern die Menschen sind die Mittel, die als Resource mit der Hilfe von Technologien zum Zweck der Kapitalakkumulation ausgebeutet wer‐ den. Im Kapitalismus kontrollieren die Arbeiter nicht die vier Aristoteli‐ schen Ursachen der Arbeit, die Materialursache, die Wirkursache, die Form‐ ursache und die Zweckursache (siehe Kapitel 4, Abschnitt 4.1). Das Kapital kontrolliert und gestaltet diese Ursachen. Es kontrolliert die Produktions‐ mittel (die Materialursache). Das Management kommandiert die Arbeits‐ kräfte (die Wirkursache) und das Verhalten der Arbeiter im Arbeitsprozess (die Formursache). Das Kapital besitzt die Endprodukte, die nicht nur Ge‐ brauchswerte sind, sondern vorwiegend Waren, die im Kapitalakkumulati‐ onsprozess Profit generieren sollen (Zweckursache). Wissensarbeiter verwenden ihre Gehirne, digitale Technologien und an‐ dere Technologien als Produktionsmittel. Sie müssen hochgradig erfinde‐ risch und kreativ agieren, um Kunstwerke, Entwürfe, Software, Musik, Vi‐ deos, Bilder, Animationen, Kommunikationsstrategien, usw. zu produzieren. Rosalind Gill 28 charakterisiert Arbeit in der digitalen Ökonomie und der Kulturindustrie als die Kombination von einerseits einem hohen Grad der Selbstbestimmung und der Liebe zur Arbeit und andererseits kurzfristiger, prekärer und unsicherer Arbeit, einer Kultur der Überstunden, niedrigem Einkommen und einem unausgewogenen Verhältnis von Arbeit und Freizeit. 215 6.2. Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus 215 <?page no="216"?> Der Inhalt der Arbeit fühlt sich oft nicht entfremdet an, aber die Arbeitsbe‐ dingungen sind objektiv entfremdet. Es gibt bei der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Kommunikati‐ onstechnologien und Gesellschaft zwei Extreme: Der technologische Deter‐ minismus reduziert das Verhältnis auf die Technologie und sieht diese als den die Gesellschaft determinierenden Faktor. Der soziologische Determi‐ nismus sieht keine relative Autonomie technologischer Dynamiken, son‐ dern argumentiert, dass die Effekte vollständig durch Menschen in die Tech‐ nologie eingebaut werden und daher vohersehbar und kontrollierbar sind. Die Alternative zu diesen beiden Ansätzen ist eine Dialektik von Technolo‐ gie und Gesellschaft, die argumentiert, dass Technologien von Menschen in der Gesellschaft produziert werden und dass sie die Produktion in der Ge‐ sellschaft ermöglichen und bedingen, sodass sowohl technologische als auch soziale Dynamiken durch menschliche Praktiken geschaffen werden, die aber wegen ihren Komplexitäten zu bestimmten Graden unvorhersagbar sind. Eine ähnliche Dialektik gibt es bei der Bewertung der Effekte der Tech‐ nologie auf die Gesellschaft: Technikoptimisten argumentieren, dass Tech‐ nologien mit Notwendigkeit positive Effekte auf die Gesellschaft haben, während Technikpessimisten die Meinung vertreten, dass Technologien ne‐ gative Effekte auf die Gesellschaft haben müssen. Dialektische Positionen gehen davon aus, dass Technologie in einer antagonistischen Gesellschaft einen antagonistischen Charakter und antagonistische Auswirkungen hat. Sie hat nicht einfach eine eindeutige Auswirkung auf die Gesellschaft, son‐ dern mehrere Auswirkungen, die im Widerspruch zueinanderstehen. Es gibt auch einen Widerspruch von ausbeuterischen und emanzipatori‐ schen Aspekten der Effekte einer Technologie auf die Gesellschaft. Im Ka‐ pitalismus spielt die Technologie eine Rolle als Mittel der relativen Mehr‐ wertproduktion. Sie wird auch als ein Mittel der Kontrolle und der Überwachung verwendet. Technologie fördert im Kapitalismus aber auch den Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den Produktions‐ verhältnissen, sodass Keimformen einer gemeingutorientierten Gesellschaft entstehen, die nicht innerhalb des Kapitalismus realisiert werden kann. In privaten Eigentumsvehältnissen stellt dieser Widespruch einen der Faktoren dar, die zu Wirtschaftskrisen beitragen. Eine Konsequenz davon ist, dass zur Befreiung vom Kapital sowohl die grundlegende Transformation der Ge‐ sellschaft als auch die Umgestaltung der Technologie notwendig ist. Mo‐ derne Technologien haben als solche das Potential, die notwendige Arbeits‐ zeit zu reduzieren, die harte Arbeit abzuschaffen, die zur Verfügung stehende 216 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 216 <?page no="217"?> 29 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Kapitel 11, 12 & 13. selbstbestimmte freie Zeit jenseits der Notwendigkeit zu erhöhen und ein gutes Leben und den Wohlstand für alle zu erhöhen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist die Technologie ein Mittel der Kontrolle und der Ausbeu‐ tung, das die Krisenanfälligkeit und die Antagonismen des Kapitalismus fördert. Technologie vertieft die Antagonismen des Kapitalismus, die in der letzten Instanz alle Klassenantagonismen sind, zugleich aber sozialistische Potentiale schaffen. Diese Dialektik von kapitalisischer Realität und sozia‐ listischen Potentialen wird von einer negativen Dialektik vermittelt, sodass Technologie im Kapitalismus eine Destruktionskraft ist, die Ausbeutung, die Herrschaft, prekäres Leben und prekäre Arbeit, Arbeitslosigkeit und Kri‐ senanfälligkeit vertieft. Es gibt eine Anzahl wichtiger Rollen der Technologie im Kapitalismus: ■ Dehumanisierung: Der Kapitalismus führt zur Entmenschlichung. Er behandelt die Menschen wie tote Objekte, Dinge und Maschinen zur Produktion des Kapitals. ■ Entfremdung: Die kapitalistische Anwendung der Technologien in‐ teragiert mit der Entfremdung der Arbeit. Die Arbeiter sind dadurch Anhängsel der Maschine. Die kapitalistische Technologie ist entfrem‐ dete Technologie und Klassentechnologie. ■ Fixes konstantes Kapital: Im Kapitalismus ist die Technologie fixes konstantes Kapital. Sie ist ein Mittel zur Produktion von relativem Mehrwert, also zur Erhöhung der Produktivität, die mit einer Inten‐ sivierung der Ausbeutung der Arbeit einhergeht. Fixes konstantes Kapital wird also als Mittel zur Überwachung und Kontrolle der Ar‐ beiter eingesetzt. ■ Relative Mehrwertproduktion: Es gibt eine Reihe von Methoden, die von Kapitalisten eingesetzt werden, um zu versuchen, mehr Waren, Wert und Profit pro Zeiteinheit zu produzieren: Kooperation, Arbeits‐ teilung und Maschinerie 29 . Technologie spielt im Kapitalismus eine entscheidende Rolle as Mittel der relativen Mehrwertproduktion. Sie verändert den Produktionsprozess qualitativ. ■ Der Antagonismus der Produktivkräfte und der Produktionsverhält‐ nisse: Der Antagonismus der Produktivkräfte und der Produktions‐ verhältnisse ist eine Quelle der Krisen des Kapitalismus. Technologie im Kapitalismus ist in einen Antagonismus von notwendiger Arbeits‐ 217 6.2. Die Rollen der Kommunikationstechnologie im Kapitalismus 217 <?page no="218"?> 30 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 602. zeit und Mehrarbeitszeit eingebettet. Dieser Antagonismus fördert auf der einen Seite die Potentiale für den Sozialismus und eine allseitige Individualitiät. Auf der anderen Seite vertieft er die Potentiale und Realität der Krisen, des prekären Lebens, der prekären Arbeit, der Ar‐ beitslosigkeit, der Überstunden und der ungleichen Verteilung der Arbeitszeit. ■ Der General Intellect: Die moderne Technologie steht in Zusammen‐ hang mit der Notwendigkeit des Kapitalismus, die Produktivität zu erhöhen. Da der Kapitalismus technologischen Fortschritt und eine Erhöhung der Produktivität benötigt, hat die Wichtigkeit der Wis‐ senschaft, der Technologie und der Wissensarbeit im Kapitalismus zugenommen. Marx spricht in diesem Zusammenhang vom General Intellect als das „allgemeine gesellschaftliche Wissen“, das zur unmit‐ telbaren Produktivkraft geworden ist 30 . Die zunehmende Bedeutung des Wissens und der Kommunikationsarbeit folgt aus der Entwick‐ lung der Produktivkräfte. ■ Die Arbeitsteilung: Die kapitalistische Technologie hat einen Klassen‐ charakter, was bedeutet, dass sie in in das Verhältnis von Kapital und Arbeit und gemeinsam mit den Klassenverhältnissen in verschiedene Arbeitsteilungen eingebettet ist, nämlich in die internationale Ar‐ beitsteilung, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die geographi‐ sche Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sowie zwischen entwi‐ ckelten Ländern und Entwicklungsländern, die Arbeitsteilung zwischen Arbeit und Management, die Arbeitsteilung zwischen geis‐ tiger und körperlicher Arbeit, usw. ■ Soziale Probleme: Die kapitalistische Anwendung der Technologie trägt zu sozialen Problem wie Arbeitsüberlastung, Arbeitslosigkeit, Streß, Arbeitsunfällen, prekärer Arbeit, Überwachung der Arbeiter, usw. bei. ■ Technologie und Klassenkampf: Die Technologie determiniert nicht die Gesellschaft, sondern ist in Klassenkämpfe eingebettet. Technologie ist nicht die Ursache, sondern ein Mittel und Resultat des sozialen und gesellschaftlichen Wandels. Die Anwendung moderner Technologien ist umkämpft. Ihre Auswirkungen sind abhängig von den Resultaten der Klassenkämpfe. 218 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 218 <?page no="219"?> 31 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, S. 86. ■ Widersprüche der Technologie, die Dialektik von Technologie und Ge‐ sellschaft: Technologie hat im Kapitalismus widersprüchliche Aus‐ wirkungen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. ■ Technologie und Sozialismus: Der Sozialismus benötigt hochproduk‐ tive Technologien, um die Lohnarbeit abschaffen zu können und eine Nachknappheitsgesellschaft zu etablieren, die auf frei bestimmten Tä‐ tigkeiten jenseits des Zwanges und der Notwendigkeit aufgebaut ist. ■ Die Globalisierung und Beschleunigung des Kapitalismus: Um die Pro‐ fitabilität zu erhöhen, zielt das Kapital darauf ab, die Geschwindigkeit der Produktion, Distribution und Konsumtion zu erhöhen. Es versucht auch, die Produktion an Orte auszulagern, an denen die Produktions‐ bedinungen bestgeeignet sind, um hohe Profite einzubringen. Dies führt zur Globalisierung und Beschleunigung des Kapitalismus. Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationsmittel steht in einer dialektischen Beziehung zur Globalisierung und Beschleuni‐ gung des Kapitalismus. Die Technik hat im Kapitalismus auch eine ideologische Rolle, die wir im nächsten Abschnitt als technologischen Fetischismus diskutieren. 6.3. Technologischer Fetischismus Die Warenstruktur des Kapitalismus hat eine bestimmte ideologische Er‐ scheinung, die Marx als den Fetischcharakter der Ware bezeichnet. Da ka‐ pitalistische Transaktionen wie der Verkaufsprozess und der Konsum durch Waren und Geld vermittelt werden, sehen die Menschen nicht unmittelbar die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, also die Klassenverhältnisse, die Arbeitsprozesse und die Arbeiter, die die Waren‐ produktion organisieren. Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse verschwinden hinter dem Dingcharakter der Ware und des Geldes. „Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt” 31 . Das, was in der kapitalistischen Wirtschaft existiert - Klassen‐ verhältnisse, Ausbeutung, Tausch, usw. - erscheint daher als „gesellschaft‐ 219 6.3. Technologischer Fetischismus 219 <?page no="220"?> 32 Ebd., S. 86. 33 Georg Lukács. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis. S. 211. 34 Ebd., S. 335. 35 Georg Lukács. 1925. Rezension: Nikolai Bucharin: Theorie des historischen Materialis‐ mus. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis (S. 598-608). S. 601 36 Ebd., S. 602. 37 Ebd., S. 601. liche Natureigenschaften” 32 . Der Warenfetisch ist eine Struktur, der den Ka‐ pitalismus als natürlich, unhistorisch und eine Notwendigkeit erscheinen lässt. Er hat daher ideologische Implikationen. Der Warenfetisch ist eine Ideologie der Naturalisierung, die in die ökonomischen Strukturen des Ka‐ pitalismus eingebaut ist. Der Fetischismus ist nicht auf die Ware und das Geld beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf Phänomene wie den Staat, die Arbeit, die Ideologie, den Nationalismus oder die Technologie. Der technologische Fetischismus ist eine Ideologie, die die kapitalistische Technologie als natürlich und al‐ ternativenlos erscheinen lässt. In seinem Buch Geschichte und Klassenbe‐ wußtsein beschreibt Georg Lukács, dass im Kapitalismus Technologien in Fetischobjekte verwandelt werden. Er spricht von der „Nutzbarmachung der […] fatalistisch-hingenommenen, unveränderbaren »Gesetze« für be‐ stimmte Zwecke des Menschen (zum Beispiel Technik)“ 33 . Der technologi‐ sche Fetischismus stellt die Rolle der Maschine „im kapitalistischen Produk‐ tionsprozess“ als Ausdruck von einem „»ewigen« Wesenskern“ dar 34 . Der technologische Fetischismus sieht und präsentiert die kapitalistische Tech‐ nologie nicht als historisch, veränderbar, antagonistisch und einen Ort der Klassenkämpfe, sondern als unhistorisch, unveränderbar, eindimensional und unitär. Lukács formuliert eine explizite Kritik des technologischen Fe‐ tischismus in seiner Rezension von Nikolai Bucharins Buch Theorie des his‐ torischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxisti‐ schen Soziologie. Lukács warnt vor der Idee, „dass die Entwicklung der Gesellschaft von der Entwicklung der Technik abhängt“ 35 und davor, „die Technik aus der Reihe der ideologischen Formen herauszunehmen und ihr der ökonomischen Struktur der Gesellschaft gegenüber ein selbständiges Dasein zuzusprechen“ 36 . Solche Annahmen sind ein „falscher »Naturalis‐ mus«“ 37 und technologischer Fetischismus. Lukács analysiert den Technik‐ determinismus als technologischen Fetischismus. 220 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 220 <?page no="221"?> Es gibt einige charakteristische Eigenschaften des technologischen Feti‐ schismus: ■ Autonomie: Die Technologie wird als eine Kraft präsentiert, die un‐ abhängig von den gesellschaftlichen Machtstrukturen ist. Sie wird nicht in der Totalität der Gesellschaft angesiedelt. Der Platz der Tech‐ nologien in Klassenstrukturen, in der Ausbeutung und der Herrschaft wird ignoriert. ■ Subjektivität: Die Technologie wir als handelndes Subjekt präsentiert. Menschliche Akteure werden ignoriert oder ihre Rolle wird herun‐ tergespielt. Der Zweck dieses ideologischen Schrittes ist es, techno‐ logische Entwicklungen als unvermeidlich, unveränderbar, notwen‐ dig und irreversibel zu verdinglichen, indem sie als unabhängig vom menschlichen Willen und Handeln präsentiert werden. ■ Behauptete Revolution: Technologische Entwicklungen werden als revo‐ lutionär präsentiert. Es wird angenommen, dass sich durch sie alles schnell und grundlegend verändert. Das Ziel dieser Präsentationsstrate‐ gie ist es, dass die Menschen nicht auf die Idee kommen, bestimmte Technologien oder Aspekte davon abzuschaffen oder in Frage zu stellen. ■ Technologie als eindimensionale Ursache: Es wird angenommen, dass die Technologie die Ursache von Veränderungen der Gesellschaft ist. Es bleibt unberücksichtigt, wie Machtstrukturen und soziale Wider‐ sprüche Veränderungen beeinflussen. ■ Technologischer Optimismus/ Pessimismus: Veränderungen der Gesell‐ schaft, die im Zusammenhang mit der Technologie stehen, gelten als entweder rein positiv (technologischer Optimismus) oder rein negativ (technologischer Pessimismus). Der technologische Determinismus präsentiert Maschinen als autonome Akteure, die die Entwicklung der Gesellschaft determinieren. Die optimis‐ tische Version des technologischen Determinisms (Technikoptimismus) ist eine Ideologie, die die Liebe zu den und die Verehrung der Maschinen pro‐ pagiert. Maschinen werden als eine moderne Version Gottes präsentiert, von der gesagt wird, dass sie alle Probleme löst. Beim Technikpessimismus wird die Technologie als ein moderner, weltlicher Teufel präsentiert, der in der Gesellschaft schlimme Folgen nach sich zieht. Beim Technikoptimismus wird argumentiert, dass Maschinen zu positiven Entwicklungen in der Ge‐ sellschaft führen. Beim Technikpessimismus wird hingegen argumentiert, dass Maschinen negative Auswirkungen haben müssen. 221 6.3. Technologischer Fetischismus 221 <?page no="222"?> 38 Raymond Williams. 1974/ 2003. Television: Technology and Cultural Form. New York: Routledge. S. 5-6. 39 Ebd., S. 133. 40 Ebd., S. 133. Raymond Williams argumentiert, dass der technologische Determinismus annimmt, dass Technologien die Antriebskräfte der Geschichte und der Ge‐ sellschaftsentwicklung sind. Der technologische Determinismus geht davon aus, „dass die Dampfmaschine, das Automobil, das Fernsehen und die Atom‐ bombe den modernen Menschen und die modernen Bedingungen hergestellt haben. Im technologschen Determinismus […] werden die neuen Technolo‐ gien sozusagen in einer unabhängigen Sphäre erfunden und schaffen dann neue Gesellschaften und neue menschliche Bedingungen” 38 . Williams be‐ tont, dass die Entwicklung und Verwendung von Technologien von „gesell‐ schaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Absichten“ 39 geprägt wird. Solche Absichten „setzen Grenzen und üben Druck aus, sie kontrollieren und vorherbestimmen aber nicht vollständig das Ergebnis komplexer Akti‐ vitäten“ 40 . Für Williams gibt es weder eine technische Determinierung der Gesellschaft noch eine soziale Determinierung der Technologie, sondern eine relative Unvorhersagbarkeit der technologischen und gesellschaftli‐ chen Entwicklung, bei der ökonomische, politische und ideologische Mächte Druck ausüben und die Bedingungen der Entwicklung festlegen. Die Tech‐ nologie hat als komplexes System auch Dynamiken, die manchesmal zu un‐ vorhersehbaren Ereignissen wie technischem Fehlverhalten oder Unfällen führen. Es gibt eine Dialektik von Technik und Gesellschaft und eine Dia‐ lektik von Zufall und Notwendigkeit in der technologischen Entwicklung. In einer wahrhaft freien Gesellschaft muss die moderne Technologie dia‐ lektisch aufgehoben werden. In der Aufhebung wird die kapitalistische Tech‐ nologie zugleich eliminiert, bewahrt und auf eine qualitativ neue Existenz‐ stufe gehoben. Die Aufhebung der kapitalistischen Technologie und der kapitalistischen Gesellschaft sowie die Umgestaltung von Technologie und Gesellschaft würden dabei behilflich sein, die Probleme der Gesellschaft zu lö‐ sen und deren Wunden zu heilen. Eine wahrhaft freie Gesellschaft muss den repressiven Gebrauch der Technologie im Allgemeinen und von Kommunika‐ tionstechnologien im Speziellen abschaffen. Sie muss von einer repressiven zu einer befreienden Gestaltung und Nutzung der Technologie übergehen. In Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt Lukács eine Kritik der Quantifizierung. Er argumentiert, dass die Quantifizierung ein Herzstück der 222 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 222 <?page no="223"?> 41 Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 176. kapitalistischen Gesellschaft und daher auch des verdinglichten, bürgerlichen Bewußtseins ist. Es liegt im „Wesen des Kapitalismus“, dass „die Erscheinun‐ gen auf ihr rein quantitatives, sich in Zahlen und Zahlenverhältnissen ausdrü‐ ckendes Wesen reduziert werden” 41 . Es gehört zum Wesen der den Kapitalis‐ mus begründenden Logik der Akkumulation, dass es eine strukturelle Notwendigkeit der herrschenden Akteure gibt, die Quantität des Kapitals, der Macht und der Reputation zu erhöhen, um dominant zu bleiben. Je mehr die Logik der Akkumulation und dadurch der Kommodifizierung und Bürokratie das Alltagsleben kontrollieren, desto mehr gibt es die Notwendigkeit dazu, dass der Zustand der verwalteten Systeme kontrolliert und evaluiert wird, damit die Herrschenden an der Macht bleiben können. Der Kapitalismus verwendet die Wissenschaften, um Methoden zur Eva‐ luierung und Optimierung der Investitionen, der Arbeiszeit, der Kapitalak‐ kumulation, der Macht, usw. zu schaffen. Der Kapitalismus ist die Gesell‐ schaft der Akkumulation, die auf der Logik des Kapitals beruht. Die Logik der Akkumulation gestaltet auch die Politik und die Kultur der kapitalisti‐ schen Gesellschaft. In der kapitalistischen Gesellschaft geht es um die Ak‐ kumulation von Kapital, Entscheidungsmacht und Reputation. Um akku‐ mulieren zu können, muss man den derzeitigen Zustand und bestehende Quantitäten messen, um Wachstumsstrategien zu implementieren. Am Ende einer Evaluierung oder Messung gibt es Quantifizierungen, die verwendet werden, um Strategien zu identifizieren, die die Akkumulation erhöhen. Der Kapitalismus muss kontinuierlich neue Formen der Rationalisierung und Produktion entwickeln, um die Produktivität zu erhöhen, Kosten zu redu‐ zieren und Kapital zu akkumulieren. Die Geschichte der kapitalistischen Technologie ist daher eine Geschichte der Rationalisierung und der Ent‐ wicklung immer neuerer Methoden der Quantifizierung. Die Logik des Computers und der Quantifizierung ist reduktionistisch und undialektisch. Der bürgerliche Glaube an die Macht der Quantifizierung und der Naturwissenschaften widerspiegelt sich in der Ideologie des mechani‐ schen Determinismus. Das kritische Denken betont im Gegensatz dazu menschliche Qualitäten wie die Möglichkeit, dass die Menschen die Welt verändern. Dass die Verdinglichung die quantitative Logik nutzt, die von Teilen der Wissenschaft gefördert wird, bedeutet nicht, dass Wissenschaft und Technik notwendigerweise verdinglicht sind und die Ursache der Ver‐ dinglichung darstellen. In der verdinglichten Technologie subsumiert die 223 6.3. Technologischer Fetischismus 223 <?page no="224"?> instrumentelle Logik der Quantifizierung, des Kapitals und der Bürokratie menschliche Aktivitäten und zerstört Solidarität. Zugleich hat die moderne Technologie aber neue Potentiale der Kooperation und Vergesellschaftung geschaffen. Eine sozialistischer Entwurf der Gesellschaft und der Techno‐ logie braucht den Computer und Berechnungen nicht abzuschaffen, muss aber deren Gestaltung verändern, sodass die Technologien am Menschen orientiert sind, die Menschen kollektiv die Gestaltung und Nutzung der Technologie kontrollieren und die Quantifizierung unter die Logik der Men‐ schengerechtigkeit und der menschlichen Kooperation subsumiert ist, damit die Technologie das Gedeihen der Menschen, der Gesellschaft und der Natur steigert und es den Menschen erlaubt, ihre individuellen und kollektiven Potentiale vollständig zu realisieren. Abbildung 6.3: Drei Ansätze zur Konzeptualisierung des Verhältnisses von Techno‐ logie und Gesellschaft 224 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 224 <?page no="225"?> Abbildung 6.3 veranschaulicht drei Ansätze, die das Verhältnis von Tech‐ nologie und Gesellschaft beschreiben. Der technologische Determinismus nimmt an, dass Technologien die Ursache von Gesellschaftsveränderungen sind und dass die Technologie Gesellschaftsveränderungen determiniert. Das Verhältnis von Gesellschaft und Technologie wird auf die Technologie reduziert. Es gibt technikoptimistische und technikpessimistische Versionen des technologischen Determinismus. Der Ansatz der sozialen Konstruktion der Technologie ist ein Sozialdeterminismus. Er nimmt an, dass Ursachen und Verwendungsweisen sozial in die Technologien eingebaut werden. Ein solcher Ansatz ist eine unzureichende Betrachtung der relativen Unvorher‐ sagbarkeit der Verwendungsweisen, Folgen und Auswirkungen der Tech‐ nologie in der Gesellschaft. Ansätze der sozialen Konstruktion reduzieren das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft auf die Gesellschaft. In dialektischen Ansätzen stehen Technologie und Gesellschaft in einem widersprüchlichen Verhältnis. In antagonistischen Gesellschaften gibt es oft antagonistische Potentiale der Technologie und antagonistische Effekte des Technikeinsatzes auf die Gesellschaft. Auswirkungen stehen dann im Wi‐ derspruch zueinander. Die Gesellschaft ermöglicht, bedingt und limitiert den Erfindungsprozess, den Gestaltungsprozess und den Entwicklungsprozess der Technologien. Die Technologie bedingt die Gesellschaft, die Gesellschaft bedingt die Technologie. Die Bedingungen, Interessen, Machtverhältnisse und Konflikte der Gesellschaft beeinflussen, welche Technologien entstehen und entstehen können. Aber die realen Auswirkungen des Technologieein‐ satzes auf die Gesellschaft sind nicht programmiert, da moderne Technolo‐ gien komplexe System sind, die interagierende Teile haben, die unvorher‐ sehbare Synergien haben können. Die Gesellschaft ist ein komplexes System, das aus vielen interagierenden Momenten und Faktoren besteht, die die reale Verwendung der Technologie beeinflussen. Dass die Technologie und die Gesellschaft komplexe Systeme sind, bedeutet, dass sie aus einer Fülle von interagierenden Elementen bestehen. Eine solche Komplexität macht es un‐ wahrscheinlich, dass eine Technologie nur eine Auswirkung auf die Gesell‐ schaft hat und dass Auswirkungen vorherbestimmt und vollständig vorher‐ sagbar sind. Die Technologie ist ein Medium und eine Struktur, die ermöglicht und beschränkt, aber Praktiken und deren Resultate nicht de‐ terminiert. Die technologische Entwicklung interagiert mit den Antagonis‐ men der Gesellschaft. Eine konkrete Technologie hat oft viele mögliche Auswirkungen auf die Gesellschaft. Gibt es einen Widerspruch der Techno‐ logie, dann bedeutet dies, dass es zumindest zwei widersprüchliche Ten‐ 225 6.3. Technologischer Fetischismus 225 <?page no="226"?> denzen gibt. Oft gibt es bei den Auswirkungen der Technologien auf die Gesellschaft mehrere Tendenzen, die nebeinander existieren oder im Wi‐ derspruch zueinanderstehen. Welche Möglichkeiten der Technologiever‐ wendung realisiert werden ist von den Machtverhältnissen in der Gesell‐ schaft abhängig sowie davon, wie sich Interessenskonflite und Gesellschaftskämpfe entwickeln. Die Art, wie Konflikte und Kämpfe die Gestaltung und die Verwendung der Technologie beeinflussen (oder nicht beeinflussen, wenn sie bewusst verhindert werden) ist ein wichtiger Aspekt der Dialektik von Technologie und Gesellschaft. 6.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Hauptschlussfolgerungen dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Bei der Kommunikation werden immer der menschliche Körper und der menschliche Geist eingesetzt. In vielen Fällen werden auch Kom‐ munikationssysteme verwendet. Man kann unterschiedliche Kom‐ munikationstechnologien an Hand der Frage unterscheiden, ob bei jeder der drei Dimensionen der Produktion, Distribution und Kon‐ sumtion der Information nur der menschliche Körper und Geist oder auch Kommunikationssysteme verwendet werden. ■ „Technologie“ stammt vom griechischen Wort Techne ab, das den Pro‐ zess der sachkundigen Herstellung bezeichnet, in dem das Herstellen von den Produzenten oder der Gruppe der Produzenten gestaltet wird. Im Kapitalismus ist die Technologie ein Ding und Produktionsmittel, das nicht kollektiv von den Arbeitern, sondern vom Kapital kontrol‐ liert wird. Technologie ist fixes konstantes Kapital, das als Mittel der Ausbeutung, relativen Mehrwertproduktion, Kontrolle und Herr‐ schaft verwendet wird. Der Kapitalismus beruht auf einer Umkehrung von Mittel und Zweck: Das Kapital ist der Zweck, das die Arbeiter als Mittel der Kapitalakkumulation instrumentalisiert und ausbeutet. Die Technologie ist unter der Herrschaft des Kapitals ein Ausbeu‐ tungs-und Herrschaftsmittel. Im Kapitalismus wird die Technologie von der instrumentellen Vernunft beherrscht. ■ Der technologische Fetischismus ist eine Ideologie, die technologische Systeme als autonome Subjekte präsentiert, die die Ursache von Ge‐ sellschaftsveränderungen sind, zu revolutionären Veränderungen 226 6. Kommunikationstechnologien: Kommunikationsmittel als Produktionsmittel 226 <?page no="227"?> führen und eindimensionale Auwirkungen haben. Technikoptimis‐ mus und Technikpessimismus sind zwei Versionen des technologi‐ schen Fetischismus. In der Analyse davon, in welchem Verhältnis Technologie und Gesellschaft stehen, ist die Dialektik von Technolo‐ gie und Gesellschaft eine Alternative zum technologischen Determi‐ nismus und dem Sozialkonstruktivismus. ■ In einer sozialistischen Gesellschaft kontrollieren die unmittelbaren Produzenten kollektiv die Produktionsmittel, inklusive der Techno‐ logien. Die Technologie wird dabei von einem Mittel der Ausbeutung zur Techne als Mittel, das die Produzenten kollektiv kontrollieren, ge‐ stalten und verwenden. Im Kontext der Analyse der Kommunikation in der Gesellschaft wird immer wieder von einer Informations- oder Kommunikationsgesellschaft gespro‐ chen. Das nächste Kapitel diskutiert, ob und inwiefern diese Kategorien in einer kritischen Theorie sinnvoll sind. 227 6.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 227 <?page no="229"?> 1 Fritz Machlup. 1962. The Production and Distribution of Knowledge in the United States. Princeton, NJ: Princeton University Press. 2 Daniel Bell. 1975/ 1985. Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt am Main: Campus. S. 134. 3 Ebd., S. 33. 4 Ebd., S. 134. 7. Kommunikationsgesellschaft In welcher Art der Gesellschaft leben wir? Handelt es sich um eine Infor‐ mations- und Kommunikationsgesellschaft? Oder um eine kapitalistische Gesellschaft? Oder um etwas anderes? Dieses Kapital diskutiert diese Fra‐ gen. Zunächst wird eine Typologie der Theorien der Informationsgesell‐ schaft eingeführt (Abschnitt 7.1). Danach wird ein dialektischer Ansatz vor‐ gestellt (7.2). Schließlich werden Indikatoren und Fragen der Quantizierung der Information und Kommunikation in der kapitalistischen Gesellschaft behandelt (7.3). 7.1. Theorien der Informationsgesellschaft Die ansteigende Wichtigkeit des Computers und der Wissensarbeit in der Wirtschaft hat dazu geführt, dass eine signifikante Anzahl von Wissen‐ schaftlern, Experten und Beobachtern die Behauptung aufstellen, dass wir in einer Informations-, Wissens- oder Netzwerkgesellschaft leben. In den frühen 1960er Jahren dokumentierte Fritz Machlup für die ersten sechzig Jahre des 20. Jahrhunderts einen Anstieg des Anteils der wissens‐ produzierenden Berufe in der Gesamtbeschäftiung und Wertschöpfung der USA 1 . Er führte die Begriffe der wissensproduzierenden Arbeiter, Berufe und Industrien ein. Seit Machlups Arbeit blieben Konzepte der Informationsge‐ sellschaft bei Analytikern und Beobachtern der Rolle der Information und Kommunikation in der Gesellschaft populär. In den 1970er Jahren sprach Daniel Bell von der Entstehung einer postindustriellen Gesellschaft, die „auf Dienstleistungen“ 2 in „Gesundheit, Ausbildung, Forschung und Verwal‐ tung” 3 beruht und in der „weniger Muskelkraft oder Energie als Information” zählt 4 . In den 1980er Jahren beschrieb Alvin Toffler die Informationsgesell‐ <?page no="230"?> 5 Alvin Toffler. 1983. Die dritte Welle - Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft. München: Goldmann. 6 Nico Stehr. 1994. Knowledge Societies. London: Sage. S. 9. 7 Manuel Castells. 2003/ 2017. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Wiesbaden: Sprin‐ ger VS. Zweite Auflage. S. 24. 8 Ebd., S. 567. 9 Gibson Burrell and Gareth Morgan. 1979. Sociological Paradigms and Organizational Analysis. Aldershot: Gower. schaft als die dritte Welle der Gesellschaftsentwicklung, die nach der land‐ wirtschaftlichen Gesellschaft und auf die Industriegesellschaft folgt 5 . In den 1990er Jahren führte Nico Stehr das Konzept der Wissensgesellschaft ein, worunter er eine Gesellschaft versteht, die „auf der Durchdringung aller ihrer Lebensbereiche mit wissenschaftlichem Wissen“ beruht 6 . Im Zuge des Aufstieges des Internets und des World Wide Webs argumentierte Manuel Castells, dass die Informationsgesellschaft die Form der Netzwerkgesell‐ schaft annahm. „So ist eines der Schlüsselmerkmale der informationellen Gesellschaft die Vernetzungslogik ihrer Grundstruktur, was den Begriff der »Netzwerkgesellschaft« erklärt“ 7 . „Es lässt sich als historische Tendenz fest‐ halten, dass die herrschenden Funktionen und Prozesse im Informations‐ zeitalter zunehmend in Netzwerken organisiert sind“ 8 . Gesellschaftstheorien und die Phänomene, von denen sie handeln, kön‐ nen anhand von zwei Fragen klassifiziert werden: Betont die Theorie mehr die Rolle der menschlichen Subjektivität (wozu auch Wissen und Praktiken gehören) oder der objektiven Strukturen in der Gesellschaft? Konzeptuali‐ siert die Theorie gesellschaftlichen Wandel mehr als kontinuierlich oder diskontinuierlich? Die Kombination von Anworten auf diese Fragen führt zur Struktur einer 2x2-Matrix, mit deren Hilfe man Gesellschaftstheorien charakterisieren kann. Die grundlegende Unterscheidung ist dabei jene zwi‐ schen subjektiven diskontinuierlichen Theorien, objektiven diskontinuier‐ lichen Theorien, subjektiven kontinuierlichen Theorien und objektiven kon‐ tinuierlichen Theorien. Burrell und Morgan 9 haben diese Paradigmen der Gesellschaftstheorie als radikalen Humanismus (subjektiv, radikaler Wandel), radikalen Struktura‐ lismus (objektiv, radikaler Wandel), interpretative Soziologie (subjektiv, Kontinuität) und Funktionalismus (objektiv, Kontinuität) bezeichnet. Abbil‐ dung 7.1 veranschaulicht diese Typologie. 230 7. Kommunikationsgesellschaft 230 <?page no="231"?> Subjektiv Objektiv Diskontinuität Kontinuität RADIKALER HUMANISMUS RADIKALER STRUKTURALISMUS INTERPRETATIVE SOZIOLOGIE FUNKTIONALISTISCHE SOZIOLOGIE Abbildung 7.1: Eine Typologie der Gesellschaftstheorien, die auf den Arbeiten von Gibson Burrell und Gareth Morgan beruht Obwohl die grundledgenden Unterscheidungen dieser Typologie sinnvoll sind, fehlt in ihr die Einsicht, dass es Ansätze gibt, bei denen die Grenzen von Subjekt und Objekt und von Kontinuität und Diskontinuität durchlässig sind. Dialektische Ansätze gehen davon aus, dass Subjekte Objekte produ‐ zieren und Objekte Subjekte. Die Menschen produzieren und reproduzieren in sozialen Verhältnissen die Strukturen der Gesellschaft. Solche Strukturen bedingen, ermöglichen und beschränken menschliche Praktiken. Dialekti‐ sche Theorien betonen auch, dass Kontinuität durch Diskontinuität erreicht wird und dass es Kontinuität in der Diskontinuität gibt. Der dialektische Prozess des Wandels als Aufhebung besteht in einer Dialektik von Konti‐ nuität und Diskontinuität. Daher müssen dialektische Ansätze als fünfter Ansatz zur Typologie der Gesellschaftstheorien hinzugefügt werden (siehe Abbildung 7.2). 231 7.1. Theorien der Informationsgesellschaft 231 <?page no="232"?> Subjektiv Objektiv Diskontinuität Kontinuität RADIKALER HUMANISMUS RADIKALER STRUKTURALISMUS INTERPRETATIVE SOZIOLOGIE FUNKTIONALISTISCHE SOZIOLOGIE DIALEKTISCHE GESELLSCHAFTS- THEORIE Abbildung 7.2: Eine abgewandelte Typologie der Gesellschaftstheorien Die in Abbildung 7.3 dargestellte Typologie ist geeignet, um Theorien und Konzepte zu klassifizieren, die die Rolle der Information, des Wissens und der Kommunikation in der Gesellschaft analysieren. Subjektiv Objektiv Diskontinuität Kontinuität Wissensgesellschaft, postindustrielle Gesellschaft, postmoderne Gesellschaft, wissensbasierte Gesellschaft Netzwerkgesellschaft, Internetgesellschaft, virtuelle Gesellschaft, Cyber-Gesellschaft Immaterielle Arbeit, kognitiver Kapitalismus, Semio-Kapitalismus, reflexive Modernisierung MP3 Kapitalismus, virtueller Kapitalismus, informatischer Kapitalismus, Hightech-Kapitalismus, digitaler Kapitalismus Informationskapitalismus, kommunikativer Kapitalismus Abbildung 7.3: Eine Typologie der Theorien der Informationsgesellschaft Subjektive diskontinuierliche Theorien der Informationsgesellschaft betonen, dass Wissen und Wissensarbeit in der heutigen Gesellschaft die wichtigste Rolle spielen und dass in dieser Gesellschaft radikaler Wandel stattgefunden hat, so‐ dass die Wissensgesellschaft eine neue Form der Gesellschaft darstellt. Beispiel‐ konzepte dieser Theorien sind Wissensgesellschaft, postindustrielle Gesell‐ 232 7. Kommunikationsgesellschaft 232 <?page no="233"?> schaft, postmoderne Gesellschaft oder wissensbasierte Gesellschaft. Objektive kontinuierliche Theorien der Informationsgesellschaft betonen, dass digitale In‐ formations- und Netzwerktechnologien eine wichtige Rolle in der heutigen Ge‐ sellschaft spielen und behaupten, dass diese Technologien die Gesellschaft radi‐ kal transformiert haben, sodass eine neue Gesellschaft entstanden ist, die zum Beispiel als Netzwerkgesellschaft, Internetgesellschaft, virtuelle Gesellschaft oder Cyber-Gesellschaft bezeichnet wird. Subjektive kontinuierliche Theorien beto‐ nen die fortgesetzte Bedeutung des Kapitalismus, der Moderne oder der Arbeit und argumentieren, dass in deren Organisation Wissen, Kognition und Reflexi‐ vität wichtiger geworden sind. Beispielkategorien solcher Theorien sind die im‐ materielle Arbeit, der kognitive Kapitalismus, der Semio-Kapitalismus oder die reflexive Modernisierung. Objektive diskontinuierlich Theorien betonen, dass wir nicht in einer neuen Gesellschaft leben, dass Informationstechnologien aber wichtiger geworden sind. Sie sprechen zum Beispiel vom MP3-Kapitalismus, dem virtuellen Kapitalismus, dem informatischen Kapitalsmus, dem Hightech-Kapi‐ talismus oder dem digitalen Kapitalismus. Diskontinuierliche Theorien stellen makrosoziologischen Begriffen (Ge‐ sellschaft, Wirtschaft usw.) bestimmte Kategorien voran, um zu behaupten, dass die Gesellschaft grundlegend verändert wurde und dass wir daher in einer neuen Art der Gesellschaft leben. Das Problem von Kategorien wie der Netzwerkgesellschaft, Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft ist, dass sie die heutige Gesellschaft positiv und als harmlos präsentieren und oft die fortdauernde Existenz des Kapitalismus und der Klassen abstreiten. Angesichts der im Jahr 2008 begonnenen Weltwirtschaftskrise und die All‐ gegenwart prekärer Arbeit ist es offensichtlich, dass Ausbeutung, Krise, Un‐ gerechtigkeit und Kapitalismus andauern. Kontinuierliche Theorien stehen der Annahme, dass es radikalen Wandel in der modernen Gesellschaft gegeben hat, zu einem bestimmten Grad skeptisch gegnüber. Sie betonen, dass wir weiterhin in einer modernen, ka‐ pitalistischen Gesellschaft leben, die eine Klassengesellschaft ist. Diese Theorien gehen normalerweise davon aus, dass sich der Kapitalismus etwas gewandelt hat, aber keine grundlegende Transformation erfahren hat. Ein Problem solcher Ansätze ist, dass sie zu sehr auf einer Dimension fokusiert sind, also zum Beispiel Wissen (z. B. kognitiver Kapitalismus), digitale Tech‐ nologien (z. B. digitaler Kapitalismus), Finanzen (e.g. Finanzkapitalismus), Globalisierung (z. B. globaler oder transnationaler Kapitalismus), Mobilität (z. B. mobiler Kapitalismus, Hochgeschwindigkeitskapitalismus), soziale Absicherung (z.G. imperialistischer Kapitalismus), Neoliberalismus (z. B. 233 7.1. Theorien der Informationsgesellschaft 233 <?page no="234"?> neoliberaler Kapitalismus), usw. Der Kapitalismus ist ein multidimensiona‐ les Phänomen, in dem mehrere Dimensionen gleichzeitig existieren und miteinander interagieren. In ihrer Extremform argumentieren kontinuierli‐ che Theorien, dass die heutige Gesellschaft sich nicht von jener des 19. Jahr‐ hunderts unterscheidet. Während subjektive Theorien der Informationsgesellschaft die Rolle des Wissens in der Gesellschaft betonen, heben objektive Theorien die Rolle der Informationstechnologien in der Gesellschaft hervor. Im 20. Jahrhundert hat sich in vielen Gesellschaften die Wissensarbeit ausgebreitet und es ist zur Entstehung und zunehmenden Bedeutung der computerbasierten Techno‐ logien gekommen. Man kann nicht wirklich argumentieren, dass eines der beiden Phänomene wichtiger als das andere gewesen ist, da Arbeit und Technologien aufeinander dialektisch als Subjekt und Objekt der Produktion bezogen sind. Der nächste Abschnitt diskutiert auf der Basis der bisherigen Analyse die Kategorie des kommunikativen Kapitalismus. 7.2. Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus Der Kapitalismus ist ein dialektisches System, das Klasse und Herrschaft reproduziert, indem die Organisation der Wirtschaft, Politik und Kultur verändert wird. Diese Veränderungen sind nicht radikal, führen aber sicher‐ lich auf verschiedenen Ebenen der Organisation der Gesellschaft zu Trans‐ formationen. Der Kapitalismus erfährt durch Krisen Aufhebungen, die die grundlegenden Strukturen des Kapitalismus bewahren, indem die Gesell‐ schaft auf darüberliegenden Organisationsstufen verändert wird. Marx sieht die kapitalistischen Antagonismen und die daraus resultierenden Krisen als die Quelle von Dynamiken, die zur Differenzierung des Kapitalismus und der Emergenz neuer Akkumulationsregime führen. Der Kapitalismus muss die Organisation der Wirtschaft, der Politik und der Kultur verändern, um Krisen zu überwinden und diese in die Zukunft aufzuschieben. Krisen sind das Ergebnis und die Quelle von „periodischen Wertrevolutionen“, die be‐ stätigen, „was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die 234 7. Kommunikationsgesellschaft 234 <?page no="235"?> 10 Karl Marx. 1885/ 1893/ 1963. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationssprozeß des Kapitals. MEW Band 24. Berlin: Dietz. Das Kapital. S. 109. 11 Roy Bhaskar. 1993. Dialectic. The Pulse of Freedom. London: Verso. S. 12. der Wert als Kapital erfährt und durch seine Bewegung forterhält und ver‐ schärft” 10 . Der Informationskapitalismus bzw. der kommunikative Kaptialismus ist eine Dimension des Kapitalismus, die auf der Organisation der Produktivkräfte und der Strukturen der ökonomischen, politischen und kulturellen Produktion mit der Hilfe von Wissen, Kommunikation und Kommunikationstechnologien be‐ ruht. Mit Informationskapitalismus/ kommunikativem Kapitalismus ist die Rolle gemeint, die Wissens-/ Kommunikationsarbeit und Kommunikationstechnolo‐ gien in der kapitalistischen Gesellschaft und deren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systemen, Praktiken und Prozessen spielen. Roy Bhaskar 11 unterscheidet verschiedene Formen der Aufhebung: reale Ne‐ gation, transformative Negation und radikale Negation. Aufhebungen sind nicht immer gleichermaßen grundlegend, können kontinuierlich auf oberen Organi‐ sationsstufen stattfinden (reale Negation), von Zeit zu Zeit auf mittleren Orga‐ nisationsstufen (transformative Negation) und auf der grundlegenden Ebene (radikale Negation). Bhaskar formuliert das Verhältnis dieser Arten der Aufhe‐ bung als reale Negation ≥ transformative Negation ≥ radikale Negation, wo‐ durch angedeutet wird, dass die reale Negation auf oberen Stufen der Organi‐ sation und die radikale Negaton auf der grundlegendsten Ebene stattfindet. Der Kapitalismus bewahrt durch reale Negationen (die Produktion neuer Waren, Gesetze und ideologischer Artefakte) und transformative Negationen (wirt‐ schaftliche, politische und ideologische Krisen) die Kontinuität der Klassen- und Machtbeziehungen. Eine radikale Negation des Kapitalismus bedeutet eine ge‐ sellschaftliche Veränderung, die die kapitalistische Produktionsweise, den ka‐ pitalistischen Staat und kapitalistische Ideologien abschafft. Der Informationskapitalismus ist das Ergebnis der Dialektik von Konti‐ nuität und Diskontinuität des Kapitalismus. Klassen, Ausbeutung, Arbeit, Kapital, Waren, Mehrwert, Staat und Ideologie sind grundlegende Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft. Im Informationskapitalismus sind diese Dimensionen des Kapitalismus auf der Basis der Informationsproduktion und der Informations- und Kommunikationstechnologien organisiert. Da‐ her haben Phänomene wie Informationswaren, digitale Waren, Wissensar‐ beit, die Massenmedien (Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino), das Internet, soziale Medien und der Computer Einfluss auf die zeitgenössische kapita‐ 235 7.2. Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus 235 <?page no="236"?> 12 Karl Marx. 1857/ 58/ 1973. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Band 42. Berlin: Dietz. S. 602. listische Gesellschaft. Kommunikation und Kommunikationstechnologien vermitteln die Akkumulation von Kapital, Entscheidungsmacht und defini‐ tionssowie reputationsschaffender Macht. Der Informationskapitalismus entstand in der Zeit nach der zweiten Weltwirtschaftskrise, die auch eine Krise des keynesianischen Wohlfahrtsstaates und der wohlfahrtsstaatlichen Ideologie war. Der Kapitalismus setzte sich neu zusammen, was zum Auf‐ stieg und zur Dominanz der neoliberalen Politik und Ideologie, eines flexi‐ blen Akkumulationsregimes und des Informationskapitalismus als Mittel zur relativen Mehrwertproduktion und zur Globalisierung der Wirtschaft, Politik und Kultur führte. Die Entstehung des Informationskapitalismus war keine radikale, sondern eine transformative Aufhebung des Kapitalismus. In den Grundrissen prognostizierte Marx die Emergenz des Informations‐ kapitalismus im Zuge der Entwicklung der Produktivkräfte. Er argumen‐ tiert, dass die Kapitalisten danach streben müssen, die Produktivität zu er‐ höhen, um mehr Waren, Kapital, Wert und Profit pro Zeiteinheit zu produzieren und Kapital akkumulieren zu können. Die Wachstumslogik der Kapitalakkumulation führt zu einem Streben nach relativer Mehrwertpro‐ duktion und Innovationen des fixen Kapitals. Durch die Entwicklung neuer Technologien und deren Einsatz in der Produktion erhofft sich die Bour‐ geoisie die Erhöhung der Produktivität. Als Konsequenz davon gibt es Wel‐ len der Rationalisierung und Automatisierung und die organische Zusam‐ mensetzung des Kapitals (c/ v, das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital = die mathematische Beziehung der Investitionen in Ressourcen, inklusive neuer Technologien, zu den Lohnkosten pro Zeiteinheit) steigt an. Zusammen mit neuen Technologien nimmt die Bedeutung der Wissenschaft und der Wissensarbeit in der Wirtschaft zu, da Technologien entwickelt, organisiert und verwendet werden müssen, wozu man Experten in der Wis‐ senschaft und den Wissensindustrien braucht. „Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kon‐ trolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses” 12 . 236 7. Kommunikationsgesellschaft 236 <?page no="237"?> 13 Ebd., S. 595. 14 Ebd., S. 596. Marx antizipierte die Entwicklung, dass „der ganze Produktionsprozess“ eine „technologische Anwendung der Wissenschaft“ 13 wird. Die „Verwandlung des Produktionsprozesses aus dem einfachen Arbeitsprozess in einen wissenschaft‐ lichen Prozess“ erscheint „als Eigenschaft des Capital fixe gegenüber der leben‐ digen Arbeit“ 14 . Marx argumentiert also, dass das Wissen in der Produktion (der General Intellect) an Bedeutung zunimmt, sodass ein Punkt erreicht wird, an dem eine transformative Negation stattfindet und als Teil davon qualitativ neue Produktivkräfte als neues technologisches Paradigma des Kapitalismus entste‐ hen. Der Aufstieg des Computers, der Computernetzwerke und der Wissens‐ arbeit im Kontext des globalen, neoliberalen Kapitalismus hat seit den 1970er Jahren zur Ausbildung des Informationskapitalismus geführt. Für Marx ist die ansteigende Bedeutung des General Intellect im Informationskapitalismus die Konsequenz des Kapitalbedürfnisses, die Produktivkräfte zu erneuern, um Kri‐ sen (wie jene in der Mitte der 1970er Jahre) zu überwinden, die Profite und die Ausbeutung der Arbeit zu erhöhen und neue Sphären der Produktion und des Verkaufs von Waren zu schaffen. Die Emergenz der „Informationsgesellschaft“ und des Informationsgesellschaftsdiskurses ist das Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung. Der Informationskapitalismus ist eine der Dimensionen des Kapitalismus. Es gibt aber viele Kapitalismen, die durch eine Einheit in der Vielfalt den Kapitalismus bilden: der Finanzkapitalismus, der Informationskapitalismus, der hyperindustrielle Kapitalismus, der Mobilitätskapitalismus, der neoli‐ berale Kapitalismus, der Imperialismus usw. Diese Dimensionen des Kapitalismus interagieren miteinander. Der Kapitalismus ist zugleich eine allgemeine Produktions- und Ausbeutungsweise sowie eine spezifische Rea‐ lisierung, Koexistenz und Interaktion verschiedener Typen und Formen der kapitalistischen Produktion und Ausbeutung. Um entscheiden zu können, welche Dimension des Kapitalismus auf einer bestimmten Organisationsstufe dominant ist, muss man verschiedene As‐ pekte der kapitalistischen Gesellschaft empirisch erfassen und dazu Primär- und Sekundärdaten analysieren. Ein Beispiel ist die Struktur transnationaler Konzerne, also von Konzernen, die Waren international produzieren und verkaufen. Tabelle 7.1 zeigt einige relevante Daten. 237 7.2. Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus 237 <?page no="238"?> Variable: 2004 2014 Gesamtumsatz 19 934 Mrd US$ 38 361 Mrd US$ Gesamtes Anlagekapital 68 064 Mrd US$ 160 974 Mrd US$ Anteil des Gesamtumsatzes am weltweiten BIP 50,8% 51.4% Gesamtprofit 760,4 Mrd US$ 2927,5 Mrd US$ Gesamter Börsenwert 23 755 Mrd US$ 44 410 Mrd US$ Anteil of der FIRE-Industrien (Finanzen, Versicherungen [Insurance], Immobilien [Real Estate]) am gesamten An‐ lagekapital 70,8% 73,6% Anteil der FIRE-Industrien am Gesamtprofit 32,7% 33,5% Anteil der FIRE-Industrien am Gesamtumsatz 20,2% 19,8% Anteil der Informationsindustrien am gesamten Anlage‐ kapital 5,9% 5,5% Anteil der Informationsindustrien am Gesamtprofit -0,8% 17,3% Anteil der Informationsindustrien am Gesamtumsatz 11,3% 13,1% Anteil der Mobilitätsindustrien am gesamten Anlageka‐ pital 7,5% 6,9% Anteil der Mobilitätsindustrien am Gesamtprofit 22,4% 19,0% Anteil der Mobilitätsindustrien am Gesamtumsatz 21,4% 24,0% Anteil der Fertigungsindustrie am gesamten Anlageka‐ pital 7,1% 6,9% Anteil der Fertigungsindustrie am Gesamtprofit 28,3% 18,6% Anteil der Fertigungsindustrie am Gesamtumsatz 21,1% 21,7% Tabelle 7.1: Aspekte der 2000 größten transnationalen Konzerne, Berechnungen ge‐ stützt auf Daten der Forbes 2000-Listen für die Jahre 2004 und 2014, in Milliarden US$; Datenquelle für das weltweite BIP: IMF World Economic Outlook-Datenbank (2003 und 2013, weltweites BIP in Milliarden US$) 238 7. Kommunikationsgesellschaft 238 <?page no="239"?> Für diese Datenanalyse wurde die Mobilitätsindustrie so definiert, dass sie die Transport-, die Öl- und Gas-, und die Fahrzeug-Industrie umfasst. Die Informationsindustrie wurde als Kombination der Telekommunikations-, Hardware-, Software-, Halbleiter-, Werbe-, Internet- und Rundfunk-Indus‐ trie sowie des Verlagswesens verstanden. Zum FIRE-Sektor (Finance, Insu‐ rance, Real Estate) gehören das Finanzwesen, Versicherungen und der Im‐ mobiliensektor. Die Macht des globalen Kapitals wird anhand des Umstandes deutlich, dass der gemeinsame Umsatz der 2.000 größten Kon‐ zerne der Welt etwa 50 Prozent des globalen Bruttosozialproduktes aus‐ macht. Die Struktur des Profits der transnationalen Konzerne verdeutlicht, dass das Finanzkapital dominant ist und dass zweitgrößte Sektoren die Mo‐ bilitätsindustrien, die Fertigungsindustrie und die Informationsindustrien folgen, die in etwa gleiche Anteile haben. Der transnationale Kapitalismus ist zu bestimmten Graden Finanzkapitalismus, Mobilitätskapitalismus, hy‐ perindustrieller Kapitalismus und Informationskapitalismus. Diese Dimen‐ sionen stehen in Wechselbeziehungen: Das Finanzwesen investiert Ven‐ ture-Kapital in digitale Unternehmen, sodass diese als börsennotierte Unternehmen auf den Aktienmärkten agieren können, wodurch die Finanz‐ ialisierung und die Krisenanfälligkeit des digitalen Kapitalismus ansteigen. Die digitale Kommunikation ist ein Medium, das die Globalisierung ermög‐ licht, zugleich auch ein Ergebnis dieser. Als Resultat der Dialektik der Digi‐ talisierung und Globalisierung hat der Transport von Menschen und Waren zugenommen. Kommunikationssysteme und digitale Waren sind nicht im‐ materiell und gewichtslos, sondern bedürfen der körperlichen Arbeit der Bergarbeiter und Montagearbeiter in der internationalen digitalen Arbeits‐ teilung sowie einer gewaltigen Menge an Energie, um Kommunikations‐ netzwerke und Kommunikationstechnologien betreiben zu können. Der Fi‐ nanzkapitalismus, der Mobilitätskapitalismus, der hyperindustrielle Kapitalismus und der kommunikative Kapitalismus sind als dialektische Einheit organisiert, in der diese verschiedenen Momente interagieren und ineinander übergreifen. Der Kapitalismus ist eine dynamische, sich entwi‐ ckelnde Einheit verschiedener Kapitalismen. Der Informationskapitalismus ist weder rein wissensorientiert noch rein technologiebasiert, weder rein subjektiv noch rein objektiv. Information ist ein Prozess, der subjektives Wissen und kommunikative Praktiken mit ob‐ jektiven Strukturen, Netzwerken und Technologien, die Information spei‐ chern und verbreiten, verbindet. Informationsstrukturen bedingen, ermög‐ lichen und beschränken Informationspraktiken, die Informationsstrukturen 239 7.2. Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus 239 <?page no="240"?> 15 Theodor W. Adorno. 1968/ 1979. Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In Sozio‐ logische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 354-370. Stanford, CA: Stanford University Press. S. 354. produzieren und reproduzieren. Es gibt also eine Dialektik von Informati‐ onspraktiken und Informationsstrukturen. Daher sind die Kategorien des Wissenskapitalismus und des kognitiven Kapitalismus zu sehr auf die menschliche Kognition fokussiert. Begriffe wie digitaler Kapitalsmus oder Hightech-Kapitalismus betonen im Gegensatz dazu zu sehr die Rolle der Strukturen und der Technologien. Da Information und Kommunikation Pro‐ zesse sind, die die subjektive und die objektive Dimension der Semiose ver‐ binden, sind die Kategorien des Informationskapitalismus und des kommu‐ nikativen Kapitalismus am besten geeignet, um die Dialektik von Subjekt und Objekt zu erfassen. Das Bestreben des Kapitals, die Produktivität zu erhöhen und neue Sphären der Akkumulation zu schaffen, hat dazu geführt, dass Informations- und Kommunikationsarbeit in entwickelten Wirtschaf‐ ten einen signifikanten Anteil der Beschäftigung und der Wertschöpfung ausmachen. Der Anstieg solcher Arbeit ist von der Zunahme der Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien in der Produktion und Zirkulation von Waren und der Informationswaren in der Gesellschaft be‐ gleitet worden. Informationsarbeit und Informationstechnologien stehen in einer dialektischen Beziehung. Es gibt eine vergleichbare Dialektik von In‐ formationsarbeit und Informationswaren. Die Grundfrage über die heutige Gesellschaftsstruktur… Theodor W. Adorno argumentierte im Jahr 1968, dass die Grundfrage über die heutige Gesellschaftsstruktur ist, „ob die gegenwärtige Phase nun Spät‐ kapitalismus oder Industriegesellschaft heißen solle” 15 . Er fragte, ob die Ge‐ sellschaft eine kapitalistische Gesellschaft oder eine Industriegesellschaft war. Heute kann Adornos Frage in einer etwas abgeänderten Form neu ge‐ stellt werden: Leben wir im Kapitalismus oder einer Informationsgesell‐ schaft? Adorno wies den Dualismus, den die Frage impliziert, zurück und formulierte eine dialektische Antwort: „In Kategorien der kritisch-dialektischen Theorie möchte ich als erste und not‐ wendig abstrakte Antwort vorschlagen, dass die gegenwärtige Gesellschaft durchaus Industriegesellschaft ist nach dem Stand ihrer Produktivkräfte. Indus‐ trielle Arbeit ist überall und über alle Grenzen der politischen Systeme hinaus 240 7. Kommunikationsgesellschaft 240 <?page no="241"?> 16 Ebd., S. 361. zum Muster der Gesellschaft geworden. Zur Totalität entwickelt sie sich dadurch, dass Verfahrungsweisen, die den industriellen sich anähneln, ökonomisch zwangsläufig sich auf Bereiche der materiellen Produktion, auf Verwaltung, auf die Distributionssphäre und die, welche sich Kultur nennt, ausdehnt. Demgegen‐ über ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen. Stets noch sind die Menschen, was sie nach der Marxischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie. […] Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen” 16 . Durch eine leichte Abwandlung von Adornos Zitat können wir eine ähnliche Antwort auf die Frage „Leben wir in einer kapitalistischen Gesellschaft oder einer Informationsgesellschaft? “ geben: Die heutige Gesellschaft ist eine In‐ formationsgesellschaft nach dem Stand ihrer Produktivkräfte. Demgegeb‐ über ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen. Stets noch sind die Menschen des 21. Jahrhunderts, was sie nach der Mar‐ xischen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Produziert wird heute wie ehedem um des Profits Willen. Bei der Erreichung dieses Zieles spielen Wissen und Informationstechnologien eine gewisse Rolle. Die Frage danach, in welcher Gesellschaft wir leben, hat sowohl mit den Produktiv‐ kräften als auch den Produktionsverhältnissen zu tun. Die informationellen Produktivkräfte stehen in einer Dialektik mit den Klassenbeziehungen. Wis‐ sensarbeit und Informationstechnologien haben die Klassenbeziehungen verändert, sodass neue Formen der Ausbeutung der Wissensarbeit (wie etwa verschiedene Formen der digitalen Arbeit) entstehen. Informationstechno‐ logie hat aber auch die Potentiale für die Produktion von Information als Gemeingut und von digitalen Gütern, die keine Waren sind, sondern jedem ohne Bezahlung zur Verfügung stehen (die kommunikativen und digitalen Gemeingüter). Der Informationskapitalismus hat also die Keime seiner ei‐ genen Negation hervorgebracht. Es gibt einen Antagonismus zwischen den informationellen, vernetzten Produktivkräften und den digitalen und infor‐ mationellen Klassenbeziehungen. Dieser Antagonismus wird bei Phänome‐ nen wie dem Konflikt zwischen intellektuellen Eigentumsrechten einerseits und digitalen Geschenken sowie nichtkommerziellen Creative Com‐ mons-Lizenzen andererseits deutlich. Ebenso verhält es sich bei profitori‐ entiertem Open Access VS. nichtprofitorientiertem Open Access; werbefi‐ nanzierten, profitorientierten Internetplattformen VS. nichtprofit- 241 7.2. Informationskapitalismus und Kommunikativer Kapitalismus 241 <?page no="242"?> 17 Georg Lukács. 1919. Das Problem geistiger Führung und die „geistigen Arbeiter“. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II, 54-60. Bielefeld: Aisthesis. 18 Ebd., S. 54. 19 Ebd., S. 55. 20 Ebd., S. 55. 21 See: Frank Webster. 2014. Theories of the Information Society. Abingdon: Routledge. orientierten Internetplattformen, digitalem Kapital VS. digitalen Gemein‐ güter, kapitalistischen Plattformen VS. Plattformkooperativen usw. Georg Lukács setzt sich in dem Artikel Das Problem geistiger Führung und die „geistigen Arbeiter“ 17 , der im Jahr 1919 veröffentlicht wurde, mit der Wissens‐ arbeit auseinander. Er schreibt, dass die geistigen Arbeiter keine unabhängige Klasse sind. Die, „die - wie die körperlichen Arbeiter - lediglich mittels ihrer Arbeitskraft an der Produktion teilnehmen können (Privatbeamte, Ingenieure)“ unterscheiden sich „scharf von jenen, deren geistige Arbeit nur ein Beiwerk ihres Bourgeoisie-Charakters ist (Hauptaktionär, Fabrikdirektor). Die Klassen‐ trennung zwischen diesen beiden Gruppen ist für den objektiven Beobachter so klar, dass es unmöglich ist, beide in einer Gruppe, in der Klasse der »geisti‐ gen Arbeiter« zusammenzufassen“ 18 . „Die an der Produktion teilnehmenden ‚geistigen Arbeiter‘ gehören also (höchstens mit unklarem Klassenbewusstein) in die gleiche Klasse wie die körperlichen Arbeiter“ 19 . Bei den geistigen Arbeitern kann man nicht von einer „einheitlich gegliederten Klasse“ sprechen, „da auch bei diesen eine Gliederung in Unterdrücker und Unterdrückter, in Ausbeuter und Ausgebeutete“ festzustellen ist 20 . Im Diskurs über die Informationsgesellschaft 21 wird gemeinhin zwischen dem landwirtschaftlichen Sektor, dem Fertigungssektor und dem Dienst‐ leistungssektor unterschieden. Informations-, Kommunikations- und Wis‐ sensarbeiter werden in diesem Diskurs oft als Teil des Dienstleistungssek‐ tors betrachtet. Es gibt aber ein Problem dieses Arguments: Der Ansatz nimmt an, dass Manager, die Arbeiter kontrollieren, und die von diesen Ma‐ nagern kontrollierten Arbeiter, die Wissensgüter produzieren, die als Waren verkauft werden, um Profit zu erzielen, Teil derselben Klasse sind. Die Klas‐ senaspekte der Wissensarbeit werden vom Freiberuflertum verkompliziert: Freiberufler verkaufen ihre Arbeitskraft mit einmaligen Verträgen, die oft kurzfristig sind. Die meisten davon haben nicht genug Kapital, um andere anzustellen. Es gibt einen hohen Anteil von Freiberuflern bei bestimmten Wissensarbeiten wie der Dateneingabe, der Software- und Web-Entwick‐ lung, dem Design, der Übersetzung, dem Schreiben, der persönlichen As‐ sistenz, der Herausgabe oder dem Korrekturlesen. Solche Freiberufler sind 242 7. Kommunikationsgesellschaft 242 <?page no="243"?> 22 Lukács, Das Problem geistiger Führung und die „geistigen Arbeiter“, S. 55. Teil der Arbeiterklasse, da sie ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben. Wenn Freiberufler Unternehmen betreiben, in denen nur sie selbst und nie‐ mand sonst angestellt ist, dann sind sie Teil der Arbeiterklasse. Journalisten arbeiten meistens als Freiberufler oder Lohnarbeiter. Aufgrund dieser Rolle im Produktionsprozess sind sie Teil der Arbeiterklasse. Journalisten, Berater, Forscher, usw. dienen aber oft, wie Lukács schreibt, „den Macht-, den ma‐ teriellen und den ideologischen Interessen“ 22 . Dies ist dann der Fall, wenn sie in ihren Analysen, Berichten, Schriften, Empfehlungen, usw. den Kapi‐ talismus rechtfertigen. Tun sie dies, so verraten sie wie Manager die Arbei‐ terklasse und sind dadurch Teil der Kapitalistenklasse. Nur ein kritischer Journalist ist vollständig Teil der Arbeiterklasse. Es ist eine wichtige Frage der kritischen Gesellschaftsanalyse, wie man den Informationskapitalismus messen kann. Der nächste Abschnitt setzt sich mit diesem Thema auseinander. 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft: Die Messung des Informationskapitalismus Indikatoren der Informationsgesellschaft sind Messungen der informatio‐ nellen Produktivkräfte. Sie berechnen, zu welchem Grad bestimmte Aspekte der Produktivkräfte informationsbasiert sind oder auf alternativen Organi‐ sationsweisen wie der Landwirtschaft oder der Fertigungswirtschaft beru‐ hen. Zu diesen Indikatoren gehören zum Beispiel die folgenden: der prozentuelle Anteil der Arbeiter in den Informationsindustrien an der gesamten Erwerbsbe‐ völkerung, der prozentuelle Anteil der Informationsindustrien an der gesamten Wertschöpfung, der Anteil der Löhne der Arbeit in der Informationswirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme, der prozentuelle Anteil der Infor‐ mationsunternehmen am gesamten Anlagekapitel/ dem Gesamtprofit/ dem ge‐ samten Börsenwert der weltgrößten 2.000 Unternehmen, der prozentuelle An‐ teil der Informationsindustrien an den gesamten ausländischen Direktinvestitionen, der Anteil der Informationsprodukte an den gesamten Importen/ Exporten usw. Eine wichtige Unterscheidung kann zwischen Indikatoren getroffen werden, die industrieweite oder berufsspartenweite Messungen vornehmen. So kann man etwa den prozentuellen Anteil der Löhne von 243 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 243 <?page no="244"?> 23 See: Erik Olin Wright. 1997. Class Counts: Comparative Studies in Class Analysis. Cam‐ bridge: Cambridge University Press. Wissensarbeitern, die als Teil ihres Berufes Wissen produzieren, an der ge‐ samtwirtschaftlichen Lohnsumme berechnen (Berufsgruppenansatz). Oder man kann den Anteil der Löhne der Arbeiter in Industrien, die Informati‐ onsgüter erzeugen, an der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme berechnen (Industrieansatz). Im ersten Ansatz inkludiert man Arbeiten, die informa‐ tionelle Tätigkeiten sind, aber nicht notwendigerweise in einer Informati‐ onsware resultieren (z. B. die Arbeit eines Web-Designers, der von einer Wurstfabrik angestellt wird, um sich um deren Webseite zu kümmern). Beim zweiten Ansatz inkludiert man hinggen alle Arbeiten, die zur Produktion von Informationswaren beitragen (also z. B. auch die Arbeit eines Haus‐ meisters und einer Reinigungskraft, die für ein Softwareunternehmen ar‐ beiten). Solche Indikatoren helfen, zu zeigen, zu welchem Grad die Produktivkräfte auf Information und anderen Ressourcen beruhen. Indikatoren, die die infor‐ mationellen Produktivkräfte messen, stehen in Verbindung zu Indikatoren, die den Prozentsatz messen, zu dem die Produktivkräfte nicht auf Information, sondern auf der Landwirtschaft, der Fertigungsindustrie, nichtinformationsba‐ sierten Dienstleistungen, usw. beruhen. Die Kategorie des Informationskapita‐ lismus impliziert nicht, dass der Kapitalismus nur informationell ist, sondern zeigt einen Grad, einen Anteil und eine Tendenz auf, die gemessen werden können. Um entscheiden zu können, zu welchem Grad der Kapitalismus infor‐ mationsbasiert ist, muss man empirische Forschung durchführen, statistische Daten analysieren und relevante Indikatoren schaffen. Eine derartige Analyse sollte aber nicht auf die Produktivkräfte be‐ schränkt sein. Es ist ebenso wichtig, dass man die gesellschaftlichen Pro‐ duktionsverhältnisse, also Aspekte der Klassenstruktur des Kapitalismus, berücksichtigt. Beispielindikatoren sind die Messung der Größe der Arbei‐ terklasse, der Kapitalistenklasse, der vermittelnden Klassen, der Arbeitslo‐ sen usw. 23 ; die Lohnquote, die Profitquote, das Verhältnis der reichsten zu den ärmsten Gruppen der Gesellschaft (z. B. in der Form des 90: 10-Verhältnis der Einkommensungleichheit), das Verhältnis des Lohnwachstums und des Wachstums der Lebensqualität zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes und der Profite, die Entwicklung der Profite bestimmter Unternehmen/ Unternehmensgruppen/ Industrien, die Entwicklung der Gesamtprofite glo‐ bal und in bestimmten Ländern, die weltweiten Bruttoanlageinvestitionen, 244 7. Kommunikationsgesellschaft 244 <?page no="245"?> 24 Luc Boltanski and Ève Chiapello. 2006. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. 25 See: Richard Maxwell, Hrsg. 2016. The Routledge Companion to Labor and Media. New York: Routledge. 26 Rosalind Gill. 2011. “Life is a Pitch”: Managing the Self in New Media Work. In Managing Media Work, hrsg. Mark Deuze, 249-262. London: Sage. die Börsenkapitalisierung börsennotierter Unternehmen, das Wachstum des gesamten Anlagekapitals in einer Wirtschaft, das Wachstum des Anlageka‐ pitals/ der Profite/ der Börsenwerte bestimmter Unternehmen/ Unternehmes‐ gruppen/ Industrien/ Wirtschaften usw. Man sollte bei der Analyse des Informationskapitalismus einen beschei‐ denen Ansatz vertreten. Information und Kommunikation sind eine wich‐ tige Dimension des Kapitalismus, stellen aber nicht die einzige Dimension dar. Die Analyse des Kapitalismus sollte immer verschiedene Momente dia‐ lektisch aufeinander beziehen. So sollte zum Beispiel das Verhältnis von Kommunikation und Finanzkapital sowohl von denen, die das Kommuni‐ kationswesen analysieren, als auch von jenen, die sich mit der Finanzindus‐ trie auseinandersetzen, betrachtet werden. Eine weitere Aufgabe der empirischen Forschung ist die Kombination von Klassenanalyse und Informationsgesellschaftsforschung. Eine derartige Analyse hat zwei Dimensionen, nämlich die Analyse des Klassencharakters der Informationsarbeit und der Informationsressourcen sowie der informa‐ tionellen Aspekte der Klassen. Ein Beispiel ist die Analyse der Löhne und Arbeitsbedingungen in verschiedenen Informationsindustrien. Ein anders Beispiel ist der prozentuelle Anteil der Informationsarbeit an der Gesamt‐ anzahl der Lohnarbeiter oder Freiberufler. Derartige Forschung sollte sowohl quantitativ als auch qualitativ angelegt werden. Die qualitative Klassenanalyse der Informationsarbeit und die In‐ formationsanalyse der Klassen untersuchen, wie die Arbeiter die Ausbeu‐ tung erfahren. Wissensarbeiter sind besonders von der Ideologie, die als der neue Geist des Kapitalisms bezeichnet wird, betroffen. Der neue Geist des Kapitalismus ist eine Ideologie, die den Arbeitskräften nichtentfremdete Ar‐ beit verspricht, in der sich selbstbestimmt arbeiten und ein Leben wie Künst‐ ler, Persönlichkeiten oder Journalisten führen 24 . Empirische Studien zeigen, dass die Wissensarbeiter in den Medien-, Kreativ-, Kultur- und Digital-In‐ dustrien ihre Arbeit als hochgradig kreativ, selbstbestimmt und selbstver‐ wirklichend erleben. Zugleich ist diese Arbeit aber oft prekär 25 . Rosalind Gill 26 bietet eine Zusammenfassung der Haupteigenschaften der Wissens‐ 245 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 245 <?page no="246"?> 27 Radovan Richta et al. 1971. Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts: Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhält‐ nisse. Frankfurt am Main: makol. S. 289. arbeit in den Kultur- und Medienindustrien. Zu den Charakteristika derar‐ tiger Arbeiten gehören typischerweise: 1. Liebe zur Arbeit, 2. das unternehmerische Begehren, innovativ und ein Pionier zu sein, 3. kurzzeitige, prekäre und unsichere Arbeit, 4. geringe Bezahlung/ geringes Einkommen, 5. lange Arbeitszeit, 6. die Notwendigkeit, seine Kenntnisse und Fertigkeiten ständig wei‐ terzuentwickeln, 7. DIY-Lernen („Mach es selbst“), 8. Formlosigkeit, 9. Ungleichheit in Bezug auf Klasse, Gender, Alter, Ethnizität und Be‐ hinderung, 10. Mangel und Zeit und Ressourcen zur Planung der Zukunft. Die Kreativarbeit erscheint oft als weniger entfremdet als körperliche Arbeit und andere Arbeitsformen. Die Wirklichkeit unterscheidet sich aber oft von den Versprechungen und vom ideologischen Diskurs über Kreativarbeit. Sie ist oft als prekäre Arbeit organisiert, bei der es an sozialer Sicherheit, Job‐ sicherheit und Einkommenssicherheit mangelt. Die Ideologie des neuen Geistes des Kapitalismus kann zu einem verdinglichtem Bewusstsein der Kreativarbeiter führen, sodass sie sich nicht als Arbeiter, sondern als reale oder aufstrebende Unternehmer verstehen, die gewerkschaftlicher Organi‐ sierung feindlich gegenüberstehen und Prekarität als einen individuell und nicht einen kapitalistisch bedingten Umstand erachten. Die „Fachangestell‐ ten, das technische Personal, die Bürobeamten usw. vermehren unter diesen Bedingungen die Reihen der Arbeiterklasse - auch wenn sie nicht in Overalls herumlaufen, wenngleich ihre Position nicht ganz eindeutig ist, so dass sie sich darüber oft selbst Illusionen hingeben“ 27 . Der neue Geist des Kapitalis‐ mus hat dazu beigetragen, dass eine neue Form der Entfremdung entstanden ist, die als nichtentfremdet erscheint. Ob die Arbeiter dieser neuen Ideologie widerstehen können ist von verschiedenen Faktoren abhängig, wozu die Fragen gehören, ob sie sich politisch selbstorganisieren können oder nicht, 246 7. Kommunikationsgesellschaft 246 <?page no="247"?> 28 Datenquelle: UNCTAD Statistics, http: / / unctadstat.unctad.org/ , aufgerufen am 29. Au‐ gust 2018. und ob sie kritisches Bewusstsein entwickeln können, das es ihnen erlaubt, hinter den falschen Schein der kapitalistischen Realität zu blicken. In der Zeitperiode zwischen 1970 und 2016 hat der Anteil von Landwirt‐ schaft, Jagdindustrie, Forstwirtschaft und Fischerei am weltweiten Brutto‐ sozialprodukt von 9,1 auf 4,2 Prozent abgenommen. Der Anteil der verar‐ beitenden Industrie ist von 24,9 auf 16,0 Prozent gesunken. Und der Anteil des Dienstleistungssektor ist von 51,5 auf 64,0 Prozent angestiegen 28 . Indi‐ katoren wie dieser operieren rein auf der Ebene der Produktivkräfte. Für eine kritische Theorie sind aber Indikatoren, die Klassenanalyse und die Analyse der Produktivkräfte kombinieren, interessanter. Eine wichtige Frage ist zum Beispiel, wieviele Proletarier es heute in der Welt gibt und in welchen Sektoren des Kapitalismus sie ausgebeutet werden. Es gibt heute mehr Arbeiter in der Welt als jemals zuvor, aber sie sind möglicherweise weniger politisch organisiert als jemals zuvor. Tabelle 7.2 gibt einen Über‐ blick relevanter Indikatoren, die von der Internationalen Arbeitsorganisa‐ tion stammen. 1991 2019 Gesamte Erwerbsbevölkerung 2 395,1 3 531,7 Gesamtbeschäftigung 2 260,1 3 342,5 Lohnarbeiter 995 1 811,1 Selbständige ohne Personal 739,9 1 081,2 Mithelfende Familienmitglieder 466,5 345,1 Arbeitslose 134,9 189,2 Arbeitgeber 60,6 105,1 Beschäftigung in der Landwirtschaft 979,3 850,7 Beschäftigung in der Fertigungsindustrie 522,5 743,3 Beschäftigung im Dienstleistungssektor 758,3 1 748,4 247 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 247 <?page no="248"?> 29 Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, http: / / www.ilo.org/ wesodata 30 Datenquelle: World Bank Data, http: / / databank.worldbank.org/ 31 Datenquelle: World Bank Data, http: / / databank.worldbank.org/ Menschen, die nicht Teil der Erwerbsbevölkerung sind (nicht miteingerechnet sind Kinder und Jugendliche unter 15) 1 247,9 2 202,5 Tabelle 7.2: Umfang der globalen Arbeiterklasse 29 , Daten in Millionen Die Internationale Arbeitsorganisation definiert die Beschäftigung als die Summe aller Beschäftigten, wozu die Lohnarbeiter, Selbständige ohne Be‐ schäftigte und mithelfende Familienmitglieder (die in Familienbetrieben mithelfen, die von jemanden aus der Familie geführt werden) zählen. Die Definition umfasst sowohl Vollzeitals auch Teilzeitbeschäftigte. Die Varia‐ ble der Erwerbsbevölkerung kombiniert die Beschäftigtenzahl und die Ar‐ beitslosen. Wenn wir diese Variable als konstitutiv für die Größe der Arbei‐ terklasse nehmen, dann gab es im Jahr 2019 mehr als 3,5 Milliarden Arbeiter in der Welt, was eine Zunahme um 47,5 Prozent seit 1991 bedeutet. Im Ver‐ gleich dazu ist die Klasse der Arbeitgeber mit etwas mehr als 100 Millionen Mitglieder im Jahr 2019 relativ klein, aufgrund des Kapitals, das sie kontrol‐ liert, aber sehr mächtig. 52,3 Prozent der weltweit aktiven Arbeiter finden sich im Dienstleistungssektor, 22,2 Prozent arbeiten in der Fertigungsindus‐ trie, und 25,5 Prozent sind in der Landwirtschaft tätig. 2,2 Milliarden Men‐ schen, die 15 Jahre oder älter sind, sind nicht erwerbstätig. Die Weltbevölkerung betrug im Jahr 2019 etwa 7,7 Milliarden, wovon biologisch betrachtet 3,88 Milliarden (50,4 Prozent) Männer und 3,81 Mil‐ larden (49,6 Prozent) Frauen waren 30 . Im Jahr 2019 gab es 2,2 Milliarden Menschen, die nicht Teil der Erwerbsbevölkerung waren, wobei die 1,97 Millionen Kinder 31 im Alter von 0 bis 14 nicht migerechnet sind. Wenn wir annehmen, dass die Armen Teil der Arbeiterklasse sind und dass sich der Klassenstatus der Pensionisten, als sie erwerbstätig waren, ähnlich verhielt wie heute das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital (105,1 Millionen Ar‐ beitgeber; 3,5317 Milliarden Arbeiter: 2,9% / 97,1%), so ist es eine gute Ein‐ schätzung, dass zumindest 2,1 Milliarden Individuen, die nicht erwerbstätig sind, zur Arbeiterklasse zählen, da sie entweder arm oder pensionierte Ar‐ beiter sind. Derart betrachtet umfasste die globale Arbeiterklasse im Jahr 2019 5,7 Milliarden Menschen. Die 2 Milliarden Kinder der Welt sind aus 248 7. Kommunikationsgesellschaft 248 <?page no="249"?> 32 Datenquelle: World Bank Data, http: / / databank.worldbank.org/ dieser Rechnung ausgespart, da ihr zukünftiger Klassenstatus nicht not‐ wendigerweise durch den Klassenstatus ihrer Eltern bestimmt ist. Die größte menschliche Gruppe ist die universelle Gruppe der Mensch‐ heit, die im Jahr 2019 aus etwa 7,7 Milliarden Individuen bestand. Die zweit‐ größte Gruppe ist nicht jene der Männer, Frauen, Kinder oder älteren Men‐ schen. Im Jahr 2019 gab es 3,9 Milliarden Männer, 3,8 Milliarden Frauen, 2 Milliarden Kinder und 702 Millionen Menschen, die älter als 65 waren 32 . 74 Prozent der Weltbevölkerung waren im Jahr 2019 Teil der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist die größte Untergruppe der Menschheit. Sie ist mit 5,7 Milliarden Mitgliedern größer als alle anderen Untergruppen. Es gibt also empirische Anzeichen dafür, dass Klasse grundlegender ist als Sexualität, Gender, Alter, Ethnizität usw. Es gibt natürlich unterschiedliche Formen der Unterdrückung in der Welt, die in Wechselbeziehung stehen. Die Arbeiter‐ klasse ist aber die weltgrößte Gruppe der Unterdrückten. Ausbeutung ist die Form der Herrschaft, die die meisten Menschen betrifft. Die Tabellen 7.3, 7.4 und 7.5 kombinieren die Analyse der Arbeiterklasse mit geographischen Daten und Daten zu Wirtschaftssektoren, die mit den Produktivkräften zu tun haben. 1992 2019 Gesamt: 991,3 850,7 Region: Osteuropa 22,5 12,1 Nord-, Süd- und Westeuropa 13 6,8 USA 3,4 2,5 Kanada 0,6 0,4 Australien & Neuseeland 0,6 0,5 Japan 4,2 2,2 Südkorea 2,8 1,3 Singapur 0,0 0,0 Vereinigte Arabische Emirate (VAE) 0,1 0,0 249 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 249 <?page no="250"?> 33 Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, http: / / www.ilo.org/ wesodata Gesamt, enwickelte Länder: 47,2 25,8 Arabische Staaten (ohne VAE) 4,2 6,7 Nordafrika 13,6 18,8 Subsaharisches Afrika 122,4 226,8 Zentral- und Westasien 18,6 15,2 Südostasien und Pazifikregion (ohne Australien, Neuseeland und Singapur) 119,9 101,5 Lateinamerika und Karibik 42,5 41 Südasien, davon Indien: 265 208,7 286,3 208,9 Ostasien (ohne Japan und Südkorea), davon China: 358,1 349,1 128,7 117,3 Gesamt, Entwicklungsländer: 944,3 825 Tabelle 7.3: Globale Beschäftigung in der Landwirtschaft, in Millionen 33 1992 2019 Gesamt: 529,5 743,3 Region: Osteuropa 49,8 38 Nord-, Süd- und Westeuropa 55,8 44,6 USA 29,3 29,4 Kanada 2,9 3,7 Australien & Neuseeland 2,4 2,8 Japan 22,6 16,3 Südkorea 7 6,5 Singapur 0,5 0,5 Vereinigte Arabische Emirate (VAE) 0,3 2,5 250 7. Kommunikationsgesellschaft 250 <?page no="251"?> 34 Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, http: / / www.ilo.org/ wesodata Gesamt, enwickelte Länder: 170,6 144,3 Arabische Staaten (ohne VAE) 4,1 11,7 Nordafrika 8,5 19 Subsaharisches Afrika 16,2 44,4 Zentral- und Westasien 11 19,1 Südostasien und Pazifikregion (ohne Australien, Neuseeland und Singapur) 27,9 70 Lateinamerika und Karibik 37,3 62,9 Südasien, davon Indien: 65,7 49,5 167,3 124,1 Ostasien (ohne Japan und Südkorea), davon China: 188,3 181,1 204.7 197,2 Gesamt, Entwicklungsländer: 359,0 599,1 Tabelle 7.4: Globale Beschäftigung in der Fertigungsindustrie, in Millionen 34 1992 2019 Gesamt: 782,5 1.748,4 Region: Osteuropa 70,3 85,4 Nord-, Süd- und Westeuropa 104,5 152 USA 88,8 125,5 Kanada 9,6 15 Australien & Neuseeland 6,5 11,6 Japan 38,2 46,2 Südkorea 9,9 19 Singapur 1 2,8 Vereinigte Arabische Emirate (VAE) 0,6 3,9 251 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 251 <?page no="252"?> 35 Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, http: / / www.ilo.org/ wesodata Gesamt, enwickelte Länder: 329,4 461,4 Arabische Staaten (ohne VAE) 10,7 29,1 Nordafrika 13,7 30,1 Subsaharisches Afrika 43,1 128,6 Zentral- und Westasien 17,7 38,1 Südostasien und Pazifikregion (ohne Australien, Neuseeland und Singapur) 52,5 155,2 Lateinamerika und Karibik 88,4 190,5 Südasien, davon Indien: 98,8 72,4 259,2 182,8 Ostasien (ohne Japan und Südkorea), davon China: 128,3 120,0 456,2 442,6 Gesamt, Entwicklungsländer: 453,2 1.287,0 Table 7.5: Globale Beschäftigung im Dienstleistungssektor, in Millionen 35 Die globale Anzahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte hat von etwa ei‐ ner Million im Jahr 1992 auf 850 Millionen im Jahr 2019 abgenommen, was eine Abhahme um 14,2 Prozent bedeutet. Ein derartiger Rückgang zeigte sich sowohl in den Entwicklungsländern als auch den wirtschaftlich entwi‐ ckelten Ländern. Im Jahr 2019 befanden sich 97 Prozent der weltweiten Landwirtschaftsarbeiter in Entwicklungsländern und nur drei Prozent in den entwickelten Ländern. Dieser Umstand zeigt die ungleiche geographi‐ sche Entwicklung der Industrialisierung und der Informatisierung der Welt. Die Entwicklungsländer sind wesentlich mehr durch die Landwirtschaft ge‐ prägt als die entwickelten Länder. In China hat die Anzahl der landwirt‐ schaftlichen Arbeiter von 349,1 Millionen im Jahr 1992 auf 117,3 Millionen im Jahr 2019 abgenommen, was eine Abnahme um 66,4 Prozent bedeutet. China wurde in den letzten Jahrzehnten mit rasanter Geschwindigkeit zu‐ gleich industrialisiert und informatisiert. Die Produktivkräfte des Landes verwandelten sich von einer vorwiegend landwirtschaftlichen Struktur in eine dienstleistungs- und fertigungsbasierte Wirtschaft. Die Anzahl der chi‐ nesischen Fertigungsarbeiter hat zwischen 1992 und 2019 um 9 Prozent auf 252 7. Kommunikationsgesellschaft 252 <?page no="253"?> 197 Millionen zugenommen. Während diesem Zeitraum hat die chinesische Dienstleistungsarbeit eine massive Zunahme von 120 auf 442 Millionen ver‐ zeichnet, was eine Wachstumsrate von 269 Prozent bedeutet. Die Anzahl der Arbeiter in der verarbeitenden Industrie ist im analysier‐ ten Zeitraum von 529,5 auf 743,3 Millionen angestiegen, was einen Zuwachs um 40 Prozent darstellt. Auf der Ebene der globalen Arbeiterklasse trifft es also nicht zu, dass es eine Deindustrialisierung gegeben hat. Die Deindus‐ trialisierung hat vielmehr die entwickelten Länder betroffen, in denen ins‐ gesamt 25 Millionen Fertigungsjobs verschwunden sind. In den Entwick‐ lungsländern gab es ein signifikantes Wachstum der Fertigungsindustrie. Das Wachstum betrug dort 67 Prozent. Seit den 1970er Jahren haben viele große Konzerne die Fertigung ihrer Waren in Entwicklungsländer ausgela‐ gert, um ihre Profite zu erhöhen. Dadurch entstand hochausgebeutete tay‐ loristische Arbeit, unter schlechten Arbeitsbedingungen. Die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich hat während dem analysierten Zeitraum sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den entwickelten Ländern stark zu‐ genommen. Der Anstieg betrug fast eine Milliarde Arbeiter. Im Jahr 2019 gab es etwa 1,7 Milliarden Dienstleistungsarbeiter auf der Erde. In den Tabelle 7.6 und 7.7 werden einige Daten zur Größe und geogra‐ phischen Verteilung der kapitalistischen Klasse dargestellt. 1992 2019 Gesamt: 62,9 105,1 Region: Osteuropa 6,1 2,6 Nord-, Süd- und Westeuropa 9,9 8,8 USA 5,6 5,7 Kanada 0,8 0,9 Australien & Neuseeland 0,6 0,8 Japan 1,4 1,3 Südkorea 0,6 1,5 Singapur 0,1 0,2 Vereinigte Arabische Emirate (VAE) 0,0 0,2 253 7.3. Indikatoren der Informationsgesellschaft 253 <?page no="254"?> 36 Datenquelle: ILO World Employment and Social Outlook, http: / / www.ilo.org/ wesodata Gesamt, enwickelte Länder: 25,1 22,0 Arabische Staaten (ohne VAE) 0,6 2,1 Nordafrika 3,4 4,6 Subsaharisches Afrika 4,8 10,7 Zentral- und Westasien 1,6 2,9 Südostasien und Pazifikregion (ohne Australien, Neuseeland und Singapur) 4,1 10,2 Lateinamerika und Karibik 7,5 13,8 Südasien, davon Indien: 7,9 12,4 Ostasien (ohne Japan und Südkorea), davon China: 7,6 26,4 Gesamt, Entwicklungsländer: 37,5 83,1 Tabelle 7.6: Die globale Verteilung der Arbeitgeber, in Millionen 36 1980 1992 2006 2009 2017 Welt 17.273 25.277 43.084 42.520 43.039 Ostasien & Pazi‐ fikregion 3.356 5.323 12.378 13.207 18.148 EU 5.822 6.006 10.213 10 240 N/ A Eurozone 2 842 3.691 6.409 6.250 5.470 Nordamerika 6.288 8.167 8.939 8 518 7.627 OECD 15.494 18.933 26.067 25.718 22.624 Lateinamerika & Karibik (exklu‐ sive Länder mit hoher Entwick‐ lung) 697 1.009 835 871 842 Arabische Welt N/ A N/ A N/ A 1.249 1.172 254 7. Kommunikationsgesellschaft 254 <?page no="255"?> 37 Datenquelle: World Bank Data, https: / / data.worldbank.org/ Mittlerer Osten & Nordafrika (ex‐ klusive Länder mit hoher Ent‐ wicklung) N/ A N/ A N/ A N/ A 984 Südasien N/ A 2.781 5.883 6.030 6.483 China N/ A N/ A 1.421 1.604 3.485 Tabelle 7.7: Die Anzahl der börsennotierten Unternehmen 37 Die Anzahl der Arbeitgeber hat von 62,9 Millionen im Jahr 1992 auf 105,1 Millionen im Jahr 2019 zugenommen, was ein Wachstum um 67 Prozent bedeutet. Während der Umfang der Gruppe der Arbeitgeber in den entwi‐ ckelten Ländern sank, gab es einen signifikanten Anstieg in den Entwick‐ lungsländern. 40 Prozent der in diesem Zeitraum neu hinzugekommenen Arbeitgeber leben in China. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass in den sich rasch industrialisierenden und informatisierenden kapitalistischen Ländern nicht nur ein neues Proletariat, sondern auch eine neue Bourgeoisie entsteht. Die Anzahl der börsennotierten Unternehmen hat von 25.277 im Jahr 1992 auf 43.520 im Jahr 2019 zugenommen, was einen Anstieg um 72 Prozent bedeutet. Im Jahr 2009 nahm die Gesamtanzahl der börsennotierten Unter‐ nehmen der Welt absolut ab, was eine Auswirkung der neuen Weltwirt‐ schaftskrise war. China war in dieser Hinsicht nicht von der Krise betroffen. Die Anzahl der Unternehmen in diesem Land nahm weiterhin zu und ver‐ fielfachte sich im Zeitraum zwischen 1992 und 2019 um den Faktor 2,5. 7.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Schlussfolgerungen dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Im Diskurs über die Informationsgesellschaft gibt es kontinuierliche, diskontinuierliche, subjektive und objektive Ansätze. Während einige die Gesellschaft als weiterhin kapitalistisch und ohne großartige Ver‐ änderungen erachten, argumentieren andere, dass die Informations‐ gesellschaft eine grundlegend neue Gesellschaft ist. Während die ei‐ 255 7.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 255 <?page no="256"?> nen Ansätze die Rolle des Wissens in der Gesellschaft betonen, stellen andere die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien in den Vordergrund. Die vorherrschende Form der Theorie der Infor‐ mationsgesellschaft, wozu Konzepte wie Netzwerkgesellschaft, post‐ industrielle Gesellschaft oder Wissensgesellschaft gehören, ist eine bourgeoise Ideologie, die die Gesellschaft mit positiven Begriffen be‐ legt, wodurch die Negativität von Klasse und Kapitalismus mißachtet wird, mit der die Arbeiter der Welt tagtäglich konfrontiert sind. ■ In einer dialektischen Theorie wird die heutige Gesellschaft als Einheit in der Vielfalt verschiedener Kapitalismen begriffen, wobei der Infor‐ mations- und kommunikative Kapitalismus eine Dimension darstellt. Während die Produktivkräfte zunehmend auf Informations-, Wis‐ sens- und Dienstleistungsarbeit beruhen, haben solche Veränderun‐ gen zur Reproduktion der kapitalistischen Klassenverhältnisse beige‐ tragen. Die heutige Gesellschaft ist auf der Ebene der Produktivkräfte zu einem bestimmten Grad informationell. Und die Gesellschaft ist auf der Ebene der Produktions- und Machtverhältnisse kapitalistisch. Es gibt im Informationskapitalismus eine Dialektik von Objekt (Infor‐ mations- und Kommunikationstechnologien) und Subjekt (Wissen, Wissensarbeit). ■ Die Arbeiterklasse ist im 21. Jahrhundert so groß wie niemals zuvor. Mit 6 Milliarden Mitgliedern ist sie die größte Gruppe der Menschheit, woran die Wichtigkeit der Klassen in der globalen kapitalistischen Gesellschaft deutlich wird. Die Struktur der Arbeit hat sich gewandelt: Es hat einen signifikanten Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeit in der Welt gegeben, der in den Ländern des Zentrums, der Peripherie und der Semiperipherie stattgefunden hat und dadurch auch den Glo‐ balen Süden betroffen hat. Während es in den letzten Jahrzehnten zur Deindustrialisierung im Westen gekommen ist, hat es im Globalen Süden einen Anstieg der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie gegeben, da transnationale Konzerne die Produktion teilweise in Ent‐ wicklungsländer ausgelagert haben. Die Anzahl der Dienstleistungs‐ beschäftigten hat sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den entwickelten Ländern sehr stark zugenommen. Radovan Richta war ein tschechischer Philosoph. Zur Zeit des Prager Früh‐ lings im Jahr 1968, als die Tschechoslowakei versuchte, unter der Führung von Alexander Dubček einen demokratischen, humanistischen Sozialismus 256 7. Kommunikationsgesellschaft 256 <?page no="257"?> 38 Radovan Richta et al. 1971. Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts: Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhält‐ nisse. Frankfurt am Main: makol. 39 Ebd., S. 20. 40 Ebd., S. 60. 41 Ebd., S. 62 einzuführen, war Richta der Leiter einer Forschungsgruppe, die die Poten‐ tiale der technisch-wissenschaftlichen Revolution für die Beförderung des demokratischen, humanistischen Sozialismus untersuchte. Die Ergebnisse wurden in einem Bericht veröffentlicht, der den Titel Richta-Report: Politi‐ sche Ökonomie des 20. Jahrhunderts: Die Auswirkungen der technisch-wissen‐ schaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse trägt 38 . Heute ist die‐ ser Bericht ein vergessener und übersehener Aspekt der Theorie der Informationsgesellschaft. Er bleibt aber sehr wichtig und zeitgemäß. Richta sah die kapitalistische Gestaltung und Verwendung der Wissen‐ schaft und Informationstechnologie kritisch. Er argumentierte basierend auf Marx, dass eine gemeingutorientierte, demokratische, humanistische Ge‐ sellschaft wissenschaftliche und technische Grundlagen braucht. Die Marx‐ sche Kritik des Kapitalismus sagte im Vorhinein jene Wandlungen voraus, „die wir heute als wissenschaftlich-technische Revolution bezeichnen und als wesentlichen Bestandteil der kommunistischen Veränderungen auffas‐ sen“ 39 . Der Sozialismus benötigt Grundlagen auf „neuer technischer Basis, in Gestalt der Vollrealisierung des automatischen Prinzips“ 40 . „Der Logik der Dinge entsprechend erhält (vom Gesichtspunkt tieferer Modell-Zusammen‐ hänge aus) also gerade die sozialistische und zum Kommunismus überge‐ hende Gesellschaft die Chance, die wissenschaftlich-technische Revolution bis in die letzten Konsequenzen zu verwirklichen. Und im Gegenteil: für eine Gesellschaft, die zum Kommunismus hinzielt und »deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jeden Individuums ist«, muss die schrittweise Überwindung des traditionallen Industriesystems und des ihm entsprechen‐ den Wachstumsmodells sowie der »Übergang« zur wissenschaftlich-tech‐ nischen Revolution verbindlich sein“ 41 . Richta sieht das Potential der technisch-wissenschaftlichen Revolution, die zur Emergenz des Computers geführt hat, darin, dass eine Gesellschaft jenseits der Notwendigkeit geschaffen wird, die die harte Arbeit abschafft und die Freizeit maximiert: „Wenn das Zeitalter der Wissenschaft und Tech‐ nik den in der Freizeit verborgenen wahrhaften Reichtum in der vielseitigen Gestaltung der menschlichen Fähigkeiten offenbart, so fällt der abstrakte 257 7.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 257 <?page no="258"?> 42 Ebd., S. 205. 43 Ebd., S. 322-323. 44 Ebd., S. 323. Gegensatz der Freizeit und der Arbeit fort, sofern diese zur schöpferischen Tätigkeit wird und vice versa. Die Sphäre der für die Entfaltung des Men‐ schen freigemachten verfügbaren Zeit ersetzt auf dieser Linie die »Arbeits‐ zeit« in ihrer Funktion eines Maßes des gesellschaftlichen Reichtums“ 42 . Richta erinnert uns daran, dass der demokratische, humanistische, infor‐ mationelle und kommunikative Sozialismus die einzig wahre Alternative zum Informationskapitalismus darstellt. „Nutzung und Auswertung der Wissenschaft und Technik auf Grund einer die gesamte Gesellschaft um‐ fassenden Einheit, Entfaltung eines wirksamen Interesses aller am Produk‐ tivitätswachstum der gesellschaftlichen Arbeit, zielbewusster Einsatz mo‐ derner Technik, Schaffung von Bedingungen dafür, dass alle menschlichen Fähigkeiten entstehen und zur Geltung kommen können - das sind die ei‐ gentlichen Reserven und einzigen Garantien eines Sieges neuer gesellschaft‐ licher Prinzipien unter den heutigen Zivilisationsbedingungen. Mit ihnen steht und fällt der Sozialismus und Kommunismus” 43 . Die Gesellschaft ist auf einem Scheideweg, auf dem „sich eine Bewegung, die die Welt für den Menschen umgestalten will, auf den oszillierenden Indikator der Wissen‐ schaft und auf die Fähigkeit schöpferischen Denkens verlassen“ muss 44 . Zur politischen Ökonomie des Kapitalismus gehören nicht nur die wirt‐ schaftliche Produktion, Zirkulation und Konsumtion, sondern auch politi‐ sche Machtverhältnisse. Das nächste Kapitel wird die Aufmerksamkeit von der wirtschaftlichen auf die politische Ebene lenken. Es wird sich mit dem politischen System, der politischen Kommunikation und der Öffentlichkeit auseinandersetzen. 258 7. Kommunikationsgesellschaft 258 <?page no="259"?> 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit In Kapitel 3 wurde betont, dass die Öffentlichkeit eine Art Schnittstelle der Gesellschaft ist, die zwischen verschiedenen Sphären vermittelt. Wenn sich Bürger in Nichtregierungsorganisationen oder sozialen Bewegungen poli‐ tisch engagieren oder Politik öffentlich diskutieren, dann sind sie Teil der und agieren in der Öffentlichkeit. Dieses Kapitel analysiert politische Kom‐ munikation in der Öffentlichkeit. Politischer Protest findet in der Öffentlichkeit statt. In den letzten Jahr‐ zehnten ist in der Politik viel über neue soziale Bewegungen gesprochen worden (wie etwa über die Umweltbewegung, die Frauenbewegung, die LGBT-Bewegung, die Tierrechtsbewegung, usw.). Viele Beobachter haben in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die Arbeiterbewegung veral‐ tet ist, keine wichtige Rolle mehr in der Politik und sozialen Kämpfen spielt und dass neue soziale Bewegungen die Arbeiterbewegung und deren ge‐ sellschaftliche Kämpfe ersetzt haben. Wird die Frage nach sozialen Bewe‐ gungen derart formuliert, so ist sie eine, die mit dem Verhältnis des Ökono‐ mischen und des Nicht-Ökonomischen, von Klasse und Nicht-Klasse, Ausbeutung und Herrschaft, zu tun hat. Da es sich dabei um eine wichtige Frage handelt, diskutiert Abschnitt 8.1 das Verhältnis von Kapitalismus und Herrschaft. Abschnitt 8.2 beschäftigt sich mit dem Begriff der Öffentlichkeit und dem Verhältnis von Öffentlichkeit und politischer Kommunikation. 8.1. Kapitalismus und Herrschaft Entfremdung In Kapitel 5 wurde der Begriff der wirtschaftlichen Entfremdung diskutiert. Entfremdung ist ein Prozess, der sich über die Wirtschaft hinaus erstreckt. Sie hat mit Herrschaft im Allgemeinen zu tun. Marx hat den Begriff der ökonomischen Entfremdung im Kapitalismus eingeführt, betont aber auch, dass es Entfremdung in den Bereichen der Politik und der Ideologie gibt: „In dem sogenannten christlichen Staat gilt zwar die Entfremdung, aber nicht der Mensch. Der einzige Mensch, der gilt, der König, ist ein von den andern <?page no="260"?> 1 Karl Marx. 1844. Zur Judenfrage. In MEW Band 1, 347-377. S. 360. 2 Ebd., S. 367. 3 Vgl: Christian Fuchs. 2018. Universal Alienation, Formal and Real Subsumtion of Society Under Capital, Ongoing Primitive Accumulation by Dispossession: Reflections on the Marx@200-Contributions by David Harvey and Michael Hardt/ Toni Negri. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 16 (2): 454-467. 4 David Harvey. 2018. Universal Alienation. tripleC: Communication, Capitalism & Cri‐ tique 16 (2): 424-439. Menschen spezifisch unterschiedenes, dabei selbst noch religiöses, mit dem Himmel, mit Gott direkt zusammenhängendes Wesen. Die Beziehungen, die hier herrschen, sind noch gläubige Beziehungen” 1 . „Die politische Emanzi‐ pation ist zugleich die Auflösung der alten Gesellschaft, auf welcher das dem Volk entfremdete Staatswesen, die Herrschermacht, ruht” 2 . Marx verdeutlicht, dass herrschaftsförmige Ideologien (wie Religion, Na‐ tionalismus, Neoliberalismus usw.) eine Entfremdung des menschlichen Be‐ wusstseins bedeuten und dass politische Herrschaft, die von den Bürgern abgekoppelt ist, politische Entfremdung darstellt. Für Marx ist die Entfrem‐ dung einerseits Ausbeutung und anderseits eine universelle Form der Herr‐ schaft, in der die Menschen nicht die Systeme, Organisationen und Struk‐ turen kontrollieren, in denen sie leben und alltäglich agieren 3 . Klassenbeziehungen entfremden die Menschen von den Bedingungen, Prozessen und Produkte der Arbeit. Der Staat entfremdet die Menschen von kollektiven Entscheidungsprozessen. Die Ideologie entfremdet die Menschen von der kulturellen Produktion von Bedeutungen. Die grundlegende Eigenschaft der Entfremdung ist, dass die Menschen nicht die Strukturen kontrollieren, die ihr Leben beeinflussen. In einer Klas‐ sengesellschaft kontrollieren die Menschen nicht die Produktionsmittel. In einer Diktatur kontrollieren sie nicht den politischen Entscheidungsprozess. Und in einer ideologischen Kultur kontrollieren sie nicht die Weltanschau‐ ungen und die Definition der Realität. David Harvey argumentiert, dass die Entfremdung ein universeller Pro‐ zess ist, den er als universelle Entfremdung bezeichnet, da sie sich über die Produktion hinweg in Bereiche wie die Realisierung des ökonomischen Werts, die Distribution und den Konsum der Waren, die Politik, das Alltags‐ lebens, die Kultur, gesellschaftliche Bedingungen, usw. erstreckt 4 . In allen Formen der Entfremdung gibt es asymmetrische Machtverhältnisse, die dazu führen, dass die Menschen nicht jene Objekte kontrollieren, die ihr Leben beeinflussen (die Natur, die Produktionsmittel, die Kommunikationsmittel, 260 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 260 <?page no="261"?> das politische System, das kulturelle System usw.). Als Ergebnis davon haben sie Nachteile in der Gesellschaft. Bei der Entfremdung besteht ein Mangel an Kontrolle über eine Aktivität, die zu bestimmten externen Produkten führt. Der Kontrollmangel bedeutet die Nichtexistenz kollektiven Eigentums und den mangelnden Einfluss auf politische Entscheidungen und Bedeutungsproduktion. Aneignung und Ver‐ söhnung (der Menschen mit den Bedingungen ihrer Existenz) sind das Ge‐ genteil der Entfremdung. Wenn die Menschen mit der Gesellschaft versöhnt werden, indem sie sich diese aneignen, dann übernehmen sie kollektiv die Kontrolle über die Strukturen, die ihr Leben beeinflussen. Wirtschaftliche Entfremdung bedeutet, dass die herrschende Klasse die Arbeit der be‐ herrschten Klasse ausbeutet. Im politischen und im kulturellen System nimmt die Entfremdung die Form der politischen und ideologischen Herr‐ schaft an. Unter Herrschaft ist dabei zu verstehen, dass eine Gruppe Vorteile auf Kosten anderer hat und Mittel kontrolliert, die es ihr erlaubt, die Ge‐ sellschaft in ihrem eigenen Interesse und gegen das Interesse machtloser und weniger mächtiger Gruppen zu beeinflussen. Die Kommunikation ist wie alle Formen der Produktion und des Verhal‐ tens in der Gesellschaft zielgerichtet. Sie hat das Ziel, Verständnis der Welt zu produzieren. Daraus folgt nicht, dass Verständnis Konsens und Zustim‐ mung impliziert. Die Kommunikation ist nicht notwendigerweise moralisch gut, befreiend und aufklärend. Zum Beispiel sind psychologische Kriegs‐ führung und Medienmanipulation genauso wie der politische Protest gegen den Faschismus und die Pflege von Kranken, alten Menschen und Kindern Formen der Kommunikation. Es gibt entfremdete und nichtentfremdete Formen der Kommunikation. Georg Lukács führt in seinem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein den Begriff der Verdinglichung im Kontext der Entfremdung ein. Er bringt damit zum Ausdruck, dass in der Entfremdung die Menschen wie Dinge und Objekte behandelt werden und dadurch auf den Status von Dingen reduziert werden. Es wird ihnen die Menschlichkeit abgesprochen und geraubt. Die Entfremdung ist eine Form der Vergegenständlichung, die einen Herr‐ schafts- und Klassencharakter hat: „Erst wenn die vergegenständlichten Formen in der Gesellschaft solche Funktionen erhalten, die das Wesen des Menschen mit seinem Sein in Gegensatz bringen, das menschliche Wesen durch das gesellschaftliche Sein unterjochen, entstellen, verzerren usw., entstehen das objektiv gesellschaftliche Verhältnis der Entfremdung und in 261 8.1. Kapitalismus und Herrschaft 261 <?page no="262"?> 5 Georg Lukács. 1923. Vorwort. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II, S. 11-41. Bielefeld: Aisthesis. S. 26-27. ihrer notwendigen Folge alle subjektiven Kennzeichen der inneren Ent‐ fremdung“ 5 . Während Verdinglichung der Prozess ist, der Entfremdung schafft, ist die Entfremdung die Bedingung, die aus der Entfremdung resultiert. Die Ver‐ dinglichung ist der Prozess der Ausbeutung und Herrschaft. Die Entfrem‐ dung ist der Zustand, dass man entfremdet, also ausgebeutet und beherrscht, ist. Rein praktisch betrachtet können Prozess und Ergebnis, Praktik und Struktur, nicht getrennt werden, sodass Entfremdung und Verdinglichung oft in synonymer Weise verwendet werden. Die Aneignung ist der Prozess, in dem die Menschen um die Kontrolle ihres Wesens kämpfen. Es handelt sich dabei nicht um eine Rückkehr zu einem originären Zustand, der ir‐ gendwann in der Geschichte einmal existiert hat und dann verloren gegan‐ gen ist, sondern um einen Kampf für die Realisierung von Bedingungen, die der Gesellschaft immanent sind. Das Wesen der Gesellschaft besteht in den positiven Möglichkeiten, die ein gutes Leben für alle ermöglichen. Die ethi‐ schen Standards der Gesellschaft sind dieser nicht von außen aufgezwungen, sondern durch die Möglichkeiten der Gesellschaft selbst definiert. In Klas‐ sengesellschaften sind gesellschaftliche Kämpfe Konflikte über die Realisie‐ rung von Möglichkeiten, die auf einem Kontinuum zwischen einerseits ent‐ fremdeten Bedingungen und andererseits angeeigneten Bedingungen liegen. Die Tabellen 8.1 und 8.2 zeigen Typologien der Entfremdung und Aneig‐ nung in den drei Teilsystemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Kultur). 262 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 262 <?page no="263"?> FORM DER ENTFREM‐ DUNG Subjekt (Er‐ fahrungen, Emotionen, Einstellun‐ gen) Intersubjekti‐ vität (soziales Handeln und Kommunika‐ tion) Objekte (Struktu‐ ren, Pro‐ dukte) Kämpfe Wirtschaftli‐ che Entfrem‐ dung Arbeitsunzuf‐ riedenheit Mangelnde Kontrolle über die/ Entfrem‐ dung der Ar‐ beitskraft: Aus‐ beutung Mangelnde Kontrolle über die/ Entfrem‐ dung von den Pro‐ duktions‐ mitteln und Pro‐ dukten: Ei‐ gentumslo‐ sigkeit Individuell: Anti‐ kapitalismus Gesellschaftlich: Gewerkschaftliche Organisie‐ rung, Klassen‐ kämpfe Politische Ent‐ fremdung Politische Un‐ zufriedenheit Mangelnde Kontrolle über die/ Entfrem‐ dung der politi‐ schen Macht: Entmachtung und Ausschluss Mangelnde Kontrolle über/ Ent‐ fremdung von Ent‐ scheidun‐ gen: Zen‐ tralisation der politi‐ schen Macht Individuell: Politi‐ sierung Gesellschaftlich: Soziale Bewegun‐ gen, Proteste, Par‐ teien, Revolutio‐ nen Kulturelle Ent‐ fremdung Kulturelles Unbehagen Mangelnde Kontrolle über/ Entfremdung von einflussrei‐ cher Kommuni‐ kation: unge‐ hörte Stimmen, Geringschät‐ zung, man‐ gelnde Aner‐ kennung Mangelnde Kontrolle über/ Ent‐ fremdung von öffent‐ liche(n) Ideen, Be‐ deutungen und Wer‐ ten: Zen‐ tralisation der Infor‐ mation Individuell: Kulturelle Fertig‐ keiten, gesell‐ schaftlich: Kämpfe um Aner‐ kennung Tabelle 8.1: Eine Typologie der Entfremdung 263 8.1. Kapitalismus und Herrschaft 263 <?page no="264"?> FORMEN DER ANER‐ KENNUNG Subjekt (Er‐ fahrungen, Emotionen, Einstellungen) Intersubjek‐ tivität (so‐ ziales Han‐ deln und Kommuni‐ kation) Objekte (Strukturen, Produkte) Kämpfe Wirtschaftli‐ che Aneignung Selbstverwirkli‐ chung Selbstbestim‐ mung der Arbeitskräfte: Selbstverwal‐ tung Selbstbestim‐ mung über die Produktions‐ mittel und Produkte: demokratischer Sozialismus Individuell: Antikapitalis‐ mus, gesell‐ schaftlich: ge‐ werkschaftliche Organisie‐ rung Politische Aneignung Engagierte Bürger Selbstbe‐ stimmte Macht: Basis‐ demokratie Selbstbe‐ stimmte Ent‐ scheidungen: partizipative Demokratie Individuell: Politisierung, gesellschaft‐ lich: soziale Bewegungen, Proteste, Par‐ teien, Revolu‐ tionen Kulturelle Aneignung Allgemeine Intellektuelle Selbstbe‐ stimmte Kom‐ munikation, die Einfluss hat: Beteili‐ gung, gegen‐ seitiges Ver‐ ständnis, Respekt und Anerkennung Selbstbestim‐ mung öffentli‐ cher Ideen und Werte: kultu‐ relle Öffent‐ lichkeit Individuell: Kulturelle Fertigkeiten, gesellschaft‐ lich: Kämpfe um Anerken‐ nung Tabelle 8.2: Eine Typologie der Aneignung Die Entfremdung bedeutet Bedingungen, unter denen die Menschen nicht kollektiv die Beziehungen, Strukturen und Systeme kontrollieren, die ihr Leben beeinflussen. Als Resultat davon haben diese Beziehungen, Struktu‐ ren und Systeme einen instrumentellen Charakter. Sie werden durch in‐ strumentelle Vernunft beherrscht. Aneignung bedeutet, dass die Menschen kollektiv die Kontrolle über die Bedingungen erlangen, die ihr Leben beein‐ flussen, und dass Gemeingüter existieren, also Bedingungen, unter denen alle Vorteile haben. Entfremdung ist auch eine Form der Aneignung, nämlich eine, bei der die herrschende Klasse die von der beherrschten Klasse pro‐ duzierten Güter enteignet und sich diese aneignet. Ausbeutung ist die „ka‐ 264 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 264 <?page no="265"?> 6 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 610 & 791. 7 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band 40 (Ergänzungsband 1), 465-588. Berlin: Dietz. S. 522. 8 Ebd., S. 536. 9 Ebd., S. 536. pitalistische Aneignungsweise“ 6 . Die Vergemeinschaftung ist die alternative Weise der Aneignung, die in Tabelle 8.2 dargestellt wird. Sie ist charakte‐ ristisch für die gemeingutorientierte/ sozialistische Aneignungsweise. Im Kapitalismus erscheint „die Aneignung […] als Entfremdung, als Entäuße‐ rung“ 7 , während der Sozialismus die „wirkliche Aneignung“ des „gesellschaft‐ lichen, d. h. menschlichen Menschen” 8 darstellt. Er ist die „Aneignung des menschlichen Wesens” 9 . Die in den beiden Tabellen dargestellten Modelle basieren auf der Dia‐ lektik von Subjekt und Objekt: Menschliche Subjekte produzieren und re‐ produzieren Objekte, die die Praktiken der Subjekte bedingen. Die Kommu‐ nikation vermittelt diese Dialektik. Die drei Dimensionen (Subjekt, Objekt, vermittelnde Kommunikation) formen die drei Spalten der Tabellen 8.1 und 8.2. Die Ausbeutung ist die wirtschaftliche Form der Entfremdung. Politische Herrschaft ist die politische Form der Entfremdung. Kulturelle Herrschaft (Kulturimperialismus = Einheit ohne Vielfalt, kulturelle Fragmentierung = Vielfalt ohne Einheit) bedeutet kulturelle Entfremdung. Die Aneignung der gesellschaftlichen Bedingungen durch die Menschen bedeutet hingegen eine gemeingutorientierte Wirtschaft, partizipative Demokratie sowie Einheit in der Vielfalt. Ein entfremdetes Wirtschaftssystem ist ein Klassensystem, in dem die Arbeiter ausgebeutet werden. Eine selbstverwaltete Wirtschaft ist im Ge‐ gensatz dazu ein System, in dem die Menschen Eigentum gemeinsam pro‐ duzieren, kontrollieren und besitzen. Ein entfremdetes politisches System ist eine zentralisierte Bürokratie, in der Bürokraten die Bürger regieren. In einer partizipativen Demokratie hingegen haben die Bürger die Ressourcen, Zeit und Kenntnisse, die notwendig sind, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Ein entfremdetes Kultursystem ist eines, in dem eine privilegierte Gruppe die kollektive Definitionsmacht und die kollektive Bedeutungspro‐ duktion kontrolliert. In einer gemeingutorientierten Kultur haben die Men‐ schen die reale Möglichkeit, allgemeine Intellektuelle zu sein, die Bedeu‐ tungen der Welt gemeinsam produzieren. Identitäten werden wechselseitig 265 8.1. Kapitalismus und Herrschaft 265 <?page no="266"?> anerkannt, und es wird eine Einheit in der Vielfalt der Identitäten und Le‐ bensstile verwirklicht. Die menschlichen Subjekte erfahren die Welt durch soziales Handeln. Dabei haben sie bestimmte Gefühle der Welt gegenüber. Sie können die ob‐ jektiv bestehende Entfremdung als entfremdet oder nichtentfremdet erfah‐ ren und beurteilen. Die objektive Entfremdung kann in Gefühlen der Ent‐ fremdung resultieren. Dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Sklaven hassen nicht automatisch ihren Sklavenmeister. Einige entfremdete Indivi‐ duen lieben die Entfremdung und jene, von denen sie beherrscht werden. Die objektive Entfremdung hat aber immer Potentiale dafür, dass sich Ge‐ fühle der Entfremdung und basierend darauf Widerstand entwickeln. Die subjektive Entfremdung kann rein individuell bleiben. Sie kann aber auch eine kollektive politische Form annehmen, deren Ausdruck der Klas‐ senkampf, politischer Protest und Kämpfe um Anerkennung sind. Solche Kämpfe können die Grundlage eines gemeingutbasierten Sozial- und Ge‐ sellschaftssystems sein. Es gibt keine Garantie dafür, dass gesellschaftliche Kämpfe erfolgreich sind. Die Überwindung der Entfremdung bedeutet auf der subjektiven Ebene selbstverwirklichende Praktiken, aktives Bürgertum und allgemeine Intellektualität. Menschen können sich aber auch nichtentf‐ remdet dabei fühlen, wenn sie entfremdete Bedingungen vorantreiben. Aneignungskämpfe sind nur dann wirklich emanzipatorisch, wenn sie auf Sozial- und Gesellschaftsstrukturen abzielen, unter denen alle Vorteile ha‐ ben, sich zu Hause fühlen und zu Hause sind. Die instrumentelle Vernunft kapitalistischer Kommunikationssysteme Kapitalistische Kommunikationssysteme sind instrumentelle Systeme und in dreifacher Hinsicht entfremdet: 1. Sie behandeln die Menschen als Konsumenten und als Objekte der Werbung und der bourgeoisen Ideologie. 2. Kultur und Kommunikation nehmen im Kapitalismus die Warenform an. Es gibt eine Reihe von Kommunikationswaren, bei deren Produk‐ tion Kulturarbeiter, das Publikum und Nutzer ausgebeutet werden (siehe Tabelle 5.3 in Kapitel 5). 3. Im Kapitalismus gibt es Klassen, herrschende Gruppen und Ideologen, die darauf abzielen, das Bewusstsein der Menschen zu instrumentali‐ sieren, sodass diese Herrschaft und Ausbeutung akzeptieren, recht‐ fertigen und reproduzieren. Kapitalistische Kommunikationstechno‐ 266 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 266 <?page no="267"?> logien sind Mittel der Werbung, Kommodifizierung und der Ideologie. Kapitalistische Kommunikationsmittel instrumentalisieren Kommu‐ nikationsarbeit und das menschliche Bewusstsein. Herrschaft ist instrumentelle Rationalität und wird durch instrumentelle Kommunikation vermittelt. Die kooperative Rationalität steht im Wider‐ spruch zur instrumentellen Vernunft. Es handelt sich um eine Form der Ra‐ tionalität, die teleologische Setzungen derart beeinflusst, dass das Ziel der Praktiken die Etablierung von Bedingungen ist, unter denen alle Vorteile haben. Die kooperative Rationalität zielt in letzter Instanz auf partizipative Demokratie und die Gemeingüter ab, während die instrumentelle Rationa‐ lität zu Partikularismus und in letzter Instanz zum Faschismus führt. Ko‐ operative Kommunikation ist Kommunikation, die die Kooperation und das Streben nach der Schaffung von Gemeingütern vermittelt In Klassengesellschaften gibt es eine Geschichte des Antagonismus zwi‐ schen instrumenteller und kooperativer Rationalität. Herrschende Klassen und Gruppen entwickeln immer neuere Methoden der Ausbeutung und der Herrschaft, die die Menschen instrumentalisieren, sodass bestimmte Grup‐ pen auf Kosten anderer Vorteile haben. Widerstand und Alternativen ent‐ stehen nicht immer und nicht automatisch. Es gibt aber auch eine Geschichte der Kämpfe um Alternativen, die auf der kooperativen Rationalität beruhen. Klasse und Herrschaft Die in Kapitel 7 angeführten Daten zeigen, dass die Arbeiterklasse die größte beherrschte Gruppe ist. Klasse hat daher eine spezielle Rolle in der kapita‐ listischen Gesellschaft. Klasse und Klassenpolitik sind grundlegender als Identität und Identitätspolitik. Die Klassenungleichheit kann nicht inner‐ halb des Kapitalismus verschwinden. Frauen haben die Mehrheit der Reproduktionsarbeit durchgeführt, wozu Arbeiten wie die Kindererziehung, die Pflege, die Bildung, das Kochen, Wä‐ sche waschen, der Einkauf, das Putzen usw. gehören. Die Reproduktionsar‐ beit reproduziert die Arbeitskraft, sodass die Arbeiter dazu imstande sind, vom Kapital ausgebeutet zu werden. Die Reproduktionsarbeit produziert eine Gratisressource für das Kapital. Sie wird daher nicht von der Lohnarbeit, sondern vom Kapital ausgebeutet. Die produktive Arbeit schafft Wert und Waren, die verkauft werden, um Kapital zu akkumulieren. Die Hausarbei‐ tenden produzieren und reproduzieren die Arbeitskraft, die als Ware an Ka‐ 267 8.1. Kapitalismus und Herrschaft 267 <?page no="268"?> 10 Maria Mies.1989. Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Zürich: rotpunkverlag. S. 54. 11 Rosa Luxemburg, Rosa. 1913. Die Akkumulation des Kapitals. In Rosa Luxemburg Ge‐ sammelte Werke, Band 5: Ökonomische Schriften. Berlin: Dietz. 5-411. S. 363. 12 Claudia von Werlhof, Maria Mies & Veronika Bennholdt-Thomsen. 1983. Frauen, die letzte Kolonie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 13 Ebd., S. 149. pitalisten verkauft wird. Die Reproduktionsarbeit ist daher eine Form der produktiven Arbeit. In patriarchalen Klassengesellschaften gibt es eine Ar‐ beitsteilung, bei der bestimmte unbezahlte, niedrig bezahlte oder prekäre Arbeiten die Sphäre der Frauen sind und privilegiertere Formen der Arbeit Männerdomänen sind. Ideologisch wird diese Arbeitsteilung gerechtfertigt durch die Naturalisierung von Dualismen wie Geist/ Körper, Kultur/ Natur, Schöpfer/ Geschöpf, Rationalität/ Emotionalität, individuell/ sozial, aktiv/ passiv, öffentlich/ privat, aggressiv/ sanft, Krieg/ Frieden etc. Maria Mies schreibt, dass Frauen im Kapitalismus einer dreifachen Aus‐ beutung unterworfen sind: Sie werden „von den Männern ausgebeutet, und sie werden als Hausfrauen durch das Kapital ausgebeutet. Wenn sie Lohn‐ arbeit verrichten, so werden sie auch noch als Lohnarbeiterinnen ausge‐ beutet“ 10 . Rosa Luxemburg spricht davon, dass der Kapitalismus Milieus der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation „als Nährboden“ braucht, „auf dessen Kosten, durch dessen Aufsaugung die Akkumulation sich voll‐ zieht“ 11 . Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thom‐ sen 12 interpretieren die Hausarbeit und Arbeit im Globalen Süden als Milieus der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation im Sinne von Luxemburg, in denen eine Überausbeutung von Nichtlohnarbeitenden stattfindet, um Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Die Ausbeutung der Nichtlohnarbeit stellt die Reproduktion der Arbeitskraft sicher. Unter ursprünglicher Akku‐ mulation versteht man die „unmittelbare Gewalt zwecks Raub, wo immer, wann immer und gegen wen immer ‚ökonomisch‘ nötig und politisch und technisch möglich“ 13 . Der Kapitalismus ist inhärent imperialistisch und hat daher einen notwendigen Drang, neue Sphären der Ausbeutung, der Kom‐ modifizierung und der Akkumulation zu schaffen. Frauen, Kolonien und die Natur sind laut Werlhof, Mies und Bennholdt- Thomsen die Hauptziele der Ausbeutung in Prozessen der fortgesetzten ur‐ sprünglichen Akkumulation. Der neoliberale Kapitalismus hat die inneren Kolonien der ursprünglichen Akkumulation derart ausgeweitet, dass die prekäre Arbeit, wie sie für Hausarbeitende traditionell typisch gewesen ist, 268 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 268 <?page no="269"?> 14 Werlhof, Mies, Bennholdt-Thomsen, Frauen, die letzte Kolonie. Mies, Patriarchat und Kapital. 15 Werlhof, Mies, Bennholdt-Thomsen, Frauen, die letzte Kolonie, S. 115. 16 Mies, Patriarchat und Kapital, S. 27. 17 Ebd., S. 137-138. 18 Audrey Smedley. 1998. “Race” and the Construction of Human Identity. American Anth‐ ropologist 100 (3): 690-702. 19 David R. Roediger. 2007. The Wages of Whiteness: Race and the Making of the American Working Class. London: Verso. Revised edition. S. 13. itionell typisch gewesen ist, weit verbreitet wurde. Mies, Bennholdt-Thom‐ sen und Werlhof bezeichnen diesen Prozess als Hausfrauisierung 14 . Haus‐ frauisierte Arbeit hat Kennzeichen der Hausarbeit wie „keine permanente Beschäftigung, niedrigste Löhne, längste Arbeitszeiten, monotonste Arbeit, keine gewerkschaftliche Organisation, keine Qualifizierung, keinen Auf‐ stieg, keine Rechte und keine soziale Sicherheit“ 15 . Sie ist die „Quelle un‐ kontrollierter, unbeschränkter Ausbeutung“ 16 . Hausfrauisierte Arbeit ist die „Externalisierung oder Ex-Territorialisierung der Kosten, die sonst von den Kapitalisten gedeckt werden müssten“ 17 . Der Rassismus entstand als eine Konsequenz des europäischen Kolonia‐ lismus in Amerika, des englischen Kolonialismus in Irland und des afrika‐ nischen Sklavenhandels 18 . Der Rassismus ist mit dem Imperialismus ver‐ koppelt. Er hat den Kolonialismus, ungleichen Handel sowie die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen in Kolonialländern sowie der Im‐ migranten gerechtfertigt. David Roediger argumentiert auf der Basis von W.E.B. Du Bois’ Arbeiten, dass „die Lust des Weißseins als eine Art ‚Lohn‘ der weißen Arbeiter funk‐ tionieren kann. Das heißt, dass der Status und die Privilegien, die durch die Ethnizität verliehen werden, verwendet werden können, um für die ent‐ fremdenden und ausbeuterischen Klassenverhältnisse zu entschädigen” 19 . Dieser theoretische Ansatz lässt sich verallgemeinern: Die weiße Unterdrü‐ ckung von Farbigen oder jede andere Form des Rassismus spielt die Rolle kultureller oder ideologischer Macht. Sie erlaubt es den weißen Arbeitern und der weißen Bourgeoisie, sich von farbigen Menschen zu unterscheiden und Macht über diese auszuüben. Die Maskulinität ist eine Form der ideo‐ logischen Macht, durch die sich Männer von anderen unterscheiden und Macht ausüben. Maskulinität und weißer Rassismus sind patriarchale und rassistische Ideologien. Sie halten eine Art der Biopolitik aufrecht, in der der Körper ein Raum der Politik ist und kulturelle Macht akkumuliert wird. 269 8.1. Kapitalismus und Herrschaft 269 <?page no="270"?> David Roedigers Arbeit zeigt, dass die Motivation, die Ideologien wie Maskulinität, weißem Rassismus, Rassismus im Allgemeinen, Nationalismus usw. zugrunde liegt, das Ziel und die Lust der Individuen ist, die Ausbeutung und Herrschaft, also die Entfremdung, die sie erfahren, zu kompensieren. Als Konsequenz davon geht es in der Politik dann nicht um den Kampf gegen die herrschende Klasse, sondern darum, Unterlegene und Schwache zu Sündenböcken zu machen. Die Lust, die aus Unterdrückung und Ausbeutung stammt, ist ein kultureller „Lohn“. Politische Vorteile, die aus der Unterdrü‐ ckung und Ausbeutung stammen, sind ein politischer „Lohn“. Ideologische Macht wird benutzt, um wirtschaftliche und/ oder politische Macht zu er‐ zielen - eine bessere wirtschaftliche Situation, höhere Löhne, mehr Ein‐ kommen oder mehr politischer Einfluss. Rassismus, Nationalismus, Sexis‐ mus und andere Ideologien funktionieren als Mittel zur Schaffung ökonomischer und politischer Löhne. Derartige Ideologien können wirt‐ schaftliche, politische und kulturelle Mehr-„Löhne“ erzeugen, die wirt‐ schaftliche, politische und kulturelle Formen der Macht darstellen. Ideologie, Kultur und Autorität resultieren in Mehr-Löhnen in der Wirtschaft. Ideolo‐ gie und Politik sind in der kapitalistischen Gesellschaft Systeme der Akku‐ mulation, in denen politischer und kultureller Mehrwert akkumuliert wird. Der Mehrwert, den die Ideologie produziert, besteht nicht nur in einem Mehr an Lust und Vergnügen, die am Leiden anderer empfunden werden, sondern auch in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht. In der kapitalistischen Gesellschaft beeinflusst die Logik der Ausbeutung Formen der Herrschaft, wozu Rassismus und das Patriarchat zählen. Diese Beziehung manifestiert sich in der Form von politischen und ideologischen Löhnen. Die Produktion ist das allgemeine Modell der Gesellschaft. Im Ka‐ pitalismus beeinflusst daher die Logik der Ausbeutung die Herrschaft, wäh‐ rend bestimmte Formen der Herrschaft (Rassismus, Patriarchat usw.) nicht notwendigerweise die Ausbeutung beeinflussen, obwohl sie häufig Einfluss auf die Organisation der Klassenbeziehungen haben. Der Kapitalismus muss die Arbeit ausbeuten und daher gibt es konstant erneuerte Strategien, um die Ausbeutung zu erhöhen. Die Ideologie rechtfertigt Ausbeutung und Überausbeutung. Sie lenkt auch die Aufmerksamkeit von der Ausbeutung ab oder kommuniziert Rechtfertigungen von Herrschaft und Ausbeutung, die die realen Macht- und Klassenverhältnisse verzerren. Die Öffentlichkeit ist ein wichtiger Aspekt der politischen Kommunika‐ tion, der im nächsten Abschnitt diskutiert wird. 270 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 270 <?page no="271"?> 20 Jürgen Habermas. 1962/ 1990. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 54. 21 Ebd., S. 54. 22 Ebd., S. 97. 23 Ebd., §§. 14 & 15; und: Jürgen Habermas. 1989. The Public Sphere: An Encyclopedia Article. In Critical Theory and Society. A Reader, ed. Stephen E. Bronner and Douglas Kellner, 136-142. New York: Routledge. 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit Jürgen Habermas definiert die Öffentlichkeit als eine Sphäre, die „allen zu‐ gänglich“ 20 ist. „»Öffentlich« nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Ge‐ gensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind“ 21 . Die Öf‐ fentlichkeit hat die Aufgabe, kritische öffentliche Debatten zu organisieren. Die Öffentlichkeit braucht Kommunikationssysteme, um politische Debat‐ ten zu organisieren. Die Logik der Öffentlichkeit ist unabhängig von wirt‐ schaftlicher und politischer Macht: „Gesetze des Marktes sind ebenso sus‐ pendiert wie die des Staates“ 22 . Habermas argumentiert, dass die Öffentlichkeit nicht nur eine Sphäre der öffentlichen politischen Kommunikation ist, sondern auch eine Sphäre, die frei ist von staatlicher Zensur und Privat‐ eigentum. Sie ist frei von Partikularismus und instrumenteller Vernunft. Habermas diskutiert zentrale Eigenschaften der Öffentlichkeit 23 : ■ Die Öffentlichkeit ist eine Sphäre zur Ausbildung der öffentlichen Meinung. ■ Zu einer wahrhaften Öffentlichkeit haben alle Bürger Zugang. ■ Die Öffentlichkeit ermöglicht ohne Einschränkungen (Versamm‐ lungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit der Publikation von Meinungen) politische Debatten über Themen, die von allgemeiner Bedeutung sind. ■ Die Öffentlichkeit ermöglicht politische Debatten über die allgemei‐ nen Regeln, die soziale Beziehungen regulieren. ■ Privateigentum, Einfluss und Fertigkeiten ermöglichen, dass man in der bürgerlichen Öffentlichkeit gehört wird. Arbeiter sind von diesen Ressourcen ausgeschlossen. Dieser Umstand zeigt sich zum Beispiel daran, dass Kinder aus Arbeiterfamilien einen schlechteren Zugang 271 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 271 <?page no="272"?> 24 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 331. 25 Ebd., S. 333. zur Universitätsausbildung haben und eine geringere Universitätsab‐ schlussrate. ■ Die Bourgeoisie ist nur an ihrem Eigeninteresse interessiert, wobei es sich um Profitinteressen handelt und nicht um das allgemeine Inter‐ esse und das Gemeinwohl. ■ Marx erachtete den Sozialismus als Öffentlichkeit und als Alternative zum bürgerlichen Staat, der Klasseninteressen dient. Dies wurde in seiner Analyse der Pariser Kommune (März bis Mai 1871) als einer spezifischen Form der Öffentlichkeit deutlich. In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Wirtschaft eine separate Sphäre, die basierend auf der Warenproduktion und der Lohnarbeit entstand. Der Bereich der Wirtschat ist mit dem Haushalt, in dem die Reproduktionsarbeit stattfindet, vermittelt. Der Begriff des Privaten ist im Kapitalismus in die Sphäre der Wirtschaft mit Privateigentum und die Intimsphäre der Familie geteilt. Die Öffentlichkeit verbindet Kultur, Wirtschaft und Politik und schafft dadurch Überlappungen der gesellschaftlichen Teilsysteme. Die liberale Ideologie postuliert individuelle Freiheiten (Redefreiheit, Mei‐ nungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit) als universelle Rechte. Der partikularistische und stratifizierte Charakter der kapitalisti‐ schen Klassengesellschaft unterminiert diese universellen Rechte. Sie schafft Ungleichheit und dadurch auch einen ungleichen Zugang zur Öffentlichkeit. Es gibt zwei inhärente Beschränkungen der Öffentlichkeit, die Habermas diskutiert: ■ Die Beschränkung der Meinungsfreiheit und der öffentlichen Mei‐ nung: Wenn die Menschen nicht denselben formalen Bildungsgrad und dieselben materiellen Ressourcen zur Verfügung haben, so kann dies Beschränkungen des Zugangs zur Öffentlichkeit darstellen 24 . ■ Die Beschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit: Mächtige politische und wirtschaftliche Organisation besitzen „ein Oligopol der publizistisch effektiven und politisch relevanten Ver‐ sammlungs- und Vereinsbildung“ 25 . Habermas argumentiert, dass die bürgerliche Öffentlichkeit als Resultat die‐ ser Beschränkungen kolonialisiert und feudalisiert ist. Sie ist keine wahre 272 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 272 <?page no="273"?> 26 Di Wang. 2008. The Idle and the Busy. Teahouses and Public Life in Early Twen‐ tieth-Century Chengdu. Journal of Urban History 26 (4): 411-437. 27 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 421. Öffentlichkeit, sondern ein klassenstrukturierter politischer Raum. Bei der Öffentlichkeit handelt es sich um ein Konzept der immanenten Kritik, das zur Kritik der Defizite der Gesellschaft verwendet werden kann. Habermas sagt nicht unbedingt, dass die Öffentlichkeit überall existiert, sondern dass sie existieren soll. Die immanente Kritik vergleicht proklamierte Ideale mit der Realität. Findet sie heraus, dass die Realität ihren eigenen Idealen wi‐ derspricht, so wird deutlich, dass es einen grundlegenden Widerspruch gibt und dass die Realität verändert werden muss, um diese Inkongruenz zu überwinden. Die bürgerliche Öffentlichkeit schafft ihre eigenen Grenzen und damit auch ihre eigene immanente Kritik. Öffentliche Räume und Öffentlichkeiten gibt es nicht nur im Westen. Die Behauptung, dass es sich bei der Öffentlichkeit um ein auf den Westen zen‐ triertes Konzept handelt, ist daher ein Kurzschluss. Sie birgt auch die Gefahr in sich, dass undemokratische Regime gerechtfertigt werden, die gegen den Westen gerichtet sind und unter dem Deckmantel der Opposition zum west‐ lichen Kulturimperialismus und zum Eurozentrismus Autoritarismus vor‐ antreiben. Beim öffentlichen Teehaus handelt es sich um eine alte kulturelle Praktik und einen Raum, den man in vielen Teilen der Welt findet kann, wie zum Beispiel in China, in Japan, im Iran, in der Türkei oder in Großbritan‐ nien. Di Wang vergleicht das chinesische Teehaus des frühen 20. Jahrhun‐ derts mit den britischen Gaststätten (Public Houses) 26 . Es handelt sich um einen öffentlichen Raum, den Menschen aus allen Schichten und Klassen aus unterschiedlichen Gründen aufsuchen. Das chinesische Wort für das Teehaus ist (cháguăn). Chengdu ( 成都 ) ist die Hauptstadt der südwest‐ chinesischen Provinz Sichuan ( 四川 ). „Die Teehäuser in Chengdu waren für ihre Klassenvielfalt bekannt. Einer ihrer ›Vorzüge‹ bestand in einer relativen Gleichheit” 27 . Die Frauen waren zuerst exkludiert, hatten aber ab etwa 1930 vollen Zutritt. Bei diesen Teehäusern handelte es sich nicht nur um Kultur‐ räume, sondern auch um politische Treffpunkte, in denen politische Debat‐ ten stattfanden und wo politische Theaterstücke aufgeführt wurden, was nicht nur das Interesse von Bürgern, sondern auch von Regierungsspitzeln erweckte. Wang diskutiert die Wichtigkeit der Teehäuser bei den Eisen‐ bahnprotesten im Jahr 1911 in Chengdu. Öffentliche Treffpunkte sind Sphä‐ 273 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 273 <?page no="274"?> ren des Engagements der Bürger, die zu Sphären der politischen Kommuni‐ kation und des Protestes werden können. Die verschiedenen Occupy-Bewegungen, die nach der Weltwirtschafts‐ krise, die im Jahr 2008 begonnen hatte, entstanden, waren Bewegungen, in denen Protest und die Besetzung von Räumen konvergierten. Es wurden Öffentlichkeiten zur politischen Kommunikation geschaffen, die selbstver‐ waltet wurden. Die Schaffung dieser Öffentlichkeiten fand nicht nur im Westen statt, sondern in vielen Teilen der Welt in Zeiten der globalen kapi‐ talistischen und sozialen Krise. Ein gemeinsamer Aspekt dieser Proteste war, dass in vielen die Taktik benutzt wurde, Räume in öffentliche und politische Räume zu verwandeln, und dass diese Proteste in einer allgemeinen Gesell‐ schaftskrise stattfanden. Widerstand ist so alt wie die Klassengesellschaft. Öffentlichkeiten wurden als widerständige Öffentlichkeiten während der gesamten Geschichte der Klassengesellschaften erzeugt. Die Öffentlichkeit existiert also überall dort, wo die Menschen sich versammeln, um sich kol‐ lektiv zu organisieren und ihren Ärger und Unmut über Ausbeutung und Herrschaft zum Ausdruck bringen. Kommunikation und Öffentlichkeit Mit Kommunikationstechnologien werden Ideen in der Öffentlichkeit an ein weites Spektrum von Menschen gebracht. Es handelt sich um Systeme des Veröffentlichens, die Information öffentlich machen. Mediensysteme und Medienorganisationen sprechen die Menschen mit bestimmten Inhalten an. Sie sprechen sie als private Individuen in der Kultur, als Mitglieder von In‐ teressensgemeinschaften in der sozio-kulturellen Sphäre, als Bürger oder Politiker im politischen System, als Aktivisten in der sozio-politischen Sphäre, als Eigentümer, Manager oder Beschäftigte im Wirtschaftssystem und als Mitglieder wirtschaftlicher Interessensgruppen im sozio-ökonomi‐ schen Bereich an. Durch die Medien mit Inhalten konfrontiert, kommuni‐ zieren die Menschen über diese Inhalte. Abbildung 8.1 zeigt die Interaktio‐ nen, in die das Mediensystem in der kapitalistischen Öffentlichkeit eingebunden ist. Medien veröffentlichen Information (Nachrichten, Unter‐ haltung, nutzergenerierte Inhalte, usw.), die die Menschen in ihren gesell‐ schaftlichen Rollen ansprechen, in denen sie basierend auf derartiger Infor‐ mation die Welt bedeuten. Um kulturelle Inhalte zu schaffen, verlassen sich die im Mediensystem aktiven Arbeiter zu einem bestimmten Grad auf Men‐ schen in verschiedenen gesellschaftlichen Rollen als Informationsquellen. 274 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 274 <?page no="275"?> Im Kapitalismus sind diese Informationsquellen ungleich verteilt. Politiker, Regierungen, Parteien, Berühmtheiten, Experten, Unternehmen und Mana‐ ger spielen dabei eine viel wichtigere Rolle als einfache Leute. Das Medien‐ system braucht also Inputs aus dem ökonomischen System (Finanzierung durch Kredite, Geld, das für Inhalte oder Publikumsaufmerksamkeit bezahlt wird, Förderungen, Spenden) und dem politischen System (Gesetze, Regu‐ lierung). Ökonomie (Eigentümer, Manager, Beschäftigte) Mediensystem Sozio-Ökonomie (organisierte Wirtschaftsinteressen) Politik (Bürger, Politiker) Sozio-Politik (Aktivisten) Kultur (private Individuen, Konsumenten) Sozio-Kultur (Interessensgemeinschaften) Öffentliche Information Lobbying, Informationsquellen, Regulierung, Finanzierung Abbildung 8.1: Die Rolle des Mediensystems in der Öffentlichkeit Tabelle 8.3 unterscheidet zwei Ebenen der Organisation der Medien und führt eine Unterscheidung zwischen kapitalistischen, öffentlich-rechtlichen und zivilgesellschaftlichen Medien ein. 275 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 275 <?page no="276"?> 28 Basierend auf: Graham Murdock. 2011. Political Economies as Moral Economies. Com‐ modities, Gifts, and Public Goods. In The Handbook of the Political Economy of Commu‐ nications, eds. Janet Wasko, Graham Murdock and Helena Sousa, 13-40. Chicester: Wi‐ ley-Blackwell. Kapitalistische Medien Öffentlich-rechtli‐ che Medien Zivilgesellschaftli‐ che Medien Politische Ökono‐ mie (Ei‐ gentum) Kapitalistische Un‐ ternehmen Vom Staat per Gesetz ermöglichte Institu‐ tionen Bürgerkontrolle Kultur (öffentli‐ che Zir‐ kulation der Ideen) Inhalte, die die Men‐ schen in ihren ver‐ schiedenen gesell‐ schaftlichen Rollen ansprechen und zur Bedeutungsproduk‐ tion führen Inhalte, die die Men‐ schen in ihren ver‐ schiedenen gesell‐ schaftlichen Rollen ansprechen und zur Bedeutungsproduk‐ tion führen Inhalte, die die Men‐ schen in ihren ver‐ schiedenen gesell‐ schaftlichen Rollen ansprechen und zur Bedeutungsproduk‐ tion führen Tabelle 8.3: Zwei Ebenen und drei politische Ökonomien der Medien 28 Die öffentliche Rolle des Mediensystems besteht in der Veröffentlichung von Information. Die öffentliche Kultur wird durch die politische Ökonomie und Eigentumsstrukturen vermittelt: ■ Kapitalistische Medien sind Unternehmen, die im Privatbesitz von In‐ dividuen, Familien oder Aktienbesitzern stehen. Sie gehören kulturell in die Öffentlichkeit, sind aber zugleich Teil der kapitalistischen Wirt‐ schaft. Sie produzieren nicht nur öffentliche Information, sondern auch Kapital und monetären Profit mit der Hilfe des Verkaufs des Pu‐ blikums, der Nutzer und von Inhalten. ■ Öffentlich-rechtliche Medien werden durch oder mit Hilfe des Staates finanziert und/ oder werden durch ein spezielles Gesetz geschaffen und aufrechterhalten. Sie werden als ein öffentlicher Dienst erachtet, der die Rolle hat, den Bürgern politische Information, Bildungsmate‐ rialien und Unterhaltung bereitzustellen. Sie werden als unabhängige Organisationen vom Staatssystems ermöglicht. ■ Zivilgesellschaftliche Medien sind ein vollständiger Teil der Öffent‐ lichkeit. Sie sind wirtschaftlich auf den Staat bezogen, insofern sie öffentliche Förderungen erhalten. Oft stehen sie in einem antagonis‐ tischen Verhältnis zur kapitalistischen Wirtschaft und Regierungen, 276 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 276 <?page no="277"?> da sie als Alternativmedien die Tendenz haben, die Logik des Profits und des Kommerzes abzulehnen und alternative Standpunkte auszu‐ drücken, die Regierungen und Unternehmen herausfordern. Zivilge‐ sellschaftliche Medien sind Medien, die von Bürgern als gemeinsame Projekte betrieben, besessen und kontrolliert werden. Medien veröffentlichen Information auf der kulturellen Ebene, aber nur einige von ihnen werden auf der wirtschaftlichen Ebene durch staatlich ermöglichte Institutionen oder die Zivilgesellschaft öffentlich kontrolliert. Kapitalistische Medien sind hingegen profitmachende Unternehmen, die auf Privateigentum beruhen. Die Begrenzung der Öffentlichkeit durch kapitalistische Medien bringt einige Probleme mit sich: ■ Medienkonzentration: Es gibt eine Tendenz dazu, dass Wettbewerb am Markt zur Konzentration führt. In der Welt der kommerziellen Medien verstärkt der Mechanismus der Anzeigen-Auflage-Spirale die Medi‐ enkonzentration. ■ Kommerzialisierte und Boulevard-Medien: Werbefinanzierte Medien tendieren dazu, ihre Inhalte eher auf Unterhaltung als auf Nachrich‐ ten, Dokumentationen und Bildungsinhalte zu konzentrieren, da sie dadurch besser Werbekunden erreichen können. ■ Machtungleichheiten: Es gibt bei kommerziellen Medien Machtunter‐ schiede, die Individuen und Gruppen, die keine signifikanten Anteile von Geld, politischem Einfluss und Reputation kontrollieren, benach‐ teiligen, ihre Stimmen ungehört lassen und ihnen niedrige oder keine Sichtbarkeit geben: a. Privateigentum der Medien gibt den Eigentümern die Möglichkeit, Medieninhalte zu beeinflussen. b. Profit- und Werbelogik macht Medienorganisationen von der Lo‐ gik der Märkte und der Waren abhängig und anfällig dafür, Stim‐ men, die diese Logik in Frage stellen, zu exkludieren. c. Es gibt eine wirtschaftliche Kluft und eine Bildungskluft, die ge‐ bildete und wohlhabende Individuen im Konsum von anspruchs‐ voller und zeitaufwendiger Kultur privilegiert. Um zu analysieren, ob bestimmte Kommunikationssysteme eine Öffentlich‐ keit konstituieren, muss man sowohl die Ebene der politischen Kommuni‐ kation als auch die Ebene der politischen Ökonomie berücksichtigen. Da‐ 277 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 277 <?page no="278"?> durch kann man bestimmte Fragen stellen, die dabei helfen, zu bestimmen, ob wir von der Existenz einer Öffentlichkeit sprechen können oder nicht. 1. Analyse der politisch-ökonomischen Dimension mediatisierter Kom‐ munikation: a. Eigentum: Gibt es ein demokratisches Eigentum an den Medienorganisatio‐ nen und kommunikativen Ressourcen? b. Zensur: Gibt es politische und/ oder wirtschaftliche Zensur? c. Exklusion: Gibt es eine Überrepräsentation der Standpunkte der kapitalisti‐ schen Eliten oder von unkritischen und prokapitalistischen Sicht‐ weisen? Zu welchem Grad sind kritische Standpunkte präsent? d. Produktion von politischen Inhalten: Wer kann Inhalte produzieren? Wie sichtbar, relevant und ein‐ flussreich ist der produzierte Inhalt? 2. Analyse der politischen Kommunikation: a. Universaler Zugang: Wie relevant sind Plattformen der politischen Kommunikation, Foren der politischen Kommunikation, politische Inhalte und Funktionen innerhalb allgemeiner Plattformen? Wie häufig wer‐ den diese genutzt? Wer hat Zugang zu solchen Ressourcen? Wer nutzt sie für politische Kommunikation (Klasse Einkommen, Bil‐ dungsgrad, Alter, Geschlecht, Ethnizität, Herkunft, usw.)? Wie wichtig ist politische Kommunikation im Vergleich zu anderen Formen der Information und Kommunikation (wie zum Beispiel purer Unterhaltung)? b. Unabhängigkeit: Wie unabhängig sind die Plattformen und Diskussionen von wirt‐ schaftlichen und staatlichen Interessen? c. Qualität der politischen Kommunikation: Sind die Geltungsansprüche der Kommunikation gegeben (Rich‐ tigkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit)? Ist die Kom‐ munikation inklusiv, achtsam, aufrichtig, reflexiv und inklusiv? 278 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 278 <?page no="279"?> 29 Slavko Splichal. 2007. Does History Matter? Grasping the Idea of Public Service at its Roots. In From Public Service Broadcasting to Public Service Media. RIPE@2007, hrsg. Gregory Ferrell Lowe and Jo Bardoel, 237-256. Gothenburg: Nordicom. S. 255. Öffentlich-rechtliche Medien In Europa und anderen Teilen der Welt gibt es eine Tradition des öffent‐ lich-rechtlichen Rundfunks. Er hat eine wichtige Dimension des modern Mediensystems im 20. und 21. Jahrhundert dargestellt. Slavko Splichal gibt eine präzise Definition öffentlich-rechtlicher Medien: „Normativ betrachtet müssen öffentlich-rechtliche Medien ein Dienst der Öffentlichkeit, durch die Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit sein. Sie sind Dienste der Öffent‐ lichkeit, da sie durch diese finanziert werden und in ihrem Besitz stehen sollten. Sie sollten ein durch die Öffentlichkeit organisierter Dienst sein, der nicht nur von ihr finanziert und kontrolliert, sondern auch produziert wird. Sie müssen Dienste für die Öffentlichkeit sein - aber auch für die Regierun‐ gen und andere Mächte, die in der Öffentlichkeit agieren. Zusammenfassend sollten öffentlich-rechtliche Medien zu »einem Eckstein der Demokratie« werden” 29 . Tabelle 8.4 präsentiert ein Modell öffentlich-rechtlicher Medien, das auf drei Ebenen operiert. Es gibt eine wirtschaftliche, eine politische und eine kulturelle Dimension öffentlich-rechtlicher Medien: Organisation, Partizi‐ pation und Inhalt. Auf jeder Ebene gibt es die Produktion, Zirkulation und Verwendung bestimmter Güter, die in Übereinstimmung mit der Logik öf‐ fentlicher Dienste organisiert wird. Das öffentliche Eigentum an öffentlichrechtlichen Medienorganisationen ist ein wirtschaftlicher Aspekt der kom‐ munikativen Produktionsmittel. 279 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 279 <?page no="280"?> Sphäre Medien Produktion Zirkulation Verwen‐ dung Kultur: soziale Be‐ deutung Inhalt Unabhängigkeit, Einheit in der Vielfalt, Bildungsinhalte Kulturelle Kommunika‐ tion und De‐ batte Kultureller Dialog und Verständ‐ nis Politik: kollektive Entschei‐ dungen Partizipation Unabhängigkeit, Einheit in der Vielfalt (Repräsentation von Minderheiteninteres‐ sen, gemeinsame Af‐ finität und Bezugs‐ punkte der Gesellschaft), politi‐ sche Information Politische Kommunika‐ tion und Debatte Politischer Dialog und Verständ‐ nis Wirtschaft: Eigentum Organisa‐ tion und Technologie Öffentliche Informa‐ tion Kein Profit, kein Markt Universel‐ ler Zugang zur Tech‐ nologie Tabelle 8.4: Ein Modell der öffentlich-rechtlichen Medien Auf der ökonomischen Ebene sind öffentlich-rechtliche Medien Mittel zur Produktion, Zirkulation und Konsumtion der Information. Die Produkti‐ onsmittel der öffentlich-rechtlichen Medien stehen im öffentlichen Eigen‐ tum. Die Zirkulation der Information beruht auf der Logik, keinen Profit zu machen. Zugang und Konsum sind relativ einfach möglich, da den Bürgern ein relativ einfacher Zugang zu den Technologien und Inhalten der öffent‐ lich-rechtlichen Medien gegeben wird. Auf der politischen Ebene machen öffentlich-rechtliche Medien inklusive und vielfältige politische Information zugänglich, durch die politische Debatten und das Erreichen politischen Verständnisses unterstützt werden. Auf der kulturellen Ebene bieten öffent‐ lich-rechtliche Medien Bildungsinhalte, die das Potential haben, kulturelle Debatten zu unterstützen und Verständnis in der Gesellschaft zu erreichen. Kritische Medien und die Gegenöffentlichkeit Die Alternativmedien haben ein Potential dazu, politische Debatten zu sti‐ mulieren. Es handelt sich nicht nur um Medien, sondern um Medien, die in die Gesellschaft eingebettet sind. Man muss sie gemeinsam mit ihrem ge‐ 280 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 280 <?page no="281"?> 30 Oskar Negt und Alexander Kluge. 1972. Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisati‐ onsfrage von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. 31 Ebd., S. 143. sellschaftlichen Kontext analysieren, um Medienessentialismus zu vermei‐ den. Daher sollten kritische Medien als Teil eines breiteren politischen Zu‐ sammenhanges angesehen werden. In diesem Kontext muss man diskutieren, welches Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit und kritischen Me‐ dien besteht. Oskar Negt und Alexander Kluges Buch über die proletarische und bour‐ geoise Öffentlichkeit 30 hat zu allgemeinen Diskussionen und zu Diskussio‐ nen innerhalb des Diskurses über Alternativmedien geführt. Negt und Kluge interessieren sich für linke Medien, die Kontrolle der geistigen Produkti‐ onsmittel und die reale Produktion von Gegenideen durch die politische Linke. Negt und Kluge zeigen auf, dass es wichtig ist, kritische Organisa‐ tionen zu schaffen, die unabhängig von kapitalistischen Ideologien und ka‐ pitalistischem Eigentum sind. Für einige Ansätze gelten auch rechte Medi‐ eninhalte als alternativ, während Negt und Kluge alle Medien und Medieninhalte vom Begriff der proletarischen Öffentlichkeit ausschließen, die nicht Teil der politischen Linken sind. Negt und Kluges Begriff der Gegenöffentlichkeit betont die Wichtigkeit der kollektiven Kontrolle der Kommunikationsmittel und die Notwendig‐ keit, kritische Inhalte zu kommunizieren. Die proletarische Öffentlichkeit setzt „Idee gegen Idee, Produkt gegen Produkt, Produktionszusammenhang gegen Produktionszusammenhang” 31 . Sie betont Organisationen, Modelle und Produktion, die kapitalistisches Eigentum in Frage stellen und Ideen kommunizieren, die den Kapitalismus, Klasse und Herrschaft herausfordern. Kritische Medien konstituieren die inhaltliche und kommunikative Dimen‐ sion der Gegenöffentlichkeit. Alternativmedien haben oft mit Protestbewegungen zu tun, die diese Me‐ dien für Informations-, Kommunikations-, Koordinations- und Kooperati‐ onsprozesse benutzen. Nicht in allen Fällen können die Alternativmedien eine Rolle bei Protesten spielen, da es Fälle gibt, wo es kritische Medien, aber keine große kritische Öffentlichkeit gibt. Die Totalität der Alternativmedien konstituiert eine alternative Öffentlichkeit, eine Sphäre des Protests und der politischen Diskussion, die eine oppositionelle und kritische Rolle einnimmt und daher die Lebendigkeit der Demokratie unterstützt. Wenn es keine Op‐ 281 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 281 <?page no="282"?> 32 Michael Hardt and Antonio Negri. 2004. Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt am Main: Campus. 33 Antonio Negri. 1988. Archaeology and Project. The Mass Worker and the Social Worker. In Revolution Retrieved. Selected Writings on Marx, Keynes, Capitalist Crisis and New Social Subjects 1967-83, 203-228. London: Red Notes. position gibt, so gibt es keine Demokratie. Die Gegenöffentlichkeit ist die dialektische Gegenkraft zu kapitalistischen Medienmonopolen und zu poli‐ tischen Meinungsmonopolen. Der Begriff des Proletariats wird oft mit industrieller Lohnarbeit assozi‐ iert. Das Proletariat hat sich seit 1972, als Negt und Kluge ihr Buch veröf‐ fentlichten, verändert. Wichtige Veränderungen sind zum Beispiel der Auf‐ stieg und das Wachstum der Dienstleistungs- und Wissensarbeit und des neoliberalen Individualismus gewesen sowie die Schwächung der Macht der Arbeit gegenüber dem Kapital sowie die Globalisierung der Produktion. Der Begriff des Proletariats muss aktualisiert werden. Hardt und Negri verwen‐ den die Begriffe der Multitude 32 und des gesellschaftlichen Arbeiters 33 , um zu betonen, dass die Ausbeutung der Gemeingüter der Gesellschaft zu einem zentralen Aspekt der Mehrwertproduktion geworden ist. Die Begriffe der ausgebeuteten Klasse, der Arbeiterklasse und des Proletariats sind nicht auf das Industrieproletariat beschränkt, sondern umfassen auch die Arbeitslo‐ sen, die Hausarbeitenden, die migrantischen Arbeitskräfte, Arbeiter in Ent‐ wicklungsländer, Pensionisten, Studenten, prekäre Arbeiter, prekäre Selb‐ ständige und Wissensarbeiter. Das Proletariat ist die Einheit in der Vielfalt der Bedingungen und Erfahrungen, die die Produzenten der Gemeingüter, die durch das Kapital ausgebeutet werden, machen. Kritische Medien sind Medien der Multitude, Medien einer aktualisierten proletarischen Gegenöffentlichkeit. Sie bringen die Erfahrungen der Be‐ herrschten zum Ausdruck. Sie entstehen in gesellschaftlichen Kämpfen und Formen des Klassenkampfes und der proletarischen Organisation. Während die politischen Kämpfe in den 1970er und 1980er Jahren stark an der Aner‐ kennung marginalisierter Identitäten und der Anerkennung der Natur als moralischen und nicht wirtschaftlichen Wert (Umweltbewegung) orientiert waren, sind solche Kämpfe durch das Wiederaufkeimen der öffentlichen Anerkennung von Klasse als strukturierender Kraft zu einem bestimmten Grad vereinheitlicht worden. Der Hauptfaktor war in diesem Zusammen‐ hang die neue Weltwirtschaftskrise, die 2008 begann. Klasse war immer ein grundlegender Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft, ist aber nicht immer als solcher wahrgenommen worden. So hat etwa die postmoderne Linke die 282 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 282 <?page no="283"?> Wichtigkeit von Klassenverhältnissen heruntergespielt und hat diese igno‐ riert. Die kapitalismuskritische Bewegung und die Bewegung für demokra‐ tische Globalisierung konstituieren eine Bewegung der Bewegungen. Sie vereinheitlichen spezialisierte Kämpfe und setzen sich mit Klassenfragen auseinander, indem die Kapitalherrschaft und die Unmenge ihrer negativen Konsequenzen für die Gesellschaft in Frage gestellt werden. Die proletarische Öffentlichkeit wird genauso wie das Proletariat nicht für immer existieren. Sie zielt auf ihre eigene Selbstaufhebung, auf eine Ge‐ sellschaft ohne Klassen und ohne klassenbasierte Kommunikation ab. Be‐ stimmte Wissenschaftler und Aktivisten haben vereinheitlichte Begriffe der Öffentlichkeit kritisiert. Sie argumentieren, dass Frauen, Homosexuelle und ethnische Minoritäten aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen worden sind. Sie meinen daher, dass es vielversprechender ist, in multiplen subalternen Gegenöffentlichkeiten gegen Unterdrückung zu kämpfen. Sie erachten die Vereinheitlichung der Öffentlichkeit als Gefahr. Die wirkliche Gefahr liegt aber in der Fragmentierung und in Mikrokämpfen, die nicht die Totalität angreifen. Die Gefahr pluralistischer Öffentlichkeiten ist, dass sie sich in gesellschaftlichen Kämpfen auf reformistische Identitätspolitik konzentrie‐ ren und nicht die Totalität der kapitalistischen Gesellschaft in Frage stellen, die das Leben aller unterworfenen Gruppen negativ beeinflusst. In einer egalitären Gesellschaft braucht man gemeinsame Kommunikationsräume, um Kohäsion und Solidarität in einer starken Demokratie zu garantieren. Postmoderne und Post-Marxisten sind so sehr damit beschäftigt, Differen‐ zen zu betonen, dass sie nicht wahrnehmen, dass Differenz sehr einfach repressiv und zu einer neuen Form der Unterdrückung werden kann, die behauptet, alte Formen der Unterdrückung in Frage zu stellen, aber nur eine Vielfalt ohne Einheit bedeutet. Die Gegenöffentlichkeit und eine egalitäre Öffentlichkeit sollten auf dem Prinzip der Einheit in der Vielfalt beruhen. Wir brauchen Einheit in der Vielfalt, um fähig zu sein, eine Gesellschaft der Gemeingüter und eine partizipative Demokratie zu schaffen. Worin besteht die entscheidende Rolle der Alternativmedien in der Ge‐ genöffentlichkeit? Es ist vorzuziehen und mehr effektiv, dass es einige we‐ nige weit verbreitete und vielkonsumierte, breite kritische Medien gibt als kleine Medien, die reine Spezialinteressen ansprechen und die Fragmentie‐ rung der gesellschaftlichen Kämpfe unterstützen. Soziale Bewegungen und kritische Medien, die in emanzipatorische Kämpfe eingebunden sind, müs‐ sen fähig sein, großräumig politische Kommunikation zu initiieren, um die Gesellschaft zu verändern. Andererseits können sie einfach ignoriert wer‐ 283 8.2. Kommunikation in der Öffentlichkeit 283 <?page no="284"?> den oder sind abgeschlossen, fragmentiert, irrelevant, prekär, politisch un‐ wichtig und ineffektiv. 8.3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Schlussfolgerungen dieses Kapitels zusammen‐ fassen: ■ Die Analyse politischer Kommunikation in der Öffentlichkeit wirft die Frage auf, wie Kapitalismus und Herrschaft in Beziehung stehen. Die Entfremdung ist nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen, son‐ dern hat einen ökonomischen, politischen und ideologischen Charakter. Sie operiert auf den Ebenen des menschlichen Subjektes, der gesellschaftlichen Strukturen und der vermittelnden Kommuni‐ kationsprozesse. Die Ausbeutung (wirtschaftliche Entfremdung) ist das Modell der politischen und ideologischen Entfremdung. Im Kapi‐ talismus beruhen Ausbeutung und Herrschaft auf der Logik der Ak‐ kumulation. Die politische und die ideologische Entfremdung zielen darauf ab, einen Mehrwert der Autorität und Unterscheidung zu pro‐ duzieren, der als politischer und ideologischer Lohn fungiert und ei‐ nen Mehrwert der Lust, des Vergnügens, der Macht und der realen Löhne und Einkommen ermöglicht. ■ Die Öffentlichkeit ist eine Sphäre der politischen Kommunikation, die die demokratische Partizipation aller ermöglicht. Ihre Offenheit wird durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Machtasymmetrien beschränkt. Da der Kapitalismus auf derartigen Asymmetrien beruht, ist seine bürgerliche Öffentlichkeit notwendigerweise begrenzt, ko‐ lonialisiert, feudalisiert und stellt nur eine Pseudo-Öffentlichkeit dar. Das Mediensystem operiert in der Öffentlichkeit als System der poli‐ tischen Information, das Inputs für die politische Kommunikation be‐ reitstellt. Kapitalistische Medien begrenzen die Öffentlichkeit in vie‐ lerlei Hinsicht und behindern die demokratische Kommunikation. ■ Öffentlich-rechtliche Medien und kritische Alternativmedien sind zwei Ansätze, die das Potential haben, kapitalistische Medien in Frage zu stellen. Beide Modelle haben viele Probleme und Limitierungen und sind nicht immun gegen die Subsumtion der Kommunikation unter die Logik des Kapitalismus und der Herrschaft. Sie sind aber oft der 284 8. Politische Kommunikation in der Öffentlichkeit 284 <?page no="285"?> Ausgangspunkt für Diskussionen über und die Organisation von Al‐ ternativen zur kapitalistischen Kommunikation gewesen. Sie stellen keinen automatischen Demokratisierungsmechanismus dar, sondern sind Potentiale für eine demokratische Öffentlichkeit. Politische Kommunikation im Kapitalismus steht in einem engen Zusam‐ menhang mit der Ideologie. Im nächsten Kapitel geht es um die Kritik der Ideologie. 285 8.3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 285 <?page no="287"?> 1 Georg Lukács. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis. S. 257. 2 Ebd., S. 275. 9. Ideologie Die Herrschaft hegemonialer Klassen und Gruppen ist nicht garantiert, son‐ dern muss reproduziert werden. Alle Klassengesellschaften beruhen daher auf Repression. Zur Repression gehören physische Gewalt, strukturelle und ideologische Repression. Bei der Ideologie handelt es sich um eine Strategie zur Reproduktion von Herrschaft und Ausbeutung, die in den Bereichen der Kommunikation, der Kultur, der Psychologie, der Emotionen und des Glau‐ bens operiert. Dieses Kapitel setzt sich mit dem Ideologiebegriff auf Basis kritischer Theorie auseinander. Es fragt: Was ist Ideologie? Wie operiert und funktioniert Ideologie? Um Antworten zu geben, diskutiert dieses Kapitel erstens die Verdinglichung des Bewusstseins (Abschnitt 9.1), zweitens wie Ideologie definiert werden soll (9.2), drittens das Verhältnis zwischen Kom‐ munikation und Ideologie (9.3) und viertens Aspekte der Ideologiekritik (9.4). 9.1. Die Verdinglichung des Bewusstseins Georg Lukács hat die Kategorie der Verdinglichung eingeführt, die auf Marx‘ Begriff des Warenfetisch zurückgeht. „Das Wesen der Warenstruktur […] beruht darauf, dass ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter der Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine »gespenstige Ge‐ genständlichkeit« erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlosse‐ nen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt“ 1 . „Die Verwandlung der Waren‐ beziehung in ein Ding von ‚gespenstiger Gegenständlichkeit‘ kann also bei dem Zur-Ware-werden aller Gegenstände der Bedürfnisbefriedigung nicht stehenbleiben. Sie drückt dem ganzen Bewusstsein des Menschen ihre Struk‐ tur auf “ 2 . <?page no="288"?> 3 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 53. 4 Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 221. 5 Ebd., S. 219. Lukács‘ Verständnis der Verdinglichung beruht auf einer Passage im Ab‐ schnitt über den Fetischcharakter der Ware im Kapital, wo Marx davon spricht, dass die Waren eine „gespenstige Gegenständlichkeit” 3 haben. Ein Gespenst hat ein schizophrenes Dasein: Es ist zugleich anwesend und ab‐ wesend, erfahrbar und unsichtbar. Seine spukende Gegenwärtigkeit ver‐ schleiert seine eigene Natur. Mit der Metapher der Ware als Gespenst ver‐ deutlicht Marx, dass der Wert in der Form des Geldes und des Warenpreises erscheint, seine Substanz (die durchschnittliche Arbeitszeit, die Arbeiter in Klassenbeziehungen aufbringen müssen, um eine Ware zu produzieren) aber verborgen bleibt. Die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse, die der Waren zugrunde liegen, bleiben unsichtbar. Die Ware als Ding und ihre Preisform verschleiern die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Wirtschaft: „Die Geschichte erstarrt in einem Formalismus, der außerstande ist, die gesellschaftlichen Gebilde in ihrem wahren Wesen als Beziehungen zwischen Menschen zu begreifen“ 4 . Marx‘ kritische Theorie ist „eine Theorie der Theo‐ rie, ein Bewusstsein des Bewusstseins“, das „das Starre, Naturhafte, Unge‐ wordene der gesellschaftlichen Gebilde“ auflöst und diese „als geschichtlich entstandene“ enthüllt“ 5 . Die Ware und die Kapitalakkumulation beruhen auf der Ausbeutung der Arbeitskraft. Die Klassengesellschaft macht Menschen zu Instrumenten, die im Kapitalismus dem Kapitalakkumulationsinteresse der herrschenden Klasse dienen. Zugleich hat die Ware eine spezifische Ästhetik und subjek‐ tive Erscheinungsform: Die in ihrer Produktion verausgabte Arbeit ver‐ schwindet hinter der Waren- und der Geldform. Man sieht nur ein Ding ohne gesellschaftliche Beziehungen. Die Gesellschaftlichkeit versteckt sich hinter der Warenform, die als natürlich und ewig erscheint. Die Ideologie operiert auf dieselbe Weise: Sie naturalisiert Herrschaft und Ausbeutung, indem sie diese als die beste Option, alternativenlos, wesenhaft und natürlich präsen‐ tiert. Die Struktur des Kapitalismus lässt Waren, Kapital, Geld, Klassen, usw. als natürliche Eigenschaften der Gesellschaft erscheinen. Wegen der Ar‐ beitsteilung und dem vermittelten Charakter des Kapitalismus erfahren und erleben die Produzenten und Konsumenten nicht den gesamten Produkti‐ 288 9. Ideologie 288 <?page no="289"?> 6 Ebd., S. 240. 7 Max Horkheimer. 1957. Ideologie [I]. In Max Horkheimer Gesammelte Schriften Band 14: Nachgelassene Schriften 1949-1972, 272-273. Frankfurt am Main: Fischer. S. 273. onsprozess der Ware. Im alltäglichen kapitalistischen Leben sind wir primär mit Waren und Geld als Dingen konfrontiert, während der Produktionspro‐ zess und seine Klassenbeziehungen vor uns verborgen bleiben. Der Kapita‐ lismus ist dadurch bereits in den Praktiken der kapitalistischen Produktion ideologisch. Der Warenfetisch ist ideologisch genauso wie die Ideologie fe‐ tischistisch ist: Die Ideologie fetischisiert bestimmte veränderbare gesell‐ schaftliche Verhältnisse als statische, unveränderbare, natürliche, dinghafte Einheiten. Die Ideologie hat im Kapitalismus einen doppelten Charakter: 1. Der Kapitalismus ist immanent fetischistisch, da die Produzenten und Konsumenten die gesellschaftlichen Beziehungen und die Warenpro‐ duktion nicht vollständig in ihrer Totalität erfahren, sodass der Ding‐ charakter der Ware und des Geldes die darunterliegenden Klassen‐ verhältnisse verdeckt und der Kapitalismus als natürliches und ewiges System ohne Alternativen erscheint. Durch den Warenfetischismus ist die Ideologie in die Wirtschaftsstrukturen des Kapitalismus einge‐ baut. 2. Die Naturalisierung ist generell eine wichtige Eigenschaft der Ideo‐ logien und eine wichtige ideologische Strategie, die die Herrschaft notwendig, zeitlos, unvermeidbar und endlos erscheinen lässt, um Unterdrückung zu rechtfertigen und zu legitimieren. Für Lukács ist die Ideologie eine notwendige, legitimitätsstiftende Eigenschaft des Kapitalismus. „Aber die Verschleierung des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft ist auch für die Bourgeoisie selbst eine Lebensnotwen‐ digkeit. […] Da ihre Herrschaft nicht nur von, sondern auch im Inter‐ esse einer Minorität ausgeübt wird, bleibt die Täuschung der anderen Klassen, ihr Verbleiben bei ihrem unklaren Klassenbewusstsein eine unumgängliche Voraussetzung für den Bestand des Bourgeoisregi‐ mes“ 6 . Max Horkheimer drückt die Rolle der Ideologie in der Klassengesellschaft folgendermaßen aus: „Man kann zwei Funktionen der Ideologie unterschei‐ den, Rechtfertigung […] und Verhüllung“ 7 . Lukács charakterisiert basierend auf Marx‘ Begriff des Fetischismus die Ideologie als verdinglicht und als 289 9.1. Die Verdinglichung des Bewusstseins 289 <?page no="290"?> 8 Ebd., S. 180. 9 Ebd., S. 180. 10 Georg Lukács. 1984. Georg Lukács Werke Band 13: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 1. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 405. 11 Terry Eagleton. 2000. Ideologie: Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. S. 38-40. falsches Bewusstsein, durch das „der geschichtliche, der vorübergehende Charakter der kapitalistischen Gesellschaft verdunkelt wird“, indem deren Bestimmungen „als zeitlose, ewige, allen gesellschaftlichen Formen gemein‐ same Kategorien erscheinen“ 8 . Die Ideologie ignoriert dialektische Totalitä‐ ten und sieht das Ganze nur als eine „»Summe« der Teile“, sodass „der Re‐ flexionszusammenhang der isolierten Teile als zeitloses Gesetz einer jeden menschlichen Gesellschaft erscheinen“ muss 9 . Ideologie existiert für Lukács nur in Klassengesellschaften: „Die Hauptfrage ist demnach, dass das Ent‐ stehen solcher Ideologien Gesellschaftsstrukturen voraussetzt, in denen ver‐ schiedene Gruppen und entgegengesetzte Interessen wirken und bestrebt sind, diese der Gesamtgesellschaft als deren allgemeines Interesse aufzu‐ drängen. Kurz gefasst: Entstehen und Verbreitung von Ideologien erscheint als das allgemeine Kennzeichen der Klassengesellschaften“ 10 . Ideologie hat mit der Verdinglichung des Bewusstseins zu tun, wodurch die Frage aufgeworfen wird, wie man die Ideologie definieren soll. Der nächste Abschnitt setzt sich mit diesem Thema auseinander. 9.2. Was ist Ideologie? Terry Eagleton 11 führt sechs Verständnisse der Ideologie an: a. Ideologie als Ideen, b. Ideologie als Klassenerfahrung, c. die Legitimierung des Klasseninteresses, d. die Legitimierung des Interesses der herrschenden Klasse, e. die Legitimierung der Ideen einer herrschenden Klasse oder Gruppe durch Verzerrung und Verheimlichung, f. falsches Bewusstsein. Wenn unter der Ideologie nur die Ideen oder Erfahrungen einer Klasse ver‐ standen werden, dann gibt es keinen Unterschied zwischen Wissen und Er‐ kenntnis einerseits und Ideologie andererseits. Die Ideologie ist dann eine allgemeinsoziologische Kategorie, die anthropologische Eigenschaften der 290 9. Ideologie 290 <?page no="291"?> 12 Lenin. 1902. Was tun? In Lenin Werke Band 5, 355-551. Berlin: Dietz. S. 396. 13 Georg Lukács. 1984. Georg Lukács Werke Band 13: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 1. Halbband. Darmstadt: Luchterhand. S. 405. 14 Max Horkheimer. 1972. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt am Main: Fischer. S. 28. 15 Theodor W. Adorno. 1969. Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 33. Menschen und der Gesellschaft beschreibt. Ein derartiges Konzept ist für eine kritische Gesellschaftstheorie nicht sinnvoll, da eine solche Möglich‐ keiten braucht, um Versuche, das Bewusstsein zu manipulieren, zu bezeich‐ nen. Daher ist eine Kombination der Verständnisse (d), (e) und (f) einer kri‐ tischen Gesellschaftstheorie angemessen. Das falsche Bewusstsein der beherrschten Klasse oder Gruppe ist kein notwendiges Element der Ideolo‐ gie. Die Ideologie ist nicht notwendigerweise ein Bewusstseinszustand der Beherrschten. Sie ist ein Prozess, in der herrschende Gruppen herrschende Ideen kommunizieren, auf die andere auf bestimmte Weise reagieren oder nicht reagieren. Herrschende Ideen haben Auswirkungen auf die Kultur der Beherrschten. Definitionen der Ideologie variieren auf einem Kontinuum zwischen Ideologie als Weltanschauung auf einem Ende und Ideologie als falschem Bewusstsein auf dem anderen Ende. Im Marxismus gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, wie Ideologie definiert werden soll und ob man vom Sozialismus als einer Ideologie sprechen soll oder nicht. Während Lenin der Definition des Sozialismus als Ideologie zustimmt, ist Lukács anderer Mei‐ nung. Lenin schreibt, dass die „Frage nur so stehen“ kann: „bürgerliche oder sozialistische Ideologie“ 12 . Für Lukács gibt es Ideologie nur in Klassengesell‐ schaften: „Entstehen und Verbreitung von Ideologien erscheint als das all‐ gemeine Kennzeichen der Klassengesellschaften“ 13 . Allgemeine Ideologie‐ theorien bilden das eine Ende des Kontinuums, die Ideologiekritik das andere Ende. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno stehen Ansätzen, die eine all‐ gemeine Definition der Ideologie befördern, kritisch gegenüber. Horkheimer sagt über derartige Definitionen, dass sie den „Ideologiebegriff gründlich von den Resten seiner anklägerischen Bedeutung gesäubert“ 14 haben. Adorno schreibt, dass die allgemeine Ideologietheorie „sich der sozialkriti‐ schen Termini“ bedient, ihnen aber „zugleich den Stachel“ nimmt 15 . Denker wie Horkheimer und Adorno wollen die Ideologiekritik als Methode der kritischen Theorie benutzen und sehen die Ideologie als ein Kritikkonzept, weswegen sie allgemeine Definitionen ablehnen. Mario Tronti argumen‐ 291 9.2. Was ist Ideologie? 291 <?page no="292"?> 16 Mario Tronti. 1974. Arbeiter und Kapital. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik. S. 12. 17 Ebd., S. 12. 18 Karl Marx und Friedrich Engels. 1845/ 46. Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 46. tiert, dass Ideologie „immer bürgerlich ist“ 16 und dass Marx‘ Denken nicht die Ideologie der Arbeiterklasse ist, sondern „ihre revolutionäre Theorie“ 17 . Ein kritischer Ideologiebegriff benötigt eine normative Unterscheidung zwischen wahren und falschen Einsichten und Praktiken. Unter einer Ideo‐ logie sind Gedanken, Praktiken, Ideen, Wörter, Konzepte, Phrasen, Sätze, Texte, Glaubenssysteme, Bedeutungen, Repräsentationen, Artefakte, Insti‐ tutionen, Systeme oder Kombinationen dieser Elemente zu verstehen, die Macht, Herrschaft oder Ausbeutung repräsentieren und rechtfertigen, in‐ dem die Realität in der Form symbolischer Repräsentationen falsch, eindi‐ mensional oder verzerrt dargestellt wird. Die Ideologie ist nicht einfach eine abstrakte Struktur, sondern hat eine konkrete, gelebte Realität: Ideologiearbeiter produzieren und reproduzieren Ideologien. Marx charakterisiert die Ideologieproduzenten als „Denker die‐ ser [der herrschenden] Klasse“, „die aktiven konzeptiven Ideologen“, die als Teil der Arbeitsteilung in der herrschenden Klasse „die Ausbildung der Il‐ lusion dieser Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweige ma‐ chen 18 . Ein kritisches Ideologiekonzept weist den Solipsismus zurück und basiert auf moralischem Realismus. Unter moralischem Realismus ist zu verstehen, dass die Menschen die Welt und die wirklichen Ursachen komplexer Pro‐ bleme analysieren und verstehen können. Ideologiekritik ist die Dekon‐ struktion der Falschheit, des Wissens, das als Wahrheit präsentiert wird, aber trügerisch ist. Sozialistischer moralischer Realismus impliziert, dass herr‐ schaftsförmige und ausbeuterische Gesellschaften die allgemeinen Interes‐ sen der Menschen negieren. Von einem politischen Standpunkt her betrach‐ tet sollten solche Gesellschaften daher abgeschafft werden und durch eine Gesellschaftsformation ersetzt werden, in der alle wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Vorteile haben. Eine derartige Gesellschaft der Ge‐ meingüter ist eine sozialistische Gesellschaft. Die Produktion, Reproduktion und Diffusion der Ideologie ist eine Form der Arbeit, die Mitgliedschaft, Identität, Aktivitäten, Ziele, Werte, Normen, Positionen und Ressourcen einer herrschenden oder ausbeuterischen Gruppe in Beziehung zu einer beherrschten oder ausgebeuteten Gruppe derart definiert, sodass die Macht der ersten Gruppen durch bestimmte De‐ 292 9. Ideologie 292 <?page no="293"?> finitionsstrategien, die bestimmte Bedeutungen produzieren, legitimiert, naturalisiert und als unproblematisch präsentiert wird. Die Struktur der Ideologie kann als dialektischer Informationsprozess aufgefasst werden. In‐ dividuelle Dimensionen einer Gruppe, eines Systems oder eines menschli‐ chen Wesens, das Sein-an-sich der Ideologie, werden definiert. Dazu gehö‐ ren Identität, Mitgliedschaft, Aktivitäten, Normen, Werte, Ziele und Ressourcen. Die Ideologie bezieht dieses Sein-an-sich in bestimmter Weise auf das Sein-an-sich (Identität, Mitgliedschaft, Aktivitäten, Normen, Werte Ziele, Ressourcen) einer bestimmten Gruppe. Diese Beziehung (Sein-für-ein-anderes) wird derart definiert, dass das Sein-an-sich der herr‐ schenden Gruppe gerechtfertigt wird und das Sein-an-sich der beherrschten Gruppe als untergeordnet präsentiert wird. Diese Unterlegenheit wird als notwendig und gerechtfertigt dargestellt. Die Ideologie schlägt vor, dass dieses Verhältnis zweier Phänomene oder Gruppen derart gestaltet werden sollte, dass bestimmte Maßnahmen in bestimmter Weise gesetzt werden, sodass die Realität auf eine gewisse Weise verändert wird und das asymme‐ trische Machtverhältnis zwischen der herrschenden und der beherrschten Gruppen aufrechterhalten wird. Diese Verschmelzung und diese Auflösung stellen ein ideologisches An-und-für-sich-Sein dar. Ideologie definiert also individuelle Existenz, bezieht sie aufeinander und schlägt vor, wie dieses Verhältnis gestaltet und verändert werden sollte. Zum Beispiel beschreibt eine rassistische Ideologie a) eine nationale Gruppe und eine Gruppe von Einwanderern, b) ein bestimmtes Verhältnis zwischen dieses Gruppen, in‐ dem zum Beispiel gesagt wird, dass Einwanderer kriminell sind, nicht ar‐ beiten, andere Sprachen sprechen, unterschiedliche Traditionen haben, usw. und dadurch das Leben der nationalen Gruppe negativ beeinflussen. Es wer‐ den dann c) bestimmte Maßnahmen vorgeschlagen, wie etwa die Deporta‐ tion der Immigranten. Die Ideologiearbeit definiert ideologische Identitäten (ideologisches Sein-an-sich), Beziehungen (ideologisches Sein-für-anderes) und Maßnahmen (ideologisches An-und-für-sich-sein), die Diffusion dieser Definitionen in der Gesellschaft, ihre Kristallisierung in Gruppen, Institu‐ tionen, Strukturen, Befehlen und die Aufrechterhaltung und Reproduktion der Ideologie auf allen Ebenen. Die Ideologiearbeit verwendet verschiedene Mittel, um im zweiten Schritt des Definitionsprozesses das Verhältnis zwischen herrschenden und be‐ herrschten Gruppen zu beschreiben. Die Ideologie rechtfertigt oft Herr‐ schaft, indem Außenseitergruppen als Sündenböcke hingestellt werden. Sie definiert die Identitäten einer Ingroup, indem diese gegen eine Außensei‐ 293 9.2. Was ist Ideologie? 293 <?page no="294"?> 19 Teun van Dijk, Teun. 1998. Ideology. A Multidisciplinary Approach. London: Sage. S. 397-398. 20 Max Horkheimer. 1967. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: Fischer. Marcuse, Herbert. 1941/ 2004. Einige gesellschaftliche Folgen moderner Tech‐ nologie. In Herbert Marcuse Schriften Band 3, S. 286-319. Springer: zu Klampen! tergruppe definiert wird, die zu einem Sündenbock gemacht wird. Es gibt mehrere Wege, wie dies erzielt wird. Eine konkrete Ideologie wendet oft auch Kombinationen der folgenden Strategien an 19 : 1. Die Betonung von positiven Informationen über die Ingroup; 2. Die Betonung von negativen Informationen über die Außenseiter‐ gruppe; 3. Die Unterdrückung oder Abschwächung von positiver Information über die Außenseitergruppe; 4. Die Unterdrückung oder Abschwächung von negativer Information über die Ingroup. Ideologien sind Versuche, Menschen auf den Status von Maschinen zu re‐ duzieren, die reflexartig und automatisch denken, kommunizieren und han‐ deln. Eine Ideologie ist eine bestimmte Form der Kommunikation, die Men‐ schen derart manipulieren möchte, dass sie im Interesse der herrschenden Klasse oder Gruppe denken und handeln. Als Ergebnis davon haben nicht alle Vorteile, sondern nur die herrschende Klasse. Und sie hat diese Vorteile auf Kosten anderer. Die Frankfurter Schule bezeichnet Ideologie als instru‐ mentelle Vernunft und technologische Rationalität 20 . Die Ideologie versucht, die Menschen zu instrumentalisieren und ihr Bewusstsein und Verhalten in automatische Maschinen zu verwandeln. Es ist natürlich nicht selbstver‐ ständlich, dass das immer funktioniert, aber es ist entscheidend, dass es in Klassengesellschaften und herrschaftsförmigen Gesellschaften eine kon‐ stante Produktion und Dissemination von Ideologien gibt, die darauf abzie‐ len, das System zu stabilisieren und zu reproduzieren. Ausbeutung, Ideologie und Herrschaft sind spezifische Formen des ziel‐ orientierten Handelns. Es handelt sich um ein instrumentelles Handeln, das die Menschen instrumentalisiert, um einigen wenigen Vorteile zu verschaf‐ fen. Der Sozialismus basiert im Gegensatz dazu auf einer anderen Art des zielorientierten Handelns, dass die Instrumentalisierung überwindet und Vorteile für alle und die Vielen schafft. Derartiges Handeln kann als koope‐ ratives oder gemeingutorientiertes Handeln bezeichnet werden. 294 9. Ideologie 294 <?page no="295"?> Die Kategorien der instrumentellen Vernunft und der technologischen Ra‐ tionalität bauen auf Lukács‘ Idee des verdinglichten Bewusstseins auf, die auf Marx‘ Begriff des Fetischismus beruht. Ideologien versuchen, verdinglichtes Bewusstsein zu schaffen, indem sie die Gesellschaft als dinghaft, unbeweg‐ lich, unveränderbar und naturalisiert präsentieren. Ideologie ist der Versuch, das Bewusstsein in ein Ding zu verwandeln. Sie versucht, die Kommunikation und das Denken derart zu reduzieren, dass die Menschen in einer vorherbe‐ stimmten und instrumentellen Weise wie Maschinen und Pawlows Hund den‐ ken und handeln. Die Gesellschaft wird in sozialen Beziehungen produziert. Da soziale Beziehungen variabel sind, können die Menschen soziale Situatio‐ nen und die Gesellschaft verändern. Die Ideologie versucht, soziale Beziehun‐ gen als dinghaft und unveränderbar zu präsentieren. So befördert zum Beispiel die xenophobe Ideologie die Idee, dass Immi‐ granten von Natur aus faule „Parasiten“ sind und dass ihr Lebensstil von Natur aus mit dem national vorherrschenden Lebensstil unvereinbar ist. Das Verhalten der „Ausländer“ wird als von ihrer Nationalität und nicht von der Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt präsentiert. Kein In‐ dividuum hat von Natur aus einen egoistischen Charakter. Die Menschen können daher in der Gesellschaft Wege finden, um zusammenzuleben, von‐ einander zu lernen und Freunde zu sein. Die rassistische Ideologie verding‐ licht die Menschen und reduziert sie auf einen bestimmten Naturzustand. Sie verfolgt dabei das Ziel, Spaltung, Hass, Ausschluss, Diskriminierung, Konflikt, Krieg und in letzter Instanz Vernichtung zu fördern. Die Ideologie versucht, das menschliche Denken und Handeln auf automa‐ tische Reflexe zu reduzieren. Jede Ideologie versucht, die Menschen und die Gesellschaft in letzter Instanz zu dehumanisieren. Dehumanisierung bedeutet, dass die Ideologie bestimmten Gruppen und Individuen das Menschsein ab‐ spricht. Sie spricht ihren Opfern die Humanität ab und möchte diese leiden se‐ hen, exkludieren oder sogar vernichten. Sie versagt denen, die sie versucht, zu überzeugen, dass sie gegen den Sündenbock agieren sollen, vollständige menschliche Komplexität, indem versucht wird, die Komplexität der Kognition und Kommunikation auf ein eindimensionales Muster zu reduzieren. Die Ideo‐ logie ist eine nichtdialektische Praktik, Form des Bewusstseins und der Kom‐ munikation, die die dialektische Komplexität des Denkens, der Kommunika‐ tion, des Handelns und der Gesellschaft auf naturalisierte Vorurteile, Stereotypen und andere Irrationalitäten reduzieren will. Um effektiv zu sein, muss die Ideologie kommuniziert werden. Der nächste Abschnitt setzt sich mit der Kommunikation der Ideologie auseinander. 295 9.2. Was ist Ideologie? 295 <?page no="296"?> 21 Horst Holzer. 1975. Theorie des Fernsehens. Fernseh-Kommunikation in der Bundesrepu‐ blik Deutschland. Hamburg: Hoffmann und Campe. S. 45. 9.3. Kommunikation und Ideologie Ideologie bedeutet eine dialektische Beziehung der Kommunikation und des Fetischismus. Die Ideologie kommuniziert fetischistisch, und der Fetischis‐ mus ist eine Form der ideologischen Kommunikation. Der Warenfetisch als Prinzip des Kapitalismus führt dazu, „dass der Kommunikativ-Charakter der Waren und der Warencharakter der Kommunikation die Basis einer schein‐ haften gesamtgesellschaftlichen Synthese abgeben; scheinhaft deshalb, weil diese Synthese nicht Ergebnis eines bewusst und gemeinsam organisierten Stoffwechsels mit der Natur, sondern Ausdruck einer Produktionsweise ist, in der die Vergesellschaftung der arbeitenden Subjekte immer nur nachträg‐ lich, sozusagen nach getaner Arbeit sich ereignet und dementsprechend als quasi-naturgesetzliches, schicksalhaftes Verhängnis, nicht aber als gemachter und daher veränderbarer Sozialzusammenhang erlebt wird“ 21 . Der kommunikative Charakter des Warenfetischismus Die Preisinformation kommuniziert den monetären Wert einer Ware. Im Kapitalismus gibt es eine bestimmte Form der kapitalistischen Kommuni‐ kation, in der die Dinge dem Anschein nach zu den Menschen sprechen. Der Verkaufsprozess ist eine entmenschlichte Form der Kommunikation, bei der die Menschen nicht miteinander kommunizieren, sondern bei der die Ware durch den Preis und die Werbung zu den Menschen spricht. Die Warenform ist ein kapitalistisches Medium der Kommunikation, das aufgrund ihres fe‐ tischistischen Charakters die gesellschaftlichen Beziehungen und Macht‐ strukturen verdeckt, in denen die Menschen kommunikativ produzieren, produzierend kommunizieren sowie Klassenbeziehungen und Ausbeutung konstituieren und reproduzieren. Die Warenform ist eine verdinglichende und fetischistische Form der Kommunikation, die zu den Menschen in der Form dinghafter Kategorien und der Preise der Dinge spricht. Die Waren‐ form kommuniziert nicht nur Preise, sondern kommuniziert auch, dass die Ware und das Kapital natürliche Organisationsformen der Gesellschaft als Ganzem sind. Wegen dem verdinglichten und entfremdeten Charakter der Ware im Kapitalismus kann auch die Warenform der Kommunikation (Wer‐ bung als Publikumsware/ Nutzerware, die kommunikative Arbeitskraft als 296 9. Ideologie 296 <?page no="297"?> Ware, der Zugang zu Information und Kommunikation als Ware, Kommu‐ nikationsinhalte als Waren, Kommunikationstechnologien als Waren usw.) als natürlicher Aspekt der Kommunikation erscheinen. Der Fetischismus ist eine bestimmte Form der Kommunikation in Klassen‐ gesellschaften, bei der das Soziale verdinglicht wird und auf den Status eines Dinges reduziert wird. Diese Verdinglichung wird als natürliche Eigenschaft der Gesellschaft kommuniziert. Wenn die Dinge etwas symbolisieren, so er‐ scheint es uns so, als ob sie kommunizieren. Sie existieren aber nur und sind nur Symbole, da die gesellschaftliche Arbeit der Menschen in ihnen enthalten ist und sie in gesellschaftlichen Beziehungen produziert. Durch Waren und Märkte sprechen die Eigentümer, die die Verkäufer dieser Güter sind, zu uns und wollen uns dazu veranlassen, Güter zu kaufen. Der Dingcharakter der Waren versteckt den Ursprung der Klassenverhältnisse und der Ausbeutung der Arbeit. Der Warenfetisch macht die Waren bedeutungslos, wodurch eine Leere entsteht, die durch Werbung gefüllt werden kann, die Warenideologien propagiert und kommuniziert. Warenideologien wollen uns davon überzeu‐ gen, dass wir kaufen und konsumieren und dass die Waren zu einer magi‐ schen Verbesserung unseres Lebens führen. Der Warenfetisch macht es un‐ möglich, dass wir die unmittelbaren Produzenten sehen und mit ihnen kommunizieren. Er hält auch die in der Arbeitsteilung organisierten Produ‐ zenten davon ab, miteinander zu sprechen. Sie können nur durch politische Organisation zusammenkommen und politische Forderungen formulieren. Die Logik der Kulturwaren und des Privateigentums an den Kommuni‐ kationsmitteln führt zu großen Ungleichheiten der Kommunikationsmacht, sodass wenige Menschen und Organisationen - die kapitalistischen Medien und ihre Eigentümer - viel Kommunikationsmacht haben, während die an‐ deren zwar kommunizieren können, aber nur mit viel geringer Wahrschein‐ lichkeit gehört werden. Öffentlich-rechtliche Medien und Alternativmedien sind Versuche, diese Limitierungen zu überwinden, sind aber innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft mit spezifischen Antagonismen und Proble‐ men konfrontiert. Die herrschenden Gruppen und Klassen zielen darauf ab, die Mittel der kulturellen Produktion und Dissemination (Medien, Kommunikationstech‐ nologien) sowie die Inhalte, die verbreitet werden, zu kontrollieren. Dieser Prozess tendiert dazu, widersprüchlich und nicht automatisch erfolgreich zu sein. Nichtsdestotrotz gibt es in herrschaftsförmigen Gesellschaften eine allgemeine Tendenz dazu, dass die herrschende Klasse versucht, die Kom‐ munikationsmittel zu kontrollieren und diese für ideologische Zwecke zu 297 9.3. Kommunikation und Ideologie 297 <?page no="298"?> gebrauchen. Die Kulturarbeit wird dadurch zu Ideologiearbeit. Medieninhalt wird zu ideologischem Inhalt. Der fetischistische Charakter der ideologischen Kommunikation Bei der Ideologie handelt es sich immer um einem Kommunikationsprozess, in dem herrschende Gruppen versuchen, ihre moralischen Werte zu recht‐ fertigen und anderen aufzuzwingen. Ob dieser Versuch (nicht) erfolgreich, teilweise (nicht) erfolgreich, zeitweise (nicht) erfolgreich oder dauerhaft (nicht) erfolgreich ist, hängt von vielen Faktoren ab, wozu auch die Macht‐ verteilung zählt. Wenn die herrschende Klasse Machtmittel (wie die Mas‐ senmedien, öffentlichen Diskurs, Geld, Einfluss, Reputation) mobilisieren kann, dann kann sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Ideologien erfolgreich durchzusetzen. Die Ergebnisse des ideologischen Kommunikationsprozes‐ ses sind nicht zufällig, sondern abhängig von Machtdynamiken und Macht‐ asymmetrien, mit denen die beherrschten Gruppen konfrontiert sind. Der Fetischismus der Machtstrukturen zwingt der modernen Gesellschaft eine Struktur auf, in der die Gesellschaftsstrukturen als natürlich, ewig, un‐ veränderbar und dinghaft erscheinen. Im wirtschaftlichen Fetischismus er‐ scheinen Geld und Waren natürlich. Im politischen und kulturellen Feti‐ schismus erscheinen politische Positionen und Statuspositionen als natürlich. Die Gesellschaft scheint zu uns durch Dinge und Mitglieder der Elite zu sprechen. Geld, Waren, politische Positionen und Statuspositionen symbolisieren und kommunizieren Macht. Verdinglichte Strukturen verber‐ gen den sozialen und gesellschaftlichen Charakter der Entfremdung und dass sie das Ergebnis von Machtwidersprüchen und Kämpfen ist. Die wirt‐ schaftlichen, politischen und kulturellen Kämpfe der Arbeiter, Bürger und Subjekte im Allgemeinen haben das Potential, für die Abschaffung der Ent‐ fremdung und die Etablierung einer anderen Ordnung einzutreten. Arbeit und Ideologie sind immanent verbunden: Ideologische Arbeit produ‐ ziert und kommuniziert Ideologie. Genauso wie es die Ideologie der Arbeit gibt, gibt es im Kapitalismus Ideologiearbeit. Ideologie ist die semiotische Ebene der Herrschaft und der Ausbeutung. Durch die Ideologie praktizieren und ver‐ breiten Menschen Information und Bedeutungen in der Form von Ideen, Glau‐ benssystemen, Artefakten, Systemen und Institutionen, sodass Herrschaft und Ausbeutung gerechtfertigt oder naturalisiert werden. Die Ideologie ist eine spezielle Form individueller, sozialer und gesellschaftlicher Semiose, die in Herrschaftsstrukturen eingebettet ist und darauf abzielt, Herrschaft zu recht‐ 298 9. Ideologie 298 <?page no="299"?> fertigen, zu naturalisieren und zu reproduzieren sowie realen oder möglichen Widerstand einzudämmen. Sie zielt darauf ab, dass eine breite Öffentlichkeit glaubt, dass der herrschaftsförmige oder ausbeuterische Zustand einer Gesell‐ schaft oder eines sozialen Systems unverändert bleiben soll und gut, fair, frei und gerecht ist. Dieses Ziel ist verbunden mit der Aufgabe, Information zu verbreiten, die unterdrückte Menschen und Gruppen überzeugen möchte, nicht an Veränderungen zu arbeiten und keine Kräfte und Ideen zu unterstützen, die den Status quo in Frage stellen. Eine Ideologie ist ein gesellschaftliches Wis‐ sensprodukt, das die Macht und Herrschaft einer Gruppe oder eines Individu‐ ums oder die Ausbeutung von Gruppen oder Individuen rechtfertigt, indem die symbolischen Repräsentationen der Realität verfälscht, eindimensional oder verzerrt dargestellt werden. Ideologien lassen die Realität anders erscheinen als sie tatsächlich ist. Ideologie verbirgt das wahre Wesen und den wahren Zustand der Welt hinter falschen Erscheinungen und kommuniziert, dass diese falschen Erscheinun‐ gen die Wahrheit und naturhaft sind. Die Ideologie lässt das Sein als unmit‐ telbar erscheinen, die Simplizität ihrer illusionären Realität verheimlicht aber die Komplexität der Welt, die nicht immer direkt erfahren werden kann. Die Ideologie verdunkelt Machtverhältnisse und naturalisiert Herrschaft. Sind die Verwendung der Sprache und Kommunikation Formen der Werk‐ tätigkeit, so handelt es sich bei einer Untermenge davon in der Klassenge‐ sellschaft um Ideologiearbeit und bei einer anderen Untermenge um Kritik. Ideologien sind das Ergebnis der Ideologiearbeit, kritisches Wissen ist das Ergebnis kritischer Kulturtätigkeit. Die Ideologie operiert teilweise mit der Verdinglichung der Sprache. Die verdinglichte Gesellschaft bringt eine ver‐ dinglichte Sprache mit sich. Die Verdinglichung der Arbeitskraft erfordert Ideologien, die die Existenz der Entfremdung rechtfertigen. Ideologien versuchen, den menschlichen Geist zu entfremden. Sie versuchen, das Bewusstsein im Interesse der herr‐ schenden Kräfte zu instrumentalisieren. Im Kapitalismus beruht die Ideolo‐ gie auf der Verdunkelung des Subjekts durch das Objekt. Zum Beispiel ver‐ dunkelt der monetäre Profit den Mehrwert, der in gesellschaftlichen Beziehungen als Verausgabung eines spezifischen Quantums der Arbeitszeit entsteht. Die Ideologie ist eine bestimmte Form der instrumentellen Kom‐ munikation. Es handelt sich um eine kommunikative Strategie, die von der herrschenden Klasse und von herrschenden Gruppen verwendet werden, um zu versuchen, einen strategischen Vorteil zu erreichen und andere von einem bestimmten herrschenden Interesse zu überzeugen. Dabei werden die 299 9.3. Kommunikation und Ideologie 299 <?page no="300"?> 22 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 88. 23 Übersetzung aus dem Englischen [“they know very well what they are doing, but still, they are doing it“]: Slavoj Žižek. 1989. The Sublime Object of Ideology. London: Verso. S. 25. Strategien der Manipulation, der Ersetzung, der Unkenntnis, der Mystifi‐ zierung, der Verschleierung sowie die Organisation der Fantasie und der Lust verwendet. Antworten auf ideologische Kommunikation Unterworfene Gruppen und Individuen entwickeln nicht notwendigerweise kritisches oder falsches Bewusstsein. Ideologie ist ein Prozess mit ungewis‐ sen Resultaten. Aufgrund der Macht der herrschenden Gruppen und der relativen Machtlosigkeit der beherrschten Gruppen ist die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass sich kritisches Bewusstsein ausbildet, tendenziell niedriger als jene, das sich falsches Bewusstsein zeigt, außer beherrschte Gruppen und Individuen ermächtigen sich und lernen dadurch, die Ideolo‐ gien zu durchschauen, diese in Frage zu stellen und dagegen anzukämpfen. Herrschende Klassen und Gruppen versuchen, den Beherrschten ihre Ideo‐ logien aufzunötigen. Die Beherrschten antworten auf diesen ideologischen Kommunikationsprozess in einer positiven (Affirmation, Hegemonie), ne‐ gativen (Kritik, Gegenhegemonie) oder gemischten Weise. Die Antworten auf die Ideologie stehen der Herrschaft und Ausbeutung mehr affirmativ oder mehr kritisch gegenüber. Wenn Herrschende über die Ideologien zu Individuen sprechen, dann reagieren diese und kommunizieren auf be‐ stimmte Weisen, die nicht vorherbestimmt sind. Die Existenz der von Ideologiearbeitern im Interesse einer herrschenden Gruppe geschaffenen und verbreiteten Ideologien ist relativ unabhängig von der Frage, wie die Menschen auf Ideologien reagieren. Es gibt dabei ver‐ schiedene Möglichkeiten. Entweder sind sie sich über den Status der Ideo‐ logie als Ideologie bewusst oder nicht bewusst. Es gibt auch gemischte For‐ men der Bewusstheit. Die Menschen folgen einer Ideologie oder folgen ihr teilweise oder stellen sie in Frage oder leisten gegen sie Widerstand. Im Kapital Band 1 diskutiert Marx den Fetischcharakter der Waren, indem er sagt, dass dessen Ideologie der Logik „Sie wissen das nicht, aber sie tun es” 22 folgt. Slavoj Žižek 23 argumentiert, dass das zynische Subjekt heute sein Han‐ deln an der Logik „Sie wissen sehr wohl, was sie machen, aber sie tun es 300 9. Ideologie 300 <?page no="301"?> 24 Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 1. Halbband, S. 643. trotzdem“ orientiert. Die psychologischen Gründe, warum die Menschen Ideologien reproduzieren, haben mit Angst und Hoffnung zu tun 24 . Žižek argumentiert, dass die Menschen teilweise über die Falschheit der Ideologie Bescheid wissen, aber ihr folgen, da sie dadurch einen Mehrwert an Lust, ein Mehr-Genießen, erlangen. Die Ideologie ist immer falsch, da sie herr‐ schende Ideen enthält, die die herrschaftsförmige Realität rechtfertigen. Wie die Menschen auf Ideologie reagieren, hat mit ihrer Subjektivität, also mit ihren Erkenntnissen und ihrem Handeln in Bezug auf die Ideologie zu tun. Tabelle 9.1 zeigt 16 logische Kombinationen davon, wie die Menschen auf die Ideologie reagieren können. Die Möglichkeit, die Žižek anspricht, ist nur eine von 16 Möglichkeiten, wie die Menschen auf Ideologien reagieren. Sie reproduzieren Ideologien in ihrem Handeln teilweise oder vollständig. Die acht Möglichkeiten in den ersten beiden Spalten handeln davon. Die Reak‐ tionsmöglichkeiten in der dritten und vierten Spalte haben damit zu tun, dass die Menschen Ideologien nicht folgen oder Widerstand leisten. Je nach‐ dem, wie die realen Machtstrukturen aussehen, haben die 16 Möglichkeiten unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten. Es ist zum Beispiel eher unwahr‐ scheinlich, dass sich die Menschen einer Ideologie zufällig widersetzen, ob‐ wohl sie sich über diese nicht bewusst sind. Es ist hingegen viel wahr‐ scheinlicher, dass sie sich über die Ideologie, der sie sich widersetzen und die sie ablehnen, bewusst sind. 301 9.3. Kommunikation und Ideologie 301 <?page no="302"?> Handeln → ↓Wissen Befolgung der Ideologie Teilweise Be‐ folgung der Ideologie Nichtbefol‐ gung der Ideologie Widerstand gegen die Ideologie Nichtvor‐ handenes Bewusst‐ sein über die Ideolo‐ gie Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Sie wissen es nicht, machen aber teilweise mit. Sie wissen es nicht und tun es nicht. Sie wissen es nicht, aber sie leisten Wider‐ stand dage‐ gen. Bewusst‐ sein über die Ideolo‐ gie Sie wissen es, tun es aber trotzdem. Sie wissen es und machen teilweise mit. Sie wissen es, und sie tun es nicht. Sie wissen es und leisten Widerstand dagegen. Teilweises Bewusst‐ sein über die Ideolo‐ gie Sie wissen es teilweise, tun es aber trotz‐ dem. Sie wissen es teilweise und machen teil‐ weise mit. Sie wissen es teilweise, und sie tun es nicht. Sie wissen es teilweise, und sie leisten Wi‐ derstand dage‐ gen. Kritisches Bewusst‐ sein über die Ideolo‐ gie Sie sind dage‐ gen, machen aber mit. Sie sind dagen und machen teilweise (nicht) mit. Sie sind dage‐ gen, und sie tun es nicht. Sie sind dage‐ gen, und sie leisten Wider‐ stand dage‐ gen. Tabelle 9.1: Mögliche Antworten auf ideologische Kommunikation Die Ideologiekritik produziert emanzipatorisches Wissen. Der nächste Ab‐ schnitt setzt sich mit der Ideologiekritik auseinander. 9.4. Ideologiekritik Herrschaftswissen und emanzipatorisches Wissen Die moderne Gesellschaft ist immanent konkurrenzförmig und beruht auf Strukturen der Akkumulation, sodass sowohl allgemeine Gesellschaftsstruk‐ turen als auch Wissensstrukturen unter das Kapital subsumiert sind und In‐ strumente zur Akkumulation von Kapital, politischem Einfluss und Reputation darstellen. Strukturen der Akkumulation resultieren in Interessenskonflikten zwischen denen, die die Macht kontrollieren und denen, die davon exkludiert 302 9. Ideologie 302 <?page no="303"?> 25 Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 223-224. 26 Ebd., S. 501. 27 Ebd., S. 223. 28 Ebd., S. 223. 29 Georg Lukács. 1924. Lenin: Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II, 519-588. Bielefeld: Aisthesis. S. 537. sind. Die moderne Gesellschaft ist daher sowohl eine Klassengesellschaft als auch eine herrschaftsförmige Gesellschaft. Emanzipatorisches Wissen wird in Kämpfen konstituiert, die im politischen System herrschende Mächte in Frage stellen. Emanzipatorische Machtkämpfe stellen die Gesellschaftsstrukturen der Akkumulation und der Herrschaft in Frage, die einer Gruppe auf Kosten an‐ derer Vorteile verschaffen. Wissen ist eine Form der Macht. Daher haben emanzipatorische Kämpfe die Macht, alternatives, emanzipatorisches Wissen zu schaffen, das herrschaftliches Wissen in Frage stellt. Das Klassenbewusstsein ist die „rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozess zuge‐ rechnet wird“ 25 . Zugerechnetes Klassenbewusstsein ist objektives Klassenbe‐ wusstsein 26 . Das objektive Klassenbewusstsein wird durch die Position des Subjektes im Produktionsprozess definiert. Es ist nicht einfach empirisches Bewusstsein, sondern eine objektive Möglichkeit des Bewusstseins - die „Gedanken, Empfindungen usw. […], die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus erge‐ benden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den - diesen Interessen gemäßen - Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären; die Gedanken usw. also, die ihrer objektiven Lage an‐ gemessen sind“ 27 . Falsches Bewusstsein ist ein Bewusstsein, das „etwas objek‐ tiv an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes, sie nicht adäquat Treffendes und Ausdrückendes“ 28 bedeutet. Das revolutionäre Klassenbewusstsein geschieht „nicht von selbst, nicht durch das mechanische Sichauswirken der ökonomischen Kräfte der kapi‐ talistischen Produktion, noch durch das schlicht organische Wachstum der Massenspontaneität“ 29 . Das kritische Bewusstsein entsteht weder rein spon‐ tan (wie vom Individualismus und vom Voluntarismus angenommen) noch als mechanischer Effekt struktureller Krisen (wie von fatalistischen Ansät‐ zen angenommen). Für Lukács eröffnet eine strukturelle Krise des Kapita‐ lismus einen Möglichkeitsraum, in dem die Zukunft relativ unbestimmt ist und durch die Frage beeinflusst wird, ob die unterdrückten Klassen sich 303 9.4. Ideologiekritik 303 <?page no="304"?> selbstorganisieren können, eher passiv bleiben oder Anhänger der bürger‐ lichen oder faschistischen Ideologie werden. Tabelle 9.2 gibt einen Überblick über den Konflikt zwischen herrschafts‐ förmigem, ideologischem Wissen und emanzipatorischem Wissen. Konkrete Individuen und Gruppen produzieren Wissen in sozialen Beziehungen. Die Wissensstrukturen sind nicht abstrakt, sondern basieren auf sozialen Be‐ ziehungen zwischen menschlichen Akteuren. Wissensarbeiter produzieren soziale Wissensprodukte, die wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Rol‐ len in der Totalität der Wirtschaft und der Gesellschaft spielen. Tabelle 9.2 zeigt sowohl die Akteure, die herrschaftsförmiges Wissen produzieren, als auch jene, die emanzipatorisches Wissen kreieren. Es werden außerdem die Arten des sozialen Wissens gezeigt, die produziert werden. Bereich der Gesell‐ schaft Ideologisches Wissen, Herrschaftswissen Kritisches, emanzipatori‐ sches Wissen Wirtschaft Kapitalistische Unternehmen: Wissenswaren Nichtkapitalistische Organi‐ sationen: Wissen als Gemeingut Politik Politik: Regierung, Par‐ lament Herrschende und oppositionelle Parteien und Politiker: Politische Ideologien der Un‐ gleichheit, der Herrschaft und der Repression/ Gewalt Kritische Parteien, Politiker und Intellektuelle: Politische Weltanschauun‐ gen der Gleichheit, der Par‐ tizipation und des Friedens Politik: Zivilgesell‐ schaft Repressive soziale Bewegun‐ gen, Nichtregierungsorganisa‐ tionen (NROs) und Aktivisten: Politische Ideologien der Un‐ gleichheit, der Herrschaft und der Repression/ Gewalt Emanzipatorische soziale Be‐ wegungen, NROs und Akti‐ visten: Politische Weltanschauun‐ gen der Gleichheit, der Par‐ tizipation und des Friedens Politik: Internationale Beziehungen Nationalisten: Nationalistische Ideologie Antinationalisten, Internatio‐ nalisten: Globale Einheit in der Vielfalt Kultur Nachrichten, Massenmedien Unkritische Journalisten: Eindimensionale, verzerrte Berichte Kritische Journalisten: Kritische, anspruchsvolle Berichte Kunst und Un‐ terhaltung Schauspieler, Unterhaltungs‐ künstler, Regisseure, Künstler: Eindimensionale Boulevard‐ kultur Schauspieler, Unterhaltungs‐ künstler, Regisseure, Künstler: Anspruchsvolle, dialektische Kultur Persönliche und Geschlechter- Verhältnisse Egoisten: Hass, Sexismus Altruisten: Liebe, Fürsorge, Solidarität 304 9. Ideologie 304 <?page no="305"?> 30 Antonio Gramsci. 1980. Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften. Leipzig: Reclam. S. 27. Glaubenssys‐ teme, Ethik, Philosophie und Religion Demagogen: Konservatismus Öffentliche Intellektuelle: Progressivismus Wissenschaft und Bildung Administrative Wissenschaft‐ ler und Lehrer: Administratives Wissen Kritische Wissenschaftler und Lehrer: Kritisches Wissen Interkulturelle Beziehungen Rassisten, Befürworter der Trennung und Separation: Rassismus, Fundamentalis‐ mus Universalisten: : Interkulturelles Verständnis, Transkulturalismus Tabelle 9.2: Ideologisches und emanzipatorisches Wissen Die Produktion von Ideologien und Kritiken benötigt Arbeiter, die spezifi‐ sche ideelle Inhalte produzieren. Um Ideologien und Kritiken, die diese in Frage stellen, wirksam zu machen, braucht man nicht nur die Wissenspro‐ duktion, sondern auch etliche andere verwandte Arbeitsprozesse innerhalb der relevanten Institutionen und sozialen Systeme. In einer Schule gibt es zum Beispiel Lehrer und Schüler, die in Lernprozessen aktiv sind, wodurch zu bestimmten Graden Kritiken und Ideologien manifestiert, geschaffen, re‐ produziert und herausgefordert werden. Zu den Arbeiten, die auf das Lernen in Schulen bezogen sind und diese ermöglichen, gehören die Reinigungs‐ kräfte des Schulgebäudes, die Gestaltung der Lehrpläne durch den Gesetz‐ geber, Berater und Experten, die Zubereitung von Essen in der Kantine, usw. Um die Produktion von Ideologien und Kritiken zu verstehen, muss man daher die breiten institutionellen Grundlagen und Kontexte in Betracht zie‐ hen. Das bedeutet, dass man für die Analyse von Arbeit, die Ideologien und Kritik produziert, kulturellen Idealismus vermeiden sollte und eine mate‐ rialistische Position einnehmen sollte, die sieht, wie Kultur, Ideologie und Wissen in verschiedene Formen des Wissens (Informationsarbeit, Dienst‐ leistungsarbeit, manuelle Arbeit usw.) eingebettet sind. Die Hegemonie der Ideologien und der Ideologiearbeiter kann durch ge‐ genhegemonielle Arbeit herausgefordert werden. Gramsci sagt in diesem Zusammenhang, dass man zur Durchführung gesellschaftlicher Verände‐ rung „intensive kritische Arbeit” 30 braucht. In solchen Fällen gibt es die Möglichkeit für kulturelle Klassenkämpfe, in denen kritische Kulturarbeiter 305 9.4. Ideologiekritik 305 <?page no="306"?> 31 Antonio Gramsci. 1999. Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Band 7. Hamburg: Argument. S. 1578 gegen Ideologiearbeiter auftreten und kämpfen. Es schaffen und verbreiten dann die Kritiker - also jene, die Kritiken als diskursives Wissen in semio‐ tischen Prozesses erzeugen - Wissen über Gerechtigkeit und Partizipation, Einheit in der Vielfalt, Dialektik, Liebe, Fürsorge, progressives Denken, kri‐ tisches Wissen oder Verständnis, um die Ideologien in Frage zu stellen, die von Ideologiearbeitern geschaffen, diffundiert und reproduziert werden. Zu diesen Ideologien gehören der Liberalismus, die Ungleichheit, die Herr‐ schaft, der Nationalismus, die Eindimensionalität, der Hass, der Sexismus, der Konservatismus, das administrative Wissen und der Rassismus. Die Re‐ sultate von kulturellem Kämpfen sind nicht vorherbestimmt, sondern hoch‐ gradig unwahrscheinlich. Ideologiearbeit und Kritik sind hochgradig flüssig, dynamisch und verwoben. Während ein Artikel in einer Tageszeitung ideo‐ logisch ist, kann ein anderer kritisch sein. Im Allgemeinen gibt es aber eine Tendenz der institutionellen Anhäufung, durch die Ideologien und Kritik in Institutionen kristallisiert werden, die kontinuierliche Ideologien und Kri‐ tiken erschaffen, verteilen und reproduzieren. Solche Institutionen haben interne Antagonismen (zwischen herrschenden Fraktionen und ihren Ideo‐ logien, zwischen vorherrschenden und untergeordneten Gruppen und ihren Diskursen) und externe Antagonismen (zwischen verschiedenen Institutio‐ nen, Systemen und Gruppen in der Gesellschaft usw.). Kultur und Politik sind die Bereiche, in denen Zustimmung zur Herrschaft hergestellt wird. Sie sind aber auch das Terrain, auf dem eine Gegenhege‐ monie, die die Herrschaft in Frage stellt und gegen sie kämpft, etabliert werden kann. Gramsci spricht in diesem Zusammenhang von der „Hege‐ moniekrise der führenden Klasse, die entweder eintritt, weil die führende Klasse in irgendeiner großen politischen Unternehmung gescheitert ist, für die sie den Konsens der großen Massen mit Gewalt gefordert oder durch‐ gesetzt hat (wie der Krieg) oder weil breite Massen (besonders von Bauern und intellektuellen Kleinbürgern) urplötzlich von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergegangen sind und Forderungen stellen, die in ihrer unorganischen Komplexität eine Revolution darstellen“ 31 . Lenin for‐ muliert diesen Umstand, indem er schreibt, dass gesellschaftliche Verände‐ 306 9. Ideologie 306 <?page no="307"?> 32 Vladimir I. Lenin. 1920. Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunis‐ mus. In Lenin Werke. Band 31, 1-91. Berlin: Dietz. S. 71. rung nur dann stattfindet, wenn die „»Unterschichten« das Alte nicht mehr wollen und die »Oberschichten« in der alten Weise nicht mehr können” 32 . Die Produktion des sozialen Wissens ist in mehrfacher Hinsicht dialek‐ tisch: Die sozialen Systeme beruhen auf einer Dialektik von allgemeinen Strukturen und Wissensstrukturen und einer Dialektik von individuellem und sozialem Wissen. In herrschaftsförmigen sozialen Systemen gibt es In‐ teressenskonflikte um die Kontrolle der Macht, die auch zu einem Konflikt zwischen herrschaftsförmigem und emanzipatorischem Wissen führen. Das Wissen ist daher in solchen Systemen in dem Sinn dialektisch, dass es um‐ kämpft ist. Kämpfe um die Definition und Kontrolle des Wissens sind ten‐ denziell asymmetrisch, da herrschende Akteure, die Geld, Einfluss und Re‐ putation kontrollieren, strukturelle Vorteile haben. Sie können versuchen, diese Ressourcen zu mobilisieren, um ihre Herrschaft zu legitimieren und Kämpfe sowie Alternativen zu verhindern. Sie können körperliche Gewalt, strukturelle und ideologische Repression ausüben, um ihre Herrschaftspo‐ sition aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Garantie, dass alternative Strukturen und alternatives, emanzipatorisches Wissen entstehen können oder dass die Akteure und Bewegungen, die solche Alternativen organisieren, genug Macht ausüben können, sich als wichtige gegenhegemoniale Kräfte zu kon‐ stituieren. Es gibt eine politische Ökonomie der Ressourcenasymmetrie, die der modernen Gesellschaft inhärent ist, die alternative Bewegungen, alter‐ native Strukturen und emanzipatorisches Wissen strukturell benachteiligt. 9.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieses Kapitels zusam‐ menfassen: ■ Ideologie und Fetischismus stehen in einer dialektischen Beziehung: Ideologie ist in die Warenstrukturen des Kapitalismus eingebaut. Die ka‐ pitalistischen Produktionsbeziehungen der Waren verbergen die Klas‐ senverhältnisse, die die unmittelbaren Produzenten eingehen. Über den Warenfetisch ist die Ideologie in die wirtschaftlichen Strukturen der ka‐ pitalistischen Gesellschaft eingebaut. Als Projekt zur Verteidigung der 307 9.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 307 <?page no="308"?> Interessen der herrschenden Klasse und herrschender Gruppen operiert die Ideologie in einer fetischistischen Weise. Sie versucht, die Herr‐ schaft, die Ausbeutung und die herrschende Klasse durch Methoden wie die Sündenbockpolitik, die Verzerrung, die Ablenkung, die Falschdarstel‐ lung und die Manipulation zu naturalisieren. Die Ideologie zielt auf die Verdinglichung des Bewusstseins der beherrschten Gruppen. Ist die Ideologie erfolgreich, so schafft sie falsches Bewusstsein. ■ Die Ideologie versucht, die Menschen und ihr Bewusstsein im Interesse der Herrschaft und der Ausbeutung zu instrumentalisieren. Sie beruht auf der instrumentellen Vernunft und der technologischen Rationalität. Die Ideologie steht im Kontext einer Dialektik von Kommunikation und Wa‐ ren. Der Warenfetisch hat einen kommunikativen Charakter, und die kapitalistische Kommunikation hat eine fetischistische Struktur. Zum Fetischismus gehört der Kommunikationscharakter der Waren, durch den der Kapitalismus naturalisiert wird. Der Warencharakter der Kom‐ munikation befördert die Verbreitung von Ideologien durch die Kultur‐ industrie. Die Ideologie verbirgt das wahre Wesen und den wahren Zu‐ stand der Welt hinter falschen Erscheinungen und kommuniziert diese Erscheinungen als Wahrheiten und als naturhaft. ■ Die Antworten auf Ideologien sind nicht vorherbestimmt. Die herrschen‐ den Klassen und Gruppen kontrollieren mehr Ressourcen als die unter‐ worfenen Klassen und Gruppen, wodurch sie Vorteile im ideologischen Bedeutungskampf haben. Die Ideologiearbeit ist Arbeit, die die Produk‐ tion und Verbreitung von Ideologien organisiert. Ideologische Arbeiter produzieren ideologisches Wissen. Die Ideologiekritik ist eine Aktivität, die Ideologie in Frage stellt und enthüllt, wie die Ideologie funktioniert. Der Antagonismus zwischen emanzipatorischem Wissen und der Ideo‐ logie existiert in der kapitalistischen Wirtschaft, Politik und Kultur. Bei Ideologen handelt es sich um Ideologiearbeiter, die Ideologien produzie‐ ren, verbreiten und reproduzieren. Kritiker sind Menschen, die Ideolo‐ gien in Frage stellen. Die Kritik ist immer möglich, stellt aber niemals einen Automatismus dar. Der kapitalistischen Gesellschaft ist eine poli‐ tische Ökonomie der Ressourcenasymmetrie inhärent, die strukturelle Nachteile für alternative Bewegungen, alternative Strukturen und eman‐ zipatorisches Wissen bedeutet. Das nächste Kapitel diskutiert eine bestimmte Form der Ideologie, nämlich den Nationalismus. 308 9. Ideologie 308 <?page no="309"?> 1 Christian Fuchs. 2020. Nationalism on the Internet: Critical Theory and Ideology in the Age of Social Media and Fake News. New York: Routledge. 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie Der Nationalstaat ist der begrenzte, territoriale, legislative und militärische Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft. Die Nation hat aber nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle, ideologische und kommunikative Dimension. Der Nationalismus ist eine sonderbare moderne Ideologie, die den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Nationalstaaten rechtfertigt. Er schafft eine politische und eine kulturelle Außenseite. Die zu dieser Außen‐ seite gehörigen Menschen sind von der Zugehörigkeit zur Nation ausge‐ schlossen. Die Existenz dieser Außenseite rechtfertigt die Innenseite. Der Nationalismujs spielt eine notwendige Rolle in der ideologischen Repro‐ duktion des Kapitalismus und der Klassenverhältnisse. Dieses Kapital fragt: Was ist der Nationalismus? Wie wird der Nationalismus kommuniziert? Es analysiert das Verhältnis von Nationalismus, Kommunikation und Ideologie. Zuerst diskutiert das Kapitel, worum es sich beim Nationalismus handelt (Abschnitt 10.1). Zweitens wird das Verhältnis von Nationalismus und Ras‐ sismus verdeutlicht (10.2). Drittens werden der rechte Autoritariamus, der autoritäre Kapitalismus und der Faschismus analysiert (10.3). Viertens geht es um die Kommunikation nationalistischer Ideologie (10.4). Der in diesem Buch vertretene Ansatz zur Analyse des Nationalismus beruht auf den Arbeiten von Karl Marx, Rosa Luxemburg, der Frankfurter Schule, Eric Hobsbawm und C.L.R. James. Es handelt sich dabei um kritische, marxistische Ansätze zur Analyse des Nationalismus, die dessen ideologi‐ schen Charakter betonen. Mein Buch Nationalism on the Internet: Critical Theory and Ideology in the Age of Social Media and Fake News 1 bietet eine Einführung in marxistische und kritische Theorien des Nationalismus. Es findet darin unter anderem eine Auseinandersetzung mit Autoren wie Theo‐ dor W. Adorno, Kevin Anderson, Benedict Anderson, Étienne Balibar, Otto Bauer, Erica Benner, Michael Billig, Partha Chatterjee, Vivek Chibber, Ho‐ race B. Davis, Mike Davis, Karl Deutsch, Michael Forman, Erich Fromm, Ernest Gellner, Paul Gilroy, Stuart Hall, Eric J. Hobsbawm, C. L. R. James, Karl Kautsky, Vladimir I. Lenin, Michael Löwy, Rosa Luxemburg, Karl Marx, <?page no="310"?> 2 Christian Fuchs. 2018. Digitale Demagogie: Autoritärer Kapitalismus im Zeitalter von Trump und Twitter. Hamburg: VSA. 3 Christian Fuchs. 2018. Nationalism 2.0. The Making of Brexit on Social Media. London: Pluto Press. 4 Christian Fuchs. 2016. Racism, Nationalism and Right-Wing Extremism Online: The Austrian Presidential Election 2016 on Facebook. Momentum Quarterly - Zeitschrift für sozialen Fortschritt ( Journal for Societal Progress) 5 (3): 172-196. 5 Wilhelm Reich. 2011. Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Anaconda. Tom Nairn, Franz Neumann, Jyoti Puri, Karl Renner, David Renton, David Roediger, Edward W. Said, Anthony D.Smith, Gayatri Chakravorty Spivak, Josef Strasser, Pierre-André Taguieff, Klaus Theweleit, Raymond Williams und Ruth Wodak statt. Das Buch Nationalism on the Internet, mein Buch Digitale Demagogie: Autoritärer Kapitalismus im Zeitalter von Trump und Twitter 2 , das elektronische Buch Nationalism 2.0. The Making of Brexit on Social Media 3 und einige meiner Aufsätze 4 präsentieren Fallstudien, die ana‐ lysieren, wie Nationalismus und andere autoritäre Ideologien über soziale Medien kommuniziert werden. Das vorliegende Kapitel präsentiert die Hauptaspekte des theoretischen Ansatzes, den ich zur Analyse des Natio‐ nalismus und der Kommunikation des Nationalismus verwende. 10.1. Nationalismus Was ist Nationalismus? Beim Nationalismus handelt es sich um eine bestimmte Ideologie, die ver‐ sucht, die Aufmerksamkeit vom Kapitalismus, dem Klassenkonflikt und den gesellschaftlichen Ursachen sozialer Probleme abzulenken. Die Ideologie basiert nicht rein auf Wirtschaft und Politik. Eine politisch-ökonomische Krise führt nicht notwendigerweise zu falschem, ideologischem oder kriti‐ schem Bewusstsein als Massenphänomen. Vielmehr spielen Faktoren wie ideologische Kämpfe, Klassenkämpfe, symbolische Macht sowie die persön‐ lichen, alltäglichen und psychologischen Erfahrungen und Wünsche eine Rolle und interagieren mit wirtschaftlichen und politischen Faktoren 5 . Der Nationalismus ist dem menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Sein nicht inhärent. Das Wort tauchte in der englischen Sprache im 18. Jahr‐ hundert auf und wurde im 19. Jahrhundert Teil des alltäglichen Sprachge‐ 310 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 310 <?page no="311"?> 6 Raymond Williams. 1983. Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. New York: Oxford University Press. Revised edition. S. 213-214. 7 Nationalismus. In DWDS - Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Ge‐ schichte und Gegenwart. https: / / www.dwds.de/ wb/ Nationalismus (aufgerufen am 23. September 2018). 8 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Nationalismus (aufgerufen am 23. September 2018). 9 Datenquellen: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_population_in_170 0, https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_population_in_1800, https: / / en. wikipedia.org/ wiki/ List_of_countries_by_population_in_1900, https: / / en.wikipedia.or g/ wiki/ List_of_countries_by_population_in_1939, https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_ of_countries_by_population_in_1989 (aufgerufen am 5. Februar 2019). brauches 6 . Auch im deutschen Sprachgebrauch wurde das Wort im 19. Jahr‐ hundert alltäglich 7 . Es wurde 1929 erstmals in das Fachwörterbuch Duden aufgenommen, in dem es als „übersteigertes Nationalbewusstsein“ definiert wird 8 . Der Aufstieg des Nationalismus hatte mit der Schaffung moderner Nationalstaaten zu tun. Die Existenz der Nation als Nationalökonomie, Na‐ tionalstaat und vom Nationalstaat regulierte Kulturinstitutionen (Schulen, Universitäten, Kirchen, Museen, Kunst, Medien, Wissenschaft, Kranken‐ häuser, Familien, Sport, usw.) sind Tatsachen der Moderne. Eine National‐ ökonomie, der Nationalstaat und nationale Kulturinstitutionen sind als be‐ grenzte Räume organisiert, die eine Innen- und eine Außenseite haben sowie Grenzen, die durch Mitgliedschaftsregeln definiert werden. Jahr Anzahl 1700 24 1800 26 1900 87 1939 56 1989 130 Tabelle 10.1: Anzahl der Imperien und Nationalstaaten mit mehr als einer Million Einwohner 9 Tabelle 10.2 zeigt die Anzahl der Imperien und Nationalstaaten, die in ge‐ wissen Jahren mehr als eine Million Einwohner hatten. Es wird dadurch deutlich, dass die Schaffung von Nationalstaaten speziell seit dem 19. Jahr‐ 311 10.1. Nationalismus 311 <?page no="312"?> 10 Eric J. Hobsbawm. 1992. Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Rea‐ lity. Cambridge: Cambridge University Press. Zweite Auflage. Kapitel 1. 11 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 20. 12 Übersetzung aus dem Englischen: Eric J, Hobsbawm. 1989. The Age of Empire 1875-1914. New York: Vintage Books. S. 143. hundert eingesetzt hat, wodurch deutlich wird, dass der Nationalstaat vor‐ wiegend ein modernes Phänomen ist, das mit dem Imperialismus, Kriegen und schnellen Veränderungen der Moderne, des Kapitalismus und der Klas‐ senstruktur zu tun hat. Eric Hobsbawm 10 argumentiert, dass das Zeitalter der Revolution (1789-1848), währenddem etwa die Französische Revolution stattfand, stand dem nationalistischen Prinzip, Nationalstaaaten auf Basis „Ethnizität, gemeinsamer Sprache, Religion, Territorium und gemeinsamer geschichtlicher Erinnerungen“ 11 zu schaffen, relativ feindlich gegenüber. In diesem Zeitalter verstand man unter Nationen vor allem Nationalökono‐ mien. Laut Hobsbawm entstand der Nationalismus und das Streben nach der Schaffung moderner Nationalstaaten mit dem Imperialismus ab 1875 im von Hobsbawm als Zeitalter der Imperien bezeichneten Entwicklungsstadium der Gesellschaft. Der Nationalismus betont Unterschiede der Sprache, Kultur und „Rasse“ und radikalisiert diese Unterschiede ideologisch. „Die Grundlage aller Arten des »Nationalismus« war überall dieselbe: die Bereitschaft der Menschen, sich emotional mit »ihrer« »Nation« zu identifizieren und politisch als Tschechen, Deutsche, Italiener oder was auch immer mobilisiert zu werden. Diese Bereitschaft konnte politisch ausgenutzt werden” 12 . Hobsbawm argu‐ mentiert, dass Rassismus und Antisemitismus mit dem wachsenden Einfluss von Rassentheorien und dem Sozialdarwinismus zunahmen. Eine wichtige Art, um Theorien des Nationalismus zu unterscheiden, be‐ steht darin, dass man die Frage stellt, ob Nationalismus und die Nation als der menschlichen Existenz und der Gesellschaft innewohnend erachtet wer‐ den oder als historische Phänomene, die nur in bestimmten Gesellschaften existieren, die durch besimmte Klassenunterscheidungen und Herrschafts‐ formen geprägt sind. Abhängig davon, ob die erste oder zweite Antwort gegeben wird, können wir zwischen fetischistischen und kritischen Theo‐ rien des Nationalismus unterscheiden. Fetischistische Theorien verdingli‐ chen den Nationalismus, während kritische Theorien den ideologischen, konstruierten, erfundenen, fabrizierten und illusionären Charakter des Na‐ tionalismus betonen. Der Nationalismus fetischisiert die Nation in der Form einer „Wir“-Identität (ein Nationalvolk), die von Feinden (Außenseiter, an‐ 312 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 312 <?page no="313"?> dere Nationen, Immigranten, Flüchtlinge usw.) unterschieden wird, um die Aufmerksamkeit von Klassenwidesprüchen und Machtungleichheiten ab‐ zulenken. Die Nation ist ein komplexer Begriff. Man kann darunter einerseits den Territorialstaat verstehen und andererseits die nationale Identiät. Beim Na‐ tionalismus handelt es sich um eine bestimmte Ideologie des Nationalen, die primär auf der Ebene der nationalen Identität stattfindet, aber dazu tendiert, zu definieren, wer Teil und nicht Teil der Bürger eines Territorialstaates ist. Die Nation und der Nationalismus definieren immer eine fremde und feind‐ selige Außenseite, von der sich die nationale Identität unterscheidet und gegen die sie sich verteidigen muss. Das Problem essentialistischer Theorien der Nation und des Nationalismus ist, dass sie implizieren, dass der Krieg eine in letzter Instanz zentrale und unvermeidbare Eigenschaft aller Gesell‐ schaften ist. Sie befördern ein negatives Bild des menschlichen Wesens und können sich keine friedliche Gesellschaft vorstellen. Die Fetischisierung der Nation und des Nationalismus bedeutet also die Fetischisierung der Kriegs‐ führung und des Militarismus. Das Argument, dass Aufrüstung zur Landes‐ verteidigung notwendig ist, hat in der Geschichte zu Rüstungswettläufen geführt, die die Möglichkeit der nuklearen Auslöschung des Lebens auf der Erde geschaffen haben. Klassengesellschaften wenden Repression an, um ihre Existenz zu garan‐ tieren. In sklavenhaltenden und feudalen Gesellschaften stehen die Arbeits‐ kräfte und die Produkte der Arbeit vollständig oder teilweise im Besitz der Sklavenhalter bzw. der Feudalherren. Eine derartige Gesellschaftsstruktur kann nur durch direkte, physische Gewalt aufrechterhalten werden, also zum Beispiel mit Hilfe der Peitsche, des Schwertes, der Schlinge und des Gewehrs. Im Kapitalismus nimmt die Repression zusätzlich zur körperlichen Gewalt auch die Form der strukturellen und der ideologischen Repression an. Die ideologische Gewalt versucht, die Klassenverhältnisse und die Aus‐ beutung zu naturalisieren. Eines ihrer Ziele ist es, die Arbeiter und andere Unterdrückte zu „überzeugen“, dass ihre Ausbeutung und Beherrschung na‐ türlich und alternativenlos ist und dass Gesellschaftsprobleme nichts mit der Klassenstruktur zu tun haben, sondern andere Ursachen haben. Der Nationalismus ist eine der Ideologien, die versuchen, ein Gefühl der Einheit zwischen den unterdrückten Klassen und der kapitalistischen Klasse her‐ zustellen, um die Aufmerksamkeit von den Klassenunterschieden, der Klas‐ senstruktur und der Machtungleichheit der Klassenstruktur abzulenken. Die moderne Klassengesellschaft benötigt den Nationalismus als Ideologie, um 313 10.1. Nationalismus 313 <?page no="314"?> die Ausbeutung der Arbeiter, die Beherrschung der Bürger und Konsumen‐ ten und die geographische Expansion der kapitalistischen Produktion und Märkte zu rechtfertigen. Der Nationalismus konstruiert eine Einheit, die einer Außenseite entge‐ gengesetzt wird. Diese Außenseite kann in der Form von inneren und/ oder äußeren Feinden der Nation präsentiert werden. Während es sich bei den inneren Feinden typischerweise um Ausländer, Einwanderer, Minderheiten und Sozialisten handelt, sind die äußeren Feinde meist andere Nationen und internationale Gruppen. Der Nationalismus als Ideologie rechtfertigt nicht nur die Klassenstruktur einer Nationalgesellschaft (also einer von nationa‐ len Grenzen definierten Gesellschaft), sondern auch deren imperialistische, koloniale oder neokoloniale Expansion sowie Kriege. Kriege und Imperia‐ lismus werden oft durch die Ideologie des „nationalen Interesses“ und der „nationalen Sicherheit“ gerechtfertigt, die behauptet, dass die Nation gegen ausländische Feinde verteidigt werden muss sowie durch die Ideologie der „nationalen Überlegenheit“, die behauptet, dass die überlegene Nation „pri‐ mitive“, „unterentwickelte“ und „rückständige“ Regionen „zivilisieren“ muss und ihnen helfen muss. Der Krieg ist ein immanentes Potential und eine Auwirkung des Nationalismus. Karl Marx über den Nationalismus Marx hat die Analyse der Ideologie und des Fetischismus nicht auf die Wirt‐ schaft beschränkt, sondern hat auch politische Fetischismen wie den Natio‐ nalismus kritisiert. Er sprach nicht explizit vom politischen Fetischismus, aber diskutierte die Rolle der Ideologie bei der Ablenkung der Aufmerksam‐ keit vom Klassenkampf, sodass die herrschende Klasse profitiert. So analy‐ sierte Marx zum Beispiel im Jahr 1870, wie der Nationalismus verwendet wird, um ein falsches Bewusstsein der Arbeiterklasse in einem Land herzu‐ stellen, sodass dessen Bürger migrantische Arbeitskräfte und die Arbeiter‐ schaft in den Kolonien hassen. Er spricht dieses Thema in Bezug auf Irland, das damals eine britische Kolonie war, an und gibt eine präzise Analyse der Rolle des Nationalismus und der Xenophobie im Kapitalismus, die auch heute im Zusammenhang mit neuen Nationalismen gültig ist: „Irland ist das bulwark [Bollwerk] der englischen Grundaristokratie. Die Ausbeu‐ tung dieses Landes ist nicht nur eine Hauptquelle ihres materiellen Reichtums. Es ist ihre größte moralische Macht. […] Und das Wichtigste! Alle industriellen 314 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 314 <?page no="315"?> 13 Marx, Karl. 1870. Brief von Marx an Sigfrid Meyer und August Vogt, 9. April 1870. In Marx Engels Werke (MEW) Band 32, 665-670. Berlin: Dietz. S. 667-668, 668-669, 669. 14 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 318.. und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Kon‐ kurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben des‐ wegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. […] Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschen‐ den Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völ‐ lig bewusst“ 13 . Marx analysiert in dieser Passage viele Eigenschaften des Nationalismus, die man auch heute finden kann: die Definition von migrantischen Arbeitskräf‐ ten als Sündenböcken; der Glaube an die nationale Überlegenheut und Na‐ turrechte der Nationen; die ideologische Behauptung, dass nicht das Kapital, sondern migrantische Arbeiter die Ursache niedriger Löhne darstellen; die Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Interesse des Kapitals, die Arbeiter auszubeuten und die Löhne zu senken, um die Profite zu erhöhen; die Be‐ hauptung, dass Fremde sozial, kulturell oder biologisch minderwertig sind; die Rolle der Medien in der Verbreitung des Nationalismus; die Akzeptanz des Interesses der kapitalistischen Klasse durch die Arbeiterklasse; sowie die Umlenkung der Aufmerksamkeit und des Hasses von Klassenkämpfen auf Ausländer. Im Kapital Band 1 argumentiert Marx, dass man zur Emanzipation die Solidarität zwischen ausgebeuteten Arbeitern in unterschiedlichen Zusam‐ menhängen braucht, wozu auch die Hautfarbe und die Geographie zählen. „Die Arbeit in weisser Haut kann sich nur dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird“ 14 . Er verdeutlicht, dass die formale Ab‐ schaffung der Skalverei in den USA dabei mithalf, dass die amerikanische Arbeiterklasse radikale Forderungen stellte, insbesondere die Forderung nach dem Acht-Stunden-Arbeitstag. Der Punkt ist, dass Klassensolidarität, 315 10.1. Nationalismus 315 <?page no="316"?> 15 Rosa Luxemburg. 2016. Nationalitätenfrage und Autonomie. Berlin: Dietz. Zweite Auf‐ lage. S. 69. 16 Ebd., S. 51. 17 Ebd., S. 69. 18 Ebd., S. 69. 19 Rosa Luxemburg. 1916. Die Krise der Sozialdemokratie. In Politische Schriften II, hrsg. Ossip K. Flechtheim, S. 19-157. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. S. 157. 20 Rosa Luxemburg. 1990. Herzlichst Ihre Rosa. Ausgewählte Briefe. Berlin: Dietz. Zweite Auflage. S. 330. 21 Luxemburg, Nationalitätenfrage und Autonomie, S. 97. 22 Ebd., S. 199. die zur Emanzipation einer Gruppe in einem Kontext führt, ein Impetus für die Klassensolidarität und radikale Forderungen in anderen Kontexten ist. Verschiedene Kämpfe können sich durch Solidarität gegenseitig bereichern. Dazu bedarf es der Einheit in der Vielfalt der gesellschaftlichen Kämpfe. Rosa Luxemburg über den Nationalismus Rosa Luxemburg analysierte den Nationalismus als einen „Nebelschleier“, hinter dem sich „ein geschichtlicher Inhalt verbirgt“ 15 . Sie erachtete den Na‐ tionalismus als „eine metaphysische Phrase“ 16 . Einer der Gründe, warum Luxemburg das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung ablehnt, besteht darin, dass im Nationenkonzept „vor allem die grundlegende Theorie des modernen Sozialismus, die Theorie der Klassengesellschaft ignoriert wird” 17 . Jene, die von der Nation sprechen, tun dies oft in der Form „einer gleichartigen gesellschaftlichen und politischen Einheit” 18 . Für Luxemburg kennen die Arbeiter-an-und-für-sich kein Vaterland und keine vaterländische Nation: „Das Vaterland der Proletarier, dessen Vertei‐ digung alles andere untergeordnet werden muß, ist die sozialistische Inter‐ nationale” 19 . „Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt ” 20 . Für Luxemburg exisitiert die Nation in der Form des modernen National‐ staates und als nationalistische Ideologie, die dabei mithilft, die Ausbeutung und den Imperialismus zu organisieren: „Die »Nationalstaaten« sind heute das gleiche Werkzeug und eine Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie wie die nichtnationalen, die Expansionsstaaten, als solche haben sie auch die Tendenz zur Eroberung zum Krieg, zur Unterdrückung“ 21 . Der National‐ staat ist ein „Instrument für Herrschaft und Eroberung“ 22 . 316 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 316 <?page no="317"?> 23 Rosa Luxemburg. 1918. Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution. In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke, Band 4, 366-373. Berlin: Dietz. S. 370. 24 Luxemburg, Rosa. 1913. Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Band 5: Ökonomi‐ sche Schriften, S. 5- 411. Berlin: Dietz. Kapitel 32. 25 Franz Neumann. 1977. Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Köln: Europäische Verlagsanstalt. S. 163. 26 Ebd., S. 537 27 Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein. 1992. Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument. Zweite Auflage. S. 63, 118-123. Luxemburg betont den ideologischen Charakter der Nation und des Na‐ tionalismus und dass der Nationalismus eine Rolle spielt beim Versuch der Bourgeoisie, die Aufmerksamkeit vom Klassenkonflikt abzulenken, indem sie versucht, eine nationale ideologische Einheit von Kapital und Arbeit zu konstuieren, die einem äußeren Feind entgegengestellt wird. Der Erste Weltkrieg hat gezeigt, dass der Nationalismus ein immanentes militaristi‐ sches Poential hat und dass die Idee der nationalen Einheit jenseits von Klassengrenzen leicht dazu führen kann, dass sich die Arbeiter verschiede‐ ner Nationen hassen und gegenseitig umbringen. Rosa Luxemburg charak‐ terisierte den Ersten Weltkrieg als die „Weltexplosion des Nationalismus“ 23 . Luxemburg betont, dass Militarismus, Nationalismus und Krieg miteiander verbundene Merkmale des Kapitalismus sind 24 . Fiktive Ethnizität Beim Nationalismus handelt es sich um eine bestimmte Ideologie, die fiktive Ethnizität und die Nation als Gemeinschaft konstruiert, um die Aufmerk‐ samkeit vom Klassenkonflikt und anderen Antagonismen abzulenken. Der Nationalismus appelliert an ein mythisches Kollektiv wie die Nation, das Volk oder die Rasse. Dadurch lenkt es die Aufmerksamkeit vom Klassen‐ konflikt ab. „Rassismus und Antisemitismus“ sind „ein Ersatz für den Klas‐ senkampf “ 25 . „Begriffe wie Blut, Gemeinschaft, Volk“ sind dazu da, „die wirkliche Machtkonstellation zu verbergen“ 26 . Der Nationalismus verwen‐ det den reaktionären Kollektivismus als Ideologie, um zu behaupten, dass er die gesellschaftlichen Probleme des Kapitalismus, der Moderne und der Glo‐ balisierung überwinden kann. Étienne Balibar spricht von der nationalistischen Wir/ Ihr-Unterschei‐ dung als der Konstruktion fiktiver Ethnizität 27 . Dazu gehört die Konstruktion eines fiktiven Kollektivs. Die Individuen „werden für die Vergangenheit und 317 10.1. Nationalismus 317 <?page no="318"?> 28 Ebd., S. 118. 29 Ebd., S. 118-129. Zukunft so dargestellt, als würden sie eine natürliche Gemeinschaft bil‐ den” 28 . Es gibt zwei dominante Formen der fiktiven Ethnizität 29 : In einer ersten Version der fiktiven Ethnizität wird eine Sprachgemeinschaft durch Kommunikation und die Schule ideologisch konstruiert. In einer zweiten Version wird eine fiktive rassische Gemeinschaft konstruiert, von der gesagt wird, dass sie auf der Familie und den Prinzipien der Abstammung und der Verwandtschaft beruht. Der Nationalismus ist sowohl eine Ideologie als auch eine politische Be‐ wegung. Er hat seinen Ursprung im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext der Romantik und als Reaktion auf das Aufklärungsdenken. Das fetischistische Konzept der Nation naturalisiert diese und argumentiert, dass die Nation sich natürlicherweise und unausweichlich in jeder Gesellschaft entwickelt. Der Nationalismus hat zwei Hauptformen: Der biologistische Nationalismus argumentiert, dass es eine natürliche Bindung zwischen Menschen dersel‐ ben biologischen „Rasse“ gibt. Er ist immanent rassistisch, da er annimmt, dass es eine Blutsverbundenheit gibt und dass verschiedene menschliche Rassen existieren. Der kulturelle Nationalismus nimmt an, dass sich Natio‐ nen in jeder Gesellschaft durch die Gemeinsamkeit von Sprache, Erfahrun‐ gen, Werte, Moral, Gewohnheiten, Traditionen, Religion, Kommunikations‐ mittel, Emotionen, Affekte und Identität entwickeln. Der Nationalismus appelliert an autoritäre Persönlichkeisstrukturen, die durch Sozialisierung entstehen. Er bietet dem Subjekt die Möglichkeit, sich ermächtigt zu fühlen und (reaktionäre) Bedeutungen in und von einer be‐ deutunglosen, leeren, isolierten und unsicheren Welt zu produzieren. Die Individuen antworten eventuell positiv auf Nationalismus und Rassismus, wenn sie darin Vorteile für ihre individuellen Lebensinteressen erkennen. Der Nationalismus ist eine komplexe Interaktion von politischer Ökonomie, Ideologie und der menschlichen Psyche. Individuen und Gruppen, die nationalistische, faschistische, patriarchale, sexistische, rassistische, usw. Ideologien befördern, sind oft durch Gefühle der Angst und der Entfremdung motiviert, die sie kompensieren möchten, um sich besser zu fühlen und ihre Aggressionen zu kanalisieren. Das aus dem Nationalismus, der Degradierung anderer, dem Schlechtmachen dieser Menschen und der Kommunikation von Voruteilen, Diskriminierung, Un‐ terdrückung und Ausbeutung abgeleitete Vergnügen kann als ein psycho‐ 318 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 318 <?page no="319"?> 30 Cyril Lionel Robert. James. 2012. A History of Pan-African Revolt. Oakland, CA: PM Press. S. 132. 31 Übersetzung aus dem Englischen: Cyril Lionel Robert James. 2013. Modern Politics. Oakland, CA: PM Press. S. 92. logischer „Lohn“ erachtet werden. Ein Mangel an Genuss und Zufriedenheit wird überwunden, indem ein psychologischer „Lohn“/ Mehrwert als Gefühl der Überlegenheit produziert wird, der in der Unterdrückung anderer, der Abwertung und dem Schlechtreden wahrgenommener Feinde sowie durch Sündenbockpolitik konstituiert wird. Nationalismus und andere Ideologien können zu höheren wirtschaftlichen Löhnen (mehr Einkommen, Sur‐ plus-Lohn), zu einem politischen Lohn (ein Mehr an politischem Einfluss) und einem kulturellen Lohn (ein Mehr an Reputation) führen. Der Unterschied zwischen imperialistischem und antikolonialem Natio‐ nalismus ist, dass in der ersten Form Immigranten und andere Minderheiten in entwickelten kapitalistischen Ländern sowie konkurrierende Nationen oder politische Gruppen als Feinde angesehen werden, während in der zwei‐ ten Form die imperialistischen Kräfte als Feinde gelten. Der imperialistische Nationalismus rechtfertigt nicht nur die Klassenstruktur einer nationalen Gesellschaft, sondern auch die unterstellte nationale Überlegenheit einer Nation über andere Länder, Gruppen und Regionen. Die Gefahr des Natio‐ nalismus ist, dass er als Klassenprojekt die Macht und Vorherrschaft der herrschenden Klasse ideologisch legitimiert und aufrechterhält, indem die Klassenstruktur ignoriert wird. Wenn ein Nationalismus einen anderen Na‐ tionalismus ersetzt, so bedeutet dies oft nur einen Wechsel von einer herrschnden Klasse zu einer anderen und nicht das Ende der Klassengesell‐ schaft. Der marxistisch-humanistische Denker Cyril Lionel Robert (C. L. R.) James argumentiert für sozialistischen Humanismus und sozialistischen In‐ ternationalismus, die auf politischer Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Würde basieren und die leitende Kraft gesellschaftlicher Kämpfe und der Etablierung neuer Ordnungen darstellen 30 . Er sagt, dass der Marxismus für Internationalismus kämpfen muss: „Die Menschheit muss die veraltete bourgeoise Klasse und all die Hindernisse, die der Nationalstaat einer internationalen sozialistischen Ordnung heute in den Weg stellt, hinter sich lassen. DAS IST MARXISMUS. Er sagt: Wir brauchen den politischen Nationalstaat nicht mehr, sondern eine internationale Gesellschaftsord‐ nung” 31 . 319 10.1. Nationalismus 319 <?page no="320"?> Zentrale Aspekte des Nationalismus Wir können wichtige Aspekte kritischer Theorien des Nationalismus zu‐ sammenfassen: - Politische Bewegung und Ideologie, Nationalstaat und Nationalbewusst‐ sein: Der Nationalismus ist eine Ideologie und eine politische Bewegung, die einen Nationalstaat aufrechterhalten oder aufbauen, der Mitglie‐ der des Staates (Bürger, die ein Volk bilden) definiert und vereint. Der Nationalismus hat zwei miteinander verbundene Dimensionen, eine territorial-politische (der Nationalstaat) und eine ideologische (Na‐ tionalbewusstsein). Er ist sowohl ein politisches Verhältnis und ein kollektives Bewusstsein. Zum territorialen Aspekt gehört ein reales oder beanspruchtes begrenztes natürliches Territorium, das den Raum für die Organisation des Nationalstaates darstellt. Nationen existieren nicht vor dem Nationalismus und den Nationalstaaten. - Ideologie: Der Nationalismus ist eine Ideologie und Bewegung, die eine Wir/ Ihr-Unterscheidung konstruiert, in der die Ingroup als einheitli‐ ches, homogenes Kollektiv angesehen wird, das sich entweder durch die Behauptung einer gemeinsamen Biologie, Genealogie, Verwandt‐ schaft und Familie („Rasse“) oder die Behauptung einer gemeinsamen Kultur, eines gemeinsamen Staates und politischen Systems oder einer gemeinsamen Wirtschaft definiert. Der Nationalismus beansprucht als Ideologie die territoriale Macht, um ein nationales wirtschaftliches und politisches System zu organisieren. Der Nationalismus konstru‐ iert, erfindet und fabriziert die Nation und eine fiktive nationale Iden‐ tität. Die nationalistische Identität betont Beständigkeit und Homo‐ genität, während in Wirklichkeit alle Gesellschaften komplex, hybrid und mannigfaltig sind. - Dialektik von Rassismus/ Xenophobie und Nationalismus: Rassismus/ Xenophobie und Nationalismus sind immanent miteinander verbun‐ den. Die Xenophobie konstruiert eine Außenseitergruppen, die nicht Teil des illusorischen völkischen Kollektivs ist. - Politischer Fetischismus: Nationalismus, Xenophobie und Rassismus sind eine Form des politischen Fetischismus, die davon ablenkt, wie der Klassenwiderspruch der Gesellschaft zu sozialen Problemen führt. Die Ablenkung vom und Verdunkelung des Klassenverhältnisses wer‐ 320 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 320 <?page no="321"?> den oft durch die Konstruktion von Feindbildern und den Hass gegen diese erreicht. - Spaltung: Der Nationalismus ist eine Ideologie, die unterdrückte Klas‐ sen und Gruppen spaltet, sodass die herrschende Klasse Vorteile hat. - Ablenkung: Der Nationalismus lenkt vom Klassenkonflikt und den Klassengrundlagen sozialer Problem ab, indem er Sündenböcke kon‐ struiert, die für diese Probleme verantwortlich gemacht werden und über die Vorurteile und falsche Behauptungen verbreitet werden. - Hegemonie: Indem sie in die ideologische Falle des Nationalismus ge‐ raten, befördern die unterdrücken Klassen nicht nur die Ausbeutung und Unterdrückung anderer Klassen oder derselben Klasse in anderen Ländern, sondern auch ihre eigene Ausbeutung und Beherrschung. Die beherrschte Klasse stimmt dadurch ihrer eigenen Beherrschung und Ausbeutung zu. Der Nationalismus wird von oben durch polit‐ schen Eliten und Intellektuelle befördert, er wird aber auch von ein‐ fachen Leuten in ihren alltäglichen Praktiken und Ideen von unten gelebt, hegemonial produziert und reproduziert. Der Nationalismus als Ideologie funktioniert nicht notwendigerweise und nicht automa‐ tisch. Es gibt ein Kontinuum an Reaktionen auf den Nationalismus, die von der aktiven Teilnahme an einem Ende bis zum Widerstand auf dem anderen Ende reichen. - Die Medien: Die Boulevardmedien befördern oft den Nationalismus und Ideologie im Allgemeinen und halten diese dadurch am Leben. - Die Reproduktion des Kapitalismus: Durch den Nationalismus und an‐ dere Ideologien wird die Macht der kapitalistischen Klasse aufrecht‐ erhalten und werden die Effekte dieser Klassenmacht verborgen. - Formen des Nationalismus: Nationalismus, Xenophobie und Rassismus können gegen einen inneren Feind (Sozialisten, Migranten, Minder‐ heiten) oder einen äußeren Feind (andere Nationen, fremde Gruppen) gerichtet sein. Man kann zwischen inklusivem (ausbeuterischem) und exklusivem (eliminatorischen) Rassismus/ Nationalismus unterschei‐ den. Außerdem gibt es biologische und kulturelle Formen des Rassis‐ mus und des Nationalismus. - Militarismus: Der Nationalismus ist mit internem Militarismus (Re‐ pression und Law-and-Order-Politik, die gegen Immigranten, Sozia‐ listen, die Opposition und Minderheiten gerichtet sind) und externem Militarismus (imperialistische Kriegsführung) verbunden. 321 10.1. Nationalismus 321 <?page no="322"?> 32 Balibar und Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, S. 64. 33 Ebd., S. 68. - Krisen: Wirtschaftliche und politische Krisen führen zu Perioden der Ungewissheit, in denen die Zukunft offen ist und rasche politische Veränderungen auftreten können. In Situationen der Krisen des Ka‐ pitalismus ist es wahrscheinlicher, dass sich rechter Autoritarismus und damit verbundener Nationalismus ausbreiten. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die politische Linke schwach, fragmentiert und unorganisiert ist. Nationalismus und Rassismus sind verwandte Begriffe. Im nächsten Ab‐ schnitt geht es um deren Zusammenhang. 10.2. Nationalismus und Rassismus „Die Einwanderer nehmen uns »unsere« Arbeitsplätze weg und sind schuld am Lohndumping“: Diese Behauptung ist die wohl häufigste Aussage in xenophober, (neuer) rassistischer und nationalistischer Ideologie. Es handelt sich um eine ideologische Behauptung, die den Zusammenhang von Natio‐ nalismus und Kapitalismus verdeutlicht. Nationalismus, Rassismus und Xenophobie verdrängen den Klassenkampf, indem die politische Aufmerk‐ samkeit Einwanderern und Minderheiten gilt, von denen behauptet wird, dass sie das völkische Kollektiv angreifen. In den Ideologien der Rechtsextremen und weißen Rassisten werden Muslime und Einwanderer aus dem Osten und dem Süden oft zu Feinden erklärt. Einerseits sind biologistische Formen des Rassismus heute noch verbreitet. Andererseits hat sich aber auch eine kulturalisierte Form des Rassismus und der Xenophobie durchgesetzt, in der von Fremden gesagt wird, dass sie eine Kultur haben, die anders als die Mehrheitskultur und mit dieser unvereinbar ist. Die politische Schlussfolgerung davon ist, dass sich die Kulturen nicht vermischen sollen und die Grenzen für Einwanderer und Flüchtlinge geschlossen werden sollten. Balibar argumentiert, dass eine notwendige Dialektik von Rassismus und Nationalismus besteht 32 . „Der Rassismus geht fortwährend aus dem Natio‐ nalismus hervor […] [u]nd der Nationalismus geht […] aus dem Rassismus hervor” 33 . Der Rassismus ist ein Supernationalismus und ein integraler Na‐ 322 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 322 <?page no="323"?> 34 Ebd., S. 75. 35 Ebd., S. 76. 36 Ebd., S. 50-52. 37 Ebd., S. 52. 38 Ebd., S. 52. 39 Ebd., S. 44. tionalismus, der dazu aufruft, die kulturellen und/ oder biologischen Ur‐ sprünge und die Reinheit der Nation aufrechtzuerhalten 34 . Der Rassismus induziert „ständig einen übermäßigen »Purismus« hinsichtlich der Nation […]: damit sie sie selbst ist, muss sie rassisch oder kulturell rein sein” 35 Balibar unterscheidet zwischen einem nach innen (innerhalb der Nation) und einem nach außen (auf Gruppen außerhalb der Nation) gerichteten Rassismus, selbstbezogenem und fremdbezogenem Rassimus, institutionel‐ lem und soziologischem Rassismus 36 . Der exterminierende Rassismus ist ein ausschließender Rassismus, der „den Gesellschaftskörper von dem Schmutz oder der Gefahr […] säubern [möchte], den die minderwertigen Rassen an‐ geblich darstellen“ 37 . Der einschließende Rassismus ist ein Rassismus der Unterdrückung oder Ausbeutung. Er hat die „Hierarchisierung und Ab‐ schottung der Gesellschaft zum Ziel“ 38 . Der Nazi-Faschismus ist ein Beispiel für einen ausschließenden Rassimus. Kolonialismus ist das typische Beispiel für den ausbeuterischen Rassismus. Der Kapitalismus benötigt inklusiven Rassismus, da er nach Wegen sucht, um die Produktionskosten zu minimieren, indem die Löhne niedrig gehalten werden. Daraus folgt aber nicht, dass exklusiver Rassimus keine notwendige Rolle im Kapitalismus spielt. Um Klassenungleichheit zu rechtfertigen, ver‐ dinglichen, verschleiern und legitimieren, muss der Kapitalismus durch Ideologien Sündenböcke produzieren und Hass und die Aggressionen der Bevölkerung auf Außenseiter lenken. Rassismus um Nationalismus bilde ei‐ nen der wichtigen politischen Fetischismen des Kapitalismus. Die rassisti‐ sche Ausbeutung hat im Kapitalismus eine direktere wirtschaftliche Form, während rassistische und nationalistische Ideologie eine stärker vermit‐ telnde Rolle haben. Sie vermittelt zwischen Kultur und Wirtschaft. Rassims‐ mus und Xenophobie sind im Kapitalismus Strategien, um „zugleich die Produktionskosten (und mithin die Kosten der Arbeitskraft) und die Kosten, die durch politische Störungen entstehen, zu minimieren (das heisst, den politischen Protest der Arbeiterschaft möglichst gering zu halten, denn gänzlich beseitigen lässt er sich nicht)“ 39 . 323 10.2. Nationalismus und Rassismus 323 <?page no="324"?> 40 Ebd., S. 28. 41 Übersetzung aus dem Englischen: Pierre-André Taguieff. 2001. The Force of Prejudice: On Racism and Its Doubles. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. S. 200. 42 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 207. Der neue Rassismus Der klassische Nationalismus hat die Außenseiter oft in biologischen Kate‐ gorien als „Rasse“ konstruiert, während es heute üblicher geworden ist, die Außenseiter kulturell und politisch zu definieren. Während einige Beob‐ achter daher gerne zwischen Rassismus und Xenophobie unterscheiden, hat Étienne Balibar den Begriff des neuen Rassismus geprägt, um ideologische Kontinuitäten und Parallelen hervorzuheben: „Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epche der »Entkolonialisierung« […] Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines »Rassismus ohne Rassen« […] eines Rassismus, dessen herrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der - jedenfalls auf den ersten Blick - nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, son‐ dern sich darauf »beschränkt«, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet worden” 40 . Pierre-André Taguieff argumentiert, dass der Rassismus ideologisch Diffe‐ renzen naturalisiert, „entweder durch szientistische Biologisierung oder durch Ethnisierung oder »kulturalistische« Festlegungen“ 41 . Er unterschei‐ det zwei Hauptformen des Rassismus. Der Rassismus des Typus 1 biologi‐ siert Unterschiede und argumentiert, dass eine postulierte „Rasse“ einer an‐ deren überlegen ist und dass solche Differenzen natürlich und ewig sind. Der Rassismus des Typus 2 kulturalisiert und feiert Differenzen. Er schluss‐ folgert, dass sich bestimmte Kulturen daher nicht vermischen sollten. „Die Naturalisierung ist daher entweder biologisierend oder kulturalistisch” 42 . Beide Versionen ziehen vergleichbare politische Schlussfolgerungen, wozu der Aufbau, die Verteidigung und die Schließung von Grenzen gehören, das Ende der Migration und die Gegnerschaft zum Multikulturalismus. Taguieffs wichtigste Einsicht, auf der Balibar aufbaut, ist, dass es biologistische und kulturalistische Versionen des Rassismus gibt. 324 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 324 <?page no="325"?> 43 Moishe Postone. 2005. Deutschland, die Linke und der Holocaust. Freiburg: ça ira. S. 146. 44 Ebd., S. 145. 45 Erich Fromm. 1936. Sozialpsychologischer Teil. In Studien über Autorität und Familie, 77-135. Lüneburg: zu Klampen. Erich Fromm. 1941/ 1990. Die Furcht vor der Freiheit. München: dtv. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson and R. Nevitt Sanford. 1950. The Authoritarian Personality. New York: Harper & Brothers. Die Nazis schufen Auschwitz als eine negative Fabrik zur Vernichtung des Judentums, das sie als die abstrakte Ursache der Übel der Moderne ansahen. „Auschwitz war eine Fabrik zur »Vernichtung des Werts«“ 43 . Der moderne Antisemitmus entstand aus dem Fetischcharakter des Kapitalismus. Er ist „eine besonders gefährliche Form des Fetischs“ 44 . Von der jüdischen Finanz zu sprechen ist eine zu kurz greifende, biologistische Beurteilung des Kapi‐ talismus, die typisch für faschistisches Denken ist. Eine derartige Ideologie unterscheidet zwischen einer unproduktiven, parasitischen Sphäre der Zir‐ kulation sowie der Finanz auf der einen Seite und der produktiven Sphäre des Industriekapitals auf der anderen Seite. Der antisemitische Faschismus biologisiert diesen Dualismus, indem die erste Seite als jüdisch und die zweite als arisch charakterisiert wird. Der moderne Antisemitismus ist eine Biologisierung und Naturalisierung des Warenfetischs. Der antisemitische Faschismus trennt das Industriekapital und die Industriearbeit von der Zir‐ kulationssphäre, vom Tausch und vom Geld ab, die als „parasitisch“ be‐ trachtet werden. Der moderne Antisemitismus ist eine einseitige „Kritik“ des Kapitalismus, die die Zirkulationssphäre als Totalität des Kapitalismus erachtet und auf biologistische Weise das Judentum in die Zirkulation und den Kapitalismus einschreibt. Es handelt sich um eine Ideologie, die den Kapitalismus als Totalität vernachlässigt. Autoritarismus und Faschismus haben mit Nationalismus zu tun. Der nächste Abschnitt diskutiert diese beiden politischen Phänomene. 10.3. Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus Die Frankfurter Schule hat den Begriff des Autoritarismus in die kritische Theorie eingeführt 45 . Autoritäre leben und denken hierarchisch. Sie haben eine sadomasochistische Persönlichkeit: Sie lieben es, Macht gegen und Herrschaft über Schwächere auszuüben und unterwerfen sich Führern, die mächtiger sind. 325 10.3. Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus 325 <?page no="326"?> 46 Übersetzung aus dem Englischen: Adorno et al., The Authoritarian Personality, S. 113. Ein Modell des rechten Autoritarismus Ein systematisches Verständnis des rechten Autoritarismus beruht auf vier Dimensionen (siehe das Modell in Abbildung 10.1): 1. Autoritäre Führung: Der Glaube an die Wichtigkeit starker Autoritä‐ ten und Führer; 2. Nationalismus, Ethnozentrismus: Der Glaube an die Überlegenheit einer bestimmten Gemeinschaft, die als eine Nation oder Rasse kon‐ zeptualisiert wird. Der Nationalismus und das Freund/ Feind-Schema (siehe die dritte Dimension) haben die Aufgabe, die Aufmerksamkeit vom Klassenkonflikt, der den Kapitalismus prägt, abzulenken. 3. Das Freund/ Feind-Schema: Die nationale Gemeinschaft wird in Be‐ ziehung zu einer oder mehreren konstruierten Außenseitergruppen definiert, die als gefährliche Feinde dargestellt werden, die man ab‐ lehnen, bekämpfen und eliminieren muss. Es gibt dabei eine rigide Unterscheidung zwischen Gruppen, die als unterschiedlich, separat und entgegengesetzt aufgefasst werden. Adorno et al. haben heraus‐ gefunden, dass die „ethnozentrische Feindschaft gegenüber Fremd‐ gruppen […] stark mit der ethnozentrischen Idealisierung der Ingroup korreliert“ 46 und dass es unter Ethnozentristen eine generelle Oppo‐ sition zu allen Arten der Aussenseiter gibt. 4. Patriarchat und Militarismus: Es gibt im rechten Autoritarismus einen Glauben an konservative Werte, wozu traditionelle Geschlechterrol‐ len, Sexismus, die Idealisierung des Heldentums von Kämpfern und Soldaten gehören, deren Aufgabe es ist, die Nation zu verteidigen und gegen die definierten Feinde anzukämpfen. Die Gesellschaft wird im rechten Autoritarismus durch eine Dichotomie von Stärke und Schwäche definiert. Die Welt wird als wilder und gefährlicher Platz dargestellt, in der es eine ständige Bedrohung durch Krieg gibt, sodass sich die Nation gegen ihre Feinde zur Wehr setzen muss. Das konser‐ vative Weltbild wird oft von der Betonung der Bedeutung der Natur, des menschlichen Körpers und der körperlichen Stärke begleitet. 326 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 326 <?page no="327"?> Rechter Autoritarismus (RA) Nationalismus (politischer Fetischismus, konstruiert fiktive Ethnizität) Freund/ Feind-Schema Patriarchat & Militarismus Autoritäre Führung (in wirtschaftlichen, politischen & kulturellen Systemen) „WIR” „WIR”= Führer Volk „DIE ANDEREN” „WIR” „DIE ANDEREN” Individuum ó Gruppe ó Institution ó Gesellschaft Rolle des RA in Gesellschaft: Ablenkung von Klassenstrukturen, Kapitalismus und Herrschaft Autoritäre, rechtsextreme, faschistische ideologische Praktiken Antifaschistische, sozialistische Praxis- Kommunikation Abbildung 10.1: Modell des rechten Autoritarismus Abbildung 10.1 zeigt ein Modell, das den rechten Autoritarismus (autoritäre Führung, Nationalismus, Freund/ Feind-Schema, Patriarchat/ Militarismus) visualisiert. Die vier Elemente des rechten Autoritarismus interagieren mit‐ 327 10.3. Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus 327 <?page no="328"?> einander. Der Autoritarismus verwendet politischen Fetischismus: Er feti‐ schiert die Nation, um die Aufmerksamkeit vom Klassenwiderspruch und den Machtungleichheiten abzulenken. Der Nationalismus konstituiert eine „Wir“-Identität durch die Konstruktion fiktiver Ethnizität. Die autoritäre Führung ist die Weise, wie die Macht des nationalen Kollektivs von oben nach unten organisiert ist, sodass ein Führer herrscht und die Anhänger sich seiner Autorität unterwerfen. Die autoritäre Führung und der Führer-Fe‐ tisch wird als politisches Organisationsprinzip verwendet, das sich oft auch auf die Organisation der kapitalistischen Wirtschaft, der Kultur und des Alltags erstreckt. Der rechte Autoritarismus sieht hierarchische, autoritäre Führung als das grundlegende Organisationsprinzip des wirtschaftlichen, des politischen und des kulturellen Systems und der gesellschaftlichen Be‐ ziehungen. Das Freund-Feind-Schema konstruiert Feinde und Sündenböcke, um die Aufmerksamkeit von Klassenverhältnisse und vom Kapitalismus ab‐ zulenken. Es geht um „die“, „die anderen“, die „Feinde“. Das militante Patri‐ archat hat mit dem Verhältnis zwischen „Uns“ und „Denen“ zu tun. Es ver‐ herrlicht den Krieger und den Kämpfer und erachtet Law and Order, Repression, Ausbeutung, Herrschaft, Gewalt, Imperialismus und Krieg als angemessene Wege, um soziale Beziehungen zu organisieren. Je militanter, terroristischer und gewalttätiger der rechte Autoritarismus und der autori‐ täre Kapitalismus werden, desto rechtsextremer und faschistischer werden sie. Der rechte Autoritarismus ist eine ideologische Praktik, was bedeutet, dass es sich bei ihm nicht nur um eine Weltanschauung und ein Denksystem handelt, sondern auch um eine Form des menschlichen Handelns und der Organisation, die in der Wirtschaft, im politischen System und in der Kultur eine Rolle spielen. Er kann rein auf der Ebene der Ideen organisiert sein, bei denen es sich um eine kognitive und kommunikative soziale Praktik handelt. Er kann aber auch das Leitprinzip der Organisation sozialer Beziehungen sein. Derartige ideologische Praktiken können auf der Ebene des Individu‐ ums, der Gruppe, der Institutionen oder der Gesellschaft als Ganzem statt‐ finden. Der rechte Autoritarismus setzt auf jeder Stufe voraus, dass er auch auf der vorhergehenden Stufe existiert. Rechter Autoritarismus, Rechtsextremismus und Faschismus sind nicht nur Ideologien und psychische Dispositionen, sondern können auch als po‐ litische Bewegungen organisiert sein, die zu gesellschaftlichen Systemen werden können. Stellt man die Frage, ob X rechtsautoritär/ rechtsextrem/ faschistisch ist, dann muss man immer klarlegen, von welcher Ebene man 328 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 328 <?page no="329"?> 47 Übersetzung aus dem Englishen: Franz Neumann. 1957. The Democratic and the Autho‐ ritarian State. Glencoe, IL: The Free Press. S. 245. redet, ob man über die Ebene des Bewusstseins, der Psyche/ Persönlichkeits‐ struktur, der Ideologie, der politischen Bewegungen/ Gruppen/ Parteien, der Institutionen oder der Gesellschaft redet. So kann es zum Beispiel faschis‐ tische Ideologie und Persönlichkeitsstrukturen in einer demokratischen Ge‐ sellschaft geben, in der es organisierte faschistische Bewegungen gibt oder nicht gibt. Die grundlegende Unterscheidung, die dabei getroffen werden muss, ist jene zwischen den Ebenen des Individuums, der sozialen Gruppen, der Institutionen und der Gesellschaft. Es gibt eine Mikro- (Individuen), eine Meso- (Gruppen und Institutionen) und eine Makro-Ebene (Gesellschaft) der extremen Rechten. Zum rechten Autoritarismus gehören die vier oben erwähnten Elemente (hierarchische Führung, Nationalismus, Freund/ Feind-Schema, Patriarchat/ Militarismus). Es gibt rechtsautoritäre Individuen, Gruppen, Institutionen und eine rechte, autoritäre Gesellschaft. Rechtsextremismus und Faschismus sind Intensi‐ vierungen des rechten Autoritarismus, bei denen die Zunahme der Quantität in eine neue Qualität umschlägt: Faschisten bevorzugen Terror und Gewalt, um ihre Ziele zu erreichen. Der ultimative Faktor des Faschismus „ist der Einsatz von Terror, d. h. die Verwendung von unkalkulierbarer Gewalt als permanente Bedrohung des Individuums” 47 . Ein rechtsautoritäres Indivi‐ duum, eine rechtsautoritäre Gruppe, Institution oder Gesellschaft spricht sich nicht unbedingt für Terror und einen Polizeistaat, der alle Opposition unterdrückt, aus, der rechte Autoritarismus kann sich aber zum Faschismus entwickeln. Eine faschistische Gesellschaft setzt faschistische Individuen, Gruppen und Institutionen voraus. Der autoritäre Kapitalismus Der autoritäre Kapitalismus ist ein Kapitalismus, der repressive Staatsmacht benutzt, um kapitalistische Interessen voranzutreiben, wozu eine Verwi‐ schung der Grenzen zwischen dem Staat und dem Großkapital, Staatsinter‐ vention in die Wirtschaft, um dem Großkapital behilflich zu sein, Law and Order-Politik, Aufrüstung, Militarismus und ein gewisser Grad der repres‐ siven Politik gegen Immigranten, die politsche Opposition und andere kon‐ struierte Feinde gehören. Der Faschismus ist eine bestimmte Form des au‐ toritären Kapitalismus. Nicht jeder autoritäre Kapitalismus ist faschistisch, 329 10.3. Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus 329 <?page no="330"?> kann sich aber zu Faschismus entwickeln. Der autoritäre Kapitalismus ten‐ diert dazu, die Freiheit der Opposition und anderer definierter Feind zu li‐ mitieren. Der Faschismus eliminiert diese Feinde. Die grundlegende Unter‐ scheidung zwischen dem autoritären Kapitalismus und dem Faschismus ist einer zwischen repressiver Beschränkung und Eliminierung. Im autoritären Kapitalismus spielen die Staatsmacht und die Macht der politischen Führer eine mächtige Rolle in der Gesellschaft und der Wirt‐ schaft. Autoritäre Staatsmacht wird genutzt, um kapitalistische Interessen durchzusetzen. Der autoritäre Kapitalismus ist eine Art der kapitalistischen Gesellschaft, die die vier Prinzipien des rechten Autoritarismus enthält: au‐ toritäre Führung, Nationalismus, das Freund/ Feind-Schema, Patriarchat/ Militarismus. Rechtsextremismus und Faschismus Es wird oft von rechtsextremen Individuen oder Bewegungen gesprochen, während der Begriff der rechtsextremen Gesellschaft kaum verwendet wird. Der Rechtsextremismus ist eine Ideologie, ein politisches Ziel und eine Be‐ wegung, jedoch keine Gesellschaftsform. Der Rechtsextremismus ist eine militante und gewalttätige Form des rechtsautoritären Bewusstseins, der rechtsautoritären Ideologie, rechtsautoritärer sozialer Bewegungen und Or‐ ganisationen. Der Faschismus kann hingegen auf den Ebenen der Indivi‐ duen, Gruppen, Organisationen und der Gesellschaft organisiert sein. Man kann also von faschistischen Individuen, faschistischem Bewusstsein, fa‐ schistischer Ideologie, faschistischen sozialen Bewegungen, faschistischen Organisationen, faschistischen Institutionen und einer faschistischen Ge‐ sellschaft sprechen. Jede dieser Ebenen setzt die vorhergehende voraus, aber die unteren Organisationsstufen führen nicht notwendigerweise zu den oberen. Ein Unterschied zwischen Rechtsextremismus und Faschismus be‐ steht darin, dass Rechtsextreme eine gewisse Latenz haben, körperliche Ge‐ walt gegen politische Gegner zu akzeptieren und zu propagieren. Ihre An‐ griffe sind meistens auf den politischen Stil und kommunikative, ideologisch und symbolische Taten begrenzt. Faschisten und faschistische Gesellschaf‐ ten verwenden körperliche Gewalt und terroristische Mittel, um zu versu‐ chen, Gegnern und Sündenböcken zu schaden, sie einzusperren, zu verbie‐ ten, umzubringen oder zu vernichten. Die Grenze ist verschwommen, da psychische Einschüchterung und Drohungen (zum Beispiel in der Online‐ 330 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 330 <?page no="331"?> 48 August Thalheimer. 1930. Über den Faschismus. In Der Faschismus in Deutschland: Ana‐ lysen der KPD-Opposition aus den Jahren 1928-1933, hrsg. Gruppe Arbeiterpolitik, 28-46. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. 49 Karl Marx. 1871. Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Interna‐ tionalen Arbeiterassoziation. In Marx Engels Werke (MEW) Band 17, 313-365. Berlin: Dietz. 50 Marx, Karl. 1852. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In Marx Engels Werke (MEW) Band 8, 111-207. Berlin: Dietz. 51 Ebd., S. 197. 52 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, S 337-338. welt auf sozialen Medien) auch eine Form der Gewalt darstellen, die Indivi‐ duen schaden möchten. August Thalheimer war einer der führenden Personen in der Kommunis‐ tischen Partei-Opposition (KPO). Die KPO war eine antistalinistische Ab‐ spaltung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Die KPO wen‐ dete sich gegen die stalinistische Definition der Sozialdemokraten als Sozialfaschisten und Hauptfeind. Die Stalinisten unterschätzten durch ihre Politik die Gefahr der Nazis. Thalheimer 48 argumentiert basierend auf Marx‘ Der Bürgerkrieg in Frankreich 49 , dass der Faschismus eine bestimmte Form des Bonapartismus ist. Marx 50 hat den Begriff des Bonapartismus zur Ana‐ lyse der Herrschaft von Napoleon III eingeführt. Dieser kam in Frankreich im Jahr 1851 durch einen Staatsstreich an die Macht. Eine Eigenschaft des Bonapartismus ist, dass sich in ihm „der Staat völlig verselbständigt zu ha‐ ben“ scheint 51 . Die absolutistische Staatsmacht ist nicht nur typisch für den Faschismus, sondern für alle absolutistischen Staatsformen, wozu etwa die absolutistische Monarchie gehört. Der Faschismus ist immer kapitalistisch, er setzt kapitalistische Herrschaft voraus. Die absolutistische Staatsmacht nimmt die Form des Militärs, der Polizei und des Terrors an, die benutzt werden, um die kapitalistische Herrschaft abzusichern. Marx erwähnt eine weitere Eigenschaft des Bonapartismus: „Es [das Kaisertum] gab vor, die Arbeiterklasse zu retten, indem es den Parlamentarismus brach und mit ihm die unverhüllte Unterwürfigkeit der Regierung unter die besitzenden Klas‐ sen. Es gab vor, die besitzenden Klassen zu retten durch Aufrechterhaltung ihrer ökonomischen Hoheit über die Arbeiterklasse; und schließlich gab es vor, alle Klassen zu vereinigen durch die Wiederbelebung des Trugbilds des nationalen Ruhms” 52 . Marx hebt die Rolle des Nationalismus als Ideologie hervor, die eine fiktive Ethnizität konstruiert, um die Aufmerksamkeit vom Klassenantagonismus abzulenken. Der Bonapartismus ist nicht nur eine diktatorische Form der Politik, sondern auch eine bestimmte Form der na‐ 331 10.3. Rechter Autoritarismus, autoritärer Kapitalismus, Faschismus 331 <?page no="332"?> 53 Thalheimer, Über den Faschismus, S. 36 54 Ebd., S. 39. tionalistischen Ideologie, die versucht, die Aufmerksamkeit von Klassen‐ strukturen abzulenken. Marx lässt offen, wie sich die Arbeiterklasse im Bo‐ napartismus gegenüber der herrschenden Klasse positioniert. Er sieht die Möglichkeit vor, dass die Arbeiterklasse das kapitalistische Regime unter‐ stützt, wenn sie an das „Trugbild des nationalen Ruhms“ glaubt. Dass Marx in diesen Passagen von einem „Trugbild“ und von „vorgeben“ spricht, zeigt, dass er die Ideologie als integralen Bestandteil des Bonapartismus erachtet. Für Thalheimer bedeutet der Bonapartismus die „Verselbständigung der Exekutivgewalt“ in der Form „der offenen Diktatur des Kapitals“ und „die politische Unterwerfung aller übrigen Gesellschaftsklassen unter die Exe‐ kutive” 53 , die die Form einer unabhängigen Macht annimmt. Das bonapar‐ tistische Element des Faschismus ist „die politische Unterwerfung aller Mas‐ sen […] unter die faschistische Staatsmacht […] Gleichzeitig will der Faschismus, wie der Bonapartismus, der allgemeine Wohltäter aller Klassen sein” 54 . Der rechte Autoritarismus spricht Klassen und Gruppen an, die „deklas‐ sifiziert“ wurden oder Angst vor sozialem Abstieg haben. Vor allem wenn es eine schwache und fragmentierte linke Opposition gibt und es Klassen und Gruppen gibt, die besonders von sozialem Abstieg betroffen, bedroht oder verängstigt sind, können solche Appelle auf fruchtbaren Boden fallen und zu Siegen der Rechtsextremen führen. Rechtsextreme Parteien und Bewegungen sind nicht einfach Vertreter der „Mittelklasse“, sondern haben historisch und auch heute oft versucht, ma‐ nuelle Arbeiter und andere soziale Gruppen anzusprechen. Die ideologische Konstruktion der nationalen und/ oder rassischen Einheit lenkt die Auf‐ merksamkeit vom Klassenkonflikt ab. Sie verwendet nationalistische, xe‐ nophobe und rassistische Demagogie, um an einen großen Teil der Bevöl‐ kerung über Klassen- und Schichtgrenzen hinweg zu appellieren. Die verschiedenen Formen des rechten Autoritarismus versuchen, eine natio‐ nale Einheit zu konstruieren, die durch den Hass imaginierter Feinde und Außenseiter zusammengehalten wird, was zur ideologischen Ablenkung der politischen Aufmerksamkeit von Klassenstrukturen und Klassenkämpfen führt. Die politisch-ökonomische Rolle des rechten Autoritarismus besteht darin, dass er versucht, Klassenkämpfe zu untergraben, indem nationalisti‐ 332 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 332 <?page no="333"?> sche Kämpfe befördert werden. Es gibt keine anti- oder nichtnationalistische rechte Ideologie. Der Faschismus ist eine Form des repressiven, auf Vernichtung abzielen‐ den Dualismus. Der faschistische Antisemitismus beruht auf der Ideologie und der Politik des auf Vernichtung abzielenden Dualismus. Die Ideologie der Nazis setzte dem Konstrukt des produktiven, arischen Industriekapita‐ lismus das Konstrukt eines parasitischen, unproduktiven, jüdischen Finanz‐ kapitalismus gegenüber. Sie kritisierten nicht den Kapitalismus, sondern bi‐ ologisierten und rassifizierten die Zirkulations- und Finanzsphäre. Der Antifaschismus ist eine antiideologische Praxis, die den rechten Au‐ toritarismus, den Rechtsextremismus und den Faschismus herausfordert und in Frage stellt. Er ist nicht nur eine Praktik, sondern Praxis, also eine bestimmte Form der Praktik - sozialistische Praktik. Da der rechte Autori‐ tarismus versucht, durch Nationalismus und das Freund/ Feind-Schema die Aufmerksamkeit von den wahren Ursachen der Gesellschaftsprobleme ab‐ zulenken, ist der Sozialismus die richtige praxisorientierte Antwort, die auf‐ zeigt, dass soziale Probleme durch Macht, Ausbeutung und Herrschaft ver‐ ursacht sind, und Perspektiven anbietet, die den Kapitalismus, Herrschaft und Klasse transzendieren. Um effektiv zu sein, muss der Nationalismus kommuniziert werden. Im nächsten Abschnitt geht es um die Kommunikation des Nationalismus. 10.4. Die Kommunikation nationalistischer Ideologie Der Nationalismus ist eine Ideologie, die durch Ereignisse, Symbole, Prak‐ tike und das Mediensystem im Alltagsleben und in außergewöhnlichen Si‐ tuationen (wie Nationalfeiertagen, nationalen Gedenkfeiern, Nationalpar‐ aden und Kriegen) kommuniziert wird. Der Nationalismus muss produziert und dann kommuniziert werden. Die Kommunikation des Nationalismus beruht auf einer Dialektik von Inhalt/ Ideologie und sozialer Form. Der Nationalismus wird als Textinhalt kom‐ muniziert, der bestimmte semiotische, sprachliche, textliche und diskursive Strukturen der Ideologie hat. Nationalistische Texte werden in bestimmten sozialen Formen kommuniziert. Auf der Ebene des Inhalts nimmt der Na‐ tionalismus bestimmte semiotische und sprachliche Diskursstrukturen an. Tabelle 10.2 gibt einen Überblick über verschiedene Typen des nationalisti‐ schen Diskurses und führt typische Beispiele an. Wir können zwischen bio‐ 333 10.4. Die Kommunikation nationalistischer Ideologie 333 <?page no="334"?> logischem, wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Nationalismus unterscheiden. Die nationalistische Ideologie schafft mit der Hilfe von Prä‐ sentationen des Selbst und der Anderen eine Grenze zwischen „Uns“ und „Denen“. Die in Tabelle 10.2 dargestellten Dimensionen sind Idealtypen. Konkrete nationalistische Texte können als Kombinationen verschiedener Dimensionen und Elemente nationalistischer Ideologie auftreten. Die Kommunikation des Nationalismus: Formen und Strukturen der nationalistischen Ideologie Art Definition Beispiele für nationalisti‐ sche „Wir“-Identität Beispiele für die natio‐ nalistische Präsenta‐ tion der „Anderen“ Biologi‐ scher Na‐ tionalis‐ mus Nationalismus, der sich auf Biolo‐ gie, Natur, Blut und Boden be‐ zieht. Er prokla‐ miert die Superio‐ rität eines und den Stolz auf ein erfun‐ denes „Rassen‐ volk“ und die Min‐ derwertigkeit anderer „Rassen“. „Unser Volk ist von Natur aus fleißig, anständig, friedlich, rational, erfolgreich, erfinde‐ risch, kreativ, überlegen usw.“ „Sie sehen anders als wir aus“, „Sie sind von Natur aus aggressiv, dreckig, kriminell, faul, laut, stin‐ kend, unangepasst, ge‐ walttätig usw.“. Wirt‐ schaftli‐ cher Na‐ tionalismus Nationalismus, der mit dem wirt‐ schaftlichen Sys‐ tem und Ressour‐ cen der Gesellschaft zu tun hat. Er prokla‐ miert die Überle‐ genheit der und den Stolz auf die Volkswirtschaft (Arbeit, Kapital, produzierte Wa‐ renarten, Indus‐ trien, Produktivi‐ tät, Technologien, Unternehmertum, usw.) und die Un‐ terlegenheit kon‐ kurrierender Wirtschaften. „Unsere Wirtschaft ist be‐ sonders wettbewerbsfähig“, „Unsere Arbeiter sind an‐ ständige und hart arbeitende Individuen, die stolz auf ihre Kenntnisse und ihren Fleiß sind“, „Unsere Unternehmen und Unternehmer sind be‐ sonders erfinderisch und kreativ“, „Deutsche Arbeits‐ plätze für das deutsche Volk! “, „Kauft britisch! “. „Sie nehmen uns unsere Arbeitsplätze/ Sozialleis‐ tungen/ Wohnungen/ unser Bildungs- und Ge‐ sundheitssystem/ etc. weg“, „Sie verschlechtern unser Sozialsystem/ unsere Löhne/ unser Bil‐ dungssystem/ Pensions‐ system/ unseren Wohl‐ fahrtsstaat/ unser Gesundheitssystem/ unseren Wohnbau usw.“ Politi‐ scher Na‐ Nationalismus, der mit dem politi‐ „Wir sind stolz auf unsere po‐ litischen Werte der Freiheit „Sie kommen aus einem autoritären Land, das ihre 334 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 334 <?page no="335"?> tionalis‐ mus schen System und den Machtstruktu‐ ren der Gesell‐ schaft zu tun hat. Er behauptet die Überlegenheit des und den Stolz auf das nationale poli‐ tische System und die Unterlegenheit anderer politi‐ scher Systeme. und unsere lange politische Geschichte der Freiheit und der Menschenrechte“, „Wir sind stolz auf unsere Helden und unsere Armee, die für die Verteidigung unseres Land und unseres Volkes gekämpft haben“, „Wir sind stolz auf unsere Regierung/ unser Staatsoberhaupt/ unser politi‐ sches System/ unseren Mon‐ archen“, „Wir müssen für un‐ sere Unabhängigkeit von ausländischen politischen Einflüssen und unsere Souve‐ ränität kämpfen“, „Ich liebe mein Land und meine Flagge. Ich würde für sie sterben“. politischen Weltanschau‐ ungen und Verhaltens‐ weisen prägt“, „Sie ver‐ stehen westliche politische Werte nicht und respektieren diese nicht“, „Sie sind an ein po‐ litisches System ge‐ wöhnt, in dem die Krimi‐ nalität herrscht“, „Das sind Kriminelle, die sich nicht an unsere Gesetze halten“ Kulturel‐ ler Natio‐ nalismus Nationalismus, der sich auf das kulturelle System der Gesellschaft bezieht. Er prokla‐ miert den Stolz auf eine und die Über‐ legenheit einer Nationalkultur und die Unterle‐ genheit fremder Kulturen. „Wir können stolz auf unsere Traditionen, unsere Kunst und Künstler, unsere Spra‐ che, unsere Intellektuellen, Wissenschaftler, Errungen‐ schaften im Sport, Berühmt‐ heiten, Philosophie, unser Bildungssystem, unsere Kü‐ che usw. sein“, „Wir haben die Weltmeisterschaft ge‐ wonnen“, „Wir können stolz darauf sein, dass unsere Mannschaft gewonnen hat und durch ihre Überlegen‐ heit die anderen geschlagen hat“ „Sie haben andere Werte und Moralvorstellungen“, „In deren Kultur ist es üb‐ lich, dass man …“, „Sie sprechen eine andere Sprache/ haben andere Gewohnheiten/ Verhal‐ tensweisen/ eine andere Mentalität/ andere Sym‐ bole/ andere Traditionen usw.“, „Sie zerstören un‐ sere Sprache/ Kultur/ Traditionen/ Persönlich‐ keit usw.“, „Sie kommen aus einer aggressiven, faulen, kriminellen, usw. Kultur“, „Die haben einen anderen Lebensstil“, „Sie wollen sich nicht anpas‐ sen“, „Es ist ihrer Kultur immanent, dass Frauen schlecht behandelt wer‐ den“, „Sie haben zu viele Kinder“, „Sie haben ei‐ genartiges Gewand an“, „Die haben einen schlechten Essensge‐ schmack und schlechte Essensmanieren“, „Ihr Es‐ sen stinkt“, „Ihre Religion gehört hier nicht her und bedroht unsere Kultur. Sie ist immanent respekt‐ los, gewalttätig, terroris‐ tisch usw.“ Tabelle 10.2: Formen der ideologischen Diskursstruktur des Nationalismus 335 10.4. Die Kommunikation nationalistischer Ideologie 335 <?page no="336"?> Gesellschaftliche Formen der Kommunikation des Nationalismus Marisol Sandovals systematische Typologie der Medien und Kommunikati‐ onsmittel (siehe Abschnitt 6.1 in Kapitel 6) kann auf den Bereich der natio‐ nalistischen Kommunikation angewendet werden, um verschiedene soziale Formen der nationalistischen Kommunikation zu unterscheiden (siehe Ta‐ belle 10.3). Einheiten (Bei‐ spiele) Soziale Beziehun‐ gen und soziale Praktiken (Bei‐ spiele) Ereignisse (Bei‐ spiele) Primärmedien (menschlicher Kör‐ per und Geist, keine Medientech‐ nologien für die Produktion, Distri‐ bution und Rezep‐ tion): Theater, Konzerte, Auffüh‐ rungen, interper‐ sonelle Kommuni‐ kation Volkshelden, Soldaten, nationale Slogans, Staatsoberhaupt, Prä‐ sident, Premierminis‐ ter, Minister, Regie‐ rung, Parlament, Ministerien, öffentli‐ che Ämter, nationale Künstler, nationale Stars, Unterhaltungs‐ künstler und Sportler, Nationalmuseen, Na‐ tionalteams im Sport, Nationalhymne, Na‐ tionalflagge, formale Nationalsprache/ Schriftsprache, typi‐ sche Nationalgerichte, Volkstänze, Volksmu‐ sik Lehre, Lernen und Sprechen der forma‐ len Nationalsprache (Schriftsprache), Par‐ tizipation in nationa‐ len Ereignissen, Mili‐ tärdienst, Wehrpflicht, Kampf als Soldat im Krieg; die Arbeit des Parlaments, parlamentarischer Ausschüsse, von Mi‐ nisterien und anderen öffentlichen Institu‐ tionen; Teilnahme an Wahlen, Sportveran‐ staltungen, Kunstver‐ anstaltungen, Ausstel‐ lungen, usw.; Singen der Nationalhymne; Reden bei National‐ feiertagen, Regie‐ rungskampagnen, Fahnenrituale, das Ko‐ chen und Essen natio‐ naler Spezialitäten, Volkstanz, Volksmu‐ sik Nationale Ereig‐ nisse (Zeremo‐ nien, Gedenkfei‐ ern, Feste), Nationalfeiertag, Kriege, Feiertage, Wahlen und Wahl‐ kampagnen, Eröff‐ nung einer Legis‐ laturperiode im Parlament, Sport‐ veranstaltungen, Aufführungen im Nationaltheater oder anderer künstlerischer Darstellungen, Feste der National‐ küche, Volkstanz‐ feste, Volksmusik‐ feste, Kunstausstellun‐ gen usw. Sekundärmedien (Medientechnolo‐ gien für die Pro‐ duktion): Zeitun‐ gen, Magazine, Bücher, technolo‐ gisch produzierte Kunst und Kultur Nationalfahnen, natio‐ nale Embleme und Symbole, militärische und andere nationale Uniformen, nationale Denkmäler, nationale Kunstwerke, öffentli‐ che Gebäude, Münzen, Banknoten, National‐ währung, Briefmar‐ ken, Nationalabzei‐ Schreiben von Arti‐ keln in der nationalen Presse (Journalisten), Lesen der nationalen Presse, Lesen der na‐ tionalen Literatur von Regierungspublikatio‐ nen, Schwenken der Staatsflagge; Tragen nationaler Uniformen, Symbole, Abzeichen, Presseberichte über nationale Er‐ geignisse, natio‐ nale Sportereig‐ nisse, Parlamentssitzun‐ gen, nationale po‐ litische Ereignisse, nationale künstle‐ rische und kultu‐ relle Ereignisse, 336 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 336 <?page no="337"?> chen, Nationalmedaillen, Nationalsiegel, Reise‐ pass, Karten, Regie‐ rungspublikationen, nationale Literatur und Philosophie, na‐ tionale Presse, Bücher über die Nationalge‐ schichte, Bücher über die Nationalsprache, Wörterbücher über die Nationalsprache, na‐ tionale Enzyklopä‐ dien, nationale Kunst‐ werke, Bibliotheken und Archive Medaillen, usw.; Ver‐ wendung des Reise‐ passes bei Grenzkon‐ trollen, Arbeit in oder Verwendung von Re‐ gierungsgebäuden, Bau oder Betrachtung von Nationaldenkmä‐ lern, Verwendung von Nationalwährung/ Münzen/ Banknoten zum Kauf von Waren, Organisation oder Be‐ such von Ausstellun‐ gen der Nationalkunst, Lesen der Nationallite‐ ratur und nationaler Philosophie die Volkswirt‐ schaft, usw.; Aus‐ stellungen von Kunst, die mit der Hilfe von Medien‐ technologien pro‐ duziert wurde (z. B. digitale Kunst) öf‐ fentliche Lesungen Tertiärmedien (Medientechnolo‐ gien für die Pro‐ duktion und den Konsum, nicht für die Distribution): CDs, DVDs, Kas‐ setten, Schallplat‐ ten, Blu-ray, Lauf‐ werke Aufzeichnungen der nationalen Politik, na‐ tionaler Wirtschafts‐ entwicklungen und der Nationalkultur, die über Speichermedien verbreitet werden Produktion und Kon‐ sum von Inhalten über die nationale Politik, Entwicklungen der Volkswirtschaft und die Nationalkultur, die auf Speichermedien verbreitet werden Ereignisse, bei de‐ nen Aufzeichnun‐ gen von nationaler Politik, nationaler Kultur oder volks‐ wirtschaftlicher Ereignisse gezeigt werden (z. B. die kinematographi‐ sche Präsentation des neuesten Films eines national ge‐ feierten und aner‐ kannten Künstlers, nationale Filmfes‐ tivals usw.) Quartärmedien (Medientechnolo‐ gie für die Produk‐ tion, die Distribu‐ tion und den Konsum): TV, Ra‐ dio, Film, Telefon, Internet Nationaler Rundfunk (Staatsrundfunk, öf‐ fentlich-rechtlicher Rundfunk), nationaler Film, nationale Tele‐ fon- und Internetinfra‐ struktur, Webseiten, die von nationalen In‐ stitutionen und Natio‐ nalisten betrieben werden Produktion und Kon‐ sum von Übertragun‐ gen im nationalen Ra‐ dio und Fernsehen, Verwendung der na‐ tionalen Telefon- und Internetinfrastruktur; Produktion, Distribu‐ tion und Konsum von Webinhalten, die von nationalen Institutio‐ nen und Nationalisten stammen Übertragung von nationalen Ereig‐ nissen, nationalen Sportereignissen, usw. im Radio und Fernsehen; Über‐ tragung von Parla‐ mentssitzungen im Radio und Fern‐ sehen, Radio- und Fernsehnachrich‐ ten über nationale Ereignisse, Über‐ tragungen von na‐ tionalen Kunst- und Kulturveranstal‐ tungen im Radio und Fernsehen; Webinhalte, die von nationalen In‐ 337 10.4. Die Kommunikation nationalistischer Ideologie 337 <?page no="338"?> 55 Michael Billig. 1995. Banal Nationalism. Los Angeles, CA: Sage. p. .6. stitutionen aus Anlass von natio‐ nalen Ereignissen produziert werden usw. Quintärmedien (digitale Medien-Prosumti‐ onstechnologien, nutzergenerierte Inhalte): Internet, soziale Medien Nationalistische und nationsbezogene nutz‐ ergenerierte Websei‐ ten, Blogeinträge, Wi‐ kis, Seiten, Gruppen und soziale Netzwer‐ ken, Diskussionslis‐ ten, Mailing-Listen, Videos, Beiträge auf Micro-Blogs, Bilder, Meme usw. Onlineproduktion, -distribution und -konsum von nutzer‐ generiertem Nationa‐ lismus und nationsbe‐ zogenen nutzergenerierten In‐ halten Nutzergenerierte nationalistische Inhalte, die aus Anlass von natio‐ nalen oder natio‐ nalistischen Ereig‐ nissen produziert werden Tabelle 10.3: Gesellschaftliche Formen des Nationalismus (Medientypen, Einheiten, soziale Beziehungen/ Praktiken, Ereignisse) Es gibt fünf grundlegende Typen nationalistischer Kommunikationsformen, die Sandovals fünf Medientypen entsprechen. Zusätzlich unterscheide ich zwischen Enheiten, sozialen Beziehungen/ Praktiken und Ereignissen, die in der nationalistischen Kommunikation eine Rolle spielen. Einheiten sind spezifische Systeme, die in den Kommunikationsprozess eingehen. Es gibt menschliche Einheiten, soziale Systeme als Einheiten und nichtmenschliche Einheiten. Solche Einheiten gehen in die sozialen Beziehungen der Men‐ schen ein, in denen sie die Gesellschaft sozial produzieren und reproduzie‐ ren. Ereignisse sind soziale Praktiken und Beziehungen, die routinisiert sind, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten stattfinden und typischerweise periodisch wiederholt werden. In der nationalistischen Kommunikation gibt es immer Einheiten und soziale Praktiken. Nationalismus ist auch eine Form der ideologischen Kommunikation, die häufig in Zusammenhang mit be‐ stimmten nationalen Ereignissen praktiziert wird. Im Nationalismus werden Einheiten, Ereignisse und soziale Praktiken zu Symbolen des Nationalismus. Die Kommunikation des Nationalismus operiert oft als banaler Nationalis‐ mus 55 , bei dem nationalistische Symbole im Alltagsleben verwendet werden. 338 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 338 <?page no="339"?> 10.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieses Ka‐ pitels zusammenfassen: ■ Der Nationalismus ist eine Ideologie, die mit dem Aufstieg des Impe‐ rialismus seit 1875 entstanden ist. Er naturalisiert eine erfundene bio‐ logische oder kulturelle Gemeinschaft, die von Außenseitern/ Frem‐ den unterschieden wird, die als Feinde der Nation definiert werden. Der Nationalismus ist eine politische Form des Fetischismus. Er feti‐ schiert die Biologie und kulturelle Unteschiede. Nationalisten produ‐ zieren und reproduzieren fiktive Ethnizität. Der Nationalismus ist so‐ wohl eine Ideologie als auch eine politische Bewegung. ■ Es gibt eine biologistische und eine kulturalistische Version des Na‐ tionalismus. Nationalismus und Rassismus stehen in einer dialekti‐ schen Beziehung. Sowohl inklusiver als auch exklusiver Rassismus spielen im Kapitalismus eine Rolle. Nationalismus und Rassimus hel‐ fen dabei, Sphären der Überausbeutung, in denen migrantische Ar‐ beiter ausgebeutet werden, zu schaffen und zu rechtfertigen. Und sie lenken die Aufmerksamkeit von Kapitalismus und Klasse ab, indem Fremde zu Sündenböcken gemacht werden. ■ Der rechte Autoritarismus ist eine ideologische und politische Form, die autoritäre Führung, Nationalismus, das Freund/ Feind-Schema, das Patriarchat und den Militarismus kombiniert. Rechtsextremismus und Faschismus sind Intensivierungen des rechten Autoritarismus. Die faschistische Gesellschaft setzt die Dimensionen des rechten Autori‐ tarismus mit Hilfe der Methode des Terrors um. Die rechte Politik ist auf verschiedenen Ebenen organisiert: Individuen, Gruppen/ Bewe‐ gungen, Institutionen, Gesellschaft. Eine höhere Ebene setzt dabei die vorhergehenden voraus, während eine niedrigere Ebene nicht die hö‐ heren Ebenen determiniert. So kann es zum Beispiel faschistische In‐ dividuen, Parteien und Bewegungen in einer nichtfaschistischen, de‐ mokratischen Gesellschaft geben. ■ Die Kommunikation des Nationalismus beruht auf einer Dialektik von Inhalt/ Ideologie und sozialer Form. Auf der Ebene des Inhalts nimmt der Nationalismus eine bestimmte semiotische und sprachliche Dis‐ kursstruktur an. Auf der Ebene der Struktur der Ideologie können wir zwischen biologischem, wirtschaftlichem, politischem und kulturel‐ 339 10.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 339 <?page no="340"?> lem Nationalismus utnerscheiden. Der Nationalismus wird durch ver‐ schiedene soziale Formen kommuniziert und operiert auf den Ebenen der symbolischen Entitäten, sozialen Beziehungen, sozialen Praktiken und Ereignisse. Der Nationalismus steht in einem antagonistischen Verhältnis zur Globali‐ sierung. Die kapitalistische Globalisierung hat soziale Probleme vorange‐ trieben und verschärft. Der Nationalismus ist eine ideologische Reaktion darauf. Im nächsten Kapitel wird der Zusammenhang von Globalisierung und Kommunikation diskutiert. 340 10. Nationalismus, Kommunikation, Ideologie 340 <?page no="341"?> 1 See: David Harvey. 2003. The New Imperialism. Oxford: Oxford University Press. Michael Hardt & Antonio Negri. 2002. Empire. Frankfurt am Main: Campus. Richard P. Appel‐ baum & William I. Robinson, eds. 2005. Critical Globalization Studies. New York: Rout‐ ledge. Leslie Sklair. 2002. Globalization: Capitalism & Its Alternatives. Oxford: Oxford University Press. 11. Globale Kommunikation und Imperialismus Seit den 1990er Jahren ist „Globalisierung“ eines der meistverwendeten Stichwörter in der Politik und der Wissenschaft. Die grundlegende Behaup‐ tung ist dabei, dass Gesellschaften globaler geworden sind und dass wir heute in einer globalen Gesellschaft leben. Es wird gesagt, dass Kommuni‐ kationstechnologien eine bedeutende Rolle bei der Globalisierung spielen. Eine kritische Gesellschaftstheorie muss sich mit Globalisierung und Inter‐ nationalisierung auseinandersetzen. Der Begriff der Globalisierung klingt sehr positiv, aber in Wirklichkeit hat der globale Kapitalismus zu einem zu‐ nehmenden Wohlstand transnationaler Konzerne, zur verstärkten Ausbeu‐ tung der Arbeiterklasse und zu nationalen Wettbewerbsstaaten geführt, die um Steuersenkungen für das Kapital wetteifern. Daher nähert sich dieses Kapitel dem Thema der Globalisierung und der globalen Kommunikation auf Basis des Konzeptes des neuen Imperialismus und der kritischen Glo‐ balisierungsforschung 1 . Es beschäftigt sich zunächst mit dem Begriff des Raumes (Abschnitt 11.1). Danach liegt der Fokus auf dem globalen Raum und der Globalisierung (11.2), dem Verhältnis von Kapitalismus und Globa‐ lisierung (11.3) sowie dem Zusammenhang von Kommunikation, Kapitalis‐ mus und Globalisierung (11.4). 11.1. Raum In Kapitel 1 wurde argumentiert, dass Raum ein wesentlicher Aspekt der Materie sei. Materie basiert auf einer Dialektik von Raum und Zeit. Der Raum hängt mit dem Nebeneinander konkreter Existenzen zusammen. Im Kapitalismus hat der Raum einen Zusammenhang mit dem Nebeneinander von Arbeitern, Arbeitern und Kapitalisten, politischen Akteuren, privaten Individuen, Gütern, akkumuliertem Kapital, akkumulierter Macht und den <?page no="342"?> 2 Henri Lefebvre. 1974/ 1991. The Production of Space. Malden, MA: Blackwell. 3 Ebd., S. 32. 4 Ebd., S. 73. 5 Ebd., S. 94. 6 Ebd., S. 85. Beziehungen zwischen diesen Instanzen. Globalisierung hat die Entfernung zwischen diesen sozialen Instanzen vergrößert, ermöglicht ihnen jedoch gleichzeitig, über die Entfernung hinweg zu interagieren und zu kommuni‐ zieren. Die beiden einflussreichsten marxistischen Raumtheoretiker sind Henri Lefebvre und David Harvey. Harvey hat auf Lefebvres Theorie aufgebaut und sie zu einer eigenständigen Form marxistischer Geographie erweitert, die die räumlichen Beziehungen des Kapitalismus sowie urbane, regionale, internationale Konflikte und Klassenkämpfe untersucht. Sowohl Lefebvre als auch Harvey bauen auf der Tradition des humanistischen Marxismus auf. Die Produktion des sozialen Raumes Eine der Schlüsselideen in Henri Lefebvres bekanntestem Werk The Produc‐ tion of Space 2 ist, dass Menschen nicht nur soziale Beziehungen und Ge‐ brauchswerte erzeugen, sondern dabei auch soziale Räume produzieren. Der soziale Raum enthält die sozialen Reproduktionsverhältnisse (persönliche und sexuelle Beziehungen, Familie, Reproduktion von Arbeitskraft) und die Produktionsverhältnisse 3 . Der Raum ist keine Sache 4 und kein Behälter 5 . Er ist ein Produkt und ein Produktionsmittel 6 . Es gibt eine Dialektik zwischen sozialem Raum und menschlichem Handeln. Menschen produzieren und reproduzieren soziale Beziehungen wann im‐ mer sie Verbindungen miteinander herstellen, um auf diese Weise einander und der gesellschaftlichen Welt Sinn zu geben. Ein soziales System ist die soziale Beziehung einer bestimmten Zahl an Menschen, die in Raum und Zeit regularisiert ist. Es existiert nicht in einer flüchtigen Weise, sondern hat Kontinuität in Raum und Zeit. Alle sozialen Systeme haben eine Wirtschaft, eine politische Struktur und eine Kultur. Jedoch dominiert eine dieser Di‐ mensionen in jedem spezifischen System. So ist zum Beispiel ein Arbeits‐ platz ein soziales System der Wirtschaft, das aber auch gewisse politische Verhaltensregeln und eine gewisse Arbeitskultur aufweist. Jedes soziale System ist eine Dialektik von Praktiken und gewissen Strukturen (Ge‐ brauchswerten, Regeln und kollektiven Bedeutungen). Strukturen sind die 342 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 342 <?page no="343"?> Eigenschaften, die soziale Systeme dauerhaft machen, den Fortbestand von Praktiken ermöglichen und beschränken und die durch dieselben Praktiken produziert und reproduziert werden. Institutionen sind groß angelegte so‐ ziale Systeme, die eine Schlüsselfunktion in der Gesellschaft einnehmen. Sowohl soziale Systeme als auch Institutionen sind dauerhaftere Aspekte der Gesellschaft. Institutionen können mehrere soziale Systeme beinhalten. Beispiele sind ein parlamentarisches System, das Rechtssystem, das Markt‐ system, das Bildungssystem, das Gesundheitssystem etc. Ein sozialer Raum ist eine begrenzte Kombination aus sozialen Beziehungen, Strukturen, Prak‐ tiken, sozialen Systemen und Institutionen. Jedes soziale System hat seinen Raum und ist Element größerer Räume. Wenn Lefebvre sagt, dass Menschen durch die Erzeugung sozialer Beziehungen soziale Räume produzieren, überspringt er die vielen Ebenen sozialer Organisation, einschließlich Struk‐ turen, sozialer Systeme und Institutionen, die Menschen neu erschaffen. Man könnte sagen: Der Raum ist eine begrenzte Ansammlung und ein be‐ grenztes Verhältnis vieler Subjekte, Objekte und ihrer Beziehungen. Abbil‐ dung 11.1 visualisiert die Dialektik von Menschen - sozialen Beziehungen - sozialem Raum. MENSCHEN SOZIALE BEZIEHUNGEN SOZIALER RAUM Gesellschaftliche Institutionen Soziale Strukturen Soziale Systeme Abbildung 11.1: Die Dialektik von Menschen - sozialen Beziehungen - sozialem Raum 343 11.1. Raum 343 <?page no="344"?> Menschen erzeugen soziale Beziehungen, die in sozialen Räumen begrenzt, miteinander verbunden und organisiert sind. In der Erzeugung von sozialen Beziehungen produzieren und reproduzieren sie soziale Strukturen, die die Praktiken in sozialen Systemen ermöglichen und beschränken. Spezielle so‐ ziale Systeme bilden die zentralen gesellschaftlichen Institutionen. Men‐ schen produzieren und reproduzieren soziale Beziehungen, soziale Struk‐ turen, soziale Systeme, Institutionen und soziale Räume, die in dialektischer Weise menschliche Praktiken bedingen (ermöglichen und beschränken) und die das Medium und die Folge dieser Praktiken sind. In Lefebvres Ansatz fehlt die Rolle der Kommunikation in der sozialen Produktion. Soziale Systeme, Institutionen und der soziale Raum haben ei‐ nen dauerhaften Bestand in der Gesellschaft. Das bedeutet, dass sie nicht zwangsläufig zusammenbrechen, wenn ein oder mehrere (bestimmte) Indi‐ viduen nicht mehr Teil dieses Systems sind und daher aufhören, in be‐ stimmten sozialen Rollen zu agieren. Möglicherweise wird ein bestimmtes Individuum durch ein anderes ersetzt: Wenn zum Beispiel ein Java-Pro‐ grammierer eine Softwareentwicklungsfirma verlässt, so wird ein anderer Programmierer mit den gleichen Fähigkeiten angestellt. Soziale Systeme, Institutionen und Räume sind reale Abstraktionen der individuellen Exis‐ tenz. Doch wie können sie angesichts ihres eher abstrakten Charakters existieren? Es ist notwendig, dass sie von einer bestimmten Anzahl von In‐ dividuen gelebt werden, die im alltäglichen Leben soziale Beziehungen ein‐ gehen. Kommunikation ist der Prozess, in welchem Strukturen, soziale Sys‐ teme, Institutionen und soziale Räume gelebt, und dadurch von Menschen auf konkrete Art im täglichen Leben reproduziert werden. Dies geschieht durch die Nutzung gewisser kommunikativer Produktionsmittel (verbale und nonverbale Codes/ Sprachen, Informations- und Kommunikationstech‐ nologien), die die Produktion und Reproduktion des Sozialen ermöglichen: Menschen erzeugen soziale Beziehungen, indem sie einander bedeuten und dadurch die Strukturen, Systeme, Institutionen und Räume, die ihre Kom‐ munikation ermöglichen und beschränken, reproduzieren. Kommunikation ist die Art und Weise, in welcher Menschen leben und soziale Beziehungen produzieren, die Strukturen, Systeme, Institutionen und Räume konstituie‐ ren. 344 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 344 <?page no="345"?> 7 Beruhend auf Informationen aus: Lefebvre, The Production of Space, S. 32-33, 38-43, 362, 50, 116, 233, 288. Räumliche Praktiken, Repräsentation des Raumes, repräsentativer Raum Tabelle 11.1 fasst die wichtigsten von Lefebvre identifizierten Dimensionen des sozialen Raums zusammen. Räumliche Praktiken Repräsentationen des Raumes Repräsenta‐ tiver Raum Subjekte Mitglieder der Gesell‐ schaft, Familien, Arbeiterklasse Experten, Wissenschaftler, Planer, Architekten, Tech‐ nokraten, Sozialingenieure Einwohner und Nutzer, die den Raum passiv erfahren Objekte Außenwelt, Orte, räumliche Zusammen‐ fassungen, städtische Verkehrswege und Verkehrsnetzwerke, Orte zur Verbindung des Lokalen und des Globalen, belanglose Räume des Alltagsle‐ bens, Räume des All‐ tagslebens, wün‐ schenswerte und nichtwünschenswerte Räume Wissen, Zeichen, Kodes, Bilder, Theorie, Ideologie, Pläne, Macht, Karten, Transport- und Kommuni‐ kationssysteme, abstrakter Raum (Waren, Privateigen‐ tum, Handelszentren, Geld, Banken, Märkte, Arbeits‐ räume) Sozialleben, Kunst, Kultur, Bilder, Sym‐ bole, Systeme nonverbaler Symbole und Zeichen, Erin‐ nerungen Aktivitä‐ ten Wahrnehmen, tägliche Routinen, Reproduk‐ tion sozialer Beziehun‐ gen, Produktion Konzipieren, berechnen, repräsentieren, konstruie‐ ren Leben, All‐ tagsleben und alltägliche Aktivitäten Tabelle 11.1: Lefebvres drei Ebenen des sozialen Raumes 7 Obwohl Lefebvre von einer Dialektik spricht, lässt er die Prozesse des Wahr‐ nehmens, des Konzipierens und des Lebens voneinander getrennt. Alles so‐ ziale und gesellschaftliche Leben ist eine Gesamtheit der Wahrnehmung der physischen und sozialen Welt, des Konzipierens dieser Welt auf bestimmte 345 11.1. Raum 345 <?page no="346"?> kognitive Art und des Lebens in der Welt innerhalb sozialer und gesell‐ schaftlicher Beziehungen, in denen Menschen auf kommunikative Art sich selbst, Gebrauchswerte, kollektive Entscheidungen, Regeln, Moral, Normen, kollektive Bedeutungen etc. produzieren. Wahrnehmen und Konzipieren sind mentale und informationelle Aktivitäten. Sie sind soziale und materielle Praktiken, die Teil des Lebens und der Produktion der Gesellschaft sind. Die Wahrnehmung ist das mentale Erfassen der gelebten physischen und sozia‐ len Welt; die kognitive Erzeugung von Natur und Gesellschaft. Das Konzi‐ pieren ist eine bestimmte Form des Wahrnehmens, bei der Informationen über die Welt produziert werden und die Menschen auf diese Weise kreativ in ihr leben. In der Welt zu leben bedeutet wiederum wahrzunehmen, zu konzipieren und die Gesellschaft zu produzieren. Da sich diese Prozesse nicht auf einfache Weise trennen lassen, resultiert Lefebvres Modell in der Analyse von Gedanken (das Wahrgenommene) und Information (das Kon‐ zipierte) als nichtsozial. Wahrnehmung, Konzipieren und das Leben sind aber soziale Praktiken. Eine Ebene des sozialen Raumes als „räumliche Pra‐ xis" zu bezeichnen, impliziert, dass die anderen zwei Ebenen keine Praxis‐ formen sind. Was bei Lefebvre fehlt ist eine Präzisierung darüber, wie die drei Ebenen geordnet sind, ineinander verschachtelt sind und ineinander übergreifen. Wie können wir Tabelle 11.1, die Lefebvres wichtigste Einsichten über den Raum zeigt, in Bezug auf Bild 11.1, welches ein Modell des sozialen Raumes zeigt, deuten? Räumliche Praktiken sind Praktiken, die soziale Räume produzieren und reproduzieren. Diese sozialen Räume bestehen aus sozialen/ gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Systemen und gesellschaft‐ lichen Institutionen. Dies sind die Objekte räumlicher Praxis. Sie produzie‐ ren und reproduzieren Praktiken und ermöglichen und beschränken räum‐ liche Praktiken. Die Produktion sozialer Räume führt zur Bildung sozialer Beziehungen und sozialer Strukturen und im Zuge dessen zur Produktion von Wissen, das soziale Beziehungen und Praktiken symbolisiert. Dies ist Lefebvres Dimension der Repräsentation des Raumes. Repräsentationen sind Formen des Wissens, die Praktiken repräsentieren und die Produktion von gesellschaftlichen Strukturen, individuellem und sozialem Wissen an‐ regen. Repräsentationen stellen die symbolische Dimension und die Wis‐ sensdimension gesellschaftlicher Strukturen dar. Individuelles und soziales Wissen ist Wissen, das sich an individuellen und kollektiven Akteuren ori‐ entiert. Durch soziale Praktiken produzieren und reproduzieren die Men‐ schen individuelles und soziales Wissen auf der Ebene des Individuums und 346 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 346 <?page no="347"?> der Gruppe sowie gesellschaftliche Strukturen und Repräsentationen auf der Ebene gesellschaftlicher Subsysteme und der Gesellschaft als Totalität. Re‐ präsentationen sind Vermittlungsformen, die auf der Ebene sozialer Bezie‐ hungen operieren, wo sie dabei helfen, soziale Beziehungen und Kommu‐ nikationsprozesse zu organisieren. Tabelle 11.2 bietet einen Überblick über Repräsentationen des Raumes und Räume der Repräsentation in der Gesellschaft im Allgemeinen und dem Ka‐ pitalismus im Speziellen. Im Kapitalismus haben Repräsentationen einen antagonistischen Charakter. Der Preis und das Geld vermitteln Praktiken in der Wirtschaft, die Produktion bourgeoiser Gesetze im politischen System und die Produktion bourgeoiser Normen und Moralvorstellungen in der Kultur. Doch gleichzeitig werden derartige Praktiken durch die Logik des Schenkens, sozialistische Politik- und Gesetzesentwürfe und sozialistische Normen und Moralvorstellungen herausgefordert. Räume der Repräsenta‐ tion sind Zeichensysteme; Totalitäten von Repräsentationen. Sie operieren auf der Ebene gesellschaftlicher Subsysteme und interagieren mit anderen Subsystemen auf der Ebene der Totalität der Gesellschaft. In der Gesellschaft im Allgemeinen sind Distributionsstrukturen wirtschaftliche Räume der Re‐ präsentation, Regulierungsweisen politische Räume der Repräsentation und Moralsysteme kulturelle Räume der Repräsentation. Im Kapitalismus er‐ scheinen Räume der Repräsentation in der Form des Marktsystems in der Wirtschaft, dem bürgerlichen Rechtssystem in der Politik und dem bour‐ geoisen Moralsystem (Ideologie) in der Kultur. 347 11.1. Raum 347 <?page no="348"?> Gesell‐ schaft‐ sstruk‐ turen Indivi‐ duelles Wissen Soziales Wissen Reprä‐ sentati‐ onen des Raumes Reprä‐ senta‐ tionen des Raumes im Ka‐ pitalis‐ mus Reprä‐ sentati‐ ver Raum Reprä‐ sentati‐ ver Raum im Ka‐ pitalis‐ mus Ebene der Ge‐ sell‐ schaft Gesell‐ schaft als Totalität Indivi‐ duum Gruppen Soziale Bezie‐ hungen Soziale Bezie‐ hungen Subsys‐ teme der Gesell‐ schaft, Gesell‐ schaft als Totalität Subsys‐ teme der Gesell‐ schaft, Gesell‐ schaft als Totalität Wirt‐ schaft Ge‐ brauch‐ swerte, Produk‐ tions‐ mittel Fertig‐ keiten, Kennt‐ nisse Wissens‐ produkte Formen der öko‐ nomi‐ schen Vermitt‐ lung Preis, Geld (Al‐ terna‐ tive: Ge‐ schenk logik) Distribu‐ tions‐ struktu‐ ren Markt‐ system Politik Regeln, kollek‐ tive Ent‐ schei‐ dungen Politi‐ sche Meinun‐ gen und Einsich‐ ten Kollek‐ tive poli‐ tische Weltan‐ schau‐ ungen Politi‐ sche Re‐ geln Durch den Staat kodifi‐ zierte Gesetze, opposi‐ tionelle Geset‐ zesent‐ würfe Regulati‐ ons‐ weise Bürgerli‐ ches Rechts‐ system, bürgerli‐ cher Staat Kultur Kollek‐ tive Identitä‐ ten und Bedeu‐ tungen Identität, Bedeu‐ tungen Kollek‐ tive Identitä‐ ten, kol‐ lektive Bedeu‐ tungen Normen und Mo‐ ralvor‐ stellun‐ gen Bour‐ geoise und so‐ zialisti‐ sche Normen und Mo‐ ralvor‐ stellun‐ gen Moral‐ system Bourge‐ oises Moral‐ system Tabelle 11.2: Arten des individuellen und des sozialen Wissens (aufbauend auf Ta‐ belle 4.1 aus Kapitel 4) 348 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 348 <?page no="349"?> 8 David Harvey. 2005. Space as Keyword. In Spaces of Neoliberalization, S. 93-115. Stutt‐ gart: Franz Steiner Verlag. 9 Aufgrund des theoretischen Rahmens dieses Buches (siehe Kapitel 2 und 3 zu Materia‐ lismus), habe ich Harveys Begriff des „materiellen Raumes" mit dem des „physischen Raumes" ersetzt. Soziale Dimension Wissensdimension Räumliche Dimen‐ sion (sozialer Raum) Menschen, menschliche Praktiken Individuelles Wissen Räumliche Praktiken Soziale Beziehungen Soziales Wissen, Repräsenta‐ tionen Repräsentationen des Raumes Soziale Systeme Kultur Repräsentativer Raum Tabelle 11.3: Die soziale Dimension, die Wissensdimension und die räumliche Di‐ mension der Gesellschaft Die Gesellschaft hat eine soziale, eine informationelle und eine räumliche Dimension. Diese drei Dimensionen interagieren miteinander. Tabelle 11.3 zeigt drei organisatorische Aspekte dieser drei Dimensionen, nämlich die Ebene des Menschen, der sozialen Beziehungen und der sozialen Systeme. Absoluter, relativer und relationaler Raum In seinem Aufsatz Space as Keyword zieht David Harvey 8 Lefebvre heran, um eine Topologie des sozialen Raumes zu erstellen. Er gelangt zu einer Matrix des Raumes, indem er zwischen absolutem, relativem und relationa‐ lem Raum als Dimensionen unterscheidet und zwischen physischem 9 Raum, Repräsentationen von Räumen und Räumen der Repräsentation als der zweiten Dimension (siehe Tabelle 11.4). Harvey ergänzt Lefebvres Analyse des Raumes um die Unterscheidung zwischen absoluten, relativen und re‐ lationalen Räumen. 349 11.1. Raum 349 <?page no="350"?> 10 Beruhend auf: Harvey, Space as Keyword, S. 105-106 11 Übersetzung aus dem Englischen [“bring to the absolute space and time of the talk all sorts of ideas and experiences culled from the space-time of their life trajectories"]: Ebd., S. 99. 12 Übersetzung aus dem Englischen [“I try to communicate across the space through a medium - the atmosphere - that refracts my words differentially”]: Ebd., S. 98. Physikalischer Raum (Erfah‐ rungsraum) Repräsentationen des Raums (Erdachter Raum) Repräsentativer Raum (Gelebter Raum) Absoluter Raum Relativer Raum (Zeit) Relationaler Raum (Zeit) Tabelle 11.4: David Harveys Typologie des Raumes 10 Harvey nennt ein Beispiel, um die erste Reihe von Unterscheidungen zu erläutern. Eine Rede zu halten erfordert einen physischen Raum mit physi‐ schen Wänden als Grenze. Es bedarf nicht nur Harvey oder einem anderen Sprecher, sondern auch einer Zuhörerschaft, deren Mitglieder bestimmte Plätze des Raumes zu einer bestimmten Zeit einnehmen und sich dadurch in einer gewissen Distanz zueinander und zu Harvey befinden. Der relatio‐ nale Raum ist jener Raum, in dem die Publikumsmitglieder „in den absoluten Raum und in die absolute Zeit des Vortrages alle möglichen Ideen und Er‐ fahrungen einbringen, die sie aus der Raum-Zeit des Verlaufes ihres Lebens auswählen" 11 . Harvey betrachtet Kommunikation als einen Aspekt des re‐ lativen Raumes: „Ich versuche durch ein Medium - die Atmosphäre -, das meine Worte unterschiedlich bricht, über den Raum hinweg zu kommuni‐ zieren" 12 . Die Zuhörer befinden sich in relativer räumlicher Distanz zu den Produzenten der Information. Moderne Kommunikationsmittel ermögli‐ chen die Überwindung dieser räumlichen Distanzen, sodass die Relativität des Raumes keine Rolle mehr im Kommunikationsprozess spielt und man sich von überall auf der Welt verständigen kann. Die Kommunikation er‐ streckt sich in den relationalen sozialen Raum und nimmt dort eine tragende Rolle ein: Nur durch Kommunikation können Menschen soziale Beziehun‐ gen miteinander eingehen und der gesellschaftlichen Welt Sinn geben. 350 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 350 <?page no="351"?> 13 Roland Robertson. 1992. Globalization: Global Theory and Global Culture. London: Sage. Basierend auf dem Konzept des Raumes können wir uns im nächsten Ab‐ schnitt mit dem globalen Raum auseinandersetzen. 11.2. Globaler Raum und Globalisierung Globalisierung ist seit den 1990er Jahren eines der in der Öffentlichkeit am häufigsten gebrauchten Stichwörter und eines der meist diskutierten The‐ men. Manch einer hält die Globalisierung für die ultimative Lösung globaler Probleme. Für andere ist sie ein Slogan, der eine Phase gesteigerter kapita‐ listischer Ausbeutung beschreibt. Im Globalisierungsdiskurs gibt es sowohl radikale Optimisten wie auch radikale Pessimisten. Hyperglobalisten argu‐ mentieren, dass die Globalisierung ein radikales neuartiges Phänomen sei und dass die entstehende globale Gesellschaft einen diskontinuierlichen und radikalen Bruch mit früheren Gesellschaftsformen darstelle. Globalisie‐ rungsskeptiker argumentieren hingegen, dass die Globalisierung ein My‐ thos sei und dass es keine grundlegend neuen Gesellschaftsmerkmale gebe. Große soziale Systeme benötigen für ihre Reproduktion die permanente Interaktion zwischen einer lokalen und einer globalen Ebene. Von Zeit zu Zeit geraten derartige Systeme in Phasen der Krise und Veränderung, in denen globalere Systeme entstehen, die versuchen, die Widersprüche auf höheren räumlichen Organisationsstufen zu überwinden. In einem globali‐ sierten sozialen System interagieren (wirtschaftlich, politisch oder kulturell) Prozesse unterschiedlicher Orte, Regionen, Länder und Teilen der Welt mit‐ einander. Die Globalisierung ist die Ausdehnung sozialer Beziehungen in Raum und Zeit. Ein sich globalisierendes soziales System dehnt seine Gren‐ zen im Raum und in der Zeit aus. Dadurch können soziale Beziehungen über größere zeitliche und räumliche Distanzen hinweg gepflegt werden. In ei‐ nem globalen System sind Praktiken, soziale Beziehungen, soziale Struktu‐ ren und soziale Systeme über große Entfernung organisiert. Globale Pro‐ zesse sind zwangsläufig in lokale Prozesse eingebunden: Das Globale beeinflusst das Lokale, das Lokale beeinflusst das Globale. Einige Beobachter sprechen deshalb von der „Glokalisierung" 13 . In der Geschichte der Menschheit ist die Gesellschaft globaler geworden. In der Erzeugung von Realität stoßen Menschen früher oder später durch die begrenzte lokale Verfügbarkeit von Ressourcen, Intelligenz, Lösungen 351 11.2. Globaler Raum und Globalisierung 351 <?page no="352"?> und Kapazitäten auf Probleme. Sie können diese Probleme nicht auf lokaler Ebene lösen und versuchen daher, Lösungen auf einer globaleren Ebene zu finden. Eine Phase der Krise, die die Lösung von Problemen dringlich macht, kann eine Globalisierungsphase auslösen. Doch das Niveau der Globalisie‐ rung kann auch wieder abnehmen, wenn sich Antagonismen entfalten und zu neuen Problemen führen. Die räumlichen Organisationsebenen der Gesellschaft erstrecken sich von der lokalen Ebene über Zwischenebenen bis hin zur globalen Ebene. Zu den räumlichen Ebenen gehören das Individuum als Ausgangspunkt (Familie, Freundschaften, Kollegen etc.), lokal vermittelnde Beziehungen (lokale Ge‐ meinde, lokale Gemeinschaften etc.), nationale strukturelle Verhältnisse (der Staat, nationale Märkte), internationale strukturelle Verhältnisse (interna‐ tionale Abkommen, regionale politische Blöcke, internationale politische Organisationen etc.) und globale/ transnationale strukturelle Verhältnisse mit globaler Reichweite (das Internet, der Weltmarkt, die Idee der Men‐ schenrechte etc.). Tabelle 11.5 zeigt drei Formen der Globalisierung: Wirtschaft Raum-zeitliche Ausdehnung der wirtschaftlichen Struk‐ turen und Praktiken der Produktion, Distribution und Konsumtion Politisches System Raum-zeitliche Ausdehnung der Macht- und Entschei‐ dungsstrukturen sowie der politischen Praktiken Kultur Raum-zeitliche Ausdehnung normativer Strukturen und Praktiken Tabelle 11.5: Drei Formen der Globalisierung Die Globalisierung ist kein neues Phänomen, sondern ein Merkmal der Ge‐ sellschafts- und Menschheitsgeschichte. Zu den historischen Beispiele der Globalisierung gehören die Weltreligionen; Weltreiche wie das Römische Imperium, das Britische Empire oder die Han Dynastie; große Bevölke‐ rungsverschiebungen wie der atlantische Sklavenhandel; Kolonialismus und Imperialismus oder die Verlegung von Tiefseekabeln, die Mitte des 19. Jahr‐ hunderts das erste globale Kommunikationssystem ermöglichte. Das trans‐ atlantische Kabel von 1866 verringerte die Übertragungszeit von Informa‐ tionen zwischen London und New York um mehr als eine Woche. Basierend auf der Kategorie des globalen Raumes wird sich der nächste Abschnitt mit dem globalen Kapitalismus auseinandersetzen. 352 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 352 <?page no="353"?> 14 Immanuel Wallerstein. 1974. The Rise and Future Demise of the World Capitalist Sys‐ tem. Concepts for Comparative Analysis. Comparative Studies in Society and History 16 (4): 387-415: „Erst durch die Entstehung der modernen Weltwirtschaft im Europa des sechzehnten Jahrhunderts kam es zur vollen Entwicklung und zur wirtschaftlichen Vorherrschaft der Handelsmärkte. Dies war das System, das als Kapitalismus bezeichnet wird. Der Kapitalismus und eine Weltwirtschaft (also eine einzige Arbeitsteilung, aber mehrere politische Systeme und Kulturen) sind die Kehrseiten einer Medaille. Die eine verursacht nicht die andere. […] Der Kapitalismus war von Beginn an eine Angelegen‐ heit der Weltwirtschaft und nicht der Nationalstaaten. Es ist eine Missdeutung der Si‐ tuation, wenn behauptet wird, dass der Kapitalismus erst in zwanzigsten Jahrhundert ‚weltweit‘ ausgeprägt wurde“ (S. 391, 401). 15 Immanuel Wallerstein. 1986. Das moderne Weltsystem, Band 1: Die Anfänge kapitalisti‐ scher Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Wien: Pro‐ media. 16 Karl Marx and Friedrich Engels. 1848. Manifest der Kommunistischen Partei. In MEW Band 4, 459-493. S. 466. 11.3. Kapitalismus und Globalisierung Globale Räume des Kapitalismus Immanuel Wallerstein argumentiert, dass das kapitalistische Weltsystem seit seiner Entstehung im 16. Jahrhundert ein globales System gewesen ist 14 . Er betont, dass der Kapitalismus ein Weltsystem ist, 15 weil dieser eine globale Arbeitsteilung und einen Weltmarkt zur Profitgewinnung benötigt. Die po‐ litische Struktur des kapitalistischen Weltsystems basiert auf einer hierar‐ chischen, fragmentierten Teilung in Staaten des Zentrums, der Semiperi‐ pherie und der Peripherie. Es herrscht ein ungleicher Austausch im kapitalistischen Weltsystem, der dazu führt, dass sich das Kapital in den Zentren den global produzierten Mehrwert aneignet. Schon Marx betonte den globalen Charakter des Kapitalismus: „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ 16 . Kapitalakkumulationsprozesse G - W .. P .. W’ - G’ benötigen: 1. Arbeitskraft 2. Produktionsmittel (Rohmaterialien, Technologien, Infrastruktur) 3. Rohstoffmärkte 4. Kapital, Kapitalanlagen Das Kapital überwindet nationale Grenzen und organisiert sich auf einer transnationalen Ebene, um 1) billige(re) Arbeit, 2) billige(re) Produktions‐ 353 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 353 <?page no="354"?> 17 Karl Marx. 1857/ 58/ 1973. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Band 42. Berlin: Dietz. S. 252. mittel, 3) Rohstoffmärkte und 4) Anlagemöglichkeiten zu finden. Das Kapital hat gewisse wirtschaftliche, soziale, räumliche und zeitliche Begrenzungen. In Krisensituationen versucht es, diese Begrenzungen zu überwinden, indem es seine eigenen Grenzen verschiebt. „Das Kapital […] ist der schranken- und maßlose Trieb, über seine Schranke hinauszugehen” 17 . Doch neue Be‐ dingungen der politischen Ökonomie des Kapitalismus gelangen erneut an ihre inhärenten antagonistischen Grenzen, sodass der Kapitalismus sich er‐ neut versucht zu reorganisieren. Wenn diese Reorganisation erfolgreich ist, führt sie zu qualitativen Veränderungen der Methoden der Ausbeutungs- und Regulierungsweise. Der Kapitalismus stößt an räumliche und zeitliche Grenzen, die er ver‐ sucht zu überwinden, um Krisen zu vermeiden und die Kapitalakkumulation fortzusetzen. Die Kapitalakkumulation erfordert: 1) Arbeitskraft; 2) Produk‐ tionsmittel (Rohstoffe, Technologien, Infrastruktur); 3) Rohstoffmärkte; 4) Kapital und Kapitalanlagen. Die Globalisierung und der Imperialismus sind Strategien, um den Zugang zu Arbeitskraft und Produktionsmittel zu ver‐ günstigen sowie Zugang zu neuen Rohstoffmärkten und Gelegenheiten für Kapitalexport und Kapitalanlagen zu gewinnen. Neue Transport- und Kom‐ munikationstechnologien sind sowohl Mittel als auch Resultat der Globali‐ sierung des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist geprägt von dem Trieb, sich auszudehnen und Ka‐ pital und Macht zu akkumulieren. Der inhärent imperialistische Charakter des Kapitalismus erfordert, dass die Ausbeutung von Arbeit, der Warenver‐ kauf und die politische Herrschaft über raumzeitliche Distanzen hinweg or‐ ganisiert werden. Daher befördert der Kapitalismus die Entwicklung von Technologien, die kapitalistische Organisation über räumliche Distanzen hinweg in kurzer Zeit erlauben. Darüber hinaus gibt es eine kapitalistische Tendenz zur Beschleunigung. Die Beschleunigung basiert auf dem Prinzip der Akkumulation von größerer wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht in kürzerer Zeit. Beschleunigung bedeutet, dass in immer kürzerer Zeit mehr Waren produziert und konsumiert werden, mehr Entscheidungen getroffen und mehr Erfahrungen organisiert werden. Es gibt eine Tendenz dazu, dass die kapitalistische Logik der Akkumulation Prozesse der Be‐ schleunigung, der Globalisierung und der Finanzialisierung hervorbringt. 354 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 354 <?page no="355"?> 18 Hartmut Rosa. 2005. Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 19 David Harvey. 2003. The New Imperialism. Oxford: Oxford University Press. 20 Übersetzung aus dem Englischen [“The spatio-temporal 'fix' […] is a metaphor for a particular kind of solution to capitalist crises through temporal deferral and geogra‐ phical expansion”]: Ebd., S, 115. 21 Harvey, The New Imperialism. 22 Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen and Claudia von Werlhof. 1988. Women: The Last Colony. London: Zed Books. 23 Übersetzung aus dem Englischen [“Women, colonies and nature” are “the main targets of this process of ongoing primitive accumulation”]: Ebd., S. 6. 24 Maria Mies. 1989. Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Zürich: Rotpunkverlag. S. 27. Hartmut Rosa hat eine Theorie der Beschleunigung etabliert, in der er ar‐ gumentiert, dass die Moderne die Beschleunigung der Zeit hervorbringt 18 . David Harvey fasst die Globaliserung als zeitliche, räumliche und raum‐ zeitliche Fixierungen auf 19 , die darauf abzielen, die dem Kapitalismus inhä‐ rente Krisentendenzen vorübergehend zu überwinden: „Die raumzeitliche ‚Fixierung‘ […] ist eine Metapher für eine bestimmte Art der Lösung kapi‐ talistischer Krisen durch zeitliche Aufschiebung und geographische Expan‐ sion“ 20 . Der Kapitalismus neigt dazu, Krisen geographisch und in die Zukunft zu verschieben, doch stößt er immer wieder an seine Grenzen, die sich in der Form von Krisen manifestieren. Die Entwicklung neuer Technologien ist in die Suche des Kapitals nach raumzeitlichen Fixierungen der dem Ka‐ pitalismus immanenten Krisentendenzen eingebettet. David Harvey 21 deutet Rosa Luxemburgs Konzept der kontinuierlichen ursprünglichen Akkumulation als Akkumulation durch Enteignung, die er als das zentrale Merkmal des neoliberalen Kapitalismus erachtet. Mies, Bennholdt-Thomsen und Werlhof 22 argumentieren aus feministischer Per‐ spektive, dass der Kapitalismus Milieus der ursprünglichen Akkumulation für seine Reproduktion benötigt. Das Kapital muss von unbezahlten Res‐ sourcen Gebrauch machen, um existieren zu können. Diese Ressourcen kommen aus der Natur, unbezahlter Arbeit (wie der Hausarbeit) und der Peripherie. „Frauen, Kolonien und die Natur“ stellen die „Hauptziele dieses Prozesses der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation” 23 dar. Sie bilden innere Kolonien des Kapitalismus. Die inneren Kolonien transformieren die Natur kapitalistischer Produktion, so dass „hausfrauisierte“ Arbeit entsteht, die „Quelle unkontrollierter, unbeschränkter Ausbeutung“ 24 ist. Die prekäre Realität der Hausarbeitenden, der Arbeitslosen und des Globalen Südens war 355 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 355 <?page no="356"?> 25 Mario Tronti. 1974. Arbeiter und Kapital. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik. S. 36. das Modell dafür, den Kapitalismus qualitativ in einen neoliberalen Kapita‐ lismus zu verwandeln. Die ursprüngliche Akkumulation bildet damit nicht nur die inneren Kolonien des Kapitalismus, sondern führt auch zur qualita‐ tiven Veränderung der Lohnarbeit und der entscheidenden Verhältnisse des Kapitalismus. Mario Tronti betont, dass die Ausdehnung der Ausbeutung von der Fabrik und dem Büro auf die Gesellschaft nicht nur die Konstitution der sozialen Fabriken und des gesellschaftlichen Arbeiters des Kapitalismus bedeutet, sondern auch den kapitalistischen „Prozess der inneren Koloni‐ sierung“ 25 . Die Kapitalakkumulation hat einen imperialistischen Charakter: Sie ver‐ sucht, gesellschaftliche Beziehungen durch Prozesse der ursprünglichen Akkumulation zu subsumieren (dies nennt man auch formale Subsumtion), um innere Kolonien der Akkumulation zu erzeugen, die billige oder kos‐ tenfreie Ressourcen darstellen, die für die Kapitalakkumulation instrumen‐ talisiert werden. Der Kapitalismus beschädigt durch Krisen und Zerstörung auch Teile seiner inneren Dynamik, was die Erzeugung neuer Sphären der Akkumulation und der Instrumentalisierung erfordert. Gleichzeitig müssen innere Milieus auch wirtschaftlich, politisch und ideologisch reproduziert werden, um Widerstand und Alternativen zu verhindern. Die ursprüngliche Akkumulation wird daher als kontinuierlicher Prozess ständig wiederholt und reproduziert. Zu bestimmten Zeitpunkten können die inneren Kolonien des Kapitalismus als Modelle für die qualitative Transformation kapitalisti‐ scher Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion agieren, sodass ein neues Regime der Kapitalakkumulation entsteht. In solchen Fällen kön‐ nen Sphären der kontinuierlichen ursprünglichen Akkumulation und for‐ malen Unterordnung als Modelle für ein neues Regime der Akkumulation dienen (was der realen Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital ent‐ spricht). Gesellschaftliche Kämpfe widersetzen sich der originären und der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation sowie der formalen und realen Subsumtion durch den Versuch, Räume zu erschaffen, die sich jenseits der Logik und des Einflusses des Kapitals befinden. 356 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 356 <?page no="357"?> 26 David Harvey, 2000. Contemporary Globalization. In Spaces of Hope, 53-72 Berkeley, CA: University of California Press. Der neue Imperialismus als Globalisierung des Neoliberalismus: Eine neue Phase der kapitalistischen Globalisierung In den früheren bis mittleren 1970er Jahren erfuhr der Kapitalismus eine wirtschaftliche, politische und ideologische Krise, die den Wechsel von for‐ distischer Massenproduktion zu postfordistischer flexibler Akkumulation in der Wirtschaft, vom Keynesianismus zum Neoliberalismus in der Politik und von einer nationalen zu einer globalen Kultur einleitete. Verglichen mit der Phase von 1945 bis 1975 gab es einen signifikanten Anstieg des Anteils des globalen Handels (Importe und Exporte) und der ausländischen Direktin‐ vestitionen am globalen Bruttosozialprodukt. Die Zahl der transnationalen Konzerne der Wirtschaft und internationaler nichtstaatlicher Organisatio‐ nen, internationaler politischer Abkommen (insbesondere der Freihandels‐ abkommens) und der regionalpolitischen Unionen ist signifikant angestie‐ gen. Die EU und Nordamerika haben die ausländischen Direktinvestitionen und den internationalen Handel dominiert. Vor allem Südost-Asien hat als Empfänger von Auslandsdirektinvestitionen und im Export eine wichtige Rolle gespielt. China ist mittlerweile zu einem wichtigen Exportland ge‐ worden. Im globalen Raum des kapitalistischen Weltsystems nimmt die in‐ ternationale Arbeitsteilung eine globale Form an, sodass Arbeiter, die un‐ terschiedliche Teile einer Ware an unterschiedlichen Orten produzieren, nichts voneinander wissen, nicht miteinander kommunizieren können und sich daher nicht so einfach gemeinsam organisieren können. David Harvey 26 argumentiert, dass der Kapitalismus eine neue Phase der Globalisierung durchläuft, die vier miteinander verbundene Entwicklungen beinhaltet: 1. Finanzielle Deregulierung, 2. eine neue Welle technologischer Innovationen, 3. die Entstehung des Internets, 4. technologische Innovationen, die kontinuierlich den Transport und die Kommunikation vergünstigen. Einige Merkmale dieser Entwicklungen sind das Offshoring der Produktion, globale Migration, Hyperurbanisierung, die Entstehung neoliberaler Wett‐ bewerbsstaaten, globale ökologische und politische Probleme und Risiken, 357 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 357 <?page no="358"?> 27 Dwayne Winseck and Robert M. Pike. 2007. Communication and Empire. Durham: Duke University Press. 28 Benjamin Barber. 1995. Jihad VS. McWorld. New York: Times Books. der globale Kultur-Antagonismus zwischen Jihad und McWorld, räumliche Agglomeration, globale Städte sowie die ungleichmäßige geographische Entwicklung. Die klassische Ära der imperialistischen Entwicklung Ende des 19. Jahr‐ hunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts war durch massiven Kapitalex‐ port der westlichen Länder gekennzeichnet. Winseck and Pike argumentie‐ ren, dass die globale Expansion von Kommunikationsunternehmen wie Western Union, Eastern Telegraph Company, Commercial Cable Company, Atlantic Telegraph Company und Marconi in den Jahren von 1860 bis 1930 eine enge Verbindung zwischen Kommunikation, Globalisierung und Im‐ perialismus schuf 27 . Die Ära des fordistischen Kapitalismus war im Vergleich zur Imperialismus-Ära durch sich relativ selbsterhaltende nationale Wirt‐ schaften gekennzeichnet. Vergleicht man die fordistische Weise kapitalisti‐ scher Entwicklung mit der postfordistischen, so findet man die starke Zu‐ nahme von Kapitalexporten und neue Merkmale globaler Produktion, wie Joint Ventures, strategische Allianzen, partizipatives Management und ver‐ teilte, outgesourcte Formen globaler Produktion. Das Aufkommen des globalen Neoliberalismus wurde vom Entstehen ei‐ ner globalen Konsumkultur begleitet. Die Vorherrschaft eines globalen ka‐ pitalistischen Modells, das seinen Ursprung in den USA hat, hat unter an‐ derem die Suche nach nationalen und religiösen Identitäten zur Folge gehabt. Der globale Kapitalfetischismus hat zum globalen Fetischismus von Nation und Religion geführt. Der westliche Fetischismus kapitalistischer Einheit wird oft, wie es im Irak und in Afghanistan der Fall war, durch Gewalt verteidigt und vollstreckt und hat zu einem fundamentalistischen Fetischis‐ mus der Unterschiede und der Spaltung geführt. Benjamin Barber spricht in diesem Zusammenhang von einem Antagonismus zwischen Jihad und McWorld 28 . Dieser Antagonismus ist das Ergebnis des globalen Kapitalis‐ mus, der in den terroristischen Attacken des 11. September 2001 einen Kul‐ minationspunkt gefunden hat. Al-Qaeda und ISIS/ Daesh haben die Globa‐ lisierung des Terrors als eine Form politischer Globalisierung praktiziert, woraus ein globaler Teufelskreis aus Gewalt, Terrorismus, Kriegsführung und Radikalisierung entstanden ist. Der politische Antagonismus zwischen Fundamentalismus und neoliberalem Kapitalismus als zwei Optionen wurde 358 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 358 <?page no="359"?> 29 Vladimir I. Lenin. 1917. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Imperialismus. In Lenin Werke Band 22, 189-309. Berlin: Dietz. S. 271. 30 Rosa Luxemburg. 1913. Die Akkumulation des Kapitals. In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Band 5, Berlin: Dietz, 5-411. S. 311. durch die Schwäche linker Kräfte, die Verbürgerlichung der Sozialdemokra‐ tie im 20. Jahrhundert, die mangelnde Präsenz des Sozialismus als alterna‐ tivem Modell und die Korruption des Sozialismus durch den Stalinismus und den Maoismus verstärkt. Der globale Sozialismus als humanistische Einheit in der Vielfalt ist die einzige gangbare Alternative zum globalen Kapitalis‐ mus und globalen Fundamentalismus. Der neue Imperialismus Am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Kapitalis‐ mus eine Transformation vom Konkurrenzkapitalismus zum Imperialismus. Marxistische Denker wie Lenin und Rosa Luxemburg formulierten damals das Konzept des Kapitalismus als Imperialismus. Lenin definierte den Im‐ perialismus folgendermaßen: „Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanz‐ kapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begon‐ nen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist” 29 . Für Rosa Luxemburg ist Imperialismus die gewalttätige geographische und geopolitische Aus‐ weitung der Akkumulation des Kapitals. Sie argumentiert, dass das Kapital die Ausbeutung der Arbeit global ausweiten will und auf „die unum‐ schränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte des Erdrunds, um mit ihnen alle Produktivkräfte der Erde […] mobil zu machen” 30 abziele. Nach Lenin gibt es fünf Merkmale des Imperialismus: 1. Monopolkapital und 2. Finanzkapital spielen eine wichtige Rolle; ebenso 3. der Kapitalexport (ausländische Direktinvestitionen); 4. es gibt eine räumliche und territoriale Spaltung der Welt, einschließ‐ lich Eroberungskriege mit dem Zweck, die wirtschaftliche und poli‐ tische Kontrolle von Territorien sicherzustellen und 359 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 359 <?page no="360"?> 31 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Imperialismus. S. 270-271. 32 Lefebvre, The Production of Space, S. 355. 33 Ebd., S. 357. 34 Übersetzung aus dem Englischen [“occupy all space”]: Ebd., S. 219. 35 Harvey, The New Imperialism. 36 Michael Hardt & Antonio Negri. 2002. Empire. Frankfurt am Main: Campus. 5. der Kampf zwischen kapitalistischen Kräften spielt eine wichtige Rolle 31 . Lefebvre argumentiert, dass der wesentliche geographische Widerspruch einer zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Kapitalismus ist, der sich auch als Widerspruch zwischen globalisiertem und fragmentiertem Raum manifestiert 32 . Der Kapitalismus neigt dazu, die Wirtschaft zu globa‐ lisieren, um strategisch räumliche Vorteilen (Ressourcen, Kosten von Ar‐ beitskraft, politisches Klima etc.) zu nutzen. Gleichzeitig erzeugt er immer spezialisiertere instrumentelle Räume. Der Kapitalismus fragmentiert Räume und verknüpft die Fragmente auf der regionalen, nationalen, inter‐ nationalen und globalen Ebene. Dieser Widerspruch ist der räumliche Aus‐ druck dessen, was Marx als den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bezeichnet 33 : Die Entwicklung der Produkti‐ onsmittel ermöglicht die Produktion von Räumen, die der Logik des Kapi‐ talismus folgen und die zu abstrakten, beherrschten, instrumentellen Räumen gemacht werden. Lefebvre analysiert einen kapitalistischen, räum‐ lichen Widerspruch zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Außerdem schreibt er abstrakten Räumen einen imperialistischen Charakter zu, in dem Sinne, dass die Warenlogik expansiv ist und versucht, „allen Raum zu be‐ setzen“. 34 David Harvey und Michael Hardt/ Toni Negri haben angeregt, die Begriffe neuer Imperialismus 35 und Empire 36 anstelle von Globalisierung zu benutzen, um die globale neoliberale und finanzielle Globalisierung des Kapitalismus und die Universalisierung der Warenform und der kapitalistischen Herr‐ schaft zu charakterisieren. „Globalisierung“ ist ein harmlos klingender Be‐ griff, der sich nicht als Schlüsselkategorie einer kritischen Gesellschafts‐ theorie eignet. Während „Globalisierung“ positiv klingt, klingen die Begriffe „neuer Imperialismus“ und „Empire“ beunruhigend und ausbeuterisch. 360 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 360 <?page no="361"?> 37 Für eine detaillierte theoretische und statistische Analyse, siehe: Christian Fuchs. 2009. A Contribution to Critical Globalization Studies. Centre for the Critical Study of Global Power and Politics Working Paper CSGP 09/ 8. Peterborough, Canada: Trent University. http: / / fuchs.uti.at/ wp-content/ uploads/ CriticalGlobalizationStudies.pdf Die empirische Analyse zeigt gewisse Schlüsselmerkmale des neuen im‐ perialistischen Kapitalismus in der Phase von 1975 bis 2008 (dem Beginn der neuen Weltwirtschaftskrise) 37 : ■ Kapitalkonzentration: Die Kapitalkonzentration ist ein wichtiges Merkmal von Industrie, Dienstleistungen und Finanzen. ■ Monopolkapital: Informationsbereiche wie das Verlagswesen, Tele‐ kommunikation und die Herstellung von Kommunikationstechnolo‐ gien gehören zu den am stärksten konzentrierten Wirtschaftsberei‐ chen. Der Finanzsektor ist der am stärksten konzentrierte Wirtschaftsbereich. Finanzialisierung, Hyperindustrialisierung durch die fortbestehende Wichtigkeit fossiler Brennstoffe und das Automobil und Informatisierung sind drei wichtige wirtschaftliche Trends des globalen Kapitalismus. Finanzialisierung ist dabei der dominierende Faktor. ■ Finanzkapital: Das Finanzkapital ist die dominierende Form des Ka‐ pitals. Es gibt einen starken Einfluss von Versicherungsgesellschaften, Pensionskassen und Investement-Fonds. Neue finanzielle Instru‐ mente wie Finanzderivate spielen eine wichtige Rolle. Der Neolibe‐ ralismus hat krisenanfällige, globale, unregulierte Finanzmärkte ge‐ schaffen. ■ Kapitalexport: Verglichen mit dem Zeitraum 1945-1975 ist der Kapi‐ talexport sehr viel wichtiger geworden. Transnationale Unternehmen sind ein neues Merkmal der Weltwirtschaft, die das Resultat des Um‐ schlages von Quantität in eine neue Qualität sind. Finanzen, Bergbau/ Steinbruch/ Erdöl, Handel und Information sind die wichtigsten wirt‐ schaftlichen Sektoren der ausländischen Direktinvestitionen. Das Fi‐ nanzkapital ist der dominierende Bereich sowohl bei den ausländi‐ schen Direktinvestitionen als auch im Welthandel. Transnationale Unternehmen (einschließlich transnationaler Kommunikationsunter‐ nehmen) operieren nicht vollständig global. Sie gründen in nationalen Wirtschaften, jedoch befindet sich ein gewisser Teil ihres Anlageka‐ pitals, ihrer Angestellten, Verkäufe, Profite und Tochterunternehmen außerhalb ihrer heimischen Wirtschaft, sodass eine Verknüpfung der 361 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 361 <?page no="362"?> nationalen und der transnationalen Operationen besteht. Transnati‐ onalität ist ein emergentes Merkmal, eine Strategie, ein Ausmaß und eine Tendenz. ■ Die wirtschaftliche Spaltung der Welt: In der Entwicklungsphase des globalen Kapitalismus zwischen 1975 und 2008 waren einströmende ausländische Direktinvestitionen zu einem Anteil von 70 zu 30 zwi‐ schen entwickelten und sich entwickelnden Wirtschaften verteilt; Weltimporte in einem Verhältnis von 65 zu 35 und Weltexporte in einem Verhältnis von 60 zu 40. Europa hatte die größten Abflüsse und Zuströme von ausländischen Direktinvestitionen. Afrika und große Teile Lateinamerikas waren von Kapitalanlagen praktisch ausge‐ schlossen. Asien zog erheblich wachsende Einströme an, mit China als dem wichtigsten Entwicklungsstandort für einströmende auslän‐ dische Direktinvestitionen. Nordamerikas Position als führende Ka‐ pitalexportregion hat seit 1945 deutlich abgenommen. Durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas ist Asien wirtschaftlich geworden und war 2008 für fast zehn Prozent aller Kapitalexporte verantwort‐ lich. Im Welthandel ist Europa die führende Importregion geblieben und Asien zu einer wichtigeren Importregion als Nordamerika ge‐ worden. Europa wurde zur stärksten Exportregion. Nordamerikas Po‐ sition hat deutlich abgenommen: der Anteil der Weltexporte ist von 30 Prozent im Jahr 1945 auf über 10 Prozent im Jahr 2008 gesunken. Das sich entwickelnde Asien wurde zur zweitgrößten Exportregion. China wurde zur wichtigsten sich entwickelnden Nation und damit zum wichtigsten Handelsstaat Asiens. ■ Die politische Spaltung der Welt: Militärkonflikte, die territoriale Kontrolle, globale Hegemonie und Gegenhegemonie anstreben, sind immanente Merkmale des neuen Imperialismus. 362 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 362 <?page no="363"?> Die Kapitalistische Entwicklung seit der Wirtschaftskrise 2008 Im Jahr 2008 löste die Finanzkrise des US-amerikanischen Immobilienmark‐ tes eine neue Weltwirtschaftskrise aus. Als Konsequenz davon ist das globale Bruttosozialprodukt von 64,4 Billionen US-Dollar im Jahr 2008 auf 60,1 Bil‐ lionen US-Dollar im Jahr 2009 gefallen, was ein Schrumpfen der Weltwirt‐ schaft um 5,2 Prozent bedeutete. Die US-Immobilienkrise hing mit der Ver‐ gabe von Subprime-Hypotheken, einem hochriskanten Finanzderivat, zusammen. Jedoch war die Finanzialisierung des Immobilienmarktes nicht die Ursache, sondern eher ein Symptom der Weltwirtschaftskrise. Das Grundproblem sind Rentabilitätsprobleme der gesamten kapitalistischen Wirtschaft, die das Kapital durch Finanzialisierung auszugleichen versucht. 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4 1.6 1.8 2.0 2.2 2.4 2.6 2.8 3.0 3.2 3.4 3.6 3.8 4.0 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Anteil des Abflusses weltweiter ausländischer Direktinvestitionen am globalen Bruttosozialprodukt, in % (Datenquellen: UNCTAD, WDI) Abbildung 11.2: Der Anteil des Abflusses (Outflow) der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen (ADI) am globalen Bruttosozialprodukt 363 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 363 <?page no="364"?> 15.0 16.0 17.0 18.0 19.0 20.0 21.0 22.0 23.0 24.0 25.0 26.0 27.0 28.0 29.0 30.0 31.0 32.0 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Anteil der weltweiten Exporte am globalen Bruttosozialprodukt, in % (Datenquellen: UNCTAD, WDI) Abbildung 11.3: Der Anteil der weltweiten Exporte am globalen Bruttosozialprodukt Abbildung 11.2 zeigt, dass der Anteil des neu vorgenommenen jährlichen Kapitalexportes am globalen Bruttosozialprodukt seit 2008 deutlich abge‐ nommen hat. Er ist von 0,5 Prozent im Jahr 1970 auf ein Hoch von 3,8 Prozent im Jahr 2007 gestiegen. 2017 war der Anteil hingegen nur 1,8 Prozent. Es gab einen ähnlichen Trend im Welthandel: Weltexporte erreichten im Jahr 2008 einen Höchststand von 31,1 Prozent am globalen Bruttosozialprodukt; im Jahr 2017 waren es nur mehr 28,2 Prozent. Während die Weltwirtschaft in der Phase von 1975 bis 2008 globaler wurde, gibt es seit 2008 Tendenzen zur Deglobalisierung. Dies bedeutet nicht das Ende des globalen Handels und der transnationalen Kapitalanlagen, sondern eher ihre Fortführung in langsamerem Tempo, mit Phasen der relativen Kontraktion und mit dem verstärkten Einsatz erhöhter Zollgebühren. 364 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 364 <?page no="365"?> 0.0 10.0 20.0 30.0 40.0 50.0 60.0 70.0 80.0 90.0 100.0 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Anteile an den weltweiten ausfließenden ausländischen Direktinvestitionen, in % (Datenquelle: UNCTAD) Sich entwickelnde Wirtschaften Übergangswirtschaften Entwickelte Wirtschaften Sich entwickelnde Wirtschaften ohne Festland-China Abbildung 11.4: Die globale Verteilung der ausfließenden ausländischen Direktin‐ vestitionen Land 1970 1980 2007 2017 Kanada 6,6% 7,9% 3,0% 5,4% China (inkl. Hongkong, Macau, Taiwan) N/ A 0,3% 4,7% 15,3% Frankreich 2,6% 6,0% 5,1% 4,0% Deutschland 7,6% 9,0% 7,9% 5,8% Italien 0,8% 1,4% 4,4% 0,3% Japan 2,5% 4,6% 3,4% 11,2% Niederlande 9,3% 9,3% 2,6% 1,6% Spanien 0,3% 0,6% 6,3% 2,9% Großbritannien 11,9% 15,1% 15,5% 7,0% Vereinigte Staaten 53,7% 37,0% 18,1% 23,9% Jungferninseln N/ A N/ A 2,3% 5,0% Tabelle 11.6: Länder mit den größten Anteilen der weltweiten ausfließenden aus‐ ländischen Direktinvestitionen; es werden alle Länder aufgelistet, die in einem der genannten Jahre einen Anteil > 4 % hatten, Datenquelle: UNCTAD 365 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 365 <?page no="366"?> Abbildung 11.4 und Tabelle 11.6 zeigen, dass westliche Wirtschaften die globale Kapitalinvestitionen seit den 1970er dauerhaft dominiert haben. Doch der Anteil, den die Industrieländer am globalen Kapitalexport haben, fiel von über 80 Prozent in den Jahren vor 2008 auf 58,0 Prozent im Jahr 2014. Gleichzeitig ist der Anteil, den sich entwickelnde Länder am weltweiten Kapitalexport haben, von 5,2 Prozent im Jahr 1980 auf 36,3 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Die wichtigste Entwicklung ist der Aufstieg des chinesischen Kapitals als globalem Investor. Im Jahr 2017 hatte das chinesische Kapital (einschließlich Kapital in Festland-China, Hongkong, Macau und Taiwan) einen Anteil von 15,3 Prozent an den weltweit ausfließenden ausländischen Direktinvestitionen (siehe Tabelle 11.6; Festland-China: 8,7 Prozent, Hong‐ kong 5,8 Prozent). Seit 2014 lässt sich ein bedeutender Wandel feststellen: Die Industrieländer haben ihren Anteil am weltweiten Kapitalexport von 58,0 Prozent im Jahr 2014 auf 70,6 Prozent im Jahr 2017 erhöht, während der Anteil sich entwickelnder Länder von 36,3 Prozent 2014 auf 26,6 Prozent 2017 gesunken ist. Die USA haben ihren Anteil von 18,1 Prozent im Jahr 2007 auf 23,9 Prozent im Jahr 2017 erhöht, und Japans Anteil ist von 3,4 Prozent auf 11,2 Prozent gestiegen, während die Anteile der dominanten europäischen Länder (Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Niederlande, Italien) kontinuierlich gefallen sind. Die USA sind weiterhin der weltweit größte Kapitalexporteur. 0.0 10.0 20.0 30.0 40.0 50.0 60.0 70.0 80.0 90.0 100.0 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Anteile an den weltweiten einströmenden ausländischen Direktinvestitionen, in % (Datenquelle: UNCTAD) Sich entwickelnde Wirtschaften Übergangswirtschaften Entwickelte Wirtschaften Sich entwickelnde Wirtschaften ohne Festland-China Abbildung 11.5: Die globale Verteilung der einströmenden ausländischen Direktin‐ vestitionen 366 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 366 <?page no="367"?> Abbildung 11.5 und Tabelle 11.7 analysieren die globale Struktur des Kapi‐ talimports als einströmende ausländische Direktinvestitionen. Die Entwick‐ lung der Anteile der Industrieländer und der sich entwickelnden Länder zeigt einen wellenförmigen Verlauf. Der gesamte Anteil der Industrieländer ist dabei größer als der der sich entwickelnden Länder, mit Ausnahme des Jahres 2014. Die wichtigste Entwicklung seit den 1970er-Jahren war der Aufstieg Chinas als eines der dominierenden Länder im Empfang von aus‐ ländischen Direktinvestitionen. Brasilien und Singapur haben ebenfalls wichtige Rollen bei Kapitalimporten gespielt. China war 2017 für 17,1 Pro‐ zent der einströmenden ausländischen Direktinvestitionen verantwortlich. Verhältnismäßig günstige Arbeitskräfte im Fertigungsbereich haben west‐ liches Kapital nach China gelockt. In die USA einströmende ausländische Direktinvestitionen sind zwischen 1980 und 2007 zurückgegangen, sind je‐ doch seither von 11,4 Prozent Anteil an den globalen ausländischen Direkt‐ investitionen im Jahr 2007 auf 19,3 Prozent im Jahr 2017 gestiegen. Land 1970 1980 2007 2017 Australien 6,7% 3,4% 2,2% 3,2% Belgien 2,4% 2,8% 4,9% 0,1% Brasilien 3,0% 3,5% 1,8% 4,4% Kanada 13,8% 10,7% 6,2% 1,7% China (inkl. Hongkong, Macau, Taiwan) 0,9% 0,1% 8,0% 17,1% Frankreich 4,7% 6,1% 3,4% 3,5% Deutschland 5,8% 0,6% 4,2% 2,4% Italien 4,7% 1,1% 2,3% 1,2% Niederlande 4,8% 4,6% 6,0% 4,1% Singapur 0,7% 2,3% 2,2% 4,3% Vereinigtes Königreich 11,2% 18,6% 9,3% 1,1% Vereinigte Staaten 9,5% 31,1% 11,4% 19,3% Tabelle 11.7: Länder mit dem größten Anteil der weltweiten einströmenden auslän‐ dischen Direktinvestitionen; es werden alle Länder aufgelistet, die in einem der ge‐ nannten Jahre einen Anteil > 4 % hatten, Datenquelle: UNCTAD 367 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 367 <?page no="368"?> 20.0 25.0 30.0 35.0 40.0 45.0 50.0 55.0 60.0 65.0 70.0 75.0 80.0 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Globale Verteilung der weltweiten Exporte, in % (Datenquelle: UNCTAD) Sich entwickelnde Wirtschaften Entwickelte Wirtschaften Sich entwickelnde Wirtschaften ohne Festland-China Abbildung 11.6: Die globale Verteilung der weltweiten Exporte 1980 2007 2017 China 2,0% 11,2% 15,4% Frankreich 6,4% 4,3% 3,5% Deutschland 9,4% 8,6% 7,6% Italien 4,1% 3,5% 2,7% Japan 6,2% 4,6% 3,8% Großbritannien 6,1% 4,4% 3,5% Saudi-Arabien 4,5% 1,4% 1,1% USA 11,4% 9,6% 10,2% Tabelle 11.8: Länder mit den größten Anteilen der weltweiten Exporte; es werden alle Länder aufgelistet, die in einem der genannten Jahre einen Anteil > 4 % hatten, Datenquelle: UNCTAD 368 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 368 <?page no="369"?> Abbildung 11.6 und Tabelle 11.8 präsentieren Daten zur Struktur der welt‐ weiten Exporte. Die Industrieländer dominieren den Weltexport, obwohl ihr Anteil von 76,1 Prozent im Jahr 1986 auf 53,7 Prozent im Jahr 2012 gesunken ist, wohingegen der Anteil der sich entwickelnden Länder von 21,2 Prozent auf 42,2 Prozent gestiegen ist. Seit 2012 gibt es eine leichte Gegentendenz: Der Anteil der Industrieländer ist auf etwa 56-57 Prozent in den Jahren 2016/ 2017 gestiegen, während der Anteil der sich entwickelnden Länder auf etwa 40 Prozent gesunken ist. China ist der weltgrößte Exporteur geworden: Es hat seinen Anteil an den weltweiten Exporten von 2,0 Prozent im Jahr 1980 auf 15,4 Prozent im Jahr 2017 vergrößert. Die Vereinigten Staaten haben ihren Anteil von unter 10 Prozent in den Jahren bis 2007 auf einen Wert von über 10 Prozent erhöht. Deutschland ist nach China und den USA der welt‐ weit drittgrößte Warenexporteur. Als exportorientiertes Land hat Deutsch‐ land fortlaufend eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft gespielt. 20.0 25.0 30.0 35.0 40.0 45.0 50.0 55.0 60.0 65.0 70.0 75.0 80.0 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Globale Verteilung der weltweiten Importe, in % (Datenquelle: UNCTAD) Sich entwickelnde Wirtschaften Entwickelte Wirtschaften Sich entwickelnde Wirtschaften ohne Festland-China Abbildung 11.7: Die globale Verteilung der weltweiten Importe 369 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 369 <?page no="370"?> 1980 2007 2017 China 2,0% 9,4% 14,5% Frankreich 6,5% 4,5% 3,8% Deutschland 9,6% 7,4% 6,6% Italien 4,6% 3,7% 2,5% Japan 6,6% 4,3% 3,8% Großbritannien 5,6% 5,0% 3,7% USA 12,2% 14,0% 13,1% Table 11.9: Länder mit den größten Anteilen der weltweiten Importe; es werden alle Länder aufgelistet, die in einem der genannten Jahre einen Anteil > 4 % hatten, Datenquelle: UNCTAD Abbildung 11.7 und Tabelle 11.9. präsentieren Daten über die Struktur der weltweiten Importe. Die Industrieländer dominieren die weltweiten Im‐ porte, obwohl ihr Anteil von 76,0 Prozent im Jahr 1987 auf 55,4 Prozent im Jahr 2013 gesunken ist, wohingegen der Anteil der sich entwickelnden Län‐ dern von 21,5 Prozent auf 41,1 Prozent gestiegen ist. Dieser Trend wurde seit 2014 leicht umgekehrt, indem der Anteil der Industrieländer leicht an‐ stieg und 2016 eine Höhe von 57,3 Prozent erreichte. Die wichtigste Ent‐ wicklung der weltweiten Importe seit 1980 war, dass China seinen Anteil von 2,0 Prozent auf 14,5 Prozent im Jahr 2017 erhöht hat, was es zum welt‐ größten Importeur macht. Die USA hat einen kontinuierlich großen Anteil der weltweiten Importe gehabt und war im Jahr 2017 der weltweit zweit‐ größte Importeur. Der Anteil der USA ist von 13,4 Prozent im Jahr 2015 leicht gefallen auf 13,1 Prozent im Jahr 2017. Die kapitalistische Wirtschaft operiert weiterhin zu einem wesentlichen Grad auf globaler Ebene, wobei sich ein gewisser Deglobalisierungstrend der Kapitalexporte und des ausländischen Handels seit Beginn der Welt‐ wirtschaftskrise 2008 zeigt. China spielt eine wichtige Rolle als der weltweit größte Exporteur und Importeur und als der weltweit zweitgrößte Kapital‐ importeur und -exporteur (nach den USA). Seit dem Jahr 2008 haben die USA ihre Dominanz der weltweiten Kapi‐ talexporte und -importe verstärkt. Ihr Anteil an den weltweiten Importen ist leicht gesunken, und ihr Anteil an den weltweiten Exporten hat sich leicht 370 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 370 <?page no="371"?> 38 Datenquelle: UNCTAD Statistics: Trade balance indicators 39 Ebd. 40 Ebd. erhöht. Insgesamt hatten die USA ein Handelsdefizit von 811 Milliarden US-Dollar im Jahr 2017 38 . In den frühen 1980ern betrug das US-Handelsde‐ fizit etwa 20 Milliarden US-Dollar. 39 Der Handelsbilanzüberschuss von Fest‐ land-China betrug im Jahr 2017 476 Milliarden US-Dollar, was es zum Land mit dem weltweit größten Handelsüberschuss machte, gefolgt von Deutsch‐ land mit einem Überschuss von 299 Milliarden US-Dollar. Weitere export‐ orientierte Länder mit großen Handelsüberschüssen sind Irland (121 Mrd. US-Dollar), Korea (120 Mrd. US-Dollar), Russland (115 Mrd. US-Dollar) und die Niederlande (102 Mrd. US-Dollar) 40 . Autoritärer Kapitalismus Krisen der kapitalistischen Wirtschaft, des Staates und der Ideologie sind oft Phasen der Instabilität, die zur Ausbildung neuer Merkmale der kapitalisti‐ schen Gesellschaft führen, welche wiederum die zuvor bestehenden Formen des Akkumulationsregimes, der Regulationsweise und der Weise der Diszi‐ plinierung und der dominanten Ideologie aufheben. Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 hat es Kritik am freien Handel sowohl von links als auch von rechts gegeben. Sozialistische Kritik am Neoliberalismus, an kapitalistischer Globalisierung und Freihandelsabkommen hat eine sehr viel längere Geschichte und hat sich seit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1970er Jahren hartnäckig gehalten. Sozialisten argumentieren, dass die Globalisierung des Neoliberalismus eine Strategie ist, um Profite zu stei‐ gern, indem Lohnkosten durch Outsourcing, Privatisierung öffentlicher Dienste und Ressourcen, Auflösung von Sozialhilfe und des Rechtsschutzes von Arbeitern und Wettbewerbsförderung gesenkt werden. Im Gegensatz dazu argumentieren rechte Kräfte, dass wirtschaftliche Globalisierung, Mi‐ gration und freier Handel zu neuer wirtschaftlicher Macht nichtwestlicher Staaten wie China geführt haben und Kapital und Arbeit im Westen negativ beeinträchtigt haben. Sie stellen Globalisierung als Bedrohung des wirt‐ schaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhalts des Nationalstaa‐ tes dar. Rechtsextreme Demagogen und Parteien treiben Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus als Antworten auf den globalen Kapitalismus voran. So‐ 371 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 371 <?page no="372"?> 41 Für eine detaillierte Analyse, siehe: Christian Fuchs. 2018. Digitale Demagogie. Autori‐ tärer Kapitalismus im Zeitalter von Trump und Twitter. Hamburg: VSA. zialisten dagegen plädieren dafür, globales und nationales Kapital zu regu‐ lieren und angemessen zu besteuern; für globale Solidarität unter Arbeitern und Gewerkschaften in Klassenkämpfen gegen den Kapitalismus; das Lohn‐ niveau und Sozialleistungen aller Arbeiter zu verbessern; die Sozialpolitik lokal, regional, national und global zu stärken und die Arbeiter aller Länder im Kampf gegen das Kapital zu vereinen. Die extreme Rechte möchte na‐ tionales Kapital schützen, ohne die Ausbeutung von Arbeitern auf nationaler und internationaler Ebene zu thematisieren. Sie zeichnet nichtwestliche Na‐ tionen und Kulturen als Feinde und propagiert die Existenz eines nationalen Interesses. Das Argument eines politischen, wirtschaftlichen und kulturel‐ len Konflikts zwischen den Nationen lenkt die Aufmerksamkeit von der Tragweite des globalen Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit ab. Während die Rechte nationalistische und fremdenfeindliche Politik als Ant‐ wort auf die Probleme des globalen Kapitalismus voranbringt, plädiert die Linke für eine globale sozialistische Politik. In den Jahren nachdem die neue Weltwirtschaftskrise begann, wurde die Politik des rechten Nationalismus viel mehr gestärkt als die sozialistische Politik. Als Teil davon ist eine bestimmte Art von Protektionismus gestärkt worden, zu dem die Erhöhung von Zollgebühren gehört. Das deutlichste Zeichen des Aufstiegs rechts-autoritärer kapitalistischer Politik war Donald Trumps Erfolg in der US-Präsidentschaftswahl 2016. Der autoritäre Kapita‐ lismus ist nicht das Ende des neoliberalen Kapitalismus, sondern seine Auf‐ hebung und Fortführung, wodurch neue Mermale emergieren wie die starke Dominanz des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus; autoritäre Herrschaft; die Freund-Feind-Politik; unterdrückerische politi‐ sche Rhetorik und eine gegen identifizierte Feinde gerichtete Politik 41 . Donald Trump hat im Wahlkampf 2016 sein ökonomisches Denken in einer wirtschaftspolitischen Rede zusammengefasst: „Amerikas jährliches Handelsdefizit beträgt jetzt fast 800 Milliarden US-Dollar im Jahr - ein riesiger Wachstums-Dämpfer. Zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Jahr 2000 erreichten die Vereinigten Staaten eine durchschnittliche Wachstumsrate von 3,5 Prozent. Aber nachdem China der Welthandelsorganisa‐ tion beigetreten ist, wurde unsere durchschnittliche Wachstumsrate auf nur 2 Prozent reduziert. Räuberische Handelspraktiken, Produktdumping, Währungs‐ 372 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 372 <?page no="373"?> 42 Übersetzung aus dem Englischen: Donald Trump 2016. Rede zu Arbeitsplätzen und der Wirtschaft. 15. September 2016. http: / / time.com/ 4495507/ donald-trump-economy-spee ch-transcript/ , aufgerufen am 11. September 2018. manipulation und Diebstahl geistigen Eigentums haben unser Land Millionen von Jobs und Billionen an Vermögen gekostet. Es ist kein großes Geheimnis, dass viele der Spezialinteressen, die die Kampagne meiner Gegnerin finanzieren, die glei‐ chen Leute sind, die von diesen schrecklichen Handelsabkommen profitieren. […] Wir fangen mit NAFTA an, das unserem Land so viel Schaden zufügt. Wir werden NAFTA komplett neu aushandeln und zu einem Deal machen, der entweder gut für uns ist oder beendet wird, bis ein brandneuer und produktiver Deal abge‐ schlossen werden kann. […] Als nächstes werde ich meinen Finanzminister an‐ weisen, China als Währungsmanipulator zu kennzeichnen und jedem Land Zoll‐ gebühren zu berechnen, das seine eigene Währung entwertet, um einen ungerechten Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten zu erlangen” 42 . Donald Trumps Wirtschaftsstrategie beinhaltet die Reduzierung der Importe durch die USA und die Verstärkung der Rolle im Export von Waren. Damit will er Chinas Rolle in Kapital- und Warenexporten schwächen und den Staat benutzen, um US-Unternehmenssteuern drastisch zu senken und dem US-Kapital dabei zu helfen, öffentliche Ressourcen und Dienstleistungen zu kommerzialisieren. Seine Wirtschaftspolitik basiert auf dem ideologischen Glauben, dass es keinen kapitalistischen Klassenwiderspruch zwischen Ka‐ pital und Arbeit gibt, sondern einen nationalen Widerspruch zwischen dem amerikanischen Kapital und der US-Arbeit als vereinte Nation, mit einem einheitlichen Interesse auf der einen Seite und fremden Nationen auf der anderen. „America First” bedeutet für Trump eine gegen Einwanderer und Geflüchtete gerichtete Politik. Einwanderer, Flüchtlinge und Farbige werden als Sündenböcke dargestellt. Staatlicher Macht wird gebraucht, um die Aus‐ beutung von US- und anderen Arbeitern durch das US-Kapital zu vertiefen und dessen Dominanz des Kapital- und Warenexportes auszubauen. Trump glaubt an einen keynesianischen Neoliberalismus, in dem der Staat seine legislative Macht und das Geld der Steuerzahler nutzt, um die Interessen des US-Kapitals zu unterstützen. Zu diesen Kapitalinteressen zählen Privatisie‐ rung, die Übernahme der Kontrolle über öffentliche Ressourcen und die Do‐ minanz der internationalen Märkte und der internationalen Kapitalinvesti‐ tionen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Trump 2018 erhöhte Zollgebühren eingeführt. Diese Zollgebühren beinhalten beispielsweise eine Pauschalge‐ bühr von 25 Prozent auf Stahlimporte und 10 Prozent auf Aluminium (mit 373 11.3. Kapitalismus und Globalisierung 373 <?page no="374"?> Ausnahmen für Argentinien, Australien, Brasilien und Südkorea), 30 Pro‐ zent auf Solarzellen, eine variable Gebühr zwischen 16 und 50 Prozent auf Waschmaschinen und Gebühren auf Tausende weitere chinesische Pro‐ dukte. Andere Länder belegten US-Exporte mit Vergeltungszollgebühren. Die EU hat beispielsweise höhere Gebühren auf Importe von Aluminium, Booten, Kleidung, Kosmetik, Stahl und Waschmaschinen aus den USA ein‐ geführt. Basierend auf dem Begriff des globalen Kapitalismus können wir im nächsten Abschnitt die Rolle der Kommunikation im globalen Kapitalismus beleuchten. 11.4. Kommunikation, Kapitalismus und Globalisierung Die Dialektik der Kommunikation und der Globalisierung im Kapitalismus Bereits die Römer machten Gebrauch von Netzwerken postalischer Kom‐ munikation. Die Erfindung der Druckerpresse im fünfzehnten Jahrhundert ermöglichte eine neue, effizientere Form der Verbreitung schriftlicher Kom‐ munikation über die Grenzen geschlossener Gemeinschaften hinaus. Mit dem Aufkommen des Industrialismus und der modernen Gesellschaft wurde die Kommunikation durch technischen Fortschritt vom physischen Trans‐ port entkoppelt. Netzwerke von Unterwasserkabeln, die für die Telegraphie verwendet wurden, wurden eingerichtet und begründeten das erste globale Kommunikationssystem. Das 20. Jahrhundert hat einen nie dagewesenen Anstieg der Intensität, des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der globalen Kommunikation gesehen, der eng mit dem Aufkommen von Radio, Fernse‐ hen, Satellitenübertragung, der mikroelektronischen Revolution, Glasfaser‐ netzen, digitaler Datenverarbeitung und dem Internet zusammenhängt. Marx betont die Beziehung von wirtschaftlicher Globalisierung und den Kommunikationstechnologien: „Wenn einerseits mit dem Fortschritt der ka‐ pitalistischen Produktion die Entwicklung der Transport- und Kommuni‐ kationsmittel die Umlaufszeit für ein gegebenes Quantum Waren abkürzt, so führt derselbe Fortschritt und die mit der Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel gegebene Möglichkeit - umgekehrt die Notwendig‐ keit herbei, für immer entferntere Märkte, mit einem Wort, für den Welt‐ 374 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 374 <?page no="375"?> 43 Karl Marx. 1885/ 1893/ 1963. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationssprozeß des Kapitals. MEW Band 24. Berlin: Dietz. Das Kapital. S. 254. 44 Karl Marx. 1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 475. markt zu arbeiten” 43 . Transport- und Kommunikationsmittel sind „Waffen zur Eroberung fremder Märkte“ 44 . Kommunikationstechnologien sind die Mittel und die Folge der Globali‐ sierung des Kapitalismus. Auf der einen Seite ermöglichen sie die Überwin‐ dung der zeitlichen und räumlichen Distanz, sodass lokale Prozesse durch globale beeinflusst werden und umgekehrt. Kommunikationstechnologien vereinfachen globale Kommunikation und den Welthandel. Sie treiben die Globalisierung, das Outsourcing und die Flexibilisierung der Produktion voran. Sie sind ein Mittel der territorialen Umstrukturierung des Kapitalis‐ mus. Die Erzeugung von Produktionsnetzwerken, die typisch für transna‐ tionale Unternehmen sind, wurde durch digitale Kommunikationstechno‐ logien stark vereinfacht. Kommunikationstechnologien sind außerdem ein Resultat der wirtschaftlichen Umstrukturierungsbewegungen, die typisch für das Kapital sind. Um die Kapitalakkumulation zu optimieren, muss das Kapital die Produktivität und die Geschwindigkeit sowie die Reichweite der Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Gütern erhöhen. Als Konse‐ quenz davon strebt das Kapital die Entwicklung neuer Produktions- und Kommunikationsmittel an. Schifffahrt, die Eisenbahn, das Telegramm, das Telefon, Radio, Fernsehen, das Automobil, das Flugzeug, der Computer und das Internet sind das Resultat des Triebes des Kapitalismus, die Wirtschaft zu beschleunigen und zu globalisieren, um die Kapitalakkumulation zu op‐ timieren. Die Rolle der Kommunikationstechnologien in der Verdichtung von Raum und Zeit David Harvey argumentiert in diesem Zusammenhang, dass es eine „Ge‐ schichte sukzessiver Wellen der Zeit-Raum-Kompression“ gibt, die „aus dem Druck entstanden ist, den die Kapitalakkumulation mit ihrem konstanten Versuch, den Raum durch die Zeit zu vernichten und die Umschlagszeit zu 375 11.4. Kommunikation, Kapitalismus und Globalisierung 375 <?page no="376"?> 45 Übersetzung aus dem Englischen [„history of successive waves of time-space compres‐ sion generated out of the pressures of capital accumulation with its perpetual search to annihilate space through time and reduce turnover time”]: David Harvey. 1990. The Condition of Postmodernity. Oxford. Blackwell. S. 307. 46 Übersetzung aus dem Englischen ["I use the word 'compression' because a strong case can be made that the history of capitalism has been characterized by speed-up in the pace of life, while so overcoming spatial barriers that the world sometimes seems to collapse inwards upon us"]: Ebd., S. 240. 47 Übersetzung aus dem Englischen [The “time horizons of both private and public deci‐ sion-making have shrunk, while satellite communication and declining transport costs have made it increasingly possible to spread those decisions immediately over an ever wider and variegated space"]: Ebd., S. 147. 48 Übersetzung aus dem Englisch [“Given the pressures to accelerate turnover time (and to overcome spatial barriers), the commodification of images of the most ephemeral sort would seem to be a godsend from the standpoint of capital accumulation, particu‐ larly when other paths to relieve over-accumulation seems blocked. Ephemerality and instantaneous communicability over space then become virtues to be explored and ap‐ propriated by capitalists for their own purposes“]: Ebd., S. 288. reduzieren, ausübt“ 45 . „Ich verwende das Wort »Kompression«, da vieles dafürspricht, dass die Geschichte des Kapitalismus durch eine Beschleuni‐ gung des Lebenstempos charakterisiert worden ist, wodurch räumliche Bar‐ rieren überwunden werden, sodass die Welt manches Mal auf uns nach In‐ nen zusammenzubrechen scheint“ 46 . Harvey argumentiert, dass die kapitalistische Krise Mitte der 1970er Jahre in der Entstehung eines flexiblen Regimes der Kapitalakkumulation und einer neuen Phase der Zeit-Raum- Kompression, die das Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien be‐ inhaltet, resultierte. Die „Zeithorizonte sowohl der privaten als auch der öffentlichen Entscheidungsfindungen haben abgenommen, während Satel‐ litenkommunikation und abnehmende Transportkosten es zunehmend möglich gemacht haben, diese Entscheidungen unmittelbar über einen im‐ mer weiteren und mannigfaltigeren Raum zu verbreiten“ 47 . „Aufgrund des Druckes, die Umschlagszeit zu beschleunigen (und die räumlichen Grenzen zu überwinden), scheint die Kommodifizierung von Bildern der kurzlebigs‐ ten Art vom Standpunkt der Kapitalakkumulation eine Gottesgabe zu sein, insbesondere dann, wenn andere Pfade zur Entlastung der Überakkumula‐ tion blockiert zu sein scheinen. Die Kurzlebigkeit der Kommunikation und die unverzögerte Kommunizierbarkeit im Raum werden dann zu Tugenden, die das Kapital erkundet und sich für seine Zwecke aneignet” 48 . Um zu funktionieren, benötigt der Kapitalismus neue Technologien und Formen der Organisation, die die Produktion beschleunigen und flexibili‐ sieren. Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Globalisie‐ 376 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 376 <?page no="377"?> 49 Übersetzung aus dem Englischen [“The coercive laws of competition push capitalists to relocate production to more advantageous sites“]: David Harvey. 2006. Spaces of Glo‐ bal Capitalism. London: Verso. S. 98. 50 Marx, Grundrisse, S. 105. 51 Ebd., S. 430. rung und der technologischen Beschleunigung des Transportes (von Daten, Kapital, Gütern, Menschen), die die Welt in dem Sinne zu einem kleineren Ort machen, dass soziale Beziehungen so vermittelt werden, dass Distanzen scheinbar verschwinden. Der technologische Fortschritt hat zu einer wach‐ senden Trennung des Informationsverkehrs von seinen Trägern geführt. Der Informationsverkehr hat schneller an Geschwindigkeit gewonnen als die Reise von Körpern. Der Wettbewerb treibt Kapitalisten an, immer billigere und neue Produk‐ tionsräume zu suchen: „Die Zwangsgesetze des Wettbewerbs drängen die Kapitalisten dazu, die Produktion an vorteilhaftere Standorte auszula‐ gern“ 49 . Die Globalisierung der Produktion verlängert die Umschlagszeit des Kapitals - die gesamte Zeit, die es für die Produktion und den Verkauf von Gütern braucht -, da die Güter von einem Ort zum anderen transportiert werden müssen. Als Konsequenz daraus strebt der Kapitalismus danach, technische Innovationen des Transportes und der Kommunikation zu ent‐ wickeln, um die Produktion und den Vertrieb von Gütern und die Zirkulation des Kapitals zu beschleunigen. „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließ‐ lich alle Ökonomie auf ” 50 . Es herrscht eine Dialektik zwischen moderner Kommunikationstechno‐ logie und der Globalisierung der Produktion und Zirkulation. Kommunika‐ tionstechnologien formen und werden geformt durch die Transformation der gesellschaftlichen Raum-Zeit-Beziehungen. Marx stellt diese Einsicht in den Grundrissen auf folgende Art dar: „Das Kapital treibt seiner Natur nach über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der physischen Be‐ dingungen des Austauschs - von Kommunikations- und Transportmitteln wird also für es in ganz andrem Maße zur Notwendigkeit - die Vernichtung des Raums durch die Zeit” 51 . Die raumzeitliche Distanzierung der Produktion erfordert physische und linguistische Produktions- und Vertriebstechnologien. Die Kommunikation ist ein wichtiges Mittel der Organisierung von Arbeit und menschlicher Ak‐ tivität im Raum und in der Zeit und über raumzeitliche Distanzen hinweg. Die Speicherung von Information ermöglicht die Organisation der Wirt‐ schaft und der Gesellschaft über raumzeitliche Distanzen und über Genera‐ 377 11.4. Kommunikation, Kapitalismus und Globalisierung 377 <?page no="378"?> tionen hinweg. Die gesellschaftliche Entwicklung ist daher mit der Ent‐ wicklung von Informationstechnologien verbunden, die Information über menschliche soziale Beziehungen speichern und vertreiben. Zu solchen In‐ formationstechnologien zählen zum Beispiel die menschliche Erinnerung, Traditionen, Mythen, Kunst, Aufzeichnungen, Listen, Zeittafeln, das Buch, Bibliotheken, Archive, Schulen, Universitäten, Zeitungen, das Telegramm, das Telefon, das Radio, das Fernsehen, Kino, Datenbanken, Computer, die computervermittelte Kommunikation, das Internet, Schallplatten, Kasset‐ ten, CDs, DVDs, Blu-Ray-Discs, digitale Festplatten, Server, FTP, Cloud- Speicherung etc. Die Vermittlung der Kommunikation ist mit verschiedenen Organisati‐ onsformen des Raumes und der Zeit verbunden. Kommunikation kann zur gleichen Zeit oder zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden (synchrone/ asynchrone Kommunikation) und am gleichen Ort oder an verschiedenen Orten. Die Kommunikationsmittel ermöglichen die zeitliche und räumliche Entfernung der Kommunikation und erschaffen gleichzeitig gemeinschaft‐ liche soziale Kommunikationsräume, die die entbettete Kommunikation wiedereinbetten. Die Menschen können mithilfe von Kommunikationstech‐ nologien auf mobile Art Distanzen überwinden, miteinander in Verbindung bleiben und kommunizieren. „Kulturimperialismus“ Kulturimperialismus wurde oft als die weltweite Dominanz US-amerikani‐ scher kapitalistischer Massen- und Konsumkultur gedeutet. Begriffe wie Amerikanisierung, McDonaldisierung, Coca-Kolonialismus oder Disneyfi‐ zierung werden als Synonyme für dieses Verständnis des Kulturimperialis‐ mus verwendet. Kulturimperialismus ist ein allgemeinerer Begriff als Me‐ dienimperialismus. Er umfasst neben den Medien auch Sport, Nahrung, Religion, Kleidung etc. Herbert Schiller sprach in den späten 1960er Jahren 378 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 378 <?page no="379"?> 52 Herbert. Schiller. 1969/ 1992. Mass Communications and American Empire. Boulder, CO: Westview Press. Aktualisierte zweite Auflage. Für einen Überblick zur Diskussion des kulturellen Imperialismus, siehe: Peter Golding & Phil Harris, Hrsg. 1997. Beyond Cul‐ tural Imperialism. Globalization, Communication, and the New International Order. Lon‐ don: Sage. Daya Kishan Thussu. 2019. International Communication: Continuity and Change. London: Bloomsbury Academic. Dritte Auflage. Oliver-Boyd Barrett & Tanner Mirrlees, Hrsg. 2020. Media Imperialism: Continuity and Change. Lanham, MD: Rowman & Littlefield. 53 Übersetzung aus dem Englischen [“enormous growth of transnational corporate power”]: Herbert I. Schiller, 1991. Not-Yet the Post-Imperialist Era. In International Communication. A Reader, ed. Daya Kishan Thussu, Kapitel 14. Oxon: Routledge. S. 252. 54 Übersetzung aus dem Englischen [“distinguishable from the same services at tie disposal of American-owned corporations”]: Ebd., S. 249. 55 Übersetzung aus dem Englischen [“What is emerging, therefore, is a world where alongside the American output of cultural product are the practically identical items marketed by competing national and transnational groups“]: Ebd., S. 254. von der Entstehung eines amerikanischen Imperiums 52 , das kommerzielle Kultur und die amerikanische Lebensweise propagiert, insbesondere durch Film, Radio und Fernsehen. Doch der Kapitalismus hat sich seit den 1960er Jahren verändert. Im Kon‐ text des Aufstieges des neoliberalen Kapitalismus und des neuen Imperia‐ lismus hat Schiller seinen eigenen Ansatz revidiert und argumentiert, dass die entscheidende Entwicklung das „enorme Wachstum der transnationalen Kapitalmacht” sei 53 . Transnationale Unternehmen globalisieren das kapita‐ listische Modell, Profitgewinnung, Kapitalakkumulation, die Privatisierung (von Kommunikation und anderen Dienstleistungen), Ungleichheiten, Wer‐ bung, kulturelles Sponsoring, Public Relations und Konsumismus. Die Uni‐ versalisierung des Kapitalismus ist nicht die Konsequenz der amerikani‐ schen Kultur, sondern der imperialistischen Logik, die dem Kapitalismus im Allgemeinen innewohnt. Die Globalisierung des Kapitalismus dient dem In‐ teresse der kapitalistischen Klasse, Waren international zu produzieren, zu vertreiben und zu verkaufen. Nichtwestliche Medienunternehmen sind kaum „unterscheidbar von den‐ selben Diensten, die unter der Verfügung von amerikanischen Konzernen stehen“ 54 . „Es entsteht daher eine Welt, in der neben der amerikanischen Erzeugung von Kulturprodukten praktisch identische Artikel von konkur‐ rierenden nationalen und internationalen Konzerngruppen vermarktet wer‐ den“ 55 . So haben zum Beispiel Produktplazierungen und Werbepausen bei brasilianischen Seifenopern denselben Zweck wie bei US-amerikanischen Seifenopern, nämlich Waren zu verkaufen, die von transnationalen Konzer‐ 379 11.4. Kommunikation, Kapitalismus und Globalisierung 379 <?page no="380"?> 56 Übersetzung aus dem Englischen [““transnational corporations who advertise in Brazil as well as in the United States”]: Ebd., S. 255. 57 Siehe: Christian Fuchs. 2010. Critical Globalization Studies and the New Imperialism. Critical Sociology 36 (6): 839-867. Christian Fuchs. 2010. New Imperialism: Information and Media Imperialism? Global Media and Communication 6 (1): 33-60. Christian Fuchs. 2016. Digital Labor and Imperialism. Monthly Review 67 (8): 14-24. 58 Ebd. nen produziert werden, die sowohl „in Brasilien als auch in den Vereinigten Staaten werben“ 56 . Der wichtigste kulturelle Antagonismus des neuen Im‐ perialismus ist nicht einer zwischen westlicher und nichtwestlicher Kultur, sondern der zwischen der kapitalistischen und der nichtkapitalistischen Kultur. Er prägt sowohl den Westen als auch den globalen Süden, die beide zum Neoliberalismus neigen. Einige Beobachter argumentieren, dass den westlichen Strömen globaler Kultur durch Gegenströme entgegengewirkt werde, die aus dem globalen Süden stammen. Dazu werden unter anderem Bollywood, Nollywood, japa‐ nische Videospiele, brasilianische und mexikanische Telenovelas, von Al-Ja‐ zeera, CGTN und Russia Today bereitgestellte Nachrichten etc. gezählt. An‐ dere argumentieren, dass bei der Analyse von globalen kulturellen Strömen und Gegenströmen auch die globale Machtverteilung in Betracht gezogen werden muss (Profite, Einflüsse, Marktanteile etc.). Ein kultureller Gegen‐ strom ist nicht ein Gegenstrom, da er von einer bestimmten Nation oder Region stammt, sondern kann nur dann ein Gegenstrom sein, wenn sein Inhalt kritisch und seine soziale Form nicht-kapitalistisch ist. Keine einzelne Nation, kein einziger Nationenblock, keine Nationalkultur und Medien-/ Kulturindustrie, sondern nur der Sozialismus ist ein Gegenstrom zum Ka‐ pitalismus. Es ist wichtiger, zu zeigen, dass der neue Imperialismus und der globale Kapitalismus einen globalen digitalen, kulturellen und kommunikativen Ka‐ pitalismus enthalten, statt zu versuchen, zu zeigen, dass die globale Kultur imperialistisch ist (Hypothese des Medien-/ Kulturimperialismus). Der neue Imperialismus ist nicht vorwiegend ein Medien- oder Informationsimperi‐ alismus, da eine solche Annahme impliziert, dass die Medien und Informa‐ tion heutzutage die wichtigsten Merkmale kapitalistischer Konzentration, des Welthandels und der Kriegsführung sind, was offensichtlich nicht der Fall ist 57 . Die Medien und Information spielen zwar eine wichtige Rolle im neuen Imperialismus, jedoch sind sie mit dem Finanzkapital und der fort‐ gesetzten Wichtigkeit fossiler Brennstoffe artikuliert 58 . Letztere sind eine 380 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 380 <?page no="381"?> 59 Ebd. Ressource, die imperialistische Kriegsführung angeregt hat. Die Medien sind durch imperialistische Merkmale wie Konzentration und Transnationalisie‐ rung gekennzeichnet, weshalb von einem imperialistischen Charakter der Medien innerhalb des neuen Imperialismus gesprochen werden kann, je‐ doch nicht von der Existenz eines Medienimperialismus 59 . 11.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die Hauptergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Der Raum ermöglicht das Nebeneinander von Einheiten. Ein sozialer Raum ist eine begrenzte Kombination und Verbindung sozialer Be‐ ziehungen, Strukturen, Praktiken, sozialer Systeme und Institutionen. Menschen produzieren soziale Räume durch räumliche Praxis in so‐ zialen Beziehungen. Soziale Praktiken und Strukturen werden in In‐ formationsstrukturen repräsentiert. Repräsentationen des Raumes und der repräsentative Raum sind deshalb wichtige Dimensionen des sozialen Raumes. Die Gesellschaft hat eine soziale, eine informatio‐ nelle und eine räumliche Dimension. Diese Dimensionen interagieren. Absoluter, relativer und relationaler Raum bilden drei Formen des Raumes. ■ Die Globalisierung ist ein Aspekt der Gesellschaftsgeschichte. Es gibt wirtschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen der Globali‐ sierung. Das Kapital überwindet nationale Grenzen und organisiert sich auf der transnationalen Ebene, um 1) billige(re) Arbeitskraft, 2) billige(re) Produktionsmittel, 3) Rohstoffmärkte und 4) Anlagemög‐ lichkeiten zu finden. Neue Transport- und Kommunikationstechno‐ logien sind Mittel und Ergebnis der Globalisierung des Kapitalismus. Globalisierung und Deglobalisierung als Merkmale einer Gesellschaft sind oft das Resultat von Krisen. ■ Nach der Krise Mitte der 1970er-Jahre entstand eine neue Phase ka‐ pitalistischer Entwicklung. Der Neoliberalismus und die globale Aus‐ lagerung der Arbeit durch Unternehmen, die auf höhere Profite durch geringere Lohnkosten abzielen, sind integrale Bestandteile dieser Phase kapitalistischer Entwicklung, die am treffendsten als neuer im‐ 381 11.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 381 <?page no="382"?> perialistischer Kapitalismus bezeichnet werden kann. Verglichen mit der Phase von 1945 bis 1975 gab es einen signifikanten Anstieg der globalen Aktivitäten (ausländische Direktinvestitionen) der großen Unternehmen, des Welthandel und der globalen Finanzströme. ■ China ist zum weltgrößten Importeur und Exporteur und zu einem bedeutenden Empfänger von ausländischen Direktinvestitionen ge‐ worden. Die chinesische Wirtschaft hat sich rasant weg von der Do‐ minanz der Landwirtschaft hin zur Dominanz der Herstellung von Waren und Dienstleistungen entwickelt. ■ Die Weltwirtschaftskrise 2008 hat eine neue Phase kapitalistischer Entwicklung ausgelöst. Sie hat den Neoliberalismus nicht beendet, aber in einigen Teilen der Welt den Wandel in Richtung eines autori‐ tären Kapitalismus bewirkt, der mit dem Neoliberalismus gepaart ist. Der autoritäre Kapitalismus zeichnet sich durch Nationalismus, Frem‐ denfeindlichkeit, hierarchische Führung und repressive staatliche Po‐ litik aus. Der Nationalismus lenkt die Aufmerksamkeit von Klassen‐ konflikten ab. Der autoritäre Kapitalismus hat außerdem eine Tendenz zur Deglobalisierung der Wirtschaft und einen Hang zum keynesianischen Neoliberalismus. Er steht Freihandelsabkommen kri‐ tisch gegenüber und neigt zum Protektionismus der Wirtschaft. Die einzig wirkliche Alternative zum autoritären Kapitalismus ist eine sozialistische Politik der weltweiten Arbeiterklassensolidarität. ■ Kommunikationstechnologien sind ein Mittel und Resultat der Glo‐ balisierung des Kapitalismus. Es herrscht eine Dialektik zwischen moderner Kommunikationstechnologie und der Globalisierung der Produktion und Zirkulation. Die Entstehung der vernetzten Compu‐ tertechnologien steht im Kontext eines flexiblen Akkumulationsregi‐ mes und einer neuen Phase der Zeit-Raum-Kompression. Die Begriffe des Kultur- und Medienimperialismus sind in gewisser Weise be‐ grenzt, da sie die Gefahr der nationalistischen Idealisierung des nicht‐ westlichen Kapitalismus beinhalten. Keine einzelne Nation, kein ein‐ ziger Nationenblock, keine Nationalkultur und keine Medien-/ Kulturindustrie, sondern nur der Sozialismus ist ein Gegenstrom zum Kapitalismus. Die kapitalistische Globalisierung als Universalisierung der kapitalistischen Logik und der Warenform auf der globalen Ebene der Gesellschaft wirft die Frage auf, ob es Alternativen gibt. Das nächste Kapital wird sich mit dieser 382 11. Globale Kommunikation und Imperialismus 382 <?page no="383"?> Frage auseinandersetzen, indem es Aspekte der kommunikativen Gemein‐ güter diskutiert. Es eröffnet den dritten Teil des vorliegenden Buches, der transzendentale Aspekte des kommunikativen Materialismus analysiert, nämlich die Gemeingüter, Liebe/ Tod und Kämpfe für Alternativen. 383 11.5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 383 <?page no="385"?> Teil III: Die Materialistische Transzendenz des Kommunikativen Kapitalismus <?page no="387"?> 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter Der Marxismus ist nicht nur eine Kritik, sondern hat auch eine Vision einer guten Gesellschaft - eine Gesellschaft der Gemeingüter. Dieses Kapitel ar‐ gumentiert, dass eine wahre Kommunikationsgesellschaft eine Gesellschaft der Gemeingüter ist. Zuerst wird die Idee der Kommunikation als gemein‐ sames gesellschaftliches Handeln vorgestellt (Abschnitt 12.1). Zweitens wer‐ den Grundlagen der marxistischen Ethik behandelt (12.2). Drittens werden Aspekte der Ethik der Gemeingüter und der kommunikativen Gemeingüter diskutiert (12.3). 12.1. Kommunikation als gemeinsames gesellschaftliches Handeln Der Begriff „Kommunikation“ kommt vom lateinischen Verb communicare and dem Hauptwort communicatio. Communicare bedeutet teilen, infor‐ mieren, vereinen, teilnehmen und etwas vergemeinschaften. Eine herr‐ schaftsförmige und klassengespaltene Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit partikularistischer Kontrolle. Kämpfe zur Stärkung der Gemeingüter zielen im Gegensatz darauf ab, Klasse und Fremdbestimmung aufzuheben und die Gesellschaft unter gemeinschaftliche Kontrolle zu stellen. In einer gemein‐ gutorientierten Wirtschaft stehen die Produktionsmittel im kollektiven Ei‐ gentum. In einem gemeingutorientierten politischen System kann jeder die kollektive Entscheidungsfindung beeinflussen und an ihr teilnehmen. In ei‐ ner gemeingutorientierten Kultur wird jeder anerkannt. In einer derartigen partizipativen Demokratie sprechen und kommunizieren die Menschen mit gemeinsamer Stimme. Sie besitzen und entscheiden zusammen und aner‐ kennen einander wechselseitig an. Eine wahre Kommunikationsgesellschaft ist nicht eine Gesellschaft, in der die Menschen kommunizieren, denn kommunizieren müssen sie in allen Gesellschaften, um zu überleben. Bei einer wahren Kommunikationsgesell‐ schaft handelt es sich auch nicht um eine Informationsgesellschaft, in der <?page no="388"?> 1 Karl Marx. 1842. Die Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags. Erster Artikel: De‐ batten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen. In Marx Engels Werke (MEW) Band 1, 28-77. Berlin: Dietz. S. 71 2 Raymond Williams. 1976. Communications. Harmondsworth: Penguin Books. S. 130-137. 3 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 131. 4 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 131. Wissen sowie Informations- und Kommunikationstechnologien strukturie‐ rende Prinzipien darstellen. Eine wahre Kommunikationsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die ursprüngliche Bedeutung der Kommunikation als Vergemeinschaftung (verstanden als die Verwandlung von Gütern in Gemeingüter) das zentrale Organisationsprinzip ist. Die Gesellschaft und daher auch die Kommunikation entsprechen dann dem Wesen der Kommu‐ nikation. Eine Kommunikationsgesellschaft ist eine gemeinschaftlich kon‐ trollierte Gesellschaft, in der die Kommunikation derart aufgehoben wird, sodass sie vom allgemeinen Prozess der Produktion der Sozialität zum grundlegenden Prinzip der Gesellschaft wird. Eine Kommunikationsgesell‐ schaft realisiert auch die Identität von communicare (kommunizieren, ver‐ gemeinschaften) und communis (Gemeinschaft). Die Gesellschaft wird zu einer Gemeinschaft der Gemeingüter. Eine derartige Gesellschaft ist eine gemeingutorientierte Gesellschaft. Gemeingutorientierte Medien ermögli‐ chen Kommunikation, deren erste Freiheit darin besteht, „kein Gewerbe zu sein“ 1 . Demokratische Kommunikationsmittel Eine Gesellschaft der Gemeingüter ist eine wichtige Grundlage demokratischer Kommunikationssysteme. In seinem Buch Communications unterscheidet Raymond Williams zwischen autoritären, paternalistischen, kommerziellen und demokratischen Organisationsformen der Medien 2 . Die ersten drei Kommuni‐ kationssysteme sind politische, kulturelle und kommerzielle Manifestationen der instrumentellen Vernunft. Bei autoritären Kommunikationssystemen gibt es Manipulation, Zensur und staatliche Kontrolle: Die „Aufgabe der Kommunikation [in autoritären Systemen] ist es, eine Gesellschaftsordnung auf der Basis der Macht einer Minderheit zu beschüt‐ zen, aufrechtzuerhalten und zu befördern” 3 . Paternalistische Kommunikati‐ onssysteme sind autoritäre Kommunikationssysteme „mit einem Gewissen: das heißt mit Werten und Zielen jenseits der Aufrechterhaltung ihrer eige‐ nen Macht“ 4 . 388 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 388 <?page no="389"?> 5 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 133. 6 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 134. 7 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1983. Towards 2000. Lon‐ don: Chatto & Windus. S. 123. 8 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1979. Politics and Letters: Inter‐ views with New Left Review. London: Verso Books. S. 370. 9 Übersetzung aus dem Englischen: Williams, Communications, S. 134 In derartigen Kommunikationssystemen gibt es eine ideologische Kon‐ trolle, die darauf abzielt, dem Publikum bestimmte moralische Werte auf‐ zudrängen. Jene, die paternalistische Kommunikationssysteme kontrollie‐ ren, gehen davon aus, dass bestimmte moralische Vorstellungen gut für die Bürger sind und dass diese zu dumm sind, um die Welt richtig verstehen zu können. In kommerziellen Kommunikationssystemen gibt es kommerzielle Formen der Kontrolle: „Alles kann gesagt werden, vorausgesetzt, dass man es sich leisten kann und dass man damit Profit machen kann“ 5 . Alle drei Formen haben einen instrumentellen Charakter: Autoritäre, pa‐ ternalistische und kommerzielle Kommunikationssysteme instrumentali‐ sieren die Kommunikation und verwandeln sie in ein Herrschafts- und Kon‐ trollinstrument. Im Gegensatz dazu beruhen für Williams demokratische Kommunikati‐ onsmittel auf der kooperativen Rationalität. Derartige Medien basieren auf der Freiheit des Sprechens und einer freien Entscheidung darüber, welche Medien man konsumiert. Demokratische Kommunikationsmittel sind „Mit‐ tel der Partizipation und der allgemeinen Diskussion“ 6 . Williams argumentiert für eine kulturelle Demokratie, in der öffentlichrechtliche Medien, selbstverwaltete Kulturbetriebe und lokale Medien kom‐ biniert werden. Eine derartige Demokratie etabliert „neue Arten der ge‐ meinschaftlichen, kooperativen und kollektiven Institutionen“ 7 . Der Kern von Williams’ Vorschlag besteht darin, dass das öffentliche Eigentum der wesentlichen Kommunikationsmittel mit der Vermietung dieser Produkti‐ onsmittel an selbstverwaltete Kooperativen von Kulturschaffenden kombi‐ niert werden sollte, um ein Maximum an kultureller und politischer Vielfalt zu ermöglichen und bürokratische Kontrolle zu vermeiden 8 . „Die Idee der öffentlich-rechtlichen Medien muss von der Idee eines öf‐ fentlichen Monopols losgelöst werden, aber öffentlich-rechtlich im wahren Sinn des Wortes sein” 9 . 389 12.1. Kommunikation als gemeinsames gesellschaftliches Handeln 389 <?page no="390"?> 10 Übersetzung aus dem Englischen: Raymond Williams. 1958/ 1983. Culture and Society: 1780-1950. New York: Columbia University Press. S. 283. 11 Übersetzung aus dem Englischen: Williams, Communications, S. 25. 12 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 137. 13 Aristoteles. 1966. Metaphysik. Reinbek: Rowohlt. § 1030a. 14 Ebd., § 1038b. Instrumentelle und kooperative Medien sind widerstreitende Kräfte. Man kann in poraktischer Hinsicht den instrumentellen und kooperativen Cha‐ rakter eines Mediums beurteilen, indem man fragt, zu welchem Grad es auf kollektiver Kontrolle beruht sowie Kritik und Reflexion fördert. Nur auf die Kultur konzentrierter Klasskampf kann die kapitalistische Kolonialisierung der Kommunikationsmittel zurückdrängen. Demokratische Kommunikati‐ onsmittel sind die dominante Form der Kommunikation in einer sozialisti‐ schen Gesellschaft, in der „die grundlegenden kulturellen Fertigkeiten all‐ gemein verfügbar gemacht werden und die Kommunikationskanäle so weit wie möglich erweitert werden und frei sind“ 10 . Williams beschreibt eine Tendenz, die die kommerzielle Kolonialisierng der Kommunikationsmittel mit sich bringt: „All die grundlegenden Ziele der Kommunikation - das Teilen von Erfahrungen - werden stetig dem Ver‐ kaufstrieb untergeordnet. […] Die Organisation der Kommunikationssys‐ teme dient dann nicht dem Gebrauch, sondern dem Profit” 11 . Das „Kommer‐ zielle hat stetig dazugewonnen“ 12 . Diese Tendenz ist bis heute gültig. Nur auf die Kultur konzentrierte Kämpfe können die kapitalistische Koloniali‐ sierung der Kommunikationsmittel zurückdrängen. Um zu rechtfertigen, warum die Gemeingüter und Kommunikation als Gemeingut die den Men‐ schen und der Gesellschaft angemessenen sozialen Formen sind, müssen wir uns mit den ethisch-politischen Grundlagen der kritischen Theorie ausein‐ andersetzen. 12.2. Grundlagen der Kritischen Ethik Das Gesellschaftliche Wesen des Menschen Laut Aristoteles ist das Wesen ein „Begriff eines Ersten“, das „nicht dadurch bezeichnet wird, dass es von einem von ihm selbst verschiedenen Substrate ausgesagt wird“ 13 . Das Wesen eines Dings ist das, was „diesem Einzelnen eigentümlich“ ist und „sich nicht noch in einem anderen“ findet 14 . 390 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 390 <?page no="391"?> 15 Michael Tomasello. 2011. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 16 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In MEW Band 40 (S. 465-588). S. 538. Kommunikation ist weder automatisch gut noch böse. Genauso wie die Freiwillige Feuerwehr in ihrem altruistsichen Handeln kommunizieren muss, um ein Kind aus einem brennenden Haus zu retten, muss auch eine Gruppe von Selbstmordattentätern kommunizieren, um Massenmord als Unheil bringendes soziales Handeln zu koordinieren. Die Kommunikation ist eine notwendige symbolische Vermittlung aller sozialer Beziehungen. Sie ist eine Form der symbolischen Produktion, die soziale Beziehungen schafft und erhält. Sie ist für alle sozialen Systeme und Gesellschaften grundlegend und hat das rationale Ziel, soziale Beziehungen zu organisieren. Durch Studien aus der Entwicklungspsychologie weiß man, dass Babies in der „9-Monats-Revolution“ wegen der Anerkennung und Fürsorge, die sie erfahren, damit beginnen, Bezugspersonen wahrzunehmen, deren Per‐ spektiven sie übernehmen, was zur Entwicklung beiträgt 15 . Fürsorge ist we‐ sentlich für menschliche Entwicklung. Im Gegensatz dazu hat gegen Babies und Kinder ausgeübte Gewalt eine negative Auswirkung auf ihre Entwick‐ lung. Das Beispiel zeigt, dass Fürsorge, Kooperation, Solidarität, Altruismus und Anerkennung grundlegender für den Menschen sind als Missachtung, Wettbewerb, Separierung, Egoismus und Hass. Gesellschaft und menschli‐ che Entwicklung sind ohne die erstgenannten Phänomene nicht möglich, aber sehr wohl ohne die zweitgenannten Phänomene. Die Implikation davon ist, wie Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten betont, dass das Individuum „das gesellschaftliche Wesen“ 16 ist und dass Herrschafts‐ strukturen die Entwicklung der Menschen und der Gesellschaft beschädi‐ gen. Das gesellschaftliche Wesen des Menschen beruht auf der Logik der Ko‐ operation. In diesem Zusammenhang muss man zwischen instrumentellem und kooperativem Handeln unterscheiden. Es gibt zwei gesellschaftliche Logiken: die instrumentelle Vernunft und die kooperative Vernunft. Die erste ist charakteristisch für Klassengesellschaften und herrschaftsförmige Gesellschaften. Die zweite ist die Wesenslogik aller Gesellschaften. Instru‐ mentelles Handeln zielt darauf ab, die Menschen und die Gesellschaft zu instrumentalisieren, um die Herrschaft einiger über andere zu befördern. Kooperatives Handeln basiert auf der Logik, dass Handlungen Vorteile für 391 12.2. Grundlagen der Kritischen Ethik 391 <?page no="392"?> 17 Herbert Marcuse. 1936. Zum Begriff des Wesens. In Herbert Marcuse Schriften 3: Aufsätze aus der »Zeitschrift für Sozialforschung« 1934-1941, 45-84. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 46. 18 Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya & Nancy Fraser. 2019. Feminism for the 99 Percent. A Manifesto. London: Verso. Judith Butler, Ernesto Laclau & Slavoj Žižek. 2000. Con‐ tingency, Hegemony, Universality. London: Verso. Vivek Chibber. 2013. Postcolonial The‐ ory and the Spectre of Capital. London: Verso. Nancy Fraser & Axel Honneth. 2003. Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.. alle verschaffen sollten und dass alle die Bedingungen ihres gesellschaftli‐ chen Daseins gemeinsam kontrollieren sollten. Herbert Marcuse argumentierte im Jahr 1936 für einen marxistischen Wesensbegriff: „Eine Theorie, welche den Wesensbegriff aus der Wissenschaft ausmerzen will, verfällt einem hilflosen Relativismus und fördert so selbst die Mächte, deren rückschrittliches Denken sie bekämpfen will” 17 . Es macht aus einer praktischen und politischen Perspektive Sinn, dass man argumentiert, dass es eine der Gesellschaft innewohnende Wahrheit gibt, die nicht automatisch verwirklicht wird und dass diese Wahrheit im Be‐ dürfnis nach und der Möglichkeit eines guten Lebens für alle besteht. Un‐ terdrückung nimmt verschiedene Formen und Kontexte an. Unterdrückte Individuen und Gruppen stehen oft auch im Widerspruch zueinander. Die Wahrheit ist unterteilt in miteinander verbundene Teilwahrheiten. Unter‐ drückte Gruppen und Individuen haben gemeinsame Interessen, da sie alle vom selben globalen System der Unterdrückung betroffen sind. Zugleich haben sie aber auch unterschiedliche Teilinteressen, da Unterdrückung in kontextualisierter Weise und daher in unterschiedlichen Formen auftritt. Man braucht also eine differenzierte Einheit, eine Form der Politik, die als Einheit in der Vielfalt agiert. Während Arbeiterklassenpolitik Einheit und Solidarität betont, hat die Politik der neuen sozialen Bewegungen differenzierte Erfahrungen der Herrschaft und differenzierte Widersprüche der Gesellschaftskämpfe her‐ vorgehoben. Das Ergebnis davon war die Identitätspolitik, die die Klassen‐ politik oft ignoriert hat. Die neue kapitalistische Krise des Jahres 2008 und die ansteigende Ungleichheit haben gezeigt, dass die Klassenpolitik weiter‐ hin sehr wichtig ist und dass Identität mit Klassenverhältnissen zu tun hat 18 . Identitätsmerkmale wie Behinderung, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle 392 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 392 <?page no="393"?> 19 Hardy Hanappi and Edeltraud Hanappi-Egger. 2018. Social Identity and Class Cons‐ ciousness. Forum for Social Economics, DOI: https: / / doi.org/ 10.1080/ 07360932.2018.1447 495. Orientierung, Standort, Sozialisation, Geschlecht, Bildung, Religion, Ge‐ sundheit und Alter hängen mit Eigentum, Produktion, Distribution und Konsum zusammen 19 . Für Hegel bedeutet das Wesen der Dinge, dass diese grundlegende Eigen‐ schaften und Qualitäten haben, die jedoch oft nicht erscheinen. Wahrheit ist für Hegel die direkte Übereinstimmung von Wesen und Sein, nur wahres Sein ist wirklich und vernünftig. Im Marxismus ist Herbert Marcuse einer der Autoren, die Hegels Kategorie des Wesens aufgegriffen haben und be‐ tonen, dass das Wesen mit Möglichkeiten zu tun hat, sodass eine wahre Gesellschaft eine ist, die Möglichkeiten verwirklicht, die durch strukturelle Aspekte der Gesellschaft wie technologische Kräfte, wirtschaftliche Pro‐ duktivität, politische Machtverhältnissen, Weltanschauungen, usw. ermög‐ licht werden. Das Wesen der Gesellschaft hat damit zu tun, was die Men‐ schen sein könnten. Das Ethisch-Politische hat damit zu tun, was existieren kann und sollte, da die Gesellschaft auf Basis der existierenden Voraussetzungen Schmerz, Leiden und Ungerechtigkeit reduzieren kann, bestehende Ressourcen und Fertigkeiten auf Arten nutzen kann, die menschliche Bedürfnisse auf die bestmögliche Weise befriedigen können, und harte Arbeit minimieren kann. Kooperation Ein falscher Zustand der Gesellschaft oder eines sozialen Systems bedeute‐ tet, dass seine Möglichkeit und Realität voneinander abweichen. Im Kapi‐ talismus unterdrückte Menschen sind entfremdet, da sie die Produktions‐ mittel und die damit produzierten Früchte der Arbeit nicht besitzen. Entfremdung bedeutet, dass die Menschen und die Gesellschaft nicht ihrem Wesen entsprechen. Die Aufhebung der Entfremdung der Arbeit und des Menschen durch die Etablierung eines Reichs der Freiheit bedeutet die Rea‐ lisierung des menschlichen und des gesellschaftlichen Wesens. Man kann die Arbeiten von Marx derart lesen, dass er eine Dekonstruktion der Ideo‐ logie betreibt, Potentiale für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit identifiziert und den Vorschlag macht, dass die Menschen derart handeln 393 12.2. Grundlagen der Kritischen Ethik 393 <?page no="394"?> 20 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 537. 21 Ebd., S. 536. 22 Ebd., S. 536. sollten, dass sie Möglichkeiten verwirklichen, die den kooperativen Cha‐ rakter der Gesellschaft erhöhen. Dabei sind sowohl Zufall als auch Notwendigkeit wichtig: Bestehende Strukturen, soziale Beziehungen und Produktivkräfte in der Wirtschaft, Po‐ litik und Kultur bestimmen, welche Potentiale der gesellschaftlichen Ent‐ wicklung es gibt (Notwendigkeit). Das menschliche Wesen realisiert durch seine soziale Praktiken Möglichkeiten (Zufall). Freiheit bedeutet dabei die Freiheit, Neues zu schaffen, das durch die gesellschaftliche Realität bedingt (ermöglicht und beschränkt) wird. Die Arbeiten von Marx stehen für eine Ethik der Befreiung und Kooperation, da sie vorschlagen, dass die Menschen so handeln sollen, dass sie die Gesellschaft näher an deren kooperatives Wesen heranbringen. Marx‘ Betonung der Vergesellschaftung zeigt, dass er Kooperation als Wesensaspekt der Gesellschaft sieht und das Reich der Frei‐ heit als die Verwirklichung des kooperativen Wesens der Gesellschaft er‐ achtet. Diesen Umstand bringt Marx zum Beispiel zum Ausdruck, wenn er von der „Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie etc. in sein mensch‐ liches, d. h. gesellschaftliches Dasein“ 20 spricht oder von der „Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Men‐ schen“ 21 oder von der positiven Aufhebung „des Privateigentums als mensch‐ licher Selbstentfremdung“ und der wirklichen „Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen“ 22 . Für Marx ist Kooperation ein ob‐ jektives Prinzip, das zu einem kategorischen Imperativ führt, der im Gegen‐ satz zu jenem von Kant betont, dass eine integrative Demokratie und der Umsturz aller Herrschaftsverhältnisse und aller Ausbeutung benötigt wird. Aus dieser Lesart von Marx folgt eine Ethik der Kooperation. Die Koope‐ ration ist eine Art der sozialen Beziehung, die sich von der Konkurrenz un‐ terscheidet. Kooperation ist eine bestimmte Art der Kommunikation und der sozialen Beziehung, in der Akteure ein gemeinsames Verständnis sozialer Phänomene erzielen, gemeinsam auf Ressourcen zugreifen, sodass neue systemische Qualitäten entstehen, gemeinsam lernen, alle Akteure Vorteile erzielen und sich in den sozialen Systemen, die sie gemeinsam hervorbrin‐ gen, zuhause fühlen und wohlfühlen. Kooperation ist in diesem Sinn das höchste Prinzip der Moralität. Sie ist die Grundlage einer objektiven Dimen‐ sion der Ethik, der kooperativen Ethik. Alle Menschen streben nach Glück, 394 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 394 <?page no="395"?> 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 1986. Werke 8: Enzyklopädie der philosophischen Wis‐ senschaften im Grundrisse: 1830. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den münd‐ lichen Zusätzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. §112, Zusatz. sozialer Sicherheit, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Inklusion in sozialen Systemen, sodass sie in Entscheidungsprozessen partizipieren können und ihre sozialen Systeme gemeinsam gestalten können. Wettbe‐ werb bedeutet, dass bestimmte Individuen und Gruppen auf Kosten anderer Vorteile haben und dass es ungleichen Zugang zu den Strukturen sozialer Systeme gibt. Wettbewerbsstrukturen sind die dominante Organisations‐ struktur der modernen Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft ist daher eine exkludierende Gesellschaft. Durch Kooperation werden Menschen in soziale Systeme inkludiert. Sie können dadurch an Entscheidungen teilnehmen und es entsteht eine ge‐ rechte Verteilung von und ein gerechterer Zugang zu Ressouren. Koopera‐ tion ist also ein Weg, um grundlegende menschliche Bedürfnisse zu befrie‐ digen. Wettbewerb ist im Gegensatz dazu eine Weise, durch die nur die grundlegenden Bedürfnisse mancher befriedigt werden und andere exklu‐ diert werden. Daher bildet Kooperation das Wesen der menschlichen Ge‐ sellschaft, während der Wettbewerb die Menschen von ihrem Wesen ent‐ fremdet. Hegel charakterisiert das Wesen folgendermaßen: „Wenn dann ferner gesagt wird: alle Dinge haben ein Wesen, so wird damit ausgespro‐ chen, daß sie wahrhaft nicht das sind, als was sie sich unmittelbar erweisen. Es ist dann auch nicht abgetan mit einem bloßen Herumtreiben aus einer Qualität in eine andere und mit einem bloßen Fortgehen aus dem Qualita‐ tiven ins Quantitative und umgekehrt, sondern es ist in den Dingen ein Bleibendes, und dies ist zunächst das Wesen” 23 . Eine Gesellschaft ohne Wettbewerb ist vorstellbar. Ohne Konkurrenz ist eine Gesellschaft noch immer eine Gesellschaft. Gesellschaft ohne ein be‐ stimmtes Maß an Kooperation und sozialem Handeln ist hingegen unmög‐ lich. Eine Gesellschaft ohne Kooperation ist keine Gesellschaft, sondern ein Zustand des permanenten Krieges, des Egoismus und der gegenseitigen Zerstörung, durch die früher oder später alle menschliche Existenz zerstört wird. Ist die Kooperation das Wesen der Gesellschaft, dann ist eine wahrhaft menschliche Gesellschaft eine kooperative Gesellschaft. Vollständige Ko‐ operation bedeutet partizipative Demokratie. Die Kooperation ist als das höchste Prinzip der Moralität in der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Handeln selbst begründet. Sie kann durch die Logik der Gesellschaft rational 395 12.2. Grundlagen der Kritischen Ethik 395 <?page no="396"?> 24 Michael Tomasello. 2011. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 364. 25 Ebd., Kapitel 3. gerechtfertigt werden. Dazu muss man nicht auf ein höchstes transzenden‐ tales Prinzip wie Gott Bezug nehmen, das nicht innerhalb der Gesellschaft begründet werden kann. Die Entwicklungspsychologie und die evolutionäre Anthropologie bestä‐ tigen die Annahme, dass die kooperative Tätigkeit ein Teil des menschlichen Wesens ist. Michael Tomasello argumentiert, dass „[m]enschliche Zusam‐ menarbeit […] die ursprüngliche Heimstätte menschlicher kooperativer Kommunikation“ 24 ist. Seine Arbeit zeigt, dass die kooperative Tätigkeit nicht nur den Menschen von den Tieren unterscheidet, sondern dass die Logik der Kooperation auch die Grundlage dafür ist, dass Kinder lernen, zu kommunizieren und zu sprechen. Tomasello fand heraus, dass Hilfe und Teilen wichtige menschliche Eigenschaften sind, die sich in geteilter Inten‐ tionalität ausdrücken, bei der Menschen zusammen Ziele definieren und zusammenarbeiten, um diese zu erreichen. Außerdem manifestieren sich Hilfe und Teilen in Angeboten und Aufforderungen zur Hilfe, Angeboten zum Teilen, Kooperationsnormen, geteilten Zielen, kommunikativen Ab‐ sichten, gemeinsamer Aufmerksamkeit, gemeinsamen Hintergründen, ko‐ operativem Schlussfolgern und Kommunikationskonventionen 25 . Tomasello zeigt, dass Liebe, Zuwendung und Kommunikation essentiell für die Kin‐ desentwicklung sind. Seine Arbeit liefert Hinweise darauf, dass die Koope‐ ration wesentlich für das menschliche Leben ist, während die Herrschafts‐ logik die Menschen von ihrem Wesen entfremdet. Die kooperative Ethik ist eine Kritik von Denkformen und Argumenten, die Ausschluss und Herrschaft rechtferigen wollen. Sie ist immanent kritisch und stellt kritische Fragen über akzeptierte Ideen, Konventionen, Traditio‐ nen, Vorurteile und Mythen. Sie stellt Mainstream-Meinungen in Frage und spricht über Alternativen dazu, um eindimensionales Denken zu vermeiden und komplexes, dialektisches, mehrdimensionales Denken zu fördern. Ko‐ operation ist das allen Gesellschaften inhärente Wesen. Sie ist der Grund menschlicher Existenz. Wettbewerbsförmige Klassengesellschaften ent‐ fremden die Gesellschaft von ihrem Wesen. Die Entfremdung und den fal‐ schen Zustand der Gesellschaft zu transzendieren bedeutet, dass transzen‐ dentale politische Projekte konstituiert werden, die für die Abschaffung der Herrschaft kämpfen, sodass das der Gesellschaft innewohnende Wesen ver‐ 396 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 396 <?page no="397"?> 26 Karl Marx. 1844. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In MEW Band 1 (S. 378-391). S. 385. 27 Mogobe B. Ramose. 2003. Globalization and Ubuntu. In The African Philosophy Reader, hrsg. Pieter H. Coetzee and Abraham P.J. Roux, 626-649. London: Routledge. Second edition. 28 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 643 29 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd., S. 643. 30 Übersetzung aus dem Englischen: Mogobe B. Ramose, 2003. The Philosophy of Ubuntu and Ubuntu as Philosophy. In The African Philosophy Reader, ed. Pieter H. Coetzee and Abraham P.J. Roux, 230-238. London: Routledge. Zweite Auflage. S. 230. 31 Übersetzung aus dem Englischen: Ramose, Globalization and Ubuntu, S. 643. wirklicht werden kann. Diese Transzendenz ist in der Gesellschaft selbst begründet, nämlich im Prozess der Kooperation der Menschen. Es handelt sich um eine immanente Transzendenz. Die Ubuntu-Philosophie Marx‘ kritische Ethik führt zum „kategorischen Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ 26 , da Menschen soziale und gesell‐ schaftliche Wesen sind, die nur ein gutes Leben in einer guten Gesellschaft führen können, wenn jeder ein gutes Leben hat. Die Ubuntu-Philosophie beruht auf einem ähnlichen kategorischen Imperativ. Mogobe B. Ramose 27 argumentiert, dass die globale kapitalistische Kon‐ kurrenz in einem wörtlichen Sinn (der Tod von Menschen, Arbeitsplätzen und Wirtschaften, wenn Unternehmen die Produktion verlagern) und einem metaphorischen Sinn (die Vernichtung der Konkurrenz auf dem Markt) das Töten anderer Menschen in Kauf nimmt. Die Ubuntu-Philosophie fördert im Gegensatz dazu „die Prinzipien des Teilens und der gegenseitigen Für‐ sorge“ 28 . Da „Bewegung das Prinzip des Seins ist, sind die Kräfte des Lebens dazu da, um zwischen den Menschen geteilt zu werden“ 29 . Ubuntu ist die „Grundlage der afrikanischen Philosophie“ 30 . Ubuntu be‐ ruht als „afrikanische Menschlichkeit“ 31 auf der Einsicht, dass ein Mensch durch andere Menschen menschlich ist. Ubuntu ist, „als ob man sagt: ‚Mein Menschsein ist mit deinem untrennbar verbunden‘. Wir gehören in einen Bund des Lebens. Wir sagen: ‚Ein Mensch wird durch einen anderen Men‐ schen zum Menschen‘. Es ist nicht ‚Ich denke, also bin ich‘. Es steht eher für ‚Ich bin ein Mensch, weil ich dazugehöre, teilnehme und teile‘. Eine Person mit ubuntu ist offen und zugänglich für andere, fühlt sich durch andere be‐ 397 12.2. Grundlagen der Kritischen Ethik 397 <?page no="398"?> 32 Desmond Tutu. 2001. Keine Zukunft ohne Versöhnung. Düsseldorf: Patmos. S. 34. 33 Übersetzung aus dem Englischen: Ramose, The Philosophy of Ubuntu and Ubuntu as Philosophy, S. 231. 34 Übersetzung aus dem Englischen: Ramose, Globalization and Ubuntu, S. 643-644. 35 Übersetzung aus dem Englischen: Ebd, S. 644. 36 Übersetzung aus dem Englischen: Mogobe B. Ramose. 1995. Specific African Thought Structures and Their Possible Contribution to World Peace. In Kreativer Friede durch Begegnung der Weltkulturen, hrsg. Heinrich Beck and Erwin Schadel, 227-251. Frankfurt am Main: Peter Lang. S. 249. 37 Übersetzung aus dem Englischen: Mogobe B. Ramose. 2015. On the Contested Meaning of “Philosophy”. South African Journal of Philosophy 34 (4): 551-558. S. 557. 38 Übersetzung aus dem Englischen: Ramose, Globalization and Ubuntu, S. 644. stätigt und nicht bedroht, sondern weiß um die Fähigkeiten und die Güte anderer. Er oder sie besitzt eine ausgeprägte Selbstsicherheit, die von dem Wissen herrührt, dass er oder sie einem größeren Ganzen angehört. Sie füh‐ len sich beeinträchtigt, wenn andere gedemütigt oder gefoltert oder unter‐ drückt werden, oder wenn man sie so behandelt, als wären sie weniger wert“ 32 . „Mensch zu sein bedeutet, dass man seine Menschlichkeit dadurch bestätigt, dass man die Menschlichkeit anderer anerkennt und auf dieser Basis menschenwürdige Beziehungen mit ihnen schafft“ 33 . Ubuntu befördert zwei Prinzipien, die sich in fast allen indigenen afrikanischen Sprachen wie‐ derfinden und die hier in Nord-Sotho (Sepedi) ausgedrückt werden: 1. “Motho ke motho ka batho” - „Mensch zu sein bedeutet, dass man seine Menschlichkeit dadurch bestätigt, dass man die Menschlichkeit an‐ derer anerkennt und auf dieser Basis menschenwürdige, auf Respekt begründete Beziehungen mit ihnen schafft“ 34 . 2. “Feta kgomo o tshware motho” - „Wenn man mit einer maßgebenden Entscheidung zwischen Reichtum und dem Erhalt des Lebens eines anderen Menschen konfrontiert ist, dann sollte man sich für den Er‐ halt des Lebens entscheiden“ 35 . „Die gegenseitige Fürsorge als menschliches Wesen hat Vorrang vor der Akkumulation und der Si‐ cherstellung des Reichtums“ 36 . „Ein Leben, das der Würde des Men‐ schen entspricht, steht in der Ubuntu-Philosophie an erster Stelle” 37 . „Die Berufung auf die Ubuntu-Menschenrechtsphilosophie ist eine glaub‐ würdige Herausforderung der tödlichen Logik des Strebens nach Gewinn auf Kosten der Erhaltung des menschlichen Lebens“ 38 . Die Ubuntu-Prinzi‐ pien beruhen auch auf der Einsicht, dass „das individuelle menschliche We‐ sen einen intrinsischen Wert hat“, woraus die menschliche Würde folgt, also 398 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 398 <?page no="399"?> 39 Übersetzung aus dem Englischen: Ramose, Specific African Thought Structures and Their Possible Contribution to World Peace, S. 246. 40 Ebd., S. 247. 41 Yochai Benkler. 2006. The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven, CT: Yale University Press. 42 Elinor Ostrom. 1999. Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt. Tübin‐ gen: Mohr Siebeck. dass ein menschliches Wesen „nur wahrhaft existiert im Kontext der wirk‐ lichen Beziehungen mit anderen menschlichen Wesen“ 39 . Aus der Abhän‐ gigkeit der Menschen voneinander und der Einheit des menschlichen We‐ sens folgt das Prinzip der menschlichen Gleichberechtigung 40 . Basierend auf dem Konzept der kritischen Ethik können wir uns im nächsten Abschnitt mit der kritischen Ethik der kommunikativen Gemein‐ güter auseinandersetzen. 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter Die Gemeingüter Kommunikationsmittel und Digitalisierung fördern sowohl neue Formen der Kommodifizierung als auch neue Formen der kooperativen Produktion, der kooperativen Distribution und des kooperativen Eigentums, wodurch die ethische Frage aufgeworfen wird, wie wir diese divergierenden Prinzi‐ pien, die in der Online-Wirtschaft operieren, am besten bewerten sollen. Warum ist es moralisch gut, die kommunikativen Gemeingüter zu fördern? Die Kategorie der kommunikativen Gemeingüter bedeutet nicht nur, dass die Kommunikation ein gemeinsamer Prozess ist, bei dem die Menschen in die Koproduktion von Bedeutungen involviert sind. Unter ihr ist auch die demokratische Form der Kommunikationsmittel zu verstehen, von der Wil‐ liams spricht und bei der die Menschen die Kommunikationsmittel als Ge‐ meingut kontrollieren. Yochai Benkler 41 definiert im Gegensatz zu Elinor Ostrom 42 die Gemein‐ güter im Gegensatz zu Märkten. Die Gemeingüter sind „radikal dezentrali‐ siert, kooperativ und nicht proprietär; sie beruhen auf dem Teilen von Res‐ sourcen und Outputs unter weit verteilten, lose verbundenen Individuen, die miteinander kooperieren, ohne sich auf Marktsignale oder Manage‐ 399 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter 399 <?page no="400"?> 43 Übersetzung aus dem Deutschen [The commons are “radically decentralized, collabo‐ rative, and nonproprietary; based on sharing resources and outputs among widely dis‐ tributed, loosely connected individuals who cooperate with each other without relying on either market signals or managerial commands. This is what I call ‘commons-based peer production’”]: Benkler, The Wealth of Networks, S. 60. 44 Michael Hardt and Antonio Negri. 2018. Assembly: Die neue demokratische Ordnung. Frankfurt am Main: Campus. mentbefehle zu verlassen. Das nenne ich ‚Produktion von Gemeingütern durch Peers‘“ 43 . Für Michael Hardt and Toni Negri gibt es zwei Hauptformen der Gemein‐ güter, die natürlichen und die gesellschaftlichen Gemeingüter 44 . Diese zwei Formen sind in fünf Typen unterteilt: die Erde und ihre Ökosysteme; die kulturellen und kommunikativen Gemeingüter der Ideen, Kodes, Bilder und Kulturprodukte; durch kooperative Arbeit produzierte physische Güter; großstädtische und ländliche Räume, die Sphären der Kommunikation, kul‐ turellen Interaktion und Kooperation sind; und soziale Institutionen und Dienste, wie der Wohnbau, das Sozialwesen, die Gesundheitsvorsorge und das Bildungswesen. Die Klassenstruktur des heutigen Kapitalismus beruht für Hardt und Negri auf der Extraktion der Gemeingüter, wozu die Extraktion natürlicher Ressourcen, Datamining/ Datenextraktion, die Extraktion des Sozialen aus urbanen Räumen auf Immobilienmärkten und Finanzkapital als extraktive Industrie zählen. Es gibt eine Reihe von kommunikativen Gemeingütern: Gemeindezen‐ tren, öffentliche Bibliotheken und andere öffentliche Institutionen bieten oft Gratiszugang zu Kommunikationsressourcen (Bücher, Computer, Inter‐ net,etc.). Freie Netze wie Freifunk bieten Gratiszugang zu Computernet‐ zwerken, die als Gemeingut im Besitz von lokalen Gemeinschaften stehen und von diesen operiert werden. Freie Software (wie zum Beispiel Linux, GNU oder Mozilla) ist Software, die ohne Einschränkungen ausgeführt, ana‐ lysiert, verteilt und verbessert werden kann. Wikipedia ist eine frei verfüg‐ bare, kooperativ bearbeitbare, nichtprofitorientierten Online-Enzyklopädie, die von Freiwilligen kooperativ entwickelt wird. Wikipedia verwendet eine Creative Commons-Lizenz, die die Wiederverwendung und Veränderung der Inhalte erlaubt. Creative Commons ist eine Lizenz, die den Zugang zu und die Wiederverwendung von digitalen Inhalten (Bilder, Texte, Videos, Musik, usw.) ohne Bezahlung ermöglicht. Eine Version von Creative Com‐ mons (NC = non-commercial) legt fest, dass die Inhalte nur für nichtkom‐ 400 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 400 <?page no="401"?> merzielle Zwecke weiterverwendet werden dürfen, wodurch Grundlagen für Wissen als wirtschaftlichem Gemeingut gegeben sind. Bei nichtprofito‐ rientierte Open Access-Publikationen (Zeitschriften, Bücher) werden Texte in digitalem Format online verfügbar gemacht (und im Fall von Büchern oft auch zusätzlich erschwingliche Taschenbuchausgaben) ohne die Nutzer da‐ für bezahlen zu lassen und ohne monetären Profit zu erzielen. Die Kommodifizierung der Gemeingüter Es besteht eine dialektische Komplexität bei der Subsumtion von Aspekten der Gesellschaft unter das Kapital: Das Kapital versucht, immer weitere so‐ ziale Systeme zu subsumieren, um neue Sphären der Kapitalakkumulation zu schaffen und Krisentendenzen zu verhindern und Widerstand zu unter‐ binden. Die Gemeingüter können nicht automatisch der Subsumtion unter das Kapital entzogen werden. Jemand, der Teil eines Projektes ist, in dem Gemeingüter produziert werden, kann Tugenden wie Autonomie, kreative Produktion, Wohlwollen, Wohltätigkeit, Großzügigkeit, Altruismus, Gesel‐ ligkeit, Kameradschaft, Freundschaft und Kooperation praktizieren, aber dennoch ausgebeutet werden oder andere ausbeuten. So erlaubt zum Bei‐ spiel die Creative Commons CC-BY Lizenz, die Weiterverwendung der Wis‐ sensallmende für Zwecke der Kapitalakkumulation, wodurch die Gemein‐ güter unter die Logik des Kapitals subsummiert werden. Im Gegensatz zu CC-BY-NC ist CC-BY eine reaktionäre, prokapitalistische Lizenz. Kreativität, Partizipation, Teilen, Offenheit und Kooperation sind zu neuen Ideologien des digitalen Kapitalismus geworden: Digitale Unterneh‐ men wie Facebook, Google, profitorientierte Open Access-Verlage, usw. praktizieren den Kommunismus des Kapitals: Sie befördern die Produktion von partikularistischen Formen der Gemeingüter, die unter die Logik des Kapitals subsumiert sind. Facebook und Google akkumulieren Kapital durch die Gratisarbeit der Nutzer, die auf offenen Plattformen, die jeder wie ein Geschenk gratis benutzen kann, Daten und Inhalte schaffen und teilen. Eine große Anzahl von Firmen lagert die Entwicklung, die Verbesserung und das Marketing von Produkten an die Gratisarbeit der Onlinemasse aus, die Fans bestimmter Marken sind. Kapitalistische Open Access-Verlage akkumulie‐ ren Kapital, indem sie Inhalte nur dann als digitale Gemeingüter veröffent‐ lichen, wenn die Produzenten hohe Geldsummen als Bearbeitungsgebühren bezahlen, die nicht nur die Endproduktion finanzieren, sondern auch die Quelle von Profit sind. 401 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter 401 <?page no="402"?> 45 Übersetzung aus dem Englischen [“narrative understanding of the unity of human life“]: Alasdair MacIntyre. 2007. After Virtue: A Study in Moral Theory. Notre Dame, IN: Uni‐ versity of Notre Dame Press. Third edition. S. 265. 46 Alasdair MacIntyre. 2016. Ethics in the Conflicts of Modernity. An Essay on Desire, Prac‐ tical Reasoning, and Narrative. Cambridge: Cambridge University Press. 47 Ebd., S. 26-27. 48 Ebd., S. 225. Warum die kommunikativen Gemeingüter moralisch gut und politisch notwendig sind Der aristotelianische Philosoph Alasdair MacIntyre spricht vom „erzähleri‐ schen Verständnis der Einheit des menschlichen Lebens” 45 . Dies ist nur eine andere Formulierung dafür, dass die Menschen kommunikative, soziale We‐ sen sind. In der vorliegenden Arbeit wird durchgehend argumentiert, dass menschliche Produktion und Kommunikation dialektische Pole sind, die in‐ einander übergreifen. Die Menschen produzieren Kommunikation und kom‐ munizieren in der Produktion. Sie sind produzierende, kommunikative We‐ sen. Die Sprache hat einige grundlegende Eigenschaften 46 : 1. Sprache ermöglicht Reflexion und Rechtfertigungen; 2. Sprache verbessert die Kommunikation von Intentionen und Ant‐ worten; 3. Sprache ermöglicht die Vorstellung alternativer Zukünfte; 4. Sprache gestattet es den Menschen, Geschichten zu erzählen 47 : 5. Die Sprache ermöglicht es den Menschen, moralische Fragen darüber zu stellen, was gut ist 48 ; 6. Die Menschen streben danach, individuelle und kollektive Güter da‐ durch zu erzielen, dass sie reflektierend und antizipativ urteilen, durch die Kommunikation von Urteilen lernen, ihre Urteile im Alltagsleben praktisch treffen und modifizieren und mit anderen zusammenarbei‐ ten. 7. Zum gesellschaftlichen Wesen der Menschen gehört die Kooperation, die den gemeinsamen Aspekt der vier Aspekte der Sprache darstellt. Werktätigkeit und Kommunikation sind zwei Aspekte der Produktion: Die Menschen produzieren durch Kommunikation Bedeutungen und Sozialität. Sie produzieren durch ihr Werken Gebrauchswerte, die Mängel beheben und Bedürfnisse und Wünsche befriedigen. 402 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 402 <?page no="403"?> Die Werktätigkeit hat einen kommunikativen Charaker und die Kommu‐ nikation Werktätigkeitscharakter. Werktätigkeit und Kommunikation sind zwei dialektisch ineinander übergreifende Dimensionen der praktischen, antizipativen und reflektierenden Rationalität der Menschen. Produktion ist in der Gesellschaft sozial und daher kommunikativ. Die Kommunikation ist produktiv: Sie schafft gemeinsame Interpretationen und Sozialität. Kom‐ munikation und Werktätigkeit sind gemeinsame Merkmale aller Gesell‐ schaften. Um Wünsche zu erfüllen und Bedürfnisse zu befriedigen, müssen wir produzieren und kommunizieren, sodass unmittelbare Wünsche unter‐ drückt werden und rational in Werktätigkeit umgewandelt werden, die es erlaubt, dass definierte Ziele erreicht werden, die damit zu tun haben, wie Bedürfnisse und Wünsche erreicht werden. Die Menschen sind rationale, moralische, kommunizierende, produzie‐ rende, soziale und gesellschaftliche Wesen, die sich zielorientiert verhalten, um zu versuchen, ein gutes Leben zu führen. Die Menschen haben also ein grundlegendes Verlangen nach einem guten Leben. Wenn die Menschen ih‐ rem Wesen nach ein gutes Leben anstreben und rationale, kommunizie‐ rende, produzierende, soziale und gesellschaftliche Tiere sind, die ihre Ziele nicht alleine, sondern nur gemeinsam erreichen können, dann stellt sich die Frage, wie die Menschen das Gemeinwohl in der Gesellschaft befördern können. Die Gemeingüter, die Kommunikation und die Gemeinschaft sind inhä‐ rent miteinander verbunden. Durch Kommunikation können gemeinsame Bedeutungen und Definitionen innerhalb einer Gemeinschaft geschaffen werden. In modernen Klassengesellschaften ist das Gemeinwohl den Logi‐ ken des Kapitals und der Bürokratie untergeordnet. Als Ergebnis davon herrschen partikularistische Interessen, sodass Ungleichheiten und asym‐ metrische Machtverteilungen die Realität sind. Das gute Leben ist nicht für alle Menschen, die im Kapitalismus und in Klassengesellschaften leben, eine Realität, da in diesen Gesellschaften einige auf Kosten anderer ein gutes Leben führen: Die große Masse der Menschen wird durch wirtschaftliche, politische und ideologische Strukturen gezwungen, ein beschädigtes, ent‐ fremdetes Leben zu führen. Die Gemeingüter sind Teil des menschlichen Wesens. Die gemeinsamen Eigenschaften aller Menschen konstituieren das menschliche Wesen. Der Wunsch nach einem guten Leben ist eine gemein‐ same Eigenschaft aller Menschen. Da die Menschen aber soziale Wesen sind, die in der Gesellschaft leben, kann das gute Leben nicht individuell, sondern nur kollektiv, sozial und politisch erzielt werden. Ich kann nur individuell 403 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter 403 <?page no="404"?> 49 Karl Marx. 1844. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In MEW Band 1, 378-391. Berlin: Dietz. S. 385. ein gutes Leben führen, wenn allen ermöglicht wird, dass sie ein gutes Leben führen. Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die dem menschlichen Wesen entspricht, also eine Gesellschaft der Gemeingüter, in der die Men‐ schen das wirtschaftliche, politische und kulturelle System und die dazuge‐ hörigen Güter und Strukturen, die die Gesellschaft bilden, gemeinsam kon‐ trollieren, sodass jeder ermächtigt wird, ein gutes Leben zu führen. Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Gemeingüter. Entfremdung bedeutet im Gegensatz dazu, dass die Menschen die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen, die ihr Leben beeinflussen, nicht kontrollieren. Die Menschen sind ihrem Wesen nach kooperative, soziale und gesell‐ schaftliche Wesen, die nach Solidarität und einem guten Leben streben. Ge‐ sellschaftliche Bedingungen ermöglichen oder verhindern die Realisierung der gesellschaftlichen und menschlichen Potentiale. Derartige Potentiale entwickeln sich historisch. Wenn Klassenstrukturen und Herrschaft dazu führen, dass Wesen und Sein der Gesellschaft auseinanderklaffen, dann soll‐ ten sich die Menschen kollektiv organisieren und gegen die Entfremdung ankämpfen, um eine gute Gesellschaft zu verwirklichen. Marx nennt die gute Gesellschaft „Kommunismus“. Eine Gesellschaft der Gemeingüter fördert das politische Gemeingut (partizipative Demokratie), das wirtschaftliche Gemeingut (Wohlstand für alle, Selbstverwirklichung von allen) und das kulturelle Gemeingut (Anerkennung aller). Dazu bedarf es der Überwindung der politischen Entfremdung (Herrschaft), der wirtschaftlichen Entfrem‐ dung (Ausbeutung) und der kulturellen Entfremdung (Ideologie). Die Men‐ schen haben die Möglichkeit, für eine gute Gesellschaft zu kämpfen. Wenn sie das tun, so wird ihr soziales Handeln Praxis, also politisches Handeln, das auf die Etablierung der guten Gesellschaft abzielt. Um ein gutes Leben zu schaffen, werden Kämpfe und Praktiken benötigt, die geleitet sind von „dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzu‐ werfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlas‐ senes, ein verächtliches Wesen ist“ 49 . Ohne ein gutes Leben in einer Gesell‐ schaft der Gemeingüter sind die Menschen nicht vollständig entwickelte Menschen. Ihr Sein entspricht dann nicht ihrem Wesen, da ihnen die Ge‐ meingüter, die die Menschen und die Gesellschaft brauchen, um zu florieren und ihre Möglichkeiten zu verwirklichen, versagt bleiben. 404 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 404 <?page no="405"?> 50 Georg Lukács. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. In Georg Lukács Werke Band 2: Frühschriften II. Bielefeld: Aisthesis. S. 215. 51 Ebd., S. 192. Die Praxis ist das ethisch-politische Streben nach und der Kampf für eine Gesellschaft der Gemeingüter. Wenn die kritische Ethik Bewusstsein und Handeln ist, das auf Gesellschaftskämpfe für eine freie Gesellschaft orien‐ tiert ist, dann zielt sie auf den Punkt ab, an dem der Befreiungskampf „dia‐ lektisch in Freiheit umschlägt“ 50 . In derartigen Kämpfen überwinden die Individuen die durch die Herrschaft auferlegte Isolation, Separierung, Ent‐ fremdung und Vereinzelung ihres Seins. Sie organisieren sich als politische Kollektive, die nach Freiheit streben. „Die Praxis wird zur Tätigkeitsform des vereinzelten Individuums: zur Ethik“ 51 . Widerstand und gesellschaftliche Kämpfe benötigen die Kommunikation von Geschichten darüber, wie Herrschaft das menschliche Leben beschädigt und wie Widerstand möglich ist. Der Widerstand muss selbstorganisiert werden. Die Kommunikation von Ungerechtigkeit und der Notwendigkeit des Widerstands sind Teil des Prozesses der Selbstorganisaton von Protest. Die Protestierenden kommunizeren öffentlich ihre Ziele und innerhalb ihrer Bewegung, um ihre Selbstorganisation zu organisieren. Kommunikationstechnologien ermöglichen neue Formen der Organisa‐ tion von Information, Kommunikation und Kooperation. Da Kommunika‐ tionstechnologien zu einer zentralen Ressource der modernen Gesellschaft geworden sind, ist ihre Verwendung bei der Organisation der Kognition, Kommunikation und Kommunikation zu einem Teil der menschlichen Be‐ dürfnisse geworden. Die Menschen haben in allen Gesellschaften bestimmte kognitive Bedürfnisse (wie etwa, dass sie geliebt und anerkannt werden), kommunikative Bedürfnisse (nach Freundschaften und Gemeinschaft) und kooperative Bedürfnisse (wie etwa die Zusammenarbeit mit anderen, um gemeinsame Ziele zu erreichen). In einer Kommunikationsgesellschaft sind Kommunikationstechnologien wichtige Mittel zur Realisierung derartiger Bedürfnisse. Da die Kommunikationsmittel aber immer in bestimmten ge‐ sellschaftlichen Kontexten und Verhältnissen genutzt werden, führt ihre Verwendung an sich nicht notwendigerweise zur Förderung des guten Le‐ bens, sondern kann auch zur Beschädigung menschlicher Leben beitragen. Die Wirtschaft hat mit Fragen der Produktion und des Eigentums zu tun. Als ökonomische Wesen streben die Menschen nach einem Leben, das die Befriedigung ihrer Bedürfnisse garantiert und selbstverwirklichende Tätig‐ 405 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter 405 <?page no="406"?> keit erlaubt. Sind Kommunikationsressourcen, die für das Leben aller we‐ sentlich sind, Waren, dann wird das Leben der Menschen auf zwei Weisen negativ beeinträchtigt: 1) Viele Waren werden durch menschliche Arbeit produziert, die in Klassenverhältnissen ausgebeutet wird, sodass Eigentum von den unmittelbaren Produzenten zu Privateigentümer transferiert wird, die Vorteile auf Kosten der Arbeiter haben. 2) Güter und Dienstleistungen, die Waren sind, werden zwangsläufig jene vom Zugang ausschließen, die sich diese nicht leisten können. Da Tausch immer ungleicher Tausch ist, fördern warenproduzierende Gesellschaften Verteilungsungerechtikeit. Die Ausbeutung der Kommunikationsarbeit und die Versagung des Zugangs zu Kommunikationsressourcen beschädigen das Leben der Menschen in wirt‐ schaftlicher Hinsicht. Die kommunikativen Gemeingüter sind im Gegensatz zum Kommunikationskapital inklusiv und nicht klassenbasiert. Zur Förderung der kommunikativen Gemeingüter bedarf es daher nicht nur der Unterstützung von Projekten, die diese Güter forcieren, sondern auch dem Kampf gegen das Kommunikationskapital und das Kommunika‐ tionskapital, das als kommunikatives Gemeingut erscheint und sich als sol‐ ches verkleidet. Die Forcierung der kommunikativen Gemeingüter als tran‐ szendentale Projekte, die eine alternative Gesellschaftsweise prefigurieren, ist in einer kapitalistischen Gesellschaft mit dem Problem konfrontiert, dass die Masse der Menschen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig ist, um zu überleben. Die kommunikativen Gemeingüter stellen das Kommunika‐ tionskapital und damit einhergehend zu einem bestimmten Grad auch die unter das Kommunikationskapital subsumierte Lohnarbeit in Frage. Die Konsequenz davon kann sein, dass Projekte der Gemeingüter auf freiwilli‐ ger, selbstausbeuterischer Arbeit beruhen, in die die Kommunarden viel Zeit investieren, und von der sie aber nicht überleben können. Solange sie andere Jobs haben, von denen sie leben können und die Gemeingutprojekte nur Hobbys sind, besteht kein akutes Problem. Anders ist die Lage aber dann, wenn so viel unbezahlte Zeit investiert wird, dass die Komunarden nur mehr prekär leben können. Will man die kommunikativen Gemeingüter als Klas‐ senkampfprojekt forcieren, so bedarf es Mechanismen, die garantieren, dass die Menschen, die in solchen Projekten werken, ein ausreichendes Einkom‐ men haben, um zu überleben, und zugleich ermächtigt werden, als Kom‐ munarden zu agieren. Zu den Mechanismen, die dieses Problem angehen, gehören zum Beispiel Partnerschaften von öffentlichen und zivilgesell‐ schaftlichen Organisationen, kollektive Finanzierungsmechanismen, Bür‐ 406 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 406 <?page no="407"?> gerhaushalte (Participatory Budgeting), die Besteuerung von Unternehmen, um alternative Medienprojekte zu finanzieren oder ein Grundeinkommen. Die Politik ist ein System und Prozess, durch die das Treffen kollektiver Entscheidungen organisiert wird, die für alle Mitglieder der Gesellschaft bindend sind. Als politische Wesen (Bürger) streben die Menschen danach, politische Entscheidungen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Dazu sind Rechtssysteme notwendig, die Rechte, Pflichten und Freiheiten organisie‐ ren. Das politische Leben wird beschädigt, wenn a. bestimmte Individuen oer Gruppen den Entscheidungsfindungspro‐ zess zentralisieren, sodass andere Bürger oder Gruppen von Bürgern nicht daran teilnehmen können oder weniger Einfluss darauf haben; oder wenn b. Rechte, die effektive politische Teilnahem in der Öffentlichkeit oder die Partizipation in kollektiven Entscheidungsprozessen ermöglicht, eingeschränkt werden. Im Bereich der Kommunikation verwenden autoritäre Regime die Staats‐ macht, um den Ausdruck politischer Meinungen in der Online-Welt und der Öffentlichkeit zu zensurieren. Sie zensurieren die Publikation politischer Information, überwachen Bürger und politische Gegner oder sanktionieren jene, die alternative Meinungen und Dissens zum Ausdruck bringen, mit der Hilfe von Strafen, Inhaftierung oder Terror. Als Konsequenz davon sind der politische Entscheidungsprozess und politische Kommunikation zentrali‐ siert und die allgemeinen politischen Rechte und Interessen der Bürger, in Entscheidungsprozessen zu partizipieren, werden unterminiert. Auch die wirtschaftliche Macht kann das politische Gemeinwesen unterminieren: Wenn reiche Individuen, Gruppen oder Firmen ihr Geld nutzen können, um sich politische Sichtbarbeit in der Öffentlichkeit zu kaufen (zum Beispiel in der Form von Onlinewerbung oder dem Eigentum an populären Nachrich‐ tenplattformen) oder Gesetze zu beeinflussen, die regulieren, wie Kommu‐ nikationsressourcen organisiert werden, dann unterminiert wirtschaftliche Macht die Fähigkeit der Menschen, ihren politischen Meinungen Gehör zu verschaffen und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Kapitalistische Macht ist eine Gefahr für das politische Gemeinwohl. Um Kommunikationsressourcen zur Beförderung des politischen Ge‐ meinwohls zu verwenden, braucht man Projekte, die kommunikative und digitiale Ressourcen verwenden, um partizipative Demokratie zu befördern. Die partizipative Demokratie möchte Formen der Macht fördern, die alle 407 12.3. Die Kritische Ethik der kommunikativen Gemeingüter 407 <?page no="408"?> 52 Christian Fuchs. 2018. Soziale Medien und Kritische Theorie. Eine Einführung. München: UVK/ utb. Menschen zu einem sinnvollen Grad in den politischen Entscheidungspro‐ zess einbindet und eine Öffentlichkeit fördert, in der inklusive, dauerhafte politische Debatten möglich sind und nicht durch Hierarchien begrenzt werden, die aus der ungleichen Kontrolle von Wohlstand, Macht, Fertigkei‐ ten und Reputation erwachsen. Die Kultur ist das System der Gesellschaft, das es den Menschen ermög‐ lichkeit, die Gesellschaft zu bedeuten und ihre Identitäten zu definieren, wozu man gehört werden muss, Sichtbarkeit haben muss, wechselseitiges Verständnis und Anerkennung braucht. Als kulturelle Wesen streben die Menschen nach Anerkennung. Im Bereich der Onlinekultur ist Twitter ein Beispiel für eine Plattform, die die Menschen nutzen, um heutige Gesell‐ schaften zu bedeuten. 52 Aber Sichtbarkeit, Reputation und Anerkennung sind ungleich verteilt. Berühmte Personen und Unternehmen haben eine viel höhere Online-Sichtbarkeit und viel mehr Reputation und Anerkennung auf Twitter (und in anderen Online-Räumen) als alltägliche Nutzer. Daher haben sie auch mehr Definitionsmacht im Internet als Alltagsnutzer. Die asymme‐ trische Verteilung der Sichtbarkeit und des Gehörs beschädigt menschliche Leben, da den Menschen Anerkennung und Einfluss auf kollektive Prozesse der Bedeutungsproduktion in der Gesellschaft versagt wird. Dadurch ent‐ stehen kulturelle Hierarchien, in denen einflussreiche Personen viel mehr Macht haben, sich Gehör zu verschaffen und Weltanschauungen zu beein‐ flussen als einfache Leute. Kommunikationtechnologien, die dazu beitragen, das kulturelle Gemein‐ wohl zu fördern, helfen allen Menschen dabei, Gehör zu finden, gemeinsa‐ mes Verständnis zu entwicklen und anerkannt zu werden. Alle Menschen streben nach Anerkennung, haben aber unterschiedliche Weltanschauun‐ gen, Identitäten und Lebensstile. Eine gemeingutorientierte Kultur ist keine eindimensional vereinheitlichte Kultur, sondern eine Kultur, die die Einheit in der Vielfalt der Weltanschauungen, Lebensstile und Identitäten erzielt, die für Respekt und Verständnis notwendig ist. Eine gemeingutorientierte Kultur vermeidet sowohl die Extreme des Kulturimperialismus (Einheit ohne Vielfalt) und des Kulturrelativismus (Vielfalt ohne Einheit). Eine zeitgenössische aristotelische, hegelianische, marxistische Ethik be‐ ruht auf der Einsicht, dass die kommunikativen Gemeingüter Teil der Kämpfe sind, die auf das Gemeinwohl und ein gutes Leben für alle Menschen 408 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 408 <?page no="409"?> abzielen. Tugendhafte Kommunarden sind Kritiker, die darauf abzielen, Pro‐ zesse zu hinterfragen, kritisieren und bekämpfen, die die Kommunikations‐ ressourcen und andere Ressourcen verwenden, um Ausbeutung (wirtschaft‐ liche Entfremdung), Autoritarismus (politische Entfremdung) und Ideologie (kulturelle Entfremdung) zu praktizieren. Ihr Ziel ist es, kommunikative Gemeingüter und eine Gesellschaft der Gemeingüter zu schaffen, sodass wirtschaftliche, politische und kulturelle Formen der Macht auf Arten ver‐ teilt sind, die allen Vorteile verschaffen. Kommunikation benötigt Gemeinschaft und die Gemeingüter. Eine voll‐ ständig kommunikative Gesellschaft - eine Kommunikationsgesellschaft, die dem menschlichen Wesen entspricht - ist eine Gemeinschaft der Kom‐ munarden, eine gemeingutorientierte Gesellschaft, in der das Gemeinwohl dazu beiträgt, das individuelle Wohl und die Menschen bei der Verfolgung des individuellen Wohls zur Förderung des Gemeinwohls beitragen. Die Ethik der kommunikativen Gemeingüter ist nicht unabhängig von der Ethik der Gemeingüter. Um die kommunikativen Gemeingüter zu fördern, muss man sich im Allgemeinen hin zu einer Gesellschaft der Gemeingüter bewe‐ gen, die den Kontext für die kommunikativen Gemeingüter darstellt. Kämpfe zur Förderung der kommunikativen Gemeingüter müssen Kämpfe für eine gemeingutorientierte Gesellschaft sein. 12.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Eine wahrhafte Kommunikationsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die ursprüngliche Bedeutung der Kommunikation als Vergemein‐ schaftung das Organisationsprinzip darstellt. Eine Gesellschaft der Gemeingüter ist eine wichtige Grundlage der demokratischen Kom‐ munikationsmittel. Demokratische Kommunikationsmittel beruhen auf der kooperativen Rationalität. ■ Der Mensch ist ein soziales und gesellschaftliches Wesen. Die Koope‐ ration gehört zum gesellschaftlichen Wesen des Menschen. Die Men‐ schen haben wegen ihrem Wesen das Interesse nach einem guten Le‐ ben und der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten. ■ Die Gemeingüter sind Güter, die alle Menschen brauchen, um ein gu‐ tes Leben zu führen. Das gute Leben des Individuums ist nur möglich 409 12.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 409 <?page no="410"?> 53 Diese zehn Prinzipien wurden in englischer Sprache zuerst in dem folgenden Artikel publiziert: Christian Fuchs. 2020. Communicative Socialism/ Digital Socialism. tripleC: Communication, Capitalism & Critique 18 (1), http: / / www.triple-c.at. Abdruck und Übersetzung mit Genehmigung der Zeitschrift tripleC. in einer guten Gesellschaft, die das gute Leben für alle ermöglicht. Zur Erzielung einer guten Gesellschaft, die allen Menschen Vorteile ver‐ schafft, bedarf es der kollektiven Organisation der grundlegenden Güter als Gemeingüter. Es bedarf dazu auch inklusiver, kooperativer Kommunikation. Sozialistische Politik sollte Kommunikationspolitik nicht ignorieren, son‐ dern sich damit befassen. Eine gute Gesellschaft muss eine sozialistische und gemeingutorientierte Gesellschaft sein, wozu die Perspektive des informa‐ tionellen und kommunikativen Sozialismus gehört. Marx war im Gegensatz zu den Anarchisten (Proudhon, Bakunin, Kropotkin, usw.) davon überzeugt, dass der Kommunismus nicht unmittelbar nach dem Ende des Kapitalismus erschaffen werden kann, sondern dass eine Übergangsphase notwendig ist, in der der Staat, aber nicht das Kapital weiter existiert. Der Sozialismus ist eine politisch-ökonomische Bewegung, deren ökonomische Grundlagen be‐ reits im Kapitalismus als vergesellschaftete Aspekte der Wirtschaft erschei‐ nen und deren politische Grundlagen in Klassenkämpfen gegen den Kapi‐ talismus und für den Sozialismus gegeben sind. Sozialistische Politik sollte sowohl öffentliche Dienste als auch die Zivilgesellschaft als die Bereiche sehen, aus denen Alternativen entstehen können. Die Politik des informa‐ tionallen und kommunikativen Sozialismus sollte am besten auf einigen all‐ gemeinen Prinzipien beruhen. Es gibt zehn Prinzipien des informationellen Sozialismus und des kom‐ munikativen Kommunismus 53 : 1. Dialektik der Technik: Sozialistische Kommunikationspolitik vermeidet sowohl Technikop‐ timismus/ Technikeuphorie als auch Technikpessismus. Sie fragt statt‐ dessen: Wie können Technik und Gesellschaft so gestaltet werden, dass alle Menschen, Arbeiter und Bürger Vorteile haben und die po‐ sitiven Potentiale der Gesellschaft und der Menschheit entwickelt werden? 2. Radikalreformistische Kommunikationspolitik: 410 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 410 <?page no="411"?> Sozialistische Kommunikationspolitik ist weder reaktionärer Refor‐ mismus, der sich bürgerlichen Interessen beugt, noch utopischer Re‐ volutionsromantizismus. Sie fördert eine Dialektik von Reform und grundlegender Veränderung (radikaler Reformismus). Sie kämpft für Maßnahmen, die unmittelbare Verbesserungen bringen, und zugleich die Möglichkeiten und die Ressourcenlage alternativer, nichtkapita‐ listischer Projekte und Kämpfe für informationellen Sozialismus und kommunikativen Kommunismus verbessern. Sozialistische Kommu‐ nikationspolitik operiert auf der Ebene der politischen Parteien und der sozialen Bewegungen. Sie führt auch Kooperation beider Ebenen (Partei, Bewegung) in der Form einer politisch kooperierenden Mul‐ titude herbei. 3. Vereinte Klassenkämpfe der Kommunikationsarbeiter: Kapitalistische Kommunikationsunternehmen beuten verschiedene Formen der Kommunikationsarbeit aus. Alternativen zum kommuni‐ kativen Kapitalismus können nur aus dem Klassenkampf entstehen. Sozialistische Kommunikationspolitik unterstützt die Kommunikati‐ onsarbeiter aller Länder dabei, sich zu vereinigen. Um diesen Kampf effektiv zu machen brauchen wir nationale und internationale Ge‐ werkschaften, die die verschiedenen Kommunikationsarbeiter über die Grenzen von Branchen, Tätigkeit, Ländern, Unternehmen, Kultu‐ ren, usw. hinweg in einer Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter vereinigen. Die Klassenkämpfe der Kommunikationsarbeiter sind oft fragmen‐ tiert. Um das globale Kapital im Allgemeinen und das globale Kom‐ munikationskapital zu bekämpfen, müssen sich die Kommunikati‐ onsarbeiter der Welt vereinen, sich gegen die Ideologien des Faschismus, Nationalimus, Rassismus und der Xenophobie wenden, wo auch immer diese auftreten (wozu auch Kommunikationsnetzwe zählen) und Strategien der internationalen Solidarität und der ge‐ meinsamen Kämpfe entwickeln. Der Kapitalismus beutet verschiedene Formen der Arbeit aus, wozu auch unbezahlte Arbeiten gehören, die Gemeingüter und soziale Be‐ ziehungen produzieren. Die Interessen der unbezahlten Arbeit wer‐ den nicht am besten durch die Forderung nach einem individualisier‐ ten Lohn vertreten, sondern durch die Forderung eines sozialen Lohns in der Form eines durch Unternehmensbesteuerung finanzierten, um‐ verteilenden Grundeinkommens. 411 12.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 411 <?page no="412"?> 4. Kollektive Kontrolle der Kommunikationsmittel als Produktionsmit‐ tel: Im digitalen und kommunikativen Kapitalismus sind Kommunikati‐ onstechnologien wie Computer, Apps, Software, Hardware, Daten, Inhalte, usw. Produktionsmittel. Das Kapital kontrolliert und kom‐ modifiziert Kommunikationsressourcen. Dort, wo diese Ressourcen eine Rolle im Zusammenhang mit der Arbeit spielen, ist es wichtig, dass die Arbeiter die kollektive Kontrolle der Kommunikationsmittel als wirtschaftliche Produktionsmittel verlangen und für diese Kon‐ trolle kämpfen. 5. Die Zerschlagung von Kommunikationsmonopolen: Kapitalistische Kommunikationsmonopole zentralisieren die wirt‐ schaftliche Macht und sind eine Gefahr für die Demokratie. Die so‐ zialistische Kommunikationspolitik argumentiert und tritt ein für die Zerschlagung kapitalistischer Monopole. Sie bevorzugt weder das in‐ ternationale Kapital gegenüber dem nationalen Kapital (oder umge‐ kehrt) noch das kleine und mittelständische Kapital gegenüber dem Großkapital, sondern öffentliche Güter und Gemeingüter anstelle des Kapitals. 6. Schutz der Privatsphäre, sozialistische Privatsphäre: Öffentliche und gemeingutorientierte Kommunikationsmittel sollten die Privatsphäre der Nutzer respektieren und wirtschaftliche, politi‐ sche und andere Formen der Überwachung minimieren. Die Samm‐ lung und Speicherung persönlicher Daten sollte auf jene Daten, die absolut notwendig sind, beschränkt sein. Die Überwachungskapazi‐ täten des Staates sollten mehr von der ständigen Überwachung der Bürger auf die Bekämpfung der Steuervermeidung durch Firmen und der Wirtschaftsverbrechen umgelenkt werden. Eine wichtige Aufgabe und Forderung ist die Abschaffung der Überwchung der Arbeiter‐ schaft und der Massenüberwachung der Bürger. Unter sozialistischem Privatsphäreschutz ist zu verstehen, dass die Datensammlung mini‐ miert wird, Kommunikationssysteme in einer privatsphärefreundli‐ chen Weise gestaltet werden und Überwachungskapazitäten gegen mächtige Konzerne gerichtet werden, um die Transparenz ihrer wirt‐ schaftlichen und finanziellen Operationen zu erhöhen. 7. Öffentlich-rechtliche Medien und Kommunikationskooperativen: Der Kampf für den Sozialismus muss auf den Territorien der öffent‐ lichen Dienste, des Staates und der Zivilgesellschaft geführt werden. 412 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 412 <?page no="413"?> Die politische Linke sollte für drei Formen der kollektiven Kommu‐ nikationsdienste kämpfen: Dienste, die als öffentliche Organisationen operiert oder ermöglicht werden; Dienste, die kollektiv von Arbeiter‐ kooperativen betrieben werden; und Dienste, die als Partnerschaften von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben werden. Dienste, die viele sensitive persönliche Daten (wie politische Mei‐ nungen) verarbeiten, sollten am besten nicht vom Staat betrieben werden, um das Risko der staatlichen Überwachung politischer Mei‐ nungen zu vermeiden. Dienste, die eine hohe Speicherkapazität be‐ nötigen, können am besten von öffentlichen Institutionen und öffent‐ lich-rechtlichen Medien angeboten werden. Praktisch gesprochen bedeutet dies zum Beispiel, dass es ein öffentlich-rechtliches YouTube und eine zivilgesellschaftliche Facebook Plattform-Kooperative geben sollte. Der Staat sollte es öffentlich-rechtlichen Medien rechtlich und wirtschaftlich ermöglichen, digitale öffentliche Dienst und öffent‐ lich-rechtliche Digitalunternehmen zu gründen. Zeitungen sollten am besten als nichtprofitorientierte, werbefreie und selbstverwaltete Or‐ ganisationen betrieben werden. Presseförderungen, die aus Steuern finanziert werden, sollten nur an nichtprofitorientierte, werbefreie, nichtboulevardorientierte Zeitungen vergeben werden. Alternative Finanzierungsmechanismen für öffentlich-rechtliche und gemeingu‐ torientierte, nicht auf Profit abzielende, nichtkommerzielle Medien sollten geschaffen werden. Dazu gehören zum Beispiel Unterneh‐ menssteuern, die Besteuerung der Online-Werbung und der Werbung im Allgemeinen, die von Nutzern öffentlich-rechtlicher Medien be‐ zahlte Rundfunk- und Mediengebühr, Spendenmodelle, eine Steuer auf digitale Dienste großer, transnationaler Digitalkonzerne, usw. 8. Demokratische Medien der Öffentlichkeit: Die Logik des kommunikativen Kapitalismus und der Warenform för‐ dern Oberflächlichkeit, schnelle Informations- und Nachrichten‐ flüsse, die Personalisierung der Politik, Boulevardisierung sowie Ein‐ dimensionalität im Interesse der Bourgeoisie. Alternativen verlangsamen Informationsflüsse (Slow Media), fördern informierte und informierende politische Debatten, Lernen durch die kollektive Produktion und Partizipation in Räumen der öffentlichen Kommuni‐ kation, die werbefrei, nichtkommerziell und nichtprofitorientiert sind. Solche Räume ermöglichen sowohl professionelle Medien als 413 12.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 413 <?page no="414"?> auch Bürgermedien und die dialektische Verschmelzung beider An‐ sätze. Die sozialistische Kommunikationspolitik fördert die Produk‐ tion und Erhaltung von Medien, die das Potential haben, kritisches, antiideologisches Denken voranzubringen, indem sie das Engagment mit Inhalten stimulieren, die kritisches, dialektisches, antiideologi‐ sches Denken und darauf basierende Debatten unterstützen und ge‐ gen klassenverherrlichende, faschistische, rassistische, xenophobe und sexistische Diskurse auftreten. 9. Politische Kommunikation und Protestkommunikation: Kommunikationstechnologien sind nicht die Ursache von Protesten, Rebellionen und Revolutionen, sondern ein wichtiger Teil der Pro‐ testkommunikation. Sozialistische Kommunikationspolitik versucht, Kommunikationstechnologien zu verwenden, um mit sozialistischer Politik in der Öffentlichkeit möglichst viele Menschen zu erreichen. Wo immer es möglich ist, unterstützt sie die Entwicklung und Ver‐ wendung nichtkommerzieller, nichtprofitorientierter Medien zur Or‐ ganisation und zur öffentlichen Kommunikation. Sie möchte es ver‐ meiden, „alternative Ghettos“ mit ressourcenarmen Alternativmedien zu schaffen, die auf prekärer Arbeit beruhen. Für diesen Zweck be‐ nötigt man eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, Ressourcen für Alternativmedien bereitzustellen. Auch politische Bildung in den Schulen und anderen Bildungsein‐ richtungen ist ein Aspekt der politischen Kommunikation. Politische Bildung soll die Menschen zur kritischen Reflexion über die Gesell‐ schaft befähigen und das komplexe, dialektische und selbständige Denken fördern. 10. Selbstverwaltete, demokratische Regierung: Die sozialistische Kommunikationspolitik ist überzeugt von der Not‐ wendigkeit der demokratischen und partizipatorischen Kontrolle der Medienorganisationen. Sie unterstützt und fördert also Organisati‐ onsformen, die darauf abzielen, dass die in diesen Unternehmen Ar‐ beitenden und Repräsentanten der Menschen, die von den Operatio‐ nen dieser Medien im Alltag betroffen sind, am Entscheidungsprozess teilhaben. Die Ethik der Gemeingüter ist politisch, da sie Praxis und den Kampf für Alternativen zum Kapitalismus braucht, um das Florieren der Menschen und der Gesellschaft zu unterstützen, sodass diese ihre Potentiale verwirklichen 414 12. Kommunikationsgesellschaft als Gesellschaft der Gemeingüter 414 <?page no="415"?> können. In Bezug auf den Kapitalismus ist die Gesellschaft der Gemeingüter transzendent, da sie über diesen hinausgeht. Die Liebe ist das Prinzip der Gesellschaft der Gemeingüter. Liebe und Tod sind bestimmte Formen der Transzendenz, mit denen wir uns im nächsten Kapital auseinandersetzen werden. 415 12.4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 415 <?page no="417"?> 1 Jacques Derrida. 2004. Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 78. 2 Zur Widerlegung dieser Behauptungen siehe: Terry Eagleton. 2012. Warum Marx recht hat. Berlin: Ullstein. 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 13.1. Einleitung Wurde seit 1990 vom Tod in Bezug auf den Marxismus gesprochen, so war damit zumeist der „Tod von Marx“ und der „Tod des Marxismus“ gemeint. Jene, die so sprechen, meinen damit: „Klassenanalyse, Klassenkampf und Kapitalismuskritik sind veraltet und falsch! Das brauchen wir nicht! “. Der Aufstieg des Neoliberalismus, der Stalinismus sowie die Korruption und der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wirkten derart zusam‐ men, dass es schwierig wurde, sich positiv auf Marx zu beziehen. Meine eigene politische und akademische Sozialisierung fand im Kontext eines Klimas des Hasses auf Marx und den Marxismus statt. Immer wieder konnte man die „alte Leier“ hören: „Marx ist tot, der Sozialismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der öko‐ nomische und politische Liberalismus“ 1 . Diese alte antimarxistische Leier war nicht nur von Neoliberalen zu hören, sondern immer wieder auch von Vertretern der Identitätspolitik und des Postmodernismus, die sich selber als politisch progressiv verstehen. Der Effekt davon ist, dass Postmoderne und Neoliberale die Diskriminierung des Marxismus und seiner Vertreter vor‐ angetrieben haben. Dabei wurde und wird immer wieder behauptet, der Marxismus und Marx seien reduktionistisch, deterministisch, totalitär und antidemokratisch 2 . Jene, die derartige Behauptungen aufstellen, haben meist Marx gar nicht gelesen und können gar keine Diskussion über Marx führen. Sie haben aber häufig Machtpositionen inne, die es ihnen erlauben, den Marxismus und dessen Vertreter zu diskriminieren. Es handelt sich um den Versuch, jedes Aufleben des Marxismus zu töten. <?page no="418"?> Seit 2008 durch die Antagonismen des Kapitalismus eine neue Weltwirt‐ schaftskrise ausgelöst wurde, können selbst die Dümmsten und Ignorantes‐ ten nicht mehr leugnen, dass Klasse und die kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert eine große Bedeutung haben. Sozialistische Politik hat nicht unmittelbar im Zuge der Krise einen allgemeinen Auf‐ schwung erfahren. Dennoch wurde das Interesse an Marx und marxistischer Theorie deutlich größer. Der Gesamteffekt war, dass es leichter wurde, über Marx, Marxismus, Kapitalismus, Klasse, Ausbeutung und Sozialismus zu sprechen. Marx war niemals tot, da sein Werk mindestens solange praktisch und theoretisch von Bedeutung bleibt, wie der Kapitalismus existiert. Es gab und gibt aber viele, die Marx‘ Arbeiten gerne für endgültig tot erklären möchten. Die reale gesellschaftliche Entwicklung zeigt hingegen deren Ak‐ tualität. Da das ideologische Todschweigen von Marx gescheitert ist, ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, den Tod im Kontext von Marx nicht als „Tod von Marx“ zu verstehen, sondern die Frage zu stellen, wie der Marxismus sich am besten mit dem Phänomen des Todes auseinandersetzen soll. Dieses Ka‐ pitel ist ein Beitrag zu dieser Aufgabe. Die Metaphysik ist ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit Phänome‐ nen beschäftigt, die wir nicht einfach quantifizieren können und die nicht so einfach in Worten ausdrückbar sind. Der Tod, die Trauer, Religion und die Liebe gehören zu den existentiellen menschlichen Phänomenen, die in den Bereich der Metaphysik fallen. Eine kritische Theorie der Kommunika‐ tion muss sich mit metaphyischen Fragen wie etwa jener, wie wir über den Tod, die Trauer und die Liebe kommunizieren, auseinandersetzen. Der Marxismus hat sich bisher nicht so sehr mit metaphysischen Fragen wie dem Tod auseinandergesetzt. Der Tod im Kontext von Marx wurde bis‐ her vorwiegend als der Tod von Marx‘ Theorie verstanden. Da Marx aber zurückgekehrt ist, ist es Zeit, dass wir uns der Frage zuwenden, was Marx und die marxistische Theorie uns über den Tod und die Kommunikation des Todes zu sagen haben. Die Metaphysik ist der Aspekt der Philosophie, der sich mit Fragen des Trans-Empirischen beschäftigt, also mit Fragen, die über die rein empirische Alltagsrealität des Menschen hinausgehen. Dazu gehört auch der Tod. Der Tod ist eine wichtige Ursache, ein wichtiger Anstoß, ein wichtiger Anlass und ein wichtiges Einfallstor zur Beschäftigung mit metaphysischen philo‐ sophischen Fragen. Da der Tod ein Skandal ist, der alle Menschen betrifft, stellen sich alle Menschen auch metaphysische Fragen. Der Tod ist der dia‐ 418 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 418 <?page no="419"?> 3 Übersetzung aus dem Englischen [“have much to say about some vital questions - death, suffering, love, self-dispossesion and the like - on which the left has for the most part maintained an embarrassed silence“]: Terry Eagleton. 2009. Reason, Faith, & Revolution. Reflections on the God Debate. New Haven, CT: Yale University Press. S. xii. 4 Karl Marx. 1843. Marx an Arnold Ruge, September 1843. In Marx Engels Werke (MEW) Band 1, S. 343-346. Berlin: Dietz. S. 345. lektische Gegenpol zur Liebe. Da der Tod jedoch das ewige Dunkel des Nichts ist, mit dem der Mensch konfrontiert ist und das Anlass zur Trauer ist, ist es ein schlechter Trost, einfach das Leben als Perspektive gegen den Tod zu setzen. Ein hoffnungsgebender Gegenpol zum Tod ist einzig die Liebe als zwischenmenschliches Prinzip und als gesellschaftliches Prinzip des So‐ zialismus. Die Religionen „haben viel zu sagen über einige wesentliche Fragen wie den Tod, das Leiden, die Liebe, die Selbstenteignung und dergleichen, über die die Linke größtenteils eine peinliche Stille aufrechterhalten hat“ 3 . Marx spricht davon, dass die „Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoreti‐ schen Kämpfen der Menschheit“ 4 ist. Zu diesen Kämpfen gehören ideologi‐ sche Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe genauso wie der Kampf mit der Angst vor Schmerz, Leid, Verlust, Einsamkeit und Tod. Metaphysische Fragen sind also Teil des Inhaltsverzeichnisses der Menschheit. Der Mar‐ xismus muss sich wie andere Philosophien mit solchen Fragen auseinan‐ dersetzen, um die Lebensrealitäten des Menschen verstehen zu können und auf diese antworten zu können. Abschnitt 13.2 beschäftigt sich mit der Frage, wie der Tod und die Liebe ontologisch erfasst werden können. Abschnitt 13.3 setzt sich mit dem Tod und der Entfremdung auseinander. In Abschnitt 13.4 geht es um die Trau‐ erarbeit und die Kommunikation des Todes und der Trauer. Abschnitt 13.5 diskutiert Sterblichkeit, Unsterblichkeit sowie Post- und Transhumanismus. 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie Der Tod des Menschen ist das Ende, das absolute Nichts. Jede Veränderung ist ein Werden als eine Dialektik von Sein und Nichts. Eine neue Idee, die eine ältere Idee aktualisiert, macht diese nichtig. Eine neue seiende Idee hebt die alte Idee auf im Sinne der dreifachen dialektischen Aufhebung, also der gleichzeitigen Eliminierung, Bewahrung und des Höherhebens auf eine neue Organisationsstufe. Genauso verhält es sich mit der Einführung neuer Pro‐ 419 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie 419 <?page no="420"?> 5 Aristoteles. 1983. Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. Berlin: Akade‐ mie-Verlag. § 1115a. 6 Ebd., § 1115a. 7 Ebd., § 1115a. 8 Erich Fromm. 1977. Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S. 372. duktionsmethoden und Technologien, die alte Methoden aufheben. Der Tod hingegen ist die Vernichtung von Sein, das Ende des Körpers, des Geistes, des Bewusstseins, des Denkens, des Handelns, der Erfahrung, der sozialen Beziehungen, der sozialen Rollen und der Kommunikation eines bestimmten Menschen. Aus dem Tod einer Person mag etwas Neues für andere Personen produziert werden, wie etwa neue Einsichten in die eigene Lebensgestal‐ tung. Aber der Tod eines Menschen produziert nichts Neues in Bezug auf diesen Menschen, sondern zerstört dessen Sein. Der Tod ist eine pure nega‐ tive Dialektik. Aristoteles über den Tod Aristoteles situiert den Tod im Kontext der Angst. Der Mensch hat Angst vor „Armut, Krankheit, Verlassenheit und Tod” 5 . Angst ist das „Vorgefühl drohenden Übels” 6 . „Das Schwerste aber ist der Tod: er ist das Ende und nicht mehr kann, so glaubt man, dem Toten geschehen, weder Liebes noch Lei‐ des” 7 . Aristoteles argumentiert, dass die edelste und tapferste Form des Todes das Sterben „in Ehre“ und ohne Furcht im Kampf ist. Er idealisiert dadurch den Krieg. Es ist nicht einzusehen, warum das Sterben für Volk, Nation, Führer etc. edel sein soll. Aristoteles benennt nicht direkt das Sterben für das „Vaterland“ als edel, idealisiert also nicht den Nationalismus. In Situa‐ tionen des Faschismus ist der bewaffnete antifaschistische Kampf gegen das Terrorregime tatsächlich ehrenhaft. Der Antifaschismus ist jedoch der Ge‐ genpol zum Nationalismus und Imperialismus, die Weltkriege verursacht haben. Todesmystik muss vermieden werden. Der Tod an sich ist ein Skandal. Das schließt nicht aus, dass es Situationen gibt, in denen die Bekämpfung derer, die das Töten zum System machen, wie im Faschismus, ehrenhaft ist. Das Sterben an sich kann aber niemals ehrenhaft sein, sondern stellt eine Tragödie dar. Der Faschismus idealisiert das Töten, das Sterben und erachtet den Soldaten als den idealen Menschen. Erich Fromm 8 bezeichnet jemanden, der auf Basis des Prinzips „Es lebe der Tod“ handelt, als nekrophilen Charakter. Nekrophilie ist die „die Leiden‐ 420 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 420 <?page no="421"?> 9 Ebd., S. 373. schaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören um der Zerstörung willen“ 9 . Hitler hatte laut Fromm nicht nur einen autori‐ tären und sadomasochistischen, sondern auch einen nekrophilen Charakter. Philosophische Positionen zum Tod Je nach philosophischer Position wird der Tod als vollständiges oder teil‐ weises Ende der Existenz des Menschen sowie als zeitlich vorläufig oder dauerhaft aufgefasst. Diverse Religionen gehen von einem Leib/ Seele-Dua‐ lismus aus und dass die Seele beim Tod nicht stirbt, sondern weiterlebt. Die‐ sen dualistischen Glauben teilen die Weltreligionen des Buddhismus, des Christentums, des Hinduismus, des Islams und des Judentums. Das Chris‐ tentum, der Islam und das Judentum fassen den physischen Tod als dauerhaft auf und sehen die Möglichkeit des Weiterlebens der Seele in einem Paradies (Tod als Ende des menschlichen Körpers und des ewigen Weiterlebens der Seele). Im Buddhismus und im Hinduismus geht man hingegen von einem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara) aus (Tod als Ende des menschlichen Körpers und als Seelenwanderung). Die auf Karl Marx fu‐ ßende dialektische und materialistische Weltanschauung ist hingegen wie andere materialistische Auffassungen monistisch. Die Materie gilt dabei als eine differenzierte Einheit und Totalität, in der die Momente ineinander übergreifen und zusammengehören (siehe Kapitel 2 in diesem Buch). Daher werden Geist und Körper des Menschen als zusammengehörende Aspekte der menschlichen Materie aufgefasst. Der Tod gilt daher als vollständiges und dauerhaftes Ende des Menschen, also der Seele und des Körpers. Während der religiöse Mensch Trost durch den Glauben an die Erlösung des Menschen im Paradies oder im Nirwana finden kann, gilt bei den Mar‐ xisten ein derartiger Glaube als irrational und esoterisch. Sie konzentrieren sich meist auf den Kampf um die „Erlösung“ der Unterdrückten innerhalb der Gesellschaft. Unabhängig von ihrem Glauben und von Theismus und Atheismus sind die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mit der Trauer um geliebte Verstorbene konfrontiert. Die Religion ist ein ideologischer Umgang damit, der realen Trost spenden kann und auch das Weiterleben ermöglicht. Marx betont ja, dass die Religion nicht nur „Opium des Volkes“ ist, sondern auch der „Seufzer der bedrängten Kreatur“, „Gemüt einer herz‐ losen Welt“, „Geist geistloser Zustände“ und „Ausdruck des wirklichen Elen‐ 421 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie 421 <?page no="422"?> 10 Karl Marx. 1844. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einleitung. In Marx En‐ gels Werke (MEW) Band 1, 378-391. Berlin: Dietz. S. 378. 11 Übersetzung aus dem Englischen [“the secular project of understanding societies and expressions of human possibility and history as a means of liberating the present from the burdens of the past, and so constructing the future. […] But the Marxist project remains the only one we have for reestablishing hope as a social virtue“]: Alasdair MacIntyre. 1968/ 1984. Marxism and Christianity. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press. S. 115-116. des“ 10 . Religion hat in ihren Heilsversprechen der jenseitigen Erlösung einen ideologischen Charakter. Der Grund, warum die Menschen aber Zuflucht in der Religion suchen, hat oft mit Leid, Schmerz, Trauer, Verlust, Tod und Unglück zu tun. Der Marxismus sollte metaphysische Fragen, die mit Tod und Trauer zu tun haben, nicht einfach ignorieren, sondern materialistische Antworten auf fundamentale Probleme der menschlichen Existenz bieten. Religion und Marxismus haben die Hoffnung auf ein gutes Leben für alle gemeinsam. Der Marxismus ist die Übersetzung dieser Hoffnung „in ein sä‐ kulares Projekt, das Gesellschaften, Äußerungen menschlicher Möglichkeit und Geschichte als ein Mittel versteht, um die Gegenwart von den Bürden der Vergangenheit zu befreien, wodurch die Zukunft konstruiert wird. Das marxistische Projekt bleibt das einzige, das wir haben, um die Hoffnung als gesellschaftliche Tugend wiederherzustellen“ 11 . Ein wichtiger Aspekt, der sich aus dem Marxismus ergibt, ist die Not‐ wendigkeit der Solidarität der Menschen im Kampf um ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft. Das Ideal der sozialistischen Gesellschaft betont Ge‐ meinschaft, kollektive Kontrolle, Kooperation und Solidarität. Diese Prinzi‐ pien spielen auch in Bezug auf den Tod und die Trauer eine Rolle: Ist der Mensch in Not, Krankheit, beim Sterben und bei der Trauer alleine, so po‐ tenziert sich sein Leiden. Sind andere mit ihrer Solidarität, Liebe und Freund‐ schaft da, so können das Leiden, das Sterben, der Tod und die Trauer nicht verschwinden, aber durch die gemeinsame Erfahrung gelindert und besser ertragen werden. Im Marxismus ist die Nächstenliebe aber nicht nur ein zwischenmenschliches Prinzip wie in vielen Religionen, sondern ein gesell‐ schaftliches und klassenkämpferisches Prinzip. Der Sozialismus ist die Ge‐ sellschaft der Nächstenliebe, des Friedens und des Humanismus. Im Sozia‐ lismus verschwinden Tod und Trauer nicht, das einsame Sterben, die einsame Krankheit und die einsame Trauer werden aber unwahrscheinli‐ cher. Nur im Sozialismus wird es möglich, „den Tod der menschlichen Au‐ tonomie zu unterwerfen, wenn schon nicht in Ansehung der Zeit, so jeden‐ 422 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 422 <?page no="423"?> 12 Herbert Marcuse. 1958/ 2002. Die Ideologie des Todes. In Herbert Marcuse Nachgelassene Schriften Band 3: Philosophie und Psychoanalyse, hrsg. Peter-Erwin Jansen, 101-114. Lü‐ neburg: zu Klampen. S. 112. 13 Erich Fromm. 1976. Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv. S. 156. 14 Theodor W. Adorno. 1998. Metaphysik: Begriff und Probleme. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. S. 212. 15 Ebd., S. 207. 16 Theodor W. Adorno. 1966. Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 364. 17 Ebd., S. 358. falls in Ansehung seiner Qualität: durch den Ausschluss von Altersschwäche und Leiden“ 12 . Erich Fromm argumentiert, dass die Angst vor dem Sterben am besten durch die „Bekräftigung der Liebe zum Leben, durch Erwiderung der Liebe andere, die unsere eigene Liebe entfachen kann“ 13 gelindert wer‐ den kann. Liebe und Tod sind grundlegende Aspekte des menschlichen Seins. Die Liebe ist die moralisch und politisch positivste Aspekt des Seins, auf dem der Sozialismus als Gesellschaftsform gründet. Der Tod ist die ne‐ gativste, dunkelste, absurdeste Seite des Seins. Wenn die Menschen durch Entfremdungszustände, Herrschaft und Aus‐ beutung gar nicht richtig leben können, dann ist der Schrecken vor dem Tod „wesentlich Schrecken darüber, wie sehr die Lebendigen ihm ähnlich sind. Und man könnte vielleicht sagen, dass deshalb, wenn das Leben richtig wäre, damit auch die Erfahrung des Todes sich radikal verändern würde“ 14 . Erst in einer Gesellschaft, in der die Menschen, „wirklich identisch wären mit dem, was wir nicht sind“ und das wir „werden könnten, erst dann bestünde viel‐ leicht die Möglichkeit auch, versöhnt zu sterben“ 15 . Es besteht wohl ein qualitativer Unterschiede zwischen dem Tod eines Menschen in reifem Alter, der sein Leben in vollen Zügen gelebt hat und genießen hat können und „friedlich“ stirbt, und dem Tod eines Kindes oder jungen Menschen oder dem unerwarteten Tod durch ein Massaker, einen Genozid, Krieg oder andere Katastrophen. „Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“ 16 . Seit Auschwitz gibt es einen neuen kategorischen Imperativ, nämlich die Wiederholung des industriellen Massenmordes zu verhindern: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen katego‐ rischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ 17 . Der Tod eines Kindes oder Jugendlichen macht oft besonders betroffen, da in so einem Fall dem Menschen nicht nur das Leben geraubt wird, sondern 423 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie 423 <?page no="424"?> 18 Jean-Paul Sartre. 1943/ 1991. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S. 632. 19 Ebd., S. 617. 20 Martin Heidegger. 1926/ 2006. Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 19. Auf‐ lage. S. 247. auch die Möglichkeit, lange Jahre zu leben, eine eigene Familie zu gründen, eigene Kinder zu haben und Selbsterfüllung im Leben zu erfahren. Der Sinn des menschlichen Seins: Drei philosophische Positionen In Bezug auf die Fragen nach dem Sinn des menschlichen Seins gibt es im Wesentlichen drei Positionen. In der ersten Position gelten sowohl das Leben als auch der Tod als absurd und sinnlos. Die zweite Position sieht den Sinn des Lebens durch den Tod definiert. Der Tod gilt als sinnstiftend, die Todes‐ erwartung als der Sinn des Lebens. In der dritten Position gilt das Leben als sinnvoll und der Tod als sinnlos. Jean-Paul Sartre Die Absurditätsthese des Lebens und des Todes wird von Jean-Paul Sartre vertreten: „Es ist absurd, dass wir geboren werden, es ist absurd, dass wir sterben“ 18 . Sartre hat sicher recht, wenn er vom „absurde[n] Charakter des Todes“ 19 spricht. Daraus folgt aber nicht der Absurdheitscharakter des Le‐ bens. Das menschliche und gesellschaftliche Leben hat die Möglichkeit zum individuellen, sozialen, kollektiven und gesellschaftlichen Glück. Die Mög‐ lichkeit des Glückes und das durch Solidarität sozial geschaffene und geteilte Glück macht das Leben lebenswert. Das Leben an sich ist daher nicht absurd. Absurd wird das Leben durch Herrschaft, Klassenverhältnisse und Ausbeu‐ tung, die Unglück im Leben und der Lebenden erzeugen. Martin Heidegger Martin Heidegger vertritt die zweite Position. Für ihn ist das Dasein des Menschen das Sein-zum-Tode. Das heißt, dass Heidegger den Tod ontologi‐ siert. Er erachtet ihn als den entscheidenden Aspekt der menschlichen Exis‐ tenz. Für Heidegger ist der Tod das „»Ende« des Daseins, das heißt des In-der-Welt-seins“ 20 . Nur durch den Tod ist das Leben für Heidegger voll‐ 424 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 424 <?page no="425"?> 21 Ebd., S. 249. 22 Marcuse, Die Ideologie des Todes, S. 107. 23 Adorno, Metaphysik, S. 203. 24 Marcuse, Die Ideologie des Todes, S. 107. 25 Ebd., S. 113. 26 Ebd., S. 114. 27 Ebd., S. 112. 28 Erich Fromm. 1941/ 2000. Die Furcht vor der Freiheit. München: dtv. S. 259. 29 Ebd., S. 259-260. ständig: Durch das „Sein zum Ende“ wird ein „konstituiertes Ganzsein“ 21 des Daseins möglich. Wird das Leben und die Existenz des Menschen über den Tod bestimmt, so wird das Nichts verabsolutiert und idealisiert. Der Tod ist nicht der Alltag des Menschen, sondern eine Tragik, Tragödie, Absurdität und Sinnlosigkeit, die ins Sein und den Alltag des Menschen hereinbricht und es auseinander- und zerbricht. Herbert Marcuse argumentiert, dass Heidegger eine „Ermun‐ terung zum Tod“ 22 betrieb. Adorno spricht von Heideggers „Propaganda für den Tod“ 23 . Und diese Propaganda fand laut Marcuse „genau zu der Zeit“ statt, „als für die entsprechende Wirklichkeit des Todes die politischen Grundlagen gelegt wurden, für die Gaskammern und Konzentrationslager von Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen“ 24 . Marcuse kritisiert den Todes-Nihilismus als „verzückte Hinnahme des Todes“ 25 , der sich in der Opferbereitschaft von Soldaten oder der Akzeptanz der möglichen nuklea‐ ren Massenvernichtung der Menschheit äußert. Der Tod wird dabei von den Herrschenden instrumentalisiert. Er wird zur Ideologie des Todes. Er ist dann nicht ein natürliches Faktum, sondern ein gesellschaftlich gemachtes Faktum. Das „Einvernehmen mit dem Tod“ ist dann das „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod“ 26 . Durch ein derartiges Einvernehmen gewinnt der Tod „die Macht einer Institution, die dank ihrer vitalen Nützlichkeit nicht verändert werden soll, auch dann nicht, wenn eine Veränderung vielleicht möglich wäre“ 27 . Der Faschismus beruht auf einer sadomasochistischen Ideologie und Charakterstruktur, die auf dem Konzept der „Selbstaufopfe‐ rung als höchste Tugend“ aufbaut 28 . „Dieses masochistische Opfer sieht die Erfüllung des Lebens in dessen Negierung, in der Auslöschung des Selbst. Diese Art des Opfers ist nur höchster Ausdruck dessen, was der Faschismus in allen seinen Abarten erreichen möchte - die Vernichtung des individu‐ ellen Selbst und seine völlige Unterordnung unter eine höhere Macht” 29 . 425 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie 425 <?page no="426"?> 30 Adorno, Negative Dialektik, S. 362. 31 Heidegger, Sein und Zeit, S. 252. 32 Ebd., S. 259. 33 Ebd., S. 262. 34 Ebd., S. 266. Das Leben ist nur dann eine Ganzheit, wenn der Mensch seine ganzen Möglichkeiten in der Gesellschaft verwirklichen kann. Die Ganzheit des Menschen ist also weltlich und gesellschaftlich bestimmt und nicht, wie Heidegger behauptet, durch den Tod. Die Ausbeutung in Klassenverhält‐ nissen und die Herrschaft verstümmeln den Menschen, sodass er keine Ganzheit sein kann. Der Mensch kann dann nicht sein, was er sein könnte. Heidegger vernachlässigt die negativen und destruktiven Aspekte der Klas‐ sengesellschaft. Gerade „weil der Tod nicht, wie bei Heidegger, die Ganzheit des Daseins konstituiert, erfährt man, solange man nicht debil ist, den Tod und seine Boten, die Krankheiten, als heterogen, ichfremd“ 30 . Wenn Heidegger behauptet, dass „das Sein zum Tode ursprünglich und wesenhaft dem Sein das Daseins zugehört“ 31 , so trifft dies zwar auf das Dasein der Fa‐ milie, Freunde und Bekannten eines Verstorbenen zu. Basierend darauf wie die Beziehung eines Menschen zu einem Verstorbenen während dessen Le‐ benszeit aussah, ergeben sich unterschiedliche Reaktionen wie Trauer, Trau‐ erarbeit, Gleichgültigkeit etc. Durch die Reaktion auf den Tod eines Be‐ kannten, Freundes oder Familienmitgliedes ist der Tod Teil des Lebens. Heidegger irrt aber in Bezug auf den Tod einer konkreten Person: Der Tod ist nicht Teil des Lebens einer bestimmten Person, sondern konstituiert das Ende der Lebenszeit, ein unendliches Nichts. Der Tod steht nicht innerhalb, sondern außerhalb und nach der Lebenszeit. Heidegger erachtet die Verdrängung des Todes und falsche Überlebens‐ hoffnungen als „ein uneigentliches Sein zum Tode“ 32 . Als eigentliches Sein zum Tode versteht er das „Vorlaufen in die Möglichkeit“ 33 des Todes. Mit die‐ sem Begriff bezeichnet er die gedankliche Vorwegnahme des Todes, inklu‐ sive des eigenen Todes. Dadurch sei es möglich, die Angst vor dem Tod zu überwinden und dem Tod freiheitlich zu begegnen 34 . Heidegger ontologisiert und entskandalisiert nicht nur den Tod, sondern hat auch eine philosophisch idealistische Auffassung des Todes: Er unterscheidet richtige („eigentliche“) und falsche („uneigentliche“) gedankliche Formen des Umganges mit dem Tod. Sich dem Tode gedanklich stellen gilt ihm als mutig, ihn zu verdrängen oder nicht wahrhaben wollen hingegen als feig und falsch. Der Tod aber ist eine materielle Gewissheit unabhängig davon, wie der Mensch sich ihm 426 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 426 <?page no="427"?> 35 Thomas Nagel. 1979/ 2014. Der Tod. In Der Tod: Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. Héctor Wittwer, 242-258. Stuttgart: Reclam. S. 243. 36 Ebd., S. 243. geistig stellt oder nicht stellt. Der Tod wird nicht mehr oder weniger absurd, sinnlos und skandalös, indem man mehr oder weniger darüber nachdenkt. Ein Mensch kann den Tod nicht stoppen, indem er/ sie an ihn denkt oder nicht an ihn denkt. Nach dem Tod einer für einen Menschen wichtigen Per‐ son gibt es unterschiedliche Umgangsformen, die auf das eigene Weiterleben abzielen. Thomas Nagel Thomas Nagel ist ein Repräsentant der dritten Position, die auch in diesem Kapitel vertreten wird. Er argumentiert, dass „der Tod deswegen ein Übel ist, weil mit seinem Eintreten all das Gute ein Ende hast, das uns das Leben bietet“ 35 . Ein Gegenargument dazu lautet nun aber, dass viele Menschen ein schlechtes Leben haben und der Tod für sie daher oft eine Erlösung ist. Dieses Argument übersieht aber, dass die Gesellschaft die Möglichkeit hat, ein gutes Leben für alle zu organisieren. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte haben etwa die realen Möglichkeiten zur Schaffung eines Lebens ohne Müh‐ sal stark zugenommen. Durch die Möglichkeit des guten Lebens und des Glücks für alle ist das Leben auch lebenswert. Klassengesellschaften impli‐ zieren die Notwendigkeit der politischen Erkämpfung des Glücks für alle. Das schlechte Leben ist gesellschaftlich gemacht und zu einem guten Teil von Herrschaft und Klassenverhältnissen bedingt. Nagel geht nicht auf As‐ pekte des Kapitalismus und der Herrschaft ein. Er meint, dass „Wahrnehmen, Wünschen, Handeln und Denken“ 36 für das gute Leben konstitutiv sind. Diese Bestimmung ist aber zu allgemein und zu individualistisch. Es handelt sich um rein individuelle Aspekte des Lebens. Zum Leben gehören aber auch soziale Phänomene wie die Werktätigkeit und die Kommunikation, wodurch soziale Beziehungen organisiert werden. Das gute Leben setzt herrschafts- und klassenfreie Räume voraus. Der Kapitalismus hat die Gesellschaft nicht vollständig kolonialisiert, sodass immer Räume bleiben, in denen wir Liebe und Glück erfahren. Es sind also bestimmte Formen des Wahrnehmens, Wünschens, Handelns, Denkens, Kommunizierens, Werkens und der sozia‐ len Beziehungen, die das gute und glückliche Leben ausmachen. Auch in herrschaftsfreien Räumen ist der Mensch mit Krankheit, Leiden, Schmerz, 427 13.2. Der Tod, die Liebe und die Ontologie 427 <?page no="428"?> 37 Ebd., S. 253. 38 Ebd., S. 253-254. Verlust, Trauer und Tod konfrontiert. Es ist aber in herrschaftsfreien Räu‐ men und in einer herrschaftsfreien Gesellschaft wahrscheinlicher, dass er mehr Kraft hat, damit umzugehen, und Solidarität durch Mitmenschen er‐ fährt. Nagel macht ein wichtiges Argument über den Tod: Der Tod zerstört Le‐ bensmöglichkeiten des Menschen. „Doch die Zeit nach unserem Tod ist die Zeit, die uns der Tod raubt“ 37 . „Deshalb führt der Tod stets zum Verlust irgendeiner Lebensspanne, die sein Opfer noch erlebt hätte, wäre es nicht zu dieser oder einer früheren Zeit gestorben“ 38 . Der Tod ist der Verlust der möglichen guten Lebenszeit. Er bedeutet das Ende der Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, für ein gutes Leben zu kämpfen und durch Solidarität das gute Leben in der guten Gesellschaft zu fördern, wodurch auch Sinn entsteht. Der nächste Abschnitt fragt: Was hat der Tod mit der Entfremdung zu tun? 13.3. Tod und Entfremdung: Der Tod als Endfremdung Thomas Nagel legt nahe, dass es sich beim Tod um eine Entfremdung han‐ delt. Man entfremdet sich durch den Tod absolut vom eigenen Körper und Geist. Marx versteht unter Entfremdung den Verlust der Kontrolle und der Bestimmung über Zusammenhänge, die einen betreffen (siehe Abschnitt 8.1 in Kapitel 8 dieses Buches). Das eigene Leben betrifft den Menschen am unmittelbarsten, was nahelegt, dass es sich beim Tod um eine besondere Form der Entfremdung handelt. Entfremdung ist aber ein gesellschaftliches Phänomen, das impliziert, dass die verlorene Kontrolle zurückgewonnen werden kann, dass man sich also die entfremdeten Strukturen, Beziehungen und Zusammenhänge aneignen kann. Die Entfremdung setzt also die Mög‐ lichkeit der Aneignung und der Erlangung der Kontrolle über das eigene Leben durch gesellschaftliche Kämpfe als Gegenpol und Gegenmacht zur Entfremdung voraus. Ist man aber tot, so erlöschen alle Handlungsmöglich‐ keiten, also auch die Möglichkeiten der Aneignung und des Kampfes gegen Entfremdung. Der Tod löscht die Möglichkeit der Aneignung aus. Dieser Umstand spricht dagegen, den Tod als Form der Entfremdung aufzufassen. Die Nichtkontrolle und der Verlust der Kontrolle über Körper und Geist beim 428 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 428 <?page no="429"?> 39 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 621. 40 Ebd., S. 934. 41 Ebd., S. 934. Tod ist ein Aspekt der Entfremdung. Der Tod bedeutet im Gegensatz zur Entfremdung den Verlust der Möglichkeit zur Aneignung und zur Teilnahme an Klassenkämpfen. Tod als Endfremdung Der Tod ist die Endfremdung, die Fremdheit ohne Ende. Der Tod ist die ul‐ timative Entfremdung vom Selbst und der Gesellschaft. Er bedeutet die Ver‐ nichtung des Wesens eines Menschen und all seiner Möglichkeiten als menschlichem Wesen. Der Tod ist „eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt“ 39 . Während die durch die Herrschaft verursachte Entfremdung zu einem möglichen Ende kommen kann, ist die durch den Tod verursachte Entfremdung von Körper, Geist, sozialen Beziehungen, Gesellschaft, Erfahrung, Bewusstsein, Handeln und Kommunikation endlos. Zwar führt die Endfremdung auch zu einem Ende der Erfahrung gesellschaftlicher Entfremdung, aber nicht zum Ende der Entfremdung als gesellschaftlichem Phänomen. Hat ein Mensch unter entfremdeten Bedingungen gelebt, also im Unglück, und stirbt unter diesen Bedingungen, so hat er nicht mehr die Möglichkeit, ein besseres Leben in Glück zu erleben und für dieses gemeinsam mit anderen zu kämpfen. Die Endfremdung ist also ein Unglück und keine Erlösung von der Entfremdung. Was den Hinterbliebenen bleibt, ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die Entfremdung im Andenken an den geliebten Verstorbenen. Sartre argumentiert, dass der Tod eine Entfremdung ist, da man dadurch zur „Beute der Anderen“ 40 wird. „Tot sein heißt den Lebenden ausgeliefert sein“ 41 . Sartre meint damit, dass die Überlebenden über den Toten sagen und behaupten können, was sie wollen, ohne dass dieser sich dagegen zur Wehr setzen kann. Sartre bezieht sich hier auf einen kommunikativen Aspekt der Endfremdung: Da dem Toten alle Möglichkeiten des Menschseins geraubt werden, kann er nicht mehr kommunizieren. Er kann daher den Mitmen‐ schen nicht sagen, wie er über bestimmte Aussagen, die jemand über ihn, über andere und über die Gesellschaft macht, denkt. 429 13.3. Tod und Entfremdung: Der Tod als Endfremdung 429 <?page no="430"?> 42 Karl Marx.1857/ 58. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW Band 42. Berlin: Dietz. S. 278. 43 Ebd., S. 219. Entfremdung als Tod Die Entfremdung nimmt wirtschaftliche, politische und kulturelle Formen an: Ausbeutung, politische Unterdrückung und Ideologie sind drei Formen der Herrschaft, die zur Entfremdung des Menschen von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen führen. Das Resultat der Ent‐ fremdung ist, dass den Menschen die Kontrolle über die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systeme, in denen sie leben, weggenommen wird. Kapitalismus, Klassengesellschaften und Herrschaft bedeuten immer ein Stück weltlichen Todes des Menschen und der Gesellschaft: Sie töten die Realisierung von Möglichkeiten, die das Glück aller Menschen fördern kön‐ nen. Die Entfremdung als Entsagung vom guten Leben für alle und der Rea‐ lisierung positiver Möglichkeiten ist ein Stück Tod im Leben. Entfremdung impliziert auch Formen der direkten, strukturellen und ideologischen Re‐ pression. Entfremdete Strukturen inkludieren daher immer die Gefahr der direkten und indirekten Tötung von Menschen durch Wirtschaft, Politik und Ideologie. Beispiele dafür sind Überarbeitung, Arbeitsunfälle und negative Gesundheitsfolgen der Arbeit in der Wirtschaft; Krieg, Terror, Imperialis‐ mus, Faschismus und Genozide in der Politik; sowie durch Rassismus, Na‐ tionalismus und andere Ideologien angeheizte individuelle Morde und Mas‐ senmorde an Menschen, die zu Feindbildgruppen gehören, in der Kultur. Als „doppelt freie“ Arbeit bedeutet die Werktätigkeit im Kapitalismus, dass die Masse der Menschen gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um Geld zum Überleben zu verdienen. Die strukturelle Gewalt des Kapita‐ lismus besteht u. a. in der Drohung des Todes durch Verhungern, wenn man die Lohnarbeit verweigert. Für Marx ist die Werktätigkeit des Menschen „das lebendige, gestaltende Feuer“ 42 . Die von der Arbeit im Klassenverhältnis produzierten Waren und das konstante Kapital sind tote Arbeit, also Verge‐ genständlichungen der lebendigen Arbeit des Menschen und des dadurch erzeugten Mehrwerts. Die vom Kapital angeeignete Arbeit wirkt „als be‐ fruchtende Lebendigkeit auf “ die „tote Gegenständlichkeit“ des Kapitals 43 . Die Verwandlung der lebendigen Arbeit in tote Gegenstände, die als Waren, die nicht den Arbeitern, sondern den Kapitalisten gehören, verkauft werden, um Kapital zu akkumulieren, ist eine der Grundlagen des Kapitalismus. Ka‐ pitalismus bedeutet Herrschaft des Kapitals als toter Arbeit über die leben‐ 430 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 430 <?page no="431"?> 44 Ebd., S. 374. 45 Karl Marx. 1844. Ökonomisch-PhilosoPhische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In Marx Engels Werke (MEW) Band 44, 465-588. Berlin: Dietz. S. 474. 46 Ebd., S. 512. 47 Karl Marx.1867/ 1890/ 1962. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Band 23. Berlin: Dietz. S. 250. dige Arbeit des Menschen. Die lebendige Arbeit ist im Kapitalismus das Mittel, „um die vergegenständlichte, tote Arbeit zu verwerten, mit beleben‐ der Seele zu durchdringen und ihre eigne Seele an sie zu verlieren“, was als Resultat Werte erzeugt, die einen dem Arbeitsvermögen fremden Reichtum, den „Reichtum des Kapitalisten bilden“ 44 . Das Resultat der Verwandlung von lebendiger in toter Arbeit ist im Kapitalismus also die wirtschaftliche Ent‐ fremdung. Was Karl Marx über den Tod sagt Marx beschreibt Arbeitszustände im 19. Jahrhundert, bei denen die Bedin‐ gungen so schlecht waren, dass die Arbeiter durch Überarbeitung, Hunger‐ tod, gefährliche Arbeiten etc. starben. „Also selbst in dem Zustand der Ge‐ sellschaft, welcher dem Arbeiter am günstigsten ist, ist die notwendige Folge für den Arbeiter Überarbeitung und früher Tod, Herabsinken zur Maschine, Knecht des Kapitals, das sich ihm gefährlich gegenüber aufhäuft, neue Kon‐ kurrenz, Hungertod oder Bettelei eines Teils der Arbeiter” 45 . „Die Verwirk‐ lichung der Arbeit erscheint so sehr als Entwirklichung, daß der Arbeiter bis zum Hungertod entwirklicht wird” 46 . Bei der Methode der absoluten Mehrwertproduktion ist „[g]ewaltsames zu Tod arbeiten […] die offizielle Form der Überarbeit” 47 . Die allgemeine Lebenssituation der Arbeiter hat sich im 20. und 21. Jahr‐ hundert im Vergleich zum 19. Jahrhundert als Ergebnisse von Klassenkämp‐ fen verbessert. Tod in der und als Folge der Arbeit wird aber solange exis‐ tieren wie der Kapitalismus selbst, da die Menschen dem Kapitalisten als reine Ressource und als Instrument gelten, wodurch sie entmenschlicht werden. Im 21. Jahrhundert gibt es prekäre Arbeitsbedingungen, wozu Teil‐ zeitbeschäftigung, Scheinselbständigkeit, Zeitarbeit, Arbeitslosigkeit, un‐ gleiche Verteilung der Arbeitszeit, Leiharbeit, prekäres Freiberuflertum etc. gehören. Menschen, die mit unsicheren Arbeitsbedingungen (prekäre Ar‐ 431 13.3. Tod und Entfremdung: Der Tod als Endfremdung 431 <?page no="432"?> 48 Lars Eric Kroll & Thomas Lampert. 2012. Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Gesundheit. GBE kompakt - Zahlen und Trends aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes 3 (1): 1-8. 49 Marx, Das Kapital. Erster Band, S. 512. 50 Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, S. 524. beit, Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit) zu tun haben, sind insgesamt körperlich und psychisch stärker beeinträchtigt als sicher Beschäftigte 48 . Auch Krisen des Kapitalismus sind eine „Frage von Leben und Tod” 49 . In ihnen wird Kapital vernichtet, wodurch Unternehmen bankrottgehen und Arbeitsplätze verschwinden. Das durch den Kapitalismus verursachte Leid bleibt oft unsichtbar, da sich die unter diesem System Leidenden schämen und verstecken. Die unsichtbaren Leidenden des Kapitalismus, wie etwa arme Arbeitslose, Obdachlose, Hungernde in Entwicklungsländern, etc., sind „Gespenster außerhalb ihres Reiches” 50 . Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft führen zu Ungleichheit, in‐ strumentellem Denken, Unglück und Einsamkeit. Der Kapitalismus macht die Menschen unglücklich und zu einem bestimmten Grad verrückt. Gewalt in der Form von Kriminalität, inklusive Mord, sind im Kapitalismus unver‐ meidbar. Fälle von brutalen Morden (zum Beispiel an Kindern) werden oft instrumentalisiert, um für die Todesstrafe zu argumentieren. Die Todesstrafe für einen Mörder bringt den Toten aber nicht zurück und beseitigt nicht die gesellschaftlichen Ursachen hoher Raten des Mordes und der Gewaltver‐ brechen. Marx argumentierte im Jahr 1853 gegen die Todesstrafe: „Es ist eben schwer, wenn nicht gar unmöglich, ein Prinzip aufzustellen, womit man die Berechtigung und Zweckmäßigkeit der Todesstrafe in einer auf ihre Zi‐ vilisation stolzen Gesellschaft zu begründen vermöchte. Man hat die Strafe ge‐ meinhin verteidigt als ein Mittel zur Besserung oder zur Einschüchterung. Aber welches Recht hat man, mich zu strafen, um andere zu bessern oder einzuschüch‐ tern? Außerdem gibt es so etwas wie die Statistik, und es gibt die Geschichte, und beide beweisen voll und ganz, dass die Welt seit Kain durch Strafen weder ge‐ bessert noch eingeschüchtert worden ist. Ganz im Gegenteil. […] Was für eine Gesellschaft ist das aber, die kein besseres Instrument ihrer Verteidigung kennt als den Scharfrichter und die durch das »leitende Blatt der Welt« ihre Brutalität als ewiges Gesetz verkünden lässt? […] besteht da nicht die Notwendigkeit - statt den Scharfrichter zu verherrlichen, der eine Partie Verbrecher beseitigt, nur um 432 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 432 <?page no="433"?> 51 Karl Marx. 1853. Die Todesstrafe - Herrn Cobdens Pamphlet - Anordnungen der Bank of England. In Marx Engels Werke (MEW) Band 8, 506-513. Berlin: Dietz. S. 507, 508, 509 52 Derrida, Marx‘ Gespenster, S. 23-24. 53 Ebd., S. 137. wieder Platz für neue zu schaffen -, ernstlich über die Änderung des Systems nachzudenken, das solche Verbrechen züchtet? “ 51 . Trauer hat Aspekte der Arbeit und der Kommunikation, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden. 13.4. Trauerarbeit und die Kommunikation der Trauer und des Todes Die Toten hören auf zu leben und daher zu kommunizieren. Der Tod bedeutet ewige Stille und ewige Nichtkommunikation. Wir können zu den Toten in Gedanken, an ihren Gräbern, an Gedenkstätten, bei ihren Beerdigungen, an Gedenktagen, usw. sprechen, aber sie hören uns nicht und können nicht antworten. Die Unmöglichkeit, mit geliebten Verstorbenen weiterhin spre‐ chen zu können, sie weiterhin zu erfahren, zu sehen, zu fühlen und die Welt mit ihnen über kommunikativ vermittelte soziale Beziehungen zu teilen, ist die Quelle der Trauer. Trauerarbeit Trauerarbeit ist Arbeit zum Gedenken der und im Andenken an die Ver‐ storbenen. Da der Tod die Endfremdung, also die ultimative Entfremdung ist, ist die Gedenk- und Trauerarbeit immer eine Arbeit und kein Werk. Sie setzt sich notwendigerweise mit der ultimativen Entfremdung des Men‐ schen von sich selbst, der Endfremdung, auseinander. Die Gedenk- und Trauerarbeit ist Produktion angesichts der vom Tod verursachten Destruk‐ tion. Sie produziert Gedenken an die Verstorbenen und den Versuch, die Trauer zu verarbeiten, den Schmerz über den Verlust geliebter Menschen zu lindern und weiterzuleben. Jacques Derrida versteht die Trauerarbeit als den „Versuch, Überreste zu ontologisieren, sie gegenwärtig zu machen, vor allem darin, die sterbliche Hülle zu identifizieren und die Toten zu lokalisieren“ 52 . „Die Trauer folgt im‐ mer einem Trauma“ 53 . Derrida bezeichnet den Begriff der Trauerarbeit je‐ 433 13.4. Trauerarbeit und die Kommunikation der Trauer und des Todes 433 <?page no="434"?> 54 Übersetzung aus dem Englischen [“confused and terrible expression“]: Jacques Derrida. 2001. The Work of Mourning. Chicago, IL: The University of Chicago Press. S. 26. 55 Übersetzung aus dem Englischen [“There shall be no mourning“]: Ebd., S. 218. 56 Übersetzung aus dem Englischen [“Speaking is impossible, but so too would be silence or absence or a refusal to share one’s sadness“]: Ebd., S. 72. doch als „konfusen und schrecklichen Ausdruck“ 54 . Warum dieser Ausdruck schrecklich sein soll, ist nicht klar. Nach dem Tod eines Verstorbenen be‐ schäftigen sich Angehörige häufig mit dem Vermächtnis, dem Andenken an den Toten, dem Kontakt mit gemeinsamen Verwandten und Freunden, der Organisation einer oder mehrere Trauer- und Gedenkfeiern, usw. Sie sind dabei mit der Endfremdung konfrontiert und arbeiten sich durch diese durch, indem Gedenken produziert wird. Die Trauer ist eine Tragik, daher wäre ein Leben ohne Trauer ein besseres Leben. Derrida sagt daher: „Es soll keine Trauer geben“ 55 . Er meint damit nicht, dass man nicht trauern soll, sondern dass es ein Unglück ist, dass die Menschen sterben und es daher Traurigkeit und Trauer gibt. Trauerarbeit und Kommunikation Totenfeiern, Beerdigungen und Gedenkveranstaltungen für Verstorbene sind Rituale der Gedenk- und Trauerarbeit, bei denen den Toten gedacht wird. Dabei spielt die Frage eine Rolle, wie den Toten am besten gedacht werden kann, durch Stille oder Sprache, rein individuell oder sozial. Die Gedenk- und Trauerarbeit steht in einem Spannungsfeld von Kommunika‐ tion und Stille (siehe Tabelle 13.1) Kommunikation Stille Ich Individuelles Sprechen zu dem Toten Individuelles Gedenken an den Toten Wir Gemeinsame Gespräche von Verbliebenen über den Toten Kollektive Versammlung stiller Trau‐ ernder (z. B. an einem Gedenkort) Tabelle 13.1: Formen der Gedenk- und Trauerarbeit Das Problem der Trauerarbeit, wie sie sich bei einer Totenfeier unmittelbar nach dem Ableben einer geschätzten oder geliebten Person stellt, ist, dass „Sprechen unmöglich ist, aber genauso unmöglich ist die Stille oder die Ab‐ wesenheit oder die Weigerung, seine Traurigkeit zu teilen“ 56 . Es ist „fast 434 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 434 <?page no="435"?> 57 Übersetzung aus dem Englischen [“[…] it is almost indecent to speak right now - and to continue to address our words to you. But silence too is unbearable”]: Ebd., S. 114. 58 Übersetzung aus dem Englischen [“When, surviving, and so forevermore bereft of the possibility of speaking or addressing oneself to the friend, to the friend himself, one is condemned merely to speak of him, of what he was, thought, and wrote, it is nonetheless of him that one should speak. It is of him we mean to speak, of him alone, of or on his side alone. But how can the survivor speak in friendship of the friend without a ‘we‘ indecently setting in, without an ‘us‘ incessantly slipping in? […] For to silence or forbid the ‘we‘ would be to enact another, no less serious, violence“]: Ebd., S. 216. unanständig, jetzt zu sprechen - und weiterhin unsere Worte an euch zu richten. Die Stille ist aber auch unerträglich“ 57 . Tote sind still. In vielen modernen Kulturen ist eine individualisierte Trauer vorherrschend, bei der die Trauernden auf sich allein gestellt sind. Die Solidarität, Dialektik von Kollektivität und Individualität sowie die Ge‐ meinschaftlichkeit, die vom Marxismus nahelegt werden, implizieren, dass das Gedenken an einen geschätzten Verstorbenen nicht individuell und still, sondern sozial und kommunikativ organisiert werden sollte. Indem man gemeinsam über den Verstorbenen spricht und versucht, seine Ideen und sein Wesen kollektiv weiterzuleben, wird die Trauerarbeit soziale Arbeit, wodurch die Menschen leichter ins Alltagsleben zurückfinden. „Wenn man jemanden überlebt und so für immer der Möglichkeit beraubt ist, mit dem Freund zu sprechen oder ihn anzusprechen, so ist man dazu verdammt, le‐ diglich über ihn zu sprechen, darüber, was er war, dachte und schrieb. Man sollte gleichwohl über ihn sprechen. Von ihm wollen wir reden, von ihm allein, allein von oder auf seiner Seite. Wie kann aber der Überlebende in Freundschaft über den Freund sprechen, ohne dass sich ein ‚Wir‘ unanstän‐ digerweise einstellt und ohne dass ein ‚Uns‘ unaufhörlich einschleicht? […] Verschweigt oder verbietet man das ‚Wir‘, so übt man eine andere, nicht weniger ernsthafte Gewalt aus“ 58 . Dass man im Sprechen über einen geliebten Freund oder Verwandten, der gestorben ist, von der Gemeinsamkeit mit dem Toten spricht und von der Trauergemeinschaft und dadurch Solidarität in der Trauerarbeit erzeugt, ist alles andere als „unanständig“. Derrida betont die Wichtigkeit der kollekti‐ ven Kommunikation über den Toten, ist zugleich aber zu sehr in der post‐ modernen Ablehnung der kollektiven Identität befangen. Gerade bei der Trauer und in Bezug auf den Tod ist das „Wir“ eine Waffe, die nicht den Tod besiegen kann, durch die sich die Menschen aber wechselseitig Kraft geben können. 435 13.4. Trauerarbeit und die Kommunikation der Trauer und des Todes 435 <?page no="436"?> 59 Das Buch Kohelet, Kapitel 3, §7, https: / / www.talmud.de/ tlmd/ das-buch-kohelet-kapitel -1-bis-3/ 60 Ernst Bloch. 1959/ 1985. Das Prinzip Hoffnung: Kapitel 43-55. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. S. 1299. Reden und Schweigen stehen in einem dialektischen Verhältnis. Wer ständig redet und niemals anderen zuhört, zerstört diese Dialektik. Wer im falschen Moment schweigt und sich nicht gegen Unterdrückung ausspricht und auflehnt, zerstört ebenfalls die Dialektik, indem er der Herrschaft bei ihrem Treiben zusieht. Ohne der Stille der Reflexion und des Zuhörens gibt es kein wahres Sprechen. Und die Reflexion, das Zuhören und die Stille drängen zum Sprechen. Das Sprechen über den Tod geliebter Menschen er‐ fordert eine besondere Dialektik von Sprechen und Schweigen. Wir können über den Tod weder einfach schweigen noch in der Form und mit dem Inhalt über ihn sprechen, wie wir im Alltag sprechen. Kommunikation über den Tod erfordert ein Sprechen, das eher leise als laut ist, stark zur Reflexion und zum Gedenken anregt, das Leben des Toten reflektiert und weiterdenkt, den Toten ins Leben zurückholt und ihn in unserem Leben weiterleben lässt. Im Tanach und dem Alten Testament heißt es im Buch Kohelet, dass es eine „Zeit zum Schweigen und Zeit zum Reden“ 59 gibt. Diese Zeiten schließen einander jedoch nicht aus, sondern integrieren sich dialektisch. Gerade die Kommunikation der Trauer erfordert gleichzeitig die Dialektik der Zeit zum Schweigen und der Zeit zum Reden. Es gehört zur Eigentümlichkeit vieler moderner Kulturen, dass der Tod tabuisiert wird. Nicht nur sehen wir die Sterbenden und Toten oft nicht, sondern es wird auch nicht über den Tod kommuniziert. „Das Sterben wird weggeschoben. […] Man lebt derart in den Tag wie in die Nacht hinein, des dicken Endes soll nirgends gedacht werden“ 60 . „Unsere Zeit leugnet den Tod ganz einfach, und damit verleugnet sie einen grundlegenden Aspekt unseres Lebens. Anstatt das Bewusstsein, dass wir leiden und sterben müssen, zu einem der stärksten Antriebe für das Leben, zur Grundlage für die mensch‐ liche Solidarität und zu einer Erfahrung werden zu lassen, ohne die der Freude und Begeisterung Intensität und Tiefe fehlt, sieht sich der Mensch gezwungen, diese Erfahrung zu verdrängen. […] So führt die Angst vor dem Tode unter uns ein illegitimes Dasein. Sie bleibt lebendig, auch wenn wir sie zu leugnen versuchen, aber weil sie verdrängt wurde, bleibt sie steril. Dies ist eine Quelle für die mangelnde Tiefe anderer Erfahrungen, für die Ruhe‐ losigkeit unseres Lebens, und ich möchte meinen, dass sich aus ihr auch die 436 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 436 <?page no="437"?> 61 Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, S. 237-238. 62 Übersetzung aus dem Englischen: “slow down the clock when it comes to ageing”, http s: / / www.healingholidays.co.uk/ retreats/ anti-ageing-retreats, aufgerufen am 23. Okto‐ ber 2018. 63 Übersetzug aus dem Englischen: “world’s first Virtual Cemetery”, “interactive ceme‐ tery”, http: / / www.ripcemetery.com/ , aufgerufen am 23. Oktober 2018. Riesenbeiträge erklären, die man in Amerika für Bestattungen aufwendet” 61 . Zur Enttabuisierung des Todes gehört, dass über den Tod und das Sterben gesprochen wird, um ihnen das Schrecken durch die Kraft der Zwischen‐ menschlichkeit und der Solidarität nehmen zu können. Die Kommodifizierung des Todes und der Kommunikation des Todes Der Kapitalismus hat einen imperialistischen Charakter (siehe Kapitel 11 in diesem Buch). Dies bedeutet, dass er versucht, möglichst viele gesellschaft‐ liche Phänomene unter die Logik der Kapitalakkumulation zu subsumieren. Auch der Tod ist vor der Subsumierung unter das Kapital nicht gefeit. Die Schönheitschirurgie ist eine riesige Profitmaschine, die auf dem Streben nach ewiger Jugend und Schönheit, also einer impliziten Negation des Todes, basiert. Auch die Anti-Aging-Industrie kommodifiziert die Angst vor dem und das Verdrängen des Todes. Sie verkauft Cremes, Medikamente, Hor‐ mone, Behandlungen, Literatur, Beratungen, Anti-Aging-Retreats, usw., die das Altern verlangsamen und das Leben verlängern sollen. So bietet zum Beispiel das britische Unternehmen Healing Holidays verschiedene Anti- Aging-Retreats an, die bis zu £ 9.000 pro Person kosten und darauf abzielen, „die Uhr in Bezug auf das Altern zu verlangsamen“ 62 . Der Tod und das Trau‐ ern werden auch direkt kommodifiziert. RipCemetery ist eine App für das iPhone und Android-Telefone, die sich selbst als den „ersten virtuellen Fried‐ hof der Welt“ und als „interaktiver Friedhof “ 63 beschreibt. Die Nutzer können eine virtuelle Gedenkstätte für Verstorbene eröffnen, auf der sie Nachrich‐ ten, Fotos, Videos, virtuelle Blumen und virtuelle Geschenke hinterlassen. Nutzer können auch gemeinsam den Verstorbenen gedenken und über diese kommunizieren. Die Betreiber der App machen Profit, indem virtuelle Güter wie Nachrichten, Blumen, Grabsteinverzierungen und andere virtuelle Ob‐ jekte verkauft werden. Die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken, Apps und der Internetkommunikation, um den Andenken Verstorbener kollektiv zu gedenken, diese gegenwärtig zu halten und nicht zu vergessen sowie die Trauerarbeit und Trauerkommunikation vernetzt, über Distanzen hinweg 437 13.4. Trauerarbeit und die Kommunikation der Trauer und des Todes 437 <?page no="438"?> 64 Datenquelle: UN Population Division: World Population Prospects 2017 data, https: / / p opulation.un.org/ wpp/ DataQuery/ und sozial zu organisieren, ist an sich eine gute Idee. Die Kommodifizierung des Todes, der Trauer und der Trauerkommunikation durch die Vermittlung derartiger Formen der Kommunikation und der Gemeinschaft über die Logik des Geldes, des Kapitals, des Profits und des Tauschwertes ist aber pietätlos. Die Logik des Kapitals macht nicht einmal vor den Toten, der Trauer und dem Andenken an Verstorbene halt, was zeigt, dass der Kapitalismus ein zutiefst unmoralisches System ist. Dienste wie RipCemetery sollten immer nichtprofitorientiert und nichtkapitalistisch agieren, um das Andenken an Verstorbene zu respektieren und nicht zu verunglimpfen. Ewiges Leben verspricht die Linderung des Leides und der Trauer, die durch den Verlust geliebter Menschen verursacht werden. Der Materialis‐ mus zeigt, dass die Vorstellung vom ewigen Leben in einem jenseitigen Pa‐ radies ideologisch ist. Kann es aber ewiges oder zumindest sehr langes Leben in der irdischen Welt geben? Der nächste Abschnitt setzt sich mit dieser Frage auseinander. 13.5. Sterblichkeit und Unsterblichkeit Die menschliche Lebenserwartung Die weltweite Lebenserwartung des Menschen hat von 47 im Jahr 1950 auf 73 im Jahr 2020 zugenommen. Im Jahr 2100 wird die Lebenserwartung laut Vorausberechnungen 82,6 Jahre betragen. Der medizinische Fortschritt er‐ laubt es den Menschen also, älter zu werden. Dabei gibt es jedoch eine ent‐ scheidende Spaltung: Während in den am wenigsten entwickelten Ländern die Lebenserwartung im Jahr 1950 36 Jahre war, war sie in den entwickelten Ländern 65 Jahre. Im Jahr 2020 war die Lebenserwartung in den am we‐ nigsten entwickelten Ländern 66 Jahre und in den entwickelten Ländern 80 Jahre. Für das Jahr 2100 lautet die Vorhersage, dass die Lebenserwartung in den am wenigsten entwickelten Ländern 79,1 Jahre betragen wird und in den entwickelten Ländern 90 Jahre 64 . Die kapitalistische Weltgesellschaft ist also auch von Ungleichheiten in Bezug auf das Sterben durchzogen. Wer reich ist, lebt tendenziell länger, und wer arm ist, stirbt tendenziell früher. Alle Menschen sterben. Das Sterben und der Tod sind im Kapitalismus klas‐ 438 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 438 <?page no="439"?> 65 Datenquelle: https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Jeanne_Calment, https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_the_verified_oldest_people sengesellschaftlich geprägt. Eine sozialistische Politik des Lebens muss dar‐ auf abzielen, dass der medizinische und soziale Fortschritt allen Menschen zugänglich ist, sodass ein langes, erfülltes, glückliches Leben in Gesundheit für alle möglich ist. Die Unsterblichkeit ist ein alter Menschheitstraum. Dieser Traum exis‐ tiert, da die Menschen gerne die Angst vor dem Tod, das Leiden und die Trauer überwinden möchten. Der Mensch hat aber physische Lebensgren‐ zen. Jeanne Calment war der Mensch, der das bisher höchste Lebensalter erreichte. Sie wurde 1875 geboren und verstarb 1997. Sie wurde insgesamt 122 Jahre und 164 Tage alt 65 . Rein physisch betrachtet ist die Unsterblichkeit des Menschen eine Illusion. Würde der Mensch unsterblich werden, sein Geist und sein Körper aber altern, so wäre das Altern von ständigem Leiden und Schmerzen begleitet, da der alternde Mensch anfälliger für körperliche Krankheiten und Demenz ist als der jüngere Mensch. Eine Voraussetzung dafür, dass die Unsterblichkeit ein gutes und kein schlechtes Leben bedeutet, ist also, dass körperliche und geistige Krankheiten besiegt werden können. Man müsste dazu die körperliche Alterung stoppen oder körperliche Schä‐ digungen rückgängig machen können. Die geistige Alterung wird hingegen, sofern sie nicht von Demenz begleitet wird, von vielen Menschen als Wachs‐ tum ihrer Weisheit, ihres Wissens und der Gelassenheit erfahren. Während es also durchwegs wünschenswert ist, dass der geistige Verfall gestoppt werden kann, kann die geistige Alterung durchwegs eine Bereicherung des Menschen sein. Der Post- und Transhumanismus Beim Post- und Transhumanismus handelt es sich um einen philosophischen Ansatz, der davon ausgeht, dass es durch technischen und medizinischen Fortschritt möglich werden wird, dass der Mensch unsterblich wird. Eine erste Annahme des Posthumanismus ist, dass medizinische Nanoroboter entwickelt werden können, die in den menschlichen Körper eingesetzt wer‐ den, um Krankheiten aufzuspüren und den menschlichen Organismus zu reparieren. Eine zweite Annahme ist, dass es der technische Fortschritt zu einem bestimmten Zeitpunkt erlauben wird, den Gehirninhalt eines Men‐ schen auf einen Computer herunterzuladen, sodass der Körper stirbt, der 439 13.5. Sterblichkeit und Unsterblichkeit 439 <?page no="440"?> 66 Siehe zum Beispiel: William Gibson. 2014. Die Neuromancer-Trilogie. München: Heyne. 67 Siehe dazu: Ray Kurzweil. 2014. Menschheit 2.0: Die Singularität naht. Berlin: Lola Books. Neil Badmington, Hrsg. 2000. Posthumanism. Basingstoke: Macmillan. Hans Moravec. 1990. Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg: Hoffmann und Campe. 68 Vgl. Donna Haraway. 1995. Ein Manifest für Cyborgs. In Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, 33-72. Frankfurt am Main: Campus. S. 33-72. Donna Ha‐ raway. 1997. Modest_Witness@Second_Millenium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse TM . Feminism and Technoscience. New York: Routledge. 69 Günther Anders. 1956. Die Antiquiertheit des Menschen 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Munich: C. H. Beck. S. 36. 70 Ebd., S. 41-42. Geist aber in der Maschine weiterlebt und unsterblich wird. Der Post-/ Transhumanismus geht also davon aus, dass die menschliche Spezies auf‐ hören wird zu existieren und die Individuen in der neuen Spezies der Cy‐ borgs, die Mensch/ Maschinen-Hybride sind, weiterleben und unsterblich werden können. Diese Vision gibt es nicht nur in der Cyberpunk-Literatur 66 , sondern auch in der Philosophie 67 . Im postmodernen Feminismus wurde außerdem die Idee entwickelt, dass Cyborgs die Individuen nicht nur un‐ sterblich machen, sondern die Geschlechteridentitäten und das Patriarchat aufheben (Cyborgs als androgyne, nichtmännliche und nichtweibliche We‐ sen) 68 . Der Posthumanismus ist laut Günther Anders ein verdinglichter ideolo‐ gischer Traum, „den Apparaten, gleich zu werden, richtiger: ihnen ganz und gar, gewissermaßen ko-substanziell zuzugehören“ 69 . Aber „das Mensch-Sein hinter sich bringen“, wie es der Post- und Transhumanismus möchten, ist laut Anders „der Klimax möglicher Dehumanisierung“ 70 . Ein erstes Problem des Post- und Transhumanismus ist, dass sie wie viele Religionen von einer Dualität von Geist und Körper ausgehen. Es handelt sich daher um philo‐ sophischen Idealismus. Sind hingegen, wie vom Materialismus angenom‐ men, der Geist und der Körper miteinander verkoppelt und stehen in einem dialektischen Verhältnis, so kann der menschliche Geist nicht unabhängig vom Körper in einer Maschine existieren. Das zweite Problem ist die tech‐ nikdeterministische Annahme, dass die Technik den Menschen unsterblich machen kann und die Gesellschaft von Gesellschaftsproblemen wie patri‐ archalen Strukturen befreien kann. Das dritte Problem ist, dass post- und transhumanistische Ansätze die Einbettung des technischen und medizini‐ schen Fortschritts in Klassenverhältnisse und die kapitalistische Gesell‐ schaft missachten. 440 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 440 <?page no="441"?> Cyborgs & Kapitalismus als Cyborg-Faschismus Im Kapitalismus hat der Tod eine negative Dialektik: Während es wissen‐ schaftlich möglich geworden ist, die menschliche Lebenserwartung stark zu verlängern und die Gesundheit des Menschen stark zu fördern, haben auch die Potentiale zur Massenvernichtung und die reale Anwendung der De‐ struktivkräfte in der Geschichte des Kapitalismus zugenommen. Während der Mensch also die Fähigkeit hat, den Tod bis zu einem gewissen Ausmaß transzendieren zu können, werden diese Möglichkeiten durch die dem Ka‐ pitalismus innewohnenden Todeskräfte unterminiert. Werden in einer kapitalistischen Gesellschaft Nanoroboter entwickelt, die in den menschlichen Körper eindringen, so kann davon ausgegangen wer‐ den, dass diese zur Überwachung des Aufenthaltes der Menschen sowie zum Versuch, das Bewusstsein zu manipulieren, eingesetzt würden. Aus medizi‐ nischen Nanorobotern, die Krankheiten heilen und Zellen oder Organe er‐ neuern, würde unter kapitalistischen Bedingungen eine Ware gemacht wer‐ den, die sich nicht jeder leisten könnte, wodurch die Klassenspaltung des Lebens, der Gesundheit, der Krankheit und des Todes weiter vorangetrieben werden würde. Wäre es möglich, in einer kapitalistischen Gesellschaft Cyborgs zu schaf‐ fen, die den Menschen unsterblich machen können, so würde auch die Un‐ sterblichkeit einer Klassenspaltung unterliegen: Die reichen und privile‐ gierten Klassen würden zu unsterblichen Cyborgs, die Klasse der Armen und der Arbeiter würde hingegen sterblich bleiben und der Cyborg-Klasse die‐ nen müssen und von dieser ausgebeutet werden. Durch die Schaffung von Cyborgs als „Übermenschen“ würden also zwei Arten von Spezies geschaf‐ fen. Unter kapitalistischen Bedingungen könnte es dann leicht dazu kom‐ men, dass kranke, alte oder nicht arbeitsfähige Sterbliche als zu teuer und als Last für die Gesellschaft gelten, die getötet werden. Der Kapitalismus hat immer faschistische Potentiale. Eine faschistische Bevölkerungspolitik wäre in einer kapitalistischen Gesellschaft, die zwei Klassen von Sterblichen und Unsterblichen schafft, eine ernsthafte Gefahr. Eine weitere Gefahr stellt die Perspektive dar, dass willenlose und manipulierbare Menschen genetisch gezüchtet würden, um Widerstand gegen Ausbeutung und Herrschaft zu unterbinden. 441 13.5. Sterblichkeit und Unsterblichkeit 441 <?page no="442"?> 13.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Tod und Trauer sind Phänomene, die in den Alltag des Menschen herein‐ brechen. Der Mensch kann seinen eigenen Tod nicht erfahren, sehr wohl aber die Krankheit und das Sterben. Wir erfahren aber den Tod von Gelieb‐ ten, Freunden und Familienmitgliedern als existentielle Erlebnisse. Die Ab‐ surdität und Absolutheit des Todes und sein Miterleben als existentielles Phänomen, das zu Trauer führt, zeigen, dass es sich um ein entscheidendes Problem des Menschen handelt. Der Marxismus kann den Tod daher nicht ignorieren, sondern muss wie andere philosophische Ansätze sich damit auseinandersetzen. Wir können einige wichtige Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Marx erachtet den Kapitalismus als die Herrschaft der toten Arbeit des Kapitals über die lebendige Arbeit des Menschen. Er verdeutlicht, dass der Kapitalismus tödliche Potentiale in sich trägt, die die Form der Krisen und der Tötung von Menschen durch wirtschaftliche, po‐ litische und ideologische Gewalt annehmen. Der Kapitalismus ist also ein Todessystem, der Sozialismus hingegen ein lebensbejahendes Sys‐ tem. ■ Wirtschaftliche, politische und kulturelle Entfremdung bedeuten als Ausbeutung, Unterdrückung und Ideologie ein Stück weltlichen Tod innerhalb der herrschaftsförmigen Gesellschaft: Sie töten die Ver‐ wirklichung der positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen und der Gesellschaft. ■ Der Tod ist zugleich ultimative Entfremdung, aber auch der Entfrem‐ dung fremd, da er sich der Aufhebung und Aneignung entzieht: Der tote Mensch kann nicht wieder lebendig gemacht werden. Der Tod ist die Endfremdung, die Entfremdung von Geist, Körper, Erfahrung, Be‐ wusstsein, Handeln, Kommunikation, sozialen Beziehungen und Ge‐ sellschaft ohne Ende. Thomas Nagel verwendet nicht den Begriff der Entfremdung für den Tod, macht aber klar, dass der Tod dem Men‐ schen die Möglichkeiten zur Praktizierung, Verwirklichung und Er‐ kämpfung des guten Lebens raubt. ■ Auschwitz hat verdeutlicht, dass der politische und ideologische Mas‐ senmord, wie etwa im industriellen Massenmord oder im Genozid, noch schlimmer ist als der Tod, der an sich schon immer ein Unglück, eine Absurdität und ein Skandal ist, der Trauer verursacht. Der An‐ 442 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 442 <?page no="443"?> tifaschismus ist daher eine Aufgabe des Sozialismus. Es geht dabei um den kategorischen Imperativ, alles zu tun, um ein zweites Auschwitz zu verhindern. ■ Die Praktizierung der Prinzipien des Sozialen, der Liebe, der Koope‐ ration und der Solidarität, die dem Sozialismus zugrunde liegen, kön‐ nen einsames Leiden, einsame Krankheit, einsames Sterben und ein‐ sames Trauern verhindern. Der Sozialismus als allgemeine Gesellschaft der Solidarität, der Liebe und der Mitmenschlichkeit pro‐ duziert Glück für alle, wodurch der Tod nicht aus der Welt geschafft werden kann, aber seine Perspektive weniger schrecklich erscheinen mag. Zum Sozialismus gehört auch das Streben nach einem langen, gesunden, erfüllten und glücklichen Leben für alle. ■ Die Trauerarbeit ist Arbeit angesichts des Todes als Endfremdung. Sie kann individuell oder sozial sowie kommunikativ oder still erfolgen. Die marxistische Philosophie impliziert, nicht über den Tod zu schwei‐ gen, sondern behutsam über ihn zu kommunizieren, um ihn zu ent‐ tabuisieren und Solidarität der Menschen im Umgang mit ihm zu schaffen. ■ Die Kommodifizierung macht vor dem Tod, der Trauer und der Trau‐ erkommunikation nicht halt, sondern versucht, auch diese unter die Logik des Kapitals zu subsumieren. Beispiele wie profitorientierte vir‐ tuelle Friedhöfe zeigen die Immoralität und Pietätlosigkeit der Logik des Kapitals, die nicht einmal die Toten in Frieden lässt. Die Liebe als kommunistische Waffe Die Liebe kann den Tod nicht besiegen, sie ist aber die mächtigste kommu‐ nistische Waffe, die der Mensch gegen die destruktiven Kräfte des Todes, wozu nicht nur das Sterben, sondern auch die Klassengesellschaft und der Faschismus gehören, in Stellung bringen kann. „Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen, und nicht er ihm. Er muss am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit be‐ teiligt zu sein. Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale, lie‐ bevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird. […] Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine »Predigt«, denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden 443 13.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 443 <?page no="444"?> 71 Erich Fromm. 1956/ 2010. Die Kunst des Liebens. Berlin: Ullstein. S. 150, 151. 72 Emil Fuchs. 1955. Marxismus und Christentum. Leipzig: Koehler & Amelang. 3. Auflage. S. 165. 73 S. 69. 74 S. 135. 75 Emil Fuchs. 1958. Christliche und marxistische Ethik. Erster Teil: Lebenshaltung und Le‐ bensverantwortung des Christen im Zeitalter des werdenden Sozialismus. Leipzig: Koehler & Amelang. 2. Auflage. S. 127-128. 76 Ebd., S. 127. menschlichen Wesens. Dass dieses Bedürfnis so völlig in den Schatten gerückt ist, heißt nicht, dass es nicht existiert. Das Wesen der Liebe zu analysieren heißt, ihr allgemeines Fehlen heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedin‐ gungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Mög‐ lichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet” 71 . Religionen haben Autoritarismus, Herrschaft, Ausbeutung, das Patriarchat, sexuellen Missbrauch, Krieg, Terror, Nationalismus und Faschismus legiti‐ miert und gefördert. Dadurch haben sie immer wieder wesentliche Elemente ihrer eigenen Lehre, nämlich die Förderung der Liebe, unterminiert. Es gilt aus den Religionen jene Elemente zu retten, die den Kampf für eine friedli‐ che, auf Liebe und Solidarität beruhende Gesellschaft fördern. Und es gilt, jene Praktiken und Strukturen zu kritisieren und abzustreifen, die Religion zu Ideologie und Herrschaft machen. Es geht also um Religionen der Be‐ freiung, die gemeinsam mit dem Marxismus dafür kämpfen, „das Verderben, die Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit zu überwinden“ und ein Reich der Freiheit zu etablieren, in der wir „füreinander leben können, um so den wahren Reichtum des Menschseins zu ernten“ 72 . „Der Ruf zur […] Nächs‐ tenliebe […] ist ernsteste Mahnung zur Tat“ 73 . Dadurch kann auch die Reli‐ gion „ein Mittel“ sein, um „den Klassenkampf auszutragen“ 74 . Genauso wie wir nicht eine beliebige Religion, sondern befreiende Religionen und Be‐ freiungstheologien brauchen, brauchen wir nicht einen beliebigen Sozialis‐ mus, sondern einen demokratischen, humanistischen Sozialismus. Befrei‐ ungstheologie und humanistischer Sozialismus können gemeinsam als „leidenschaftlicher Protest gegen das Zerbrechen des Menschseins durch die bestehende Gesellschaft, die den Menschen der ‚Selbstentfremdung‘ an‐ heimfallen lässt“ 75 , agieren. und für die „Verdammten dieser Erde“ 76 eintre‐ ten. 444 13. Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation 444 <?page no="445"?> 77 Gustavo Gutiérrez. 1992. Theologie der Befreiung. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. S. 71. 78 Ebd., S. 78. 79 Ebd., S. 80. 80 Ebd., S. 231. 81 Ebd., S. 362. Marxismus und Befreiungstheologie Der Dialog des Marxismus und der Religion ermöglicht „Theologie als kri‐ tische Reflexion auf die Praxis“ 77 , so wie dies der Fall ist bei der Befreiungs‐ theologie. Die Theologie wird dadurch zu einer kritischen Theorie, die dar‐ auf abzielt, die Befreiung der Menschheit aus Ausbeutung und Unterdrückung voranzutreiben 78 . Der Befreiungstheologe ist ein organi‐ scher Intellektueller 79 . „Erlösung umfasst jeden Menschen und den ganzen Menschen. […] Deshalb ist der Kampf für eine gerechte Gesellschaft im ei‐ gentlichen Sinn Bestandteil der Heilsgeschichte“ 80 . Die Befreiungstheologie und der Marxismus konvergieren in der Betonung der Bedeutung des Klas‐ senkampfes, der die Liebe als gesellschaftliches Prinzip etablieren will. „Die Theologie der Befreiung versucht, ausgehend vom Kampf zur Überwindung der augenblicklichen ungerechten Situation und vom Engagement zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, über ein Leben im Glauben […] nachzudenken. In glei‐ cher Weise hat sie sich an der Praxis der von ihr übernommenen Verpflichtung zu bewahrheiten, genauer gesagt: an der aktiven und wirksamen Teilnahme am Kampf, den die ausgebeuteten sozialen Klassen gegen ihre Unterdrücker aufge‐ nommen haben. […] Allerdings werden wir im Grunde nie zu einer echten Theo‐ logie der Befreiung kommen, wenn die Unterdrückten nicht selbst frei ihre Stimme erheben und sich unmittelbar und in schöpferischer Weise in Gesellschaft und Kirche äußern können“ 81 . Im nun folgenden Kapitel dieses Buches beschäftigen wir uns mit gesell‐ schaftlichen Kämpfen. Es werden darin Fragen der politischen Kommuni‐ kation im Zusammenhang mit Kämpfen für Alternativen diskutiert. 445 13.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 445 <?page no="447"?> 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen In diesem Kapitel geht es um die Frage, welche Rolle Kommunikation in Kämpfen um eine gemeingutorientierte Gesellschaft spielen. Dazu wird zu‐ erst der Begriff der Praxiskommunikation eingeführt (Abschnitt 14.1). Zwei‐ tens diskutiert das Kapitel die Rolle der Alternativmedien als kritische Me‐ dien in gesellschaftlichen Kämpfen (14.2). Da wir in einer kapitalistischen Welt und einer kapitalistischen Welt der Kommunikation leben, die zu vielen in diesem Buch dargestellten Problemen führen, kommt es darauf an, das System zu verändern, was nur durch gesellschaftliche Kämpfe erreicht wer‐ den kann. Praxis, Klassenkämpfe und gesellschaftliche Kämpfe sind die praktische Schlussfolgerung der Kritik der politischen Ökonomie. 14.1. Praxiskommunikation Praxis Die menschlichen Reaktionen auf Gewalt, Ausbeutung und Herrschaft sind nicht determiniert. Es kann sein, dass viele Menschen ausharren und keinen Widerstand leisten, da sie bewusste oder unbewusste Angst vor Verlust (ih‐ res Lebens, ihrer Arbeitsplätze, von sozialen Beziehungen, usw.) haben. Es kann aber auch sein, dass es zur schnellen oder graduellen Ausbildung von Widerstand kommen kann. Die Menschen unterwerfen sich nicht von Natur aus freiwillig und automatisch der Herrschaft. Genauso wenig gibt es aber einen Automatismus gesellschaftlicher Kämpfe. Die Existenzängste der Menschen und ihre Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Harmonie, Sicherheit und Anerkennung können in die Akzeptanz von Herrschaft, Gewalt und Ideologien kanalisiert werden. Die gesellschaftlichen Kämpfe beherrschter Gruppen bedeuten, dass diese Risiken eingehen und Ungewissheit akzep‐ tieren. Ist eine signifikante Anzahl unterdrückter Menschen gewillt, Risiken einzugehen und sich kollektiv zu organisieren, dann können kollektives <?page no="448"?> 1 Karl Marx. 1845. Thesen über Feuerbach. In MEW Band 3 (S. 5-7), S. 6 & 7. 2 Antonio Gramsci. 1994. Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Band 6. Hamburg: Argument. S. 1382. 3 Ebd., S. 1781. Handeln, Proteste, Revolten, Rebellionen oder Revolutionen entstehen. Ein kollektives Bewusstsein der Organisation bildet sich. Politische Organisation ist ein Kommunikationsprozess, in dem die Men‐ schen zusammenkommen und interagieren, um Ziele, Identität und Strate‐ gien zu definieren. Darauf basierend agieren sie mit dem Ziel, die Gesell‐ schaft zu verändern. Das politische Bewusstsein kann progressiv sein. Dies ist aber nicht notwendigerweise und nicht automatisch der Fall. Individu‐ elles und kollektives Bewusstsein, das Herrschaft in Frage stellt, ist eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit. Es kann auch einen ideologischen (d. h. nationalistischen, rassistischen, faschistischen usw.) Charakter haben. Gesellschaftskämpfe sind nicht automatisch politisch fortschrittlich. Es gibt keine Garantie dafür, dass sie zu besseren Zuständen führen. Eine neue Ge‐ sellschaftsordnung kann nur entstehen, wenn objektive Widersprüche von einem kollektiven Subjekt derart reflektiert werden, dass politisches Han‐ deln entsteht, das auf die Veränderung der Gesellschaft abzielt. Gibt es Vorteile davon, wenn man zwischen Praktik und Praxis unter‐ scheidet? In der marxistischen Theorie geht diese Unterscheidung auf Marx‘ Thesen über Feuerbach zurück: „#3 […] Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden. […] #8 Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, wel‐ che die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lö‐ sung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis” 1 . Es wird hier deutlich, dass Marx das menschliche Leben als praktisch in dem Sinn erachtet, dass die Menschen die Welt in und durch ihre Praktiken verändern. Spricht er von Praxis, so meint er damit eine bestimmte Form der Praktik, nämlich politische Praktiken, die darauf abzielen, eine menschen‐ gerechte Gesellschaft zu schaffen, die Bedürfnisse nach einer derartigen Ge‐ sellschaft verstehen und Ideologien dekonstruieren, die Herrschaft mystifi‐ zieren. Die Praxis impliziert, dass es Klassenkämpfen bedarf, um Herrschaft und Ausbeutung aufzuheben. Für Antonio Gramsci ist die Philosophie der Praxis kritisch, da sie den Alltagsverstand kritisiert 2 . Praxis zielt auf die Pro‐ duktion des absoluten Humanismus ab 3 . Marx und Gramsci zeigen, dass 448 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 448 <?page no="449"?> 4 Übersetzung aus dem Englischen: Gajo Petrović. 1967. Marx in the Mid-Twentieth Cen‐ tury. Garden City, NY: Anchor. S. 133. 5 Karl Marx. 1844. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In MEW Band 1 (S. 378-391). S. 385. 6 Ebd., S. 385. 7 Jean-Paul Sartre. 1967. Kritik der dialektischen Vernunft. Praxis die kritische und politische Dimension der Theorie und der mensch‐ lichen Aktivität darstellt. Die Praxis zielt ab auf eine „freie Gemeinschaft freier Persönlichkeiten“ 4 . Der marxistische Humanismus beruht auf Marx‘ Einsicht, man müsse zur Lösung gesellschaftlicher Probleme die „Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“; Marx argumentiert, dass „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“ 5 . Der marxistische Humanismus ist davon überzeugt, dass die Menschen ein gutes Leben ver‐ dienen und dass es sich lohnt, für das politische Ziel zu kämpfen, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können. Daher hat Marx den „kategori‐ schen Imperativ“ formuliert, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ 6 . Praxiskommunikation Für Jean-Paul Sartre ist Praxis zweckorientiertes menschliches Handeln. Daher argumentiert er: „Die Sprache ist Praxis als praktische Beziehung ei‐ nes Menschen zu einem anderen, und die Praxis ist immer Sprache“ 7 . Dies bedeutet, dass Sprache und Kommunikation für Sartre immer schon Praxis sind und nicht erst im Kontext sozialistischer Politik zu Praxis werden. Es besteht für ihn kein wesentlicher Unterschied zwischen Praktiken und Praxis. Im Gegensatz zu Marx entpolitisiert Sartre das Praxiskonzept. Wenn alle Kommunikation Praxis wäre, dann würde der Begriff der Praxiskom‐ munikation tautologisch sein. Der im vorliegenden Buch vertretene Ansatz differenziert im Gegensatz zu Sartre zwischen Praktiken und Praxis sowie zwischen Kommunikation als Praktik und Praxiskommunikation. Kommunikation ist eine menschliche Praktik, die in ethischen und poli‐ tischen Handlungen zu Praxiskommunikation werden kann. Alle Praxis‐ kommunikation ist eine kommunikative Praktik, aber nicht alle Kommuni‐ kationspraktiken sind Praxiskommunikation. Die Kommunikation ist nicht von Natur aus gerecht und steht nicht von Natur aus und nicht automatisch 449 14.1. Praxiskommunikation 449 <?page no="450"?> 8 Christian Fuchs. 2018. Soziale Medien und Kritische Theorie: Eine Einführung. München: UVK/ utb. über oder außerhalb von Herrschaftsstrukturen. Kommunikation ist die grundlegende menschliche Praktik der Produktion und Reproduktion so‐ zialer Beziehungen durch den Gebrauch von Symbolen, was impliziert, dass sie sowohl im Kontext der Herrschaft und der Emanzipation von der Herr‐ schaft benutzt wird. Dass die Menschen im Kommunikationsprozess einan‐ der wechselseitig bedeuten, impliziert nicht, dass es automatisch Verständ‐ nis und Einigung gibt. Die Verwandlung von Kommunikationspraktiken in Praxiskommunikation ist eine politische Aufgabe gesellschaftlicher Kämpfe, die nicht automatisch existiert. Praxiskommunikation ist Kommunikation, die in demokratisch-sozialistischen Strukturen agiert oder darauf abzielt, solche Strukturen oder eine Gesellschaft, die auf ihnen aufbaut, zu schaffen. Kommunikative Praktiken werden zu Praxiskommunikation, wenn sie nicht nur daran orientiert sind, wie die Gesellschaft ist oder sein kann, sondern auch daran, wie sie zu einer wirklichen Gesellschaft gemacht werden kann. Aktivisten benutzen Kommunikationstechnologien wie das Internet, um Ausbeutung und Herrschaft in Frage zu stellen. Projekte der digitalen Ge‐ meingüter wie Wikipedia und alternative Onlinemedien (z. B. Democracy Now! und Alternet) fordern die kapitalistische Gestaltung digitaler Technologien heraus. Außerdem gibt es Potentiale für öffentlich-rechtliche Internetplattformen, die die Logik der kapitalistischen digitalen Riesenkon‐ zerne herausfordern. Es handelt sich dabei um Versuche, eine nichtverding‐ lichte, gemeingutbasierte und öffentliche Landschaft digitaler Medien zu schaffen 8 . Die Veränderung der Kommunikation, sodass kapitalistische Kommunikationssysteme überwunden werden und durch gemeingutorien‐ tierte Kommunikationssysteme ersetzt werden, kann weder durch Techno‐ logie noch durch einzelne Individuen, sondern nur durch Menschen mit kri‐ tischem Bewusstsein erreicht werden, die sich selbstorganisieren als politische Kollektive und sich in Klassenkämpfen engagieren, die die Tech‐ nologie und die Gesellschaft verändern. Nur die menschliche Praxis kann eine gemeingutorientierte Gesellschaft schaffen. Der Klassenkampf zielt darauf ab, den Konflikt zwischen Kapital und Ar‐ beit, der durch zwei sich entgegensehende Interessen konstituiert wird, auf‐ zuheben. Eine „Mediatisierung“ dieses Konfliktes wird durch Mechanismen wie Lohnverhandlungen, Streiks, Entlassungen, Rationalisierung, Auslage‐ rung, usw. erreicht. Im Kapitalismus wird durch eine solche Mediatisierung 450 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 450 <?page no="451"?> der Konflikt nur zeitlich begrenzt im Interesse von Kapital oder Arbeit gelöst und kann nicht den extremen Interessensgegensatz überwinden, der dem Kapitalismus immanent ist. Die Aufhebung arbeitet sich durch die Extreme, indem sie eine neue Totalität erzeugt, die das Neue und die veränderten Teile des Alten enthält, Teile des Alten eliminiert und einen qualitativen Unter‐ schied ausmacht. Abbildung 14.1 präsentiert ein Modell, das die Rolle, die Kommunikation und Kommunikationstechnologien in Protesten und Kämpfen spielen, in ei‐ nem breiten Zusammenhang situiert. Gesellschaftliche Stratifizierung => Gesellschaftsprobleme Wirtschaftliche, politische, kulturelle/ ideologische Probleme Krisen Kollektiver Protest Mainstreammedien Alternativmedien Staatliche Politik Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen Ideologien Kritische Weltanschauungen + / - + / - + / - + / - + / - Auslösendes Ereignis Verstärkung des Protests Abschwächung des Protests Staatliche und Polizei-Gewalt Ideologische Gewalt Revolution Postrevolutionäre Phase + / - Abbildung 14.1: Ein Modell der Praxiskommunikation in gesellschaftlichen Kämp‐ fen Proteste haben ihre objektive Grundlage in den Widersprüchen der Gesell‐ schaft, also in den Formen der Herrschaft, die Probleme verursachen, die einen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Charakter haben. Ge‐ sellschaftsprobleme können sich als (wirtschaftliche, politische, kulturelle/ ideologische) Krisen äußern. Krisen führen nicht automatisch zu Protesten, sind aber eine objektive und notwendige, aber nicht hinreichende Bedin‐ 451 14.1. Praxiskommunikation 451 <?page no="452"?> gung des Protests. Wenn Dimensionen der Krise konvergieren und mitein‐ ander interagieren, dann können wir von einer gesellschaftlichen Krise sprechen. Proteste brauchen substanzielle öffentliche Anerkennung, dass es gesellschaftliche Probleme gibt, dass diese Probleme untragbar und ein Skandal sind und dass etwas verändert werden muss. Oft werden Proteste und Bewegungen durch bestimmte Ereignisse ausgelöst und verstärkt (zum Beispiel die Verhaftung von Rosa Parks bei der US-Bürgerrechtsbewegung, der öffentliche Selbstmord von Mohamed Bouazizi bei der tunesischen Re‐ volution im Jahr 2011, der Polizeimord an Khaled Mohamed Saeed bei der ägyptischen Revolution im Jahr 2011, NYPD-Polizist Anthony Bolognas Verwendung von Pfefferspray gegen Aktivisten und die Massenverhaftung von Occupy Wall Street-Aktivisten auf der Brooklyn Bridge im Jahr 2011, die Gewalt der türkischen Polizei gegen Aktivisten, die den Taksim-Platz in Istanbul im Jahr 2013 besetzten) Genau in solchen Situationen spielen Emotionen wie Wut, Klassenhass, sozialistische Liebe und Hoffnung eine Rolle bei dem möglichen Übergang von Krisen zum Protest. Subjektive Wahrnehmungen und Emotionen sind aber nicht der einzige Faktor, da Proteste durch Politik, die Medien und Kul‐ tur/ Ideologie bedingt und beeinflusst werden. Die Arten, wie staatliche Po‐ litik, Mainstreammedien und Ideologie einerseits und oppositionelle Politik, soziale Bewegungen, Alternativmedien und alternative Weltanschauungen auf der anderen Seite, mit menschlichen Subjekten verbunden sind, beein‐ flusst direkt die Bedingungen des Protests. Diese Faktoren können eher ver‐ stärkende, eher neutrale oder eher abschwächende Effekte auf Proteste ha‐ ben. So kann etwa rassistische Medienberichterstattung rassistische Vorurteile befördern und/ oder die Einsicht, dass die rechten Medien und die heutige Klassengesellschaft rassistisch sind. Die Medien - soziale Medien, das Internet und alle anderen Medien - sind widersprüchlich, da wir in einer Gesellschaft voller Widersprüche leben. Daher sind auch ihre Effekte wi‐ dersprüchlich. Sie können Protest dämpfen/ verhindern, verstärken/ beför‐ dern oder nicht sehr viele Effekte nach sich ziehen. Verschiedene Medien (zum Beispiel Alternativmedien und kommerzielle Medien) stehen zueinander in einer widersprüchlichen Beziehung, die zu einem Machtkampf führen kann. Die Medien sind nicht der einzige Faktor, der die Bedingungen des Protests beeinflusst. Sie stehen auch in einer wi‐ dersprüchlichen Beziehung mit Politik und der Ideologie/ Kultur, die auch die Bedingungen des Protestes beeinflussen. Ob also Protest entsteht oder nicht wird von mehreren Faktoren beeinflusst, die so komplex sind, dass 452 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 452 <?page no="453"?> nicht berechnet oder vorhergesagt werden kann, ob Protest als Ergebnis bestimmter Krisen entsteht oder nicht. Sind Proteste einmal entstanden, so haben Medien, Politik und Kultur widersprüchliche Einflüsse darauf. Es ist nicht determiniert, ob diese Faktoren eher einen neutralen, verstärkenden oder abschwächenden Effekt auf Proteste haben. Proteste führen in antago‐ nistischen Gesellschaften oft zu Polizeiaktionen, sodass der Staat auf soziale Bewegungen mit seiner organisierten Form der Gewalt reagiert. Staatliche Gewalt gegen Proteste und ideologische Repression von sozialen Bewegun‐ gen (auf Delegitimierung abzielende Attacken durch die Medien, Politiker und andere) können wiederum verstärkende, abschwächende oder nur un‐ bedeutende Auswirkungen auf Proteste haben. Kommt es zu einer Protestverstärkungsspirale, so kann sich ein Protest immer mehr ausweiten, was sogar, aber nicht notwendigerweise, zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft führen kann - also einem Zu‐ sammenbruch und einer grundlegenden Erneuerung der Wirtschaft, Politik und der Weltanschauungen. Jede derartige Veränderung hat eine Phase, in der die Rekonstruktion und Erneuerung der Gesellschaft beginnt, wobei das Erbe des Konfliktes und die Überbleibsel oder Erinnerungen der alten Ge‐ sellschaft zu Problemen führen können. Kommunikationstechnologien in einer widersprüchlichen Gesellschaft, in der der Klassenkonflikt und andere Konflikte zwischen herrschenden und beherrschten Gruppen vorherrschen, haben mit einer gewissen Wahr‐ scheinlichkeit einen widersprüchlichen Charakter: Sie führen nicht auto‐ matisch zur Unterstützung/ Verstärkung oder zur Abschwächung/ Limitie‐ rung von Rebellion, sondern stellen widersprüchliche Potentiale dar, die im Widerspruch zu Einflüssen durch den Staat, die Ideologie und den Kapita‐ lismus stehen. Der nächste Abschnitt setzt sich mit alternativen Medien als kritischen Medien auseinander. 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien Ein Kommunikationsmodell Abbildung 14.2 präsentiert ein Modell des Kommunikationsprozesses. 453 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 453 <?page no="454"?> Produzenten Medienproduktion Medieninhalte, Medienorganisationen Strukturen zur Distribution von Inhalten Mediendistribution und -rezeption Dominante Ausgehandelte Oppositionelle Kritische Manipulierte Rezeption Rezeption Rezeption Rezeption Rezeption Akteursebene Strukturebene Abbildung 14.2: Der Kommunikationsprozess Kommunikationsstrukturen und Kommunikationspraktiken sind dialek‐ tisch verbunden, sodass sie sich wechselseitig produzieren, wodurch das Mediensystem ein dynamisches System ist, das durch eine Dialektik der Mediensubjekte (Menschen, die Medien produzieren und rezipieren) und Medienobjekte (Medienstrukturen) reproduziert wird. Im Mediensystem agieren Journalisten und andere Inhaltsproduzenten, sodass sie mit der Hilfe bestimmter Regeln, Prozeduren, Strukturen und Technologien Inhalte produzieren, mit denen sie die breite Öffentlichkeit informieren möchten. Information der Öffentlichkeit bedeutet dabei, dass die Journalisten darauf abzielen, das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu be‐ einflussen. Der produzierte Inhalt kann auf der Ebene des Gebrauchswert Nachrichtwert, Unterhaltungswert oder einen künstlerisch-ästhetischen Wert haben. Bei der Distribution der Inhalte, wird die Information mit der Hilfe von Technologien (z. B. Satellitenübertragung, CDs, DVDs, Videos, Aufzeichnungen, Computerfestplatten, Übertragung mit Glasfaserkabeln, usw.) und Organisationsstrukturen (z. B. Verkaufs- und Marketing-Abtei‐ lungen, Vermarktungsstrategien usw.) gespeichert und übertragen. Die Dis‐ tribution von Inhalten ist die Grundlage der Rezeption. Produktion ist nur auf der Basis von Rezeption und Distribution möglich. Wenn die Rezeption aufhört, dann besteht kein Bedürfnis für weitere Pro‐ 454 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 454 <?page no="455"?> duktion. Produzierte Güter sind nur bedeutend, wenn sie konsumiert wer‐ den. Die Produktion impliziert das Bedürfnis, dass Güter verteilt und kon‐ sumiert werden. Rezeption ist nicht nur Konsum, sondern auch ein Produktionsprozess, die Produktion von Bedeutung. In der Rezeption von Information interpretieren Nutzer, das Publikum und Rezipienten auf Basis ihrer gelebten Erfahrungen und gesellschaftlicher Kontexte Medieninhalte. Die Bedeutung von Objekten ist immer vom gesellschaftlichen und historischen Kontext abhängig. Bedeutungen sind nicht ahistorisch oder transzendental, sondern gesellschaftlich und historisch. Sie werden vom ge‐ sellschaftlichen Kontext der Produktion und Verwendung von Zeichensys‐ temen bedingt. Sie verändern sich durch gesellschaftliche Differenzierung. Verschiedene Bedeutungen können ein und demselben Objekt zugeschrie‐ ben werden. Im kulturellen Rezeptionsprozess gibt es einen bestimmten Grad der Bestimmtheit in der Form von hegemonialer Bedeutung und einen bestimmten Grad der Unbestimmtheit in der Form von ausgehandelter und oppositioneller Bedeutung. Es gibt nicht notwendigerweise eine Überein‐ stimmung der kodierten und dekodierten Bedeutungen. Verschiedene In‐ terpretationen können parallel zueinander existieren und sogar im Gegen‐ satz oder im Antagonismus zueinanderstehen. Es gibt aber auch nicht notwendigerweise ein Auseinanderfallen von kodierten und dekodierten Bedeutungen, da es gelingen kann und oft gelingt, dass die Rezipienten die hegemonialen Bedeutungen übernehmen. Zu den drei angesprochenen For‐ men der Interpretation (Hegemonie, Opposition, gemischte Bedeutungen) wurden eine vierte und eine fünfte hinzugefügt (siehe Abschnitt 5.5), näm‐ lich die kritische und die manipulierte Rezeption. Es kann Überlappungen von diesen beiden Rezeptionsweisen und den anderen drei geben. Medien- und Kommunikationssysteme sind nicht nur soziale Systeme, sondern soziale Systeme, die eine breitere Öffentlichkeit erreichen und da‐ her Teil des Kommunikationsprozesses der Öffentlichkeit sind. Der Begriff der Öffentlichkeit ist daher wichtig für eine Gesellschaftstheorie der Medien im Allgemeinen (siehe Kapitel 8) und daher auch für eine Gesellschafts‐ theorie der Alternativmedien. Für ihre Operation brauchen Medien Produzenten, Rezipienten, Organisa‐ tionsstrukturen, Distributionsstrukturen und Inhalte. Der Kommunikations‐ prozess der Medien beruht auf der Dialektik von Strukturen und Akteuren. 455 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 455 <?page no="456"?> 9 Stuart Hall. 1973/ 2004. Kodieren/ Dekodieren. In Stuart Hall: Ideologie, Identität, Reprä‐ sentation: Augewählte Schriften 4, hrsg. Juha Koivisto und Andreas Merkens. Hamburg: Argument. S. 81-107. Stuart Hall 9 betont, dass es einen bestimmten Grad der Determination in der Form hegemonialer Bedeutungen und einen bestimmten Grad der In‐ determination in der Form ausgehandelter und oppositioneller Bedeutungen im kulturellen Rezeptionsprozess gibt. Um ein relativistisches Verständnis oppositioneller Dekodierung zu vermeiden, bedarf es einer Form der Ob‐ jektivität. Wenn antifaschistische Medieninhalte dominant sind, dann ist fa‐ schistische Rezeption in Halls Modell eine Form der Opposition. Gibt es nur dominante, oppositionelle und ausgehandelte Interpretationen, dann be‐ steht kein Raum, um die Wichtigkeit kritischen Bewusstseins zu betonen. Daher wird in dem in Abbildung 14.2 dargestellten Modell der Begriff der kritischen Rezeption eingeführt: Die Interpretation von Information ist kri‐ tisch, wenn Form oder Inhalt zu subjektiven Einsichten beitragen, die es den Rezipienten erlauben, bestimmte Formen der Herrschaft in Frage zu stellen, alternative Modelle des gesellschaftlichen Seins zu entwickeln, die Koope‐ ration befördern und potentiell transformatives Handeln und gesellschaft‐ liche Kämpfe anleiten können. Der wichtige Aspekt dabei ist, dass es ein objektives Urteil gibt, dass Kooperation die wahre, originäre und wesens‐ hafte Form des menschlichen Seins ist. Manipulation bedeutet im Gegensatz zu kritischer Rezeption, dass die Rezipienten Inhalte und als Konsequenz auch die Realität auf Weisen interpretieren, die Herrschaft nicht in Frage stellen, sondern herrschaftsförmige Strukturen befördern, legitimieren oder unangetastet lassen. Die Kategorien des kritischen und des manipulierten Bewusstseins beziehen sich auf Bewusstseinszustände. Das gerade eingeführte Modell der Medien und der Kommunikation ver‐ bindet eine Akteurs- und eine Strukturebene. Journalisten produzierten als Akteure Inhalte als Information, die in objektiver Form verbreitet wird und im Distributions- und Konsumprozess von der Strukturebene zurück auf die Akteursebene kommt. Journalisten, Medienarbeiter und Rezipienten sind die dabei involvierten Akteure. Zu den Strukturen gehören die Medienprodukte, die Medieninstitutionen und die Technologien zur Produktion, Distribution und Rezeption. Die Produktion von Medienstrukturen durch Medienproduzenten ist die Grundlage für den Distributions- und Rezept‐ ionsprozess. Distribution und Rezeption sind eine Bedingung für die weitere Produktion und Reproduktion der Medienstrukturen. Es gibt eine ständige 456 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 456 <?page no="457"?> Dynamik im Mediensystem, bei der sich Medienakteure und Medienstruk‐ turen wechselseitig produzieren. Alternative Medien, kritische Medien Alternative Medien sind Medien, die die dominante kapitalistische Form der Medienproduktion, der Medienstrukturen, Inhalte, Distribution und Rezep‐ tion herausfordern. Tabelle 14.1 zeigt einen vergleichenden Überblick po‐ tentieller Charakteristika alternativer Medien. Nicht all diese Kriterien sind notwendigerweise Qualitäten der Alternativmedien. Die Tabelle beruht auf dem in Abbildung 14.1 dargestellten Modell. Die zentralen Aspekte sind die Journalisten/ Medienproduzenten und ihre Praktiken, die Rezipienten und ihre Praktiken (Akteursebene); Medienproduktstrukturen, Medianorgani‐ sationsstrukturen, Mediendistributionsstrukturen (Strukturebene). Dimension Kapitalistische Medien Alternativmedien Medienproduk‐ tion Elitenmedien: Journalisten und Me‐ dienproduzenten als eine Klasse von Ex‐ perten, die Lohnar‐ beiter sind und mit kapitalistischem und politischem Druck konfrontiert sind; Medienproduktion, die von Machtproz‐ essen durchzogen ist, Bürgermedienproduktion: Unabhängigkeit des Schreibens und der Medienproduktion von kapitalisti‐ schen und politischen Einflüssen und politisch-ökonomischem Druck, wahre journalistische Freiheit, einfa‐ che Bürger als Medienproduzenten und Journalisten, bürgerkontrollierter Journalismus, Individuen und Grup‐ pen, die von bestimmten Problemen betroffen sind, werden Medienprodu‐ zenten und Journalisten oder zumin‐ dest das Thema der Medienprodukte, journalistische Praktiken und Medien‐ produktion als Teil der Praxis von Pro‐ testbewegungen, Konsumenten als Produzenten (Prosumenten), aktives Publikum Strukturen der Medienprodukte Ideologische Form, ideologischer Inhalt: Inhalte werden strikt durch Popularität und Vermarktbarkeit bestimmt; der Profit‐ drang kann zu einem Mangel an Qualität, Komplexität und An‐ Kritische Form, kritischer Inhalt: Oppositionelle Inhalte, die Alternati‐ ven zu den dominanten Perspektiven anbieten, in denen sich die Herrschaft des Kapitals, Patriarchats, Rassismus, Sexismus, Nationalismus, usw. wider‐ spiegelt. Solche Inhalte drücken oppo‐ sitionelle Standpunkte aus, die alle For‐ men der Herrschaft in Frage stellen; es 457 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 457 <?page no="458"?> spruch führen (wie z. B. im Boulevard‐ journalismus, der die Realität vereinfacht und sich auf Einzel‐ fälle konzentriert, Emotionalisierung und Sensationsma‐ cherei einsetzt); ideo‐ logische Inhalte durch manipulierte Berichterstattung oder Berichte, die et‐ was als wichtig be‐ richten, das nicht für die Gesellschaft rele‐ vant ist; Ablenkung des Publikums von echten gesellschaftli‐ chen Problemen und ihren Ursachen gibt Formen der Gegeninformationen und der Gegenhegemonie, bei denen die Stimmen der Ausgeschlossenen, Unterdrückten, Beherrschten, Ver‐ sklavten, Entfremdeten, Ausgebeute‐ ten und Beherrschten gehört werden; den Stimmenlosen und Namenlosen wir eine Stimme und ein Name gege‐ ben und den Machtlosen Medien‐ macht, um die Filterung und die Zensur der Information durch kapitalistische Informationsmonopole, staatliche oder kulturelle Monopole in der öffentli‐ chen Information und Kommunikation in Frage zu stellen; Präsentationsfor‐ men, die nicht eindimensional sind, sondern anspruchsvoll und das Publi‐ kum herausfordern, um ihre Einbil‐ dungskraft und ihr komplexes, kriti‐ sches Denken zu stärken (z. B. Brechts Konzept der dialektischen Form im epi‐ schen Theater, radikale Diskontinuitä‐ ten, die Menschen schockieren und zum Staunen bringen). Organisations‐ strukturen der Medien Hierarchische Medi‐ enorganisationen: Kapitalistische Medi‐ enunternehmen, die primär die Profitma‐ cherei im Sinn haben, finanziert durch den Verkauf von Inhalten an das Publikum und/ oder den Ver‐ kauf von Werbung, Privateigentum an den Medienunter‐ nehmen; hierarchi‐ sche Strukturen mit klarem Machtgefälle, wodurch enflussrei‐ chere und weniger einflussreiche Ak‐ teure existieren, die Machtteilung ist auch eine Arbeitstei‐ lung in derartigen Unternehmen Graswurzelmedienorganisationen: Kollektives Eigentum; konsensusori‐ entierte Entscheidungskultur derer, die in der Organisation arbeiten; keine Hierarchien und Autoritäten, symme‐ trische Machtverteilung, kein Privatei‐ gentum, sondern Selbstverwaltung; nichtkommerzielle, nichtprofitorien‐ tierte Medien, die nicht durch Werbung oder Warenverkauf, sondern durch Spenden, öffentliche Förderungen, pri‐ vate Ressourcen oder Strategien ohne Kosten unterstützt werden; Aufhe‐ bung der Arbeitsteilung: die Rollen der Autoren, Designer, Verleger, Drucker, Vertriebsarbeiter, usw. überlappen sich 458 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 458 <?page no="459"?> Distributions‐ strukturen Marketing und Pu‐ blic Relations: Hochtechnologische Distributions-, Mar‐ keting- und PR-Ab‐ teilungen, Experten, Strategien, Verkaufs‐ abteilungen, Wer‐ bung, Vertriebsver‐ träge Alternative Distribution: Technologien, die einfachen Zugang und billige Reproduktion erlauben; Strategien wie Anti-Urheberrechte, freier Zugang (Open Access) oder of‐ fene Inhalte erlauben es, dass die In‐ halte frei geteilt, kopiert, verbreitet oder verändert werden können; alter‐ native Distributionskanäle und alter‐ native Institutionen (z. B. alternative Buchläden oder Bibliotheken), die sich auf die Distribution alternativer Titel spezialisieren Rezeptionsprak‐ tiken Manipulierte Rezep‐ tion: Inhalte werden so in‐ terpretiert, dass sie zu falschem Be‐ wusstsein beitragen Kritische Rezeption: Inhalte werden so interpretiert, dass die Rezipienten Herrschaft in Frage stellen können Tabelle 14.1: Potenzielle Dimensionen traditioneller und kritischer Medien Die Medien sind antagonistisch: Sie stellen zugleich Potentiale für Emanzi‐ pation und Repression dar. Medien haben im Kapitalismus automatisch ei‐ nen repressiven Charakter. Sie nehmen die Waren- und Ideologieform an. Sie bieten aber auch Potentiale für alternative Produktion, Inhalte, Distri‐ bution und Rezeption, die oft marginalisiert sind und nur als immanente Potentiale existieren, die nicht automatisch realisiert werden. Es gibt struk‐ turelle Ungleichheiten, die die Möglichkeiten der Realisierung alternativer Möglichkeiten vermindern. Eine Politik des Klassenkampfes, die primär auf Umverteilung und kollektive Kontrolle abzielt, ist der einzige Weg, um die Möglichkeiten und strukturellen Bedingungen zur Realisierung dieser Po‐ tentiale zu erhöhen. Wir müssen die Medien und die Kommunikation in der gesellschaftlichen Totalität situieren und sie als in politische Kämpfe einge‐ bunden ansehen. Diese Position einzunehmen, bedeutet, dass die Medien dezentriert werden, Medienessentialismus und technologischer Determi‐ nismus vermieden werden und die Dialektik von Medien und Gesellschaft betont wird. Alternativmedien sind Medien, die die herrschenden kapitalistischen For‐ men der Medienproduktion, der Medienstrukturen, Inhalte, Distribution und Rezeption herausfordern. Tabelle 14.2 gibt einen zusammenfassenden Überblick von Tabelle 14.1, um potenzielle Eigenschaften der Alternativme‐ 459 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 459 <?page no="460"?> dien zu identifizieren. Nicht alle diese Kriterien sind notwendige Qualitäten der Alternativmedien. Tabelle 14.3 zeigt eine Zusammenfassung, die auf ei‐ ner leicht anderen Ordnung der Dimensionen der Medien beruht. Dimension Kapitalistische Medien Alternativmedien Medienproduktion Elitenmedien Bürgermedien Strukturen der Medien‐ produkte Ideologische Form, ideologische Inhalte Kritische Form, kritische Inhalte Strukturen der Medien‐ organisation Hierarchische Medi‐ enorganisation, Wa‐ renform Graswurzelmedienorganisation mit kollektivem Eigentum Distributionsstruktu‐ ren Marketing und Pu‐ blic Relations Alternative Distribution Rezeptionspraktiken Manipulierte Rezep‐ tion Kritische Rezeption Tabelle 14.2: Potenzielle Dimensionen traditioneller und kritischer Medien Kapitalistische Medien Idealform der Alterna‐ tivmedien Medien‐ struktu‐ ren Wirtschaft‐ liche Form der Medien‐ produkte Medienprodukte als Waren Nichtkommerzielle Medienprodukte, Non-Profit Inhalt der Medienpro‐ dukte Ideologische Inhalte Kritische Inhalte Medien‐ akteure Konsumen‐ ten Viele Konsumenten Kritische Konsumen‐ ten Kritische Prosumenten Produzenten Wenige Produzenten Kritische Pro‐ duzenten Tabelle 14.3: Charakteristiken alternativer und kapitalistischer Medien Im Elitenmedien gibt es eine Klasse von Experten, die Lohnarbeiter sind. Sie sind mit dem Druck von kapitalistischen und politischen Kräften konfron‐ 460 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 460 <?page no="461"?> tiert. Ihre Produktion wird von Machtprozessen beeinflusst. Es gibt Prozesse der Akkumulation von journalistischem Status. Dieses Modell wird von Bürgermedien in Frage gestellt. Bei dieser Art der Medienproduktion sind die Medienproduzenten von wirtschaftlichen und politischen Einflüssen unabhängig. Jeder kann als Medienproduzent agieren. Einfache Bürger kön‐ nen zu Journalisten und Medienproduzenten werden, sodass die Medienor‐ ganisationen bürgerkontrolliert sind. Individuen und Gruppen, die von be‐ stimmten Problemen betroffen sind, werden zu Medienproduzenten oder zumindest zum positiven Gegenstand der Berichterstattung. Derartige Me‐ dienpraktiken sind häufig Teil der Praktiken von Protestbewegungen. Kon‐ sumenten werden zu Produzenten (Prosumer, Produser), das Publikum wird aktiv. Der Inhalt und die Form traditioneller Medien sind oft ideologisch. Der Inhalt wird strikt dadurch definiert, was populär und verkäuflich ist. Der Profitimperativ kann zu einem Mangel an Qualität, Komplexität und Diffe‐ renziertheit führen (was z. B. im Boulevardjournalismus der Fall ist, der die Realität vereinfacht und auf Einzelfälle, Emotionalisierung und Sensations‐ gier konzentriert ist). Der Inhalt ist ideologisch, indem es Berichte gibt, die verzerrt sind, oder etwas als wichtig berichtet wird, das nicht wirklich von Bedeutung für die Gesellschaft ist, oder über Wichtiges nicht berichtet wird. Das Ziel ist, dass solche Inhalte die Rezipienten von der Konfrontation mit den realen Gesellschaftsproblem und ihren Ursachen abhalten wollen. Kritische Medien sind im Gegensatz dazu durch kritische Form und kri‐ tischen Inhalt charakterisiert. Es gibt oppositionelle Inhalte, die Alternativen zu vorherrschenden repressiven Perspektiven bieten, die die Herrschaft des Kapitals, das Patriarchat, Rassismus, Sexismus, Nationalismus, usw. wider‐ spiegeln. Ein derartiger Inhalt bringt oppositionelle Standpunkte zum Aus‐ druck, die Fremdbestimmung und Herrschaft in Frage stellen. Es gibt dann also Gegeninformation und eine Gegenhegemonie, in der die Stimmen der Ausgebeuteten, Exkludierten, Unterdrückten, Beherrschten, Entfremdeten und Versklavten zum Ausdruck kommen. Eines der Ziele ist es, den Stim‐ menlosen eine Stimme zu geben, den Machtlosen Medienmacht zu geben und die Filterung und Zensur der öffentlichen Information und Kommuni‐ kation zu überwinden, die durch kapitalistische Informationsmonopole, staatliche Monopole oder kulturelle Monopole verursacht werden. Es gibt auch Präsentationsformen, die nicht eindimensional sind, sondern an‐ spruchsvoll und die Rezipienten unterstützen, ihre Vorstellungskraft und komplexes Denken zu stärken (zum Beispiel Brechts Konzept der dialekti‐ 461 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 461 <?page no="462"?> schen Form im epischen Theater, wozu radikale Diskontinuitäten in der Handlung gehören, die die Menschen schockieren). Hinsichtlich der Organisationsstrukturen gibt es auf der einen Seite hier‐ archische kapitalistische Unternehmen, die primär darauf abzielen, Profit zu erzielen. Sie werden durch den Verkauf von Inhalten, Zugang, Technologien oder Werbung finanziert. Die Medienunternehmen stehen dabei im Privat‐ eigentum und es gibt hierarchische Strukturen mit einem klaren Machtdif‐ ferential, das einflussreiche Entscheidungsträger und weniger einflussrei‐ che Rollen schafft sowie eine Arbeitsteilung in den Medienorganisationen. Die Alternative sind Graswurzelmedienorganisationen, die kollektives Eigentum sind und in denen es inklusive Entscheidungsprozesse gibt, an denen jene, die die diesen Organisationen arbeiten, beteiligt sind. Außerdem gibt es eine symmetrische Machtverteilung und wirtschaftliche Selbstver‐ waltung. Diese Medien sind nicht auf Profit orientiert und oft nicht durch Werbung oder Warenverkauf finanziert, sondern durch Spenden, öffentliche Förderung, private Ressourcen oder Strategien mit keinen oder minimalen Kosten. Die strikte Arbeitsteilung ist aufgehoben: die Rollen der Autoren, Designer, Herausgeber, Drucker und Distributoren überlappen. Bei traditionellen Medien ist die Distribution eine Form des Marketings, bei der High-Tech Distribution, Marketing- und PR-Abteilungen, PR-Spe‐ zialisten, PR-Strategien, Verkaufsabteilungen, Werbung und Vertriebsver‐ träge benutzt werden. Bei kritischen Medien ist dies oft anders. Strategien wie Anti-Copyright, freier Zugang oder offene Inhalte erlauben es, dass In‐ halte geteilt, kopiert, verteilt oder verändert werden. Außerdem gibt es al‐ ternative Vertriebskanäle oder alternative Institutionen, die auf die Distri‐ bution von Alternativen spezialisiert sind. Auf der Ebene der Rezeption kann eine Unterscheidung zwischen mani‐ pulierter und kritischer Rezeption getroffen werden. Im ersten Fall wird In‐ halt auf Arten interpretiert, die falsches Bewusstsein schaffen oder repro‐ duzieren. Im zweiten Fall wird Inhalt auf Arten interpretiert, die es den Rezipienten erlauben, Herrschaft in Frage zu stellen. Eine Interpretation von Medieninhalten ist kritisch, wenn Form oder Inhalt Einsichten unterstützen, die es den Rezipienten erlauben, Herrschaft in Frage zu stellen, Ideen über alternative Gesellschaftsmodelle zu entwickeln, die Kooperation unterstüt‐ zen. Manipulierte Rezeption bedeutet, dass die Menschen Inhalte derart in‐ terpretieren, dass Herrschaft akzeptiert und unterstützt wird. Der Idealfall ist sicherlich, dass alle alternativen Praktiken und Strukturen der Alternativmedien vorhanden sind. In solchen Fällen ist ein Alternativ‐ 462 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 462 <?page no="463"?> medium ein Medium, das durch Bürgerjournalisten selbstverwaltet wird, bei dem kritische Inhalte produziert werden, die eine breite Öffentlichkeit er‐ reichen, deren Mitglieder die Informationen kritisch interpretieren und selbst in der kritischen journalistischen Produktion aktiv werden. In so ei‐ nem Fall gibt es eine Dialektik von selbstverwalteter Produktion und kriti‐ schen Strukturen. Der Idealfall für den kritischen Journalismus ist ein an‐ deres Gesellschaftsmodell, der den Bürgern die Zeit, Kenntnisse und Ressourcen zur Verfügung stellt, die benötigt werden, damit sie als kritische Journalisten, kritische öffentliche Intellektuelle und kritische Rezipienten agieren können, sodass ihre Praktiken eine Öffentlichkeit konstituieren, in der die Entscheidungen kollektiv in partizipativen, basisdemokratischen Prozessen getroffen werden. Die Unterscheidung zwischen Produktion und Rezeption verschwindet dann, und Alternativmedien werden zur Standard‐ form der Medien. Es ist einfach vorstellbar, dass diese Vision im Kapitalismus nicht verwirklichbar ist, sondern die Etablierung einer partizipativen De‐ mokratie und einer kooperativen Gesellschaft benötigt. Prefigurative Politik nimmt an, dass man Alternativen bereits im Kapita‐ lismus relativ vollständig und autonom praktizieren kann. Wenn sich alter‐ native Medienpraktiken vollständig auf prefigurative Politik verlassen, so werden die begrenzten Möglichkeiten und Limitierungen, mit denen sie in der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert sind, idealisiert. Alternativ‐ medien sind häufig mit Ressourcenknappheit und freiwilliger, selbstaus‐ beuterischer, prekärer Arbeit konfrontiert. Außerdem können die Praktiken der Selbstverwaltung auch benutzt werden, um hochgradig repressive (z. B. faschistische) Inhalte zu produzieren und zu verbreiten. Eine minimale An‐ forderung dafür, dass man von einem Alternativmedium sprechen kann, ist, dass es kritische Inhalte oder eine kritische Form gibt. Wenn das Publikum unkritische Medieninhalte kritisch interpretiert, so kann man nicht von ei‐ nem Alternativmedium sprechen, sondern von kritischen Rezeptionsprak‐ tiken. Wenn man den Schwerpunkt auf kritische Medienprodukte legt, so kön‐ nen auch Teile von Mainstreammedien zu bestimmten Zeitpunkten als kri‐ tisch erachtet werden, nämlich dann, wenn sie kritische Inhalte publizieren. Ein kritisches Medienprodukt ist eine notwendige Bedingung, damit man von einem Medium als kritischem Medium sprechen kann, obwohl es na‐ türlich wünschenswert ist, dass so viele alternative Qualitäten wie möglich erzielt werden können. Das Problem ist, dass es unter kapitalistischen Be‐ dingungen nicht so einfach möglich ist, all diese alternativen Ebenen und 463 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 463 <?page no="464"?> Praktiken der Medien zu erreichen. Ist man strikt auf Selbstverwaltung, ei‐ nen nichtkommerziellen Charakter usw. fokussiert, so ignoriert man die Probleme der Produktion alternativer Medien und argumentiert in einer naiven Weise, dass man innerhalb einer insgesamt repressiven Totalität eine alternative Gesellschaft schaffen kann. In dem verwendeten Modell sind Bürgerjournalismus, Selbstverwaltung, alternativer Vertrieb und kritische Rezeption wünschenswerte Qualitäten der Alternativmedien, die aber keine notwendigen Bedingungen darstellen, da sie in der kapitalistischen Gesell‐ schaft oft schwer zu erreichen sind. Kritische Medienprodukte (kritischer Inhalt, kritische Form) sind im Gegensatz dazu notwendige Qualitäten der Alternativmedien. Alternativmedien sind kritische Medien. Arten von kritischen Medien Wenn die Gesellschaftstheorie vom Allgemeinen zum Konkreten aufsteigt, um die Theoriekomplexität zu erhöhen und das Verständnis der Realität zu verbessern, so impliziert die Anwendung dieser Methode auf den Begriff der kritischen Medien, dass Untertypen der kritischen Medien identifiziert wer‐ den. Wir werden daher nun eine Typologie kritischer Medien einführen. Die nächste Tabelle präsentiert eine Typologie von und Beispiele für Al‐ ternativmedien. Medien werden auf der Basis von Körperteilen, die bei der Produktion und dem Konsum eingesetzt werden, anhand der Frage, ob die Produktion und der Konsum in zeitlicher Hinsicht asynchron oder synchron sind, und hinsichtlich räumlicher Kopräsenz oder Kommunikation über Dis‐ tanz klassifiziert. 464 14. Kommunikation und gesellschaftliche Kämpfe für Alternativen 464 <?page no="465"?> 461 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 461 Kommunikation Produk tion Rezepti on Formate Zeit Raum Alternativmedien Beispiele Print- Kommunikation/ Visuelle Kommunikation Gehirn, Hände Gehirn, Augen Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Bücher, Pamphlete, Comics, satirische Druckmedien, Flyer, visuelle Kunst, Graffiti, Kleidung, Textilien, Aufstecker, Aufkleber, Wandbilder Asynchron Distanz Alternativpresse, kritische Kunst Jacobin, Mother Jones, Oz, Bay Guardian, The Nation, Le Monde Diplomatique, New Statesman, Fifth Estate, Class War; Duane Hanson, Joseph Beuys Audio- Kommunikation Gehirn, Mund Gehirn, Ohren Radio, Telefon Synchron Distanz Freie Radios, unabhängige Radios, Gemeinschaftsradio , Piratensender Pacifica Radio Network, KPFA Berkeley, KPFK Los Angeles, KPFT Houston, WBAI New York, WPFW Washington DC, National Federation of Community Broadcasters, Grassroots Radio Coalition Audio- Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Ohren Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, Gespräch, Vorträge, Vorlesungen, Lieder Synchron Anwesenheit Radikales Singen, Singen von Protestliedern „Oh, freedom” (Abolitionismus), „We Shall Overcome”, Audio- Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Ohren, Körper Konzerte, Chor, Tanz Synchron Anwesenheit Alternative Musikkonzerte, Konzerte mit Protestsongs Alternative Musik, aufgenommene Protestlieder Audio- Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Ohren, Körper Tonaufzeichnungen, Radio Asynchron Distanz Alternative Musikkonzerte, Konzerte mit Protestsongs Mogwai, Godspeed You! Black Emperor, Billy Bragg, Robert Wyatt, „The Preacher and the Slave” (Joe Hill, sozialistisch), “Bombtrack” (Rage against the Machine, soziale Gerechtigkeit), „Sound of Da Police” (KRS One, Antirassismus), „Kill the Poor” (Dead Kennedys) Audio-visuelle Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Augen, Ohren Theater, Aufführungen Synchron Anwesenheit Kritisches Theater Youth International Theatre (Guerillatheater), Brechts episches Theater Audio-visuelle Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Augen, Ohren Film, Video, Dokumenationen, Nachrichten Asynchron Distanz Kritisches Fernsehen, unabhängiges Kino, Untergrundfilm, Avantgardefilm, Amateurvideos Democracy Now! , Crash” (Paul Haggis, 2004), Filme von Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder, Andy Warhol Audio-visuelle Kommunikation Gehirn, Mund, Körper Gehirn, Augen, Ohren Live-Fernsehen Synchron Distanz Offene Fernsehkanäle Manhattan Neighborhood Network Internet, digitale Kommunikation Gehirn, Hände, Mund, Körper Gehirn, Augen, Ohren Digitaler Text, digitaler Ton, digitales Video, Echtzeit- Text/ Ton/ Video- Chat, Online- Radio, Online-Fernsehen Synchron oder asynchron Distanz Alternative Online- Medien Novara Media, Young Turks, The Canary, Another Angry Voice, Indymedia, Alternet Tabelle 14.4: Eine Typologie alternativer Medien 465 14.2. Alternative Medien als Kritische Medien 465 <?page no="466"?> Da die kritische Form und der kritische Inhalt entscheidend für den alter‐ nativen Charakter der Medien sind, kann man nicht argumentieren, dass alle gemeinschaftlich produzierten, nichtkommerziellen, „freien“, unabhängi‐ gen, selbstverwalteten, selbstorganisierten, usw. Medien alternativ sind, ob‐ wohl dies bei vielen der Fall ist, da sie kritische Inhalte befördern. Es ist wahrscheinlicher, dass sie kritisch sind als dies bei konventionellen Medien der Fall ist, aber es handelt sich nicht automatisch um kritische Medien. Das entscheidende Charakteristikum, das in dieser Typologie verwendet wird, ist das der alternativen kritischen Produkte, bei denen es eine Unter‐ scheidung zwischen kritischer Form und kritischem Inhalt gibt. Mindestens einer der zwei Aspekte eines kritischen Medienproduktes (kritische Form, kritischer Inhalt) muss präsent sein, damit man von einem Alternativme‐ dium als kritischem Medium sprechen kann. Kritischer Inhalt ist ohne kri‐ tische Form möglich. Beide können aber auch gleichzeitig existieren. Es gibt Alternativmedien, bei denen die Form im Allgemeinen wichtiger ist als der Inhalt und umgekehrt. In Medien, die Kunstformen sind (wie Theater, Lite‐ ratur, visuelle Kunst, Filme, Musik, Konzerte), ist die Form von besonderer Wichtigkeit, da die Kunst durch nichtidentische Formen lebt, die darauf ab‐ zielen, die Einbildungskraft zu stärken. Nichtsdestotrotz sind Formen der kritischen politischen Kunst, die auf der Inhaltsebene kritisch sind, auch Alternativmedien. 14.3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wir können die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: ■ Es gibt keine vordefinierte Rolle der Kommunikationstechnologien in gesellschaftlichen Kämpfen. Da der Kapitalismus eine antagonistische Gesellschaft ist, haben Kommunikationstechnologien in dieser Ge‐