Gesellschaftstheorie
0217
2020
978-3-8385-5244-6
978-3-8252-5244-1
UTB
Hartmut Rosa
Jörg Oberthür
Permanente Veränderung und konfliktreiche Dynamiken sind wesentliche Merkmale moderner Gegenwartsgesellschaften. Die Beobachtung der damit verbundenen Spannungsmomente, aber auch der aus ihnen resultierenden neuen Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Herausforderungen ist nicht nur das gemeinsame Anliegen ganz unterschiedlicher Beschreibungen und Erklärungsversuche, die seit der Entstehung der Sozialwissenschaften solche Veränderungen begleitet haben. Sie ist zugleich Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage, was Gesellschaft ist und wie sie sich als ,abstraktes' Gebilde zur alltäglichen Wirklichkeit der in ihr lebenden Menschen verhält. Unter diesem Blickwinkel ist das Projekt einer Theorie der Gesellschaft von ausgesprochener Aktualität: Unter dem Einfluss der direkten und indirekten Folgen sozialer Prozesse, die etwa von den ökologischen und sozialen Problemen der sogenannten Globalisierung bis zur Neuverhandlung der Geschlechterverhältnisse und vom Wandel der Arbeit bis zur populistischen Herausforderung demokratischer Institutionen reichen, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer ,begrifflichen Klammer' für die Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene erneut und vielleicht dringlicher als je zuvor.
Das Buch will vor diesem Hintergrund die Antwort auf die Frage nach dem veränderlichen Wesen von Gesellschaft in dreifacher Hinsicht aktualisieren. Ausgehend von den wichtigsten sozialen Problemfeldern der Gegenwart und vor dem Hintergrund einer die geschichtliche Entwicklung nachzeichnenden Rekonstruktion der sich hieran anschließenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Debatten, macht die vorliegende Einführung in die Gesellschaftstheorie anhand ausgewählter Theoretiker und Theoretikerinnen mit der Entwicklung der wesentlichen Grundbegriffe vertraut und verdeutlicht exemplarisch zugleich ihre Anwendung in konkreten gegenstandsbezogenen Analysen. Mit Blick auf die Mehrdimensionalität von Gesellschaft, die das Verhältnis von Individuen und Institutionen ebenso wie die Frage nach der Beziehung zwischen Sein und Sollen sozialer Verhältnisse einschließt, werden dabei sowohl disziplinäre Zugänge über den Bereich der Soziologie hinaus verfolgt als auch Möglichkeiten einer kritischen bzw. beurteilenden Reflexion ausgelotet. Zugleich ist dieser Versuch einer Debattenübersicht aber auch ein Plädoyer für einen starken Gesellschaftsbegriff, der Widersprüche, Dynamiken und Spannungen aufnimmt, ohne das Ziel aufzugeben, zu einem besseren Verständnis des ,Ganzen' zu gelangen. Die Idee einer empirisch interessierten und zugleich abstrahierenden, jedoch nicht lediglich ,abstrakten' Theoriebildung verbindet die Autorinnen und Autoren des Buchs, die in unterschiedlichen Kontexten forschen und lehren und ihre je eigene Perspektive auf Gesellschaft einbringen.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfceeb! ISBN 978-3-8252-5244-1 Hartmut Rosa Jörg Oberthür u.a. Gesellschaftstheorie Gesellschaft ist ein komplexes und sich historisch veränderndes Gebilde. Die vorliegende Einführung macht es theoretisch und begrifflich fassbar, indem sie von konkreten sozialen Problemfeldern ausgeht und daran die unterschiedlichen sozial- und geisteswissenschaftlichen Positionen und Herangehensweisen deutlich werden lässt. Auf diese Weise wird die Vielfalt gesellschaftstheoretischer Ansätze in ihrer historischen Entwicklung und ihrer gegenwartsbezogenen Relevanz erkennbar. Dabei werden sowohl die Interdisziplinarität der Zugänge als auch die Möglichkeiten einer kritischen bzw. beurteilenden Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse berücksichtigt und diskutiert. Soziologie Gesellschaftstheorie Rosa | Oberthür u. a. Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52441 Rosa_M-5244.indd 1 52441 Rosa_M-5244.indd 1 16.01.20 14: 38 16.01.20 14: 38 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5244 <?page no="3"?> Hartmut Rosa, Jörg Oberthür u.a. GGesellschaftstheorie Weitere Autoren sind: Ulf Bohmann · Joris A. Gregor · Stephan Lorenz · Karin Scherschel · Peter Schulz · Janos Schwab · Sebastian Sevignani UVK Verlag · München <?page no="4"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utbshop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © UVK Verlag 2020 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5, 72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © iStockphoto, saemilee Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen info@narr.de www.narr.de UTB-Nr. 5244 ISBN 978-3-8252-5244-1 (Print) ISBN 978-3-8385-5244-6 (E-Book) <?page no="5"?> ÜÜber dieses Buch Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines langen gemeinsamen Arbeitsprozesses als Autorinnen und Autoren, aber auch als Kolleginnen und Kollegen im Umfeld der Jenaer soziologischen Theorie und damit Ausdruck eines lebendigen Diskussionszusammenhangs, in dem wir streiten, voneinander lernen und ‚Theorie‘ auf ganz unterschiedliche Weisen als Praxis leben. Es ist deshalb auch der Versuch, unsere vielfältigen und durchaus unterschiedlichen Forschungsperspektiven und wissenschaftlichen Positionen mit Blick auf das gemeinsame Interesse an einem besseren Verständnis der Gegenwartsgesellschaft und unserer eigenen Standpunkte darin wechselseitig fruchtbar zu machen. Darum haben wir nicht einfach nur ein Lehrbuch geschrieben, sondern uns bemüht, zugleich einen Debattenbeitrag zur Bestimmung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen und Problemlagen sowie gesellschaftstheoretischer Anforderungen und Aufgaben zu leisten. In diesem Buch finden Erfahrungen ihren Ausdruck, die wir als Lehrende in Seminaren und Vorlesungen sammeln konnten - ebenso wie unzählige Anregungen, die wir hieraus gewonnen haben, und offene Fragen, auf die wir gestoßen sind. In besonderem Maße verdanken sich die Idee und die Entstehung dieser Einführung den Diskussionen mit den Studierenden des Jenaer Masterstudiengangs Gesellschaftstheorie. Als interdisziplinär angelegtes Studienprogramm und als Ort der engagierten, kritischen Auseinandersetzung mit Gesellschaft und ihren Institutionen bietet er die Möglichkeit, Denkhorizonte im Miteinander von Lehrenden und Studierenden auf beiden Seiten zu erweitern. Wir möchten in diesem Sinne das vorliegende Buch als Angebot und Einladung zum Dialog verstehen und freuen uns auf die Fortsetzung der begonnenen Diskussionen. Nicht einmal im Ansatz gelungen wäre dieses Vorhaben jedoch ohne die intensive Unterstützung durch eine Vielzahl von engagierten Personen auf allen Ebenen des universitären Betriebs, denen wir großen Dank schulden. Für ideelle und finanzielle Unterstützung danken wir dem DFG-Forschungskolleg ‚Postwachstumsgesellschaften‘. Namentlich in besonderer Weise hervorheben möchten wir an dieser Stelle unsere studierenden Mitarbeiter_innen János Varga und Henrike Katzer für ihre kompetente, ausdauernde und schlicht unschätzbare Hilfe bei der Vereinheitlichung, Überarbeitung und Fertigstellung des Manuskripts, ebenso wie Sigrid Engelhardt für ihre mannigfaltige Unterstützung, Henri Band für das umfangreiche und gründliche Lektorat und schließlich die Mitarbeitenden des UVK Verlags, insbesondere Dr. Jürgen Schechler und Uta Preimesser, für sachkundige <?page no="6"?> 6 Beratung, vielfältiges Entgegenkommen und Geduld. Für die verbleibenden Schwächen und Fehler des Buches tragen wir selbstredend die alleinige Verantwortung! Jena im r 20 , die Autorinnen und Autoren <?page no="7"?> IInhalt Über dieses Buch........................................................................................................5 Einleitung ................................................................................................................... 11 Interdisziplinäre Kontexte gesellschaftstheoretischen Denkens .................17 Dynamische Veränderung der Gesellschaft - Gesellschaftstheorie als ‚Work in Progress‘ .............................................................................................26 Problemfelder und Fokuspunkte gesellschaftstheoretischen Denkens - zum Aufbau des Buchs .....................................................................................30 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft.................35 1.1 Frühe Moderne: Neuzeitliche Naturdeutungen und Industrialisierung ....37 1.1.1 Natur in Naturwissenschaft und frühen Gesellschaftsanalysen........39 1.1.2 Etablierung der Soziologie und Verlust der Natur .............................40 1.2 Entwickelte Moderne: Zur Konstruktion der ökologischen Krise .............41 1.2.1 Mary Douglas und die Cultural Theory der Natur- und Risikomythen .43 1.2.2 Klaus Eders kommunikationstheoretisches Ambivalenzmodell des modernen Naturzugangs .................................................................47 1.3 Späte Moderne: Neue politische Ökologien? .................................................50 1.3.1 Die Politische Ökologie Bruno Latours...............................................52 1.3.2 Im „Parlament der Dinge“ - ein Verfahrensmodell ökologischer Demokratisierung ...................................................................................55 1.3.3 Ökologisieren als theoretisches Paradigma .........................................59 1.4 Resümee ..............................................................................................................60 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis ..................................................................................................................63 2.1 Frühe Moderne: Der vergesellschaftete Mensch ...........................................65 2.1.1 Gesellschaft als soziale Einheit in der Differenz: Emile Durkheim und die Erneuerung des ‚sozialen Bandes‘ ..........................................65 2.1.2 Transformation der ‚Lebensführung‘: Max Weber und das Subjekt als Träger kultureller Rationalisierung ..........................................68 <?page no="8"?> 8 2.1.3 Nähe und Distanz: Georg Simmel und die Ambivalenz der Individualisierung als Krise der Moderne............................................70 2.2 Entwickelte Moderne: Leben in Institutionen ...............................................72 2.2.1 Zwei konträre Perspektiven auf Gesellschaft als ‚System‘: Kritische Theorie und Talcott Parsons’ Systemfunktionalismus .....72 2.2.2 Reflexivität und Routine: Anthony Giddens’ Subjektverständnis als Beitrag zum Struktur-Handlungs-Problem der Soziologie ..........74 2.3 Späte Moderne: Subjektivierung als ‚Selbstunterwerfung‘ - poststrukturalistische Kritik der Individualisierungsthese............................79 2.4 Resümee ..............................................................................................................85 3 Geschlechtlichkeit ..........................................................................................89 3.1 Frühe Moderne: Mathilde Vaerting .................................................................93 3.1.1 Biographische Notizen...........................................................................94 3.1.2 Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib.............95 3.1.3 Eingeschlechtliche Vorherrschaft und die Macht des Unterschieds .. 96 3.1.4 Die Sexualkomponente..........................................................................98 3.1.5 ‚Objektive Wissenschaft‘ in der Geschlechterpsychologie..............100 3.2 Entwickelte Moderne: Simone de Beauvoir .................................................101 3.2.1 Biographische Notizen.........................................................................101 3.2.2 Freiheit in Situation ..............................................................................103 3.2.3 Die Ambivalenz der menschlichen Existenz ....................................104 3.2.4 Die Situation der Frau..........................................................................106 3.2.5 Weibliche Sexualität..............................................................................109 3.2.6 Das gesellschaftliche Programm der Befreiung der Frau ................110 3.3 Späte Moderne: Judith Butler.........................................................................111 3.3.1 Biographische Notizen.........................................................................114 3.3.2 Butlers Performativitätstheorie ...........................................................114 3.3.3 Die Neuvermessung des Natur-Kultur-Dualismus..........................115 3.3.4 Performativität und Parodie ................................................................116 3.3.5 Die heterosexuelle Matrix als regulatorisches Regime.....................118 3.4 Resümee ............................................................................................................120 <?page no="9"?> 4 Ethnizität und Rassismus...........................................................................125 4.1 Frühe Moderne: Max Weber - ethnische Gemeinschaftsbeziehungen... 126 4.2 Entwickelte Moderne: Ethnizität und Migration........................................ 131 4.2.1 Assimilation und Pluralismus ............................................................. 132 4.2.2 Ethnizität: Strukturmerkmal moderner Gesellschaft oder vorübergehende Phase im Prozess funktionaler Differenzierung? ............. 135 4.3 Späte Moderne: Ethnische Ungleichheit und Rassismus........................... 137 4.3.1 Ethnizität, Diskriminierung und Ethnisierung ................................ 137 4.3.2 Rassismen ............................................................................................. 139 4.4 Resümee ........................................................................................................... 150 5 Soziale Ungleichheit.....................................................................................153 5.1 Frühe Moderne: Karl Marx ........................................................................... 156 5.1.1 Die Bedeutung der Produktionsverhältnisse: Kapitalistische Ausbeutung als dialektisches soziales Verhältnis............................. 158 5.1.2 Klassenkampf, Entfremdung und die Skepsis gegenüber der Moral ..................................................................................................... 163 5.2 Entwickelte Moderne: Pierre Bourdieu........................................................ 166 5.2.1 Kulturtheoretische Brechungen: Akkumulation unterschiedlicher Kapitalsorten und Klassifikation ....................................................... 168 5.2.2 Störende und verstörende Eingriffe .................................................. 174 5.3 Späte Moderne: Nancy Fraser ....................................................................... 175 5.3.1 Perspektivischer Trialismus auf soziale Ungleichheit: Ökonomie, Kultur und Politik................................................................................ 177 5.3.2 Reflexive Gerechtigkeit: Institutionalisierte gleiche Teilhabe und transnationale Öffentlichkeiten.......................................................... 183 5.4 Resümee: Auf dem Weg zur Entschlüsselung der Verschränkungen sozialer Ungleichheit in der kapitalistischen Moderne............................... 185 6 Demokratie und Gesellschaft .................................................................... 191 6.1 Frühe Moderne: Alexis de Tocqueville ........................................................ 195 6.1.1 Demokratie in der Gesellschaft: Regierungs- und Sozialform ...... 196 6.1.2 Freiheit und Gleichheit ....................................................................... 198 6.1.3 Gefahren der Demokratie .................................................................. 201 9 <?page no="10"?> 10 6.2 Entwickelte Moderne: Hannah Arendt.........................................................204 6.2.1 Das Gesellschaftliche und das Politische ..........................................204 6.2.2 Revolution und Demokratie................................................................207 6.2.3 Totalitarismus als Antithese zur Demokratie....................................209 6.3 Späte Moderne: Jacques Rancière ..................................................................211 6.3.1 Demokratie als Politik des Dissenses.................................................213 6.3.2 Radikale Gleichheit...............................................................................215 6.3.3 Der Hass der Demokratie ...................................................................218 6.4 Resümee ............................................................................................................220 Fazit: Gesellschaftstheorie, intellektuelle Redlichkeit und das Problem der Formationsbegriffe .....................................................................223 Literatur ......................................................................................................................233 Die Autor_innen........................................................................................................257 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ..........................................................259 Index ...........................................................................................................................261 <?page no="11"?> EEinleitung H ARTMUT R OSA , J ÖRG O BERTHÜR Dieses Buch setzt etwas scheinbar Selbstverständliches voraus: dass Gesellschaft existiert und ihre wissenschaftliche Erkenntnis möglich ist. Längst ist ‚die Gesellschaft‘ auch im Alltagssprachgebrauch zur Formel für ganz unterschiedliche Probleme sowie zum Gegenstand von Stammtischdiskussionen ebenso wie von Feuilletondebatten geworden. ‚Die Gesellschaft‘ scheint hier wie dort eine eigenständige Kraft zu sein, die Dinge ‚will‘ oder ‚verlangt‘, sich entwickelt und ‚uns Menschen‘ unter Druck setzt. Das war durchaus nicht immer so: ‚Gesellschaft‘ ist selbst ein moderner Begriff, insofern er mehr und etwas anderes meint als eine politische Gemeinschaft oder einen Staat. Es hat fast den Anschein, als gebe es Gesellschaft als eigenständige Größe erst seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Reitz 2016: 109). Auch die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft entsteht bezeichnenderweise ja erst am Ende jenes Jahrhunderts (vgl. ebd.: 128). Die Annahme, dass es Gesellschaft gibt, ist deshalb nur scheinbar trivial, was sich auch daran zeigt, dass schon im Rahmen von Alltagsgesprächen bei näherer Betrachtung voraussetzungsvolle begriffliche Abstraktionsleistungen und Verknüpfungen mit dem simplen Wort ‚Gesellschaft‘ vorgenommen werden, denen auf den Grund zu gehen zu den Zielen der vorliegenden Einführung in die Gesellschaftstheorie gehört. Unser Buch richtet sich dabei in erster Linie an Studierende und Lehrende der verschiedenen Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Es will darüber hinaus aber auch einen Einstieg in die Reflexion gesellschaftstheoretischer Problemstellungen für alle diejenigen bieten, die das Interesse am Verständnis des Gesamtzusammenhangs sozialer Phänomene teilen und die wie die Autor_innen davon ausgehen, dass eine vollständige Beantwortung ihrer jeweiligen theoretischen oder praktischen Fragen nicht ohne Rückgriff auf ‚Gesellschaft‘ möglich ist. Allerdings kann man den mit dem Ausdruck ‚Gesellschaft‘ markierten Gegenstandsbereich nicht ohne weiteres direkt ‚erfahren‘; man kann die Gesellschaft nicht sehen, greifen, hören oder auf eine andere Weise ‚dingfest‘ machen. Das gilt jedoch für viele Gegenstände - auch für Objekte jener Wissenschaften, die mit sogenannten ‚harten Fakten‘ operieren. So würde heute sicher niemand die Existenz von Radioaktivität bestreiten, auch wenn diese nicht ohne Instrumente wahrgenommen werden kann. Was sind nun aber die Instrumente für die Beobachtung von Gesellschaft? Davon handelt dieses Buch. Gesellschaftstheorie bedient sich analog zu anderen Wissenschaften eines spezifischen Erkenntnisinstrumentariums - etwa der Methoden empirischer Sozialforschung, aber auch bestimmter <?page no="12"?> 12 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Kategorien und Konzepte -, um ihren Gegenstand in seinem Wesen zu erfassen und in seinen Folgen sichtbar zu machen, und sie muss sich, ebenso wie die Naturwissenschaften, darauf verlassen können, dass die stillschweigenden Voraussetzungen ihrer Instrumente im Zweifelsfall selbst überprüfbar und auch korrigierbar sind. Dennoch weist Gesellschaft als ‚Objekt‘ von Wissenschaft einige Besonderheiten auf, die aus der Tatsache resultieren, dass sie in ihren Strukturen und ‚Gesetzen‘ gegenüber dem Denken und Handeln erkennender Subjekte nicht bzw. nicht in einem überhistorischen Sinne unabhängig ist. 1 Mehr noch: Das Denken von Gesellschaft ist im kulturellen Selbstverständnis und in der Praxis der Moderne so tief verankert, dass eine theoretische Reflexion auf seine Grundlagen ihrerseits nur in Gesellschaft möglich ist, zu dieser in permanenter Wechselwirkung steht 2 und damit im Grunde den paradoxen Charakter eines Bauwerkes trägt, dessen tragende Konstruktionen jederzeit noch vor Fertigstellung der oberen Stockwerke ‚von unten‘ erneuert werden können müssten - oder, um es in Abwandlung von Otto Neuraths berühmter Metapher zu sagen: Gesellschaftstheorie betreiben heißt, ein „Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können“ (Neurath 1932: 206). Dass sich jede Behauptung über Gesellschaft daher im zweifachen Sinne an ihrer Wirklichkeit bewähren muss, lässt sich auch an Margaret Thatchers berühmten Ausspruch „There is no such thing as society“ (in Keay 1987) veranschaulichen: Dieser Satz, der in einem Interview im Jahre 1987 fiel, nachdem die britischen ‚Tories‘ zum wiederholten Male die Wahlen zum Unterhaus gewonnen und ihrer Vorsitzenden damit eine dritte Amtszeit als Premierministerin ermöglicht hatten, diente dazu, soziale Sparmaßnahmen zu verteidigen und Forderungen an den ‚Wohlfahrtsstaat‘ bzw. ‚die Gesellschaft‘ als ideologisch fehlgeleitet zu verwerfen: Jede und Jeder muss für sich selbst sorgen, es gibt keine Gesellschaft, auf die wir uns verlassen können. Die eigentliche Pointe ist indessen eine andere: In der für ihre Politik typischen Verbindung von individualistischer Verantwortungsethik und ökonomischem Liberalismus hatte sich in Thatchers hier zitiertem Leitspruch ein spezifisches Verständnis des Sozialen nicht nur als Kausalzusammenhang, also als System von Wechselwirkungen, sondern auch als normativer Horizont des öffentlichen Miteinanders ausgedrückt, das gerade deshalb Reflexion auf die soziale Ganzheit, und das heißt: auf ‚die Gesellschaft‘, war. Für die darin implizierte Absage an das 1 Den Aspekt beobachtungsabhängiger Prozesse und Ereignisse in den Naturwissenschaften klammern wir an dieser Stelle aus - er unterstreicht jedoch, dass das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und wissenschaftlichem Objekt im weiteren Sinne ein erkenntnistheoretisches Grundproblem aller Disziplinen darstellt. 2 Vgl. hierzu den Gedanken der „doppelten Hermeneutik“ bei Anthony Giddens (1984: 99). <?page no="13"?> Einleitung 13 allgemeine ‚Ding‘ Gesellschaft trifft aber zu, was Theodor W. Adorno als ein zentraler Denker der Gesellschaftstheorie im 20. Jahrhundert im Hinblick auf einen falsch verstandenen Positivismus beschrieben und kritisiert hatte: „Indem man die Frage nach dem Wesen [des Sozialen, d. Aut.] als Illusion […] tabuiert, sind die Wesenszusammenhänge - das, worauf es in der Gesellschaft eigentlich ankommt - a priori vor der Erkenntnis geschützt.“ (Adorno 1972 [1957]: 208) Solche ‚Wesenszusammenhänge‘ schließen insbesondere auch normative Fragen, d.h. Sachverhalte des Wollens und Sollens ein. Es ist mit anderen Worten unvermeidbar, dass die ‚objektive‘ Geltung selbst noch der individualistischsten Beschreibungen sozialer Wirklichkeit nicht losgelöst vom kollektiven ‚Gelten-Sollen‘ der damit verbundenen Verhältnisse begriffen werden kann. Normative Vorstellungen sind nicht etwas, das sich auf oder an Gesellschaft als ‚nur faktischen‘ Zusammenhang richtet, sondern sie sind immer schon ein wesentlicher, tragender Bestandteil von Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund führt der oft gehörte Ausspruch, die Gesellschaft sei an diesem oder jenem Missstand ‚schuld‘, zu einer Anomalie, die unreflektiert zu reproduzieren oder einfach als ‚metaphysischen Unsinn‘ abzuweisen eine Gesellschaftstheorie gleichermaßen vermeiden sollte. Die in solchen Urteilen enthaltene Verbindung von ursächlicher Erklärung (z.B. ‚Die Gesellschaft macht die Menschen krank‘) und moralischer Kritik (z.B. ‚Die Gesellschaft ist egoistisch geworden‘) mag uns irrig erscheinen, da sie für andere wissenschaftlich erfassbare ‚Großphänomene‘ - wie etwa das Klima, die Gezeiten oder die Gestirne - in der Moderne kaum noch möglich wäre. 3 Dennoch denken, sprechen und handeln Akteur_innen der Alltagspraxis genau in dieser Weise und erzeugen ausgehend von Problemwahrnehmungen und -zuschreibungen ‚Wirklichkeit‘ in Form routinemäßiger Erwartungen, die sowohl in Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als auch in Handlungspläne Eingang finden und zu denen sich auch die Gesellschaftswissenschaften noch vor aller Kritik verhalten müssen. Aus diesem Grund bliebe eine Absage an ‚die Gesellschaft‘ im Sinne Thatchers mit ihrem Bezug auf „individual men and women“ (in Keay 1987), denen alleine sie soziale Existenz zugesteht, für eine Theorie, welche Alltagsdeutungen und deren sozialen Wirkungen zur Kenntnis nehmen will, ebenso defizitär, wie es eine selbstgenügsame Einübung ins disziplinäre Vokabular und die empirisch unhinterfragte Verwendung gesellschaftstheoretischer (Groß-)Kategorien wären. Wir verstehen Gesellschaftstheorie deshalb als Dreieck von wissenschaftlicher Analyse und Diagnose sozialer Verhältnisse in ihrer Totalität (Gesellschaft existiert), in ihrer Normativität (d.h. ein Sollen ist der ‚Logik‘ ihrer Institutionen und Handlungspraktiken immer bereits inhärent) und in ihrer Kontingenz (grundsätzliche Veränderbarkeit und damit Kritisierbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse). 3 Vgl. zu diesem Sonderstatus der Gesellschaft auch Bruno Latour (1998: 43ff.). <?page no="14"?> 14 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür B EGRIFF & D EFINITION : Totalität, Normativität, Kontingenz - das gesellschaftstheoretische Dreieck Totalität: Gesellschaft als geordnete Ganzheit besitzt gegenüber ihren Elementen (z.B. Handlungen und soziale Beziehungen zwischen Subjekten, Objekten und Ideen) eine emergente Qualität: Sie umfasst ihre Teile vollständig und weist dennoch eigenständige Merkmale auf, die nicht aus den Eigenschaften der Teile abgeleitet werden können und die begrifflich nur durch Abstraktion zu beschreiben sind (z.B. die ‚kapitalistische Gesellschaftsordnung‘ oder die ‚Risikogesellschaft‘). Erkenntnistheoretisch resultiert hieraus, dass Gesellschaftstheorie im Sinne eines zirkulären Denkprozesses (oder eines hermeneutischen Zirkels) betrieben werden muss. Im Ausgang von den Relationen der Einzelerscheinungen und dem, was in ihnen als ihr jeweils Anderes erkennbar wird (z.B. die unverwirklichte Idee der Freiheit in Spannung zu sozialen Machtverhältnissen), müssen Annahmen über den gesellschaftlichen Zusammenhang rekursiv am besseren Verständnis neuer Phänomene geprüft und gegebenenfalls modifiziert werden, bis sich sukzessive ein immer klareres Bild der Ganzheit herauszuschälen beginnt. Gedanklich kommt der Begriff des ‚Systems‘ dem damit verbundenen Gesellschaftsverständnis bereits sehr nahe, aufgrund seiner weiteren Implikationen - vor allem wegen der mit ihm verbundenen tendenziellen Ausklammerung der Handlungsmöglichkeiten von Subjekten und ihrer Fähigkeit der kreativen Sinngebung - soll er an dieser Stelle jedoch nicht verwendet werden. Normativität: Gesellschaft als Zusammenhang des Handelns und Zusammenlebens von individuellen sowie kollektiven Akteur_innen muss immer auch als eine Projektion des Wollens, im Sinne von Zielen, Zwecken und Motiven, Legitimitätserwartungen und schließlich auch: des ‚guten Lebens‘ überhaupt begriffen werden. Jeder sozialen Praxis (zum Beispiel des Wählens, des Unterrichtens, des Hausbauens) liegen konkrete Konzeptionen des Sein-Sollenden und Richtigen zugrunde, ohne die jene Praktiken nicht zu verstehen wären. Werte und Ideale müssen hierbei nicht notwendigerweise vollständig in der Praxis verwirklicht sein (und sind es in der Regel aufgrund gesellschaftlicher Widersprüche nicht), um den impliziten oder expliziten Sinn der institutionellen Ordnung darzustellen und somit einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Erklärung zu liefern. Gerade auch die in einer gegebenen Gesellschaft nicht eingelösten normativen Ansprüche und Versprechen müssen daher im Rahmen gesellschaftlicher Reflexion betrachtet werden, um zu einer angemessenen Analyse des ‚Ganzen‘ zu gelangen: Diese können zum Antrieb von sozialen Praxen der Veränderung werden (vgl. hierzu auch den Bezug auf soziale Bewegungen im letzten Abschnitt dieser <?page no="15"?> Einleitung 15 Einleitung) und liefern gleichzeitig die Basis für gesellschaftstheoretische Kritik. Kontingenz: In der Fortexistenz des jeweiligen Anderen offenbart sich stets die Möglichkeit einer alternativen gesellschaftlichen Existenzweise, ohne deren Anerkennung Gesellschaftstheorie auf die beschreibende Wiedergabe von je realisierten ‚Tatsachen‘ beschränkt bleiben müsste. Weder ließe sich so das historische Gewordensein einer bestimmten Formation begreifen (ein Erkenntnisinteresse, das etwa die Systemtheorie mit ihren ‚funktionalen Äquivalenten‘ und die ‚Genealogie‘ des Poststrukturalismus teilen), noch wäre überhaupt die Spezifik einer jeweiligen Gesellschaftsordnung zu charakterisieren. Schließlich müsste Theorie als Aufklärung ihren Punkt verfehlen, wenn sie nicht durch den Aufweis denkbarer Alternativen in der Lage wäre, an die Sinngebungsleistungen der Praxis zumindest anzuschließen. Diese drei Achsen der Totalität, Normativität und Kontingenz greifen in Gesellschaftstheorien, wie wir sie in diesem Buch verstehen wollen, ineinander. Allgemeine sozialtheoretische Konzepte als deskriptive und analytische Erkenntnisinstrumente, welche die Funktion und Operation sozialer Institutionen zu verstehen und beschreiben suchen, und Zeitdiagnosen, welche jene Konzepte benutzen, um damit je aktuelle Entwicklungstendenzen sowie damit verbundene soziale Problemlagen und Dysfunktionen zu identifizieren, bilden vor diesem Hintergrund zwei dynamisch miteinander verbundene und sich gegenseitig ebenso vorantreibende wie korrigierende Dimensionen der Gesellschaftstheorie. Mit anderen Worten heißt dies, dass Gesellschaftstheorie zeigen können muss, was sich durch sie im Hinblick auf soziale Problemlagen, auf deren Erklärung und nicht zuletzt auch auf die möglichen Bearbeitungen solcher Problemstellungen leisten lässt - und sie muss sich ihrerseits dann der Kritik durch die sozialen Akteur_innen aussetzen. Grundfragen gesellschaftstheoretischer Debatten werden in den folgenden Kapiteln daher entlang der Entwicklung ihrer realen gesellschaftlichen Bezugsprobleme diskutiert, wodurch neben einer Einführung in die verschiedenen Denkansätze zugleich auch Anstöße für die Beurteilung aktueller Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung und des sozialen Wandels gegeben werden. <?page no="16"?> 16 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür B EGRIFF & D EFINITION : Sozialtheorie, Zeitdiagnose, Gesellschaftstheorie Eine der kategorialen Unterscheidung von Sozialtheorie, Zeitdiagnose und Gesellschaftstheorie analoge Differenzierung findet sich in ganz unterschiedlichen aktuellen Theorieansätzen. Anthony Giddens (1997 [1984]: 30) etwa begreift als „Sozialtheorie“ den grundbegrifflichen Apparat der Sozialwissenschaften nebst den zwischen diesen Grundbegriffen bestehenden möglichen Beziehungen und als „Soziologie“ die Anwendung dieses Apparats auf gegenwärtige Gesellschaften. Auch Gesa Lindemann (2009: 19) betrachtet „Sozialtheorien“ als System von „Annahmen darüber, was überhaupt unter sozialen Phänomenen verstanden werden soll und welche Konzepte zentral gestellt werden“, während Gesellschaftstheorien solche seien, „die sich auf historische Großformationen beziehen, wie etwa die moderne Gesellschaft, die kapitalistische Gesellschaft oder die funktional differenzierte Gesellschaft“ (ebd.: 20). Schließlich kann auch die durch Niklas Luhmann für die Systemtheorie prominent gemachte Ebenenunterscheidung in „allgemeine Systemtheorie“, „Theorie sozialer Systeme“ und „Theorie des Gesellschaftssystems“ (funktional differenzierter Gesellschaften) in ähnlicher Weise interpretiert werden (vgl. Luhmann 1998: 79 - sowie zu einer entsprechenden Interpretationsweise Lindemann 2011: 3). Diese über die Theorieströmungen hinweg beobachtbare Konvergenz nehmen wir zum Anlass, eine diesem Buch zugrundeliegende synthetisierende Differenzierung vorzuschlagen: Sozialtheorie: Grundkonzepte für die Analyse der ‚Vergesellschaftung‘ und Subjektivierung von Individuen und für das Verständnis sozialer Institutionen und Praktiken. Zeitdiagnose: Normative und empirische Analyse und Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen und Problemlagen sowie potentieller Pathologien oder Dysfunktionen auf der Basis der Sozialtheorie. Gesellschaftstheorie: Die Synthese von Sozialtheorie und Zeitdiagnose, welche eine theoretisch gehaltvolle und empirisch gesättigte Analyse der beobachtbaren gesellschaftlichen Formation und ihrer Entwicklungstendenzen (in ihrer Totalität) impliziert. <?page no="17"?> Einleitung 17 IInterdisziplinäre Kontexte gesellschaftstheoretischen kens Das damit umrissene Unternehmen positioniert sich, der Eigenart seiner verschiedenen Erkenntnisdimensionen Rechnung tragend, unvermeidlich interdisziplinär, und wenngleich der Gesellschaftsbegriff erst in der Moderne entsteht, reichen die Vorläufer des gesellschaftstheoretischen Denkens im skizzierten Sinne historisch weit zurück. Im Folgenden sollen daher exemplarisch - d.h. weder mit Anspruch auf Vollständigkeit noch unter dem Blickwinkel einer ideentheoretischen Systematisierung - drei im gesellschaftstheoretischen Kontext zentrale Wissenschaftsdisziplinen und Vertreter ihre jeweiligen Denkströmungen zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts herangezogen werden. Mit der Darstellung entsprechender ‚Wegmarken‘ ist keine Vorentscheidung über die Richtung und die Antriebsmomente wissenschaftlichen ‚Fortschritts‘ verbunden (etwa im Sinne eines idealistischen oder materialistischen Geschichtsparadigmas). Es wird sich aber zeigen lassen, dass unter den Blickwinkeln der Philosophie, der Politischen Theorie und der Soziologie unterschiedliche Aspekte gesellschaftlicher Ordnung mit entsprechend differenten Implikationen für die soziale Praxis verhandelt werden, die im Rahmen einer Gesellschaftstheorie synthetisiert werden müssten. Es liegt nahe, mit einer solchen Betrachtung im Kontext der antiken Philosophie zu starten: Schon Platon (427-347 v. Chr.) machte sich in seiner „Politea“ im vierten Jahrhundert v. Chr. Gedanken über die Beschaffenheit des idealen Staates und konzipiert diesen als Hierarchie der Stände, an deren Spitze Philosophenkönig_innen regieren sollten. 4 Das auch heute noch kontrovers diskutierte und zu den einflussreichsten philosophischen Schriften gehörende Werk ist für eine Suche nach den Wurzeln gesellschaftstheoretischen Denkens aus vielen Gründen interessant (z.B. auch wegen der Vorwegnahme einer an Qualifikationen orientierten ‚Beamtenlaufbahn‘, wie sie später von Max Weber als Kennzeichen des modernen Staats beschrieben wurde). Unmittelbar ins Auge springt jedoch, dass Platon die Idee der gerechten Politik mit dem Ideal der Wahrheit, der „Erkenntnis des wahrhaft Seienden an jeglichem Ding“ (Platon 1998: 226) verknüpft. Die Aufgabe der Philosoph_innen sieht er deshalb darin, „daraufhin die Anschauungen über das Schöne, Gerechte und Gute hienieden gesetzlich zu regeln, wenn es einer solchen Regelung bedarf, und was einmal festgesetzt ist, auch in seinem Bestand zu behüten“ (ebd.). Klammert man die platonische Unterscheidung zwischen irdischer Wirklichkeit und dem ‚Himmel‘ der Ideen ein, so liefert die „Politeia“ also eine theoretische Betrachtung der sozialen Ordnung in ihrer Ganzheit, die als eine Vorstufe von Gesellschafts-Theorie begriffen werden kann. 4 Vgl. zur Diskussion der Frage, ob Platon in „Politeia“ auch Herrscherinnen in Betracht zog bzw. zum Nachweis, dass dies durchaus der Fall ist: Freudiger (1995: 25). <?page no="18"?> 18 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Zweitausend Jahre später, an einem neuen Schauplatz und vor dem Hintergrund tiefgreifender sozialer und politischer Veränderungen, wird Thomas Hobbes (1588-1679) die Wirklichkeit des Lebens seiner Zeit als „böse, brutal und kurz“ („nasty, brutish and short“, Hobbes 1909 [1651]: 99) beschreiben und nach einer eigenen Antwort auf die Frage der richtigen öffentlichen Ordnung suchen. Hobbes‘ „Leviathan“ erscheint 1651 im vom Bürgerkrieg noch gezeichneten England und stellt den Versuch einer rationalen Begründung politischer Gewalt dar. Hobbes entwirft darin, beeinflusst von mechanistischen Denkströmungen in den Naturwissenschaften und der Philosophie seiner Zeit, ein Modell des Staates und der Regierung, das im Wesentlichen ein Kalkül von Kräften ist (vgl. de la Torre 2001: 84ff.), das diese Vorstellung aber auf soziale Zusammenhänge überträgt und in der Konzeption des ‚Gesellschaftsvertrags‘ als kollektiver Übereinkunft mündet: Aus reinem Überlebensinteresse müsse die Vielheit aller sich letztlich der Gewalt des einen absoluten Herrschers unterwerfen, d.h. qua ‚vertraglicher‘ Übereinkunft auf ihren Teil der Freiheit zugunsten allgemeiner Sicherheit verzichten und so zu dauerhaftem Frieden kommen (vgl. Hobbes 1909 [1651]: 105ff.). Hobbes‘ souveräner Herrscher erfährt seine symbolische Darstellung durch die Figur eines Regenten, dem die Beherrschten selbst zum Körper und ihre gebundenen Kräfte zur uneingeschränkten Macht geworden sind. Auch diese Ganzheitsvorstellung weist also erkennbar gesellschaftstheoretische Merkmale auf: Gesellschaft gleicht in Hobbes‘ Konzeption einem Körper, der aus einem Vertrag zwischen seinen Gliedern hervorgeht. Sie ist indessen nicht nur vom Standpunkt moderner Demokratiekonzepte fragwürdig, sondern hat im Hinblick auf ihr soziales Menschenbild auch Schwächen, die seither als „Hobbes-Problem“ (Parsons 1949 [1937]: 102) kanonisiert wurden: Wie weit reicht der Blick des Herrschers (siehe Textbox zu ‚Macht als gesellschaftstheoretische Schlüsselkategorie‘)? Wer hält gesellschaftliche ‚Trittbrettfahrer‘ davon ab, vertragsbrüchig zu werden? Woraus sollte - als eine demgegenüber denkbare Alternative - ‚Solidarität‘ im Sinne eines Zusammenhaltes oder einer Gemeinschaft erwachsen, wenn sie doch nach Hobbes im Hinblick auf den Naturzustand des Menschen als ‚des Menschen Wolf‘ („man to man is an arrant wolf“ - Hobbes 1949 [1642]: 1) im Grunde ausgeschlossen ist? <?page no="19"?> Einleitung 19 B EGRIFF & D EFINITION : Macht als gesellschaftstheoretische Schlüsselkategorie In Hobbes‘ ‚Gesellschaftsvertrag‘ ist die Frage der Macht mit dem Bestandserhalt der sozialen Ordnung im Ganzen unmittelbar verknüpft. Neben der soziologischen Bearbeitung des ‚Hobbes-Problems‘ hat dies auch zur weiteren Auseinandersetzung mit der Kategorie der (politischen) Macht geführt. Versuche einer genaueren Begriffsbestimmung stoßen dabei auf die folgenden grundlegenden Schwierigkeiten: 1) Partikularer vs. unscharfer Machtbegriff: Es ist kaum möglich, Macht anders als von ihren Wirkungen her zu denken (z.B. Hervorbringung oder Begrenzung von Handlungsmöglichkeiten, Ereignissen), und man kann sie auch nicht auf eine klar abgrenzbare Gruppe von Ursachen (z.B. Ressourcen, Dispositionen, Umstände) zurückführen. Macht ist insofern, wie schon Max Weber feststellte, „soziologisch amorph“ (Weber 1972 [1921]: 28). Eine vor diesem Hintergrund minimale Basisdefinition liefert Bertrand Russell (1938: 35), der jede Form der Realisierung von intendierten Handlungsfolgen als Ausdruck von Macht versteht: „Power may be defined as the production of intended effects“ (ebd.). 2) Macht als implizit normative Kategorie: Soziale Machteffekte sind in der Regel mit Verhaltensbeeinflussungen von Handelnden verbunden und können insofern mit deren Absichten und Selbstbestimmungsansprüchen kollidieren. Konstellationen, die als Ausdruck von (asymmetrischen) Machtverhältnissen beschrieben werden, lassen sich daher zugleich unter dem Blickwinkel von Legitimitätskriterien kritisieren (vgl. Strecker 2012: 15). Wegen seiner normativen Bedeutungsgehalte ist der Machtbegriff ein „essentially contested concept“ (Gallie 1955), d.h. wesentlich umkämpft. Auch die Definitionshoheit über Machtbegriffe selbst ist damit durchaus gesellschaftliche Macht (die in der Literatur verhandelte Unterscheidung von ‚Macht‘, ‚Autorität‘, ‚Einfluss‘ etc. klammern wir auch deshalb an dieser Stelle aus). ‚Macht‘ liefert ein Paradebeispiel für die Normativitätsdimension gesellschaftstheoretischer Analysen. 3) Dimensionen von Macht: Anstelle einer allgemeinen Definition lassen sich unterschiedliche Machtdimensionen aus gesellschaftstheoretischen Debatten rekonstruieren. Zentral sind hierbei folgende Aspekte: „Power over“ und „Power to“: Machtbegriffe differieren darin, ob und wie sie Macht über Menschen, Handlungsweisen und soziale Beziehungen mit der Macht, etwas zu bewirken oder hervorzubringen, zueinander ins Verhältnis setzen (zu „Power over“ und „Power to“ vgl. Clegg et al. 2006: 190ff.). Poststrukturalistische Autor_innen wie z.B. Michel Foucault und Judith Butler haben unter diesem Blickwinkel z.B. den Zusammenhang <?page no="20"?> 20 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür zwischen unterdrückender Macht und historischer wie individueller Subjektwerdung beleuchtet, während für an Marx orientierte Analysen die Macht der herrschenden Klasse über das Proletariat eine wesentliche Rolle spielt. Damit verwandt ist die Unterscheidung zwischen repressiver Macht, die Personen (etwa durch Verbot und Strafe) an der Ausübung ihres Willens hindert, und konstitutiver Macht, die den Willen und vor allem das Begehren von Personen hervorbringt oder formt. Struktur und Handlung: Machtanalysen unterscheiden sich auch darin, ob sie auf Potentiale und Intentionen handelnder Akteur_innen fokussieren oder Machteffekte als Ausdruck gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge deuten, die als solche nicht ohne Weiteres auf Intentionen zurückzuführen sind. Der Versuch einer Synthese beider Perspektiven findet sich z.B. in Anthony Giddens‘ Strukturierungstheorie (hierzu sowie zum Verhältnis von „repressiver“ und „konstitutiver“ Macht vgl. Strecker 2012: 55ff.). Macht und Herrschaft: Eine dritte wichtige (und mit dem Struktur- und Handlungsproblem zusammenhängende) Verhältnisbestimmung betrifft die Frage, wann von Macht- und wann von Herrschaftsbeziehungen gesprochen wird. Diese Fragestellung ist, gemessen an der ubiquitären und gleichzeitigen Verwendung beider Begriffe in der Literatur, bislang nur wenig systematisch beantwortet worden. Auch hierzu findet sich allerdings ein klassischer Vorschlag bei Max Weber, der Herrschaft unter dem Blickwinkel des „Gehorsam[s]“ (Weber 1972 [1921]: 28) innerhalb konkreter sozialer Beziehungsgefüge definiert und damit u.a. an die Geltung bestimmter Normen bindet (ebd.: 29f.). Heinrich Popitz (2004 [1986]) betrachtet im Anschluss hieran Herrschaft als zunehmende „Institutionalisierung“ (ebd.: 232) und „Entpersonalisierung“ (ebd.: 233) von Macht. Es lässt sich generell sagen, dass für Herrschaft die Verfestigung von Machtbeziehungen (in unterschiedlichen Graden) bzw. deren Institutionalisierung im ursprünglichen Sinne des Begriffs (‚Einrichtung‘) kennzeichnend ist. Beispiele hierfür sind etwa Machtbeziehungen zwischen Geschlechtern, die in der Institution der bürgerlichen Kleinfamilie zur männlichen Herrschaft verfestigt worden sind (vgl. Kap. 3), oder das rechtlich verankerte Lohnarbeitsverhältnis als Herrschaftsform kapitalistischer Macht (vgl. Kap. 5). Es sind Fragen wie die im Anschluss an Hobbes‘ Vertragsmodell formulierten, die soziologische Gesellschaftstheorien in ihr Zentrum rücken. Zwischen deren Entstehung und ihrer ‚Vorgeschichte‘ ließen sich viele weitere Stationen und Abzweigungen benennen, die zu unterschiedlichen Ideenströmungen und wissenschaftlichen Teildisziplinen geführt haben. In den Entwürfen Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) oder Alexis de Tocquevilles (1805-1859) beispielsweise wird Gesellschaft als eine dem politischen Staat gegenüber weitgehend eigenständige Entität <?page no="21"?> Einleitung 21 spürbar, die sich gleichsam ‚hinter dem Rücken der Akteur_innen‘ entwickelt und verändert, das Leben der Subjekte aber massiv beeinflusst - bei Rousseau in Form eines fortschreitenden Zivilisationsprozesses, der zu einer Veränderung der Art und Weise führt, wie Menschen zueinander in Beziehung treten und Anerkennung suchen, bei Tocqueville in Form einer historischen Tendenz zu immer größerer Gleichheit, welche potentiell die Freiheit gefährdet. Entscheidend ist dabei, dass sich ab ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts ein historischer und epistemologischer (Um-)Bruch vollzieht, der den Beginn eines neuen, sozialwissenschaftlichen Theorieverständnisses markiert. Verschiedene Theoretiker_innen haben diesen Übergang als den eigentlichen Startpunkt der Moderne und ihrer institutionellen Strukturen beschrieben, was schlussendlich dazu führte, dass etwa durch Ferdinand Tönnies die sich nun herausbildenden Formen des Zusammenlebens überhaupt erst mit dem Etikett der ‚Gesellschaft‘ (als der von der älteren Form der ‚Gemeinschaft‘ unterschiedenen Sozialformation, vgl. Tönnies 2010 [1887]) versehen wurden. Kennzeichnend für die damit einhergehende Wende ist jedenfalls, dass die soziale Ordnung nicht nur abermals brüchig wird, sondern dass zudem sowohl der Glaube an einen ‚Ideenhimmel‘ als auch das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit bisheriger politischer Steuerungsmechaniken unter Druck geraten. Klassenkämpfe, Wirtschaftskrisen, die schiere Komplexität und scheinbare Unvorhersehbarkeit des großstädtischen Zusammenlebens, die abnehmende Verbindlichkeit traditioneller Werte und viele Einzelphänomene mehr bilden die Kulisse für den Ruf nach neuem Wissen angesichts scheinbarer sozialer Regellosigkeit. Die Geburtsstunde der Soziologie bricht infolgedessen mit dem Versuch an, eine darauf antwortende Wissenschaft des Sozialen nebst der ihr eigenen Erkenntnisregeln und eigenen ‚Gesetzen‘ zu begründen. Die maximale Ausdehnung des Gegenstandsbereichs für diese Disziplin, die Auguste Comte (1798-1857) zunächst vielsagend noch als ‚Sozialphysik‘ bezeichnete (Comte 1864: 6), wird man fortan Gesellschaft nennen, und diese Disziplin wird sich mit Emile Durkheim (1858-1917) die Regel geben, ‚Soziales durch Soziales‘ zu erklären (Durkheim 1984 [1895]: 193ff.). H INTERGRUND & D EBATTE : Geistig, materiell, sozial? Gesellschaftstheorie und der Stoff, aus dem ihr Gegenstand besteht… Die Begründung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft verbindet sich insbesondere bei Emile Durkheim mit der Auffassung des Sozialen als Wirklichkeit eigener Art (vgl. Rosa et al. 2013: 90) und bedingt gegenüber älteren philosophischen oder politiktheoretischen Theorieströmungen einen entsprechenden ontologischen und erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel. Dabei sind aber auch Spuren älterer Traditionen sichtbar geblieben. Durkheims Begriff des „soziologische[n] Tatbestand[s]“ (Durk- <?page no="22"?> 22 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür heim 1984 [1895]: 105) bzw. der ‚sozialen Tatsache‘ (zur Diskussion beider Übersetzungsvarianten vgl. Rosa et al. 2013: 78) macht das besonders deutlich: Einerseits werden solche ‚Tatsachen‘ als „Glaubensvorstellungen“ (Durkheim 1984 [1895]: 100) und mithin als ‚Geist‘ beschrieben, andererseits werden unter ihnen aber auch „Arten des Handelns“ gefasst, die der „physiologischen Ordnung“ angehörten (ebd.: 112), und an anderer Stelle werden durch den metaphorischen Vergleich mit neuen Eigenschaften metallischer Legierungen („[d]ie Härte der Bronze“, ebd.: 93) emergente, quasimaterialisierte Momente des Sozialen versinnbildlicht. Die damit verbundene Frage, ob alles Bestehende als Ausdruck eines umfassenden Sinns (z.B. ‚Weltgeist‘ bei G. W. F. Hegel) oder als notwendige Folge der kulturellen Auseinandersetzung mit einer objektiv gegebenen, physikalischen bzw. materiellen Wirklichkeit betrachtet werden muss (z.B. Produktionsverhältnisse bei Marx, vgl. Kap. 1 und 5), wird auch im weiteren Verlauf der gesellschaftstheoretischen Ideenentwicklung nicht bereits dadurch entschieden, dass nunmehr die Begrifflichkeit des Sozialen an die Stelle der beiden Gegenpositionen tritt. ‚Sinnverstehende‘ Soziologien in der Tradition Max Webers und materialistische Ansätze in mehr oder weniger deutlicher Anlehnung an Karl Marx, die nebeneinander existieren, verdeutlichen dies ebenso wie die verschiedenen Versuche einer davon ausgehenden, vermittelnden Perspektivierung (etwa in der Kritischen Theorie oder in Pierre Bourdieus Praxistheorie - vgl. zu Bourdieu Kap. 5 in diesem Buch). Generell lässt sich sagen, dass Gesellschaftstheorien in der Lage sein müssen, ‚geistige‘ und ‚materielle‘ Bedingtheiten und Wirkungsbeziehungen ihres Gegenstands zu erfassen und zueinander in Beziehung zu setzen. Die wechselnde Betonung der einen oder anderen Seite hat immer wieder neue paradigmatische Wenden hervorgerufen (Sprachwissenschaftliche Wende bzw. Linguistic Turn, Body Turn und schließlich: New Materialism), die in diesem Sinne Korrekturbewegungen füreinander bilden. Manche hieraus hervorgegangene Unterscheidungen sind verwirrend, da sie - wie z.B. die Gegenüberstellung von sozialer und symbolischer Ordnung - scheinbar auf beiden Seiten mit Sozialem operieren oder - wie z.B. in der Gegenüberstellung von ‚diskursiven‘ und ‚nicht-diskursiven‘ Praxen - eine ihrer Seiten nur negativ bestimmen. Welches Verständnis sozialer Wirklichkeit sich jeweils hinter solchen Differenzierungen verbirgt, wird in den folgenden Kapiteln für einzelne Theoriestränge herausgearbeitet werden. Im Sinne einer heuristischen Unterscheidung, mit der bei der Lektüre des Buches gearbeitet werden kann, wollen wir aber folgende Sachverhalte unter symbolischer, materieller und sozialer Ordnung verstehen: <?page no="23"?> Einleitung 23 Materielle Ordnung: Die Totalität derjenigen Aspekte des Sozialen, die vermittelt über physische bzw. organismische Aspekte menschlichen (Zusammen-)Lebens Handlungsvollzüge in Raum und Zeit bedingen. Symbolische Ordnung: Der Sinnhorizont kultureller Praxen und ihrer Artefakte, durch die Soziales in Gesellschaften in objektivierender Weise dargestellt bzw. repräsentiert wird. Dieser Sachverhalt wird auch durch den Begriff der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen zum Ausdruck gebracht. Soziale Ordnung: Intersubjektive Verbindlichkeiten (als geltende und/ oder faktische Bedingungen), die aus spezifischen Formen und Phänomenen des Materiellen und Symbolischen in deren Wechselwirkung resultieren. Dies schließt auch ein, dass materielle Phänomene (z.B. Körper und ihr Erscheinen) in symbolische Praxen eingelassen sind und Symbolisches sich materialisiert. Hatte sich bei Platon die Frage nach der sozialen Ordnung unter einer Einheitsperspektive des Wahren und des Guten noch als Suche nach den Gesetzmäßigkeiten der kosmischen Ordnung als Ganze gestellt und sich in Hobbes‘ Staatstheorie bereits ein Verhältnis politischer Steuerung zur Gesellschaftswissenschaft herausgebildet, das sich in gewisser Weise als analog zum neutraleren Objektbegriff der Naturwissenschaften verstehen lässt, ist parallel zur Entstehung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft die Vorstellung von Planung oder Steuerung gerade wegen des emergenten Charakters von Gesellschaft erneut in eine Krise geraten. Wir verlassen deshalb unsere kursorische Darstellung einiger zentraler Meilensteine gesellschaftstheoretischen Denkens an dieser Stelle, um auf daraus resultierende Schwierigkeiten einzugehen, die das Verhältnis von Soziologie und Gesellschaftstheorie bis in die Gegenwart hinein bestimmen, denn es treten nun Fragen von Kritik und Normativität in aktualisierter Weise auf den Plan und werden problematisiert. Unter der Überschrift eines sich mit der ‚Objektivität‘ der Naturwissenschaften vergleichenden Disziplinverständnisses können Ansprüche der Bewertung und Beratung von Gesellschaft, die für Platon oder Hobbes noch selbstverständlich waren, nun nicht mehr bruchlos erhoben bzw. vertreten werden. Einen disziplinären Konsens hierüber hat es indessen nie gegeben. Ist in der soziologischen Klassikerphase etwa Max Weber, der im Übrigen den qualitativen Unterschied von Natur- und Sozialwissenschaften unterstreicht (1972 [1921]: 3, 7f.), der Auffassung, dass die Soziologie als Wissenschaft sich aller Werturteile zu enthalten habe (vgl. Weber 1988b [1919]: 603ff.), findet sich bei Emile Durkheim der Zentralbegriff des ‚Pathologischen‘, der dazu dient, Abweichungen vom normalen Funktionieren der Gesellschaft als Fehlentwicklungen zu diagnostizieren (vgl. Durkheim 1984 [1895]: 141). Dabei weist auch Weber selbst explizit darauf hin, dass es die großen Kulturprobleme einer Epoche sind, welche die <?page no="24"?> 24 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Fragestellungen und Begriffe der Soziologie bestimmen - er nennt das eine ‚Wertbeziehung‘ zwischen Soziologie und Gesellschaft, sodass es falsch ist zu behaupten, Weber habe für eine wertfreie Wissenschaft plädiert: Er forderte nur Werturteilsfreiheit, d.h. den Verzicht auf die wissenschaftliche Verbrämung politischer Stellungnahmen, und intellektuelle Redlichkeit, das heißt die vorbehaltlose Anerkennung auch von Tatsachen, welche gegen die eigene Position sprechen. Marxistische Ansätze dagegen vertreten sogar die Auffassung, dass gesellschaftliche Analyse und politische Parteinahme letztlich untrennbar seien. Die soziologische Theorie hat gegenwärtig, nachdem zwischenzeitlich die Praxis der normativen Kritik einen eher sekundären Status fristete, dieses Thema vor dem Hintergrund von neuerlichen sozialen Krisen für sich wiederentdeckt. Die Möglichkeit, wissenschaftlich-objektive Begründungsmaßstäbe für eine Kritik sozialer Verhältnisse zu formulieren, wird dabei aber nach wie vor in kontroverser Weise diskutiert (vgl. Celikates 2009; Jaeggi/ Wesche 2009; Vobruba 2013; Lessenich 2014). Wir wollen im Rahmen dieser Einführung in die Gesellschaftstheorie keine ‚richtige‘ oder bessere Positionierung vorschlagen. Mit Blick auf die Geschichte gesellschaftstheoretischen Denkens lässt sich allerdings die Schlussfolgerung ziehen, dass normative Fragen bzw. gesellschaftliche Problemanzeigen und die Suche nach den Möglichkeiten eines besseren sozialen Lebens stets Hintergrund für theoretische Innovationen gewesen sind - dies gilt selbst noch für sogenannte ‚Systemtheorien‘, wie sie etwa Niklas Luhmann vertritt, deren differenzierungstheoretische und funktionalistische Analysen immerhin als Beitrag zur Aufklärung von Gesellschaft über ihre normativen ‚Unmöglichkeiten‘ konzipiert wurden und damit dem impliziten Wertbezug auf ein realistischeres, enttäuschungsresistenteres gesellschaftliches Selbstverständnis folgen. 5 In diesem Sinne ist der Bedarf an ‚kritischen‘ Analysen sozialer Verhältnisse und Wirkungszusammenhängen ebenso wie an gut begründeten Stellungnahmen zu ethischen Fragestellung gegenwärtig aktuell wie nie - der destruktive Einfluss des Menschen auf die Ökosphäre des Planeten, die Erosion demokratischer Institutionen, ‚Wachstumskrisen‘ ebenso wie Armutskrisen gegenwärtiger Ökonomien, die scheinbare Rückkehr von Religionskriegen und die allgegenwärtige Frage danach, wie wir künftig leben werden, unterstreichen das. Antworten hierauf werden von verschiedenen Disziplinen und ihren Theorieansätzen mit je eigenen Perspektiven gegeben. Einige Fächer - wie etwa die praktische Philosophie, die politische Philosophie und die angewandte Ethik - haben dabei (etwa im Anschluss an John Rawls) durchaus innovative Versuche zur wissenschaftlichen Begründung normativer Urteile entwickelt, während eine sich als wertneutral verstehende empirische Sozialforschung wesentliche Beiträge zum Verständnis sozialer Wirkzusammenhänge leisten kann. Hieraus erwächst die Möglichkeit, Gesellschaftstheorie als ein interdisziplinäres Projekt zu begreifen, das empirische Objektivität 5 Vgl. Luhmann (1970) mit dem programmgebenden Titel „Soziologische Aufklärung“. <?page no="25"?> Einleitung 25 mit der kritischen Beurteilung des Bestehenden vermittelt und sich als intervenierende Wissenschaft versteht. Das Zusammenspiel der einzelnen wissenschaftlichen Teilbereiche im Gesamtzusammenhang Gesellschaftstheorie kann dann als Netzwerk mit sich dynamisch verändernden ‚Zentren‘ und Knotenpunkten betrachtet werden. Gesellschaftskritik in einem weiten Sinne bildet jedoch in jedem Falle ein solches Zentrum der Gesellschaftstheorie. Um eine systematische Darstellung der entsprechend komplexen Debattenlage zu erleichtern, schlagen wir ergänzend zur an früherer Stelle herausgearbeiteten Unterscheidung der beiden Dimensionen Sozialtheorie und Zeitdiagnose drei hierzu querliegende Aspekte gesellschaftstheoretischer Analysen vor. Es handelt sich zum ersten um die Betrachtung derjenigen elementaren Einheiten des Sozialen und der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge, ohne die eine (gegebene) Gesellschaft nicht möglich ist (Synthesis). Gesellschaftstheorie zielt zum zweiten auf die Beschreibung und Erklärung von dominanten Entwicklungs- und Veränderungstendenzen sowie ihren Motoren und Folgewirkungen (Dynamis) und zum dritten schließlich auf die Frage nach Handlungsoptionen und Möglichkeiten der Steuerung oder Einflussnahme, die im Hinblick auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse existieren (Praxis). Diese Dreiteilung wird in den späteren Kapiteln als Heuristik dienen. 6 B EGRIFF & D EFINITION : Drei Aspekte gesellschaftstheoretischer Analyse Synthesis: Die Frage nach der Synthesis einer Gesellschaft bezieht sich auf deren strukturgebende Basiseinheiten und die zwischen ihnen bestehenden reproduktiven Beziehungen. Karl Marx beantwortet sie etwa mit der Organisation der Produktionsverhältnisse, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann mit der Struktur der Kommunikationsverhältnisse. Dynamis: Unter dem Blickwinkel ihrer Dynamis erscheinen Gesellschaften als sich entwickelnde soziale Formationen, deren Wandlungsprozesse von Triebkräften und Prinzipien angetrieben werden, auf deren Rekonstruktion soziologische Theoriebildung zielt. Praxis: Ausgehend von einer Analyse der Synthesis und Dynamis geht es beim Aspekt der Praxis darum, inwiefern Gesellschaft - in ihren Strukturmustern und ihrem Wandel - durch Handeln (etwa durch politische Steuerung) beeinflusst werden kann. 6 Vgl. dazu auch ausführlich Rosa et al. (2013: 16f.). <?page no="26"?> 26 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Ausgehend hiervon lässt sich deutlich machen, wie die unterschiedlichen Disziplinen im Projekt Gesellschaftstheorie einander gegenseitig ergänzen können: So ist die Frage nach der Synthesis von Gesellschaft zwar soziologisches ‚Identifikationsmerkmal‘; 7 sozialpsychologische, ökonomische und politikwissenschaftliche Einsichten tragen jedoch in wesentlichem Maße zu ihrer Beantwortung bei. Die Veränderung von Gesellschaften, ihr ‚Gewordensein‘, wichtige epochenprägende Ereignisse und ihre Folgen werden neben den genannten Fächern maßgeblich auch im Kontext geschichtswissenschaftlicher Betrachtungen thematisiert und von dort aus in die Gesellschaftstheorie ‚zurückgespielt‘. Ganz ähnlich verhält es sich schließlich mit der Praxis, die als gesamtgesellschaftliche mit der politikwissenschaftlichen Frage nach den verschiedenen institutionellen Formen von Steuerung und Lenkung und ihrer Legitimation verbunden ist, damit zugleich aber auch auf das Problem der Kriterien einer guten Gesellschaft, letztlich des ‚guten Lebens‘ überhaupt, und insofern auf Themen der praktischen Philosophie und angewandten Ethik verweist. H INTERGRUND & D EBATTE : Beiträge verschiedener Disziplinen zur Gesellschaftstheorie Theoretische Soziologie …fragt: Was ist Gesellschaft? Wie ist soziale Ordnung möglich? Politische Theorie …fragt: (Wie) kann man Gesellschaft steuern, regieren, lenken, kontrollieren? Wie wurde über Gesellschaft gedacht (Ideengeschichte)? Praktische Philosophie …fragt: Was ist eine gute Gesellschaft? Was ist eine gerechte Ordnung? Wechselseitige Ergänzung in der gesellschaftstheoretischen Zeitdiagnose: Was sind die Kennzeichen/ Merkmale/ Spezifika und Tendenzen/ Pathologien der je gegenwärtigen Gesellschaft/ Epoche? DDynamische Veränderung der Gesellschaft - Gesellschaftstheorie als ‚Work in Progress‘ Die reflexive Beziehung der Gesellschaftstheorie zu ihrem Erklärungsgegenstand, d.h. die wechselseitige Beeinflussung von wissenschaftlicher Erkenntnis und sozialer Praxis, wurde an früherer Stelle bereits angesprochen. Anthony Giddens hat diese als besonderes Merkmal ‚reflexiver Modernisierung‘ herausgearbeitet (Giddens 1995: 26f., 52f.), zugleich aber darauf hingewiesen, dass es sich dabei 7 Vgl. klassisch hierzu etwa Simmel (2016 [1908]) mit der Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich? “. <?page no="27"?> Einleitung 27 um ein Strukturmerkmal der Moderne überhaupt handelt, welches in der Gegenwart erst zur vollen Wirksamkeit gelangt (ebd.: 63ff.). Er meint damit, dass im Laufe des 20. Jahrhundert mehr oder minder alle Institutionen und alle Formen sozialer Praxis sensibel für die Formulierung und Reformulierung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse wurden, sodass sich zwischen der theoretischen Deutung, der politischen Verhandlung und dem praktischen Vollzug ein dynamisches Wechselverhältnis einstellt. 8 Eine auch historisch rekonstruierende Darstellung von Gesellschaftstheorien, ihren Wurzeln, ihren Innovationen und ihren kontinuierlichen Dauerbrennpunkten wird deshalb nicht umhinkommen, phasen- oder epochenspezifische Einteilungen der Entwicklung von Denk- und Ideenströmungen vorzunehmen - und was läge nach dem Vorangegangenen näher, als diese in der Parallelisierung von gesellschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Dynamik zu suchen? Tatsächlich lassen sich drei wesentliche Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung in der Moderne voneinander unterscheiden, die nach unserer Auffassung zugleich jeweils neue gesellschaftstheoretische Leitfragen bzw. innovative Theorieansätze hervorgebracht haben. In der ersten Phase, die als Phase der frühen Moderne oder auch als Moderne der Industrialisierung bezeichnet werden kann, dominieren die an früherer Stelle bereits erwähnten Erfahrungen der Erosion bis dahin gültiger kulturell-normativer Orientierungsmuster und der Neuordnung sozialer Schichten inklusive der daraus hervorgehenden Konflikte, die rasante Entfaltung von Produktivkräften und die umfassende Erschließung natürlicher Gegebenheiten als ökonomische Ressourcen sowie schließlich eine qualitativ neuartige Freisetzung von Individuen aus ihren Herkunftsmilieus und traditionellen Beziehungsmustern. Die gleichzeitige Neuorganisation nahezu aller Lebenszusammenhänge in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht im 19. Jahrhundert haben Gesellschaftstheorien aus dieser Phase zum Anlass genommen, den Verfall des zuvor Bestehenden (z.T. betont kritisch) zu diagnostizieren und zugleich neue Ordnung in der Logik der Veränderung zu suchen. Vorstellungen von Rationalisierung (kultureller Hintergrund), Domestizierung (zunehmende Beherrschung der Natur), Differenzierung (das Auseinandertreten verschiedener Sozialsphären) sowie schließlich Individualisierung (institutionelle Verankerung der Idee eigenverantwortlich-autonomen Handelns) als Gesetzmäßigkeiten des sozialen Wandels prägen zumindest die soziologischen Theorieentwürfe dieser Zeit, die ihren Höhepunkt von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt. 9 8 Vgl. dazu auch das Konzept der ‚Morphogenesis‘, der dynamischen Neugestaltung von Strukturen, von Margaret S. Archer (1995: 157ff.) - ältere Gesellschaften, so Archer, seien dagegen in höherem Maße ‚morphostatisch‘ gewesen (309ff.). 9 Zu den genannten Dimensionen vgl. van der Loo/ van Reijen (1997) sowie Rosa et al. (2013: 21ff.), zu den folgenden Charakterisierungen der Modernisierungsphasen vgl. ebd. <?page no="28"?> 28 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür In der hieran anschließenden Phase der entwickelten Moderne beobachten Gesellschaftstheoretiker die Etablierung und zunehmend stabilere Verankerung des neuen Institutionensystems, die gleichzeitig mit der Verfestigung organisatorischer Strukturen und Prozesse, mit der zunehmenden Verrechtlichung öffentlicher Räume und der Ausweitung nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten sowie schließlich immensen ökonomischen Wachstumsschüben einhergeht. Hatte zuvor die ubiquitäre Unsicherheit sozialer Verhältnisse das Bild geprägt, treten nun Planbarkeit und allgegenwärtige Kontrollvorstellungen (inklusive der Kontrolle der eigenen Biographie) an diese Stelle. Dieser Zeitraum, der sich bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts erstreckt, ist zu seinem Beginn jedoch - in hierzu scheinbar widersprüchlicher Weise - die historische Phase zweier Weltkriege, totalitärer politischer Regime und im Nationalsozialismus der staatlich geplanten, millionenfachen Ermordung von Menschen gewesen. Maßgeblich die Theoretiker der Frankfurter Schule und hier insbesondere Adorno und Horkheimer haben herausgearbeitet, dass zwischen der Beherrschung der äußeren Natur, der ‚instrumentellen Vernunft‘ und ihrer ökonomischen Verwertungslogik auf der einen Seite und der Selbstverdinglichung des Menschen bis hin zu totalitären, faschistischen Strukturen auf der anderen eine nicht nur historische Verbindung besteht. Von dieser Warte aus betrachtet wird die ‚entwickelte Moderne‘ als ein von der eigenen „Barbarei“ (Horkheimer/ Adorno 2008 [1944]: 1) dauerhaft bedrohtes Zeitalter und die „vollendete Aufklärung“ als der Beginn „triumphalen Unheils“ markiert (ebd.: 9). Abweichend hiervon haben andere Theoretiker zumindest die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Konsolidierung bürgerlicher Freiheiten, des sozialstaatlichen Ausgleichs und der durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse erreichten Leistungssteigerungen (z.B. Niklas Luhmann) als Ergebnis einer Fortschrittsgeschichte beschrieben. Francis Fukuyama sah mit dem Niedergang der realsozialistischen Systeme in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts sogar das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) gekommen und die ‚Überlegenheit‘ des modernen institutionellen Systems westlicher Prägung unter Beweis gestellt. Dennoch kann man festhalten, dass die Theorien der entwickelten Moderne stets von einer mehr oder weniger starken Ambivalenz gekennzeichnet waren und die in der Dialektik von gesellschaftlicher ‚Kontrolle‘ liegende Bedrohung individueller Freiheiten jeweils mit zu reflektieren hatten. In der Spätmoderne vollzieht sich nun abermals ein Bruch, der in mancherlei Hinsicht an die ‚Gründungsphase‘ soziologischer Gesellschaftstheorie erinnert und nicht von ungefähr auch mit der Wiederentdeckung von beinahe vergessenen Klassikern wie Georg Simmel oder Auguste Comte einhergegangen ist. Zu verzeichnen ist in erster Linie eine ‚Rückkehr‘ alter Unsicherheiten, eine Wiederverflüssigung moderner Basisinstitutionen (vgl. dazu Zapf 1994) und eine abermalige umfassende Reorganisation von gesellschaftlichen Zusammenhängen, die diesmal auf globaler Ebene erfolgt, durch dramatische Komplexitätssteigerungen, <?page no="29"?> Einleitung 29 Tempozunahmen sowie daraus resultierende Unsicherheiten gekennzeichnet ist und nicht zuletzt auch neue Zwänge induziert. Während nationalstaatliche Politiken sowohl an Steuerungsspielräumen als auch an Legitimation verlieren, ist ‚nach innen‘ hin die reaktive Zuspitzung von Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zu beobachten. Gleichzeitig werden überkommene ‚Generations‘- und ‚Gesellschaftsverträge‘ aufgekündigt und in sozialstaatlicher Hinsicht neue Eigenverantwortlichkeiten eingefordert (vgl. Lessenich 2009). Die Flexibilisierung traditioneller sozialer Grenzziehungen - etwa zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, Arbeitszeit und Freizeit - und die Pluralisierung von Lebensstilen sind gleichermaßen zu beobachten, wie das Erstarken eines normativen Fundamentalismus, der in verschiedenen Gestalten in Erscheinung tritt. Einmal mehr erscheint es, als ob soziale Wirklichkeit chaotisch variiert und bestenfalls noch ‚Regeln‘ für den Augenblick beschrieben werden können. Zygmunt Bauman (1925-2017) hat diese Beobachtung mit dem Titel seines Buchs „Liquid Modernity“ überaus anschaulich auf den Punkt gebracht und ausgehend hiervon die These eines neuen Epochenbruchs hin zur Postmoderne vertreten (vgl. Bauman 2000). Theoretiker wie Anthony Giddens (*1938) oder Ulrich Beck (1944-2015) erkennen hierin allerdings die Zuspitzung des eigentlich Modernen, dessen fortwährende Selbstwidersprüchlichkeit und Selbstkorrektur eine unabdingbare Folge bzw. Nebenwirkung (vgl. Beck 1996a) der zunehmenden raumzeitlichen Ausdehnung (vgl. Giddens 1995: 28ff.) immer komplexerer sozialer Wirkungsketten sei. Anschließend hieran möchten wir in diesem Buch einen weiteren Vorschlag zur Charakterisierung der gegenwärtigen spätmodernen ‚Phase‘ machen, indem wir sie durch das Krisenhaftwerden der Grundprinzipien dynamischer Stabilisierung gekennzeichnet sehen. (vgl. hierzu Rosa et al. 2017 sowie Rosa 2016: 671ff.). Gesellschaften lassen sich unter diesem Blickwinkel als modern kennzeichnen, wenn und insofern sie sich nur dynamisch, das heißt: durch Steigerung, zu stabilisieren vermögen, wenn sie also stetig wachsen, beschleunigen und innovieren müssen, um sich in ihren Grundstrukturen (Ökonomie, Wohlfahrtsstaat, Wissenschafts- und Bildungssystem, Demokratie, private Reproduktionssphäre usw.) zu erhalten (vgl. Rosa et al. 2017: 54f.). Während Veränderungen vormoderner Gesellschaften und z.T. auch noch solcher des frühen modernen Typs als Anpassungen an eine sich verändernde Umwelt (vornehmlich natürlicher Art) beschrieben werden konnten, ist der aktuell beobachtbare ‚Peak Dynamic‘ (d.h. die sich abzeichnende Funktionskrise dieses Stabilisierungsprinzips) Ausdruck inhärent verursachter Selbstirritationen, die einer fortwährenden Zuspitzung in Modernisierungsprozessen unterliegen. 10 Zentrale Bezugsprobleme von Gesellschaftstheorie lassen sich von hier aus sowohl als fortschreitende 10 Hier schließt die These dynamischer Stabilisierung an Theorien reflexiver Modernisierung an, vgl. dazu Beck/ Rosa (2014). <?page no="30"?> 30 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Entwicklungen über alle drei Phasen hinweg als auch unter Berücksichtigung qualitativer Brüche und Diskontinuitäten zwischen ihnen nachvollziehen. PProblemfelder und Fokuspunkte gesellschaftstheoretischen Denkens - zum Aufbau des Buchs Gesellschaft, so sahen wir, ist der abstrakte, große Zusammenhang des sozialen Lebens. Man kann über sie aber nicht einfach abstrakt nachdenken, sondern muss sich ihr über konkrete Phänomenbereiche nähern. Das gesellschaftstheoretische Denken entwickelt sich daher immer an spezifischen Sachverhalten, die aus irgendeinem Grunde problematisch oder fragwürdig werden. Gesellschaftstheoretiker_innen von Max Weber über John Dewey bis zu Michael Walzer haben deshalb immer wieder betont, dass es die Wahrnehmung einer Krise oder einer krisenhaften Erscheinung ist, welche den Abstraktionsprozess der Theoriebildung auslöst, wobei die auslösenden Probleme in aller Regel Probleme der Praxis sind. Theorie entsteht, wenn die Praxis zur Reflexion zwingt, und reagiert bzw. interagiert mit der Praxis. „Man kann gehen, ohne die Anatomie seiner Beine zu kennen. Nur wenn etwas nicht in Ordnung ist, kommt diese für das Gehen praktisch in Betracht“, schreibt etwa Max Weber (1964 [1913]: 139, Herv. i. O.). Weber weist zugleich darauf hin, dass sich der sozialwissenschaftliche Begriffsapparat deshalb an den zentralen ‚Kulturproblemen‘ einer Gesellschaft, an ihren Widersprüchen und Reibungspunkten, schärfe und entfalte. Solche ‚Kulturprobleme‘ identifizieren wir in diesem Buch als Bezugsprobleme der Gesellschaftstheorie. Greift man die zuvor skizzierten Prämissen gesellschaftstheoretischen Denkens wieder auf, lassen sich Kriterien benennen, denen ‚zentrale‘ Bezugsprobleme genügen müssen, um diese Etikettierung zu verdienen. Ein Blick in die Ideengeschichte zeigt (1) vor allem, dass einige Topoi die lange Reihe gesellschaftstheoretischer Entwürfe von ihrer Entstehungsphase bis in aktuelle Debatten hinein begleitet haben - die Frage der legitimen politischen Ordnung oder der gerechten Verteilung von sozialen Gütern sind Beispiele hierfür. Man kann vermuten, dass es sich dabei um Dauerthemen handelt, welche die gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne selbst als ‚rote Fäden‘ durchziehen und an deren Dynamiken sich auch das Voranschreiten theoretischer Aufklärung messen muss. Sich allein auf dieses Indiz zu stützen würde allerdings bedeuten, etablierte akademische Denktraditionen ungeprüft mit der Wirklichkeit von Praxis gleichzusetzen und letztere dabei gewissermaßen zu bevormunden. Es scheint daher folgerichtig, dieses Kriterium um ein weiteres zu ergänzen: (2) Wir setzen zunächst voraus, dass normative Fragen - nach dem richtigen Leben, der richtigen Verteilung von Gütern und Ressourcen oder auch der richtigen ‚Weltsicht‘ - in der sozialen Praxis selbst aufgeworfen und in kollektiver Weise artikuliert werden müssen, um ‚gesellschaftlich‘ im Sinne des dargelegten Zusammenhangs zwischen sozialen Deutungen und sozialer Wirklichkeit zu sein. Hieraus folgt dann, dass eine Theorie entsprechende <?page no="31"?> Einleitung 31 Bewegungen beobachtet und sie als Indikatoren für die Zentralität ihrer daraus abgeleiteten wissenschaftlichen Fragen heranziehen kann. So verweisen etwa soziale Protestbewegungen und intensivierte ‚öffentliche Diskussionen‘ auf Spannungen in der Beziehung zwischen unterschiedlichen Facetten gesellschaftlichen Sinns (z.B. zwischen realen Praktiken und normativen Leitbildern) oder zwischen den in die Praktiken und Institutionen eingelassen Konzeptionen des Guten, etwa zwischen Wohlstandsvorstellungen und Gleichheitsansprüchen, die das Potential zu Krisenbildung haben und deshalb gesellschaftstheoretische Analysen auf den Plan rufen (vgl. Rosa 2004: 700ff.). Die einzelnen Kapitel dieses Buchs wollen daher durchaus auch hinsichtlich ihrer Aktualität gelesen werden - wir gehen davon aus, dass die in ihnen dargestellten Fokuspunkte unter dem Blickwinkel der zuvor erörterten, sich kritisch zuspitzenden ‚Dynamisierungsimperative‘ gegenwärtig eine besondere Brisanz gewonnen haben. Das letzte Kriterium (3) leitet sich vor diesem Hintergrund aus dem Anspruch ab, Gesellschaft in ihrer Totalität zu erfassen und zeigen zu können, dass die hier verhandelten Phänomenbereiche als Aspekte gesamtgesellschaftlicher Wirklichkeit miteinander in einer Beziehung der inhärenten Wechselwirkung stehen. Diesen Anspruch einzulösen, wird dem Schlusskapitel vorbehalten bleiben, dennoch ergibt sich aus der Sicht der Autor_innen aus der Kombination der genannten drei Anforderungen die folgende ‚Liste‘ zentraler Bezugsprobleme, deren ideengeschichtlicher Rekonstruktion und zeitdiagnostischer Aktualisierung jeweils ein Kapitel gewidmet wird: Gemäß einer bereits von Karl Marx formulierten Erkenntnis ist Vergesellschaftung ein Prozess, der sich aus der Notwendigkeit der Naturbearbeitung durch den Menschen und den damit einhergehenden Erfordernissen der Arbeitsteilung verstehen lässt (vgl. Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 192ff.). Gesellschaft lässt sich mithin aus der Perspektive ihrer Naturverhältnisse und deren dynamischer Veränderung beschreiben, und die Zunahme ökologischer Protestbewegungen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts - ebenso wie die Debatte zu gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels - unterstreichen dann, dass es sich hierbei um ein zentrales gesellschaftspolitisches und deshalb auch gesellschaftstheoretisches Bezugsproblem handelt. Wir widmen uns ihm im Kapitel 1 des Buches. Macht man sich im Anschluss hieran klar, dass es die grundsätzliche Umweltoffenheit des Menschen ist, die von ‚Natur‘ her die Gesellschaft mit Notwendigkeit erzeugt, 11 dann erscheint die ‚Natur des Menschen‘ ihrerseits als wandelbar und einer fortschreitenden Veränderung unterworfen. Die Frage, was ein Subjekt ist - prominent etwa durch Michel Foucault (1987) gestellt - und durch welche historischen Subjektivierungsformen gesellschaftliche Beziehungen zwischen 11 Dies lässt sich gleichfalls mit Marx, aber auch mit den Theorien der philosophischen Anthropologie behaupten. <?page no="32"?> 32 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Menschen qualitativ bestimmt werden, wird aus diesem Grund in Kapitel 2 behandelt. Aktuelle soziale Kämpfe um die Anerkennung von Subjektidentitäten und die Pluralisierung diesbezüglicher Normalitätsnormen unterstreichen, dass sie zu einer für moderne Gesellschaften zunehmend zentralen Frage geworden ist. Insbesondere zwei wesentliche Strukturelemente von Subjektivierung sollen aufbauend hierauf in den Kapiteln 3 und 4 erörtert werden. Dabei geht es zum einen darum, dass die moderne gesellschaftliche Ordnung durch die von ihr erzeugten Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbilder scharf differenziert und die ‚Normalität‘ von Existenzweisen entlang einer üblicherweise zweigeschlechtlich konstruierten Matrix (vgl. Butler 1991: 38f.) bestimmt wird. Dieses Thema wurde bis vor wenigen Jahrzehnten im Mainstream der Gesellschaftstheorie eher mit Nachlässigkeit behandelt, obwohl es insbesondere unter dem Blickwinkel der Reproduktionsarbeit auf vielfältige Weise mit den beiden vorangegangenen und auch den folgenden Themen verbunden ist. Wie die Diskussion in Kapitel 3 deutlich machen wird, zeigt sich hier die gleichsam ko-evolutionäre Verknüpfung von Theoriebildung und sozialen Kämpfen bzw. Bewegungen besonders deutlich. Parallel zur Frage nach den Geschlechterverhältnissen und den mit ihnen verbundenen Statuszuschreibungen für differente Subjektpositionen, hat insbesondere die Intersektionalitätsforschung (vgl. Degele/ Winker 2007) der jüngeren Vergangenheit blinde Flecken der Theorien ‚weißer Männer‘ sichtbar gemacht und der Kategorie der Ethnizität zur Anerkennung als ein wesentlicher Gegenstand zeitdiagnostischer und sozialtheoretischer Analysen verholfen. Hier zeigt sich, dass die Frage, welches die relevanten Bezugsprobleme der Gesellschaft sind und wo sich Krisensymptome zeigen, auch eine politische Frage ist, deren Beantwortung nicht unwesentlich vom Status, den Ressourcen und den Machtpositionen der Reflektierenden abhängt, weil diese die theoretische Wahrnehmung und Sensibilität lenken. Angesichts der faktischen Wirksamkeit von auf Ethnizität bezogenen Zuschreibungen und der auf ihnen basierenden Herrschaftsstrukturen, die vom offenen Rassismus über subtile institutionelle und kulturelle Benachteiligungen bis zur verdeckten ökonomischen Ausbeutung ethnisch differenzierter Menschengruppen reicht, wird eine Einführung in die Gesellschaftstheorie als kritische Wissenschaft auf ein diesbezügliches Kapitel nicht verzichten können. Erst wenn man also die Klassenanalysen traditioneller Gesellschaftstheorie mit einer Perspektive auf Geschlecht und Ethnizität verbindet, lässt sich vollständig verstehen, inwiefern und auf welche Weise soziale Ungleichheit ein wesentliches Charakteristikum gegenwärtiger Gesellschaften bildet, das nicht nur Konflikte und Krisen induziert, sondern zugleich auch strukturreproduktive Funktionen erfüllt. Vor diesem Hintergrund nimmt Kapitel 5 eine Rekonstruktion und Aktualisierung von Theorien der sozialen Ungleichheit und ihrer kritischen Implikationen vor. Die Wiederkehr der ‚sozialen Fragen‘ zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestätigt hierbei, dass es sich keineswegs nur um vorübergehende, mit <?page no="33"?> Einleitung 33 sozialstaatlichen Kompromissen, kapitalistischen Produktivitätszuwächsen und ‚stillen Revolutionen‘ (Inglehart 1977) überwindbar zu machende Anpassungsschwierigkeiten handelt, sondern dass - eine Auffassung, in der viele Beobachter_innen übereinstimmen - mittelfristig wieder neue und zum Teil dramatische soziale Konfliktlagen und Widersprüche erwartet werden müssen. Indem damit auch die Frage nach der richtigen bzw. gerechten politischen Ordnung wieder virulent wird, konvergieren die zuvor skizzierten Problemlagen und Denklinien im Fluchtpunkt der Demokratie. Sie ist - ob man nun von postdemokratischen Verhältnissen (Crouch 2004), simulierter Demokratie (Blühdorn 2013) oder neuen demokratischen Herausforderungen sprechen möchte - gleichzeitig mit der Transformation wachstumsbasierter ökonomischer Systeme auf eine neue, mit dem Stichwort des ‚Populismus‘ nur unzureichend beschriebene Weise krisenanfällig geworden, angesichts der die Ambivalenzen staatlicher Souveränität und kollektiver gesellschaftspolitischer Gestaltung, die schon die entwickelte Moderne gekennzeichnet hatten, zur vollen Ausprägung gelangen. Mit einer Darstellung der daran anschließenden Theorieprobleme beendet Kapitel 6 den Durchgang durch die verschiedenen Gesellschaftstheorien. Alle Kapitel des Buchs sind so aufgebaut, dass theoretische Ansätze, die von den jeweiligen Bezugsproblemen ihren Ausgang nehmen und sich mit diesen Problemen beschäftigen, für die frühe, entwickelte und späte Moderne dargestellt und im Hinblick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten miteinander verglichen werden. Bei der Auswahl wurde bewusst darauf geachtet, auch solche Autorinnen und Autoren zu Wort kommen zu lassen, die üblicherweise in vergleichbaren Lehrbüchern nicht zu finden sind, für ihre Zeit aber originell und/ oder für die dargestellten Sachverhalte einschlägig sind. Dort, wo über die Rekonstruktion der einzelnen Debatten hinausgehende kategoriale Grundlagen oder Kontextbezüge für ein vertieftes Verständnis wichtig sind, werden (wie im Vorangegangen bereits geschehen) in Form von Textboxen weiterführende Informationen gegeben. Das betrifft zum einen die Definition zentraler Begriffe und begrifflicher Unterscheidungen, die neben ihrer Relevanz für die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Kapitel zugleich auch Verbindungen zu anderen hier behandelten Bezugsproblemen herstellen bzw. grundlegende theoretische Sachverhalte berühren. Zum anderen werden dort, wo es für das Anliegen des Buches sinnvoll erschien, die historischen und/ oder politischen Hintergründe einzelner Debatten oder die Herausbildung wesentlicher paradigmatischer Gegensätze zwischen Denkströmungen und Autor_innen abgebildet. Schließlich werden einzelne theoretische Sachverhalte und Fragestellungen zusätzlich zu den im Text gegebenen Beispielen in Textboxen anhand von ‚typischen‘ empirischen Fällen verdeutlicht, die entweder in der Literatur immer wieder behandelt werden oder in der Alltagspraxis eine besondere Bedeutung erlangt haben. Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln sollen dabei eine synergetische Arbeit mit dem Buch ermöglichen. <?page no="34"?> 34 Hartmut Rosa, Jörg Oberthür Im letzten, resümierenden Teil des Buches sollen a) auf dieser Grundlage typische Varianten gesellschaftstheoretischer Analyse zusammenfassend dargestellt werden und b) Herausforderungen beschrieben werden, die sich für die gegenwärtige Gesellschaftstheorie stellen. Wir greifen dabei auch den Gedanken der dynamischen Stabilisierungsordnung wieder auf und versuchen, einen Ausblick auf mögliche Zukunftsperspektiven der Gesellschaftstheorie zu geben. <?page no="35"?> 11 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft S TEPHAN L ORENZ Seit etwa einem halben Jahrhundert werden ökologische Probleme in globalen Dimensionen diskutiert, und ihre internationale Verhandlung gehört längst zum politischen Tagesgeschehen. Arten- und Biodiversitätsverluste sowie Klimawandel sind die bekanntesten Themen, die in einer Vielzahl von Phänomenen in Erscheinung treten, etwa in Waldrodungen, Überfischung, Wüstenausbreitung, Gletscherschmelze, Hitzewellen, steigendem Meeresspiegel oder Habitatverschiebungen. Die Krise besteht nicht nur darin, dass bestimmte Umweltveränderungen menschliche Anpassungen erfordern. Vielmehr sind es offensichtlich die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen selbst, die ihre biophysischen Grundlagen gefährden und die ökologische Krise hervorrufen. Deshalb kann sich Gesellschaftstheorie nicht allein mit Gesellschaft als unabhängigem, in sich geschlossenem Gegenstand befassen, sondern muss ökologische Bedingungen von Gesellschaften mitreflektieren. Wie dies geschieht, darin unterscheiden sich Gesellschaftstheorien deutlich. Für Niklas Luhmann ist Gesellschaft als ein emergentes soziales System zu betrachten, das auf der Basis von Kommunikationen operiert und deshalb von nichtsozialen Systemen sowie von nicht-systemischen Umwelten deutlich zu unterscheiden ist. Er behauptet aber nicht, dass die natürliche Umwelt für die Gesellschaft irrelevant wäre. „In der ökologischen Fragestellung wird die Einheit der Differenz von System und Umwelt zum Thema, nicht aber die Einheit eines umfassenden Systems“, schreibt Luhmann (1986: 21). Dass Gesellschaften von natürlichen Umwelten abhängen, die sie nicht gefährden dürfen, um sich nicht selbst zu gefährden, ist deshalb für seine Systemtheorie evident. Bruno Latour (1998a) sieht allerdings gerade in einer solchen klaren Unterscheidung zwischen ‚Gesellschaft‘ und ‚natürlicher Umwelt‘ das zentrale Problem, aus dem die ökologische Krise moderner Gesellschaftsentwicklung erwächst. Zu dieser Unterscheidung gehört nicht zuletzt die etablierte Trennung wissenschaftlicher Disziplinen, der zufolge sich die Soziologie mit der Gesellschaft beschäftigt, während sie Analysen der Natur den Naturwissenschaften überlässt. Latour spricht stattdessen von Kollektiven oder Assoziationen, an denen jeweils verschiedenste Akteure - Menschen, Dinge, Lebewesen - beteiligt sind. 12 Aufgabe einer „Politischen Ökologie“ 12 Da in diesem Kapitel der Akteur-Begriff zumeist im Zusammenhang mit der Akteur- Netzwerk-Theorie verwendet wird, wird in diesem Fall ausnahmsweise auf eine gendergerechte Schreibweise verzichtet. <?page no="36"?> 36 Stephan Lorenz (Latour 2001) sei es, diese Vernetzungen anzuerkennen und über Aushandlungsprozesse, an denen menschliche und nicht-menschliche Entitäten gleichermaßen partizipieren, ihr Zusammenleben zu verbessern. „Ökologie ist nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern das Nachdenken, der logos, darüber, wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann“ (Latour 2008: 10). Unter Ökologie in einem gesellschaftstheoretischen Sinne soll hier verstanden werden, dass Gesellschaften, indem sie biophysische Gegebenheiten nutzen, deuten und mitgestalten, immer ein Naturverhältnis ausbilden. Nutzungsweisen und Bedeutungen von Natur können dabei historisch und kulturell sehr unterschiedlich sein. Natur als etwas den Menschen Äußeres, Objektivierbares, von menschlicher Gesellschaft zu Unterscheidendes ist dabei eine sehr moderne Vorstellung und Handlungsperspektive. Das heißt wiederum nicht, dass nicht-moderne Gesellschaften immer in Harmonie mit ihrer Natur lebten. Ganz im Gegenteil kennt die Umweltgeschichte zahlreiche Beispiele aus allen Epochen dafür, dass natürliche Existenzgrundlagen menschlichen Lebens beziehungsweise bestimmter sozio-kultureller Lebensweisen zerstört wurden (Radkau 2000). Umgekehrt gibt es Beispiele dafür, dass Nutzungen von Natur über sehr lange historische Zeiträume - in diesem Sinne also nachhaltig - reproduziert wurden. Wobei ‚Nutzungen von Natur‘ hier heißen muss, dass Arrangements zwischen natürlichen Gegebenheiten und menschlichen Gestaltungen etabliert werden konnten, die das gesellschaftliche Leben stützen (keineswegs determinieren), ohne ihrerseits durch Übernutzung gefährdet zu werden. Mit Blick auf mitteleuropäische Kulturlandschaften lässt sich für bestimmte historische Phasen sogar behaupten, dass menschliche Nutzungen die ökologischen Zusammenhänge verbessern können - jedenfalls wenn man ‚Verbesserung‘ an der heute geschätzten Biodiversität bemisst. Denn Rodungen von Wäldern und das Schaffen offener Flächen - durch Holznutzung, Siedlungen, Feldbau und Viehzucht - öffneten vielen Arten Lebensräume, die sie in zuvor geschlossenen Waldflächen nicht vorfanden (vgl. Ellenberg/ Leuschner 2010). Während sich ökologische Probleme in der Menschheitsgeschichte immer räumlich begrenzt auswirkten, wird seit den 1960/ 70er Jahren eine globale ökologische Krise wahrgenommen. Die Naturnutzungen haben seit dieser Zeit Dimensionen erreicht, die ökologisch weltweit relevant werden - chemisch synthetisierte Stoffe lassen sich noch in den entferntesten polaren Regionen nachweisen, Plastikreste zirkulieren in den Ozeanen und Weltraumschrott umkreist den Planeten. Im oben bestimmten Sinne bezeichnet die ökologische Krise kein Umweltproblem, sondern Probleme im Gesellschaft-Natur-Verhältnis. Auch wenn zweifellos Naturzusammenhänge ge- oder sogar zerstört werden, so doch sicher nicht ‚die Natur‘, während gesellschaftliche Reproduktionen durchaus potenziell auf dem Spiel stehen. Welche Erkenntnisse kann nun die Gesellschaftstheorie zum Verständnis der ökologischen Krise, also offensichtlich gestörter Gesellschaft-Natur-Verhältnisse, <?page no="37"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 37 beitragen? Inwiefern führt die Verfasstheit moderner Gesellschaften, ihre Synthesis und Dynamis, in ökologische Gefährdungen? Und lassen sich theoretische Möglichkeiten gesellschaftlicher Praxis aufzeigen, die das Gesellschaft-Natur- Verhältnis ökologisch tragfähiger, verträglicher oder gar versöhnlich gestalten können? In den folgenden Abschnitten wird dargelegt, wie sich aus gesellschaftstheoretischer Sicht die ökologischen Verhältnisse in den Phasen der industriellen, der entwickelten und der globalisierten Moderne darstellen. Auch wenn die frühe Moderne noch keine globale ökologische Krise kennt, so spielt doch das Natur-Gesellschaft-Verhältnis auch in dieser Zeit eine Rolle. Mit der Industrialisierung werden zudem wichtige Weichenstellungen getroffen, immer umfassender in Natur einzugreifen und sie im Sinne menschlicher Nutzungen zu manipulieren. Wissenschaftlich-technische Fortschritte sind die treibende Kraft solcher Manipulationen, die verstärkt werden vor allem durch ökonomische Verwertungen sowie staatliche und militärische Kontroll- und Machtinteressen. Die soziologische Gesellschaftstheorie entsteht in dieser Zeit in Abgrenzung von metaphysischen Weltdeutungen einerseits und bereits etablierten Naturwissenschaften andererseits. Sie reklamiert damit die Gesellschaft als eigenen Gegenstand. Was es heißt, die ökologische Krise aus einer so fokussierten Perspektive heraus zu analysieren, zeigen besonders die beiden für den Abschnitt zur entwickelten Moderne ausgewählten sozialkonstruktivistischen Theorien von Mary Douglas und Klaus Eder. Seitdem wurden verschiedene gesellschaftstheoretische Perspektiven entworfen, die die Deutung der ökologischen Krise nicht allein den Naturwissenschaften überlassen, sie aber auch nicht, wie bei Douglas und Eder, auf soziale Konstruktionen beschränken wollen. Für die späte Moderne wird deshalb die Theorie Bruno Latours vorgestellt. Sie steht für eine der Theorien, die die strikte Trennung von Natur und Gesellschaft sowie die disziplinäre Arbeitsteilung von Natur- und Sozialwissenschaften angesichts der ökologischen Krise in Frage stellen. 11.1 Frühe Moderne: Neuzeitliche Naturdeutungen und Industrialisierung Die Wurzeln der ökologischen Krise werden historisch zum Teil schon in antiken oder christlichen Naturvorstellungen gesucht. In der Neuzeit setzt sich schließlich eine objektivierende Sicht auf Natur durch, die Natur als äußeres Gegenüber der menschlichen Gesellschaften auffasst. Die cartesische Trennung von Geist und Körper legt die philosophischen Grundlagen der dualistischen Sicht auf die Welt, wie sie für moderne Gesellschaften prägend wird. Subjekt und Objekt, Gesellschaft und Natur erscheinen nun als strikt zu unterscheidende Reiche. Auf dieser Basis operiert die in der Neuzeit aufkommende experimentelle Naturwissenschaft. Sie will die Geheimnisse der Natur nicht nur besser verstehen, sondern sie <?page no="38"?> 38 Stephan Lorenz manipuliert Natur, um sie unter die Verfügung menschlicher Zwecke zu stellen (Gloy 1996). Damit ist der Boden für die technologischen Umwälzungen der Industrialisierung bereitet, die die frühe Phase moderner Gesellschaftsentwicklung prägen. Die aufkommende Nutzung von Dampfkraft, Elektrizität und Chemie sowie die Entwicklung von Produktionsmaschinen und neuen Transport- und Massenkommunikationsmitteln revolutionieren tatsächlich das gesellschaftliche Leben. Aus einer Agrargesellschaft wird die Industriegesellschaft, mit ganz neuen Produktionsweisen in Fabriken, mit expandierenden technischen Infrastrukturen wie auch mit veränderten Lebensformen. Letztere resultieren sowohl aus den neuen Arbeitsformen als auch aus Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, zudem aus aufkommenden Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten, die die räumliche Reichweite modernen Lebens ausweiten und die kommenden Globalisierungsprozesse vorzeichnen. Und damit wird auch die globale ökologische Krise eingeleitet, die freilich erst viel später in Erscheinung tritt. Doch auch wenn im 19. Jahrhundert verbreitet gesellschaftlicher Fortschrittsoptimismus herrscht, sind problematische Folgen der Entwicklung nicht zu übersehen und bieten Anlass zur Kritik. Das Aufziehen der Industriegesellschaft bedeutet zugleich Verlust und neue Problemlagen. In sozialer Hinsicht werden etablierte Lebensweisen entwertet, etwa handwerkliche und bäuerliche, während die neue proletarische und städtische Lebensweise für viele nicht Fortschritt oder Aufstieg, sondern Verarmung bedeutet. Zugleich kamen Kritiken an einer ‚Entfremdung‘ von Natur auf, die zur Suche nach ‚naturgemäßen‘ Lebensweisen motivierten, so in Vegetarismus-, Gesundheits- und Heimatvereinen bis zur Reformbewegung um 1900. ‚Naturgemäß‘ zu leben bedeutete in dieser Zeit weniger, ‚die Natur‘ zu retten, als vielmehr soziale Probleme zu lösen: Die Orientierung an der ‚natürlichen Ordnung‘ bot einen Ausweg aus der aus den Fugen geratenen gesellschaftlichen Ordnung (vgl. Barlösius 1997; Groß 2001). Die moderne Trennung von Natur und Gesellschaft, wie sie sich seit der Neuzeit durchsetzte, erweist sich hier nicht als eindeutige Grundlage instrumenteller Ausbeutung von Natur für materielle Wohlstandsgewinne. Vielmehr liefert dieser Dualismus zugleich moralische wie auch ästhetische Motive. Moralisch zeigt die ‚gute‘ Natur alternative Wege aus der ‚schlechten‘ Gesellschaft auf. Ein frühes Beispiel für Ästhetisierungen der Natur ist die Entdeckung der Landschaft beziehungsweise des landschaftlichen Sehens der Natur und das damit einhergehende Aufkommen der Landschaftsmalerei als ein Phänomen der Neuzeit. So gibt es von Beginn an neben dem dominierenden instrumentellen Naturzugang immer auch alternative Ideen. Diese Mehrdeutigkeit ‚der Natur‘ wird vor allem im Abschnitt zur entwickelten Moderne noch deutlicher werden. Zunächst wird es darum gehen, gesellschaftstheoretische Aspekte frühmoderner Naturverhältnisse zu beleuchten. Hier ist zu unterscheiden zwischen einer langen Phase im 19. Jahrhundert, in der die Fortschritte der Naturwissenschaften als <?page no="39"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 39 Vorbild für gesellschaftstheoretische Ideen dienen, und der Zeit um 1900, in der sich die Soziologie als Wissenschaftsdisziplin herausbildet, aber in der Folge Naturthemen weitgehend vernachlässigt. 11.1.1 Natur in Naturwissenschaft und frühen Gesellschaftsanalysen Um die gesellschaftstheoretischen Deutungen des Natur-Gesellschaft-Verhältnisses zu verstehen, ist es nötig, das Wissenschaftsverständnis der frühen soziologischen Entwürfe zu berücksichtigen. Das 19. Jahrhundert ist geprägt durch einen starken Auftrieb der empirischen Naturwissenschaften, die das vorherrschende Verständnis von Wissenschaftlichkeit bestimmen - in gewisser Weise bis heute. So verwundert es nicht, dass sich frühe soziologische Autoren, namentlich Auguste Comte (1798-1857) und Herbert Spencer (1820-1903), an Physik und Biologie als Maßstab auch der Gesellschaftsanalyse orientieren beziehungsweise diese als ‚soziale Physik‘ (Comte) begreifen. Gesellschaft wird als Ergebnis des natürlichen Evolutionsprozesses verstanden, auch wenn sie sich als komplexer erweist als bisherige Naturphänomene, sodass die Soziologie auch bei diesen Autoren mehr als nur ein Teilbereich der Biologie ist. Was als progressiver Erkenntniszugang antritt, nämlich Gesellschaft quasi-naturwissenschaftlich und deshalb unvoreingenommen und objektiv zu analysieren, ist freilich mit der Übernahme des seit der Neuzeit etablierten modernen Naturverständnisses der Naturwissenschaften verbunden. Natur ist demnach grundsätzlich als objektivierbarer Gegenstand zu verstehen, und so wird auch Gesellschaft ‚naturalisiert‘. Für die einen folgt daraus, dass die Gesellschaft analog zu Natur als weitgehend berechenbar und beherrschbar betrachtet werden kann, sodass weitreichende gesellschaftliche Gestaltungsanleitungen formuliert werden können (Comte 1907, 1911). Andere schlussfolgern dagegen, dass Gesellschaft sich in einem komplexen, naturgesetzhaften Evolutionsprozess entwickelt, der durch menschliche Steuerungsversuche nur gestört werden kann (Spencer 1874). Da Gesellschaft als fortentwickelte Natur betrachtet wird, ist der Naturbezug für diese beiden Perspektiven noch von elementarer Bedeutung für die Gesellschaftsanalyse. Für Karl Marx (1818-1883) wird Natur bedeutsam über die theoretische Schlüsselkategorie Arbeit, die den Gesellschaft-Natur-Stoffwechsel vermittelt. Natur und Gesellschaft erscheinen ihm deshalb in dialektischen Wechselwirkungen. Durch Arbeit gestalten Menschen ihre materiellen Lebenswelten wie auch ihre menschliche Natur. Arbeit ist das, was Menschen mit der Natur verbindet - als physische Wesen in einer physischen Welt - und sie zugleich von ihr trennt - als spezifisch menschliche Aktivität. Die Marx’sche Analyse teilt dabei den Optimismus des 19. Jahrhunderts, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt, das heißt die Entwicklung der Produktivkräfte, die Gesellschaft progressiv befördern würde (vgl. Rosa et al. 2013). Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint <?page no="40"?> 40 Stephan Lorenz insgesamt als ein fortschrittlicher historischer Prozess, hin zu mehr Freiheit, Wohlstand und einem friedvolleren Zusammenleben. Natur bietet dafür die materielle Basis und liefert die Ressourcen. Unwidersprochen bleiben solche Nutzungsperspektiven auf Natur auch im frühen 19. Jahrhundert nicht. Insbesondere die Romantik beschreibt Natur häufig in Form gefühlsintensiver Gegenwelten zur rationalen Gesellschaft, oft als Sehnsuchtshort. In den USA findet der Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862) in der Natur einen Rückzugsort, um über das gesellschaftliche Leben nachzudenken. Für zwei Jahre lebt er als Selbstversorger in einer selbsterbauten Hütte an einem Waldsee (Thoreau 1854). Er beobachtet Pflanzen und Tiere, Wälder und Gewässer und entdeckt dabei vieles, was er als vorbildhaft für das gesellschaftliche Leben der Menschen deutet. Die moderne Gesellschaft erscheint ihm schon zu diesem frühen Zeitpunkt auf einem falschen Pfad, auf dem das Trachten vor allem auf technologische Fortschritte und ökonomische Prosperität gerichtet sei. All ihre Geschäftigkeit und ihr Streben halte die Menschen aber davon ab, sich den wichtigeren Fragen kultureller Entwicklung zuzuwenden. So dient Thoreau seine spartanische Zeit am See dazu, Abstand vom gesellschaftlichen Treiben zu gewinnen. Das erlaubt es ihm zu prüfen, was ihm an zivilisatorischen Annehmlichkeiten überflüssig erscheint und worum es in einer humanen Gesellschaft stattdessen gehen sollte. 11.1.2 Etablierung der Soziologie und Verlust der Natur Um die Wende zum 20. Jahrhundert etabliert sich die Soziologie als eigenständige akademische Disziplin. Im Gegensatz zu den genannten frühen Gesellschaftsanalysen geht es nun viel stärker darum, sich von anderen Disziplinen und namentlich den Naturwissenschaften abzugrenzen. Dies gelingt insbesondere dadurch, dass der eigene Gegenstand der soziologischen Analyse genauer herausgearbeitet wird: die Gesellschaft beziehungsweise Sozialität. Für Emile Durkheim (1858-1917), der sich freilich in seinem Wissenschaftsverständnis noch an den Maßgaben der Naturwissenschaften orientiert, sind es ‚soziale Tatsachen‘, die den originären Gegenstand der Soziologie bilden. Sie sind Gegenstände eigenen Rechts jenseits des individuellen Bewusstseins. Den Individuen treten sie als unabhängige kollektive Tatbestände entgegen (vgl. Rosa et al. 2013). So wird die Ehe zwar von Individuen eingegangen, aber als Institution nicht durch sie begründet. Vielmehr ist es die Ehe, die sozial gegeben ist und den Individuen nahelegt, zu heiraten. Allerdings müssen Individuen nicht unbedingt heiraten, und wie die Ehe gestaltet ist, variiert kulturell in hohem Maße. Denn soziale Tatsachen sind keineswegs Naturgegebenheiten und bedürfen deshalb spezifischer wissenschaftlicher Zugänge. Mehr noch betont Max Weber (1864-1920) die Eigenständigkeit sozialwissenschaftlicher Forschung, die sich für ihn vor allem mit der Analyse sozialen Handelns verbindet (vgl. ebd.). Erklärungen können, laut Weber, nicht auf Gesetzesaussagen im Stile <?page no="41"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 41 der Naturforschung zurückgreifen. Um soziales Handeln erklären zu können, muss der Sinn des Handelns verstanden werden. Warum Menschen heiraten oder nicht lässt sich nur ermessen, wenn man den Sinn erschließt, den sie der Ehe geben. Sinnverstehen ist also eine spezifisch sozialwissenschaftliche Operation. Die Herausbildung der Soziologie als eigenständiges Fach hat zweifellos wichtige Einsichten befördert und der Gesellschaftstheorie neue Grundlagen verschafft. Für die Auseinandersetzung mit Natur brachte dies aber Probleme mit sich, denn dafür waren nun primär andere Disziplinen zuständig. Sofern Aspekte von Natur weiter zum Thema werden, erscheint sie entweder als Ressourcenlieferantin, oder es wird ihre sozial differenzierte Wahrnehmung untersucht (was später als Sozialkonstruktivismus bezeichnet wird; vgl. Kap. 1.2). Damit ist für diese Zeit freilich erst einmal nur eine Weichenstellung auf lange Sicht bezeichnet, kein eindeutiger, abrupter Bruch. So lassen sich für die Gründergeneration des Faches durchaus Bezüge ihres Gesellschaftsverständnisses zur natürlichen Umwelt rekonstruieren, wie auch in den folgenden Jahrzehnten jenseits des soziologischen Mainstream Ansätze zu finden sind, die ökologische und soziologische Analysen zu verknüpfen suchen (vgl. Groß 2001). Eine gewisse Bedeutung kommt hier den humanökologischen Ansätzen im amerikanischen Pragmatismus zu, besonders in der bekannten Chicago School, mit Robert E. Park (1864-1944) als prominentem Vertreter. Hier ist es die städtische Umwelt, die im Zentrum des Forschungsinteresses steht. Die Stadt bildet eine materielle Umwelt für menschliche Lebensformen, die wesentlich eine von Menschen in Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt gestaltete ist - und die ihrerseits als Umwelt auf die Menschen rückwirkt. Andere Vertreter des Pragmatismus, wie etwa George Herbert Mead (vgl. Görg 1999: 77ff.) oder John Dewey, können bis heute Anknüpfungspunkte für gesellschaftstheoretische Perspektiven auf Natur-Gesellschaft-Verhältnisse liefern. Beispielsweise stützt sich der im Abschnitt zur späten Moderne vorgestellte Bruno Latour auf die pragmatistische Theorietradition. Insbesondere in der Nachkriegszeit fokussiert die Soziologie die Gesellschaft als ihren Gegenstand und verliert das Naturthema weitgehend aus dem Blick. Dies ändert sich mit der aufkommenden ökologischen Krise. 11.2 Entwickelte Moderne: Zur Konstruktion der ökologischen Krise Die entwickelte Moderne macht die Erfahrung einer ökologischen Krise. Mitten in der historisch beispiellosen und die gesellschaftlichen Schichten übergreifenden Wohlstandsentwicklung der Nachkriegszeit (Stichwort: Massenkonsum), in der ökonomische, technologische, aber auch sozialstaatliche Fortschritte unaufhaltsam voranzuschreiten scheinen - freilich im Schatten des Kalten Krieges und <?page no="42"?> 42 Stephan Lorenz atomaren Wettrüstens -, zeichnen sich unerwartete Grenzen ab. Der global rezipierte, von Naturwissenschaftler_innen und Ökonom_innen verfasste Report „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972) trägt diese Erkenntnis im Titel und vermittelt ein beunruhigendes Stimmungsbild. Gesellschaftstheoretisch werden diese Entwicklungen mit einer gewissen Verzögerung registriert, das heißt seit den 1980er Jahren. Die prominentesten Entwürfe in der deutschsprachigen Soziologie lieferten Niklas Luhmann (1986), der damit ökologische Fragen in seine Systemtheorie integrierte, und Ulrich Beck (1986), für den die ökologische Krise Anlass war, mit seinem Buch „Risikogesellschaft“ eine theoretische Neufassung moderner Gesellschaftsentwicklung als „Reflexive Modernisierung“ zu reklamieren. International vieldiskutiert waren Beiträge der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas. Zusammen mit anderen Autoren begründete sie die Cultural Theory (Douglas/ Wildavsky 1982; Thompson et al. 1990), die hier vorgestellt werden soll. Wie Luhmann sucht diese Theorieperspektive ökologische Problemdeutungen in sozialen Strukturen zu verankern; wie bei Beck dominiert dabei der Fokus auf ökologische Risiko-Fragen. Der besondere Beitrag der Theorie liegt darin, auf sehr unterschiedliche Naturdeutungen in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, die mit jeweils eigenen Risikovorstellungen einhergehen. Im Anschluss daran wird der kultursoziologische Zugang Klaus Eders (1988) vorgestellt. Auch er misst der kulturellen Deutung von Natur für das Verständnis der ökologischen Krise eine große Bedeutung zu. Er kritisiert aber zugleich sowohl die strukturalistische Perspektive als auch den engen Fokus auf Risiken, der selbst ein Ausdruck des instrumentellen modernen Naturzugangs sei. Douglas ebenso wie Eder stehen exemplarisch für sozialkonstruktivistische Ansätze. Sie gehen davon aus, dass sich die ökologische Krise nicht (allein) mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben oder gar berechnen lasse. Stattdessen sehen sie die originäre sozialwissenschaftliche Aufgabe darin, auf die Perspektiven- und Deutungsabhängigkeit der Krisendiagnosen hinzuweisen. Was also die ökologische Krise ausmache, sei davon abhängig, welchen soziokulturellen Vorstellungen von Natur die Akteure folgen. B EGRIFF & D EFINITION : Realismus, Konstruktivismus und ‚dritte Wege‘ Theoretische Perspektiven auf Natur folgen unterschiedlichen Paradigmen. Realistische (oder naturalistische) Ansätze gehen von einer realen Naturgefährdung aus, die naturwissenschaftlich objektiv diagnostiziert wird. Den Sozialwissenschaften kommt hier die Aufgabe zu, zu untersuchen, wie die Gesellschaft mit diesen Erkenntnissen über Natur umgeht. Sozialkonstruktivistische (oder soziozentrische) Ansätze machen dagegen geltend, dass ‚die <?page no="43"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 43 Natur‘ und ökologische Probleme nicht objektiv im Sinne von deutungsunabhängig erkannt werden können. Auch die Naturwissenschaften sind Teil der Gesellschaft, folgen also sozialen Regeln, von denen ihre Einsichten abhängen. Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es aus dieser Sicht, die soziale Bedingtheit bestimmter Natur- und Krisendiagnosen aufzuklären. Während der ‚realistische‘ Zugang die öffentlichen und politischen Debatten dominiert, aber soziologisch naiv erscheint, erzeugt ein ‚reiner‘ Sozialkonstruktivismus den Eindruck, ökologische Probleme würden als gesellschaftliche Gefährdungen nicht ernst genug genommen. So wurden auch ‚dritte Wege‘ (auch Relationismen genannt) entwickelt, die versuchen, Natur und Gesellschaft in ihrem Zusammenwirken zu analysieren. Sie berücksichtigen zwar verschiedene Perspektiven auf Natur, ohne diese aber für ‚nur konstruiert‘ zu erachten. Ökologische Gefährdungen werden anerkannt, aber auch die gesellschaftlichen Grenzen ihrer Erkenntnis reflektiert. 11.2.1 Mary Douglas und die Cultural Theory der Natur- und Risikomythen Die Sozialanthropologin Mary Douglas (1921-2007) erforschte, wie soziale Institutionen die Art und Weise prägen, wie Menschen denken. Sie steht damit in einer strukturalistischen Theorietradition der Soziologie, insbesondere der Emile Durkheims. Douglas wendet sich gegen Theorien, die Menschen als rational entscheidende Akteure betrachten, die individuellen Nutzenkalkülen folgen. Vielmehr seien es kollektive Wahrnehmungs- und Denkmuster, die die Urteile von Individuen anleiten. Dies gilt auch für ökologische Risikodeutungen. Die strukturalistische Annahme ist, dass solche kollektiven Deutungen in formalen sozialen Strukturen verankert sind, auf die sie funktional abgestimmt sind. B EGRIFF & D EFINITION : Cultura l Theory Der Begriff Cultural Theory wird von deren Vertreter_innen als ein stilistisches Kürzel verwendet, denn die Bezeichnung „sociocultural viability theory“ wäre etwas sperrig (Thompson et al. 1990). Es gehe aber keineswegs allein um eine Theorie kultureller Deutungen, sondern um funktionale Zusammenhänge zwischen sozialen Strukturen und kulturellen Orientierungen. <?page no="44"?> 44 Stephan Lorenz Die Cultural Theory postuliert im Kern eine Vierer-Typologie an ways of life (Thompson et al. 1990). Diese Lebensweise-Typen ließen sich in allen Gesellschaften, traditionalen wie modernen, finden. Was in unterschiedlichen Gesellschaften variiert, sind demnach lediglich die Verteilung und Häufigkeit dieser Typen. Kennzeichnend ist, dass jeder Lebensweise bestimmte Strukturen der Gruppenbildung zugrunde liegen, denen je spezifische kulturelle Überzeugungen und Vorstellungen zugeordnet werden können. Deshalb entsprechen den vier Typen auch jeweils typische Natur- und Risikovorstellungen, die im Folgenden vorgestellt werden. Ausgangspunkt der Theorie ist die Annahme, dass sich formale Gruppenstrukturen nach zwei Dimensionen, nämlich grid und group, unterscheiden lassen. Eine Dimension beschreibt die Gruppenzugehörigkeit (group) von Individuen, die entweder stark oder schwach ausgeprägt sein kann. Die andere Dimension bestimmt die Verhaltensreglementierung (grid) innerhalb der Gruppen, die ebenfalls stark oder schwach ausgeprägt sein kann. Kombiniert man nun diese Dimensionen, ergeben sich die vier Typen. group grid + - + Hierarchie: regulierte Naturnutzung Fatalismus: schicksalhafte Natur - Egalitarismus: prekäres Naturgleichgewicht Individualismus: unbegrenzter Naturzugriff TTab. 1: Grid-Group-Typologie (eigene Darstellung nach Douglas und Thompson et al.) Wenn die Gruppenzugehörigkeit der Individuen ebenso wie die Reglementierung ihres Verhaltens stark ausgeprägt sind (group +/ grid +), spricht die Theorie von einer Hierarchie-Struktur. Behörden bieten ein Beispiel für diese Art von Zusammenhalt. Jedes Individuum ist als Mitglied einer Behörde einer genau bestimmten Position zugeordnet und hat dementsprechende Aufgaben auf vorgeschriebene Weise, das heißt „nach Vorschrift“ zu erfüllen. Rollenwechsel oder Verstöße sind reglementiert beziehungsweise werden sanktioniert. Dem entsprechen auch Naturvorstellungen, die nach einem regulierten Naturzugang verlangen. Aus Sicht des Hierarchie-Typus ist Naturnutzung beherrschbar, solange bestimmte Grenzen eingehalten werden, deren Überschreitung Risiken mit sich bringt. Natur kann also genutzt werden, um gesellschaftliche Wohlstandsgewinne zu erreichen. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Zugriffe auf Natur genau reguliert sind und diese Regulierungen auch eingehalten, kontrolliert und sanktioniert werden, um ökologische Gefährdungen zu vermeiden. Den Gegensatz dazu bildet der Typus des Individualismus, für den Unternehmer_innen als Beispiel dienen können. Auf Märkten treffen einzelne Individuen <?page no="45"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 45 aufeinander, die ihre Verhaltensregeln (ihre Ein- und Verkäufe) frei untereinander aushandeln können. Sie müssen dabei weder eine Gruppe vertreten noch müssen sie vorab genau definierten Verhaltensmustern folgen (group -/ grid -). Für die Individualismus-Perspektive erweist sich Natur als äußerst belastbar, als ein unerschöpfliches Füllhorn, das der Nutzung für menschliche Zwecke problemlos offensteht. Die kulturelle Gewissheit ist, dass menschliches Handeln frei gestaltbar ist und ihm keine prinzipiellen Grenzen gesetzt sind, auch nicht im Naturzugang. Nutzungsgrenzen ergeben sich nur aus den (noch) begrenzten Fähigkeiten der Menschen beim Zugriff auf Natur. Noch einmal anders stellen sich die Gruppenverhältnisse beispielsweise innerhalb sozialer Bewegungen dar. Einerseits gibt es hier meist eine stark empfundene Gemeinschaftszugehörigkeit. Andererseits fehlen genau definierte Rollenzuweisungen und damit verbundene Verhaltensvorschriften (group +/ grid -), wie sie in etablierten Organisationen (Bürokratien) anzutreffen sind. Auch wenn es oft charismatische Führungspersonen gibt, so sind sie dies doch nur informell, also nicht als formale Amtsträger_innen. In der Cultural Theory entsprechen solche Gruppen dem Typus des Egalitarismus. Für die Gruppenmitglieder ist vor allem wichtig, ob sie der Gruppe angehören oder nicht. Zugleich ist aber diese Zugehörigkeit, weil unreguliert, oft ungewiss und prekär. Auch die Natur erscheint dem Egalitarismus- Typ als äußerst empfindliche und stark gefährdete. Sie ist durch menschliche Eingriffe leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. So bedarf es eines gemeinsamen verantwortlichen Umgangs mit ihr. Durch pädagogische Bemühungen und zwanglose Kooperation, das heißt wenn sich alle einig sind, können die Menschen einem schonenden Umgang mit Natur gerecht werden. Allerdings werden sie durch äußere Zwänge und ungeeignete Institutionen leicht zu schädigendem Verhalten verleitet. Wo es Menschen an Gruppenzugehörigkeit mangelt, sie zugleich aber äußeren Handlungszwängen unterworfen sind (group -/ grid +), greift der Typus des Fatalismus. Wer sich als Tagelöhner_in verdingen muss, also von Tag zu Tag immer erneut auf Jobangebote angewiesen ist, ohne auf organisierte Unterstützung zurückgreifen zu können (z.B. auf Gewerkschaften) oder selbst über Gestaltungsfreiheiten zu verfügen (wie Unternehmer_innen), fällt unter diese Strukturbedingungen. So tritt auch die Natur dem Fatalismus-Typus völlig unvorhersehbar und unbeeinflussbar, vielmehr schicksalhaft entgegen. Zwar bietet Natur durchaus ein Füllhorn, aber es bleibt stetig ungewiss, ob dieses über den Menschen zu deren Wohle ausgeschüttet wird oder nicht. Dies liegt nicht in der Hand der Individuen. Damit beansprucht diese Theorie, die grundlegenden gesellschaftlichen Gruppenstrukturen und mit ihnen deren kulturelle Naturvorstellungen erfasst zu haben. Diese kulturellen Vorstellungen von Natur differieren je nach Zuordnung zu einem der genannten vier Typen deutlich, sodass sich jeweils ein anderes Bild der ökologischen Gefährdungen ergibt. Die Cultural Theory macht so darauf aufmerk- <?page no="46"?> 46 Stephan Lorenz sam, dass eine ökologische Krise nicht einfach ein Naturereignis ist, das sich naturwissenschaftlich exakt bestimmen ließe. Denn was als Krise betrachtet wird, hängt von Deutungen ab, die in dieser Theorieperspektive nichts mit Naturzuständen außerhalb der Gesellschaft zu tun haben, sondern die sozusagen im kulturellen Auge der Betrachtenden liegen. Da solche kulturellen Deutungen rational kaum zugänglich sind, spricht die Cultural Theory auch von „Naturmythen“. Wenn ökologischen Problemen gesellschaftlich eine gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt, verweist das zunächst einmal auf einen sozio-kulturellen Wandel, auf eine Verschiebung in den sozialen Strukturen und damit verbundenen Naturdeutungen. Wenn egalitäre Strukturen und Überzeugungen zunehmen, steigt auch die Empfindlichkeit in der Wahrnehmung ökologischer Risiken. Eine solche sozialkonstruktivistische Theorie macht es im Grunde unmöglich, überhaupt eine ökologische Krise zu bestimmen, die etwas mit Gefährdungen von ‚äußerer‘ Natur zu tun haben könnte. Empirisch wurde diese Typologie zu Natur- und Risikovorstellungen beispielsweise in der Repräsentativbefragung „Umweltbewusstsein 2000“ (Kuckartz 2000) in Deutschland getestet, die Selbsteinschätzungen zu den typischen Naturvorstellungen erfragte. Vier Prozent der Befragten sahen die Natur als strapazierfähige (Individualismus), 23 Prozent als empfindliche Natur (Egalitarismus), 53 Prozent nahmen die Natur als in Grenzen tolerante (Hierarchie) und 20 Prozent als unkalkulierbare Natur wahr (Fatalismus). Diese Sichtweisen auf Natur erwiesen sich wiederum als in hohem Maße korreliert mit verschiedenen Risikoeinschätzungen (z.B. zur Gen- und Atomtechnologie). Dieser Zusammenhang ist nicht überraschend. Denn das Naturverständnis, das die Cultural Theory ihren Überlegungen zugrunde legt, ist von vornherein auf Risiken fokussiert. Zwar richtet sich die Theorie mit ihrem Verweis auf kollektive Denkmuster gegen Ansätze, die das Handeln der Akteure auf individuell rationale Nutzenkalküle reduzieren. Natur kommt allerdings für die Cultural Theory selbst nur dahingehend in den Blick, inwiefern sie als belastbar oder gefährdet wahrgenommen wird, das heißt inwieweit die Natur ungefährdet zu nutzen ist. Weitergehende ästhetische oder ethische Aspekte spielen hingegen keine Rolle. Das ist aber überhaupt nicht selbstverständlich. Bei Konflikten beispielsweise darum, was Tieren als Haltungsbedingungen zugemutet wird, geht es nicht um die Frage, ob es sich dabei um risikoreiche Nutzungen im Sinne der Lebensmittelsicherheit handelt. Auch werden einige ‚ungesunde‘ Lebensmittel gern genossen, während nicht alles, was unter Sicherheitsaspekten unbedenklich erscheint, deshalb den Geschmack trifft. In ästhetischer Hinsicht lässt sich zudem an Konflikte denken, in denen etwa eine Zerstörung des Landschafts-‚Bildes‘ gegen Windkrafträder geltend gemacht wird. Kritisiert wurde auch eine allzu enge Bindung individueller Überzeugungen an bestimmte sozialstrukturelle Kontexte (Keller/ Poferl 1998), wie es die Fokussierung auf vier Typen nahelegt. In modernen Gesellschaften sind plurale soziale Zugehörigkeiten viel eher erwartbar, sodass auch die kulturellen Überzeugungen <?page no="47"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 47 kaum eindeutig im Sinne der Typen ausfallen können. Die im Folgenden vorgestellte Theorieperspektive geht in beiden hier problematisierten Hinsichten - also einem auf Risiken reduzierten Naturbegriff und dem strikten Strukturalismus der Cultural Theory - andere Wege. 11.2.2 Klaus Eders kommunikationstheoretisches Ambivalenz dell des modernen Naturzugangs Die Theorie von Klaus Eder (*1946) zur „Vergesellschaftung der Natur“ (Eder 1988; 1998a; 1998b) bleibt dem sozialkonstruktivistischen Paradigma verpflichtet, verschiebt aber die Perspektive auf Natur. Er nimmt zwar nur zwei Typen moderner Naturverständnisse an. Insofern Eder dem „utilitarischen“, nutzenorientierten Naturzugang ein „symbolisches“ Naturverständnis gegenüberstellt, weist sein Konzept aber dennoch über die Perspektive der Cultural Theory hinaus. Deren Blick auf Natur allein unter Risikogesichtspunkten impliziere eine Beibehaltung des instrumentellen Naturdiskurses moderner Gesellschaften. Wer sich möglichen Umweltrisiken zuwendet, betrachtet Natur immer noch primär im Hinblick auf ihre Nutzungsmöglichkeit, auch wenn potenzielle Grenzen dieser Nutzung eingesehen und berücksichtigt werden. Was dabei nicht berücksichtigt wird, sind aber Verletzung und Leid von Natur als nicht-menschlichem, außer-gesellschaftlichem ‚Anderen‘. Was also als ökologischer Diskurs seit den 1960er Jahren in die Öffentlichkeit tritt, ist deshalb nicht per se gleichbedeutend mit einem anderen Naturverständnis. Vielmehr reproduziert sich auch im Ökodiskurs das die moderne Gesellschaftsentwicklung dominierende instrumentelle Naturverständnis. Eder verwendet dafür den Begriff der „ökologischen Vernunft“, während er die alternative Sicht als „ökologische Moral“ bezeichnet. Erstere reduziert Natur auf ihre Nutzungsmöglichkeiten und Risiken, Letztere steht für ein symbolisches Naturverständnis. Was ist mit einem symbolischen Naturverständnis gemeint? Eder entwickelt dies, ganz ähnlich wie Mary Douglas, im Rückgriff auf kulturanthropologische und religionssoziologische Studien, vor allem zu Esstabus. Esstabus sind in allen Kulturen und Religionen zu finden. Alle Menschen müssen essen und alle Kulturen finden Regeln dafür, was und wie gegessen werden darf beziehungsweise was tabuisiert wird. Essen markiert einen elementaren Natur-Kultur-Übergang. Auch Eder geht davon aus, dass das Denken von Natur bestimmten Strukturen folgt. Kognitiven Strukturen fehle aber eine motivierende Kraft, die erst zu individuellem Handeln führt. Hinzutreten müssen deshalb kollektive moralische Überzeugungen, die Anleitungen und Motive bereithalten, was eine gute Ordnung ausmacht. Esstabus stehen deshalb nicht nur für eine sozial ordnende Denkstruktur, sondern begründen zugleich eine moralische Ordnung. So sind vegetarische Lebensweisen historisch oft verbunden mit gegenkulturellem Protest gegen <?page no="48"?> 48 Stephan Lorenz Herrschaftsformen, die wiederum ihre Symbolik in Jagd, Schlachten und Fleischverzehr finden. „[D]ieses kollektive moralische Empfinden enthält darüber hinaus eine tiefere Bedeutung. Es repräsentiert zugleich ein symbolisches Verhältnis zur Natur. Es legt fest, wie wir uns zu der uns umgebenden und zur eigenen Natur verhalten. In Eßtabus werden die symbolischen Grundlagen sozialer Ordnung, die unbewußten Grundlagen der Moral verkörpert“ (Eder 1988: 103). Im instrumentellen Naturverständnis bleibt Natur auf ein Objekt reduziert, ohne eigenen Sinn oder Rechte. Im alternativen symbolischen Verständnis ist Natur verknüpft mit Bedeutungen davon, was als gut und schön gilt, was als lust- oder leidvoll erfahren wird, was Angst oder Hoffnung macht und deshalb auch zum Handeln motiviert. Da Eder diese Naturverständnisse vor allem anhand der Naturaneignung durch Praktiken des Essens untersucht, benennt er die gegensätzlichen Typen der Vergesellschaftung der Natur als carnivore und vegetarische Kultur. Die dominante Kultur der Moderne ist für Eder die carnivore. Tatsächlich verfügt auch sie über eigene Symboliken, die sie aber unter Rationalisierungen verdeckt. Fleisch und Blut stehen symbolisch für das Töten und die Ausübung von Herrschaft über Leben und Tod, wie Eder am griechischen Opfermahl demonstriert. Die carnivore Kultur trachtet danach, Natur zu beherrschen, und begründet gesellschaftliche Ordnung in Objektivierungen und Differenzierungen, die durch Macht und Unterdrückung aufrechterhalten werden. Wo Ästhetisierungen Zwecken der Distinktion dienen (vgl. Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“), gehören sie ebenfalls zur carnivoren Kultur. Es ist diese Kultur, die das Erfolgsmodell moderner Staatenbildung und Expansion, technologischen Fortschritts und ökonomischer Prosperität begründet - und ihre Schattenseiten in der Vernichtung ‚Anderslebender‘ und der Naturzerstörung hat. Die vegetarische Kultur ist laut Eder keineswegs eine antimoderne, sondern eine antibürgerliche und antiindustrielle, aber unterdrückte gegen- oder alternativmoderne Kultur. Symboliken, wie die der Körner und Keimlinge, stehen für ein lebendiges Miteinander, eine Versöhnung von Mensch und Natur, für den Verzicht auf soziale Differenzen und Herrschaft. Verständigung und Konsens sind die Formen moralischer und kommunikativer Sozialität. Auch hier gibt es kulturhistorische Vorläufer, vor allem im jüdischen Tötungsverbot, in Paradiesvorstellungen und frühen vegetarischen Bewegungen. Entscheidend ist zudem, dass die vegetarische Kultur das Naturverhältnis, einschließlich der menschlichen Natur und Körperlichkeit, selbst zu einem zentralen Thema moralisch-symbolischer Kommunikation macht, während dies von der carnivoren Kultur unterdrückt wird. Der moderne Umgang mit Natur wird dadurch komplexer, dass sich beide Kulturen als alternative Optionen gegenüberstehen, zugleich aber auch wechselseitig beeinflussen. So ist der moderne Naturzugang durchzogen von Ambivalenzen. Die moderne Entdeckung der Natur als Landschaft kann in kontemplativer <?page no="49"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 49 Ästhetik ebenso zum Ausdruck kommen wie in ruinösen Naturzerstörungen durch Massentourismus - und in der Urlaubsreise kann beides nah beieinander liegen. Auch schließt der freundliche Umgang mit dem Haustier nicht aus, sich von den Fließbandprodukten industrieller Massentierhaltung zu ernähren. Selbst die Umweltbewegungen der 1980er Jahre bieten für Eder kein eindeutiges Bild. Als Grüne Partei oder strategisch operierende Bürgerinitiativen reproduzieren sie vielfach Operationsweisen der dominanten Kultur, während sich nur kleinere Teile gegenkulturell bewegen, etwa im Bereich der Naturkost. Denkt man an den heute verbreiteten Vegetarismus, wird man auch darin viele Aspekte der distinktiven modernen Dominanzkultur finden. Machtpolitische Durchsetzung ökologischer Ziele, ihre rechtliche Regulierung, grüne Technologien und grünes Wachstum repräsentieren ebenfalls die Dominanzkultur. AMBIVALENTE MODERNE AAbb. 1: Klaus Eders Ambivalenzmodell (eigene Darstellung nach Eder) Nach Eders Überzeugung ist ein anderer Naturzugang, der aus der ökologischen Krise herausführen könnte, nicht allein durch im modernen Sinne ‚rationale‘ Mittel zu erzielen. Diese rationalistische Moderne verweigert sich geradezu einem moralisch-symbolischen Naturzugang. Entscheidend wäre deshalb, die symbolisch-kommunikative Vergesellschaftung von Natur öffentlich über ökologische Diskurse zu erstreiten. Diese Diskurse müssten die kulturellen Überzeugungen der Naturbeherrschung und ihre symbolische Ordnung reflexiv in Frage stellen und daraus moralisch lernen können. B EGRIFF & D EFINITION : Der kommunikationstheoretische Ansatz Naturvorstellungen müssen nach dem kommunikationstheoretischen Ansatz kommunikativ, vor allem narrativ-symbolisch, über öffentliche Diskurse ausgehandelt werden. <?page no="50"?> 50 Stephan Lorenz „Öffentlichkeit als die moderne Form der Koordination freier und gleicher Akteure wird so zum virtuellen Zentrum der modernen Gesellschaft: die Koordination der Akteure durch Diskurse und die Reproduktion einer diskursiven Ordnung durch Diskurse stellt einen Schritt der Radikalisierung der Moderne dar, der nach der Entstehung von Ökonomie und Demokratie nun den Diskurs selbst zum genuin modernen Mechanismus und Medium der Selbststeuerung der modernen Gesellschaft macht“ (Eder 1998a: 67). „Es besteht immer die Möglichkeit, die nicht-diskursiven Grundlagen diskursiver Vergesellschaftung zu thematisieren und damit zum Thema von Diskursen zu machen“ (Eder 1988: 62). „Moralisches Lernen heißt nichts anderes, als mit moralischen Vorstellungen über eine soziale Ordnung in einer zunehmend reflexiven Weise umgehen zu können“ (ebd.: 358). Was Eder im Gegensatz zur Cultural Theory mit seinem Modell ambivalenter Vergesellschaftung von Natur zeigen kann, ist die häufig und in vielen Varianten anzutreffende Widersprüchlichkeit im ökologischen Diskurs. Ökologische Probleme sollen hier oft mit den Mitteln beseitigt werden, die sie erst hervorgebracht haben. Es ist jedenfalls nicht selbstverständlich, dass die aus der technologischökonomischen Wachstumsdynamik resultierenden Probleme ausgerechnet mit immer erneuten, wenn nun auch als nachhaltig oder ‚grün‘ ausgeflaggten Wachstumsschüben zu überwinden sind. Dass die Alternative für Eder weniger im Wechsel von einer Kultur zur anderen als vielmehr in einer „reflexiven Rationalität“ zu suchen sei, deutet er allerdings nur an. Auswege vor allem von einem veränderten öffentlichen Diskurs zu erhoffen, ergibt sich nicht zuletzt aus seiner sozialkonstruktivistischen Theorieperspektive. Dabei bleibt letztlich offen, was daraus für den praktischen Zugriff auf Natur folgt, wie also veränderte Naturdeutungen auch in ein verändertes Naturverhältnis führen, wie Naturnutzung und Naturmoral zusammenfinden könnten. Der Sozialkonstruktivismus stößt hier an die theoretische Grenze, dass die Moralisierung von Natur ebenso auf die moderne Trennung von Natur und Kultur bauen muss, wie der instrumentelle Naturzugriff. 11.3 Späte Moderne: Neue politische Ökologien? Gesellschaftstheoretisch muss im Hinblick auf die Diagnose einer ökologischen Krise geklärt werden, wie Erkenntnisse über Gesellschaft-Natur-Verhältnisse überhaupt möglich sind und was das für die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Verhältnisse (Praxis) bedeutet. Das schließt Fragen darüber ein, inwiefern Begriffe wie ‚Natur‘, ‚Umwelt‘ oder ‚Ökologie‘ geeignet sind, die Krisensituation zu verstehen. Seit den 1990er Jahren etablierte sich eine Reihe theoretischer Ansätze, <?page no="51"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 51 die für die Analyse von Natur-Gesellschaft-Verhältnissen unterschiedliche Lösungen gefunden haben (vgl. Brand 2014; Groß 2011). Besonders vielversprechend erscheinen dabei theoretische Perspektiven, die sich nicht auf einen disziplinär gepflegten Sozialkonstruktivismus zurückziehen, aber deshalb auch nicht in neue, vermeintlich realistische Biologismen oder Naturalismen verfallen. Die in diesem Kapitel zur ökologischen Krise verfolgte storyline ist so angelegt, dass die frühe Moderne von einem starken Fortschrittsoptimismus in der Naturbeherrschung geprägt war, der sich oft auf naturalistische Naturdeutungen stützte. Für die gesellschaftstheoretischen Diagnosen der Ökokrise in der fortgeschritten entwickelten Moderne wurden dagegen sozialkonstruktivistische Ansätze vorgestellt, während für die späte Moderne nun ein ‚dritter Weg‘ aufgezeigt werden soll. Um die Darstellung nicht allzu grob zu vereinfachen, soll wenigstens darauf hingewiesen werden, dass zu allen Zeiten auch Theorieperspektiven zu finden sind, die versuchen, das relationale Zusammenspiel von Natur und Gesellschaft zu untersuchen. Zwar gehörte Marx zu den Fortschrittsoptimisten, er bot mit seinen dialektischen Arbeits- und Metabolismuskonzepten aber eine Alternative zur naturalistischen Naturauffassung. In dieser Tradition nahm in der entwickelten Moderne die Kritische Theorie ein dialektisches Verhältnis von Natur und Gesellschaft an (Horkheimer/ Adorno 2008 [1944]). Die theoretische Aufgabe ist es demnach, Menschen als Teil der Natur zu sehen, während sie zugleich ihre natürliche Lebenswelt mitgestalten und über die Möglichkeit verfügen, sich reflexiv von Naturbestimmungen zu lösen. Menschen sind also auch etwas anderes als bloßer Naturprozess - und Natur folglich etwas anderes als Menschen. Menschen leben in diesem Spannungsverhältnis, und das Andere der Natur bleibt den Menschen unverfügbar - Menschen sind beispielsweise sterblich. Die moderne Kultur ist aber auf die instrumentelle Verfügung über und Beherrschung von Natur - der menschlichen wie der nicht-menschlichen - angelegt. Sie errichtet so ein Herrschaftsverhältnis gegenüber Natur, Mensch und Gesellschaft gleichermaßen, das in jeder Hinsicht zerstörerisch wirkt. Dagegen erweist sich allein die Anerkennung der Unverfügbarkeit als Weg aus der Unterdrückung sowohl der Menschen als auch der Natur, so die Theorie. Paradox formuliert, können Menschen erst frei leben, wenn sie sich nicht mehr von Natur befreien wollen. Für diese Theorieperspektive ist ‚Natur‘ also ein entscheidender, dialektischer Gegenbegriff zu Gesellschaft. In der Diskussion um die ökologische Krise spielte die Kritische Theorie der Naturbeherrschung allerdings zunächst keine entscheidende Rolle. Denn zum einen fehlen genauere Analysen zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik, zum anderen machte die sich ausbreitende Wahrnehmung ökologischer Risiken gerade darauf aufmerksam, dass die theoretisch angenommene umfassende Naturbeherrschung offenbar nicht in der erwarteten Weise durchgreifen kann (Görg 1999: 130ff.). Die Intention einer Kritik am modernen Streben nach Naturbeherrschung teilt die im Folgenden für die späte Moderne vorzustellende Politische Ökologie Latours mit der Kritischen Theorie. Wenn ‚Natur‘ in der Kritischen Theorie vor allem für <?page no="52"?> 52 Stephan Lorenz einen Horizont der Unverfügbarkeit steht, dann liegen die Ansätze vielleicht weniger weit auseinander als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn offensichtlich wählt die Akteur-Netzwerk-Theorie und namentlich die Politische Ökologie Latours einen anderen Weg. Da für ihn die moderne Trennung von ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ das zentrale Problem der ökologischen Krise schlechthin ist, zielen seine Überlegungen darauf, diesen Dualismus ganz zu umgehen und deshalb ‚die Natur‘ als Kategorie aufzugeben. Aus seiner Sicht muss eben auch die Dialektik immer noch mit dieser Unterscheidung operieren - sie kann ‚Natur‘ nur dialektisch mit ‚Gesellschaft‘ zu vermitteln suchen, wenn sie die Trennung selbst in Anspruch nimmt. ‚Die Natur‘ muss Latour zufolge aber als moderner Irrweg überwunden werden. Stattdessen ist für ihn der Begriff der (politischen) Ökologie zentral. 11.3.1 Die Politische Ökologie Bruno Latours Das moderne Verständnis von Natur ist gebunden an dualistische Unterscheidungen. Für Bruno Latour (*1946) und andere Vertreter_innen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) sind es genau diese Dualismen - wie Subjekt versus Objekt, Natur versus Kultur, Geist versus Materie -, die in die ökologische Krise führten. Ausgangspunkte dieser Einsicht liegen zunächst in den Laborstudien. Nicht zufällig ist Latours Interesse für ökologische Fragen wie auch seine Rezeption in der Umweltforschung verbunden mit seiner Herkunft aus der Wissenschafts- und Technikforschung. Ist es doch die neuzeitliche Wissenschaft, die auf Basis des dualistischen Weltbildes die Natur erfasst. Und sind es doch in deren Folge die technologischen Entwicklungen der Industrialisierung, die die ökologischen Verhältnisse in der Moderne massiv umbauen. Die Laborstudien der 1980er Jahre widmeten sich der Frage, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Denn diese werden gemeinhin als besonders objektiv wahrgenommen, als ‚harte‘ Fakten ‚harter‘ Wissenschaften, vor allem wenn sie experimentell im Labor bewiesen werden. Die Beobachtung der Forschungsprozesse zeigt allerdings, dass die Unterscheidung in zu untersuchende materielle Natur-Dinge einerseits und geistige Erkenntnis andererseits keineswegs so eindeutig zu treffen ist. Was im Ergebnis als ‚harte‘ Fakten vorliegt, durchläuft einen längeren, durch zahlreiche Einflüsse geprägten Prozess. Beteiligt sind unter anderem die untersuchten Gegenstände und Materialien selbst, die genutzten Geräte und Laborausstattungen, die Karrierewege der Wissenschaftler_innen, Interessen, Kontroversen und aktuelle theoretische Paradigmen oder auch Publikationsstrategien in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ohne solche Prozesse gibt es keine Ergebnisse. Die vermeintlich ‚harten‘ Fakten verdanken sich nun vor allem dem Umstand, dass ihre Entstehungsprozesse am Ende unsichtbar gemacht, sozusagen ‚vergessen‘ werden. Der im Prozess entwickelte Zusammenhang (das Netzwerk) aus zahlreichen Dingen und Erkennen wird zerrissen. Moderne Rationalität stellt dual gegenüber: das materielle Objekt-Ding <?page no="53"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 53 einerseits, dessen ‚geistig abgebildete‘ Erkenntnis andererseits. Auf diese Weise kommen neue Dinge in die Welt, die scheinbar für sich stehen: entdeckte Stoffe oder Mikroben zum Beispiel. Aber dann auch neu entwickelte Technologien, die scheinbar unverbunden in der Welt sind. Latour (1998a) nennt diese neuen Dinge „Hybriden“, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie tatsächlich nie für sich allein stehen, sondern immer schon vielfältig verwoben sind, mit der materiellen (u.a. Stoffe, Labore, Geräte) wie der sozialen (u.a. Institutionen, Strategien, Paradigmen, Wissen) Welt gleichermaßen. B EGRIFF & D EFINITION : Sozialkonstruktivismus oder ‚Real‘-Konstruktivismus Die sozialkonstruktivistische Wissenschaftsforschung untersucht, inwiefern wissenschaftliche Erkenntnisse von sozialen Bedingungen und Prozessen abhängen, seien es aktuell gültige wissenschaftliche Modelle, institutionelle Kontexte (Forschungseinrichtungen, Universitäten, Unternehmen) oder individuelle Karrierestrategien. Sie de-konstruiert, zumeist in kritischer Absicht, die objektive Erkenntnis. Für Latour ist dies ein zu einseitiges Vorgehen. Zum einen sind es nicht nur soziale Einflüsse, die an den Konstruktionen beteiligt sind, sondern ebenso materielle, wie Laborgeräte und untersuchte Stoffe. Zum anderen geht es Latour nicht darum zu zeigen, dass die Ergebnisse ‚nur‘ konstruiert sind. Denn Konstruktionsprozesse - mit allen Beteiligten, menschlichen wie nicht-menschlichen - sind genau die Art und Weise, wie Erkenntnisse gewonnen werden können. Solange diese Bedingtheit anerkannt ist und nicht verdeckt oder ‚vergessen‘ wird, sind auch die Ergebnisse als objektiver Stand der Forschung, das heißt als mit den aktuellen wissenschaftlichen Mitteln mögliche Erkenntnisse, anzuerkennen. Warum führt diese von Latour diagnostizierte moderne Rationalität in die ökologische Krise? Die Einsicht ist, dass die Hybriden, insbesondere Technologien, einerseits vielfältig vernetzt sind, dass diese Vernetzungen aber andererseits ausgeblendet bleiben. Insofern führt die augenscheinliche Existenz der Technologien noch ein Leben im Verborgenen. Sie zeitigen aufgrund ihrer Vernetzungen vielfältige Effekte in der Welt, die aber nicht berücksichtigt oder nicht mit den Technologien in Verbindung gebracht werden. Erst wenn sie zu offensichtlichen Problemen führen, rücken diese als Risiken und ‚Nebenfolgen‘ ins Blickfeld - als Nebenfolgen erscheinen sie aber nur, weil diese Vernetzung bislang ignoriert wurde. Ein Beispiel bietet das Auto. Im modernen Selbstverständnis ist es eine Technologie, die, wie kaum eine andere, individuelle Freiheit verspricht: jede_r kann darüber nach eigenem Willen verfügen und sie für individuelle Zwecke nutzen. ‚Vergessen‘ wird dabei, wie grundlegend Autos in materielle und soziale Prozesse verflochten sind, wie vielfältig damit die Voraussetzungen und Konsequenzen von <?page no="54"?> 54 Stephan Lorenz Automobilität sind (siehe Textbox zu ‚Vernetzungen des Autos‘). Die Nützlichkeit und Annehmlichkeiten der Automobilität wie anderer Technologien sind nicht ohne derartige Vernetzungen zu haben. F ALLBEISPIEL : Vernetzungen des Autos Das Auto benötigt eine eigene Infrastruktur und viel Raum, formt so Städte und Landschaften und schließt damit viele andere Zwecksetzungen und Lebensweisen aus; es macht sich lautstark bemerkbar und muss ‚ernährt‘ werden, braucht Erdöl, chemische Industrie, verschiedenste Rohstoffe aus aller Welt und schließlich Luft, die die Abgase aufnimmt - und sie nicht zuletzt durch menschliche Lungen leitet; es bedarf auch einer bürokratischen Infrastruktur der Zulassungen, Straßenverkehrsregulierung und -überwachung; es ermöglicht die räumliche Trennung von Arbeit und Wohnen, um sogleich lange Arbeitswege als Standarderwartung zuzumuten; nicht zu vergessen, dass Menschen in ihrem Verhalten daraufhin trainiert und angepasst werden müssen, Autos steuern zu können beziehungsweise ihnen auf den Straßen aus dem Weg zu gehen. Eine sozial-ökologisch verträgliche Mobilität lässt sich nur erreichen, wenn nicht nur die Wohlstands- und Freiheitsversprechen der Technologien im Blick sind, sondern alle Vernetzungen mitberücksichtigt werden. Für die Diagnose der ökologischen Krise ist nun nicht nur entscheidend, dass die ‚Nebenfolgen‘ einiger Technologien nicht rechtzeitig berücksichtigt wurden. Vielmehr folgt die Krise einer Dynamik, die Latour auch als unkontrollierbar wuchernde Hybridenvermehrung charakterisiert. Denn im Muster moderner Trennungen von Natur und Gesellschaft werden immer neue Technologien erzeugt, die Fortschritte versprechen, in ihren Vernetzungen aber unbeachtet bleiben. Mehr noch: Die schließlich bemerkten problematischen ‚Nebenfolgen‘ sollen wiederum im selben Modus korrigiert werden. Das heißt, Problemen der Technologien wird nicht durch neue Umgangsweisen mit ihnen begegnet, sondern sie sollen durch noch mehr, noch neuere Technologien behoben werden. Als Lösungen für problematische Autoabgase werden dann zum Beispiel Filter eingesetzt - deren Feinstaubrückstände aber ebenfalls bedenklich sind. Oder es werden neue ‚biologische‘ Kraftstoffe synthetisiert - deren intensivlandwirtschaftliche Produktion wiederum zu Rückständen im Grundwasser führen kann oder die Biodiversität gefährdet. Auf diese Weise wird, so die Diagnose, die ökologische Krise mit jedem Versuch ihrer Lösung noch gesteigert. Da dies aber der modernen Rationalität objektiver wissenschaftlich-technischer Lösungen folgt, kann dem nicht widersprochen werden, ohne dass dies als irrational erscheinen muss. Die moderne Rationalität der Trennungen versprach zivilisatorische Freiheiten, bewirkte aber stattdessen die Unterwerfung der „Modernen“, wie Latour sagt, unter <?page no="55"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 55 ökologisch verhängnisvolle Handlungszwänge. Ein wirklicher Ausweg aus der ökologischen Krise kann nur beschritten werden, wenn der Anspruch moderner Gesellschaften an zweckrationale Naturbeherrschung zugunsten der Anerkennung ökologischer Vernetzungen aufgegeben wird. Wie könnte eine solche (politische) Ökologie aussehen? 11.3.2 Im „Parlament der Dinge“ - ein Verfahrensmodell ökologischer Demokratisierung Die moderne Unterscheidung von Natur und Gesellschaft aufgeben zu wollen, erweist sich als schwieriges Unterfangen und schon als sprachliches Problem. Es scheint unausweichlich, immer wieder von ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘ zu reden, gerade auch wo man die Trennung von Natur und Gesellschaft überwinden will oder den Gegensatz von Natur und Gesellschaft zu vermitteln sucht. Wenn die Trennung aber das Problem ist, kann die Lösung nicht darin bestehen, diese Trennung nur zu vermitteln, denn dies kommt immer schon zu spät. Stattdessen dürfe gar nicht erst getrennt werden, so der Anspruch der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die sprachlichen Eigenheiten der Theorie sind wesentlich darin begründet, die Dualismen zu unterlaufen und gewissermaßen eine neue Sprache ökologischer Vernetzungen zu schaffen. So steht der ‚Akteur‘-Begriff in der ANT keineswegs nur für handelnde Menschen (Subjekte), sondern gleichermaßen für menschliche und nicht-menschliche Wesen oder Entitäten. In einer frühen Studie sind Akteure (gelegentlich auch Aktanten genannt) beispielsweise Muscheln, die in ein von drei Wissenschaftler_innen initiiertes Netzwerk mit diesen und örtlichen Fischer_innen eingebunden werden (Callon 2006 [1986]). Da eine sprachliche Verständigung wie unter Menschen hier nicht möglich ist, finden zahlreiche „Übersetzungen“ statt, die schließlich von „Sprecher_innen“ (hier den Wissenschaftler_innen) „repräsentiert“ werden können. So werden etwa die Voten abstimmender Fischer_innen ebenso gezählt wie die Muscheln, die sich in eigens in einer Bucht ausgebrachten Vorrichtungen sammeln. Beides geht gleichermaßen in die Protokolle der Forschenden ein, die ein Ansiedlungsprojekt für die Muscheln durchsetzen wollen, wofür sie aber Fischer_innen wie Muscheln gewinnen, das heißt in ihr Netzwerk integrieren müssen. Latour geht in seinem Buch „Das Parlament der Dinge“ (2001) einen Schritt weiter. In ökologischen Konflikten sollen nicht-menschliche Wesen (Pflanzen, Tiere, Gletscher, Flüsse, …) nicht einfach nur im Sinne einer Risikominimierung zweckmäßiger berücksichtigt werden. Ihre Vernetzungen und Repräsentationen sollen vielmehr weiter qualifiziert werden: Sie sollen eine Stimme erhalten und ‚besser‘, nämlich auf demokratische Weise beteiligt werden. Demokratie soll hier über die - im modernen Sinne - Grenzen der Gesellschaft hinaus ausgeweitet und ökologisiert werden. Dies erscheint Latour nicht nur realistischer - weil tatsächliche ökologische Zusammenhänge beachtet werden -, sondern muss auch als angemessener betrachtet werden, wenn es das Ziel von Latours Politischer Ökologie ist, „an <?page no="56"?> 56 Stephan Lorenz erträglichen Orten zusammen[zu]leben“ (Latour 2008: 10). Wie bereits der Buchtitel verrät, orientiert sich Latour bei der Einlösung dieses Anspruchs an Ideen parlamentarischer und rechtsstaatlicher Verfahren. Sein Verfahrensmodell umfasst sieben Aufgaben, die in einem bestimmten Prozedere bearbeitet werden müssen, damit die Versammlung von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen als demokratisch gelten kann. Vorgestellt wird das in seinem Buch am Beispiel der BSE-Krise Ende der 1990er Jahre. Die bis dato eingerichtete Welt der industriellen Rinderhaltung erwies sich als nicht mehr tragfähig, was seinen Ausdruck im „Rinderwahnsinn“ und in den daraus folgenden Erkrankungsrisiken für Rindfleisch essende Menschen fand. Wie lässt sich also eine demokratische Bearbeitung der BSE-Krise im Sinne der Politischen Ökologie Latours vorstellen? Die sieben Aufgaben müssen teils nacheinander, teils parallel bearbeitet werden. Latour spricht hier von der „allmählichen Zusammensetzung des Kollektivs, der gemeinsamen Welt“, nachdem - im Beispiel - die ‚alte Welt‘ der Rinderhaltung im Zuge der BSE-Krise erschüttert wurde. Das Einhalten des Verfahrens sichert zum einen, dass alle relevanten, das heißt von der Krise betroffenen Stimmen Beachtung finden, und zum anderen, dass trotz der Vielstimmigkeit Entscheidungen getroffen werden können. Dabei gilt, dass die Entscheidungen nie letztgültige sind. Das Verfahren kann immer wieder eröffnet werden, um neue Aspekte zu berücksichtigen. Die ersten vier Verfahrensschritte (Latour 2001: 150ff.) bezeichnet Latour als (1) „Perplexität“, (2) „Konsultation“, (3) „Hierarchie“ und (4) „Institution“. Mit diesen ergibt sich folgendes Bild für die Bearbeitung ökologischer Konflikte: Zuerst (1) bedarf es der Offenheit für neue, ökologisch problematische Phänomene. Diese können krisenhaft-überraschend auftreten, wie im Falle von BSE, aber auch aktiv hervorgerufen beziehungsweise entdeckt werden, zum Beispiel durch Forschung. Dieses Neue ist sodann (2) auf vielfältige Weisen auf seine Eigenheiten hin zu prüfen. Im Fortgang (3) müssen Vorschläge für die Einbindung in den bisherigen - vor dem Entdecken gültigen - Kenntnisstand und bisherige Gewohnheiten formuliert werden. Schließlich (4) kann dies zu anerkanntem Wissen und neu etablierten Praktiken führen. Um den Ansprüchen an ein demokratisches Verfahren gerecht zu werden, muss anerkannt sein, dass es sich zwar um aktuell belastbare Übereinkünfte handelt, die eine verlässliche Handlungsbasis liefern, diese aber prinzipiell auch neu verhandelt werden können. Dazu müssen drei weitere Schritte des prozeduralen Vorgehens beachtet werden, nämlich (5) die „Gewaltenteilung“, (6) die „Szenarisierung des Ganzen“ und (7) die „Verlaufskontrolle“. (5) Die Gewaltenteilung trennt im Verfahren die Aufgaben (1) und (2), zusammengefasst als „einbeziehende Gewalt“, von (3) und (4) als „ordnender Gewalt“. Würden die Irritationen neuer ökologischer Probleme sofort auf die gesamte etablierte Ordnung durchschlagen, wäre eine verfahrensgerechte Problembearbeitung <?page no="57"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 57 unmöglich. Umgekehrt darf freilich der Ordnungserhalt nicht dazu führen, dass Neues blockiert wird. Gewaltenteilung gewährleistet also, dass die Offenheit für Neues nicht in Beliebigkeit verfällt und dass (bislang) bewährte Stabilität nicht in Erstarrung mündet. Im BSE-Beispiel: Solange die Prionen, als neue Akteure im Zusammenhang mit Rinderwahnsinn, geprüft werden, laufen bisherige Routinen weiter. Änderungen werden sukzessive, nach sorgfältiger Prüfung aller Vernetzungen umgesetzt. (6) Problem-Konstellationen, wie im BSE-Fall, müssen auch ein Gesamtbild ergeben, was Latour als Szenarisierung des Ganzen bezeichnet. Hier geht es um die Innen-Außen-Abgrenzung des sich demokratisch konstituierenden „Kollektivs“ aller Beteiligten. (7) Die Sicherstellung der Einhaltung des Verfahrens, unter anderem durch Protokollierung des gesamten Verfahrensverlaufs, wird als eigenständige Aufgabe ausgewiesen: der Verlaufskontrolle. Das ist besonders deshalb wichtig, weil ein abgeschlossener Verfahrensverlauf immer den Ausgangspunkt für eine potenzielle Neueröffnung bildet - nach dem Verfahren ist vor dem Verfahren. Einen Lerngewinn verspricht das nur, wenn auf die Erfahrungen des vorherigen Verlaufs zurückgegriffen werden kann. Auch aus der BSE-Krise lässt sich nur für folgende ökologische Konfliktbearbeitungen etwas lernen, sofern die vorausgegangenen Kontroversen und Entscheidungswege verfügbar bleiben. AAbb. 2: Verfahrensschritte im „Parlament der Dinge“ (eigene Darstellung nach Latour) Verlaufskontrolle (7) Szenarisierung (6) Perplexität (1) Gewaltenteilung (5) (2) Konsultation (3) Hierarchie Institution (4) <?page no="58"?> 58 Stephan Lorenz Am BSE-Beispiel wird ersichtlich, dass im Verfahren wissenschaftliche und politische Aspekte eng miteinander verbunden sind. Keinesfalls ist vorgesehen, dass Wissenschaft und Politik je unterschiedliche Verfahrensschritte bearbeiten, zum Beispiel Wissenschaft für das Neue zuständig ist (einbeziehende Gewalt), während die Politik dieses Neue einordnet. Im Gegenteil müssen alle Verfahrensschritte sowohl von der Wissenschaft als auch von der Politik bearbeitet werden. Und nicht nur von diesen: Latour führt hier differenzierungstheoretische Perspektiven in seine Theorie ein. Er unterscheidet „Berufsstände“, von denen die Wissenschaften, Ökonomie, Politik und Moral näher ausgeführt und ergänzend das Recht und die Kunst erwähnt werden. Alle bearbeiten dieselbe Problemstellung, zum Beispiel die BSE-Krise, und müssen je alle Verfahrensschritte einhalten, bringen dafür aber je spezifische Kompetenzen mit. Auf der einbeziehenden Seite stehen etwa den Wissenschaften Labore und Instrumente zur Verfügung, um neue Entitäten zu entdecken, während die ökonomischen Akteure sofort Kosten oder Gewinnchancen und die politischen Akteure neue stakeholders für potenzielle Koalitions- oder Abgrenzungsmöglichkeiten ausmachen. Die ordnende Gewalt zeigt sich beim wissenschaftlichen Wissen beispielsweise in Theorien, disziplinären Zuständigkeiten oder Lehrbüchern, in der Politik in Form von Parteien und Programmatiken sowie durch Kompromisse und Entscheidungen. Für das Verständnis der Politischen Ökologie Latours ist sein doppelter Politikbegriff zu berücksichtigen. Denn zum einen ist ‚Politik‘ im engeren Sinne ein Berufsstand neben anderen und entspricht insofern einem ähnlichen Politikverständnis wie in anderen Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Zum anderen ist mit Politik - Latour spricht auch von Ontopolitik oder Kosmopolitik -der Anspruch der Politischen Ökologie insgesamt gemeint. Dieser umfasst alle Berufsstände, die alle entlang des Verfahrens an der demokratischen Zusammensetzung der gemeinsamen Welt aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen beteiligt sind. Nicht-menschliche Wesen stehen nun nicht mehr als ‚Natur‘ der ‚Gesellschaft‘ gegenüber, sondern sind über das Verfahrensmodell beteiligt, das heißt, sie haben eine (übersetzte) Stimme, stehen aber auch ihrerseits zur Verhandlung. Sie können nichts mehr mit Verweis auf ihre - unumstößliche, wissenschaftlichobjektiv festgestellte - ‚Natur‘ determinieren und der Verhandlung entziehen. Der Klimawandel ist dann kein Phänomen der natürlichen Umwelt, an das sich Menschen anpassen müssen oder das sich bei entsprechendem wissenschaftlich-technischen Fortschritt nach menschlichen Vorgaben manipulieren ließe. Im Klimawandel müssen ökologische Zusammenhänge zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen im o.g. Sinne politisch ausgehandelt werden. So wird ein ökologisches Zusammenleben in einer gemeinsamen Welt demokratisch gestaltbar. <?page no="59"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 59 11.3.3 Ökologisieren als theoretisches Paradigma Im „Parlament der Dinge“ arbeitet Latour seine Politische Ökologie aus und zeichnet mit den Berufsständen seine differenzierungstheoretische Perspektive vor. In den folgenden Jahren widmet er sich neuen Sichtweisen auf ‚das Soziale‘ im Allgemeinen und einzelnen gesellschaftlichen Praktiken im Besonderen, vor allem in Politik, Kunst, Religion, Recht und Ökonomie. Diese und andere führt er schließlich als „Existenzweisen“ (Latour 2014) systematisch zusammen. Er positioniert sich damit gewissermaßen zwischen den Ansprüchen der Akteur-Netzwerk-Theorie und der soziologischen Differenzierungstheorien. Auf der einen Seite macht er gegenüber der ANT, das heißt auch gegenüber eigenen früheren Arbeiten, geltend, dass die bloße Auflösung vermeintlich objektiver Gegebenheiten in Akteur-Netzwerke, in sich vernetzende Assoziationen, zu allgemein und letztlich zu de-konstruktiv bleibe. Stattdessen ließen sich einige (im Buch sind es insgesamt fünfzehn) charakteristische Weisen der Vernetzung genauer auszeichnen, eben als Existenzweisen. Auf der anderen Seite wendet er sich dagegen, diese Existenzweisen als separate gesellschaftliche ‚Bereiche‘ auszuweisen, was er soziologischen Differenzierungstheorien vorhält. So lässt sich sagen, dass seine Perspektive auf Vergesellschaftung nicht von getrennten Teilbereichen ausgeht, die dann gegebenenfalls zu verknüpfen sind, sondern umgekehrt von allgegenwärtigen Vernetzungen, unter denen sich aber einige spezifische Assoziationsweisen herausheben lassen. Außer in der Einleitung thematisiert das „Existenzweisen“-Buch kaum im engeren Sinne ökologische Fragen. Zugleich liefern diese aber den Schlüssel für alternative Vergesellschaftungsoptionen: „Zwischen Modernisieren und Ökologisieren müssen wir uns entscheiden“ (ebd.: 40; vgl. Latour 1998b). Dies könnte als Motto über Latours gesamtem Werk stehen. Modernisieren ist für Latour gleichbedeutend mit einem Regime der Trennungen und daraus folgender Konflikte, Feindschaften, Unterdrückung, Denk- und Handlungsblockaden. Ökologisieren gibt für ihn dagegen das Paradigma für eine veränderte Vergesellschaftung schlechthin ab. Es bezieht sich nicht nur auf das Natur-Gesellschaft-Verhältnis als einem Spezialproblem neben anderen, das moderne Gesellschaften zu lösen haben. Vielmehr meint Ökologisieren eine grundlegend andere, nämlich verbindende und auf vielfältige Aushandlungen angelegte Weise, wie Menschen mit ihren menschlichen wie nicht-menschlichen Mit-Wesen zusammenleben. Insofern integriert Latour eine Tradition, die Klaus Eder (siehe Kap. 1.2) als moderne Gegenkultur beschrieb und die sich ausgehend von einem erneuerten Naturverhältnis auch ein erneuertes Zusammenleben der Menschen erhofft. ‚Versöhnung‘ scheint Latour dabei allerdings ein zu hoher oder falsch verstandener Anspruch zu sein - realistischer wäre es demnach, anzustreben „an erträglichen Orten zusammenleben“ zu können. Während Eder darauf bestand, dass auch die Gegenkultur eine moderne Kultur ist, eine andere moderne, er aber eine mögliche reflexive Integration beider <?page no="60"?> 60 Stephan Lorenz modernen Kulturen nur andeutete, scheint sich Latour gegen das ‚Modernisieren‘ schlechthin zu positionieren. Dieser Selbstdeutung muss man nicht unbedingt folgen. Denn die Moderne ist ein Projekt, das sich zunächst von der Allmacht religiöser Deutungen emanzipierte, weiterhin die weltlichen Herrschaftsansprüche in Demokratisierungsprozesse überführte, das Recht zunehmend als ein gesatztes, nicht gegebenes verstand, zudem metaphysische Letztbegründungen in Wissenschaft und Forschung auflöste. Dabei trat freilich oft ‚die Natur‘ das transzendente Erbe an: an ‚die Natur‘ als Letztbezug für objektive Wahrheitsansprüche, exekutiert durch die Naturwissenschaften, glaubten - und glauben - die Modernen fest und innig. Latours ganzes Bestreben geht dahin, diese letzte transzendente Herrschaft zu verweltlichen und in ein ökologisch-vernetztes Denken zu überführen. In diesem Sinne ließe sich behaupten, dass die Politische Ökologie Latours die Moderne nicht verwirft, sondern sie radikalisiert. 11.4 Resümee Moderne Gesellschaften haben heute eine gewisse Lernfähigkeit und Sensitivität gegenüber ökologischen Fragen entwickelt. Seit Jahrzehnten sind zivilgesellschaftliche Initiativen und NGOs aktiv, Regierungsprogramme und auf Umweltfragen spezialisierte Ministerien und Behörden gehören längst zur Grundausstattung der Industriestaaten, Unternehmen machen ‚grüne‘ Gewinne, sei es mit regenerativer Energieerzeugung, Öko-Agrarprodukten oder ökologischen Geldanlagen, wie auch die Wissenschaften zahlreiche Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschungen hervorgebracht haben. Von Krisenbewältigung kann aber offenbar noch keine Rede sein. In mancher Hinsicht scheinen sich die Probleme sogar auszuweiten. Während sich die Qualität der Stadtluft und Gewässer oft verbesserte, bereitet heute das globale Klima Sorgen. Während regenerative Energien auf dem Vormarsch sind, stehen die Ausstiege aus Atomkraft und Kohle noch am Anfang, und andere ökologische Themen, wie die Gefährdung bestäubender Insekten oder die allgegenwärtigen Plastikreste, werden überhaupt erst seit einigen Jahren als Problem wahrgenommen. Deshalb ist es notwendig, auch weiterhin sehr grundlegend danach zu fragen, wie die Natur-Gesellschaft-Verhältnisse gestaltet sind, welchen Dynamiken sie unterliegen und welche Alternativen denkbar sind. Die besondere Schwierigkeit für Gesellschaftstheorie in der ökologischen Krise lässt sich paradox etwa so formulieren: Natur-Gesellschaft-Verhältnisse sind für ein Verständnis von gesellschaftlichen Entwicklungen wichtig und müssen gerade im Zeichen einer ökologischen Krise mitgedacht werden können. Zugleich gehören sie aber im engeren Sinne nicht zum Gegenstandsbereich der Gesellschaftstheorie, sondern erfordern gewissermaßen den Blick über den Tellerrand der Gesellschaft. Werden sie zum Gegenstand erhoben, wird ihr Verständnis nicht ohne <?page no="61"?> 1 Naturverhältnisse und ökologische Krise der Gesellschaft 61 Kenntnisnahme der Naturwissenschaften auskommen, denn Gesellschaftstheorie verfügt nicht selbst über die Mittel, Temperaturänderungen zu messen, Artenzahlen zu erfassen oder Habitatverschiebungen zu beobachten. Da solche naturwissenschaftlichen Beobachtungen allerdings als Teil gesellschaftlicher Operationen aufzufassen sind, können deren Erkenntnisse nicht einfach als objektiv gültige Wahrheiten übernommen, sondern sie müssen reflexiv angeeignet werden. Das heißt, gesellschaftstheoretisch muss zweierlei berücksichtigt werden: Erstens gewinnen Naturwissenschaften in einer bestimmten Weise Wissen über Natur. Und diese Weise hat Konsequenzen dafür, was unter Natur zu verstehen und wie die ökologische Krise zu deuten ist. Ein einfaches Beispiel dafür sind Risiken, wie sie sich in Grenzwerten etwa bei Lebensmitteln ausdrücken. Naturwissenschaftlich lassen sich zwar jeweils (wahrscheinliche) Konsequenzen aus der Verwendung bestimmter Mengen an Inhaltsstoffen beschreiben. Was aber als angemessenes Risiko erscheint, also wo die Grenzen tatsächlich gezogen werden, kann nicht berechnet, sondern muss auf der Basis kultureller Überzeugungen und politischer Auseinandersetzungen entschieden werden. Bei Fragen des globalen Klimawandels verhält es sich prinzipiell nicht anders. Komplexer wird es bei Biodiversitätsverlusten. Gesellschaften zeitigen immer ökologische Konsequenzen, und je nach Lebensweise werden sie bestimmte Biodiversitäten begünstigen oder einschränken. Zugespitzt stellt sich nicht die Frage, ob, sondern welche Artenverluste sich jeweils zugunsten welcher Lebensweisen rechtfertigen lassen. Dies leitet über zum zweiten Punkt. Gesellschaftstheoretisch zu reflektieren ist auch, dass in der Gesellschaft nicht die Naturwissenschaften allein darüber Auskunft geben, wie Natur zu verstehen ist. Das ist leicht einzusehen, wenn man an künstlerische oder auch religiöse Naturdeutungen denkt. Sie sind anderer Art als naturwissenschaftliche Erkenntnisse, gleichwohl ebenso Teil gesellschaftlicher Deutungen und Praktiken, die relevant für das Gesellschaft-Natur-Verhältnis sind. Gesellschaftstheoretische Aufgabe ist es, diese Zusammenhänge zu reflektieren und ökologische Probleme zudem nicht als separate Phänomene, sondern in ihren Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen Kernthemen, wie Arbeit und Konsum, Gerechtigkeit und gutes Leben zu denken. Die ökologische Krise lässt das Selbst- und Gegenstandsverständnis von Gesellschaftstheorie nicht unberührt. Wie zu sehen, waren frühmoderne Gesellschaftsanalysen stark einem naturalistischen Denken verpflichtet. Spätere Theorien betonten dagegen häufig sozialkonstruktivistische Perspektiven, für die ‚Natur‘ vor allem in ihren pluralen Deutungen erscheint. Schließlich gibt es - und gab es seit Marx - Theorien, die Natur und Gesellschaft in ihren Wechselverhältnissen beschreiben oder sozioökologische Zusammenhänge untersuchen. Strittig sind nicht zuletzt die Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die ökologische Krise Ausdruck spezifisch moderner Entwicklungen ist. Eine Option ist es, das Projekt der Moderne als gescheitert anzusehen, weil es ökologisch selbstzerstörerisch verläuft. Gesellschaftstheorie steht dann vor der Aufgabe, nach post-modernen <?page no="62"?> 62 Stephan Lorenz Natur-Gesellschaft-Verhältnissen zu suchen. Anders verhält es sich, wenn moderne Gesellschaften selbst als lernfähig aufgefasst werden, in denen auch alternative Entwicklungspotenziale angelegt sind. Denkt man in diese Richtung, scheinen vor allem zwei Kandidatinnen solche Alternativen in Aussicht zu stellen, nämlich Ökologie und Demokratie. Ökologie bezeichnet dabei die Idee, in Zusammenhängen und Vernetzungen zu denken. Demokratie fügt dem in sozioökologischen Zusammenhängen den Anspruch hinzu, diese Vernetzungen in unabschließbaren Aushandlungsprozessen für ein ‚erträgliches Zusammenleben‘ zu berücksichtigen. Gesellschaftstheoretisch geht es dann darum, wie solche Alternativen gegenüber dominanten destruktiven Entwicklungsdynamiken zur Geltung kommen können. <?page no="63"?> 22 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis J ÖRG O BERTHÜR In soziologischen Wörterbüchern haben die Begriffe ‚Subjekt‘ und ‚Subjektivität‘ erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit einen festen Platz gefunden (vgl. Reckwitz 2017a: 125). Das mag überraschen, handelt es sich doch bei der Beziehung zwischen ‚Individuum und Gesellschaft‘, in die sich das Subjekt als vermittelnde Instanz eintragen lässt, um ein gesellschaftstheoretisches Grundproblem, dem sich die Entstehung der modernen Sozialwissenschaft und bis heute ihre Forschungsfragen zum großen Teil verdanken. Insbesondere die Soziologie beschreibt seit ihrer Gründungsphase mit der Kategorie der Gesellschaft, welche sie in Abgrenzung von vormodernen ‚Gemeinschaften‘ bestimmt (vgl. Tönnies 2010 [1887]), das Zusammenleben von Individuen, die qua ihrer autonomen Denk- und Handlungsfähigkeit als Subjekte ‚intersubjektive‘ soziale Beziehungen eingehen. Wenn unter der Überschrift der ‚Subjektivierung‘ seit dem späten 20. Jahrhundert dieser basale Sachverhalt aktualisiert und dabei zugleich thematisch verschoben wurde, so zum einen deshalb, weil ausgehend von Impulsen aus der Philosophie und der Psychoanalyse die Schlüsselkategorie des Subjekts selbst eine Problematisierung bzw. Dezentrierung erfahren hat (vgl. Adkins 2006: 612f.), und weil sich damit einhergehend die Frage nach dem Wesen von Vergesellschaftungsprozessen am und im Subjekt - inklusive die nach seiner Autonomie - auf neue Weise stellt. Neben der sozialtheoretischen Dimension dieser Debatte spielt zeitdiagnostisch dabei zum anderen eine wesentliche Rolle, dass im Integrationsmodus von Gesellschaft - vor allem im Feld der (Lohn- und Reproduktions-)Arbeit, mittlerweile aber auch darüber hinaus - ein bemerkenswerter Wandel zu beobachten ist: Die im Kontext eines neuen Subjektivitätsbewusstseins historisch zunächst gegen institutionelle Verhältnisse geltend gemachten Forderungen nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung (z.B. ‚Selbstentfaltung‘ im Beruf, Flexibilität im Verhältnis von Arbeit und Freizeit usw.) haben sich unter dem Einfluss struktureller Veränderungen von Ökonomie und Politik ihrerseits in Anforderungen verwandelt, denen die Subjekte nun nolens volens zu genügen haben. 13 Ausgehend von der damit verbundenen und im engeren Sinn des Wortes ‚Subjekt‘ bereits angelegten (Selbst-)Unterwerfung der Handelnden unter die neuen Imperative sozialer Eigenverantwortlichkeit (vgl. hierzu auch die späteren 13 Vgl. hierzu für das Feld der Arbeit Boltanski/ Chiapello (1999), die im Titel ihres Buchs in Anlehnung an Max Weber einen „neuen Geist des Kapitalismus“ diagnostizieren, sowie für einen Überblick Börner et al. (2018). <?page no="64"?> 64 Jörg Oberthür Ausführungen zu Michel Foucault) definiert Andreas Reckwitz demensprechend Subjektivität als „Form, in der das Individuum als körperliche und psychische Einheit zu einem gesellschaftlich verständlichen und akzeptablen Wesen wird.“ (Reckwitz 2008: 288). Damit ist die Frage der Subjektivierung als Genese sozialer Subjekte und als Tendenz in der historischen Entwicklung gesellschaftlicher Integrationsprozesse in den Kontext der soziologisch älteren Individualisierungstheorie gestellt. B EGRIFF & D EFINITION : Subjekt, Individuum und Individualisierung Die Begriffe ‚Subjekt‘ und ‚Individuum‘ spielen in der Subjektivierungsdebatte eine zentrale Rolle. Ihr Verhältnis zueinander und damit auch ihre je konkrete Bedeutung hängt im Wesentlichen aber davon ab, ob und inwiefern gesellschaftstheoretische Analysen beim unmittelbaren ‚Selbst-Sein‘ des handelnden und denkenden Menschen ansetzen oder dessen soziale und somit historisch dynamische Beschaffenheit in den Fokus rücken. Hierbei können zwei grundsätzliche Lesarten bzw. Interpretationen des Subjektbegriffs und des Individuums unterschieden werden, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen. Während für die neuere, vor allem durch den Poststrukturalismus geprägte Debattenlinie das Subjekt als ‚Form‘ des Individuums (vgl. Reckwitz 2008: 288) eine historisch konkrete Ausbildung des vergesellschafteten ‚Einzelmenschen‘ darstellt, lässt sich diese Deutungsweise auch durchaus umkehren: Individualität wird dann ihrerseits zur ‚Form‘, in der das Subjektive - unter dem Blickwinkel individuell zugeschriebener Erwartungen - sozial in Erscheinung tritt (‚ältere‘ soziologische Individualisierungstheorien). Für die sich hierin abzeichnende Differenz ist zentral, welche Aspekte menschlichen Denkens, Erlebens und Handelns für Vergesellschaftung als vorgängig bzw. grundlegend und welche als deren Resultante angesehen werden. Die Betrachtung kann dabei einerseits die Erfahrung von Subjektivität bzw. das Selbst-Sein voraussetzen und Individualisierung dann als Problem der Beziehungen und Abgrenzung zu und von sozialen Anderen thematisieren. Andererseits lässt sich fragen, inwieweit die dem Anschein nach primäre Erfahrung von Subjektivität - bis hinein in ihre organischleiblichen Aspekte - das Ergebnis von sozialer Prägung bzw. Subjektivierung ist (siehe dazu auch Kap. 1 und 3). Gleichzeitig markiert hierbei aber die bereits erwähnte, wesentlich durch die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts beeinflusste, neue gesellschaftstheoretische Sicht <?page no="65"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 65 auf Struktur und Genese des Selbst vor diesem Hintergrund eine Zäsur, mit der die früheren klassisch-soziologischen Beiträge zu dieser Debatte bestenfalls noch als Vorläufer zu betrachten wären. Wie im Laufe dieses Kapitels dargelegt wird, wirken allerdings eine Reihe klassischer Problemstellungen und Fragen und die mit ihnen verbundenen Analysekategorien bis in aktuelle Debatten fort. Gleichzeitig deutet sich an, dass das Problem - so generell gefasst - auf noch ältere Denktraditionen verweist, deren Wegpunkte im Rahmen dieser Einführung kaum in der für eine systematische Erörterung gebotenen Ausführlichkeit dargestellt werden können. Dies gilt in besonderem Maße für die Rezeption subjektphilosophischer Beiträge, die ausgehend vom Aristotelischen hypokeímenon (Griech.: ‚Zugrundeliegendes‘) eine mehr als zweitausendjährige Ideengeschichte umfassen. Das ordnende Prinzip der Darstellungen in diesem Kapitel bildet deshalb die Rekonstruktion von Wechselwirkungen zwischen empirisch beobachtbaren gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in der Moderne und ihrer sozialwissenschaftlichen theoretischen Reflexion. Zentral ist also zunächst die Frage, auf welche Weise individuelles ‚Subjekt-Sein‘ Moment gesellschaftlicher Krisen wurde und wie Theorien hierauf reagiert haben. Die Diskussion der schrittweisen Herausbildung einer ‚Subjektivierungsdebatte‘ muss sich dementsprechend einerseits auf die Transformationen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen beziehen, andererseits aber auch die damit korrespondierenden, historisch wechselnden Spielarten der Konstitution von Subjekten selbst im Blick behalten, die den Horizont normativer Selbst- und Fremdansprüche von Menschen umfassen und damit zugleich den Ausgangspunkt für kritische Diagnosen der Subjektivierungsverhältnisse bilden. 22.1 Frühe Moderne: Der vergesellschaftete Mensch 2.1.1 Gesellschaft als soziale Einheit in der Differenz: Emile Durkheim und die Erneuerung des ‚sozialen Bandes‘ Theorien der frühen Moderne, die wesentlich zur Etablierung der Soziologie als Fach beigetragen haben, durch die noch porösen Grenzen ihrer jeweiligen Gegenstände aber auch für verwandte Disziplinen anschlussfähig geblieben sind, entstehen vor dem Hintergrund disruptiver sozialer Veränderungen, wie sie in der Einleitung dieses Buches bereits beschrieben wurden. Die Ausgangslage des späten 19. Jahrhunderts erfordert dabei geradezu notwendig, dass die Frage des Subjekts und die der sozialen Ordnung gleichzeitig verhandelt werden: Insbesondere im Hinblick auf die Veränderung der räumlichen und zeitlichen Struktur und Taktung des sozialen Lebens - maßgeblich vorangetrieben durch Prozesse der Industrialisierung und Verstädterung -, darüber hinaus aber auch auf der Ebene der geistig-kulturellen Verfasstheit der heraufziehenden neuen Epoche, ihrer Weltsichten und Wertvorstellungen, erfolgt eine grundlegende Neujustierung im Verhältnis von Persönlichem und Kollektivem, Privatem und Öffentlichem, Freiheit <?page no="66"?> 66 Jörg Oberthür und sozialen Zwängen, die bedingt, dass Gesellschaft immer auch als Haltung der Menschen zu sich selbst und zueinander beschrieben wird. Emile Durkheim (1858-1917), Max Weber (1864-1920) und Georg Simmel (1858-1918) stehen als Autoren nicht nur exemplarisch für diese Phase der gesellschaftstheoretischen Ideenentwicklung, ihre Theorieansätze haben zudem bei gemeinsamen soziologischen Ausgangsbeobachtungen zur Herausbildung sehr unterschiedlicher methodologischer und sozialtheoretischer Programme geführt, deren Einfluss bis in die aktuelleren Debatten hinein nachgewiesen werden kann. Bemerkenswerterweise spannt sich trotz solcher Gegensätze gerade unter dem Blickwinkel der Kategorie des Subjekts und seiner sozialen Konfigurationen ein roter Faden von der Vergangenheit des Fachs bis in die Gegenwart - er besteht im besonderen Stellenwert neuer ökonomischer Gegebenheiten, ihrer Vertrags- und Kooperationsbeziehungen und den sich daraus ableitenden Handlungsmöglichkeiten und -verpflichtungen. Zwei von Emile Durkheim in seiner Studie „De la division du travail social“ („Über die Teilung der sozialen Arbeit“, Durkheim 1996 [1893]) vorangestellte Sätze bringen diesen Sachverhalt in besonderer Weise zum Ausdruck: „Wie geht es zu“, fragt er darin, „daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? “ und gibt darauf die Antwort: „Uns schien, daß die Auflösung dieser scheinbaren Antinomie einer Veränderung der sozialen Solidarität geschuldet ist, die wir der immer stärkeren Arbeitsteilung verdanken.“ (ebd.: 82) Für Durkheim, der hier eigentlich eine These als ‚Frage‘ formuliert, stellte sich dabei zunächst ein völlig anderes Problem: wie nämlich die Tatsache zunehmender beruflicher Spezialisierung und der mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Differenzierung - inklusive neuer Konfliktlagen, sozialer Kämpfe und Sinnkrisen - zu bewerten sei (vgl. ebd.: 86ff.). Die sich daraus scheinbar unvermeidlich ergebende Schwierigkeit, zu einer Werturteilsentscheidung objektiv bzw. wissenschaftlich Stellung zu beziehen, wird von Durkheim durch die Verknüpfung des Objektivitätscharakters von Gesellschaft mit der Subjektivität der individuellen Handlungen (d.h. mit ihren durch die Handelnden selbst erfahrbaren Qualitäten) methodologisch aufgelöst bzw. eingeklammert: Mit Verweis auf die Gesetze des Sozialen glaubt dieser, auch deren ‚pathologische‘ Abweichungen bestimmen zu können. Unter Bezugnahme auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Wirken solcher Gesetze auf der einen Seite und der Beschaffenheit gesellschaftlicher Moral auf der anderen soll es so im zweiten Schritt gelingen, den Nachweis einer genuin moralischen Qualität von Arbeitsteilung selbst zu führen und so das wissenschaftliche Dilemma ihrer moralischen Bewertung zu umgehen (vgl. ebd.). Dieses Manöver lebt von mehreren, auch im Laufe der Arbeitsteilungsstudie zum Teil implizit bleibenden Voraussetzungen. Wesentlich ist, dass Durkheim als Begründer einer funktionalistischen Soziologie mit der Frage nach dem Beitrag eines sozialen Phänomens zur Ordnung <?page no="67"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 67 der Gesellschaft auch scheinbar subjektive Fragen des ‚guten Lebens‘ an die Objektivität von Kollektivzusammenhängen bindet, die er später als „soziologische Tatbestände“ bezeichnen wird (Durkheim 1984 [1895]: 114). In der Literatur wurde auf die Ähnlichkeit zwischen diesem Gedanken und der Annahme einer „objektiven Vernunftstruktur“ bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) hingewiesen (vgl. Carré 2013: 319f.) und ähnlich Letzterem scheint auch Durkheim das menschliche Subjekt als zweite Seite einer inhärent vernünftigen sozialen Ordnung zu betrachten. In der Figur des „Doppelwesen[s]“ (Durkheim 1983 [1897]: 237), mit der er das prägnant veranschaulicht, sind deshalb Strebungen des „Individualbewußtseins“ (Durkheim 1996: 183) mit sozialen Anteilen bzw. mit dem „Kollektivbewußtsein“ (ebd.) so verschmolzen, dass eine individuelle Existenz ohne Aspekte von Mitmenschlichkeit und intersubjektiv verbindliche, moralische Prinzipien nicht - bzw. nur um den Preis erheblichen Leidens (vgl. Durkheim 1983 [1897]: 280ff.) - möglich ist. Welche konkreten Formen dieser Beziehung sich historisch herausbilden, d.h. welche Inhalte für das Verhältnis beider Seiten bestimmend werden, hängt damit vom historischen Entwicklungsgang bzw. vom gesellschaftlichen ‚Fortschritt‘ ab. Auf dieser Grundlage versuchte Durkheim nachzuweisen, dass sich im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung zwar der Einfluss des individuellen Anteils im menschlichen ‚Selbst‘ verstärkt (vgl. Durkheim 1996 [1893]: 183). Unter einem bestimmten Blickwinkel - namentlich der Ermöglichung von Solidarität aus wechselseitiger Abhängigkeit des Verschiedenen - wird der „Kult“ der Individualität und der „Würde der Person“ (ebd.: 227) aber selbst zum Element des Kollektivbewusstseins bzw. von Moral und kann damit nicht mehr als bloßer Egoismus angesehen werden. Das heißt: Indem soziale Arbeitsteilung eine neue, sich aus der gegenseitigen Ergänzung speisende und von Durkheim daher als „organische“ bezeichnete Solidarität entstehen lässt (ebd.: 229), bewirkt sie nicht nur die Verfestigung sozialer Bindungskräfte, sie eröffnet zudem Spielräume für individuelle Subjektivität, die in ihrem Bezug auf Andere einen normativen Anker finden kann. Durkheim hat sowohl in der Arbeitsteilungsstudie selbst als auch im Rahmen seiner späteren Untersuchung zum Phänomen des Selbstmordes (Durkheim 1983 [1897]) diesen Zusammenhang durch eingehende Analysen seiner pathologischen Störungen zu erhärten versucht. Vor allem im Problem der Anomie (‚Regellosigkeit‘) vermutete er die Quelle sowohl von sozialen Integrationsstörungen (die ihren Ausdruck etwa in wirtschaftlichen Krisen finden, vgl. ebd.: 273ff.) als auch von Störungen des subjektiv-psychischen Erlebens, die seine Arbeit in den Kontext der nach wie vor aktuellen Diskussion über die Soziopathogenese psychischer Erkrankungen stellen. In neuerer Zeit ist diesbezüglich auf mögliche Anschlüsse der Durkheimschen Soziologie an die Psychoanalyse, die bereits wegen der Verbindung von Kollektivbewusstsein und Individualbewusstsein im Subjekt <?page no="68"?> 68 Jörg Oberthür nahezuliegen scheinen, hingewiesen worden (vgl. Ehrenberg 2011: 219ff.; vgl. zudem auch Parsons 2016: 439f.). Was der Idee des ‚homo duplex‘ allerdings eine merkwürdige Ambivalenz verleiht, ist der Umstand, dass Durkheim letztlich sogar den scheinbar desintegrativen und destruktiven Impulsen überschießender Individualität unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Innovations- und Adaptionsfähigkeit ein gewisses Maß an Funktionalität bescheinigt hat (vgl. Durkheim 1983 [1897]: 430f.). Das führt zu der Frage, ob der funktionalistische Ansatz nicht von Anfang an eine strukturdeterministische Schieflage aufweist und von einer stärker ‚individualistischen‘ Sichtweise profitieren könnte. 22.1.2 Transformation der ‚Lebensführung‘: Max Weber und das Subjekt als Träger kultureller Rationalisierung Max Weber, der wie Durkheim als einer der Begründer der Soziologie im engeren Sinne gelten kann, nimmt bereits in seiner methodologischen Grundlegung des Faches einen gegenüber diesem völlig anderen Standpunkt ein: „Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“ (Weber 1972 [1921]: 1; Hervorh. im Original). Durch den Begriff des ‚Sinns‘ ist in der hier gegebenen Definition die Strukturseite der sozialen Wirklichkeit, d.h. ihr institutionelles Gerüst, ganz klar an Deutungs- und Erkenntnisleistungen - und damit an Subjekte - assimiliert, was Weber im Weiteren auch z.B. mit Blick auf die „soziale[n] Gebilde“ Staat und Markt zu verstehen gibt: Um „lediglich Abläufe und spezifische Zusammenhänge einzelner Menschen“ handele es sich hierbei, da nur Menschen „verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln“ seien (ebd.: 6; Hervorh. im Original). Mit Blick auf die Grundlagen des sozialen Handelns stellt sich dem Soziologen Weber aber doch zugleich die Frage nach der „Kulturbedeutung“ (Weber 1988a [1904]: 153; Hervorh. im Original) besonders folgenreicher Sinnkonstellationen, die eine ganze gesellschaftliche Entwicklungsphase prägen können. Als breitangelegte Rekonstruktion des „okzidentalen […] Rationalismus“ (Weber 1988c [1920]: 12), d.h. der Rationalisierungsprozesse und -folgen in westlichen Gesellschaften, rückt seine Arbeit damit in die Leerstelle einer methodologisch-individualistischen Gesellschaftstheorie ein, die Modernisierungsphänomene gleichermaßen auf der Ebene der Weltbeziehungen von Subjekten (vgl. Rosa 2016: 188ff.) und ihrer objektiven, d.h. ‚strukturellen‘, Aggregate fassen will. Zentral hierfür ist Webers Untersuchung zur „Protestantischen Ethik“ (Weber 1988c [1920]) geworden, in der er den Zusammenhang zwischen der christlichen Reformation in Europa und dem „Geist des Kapitalismus“ (ebd.: 30; Hervorh. im <?page no="69"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 69 Original) bzw. der kapitalistischen Wirtschaftsweise nachzeichnet. Die besondere Relevanz dieses Unternehmens für die Thematik des Subjekts ergibt sich aus dem Umstand, dass Weber nicht nur die motivationale Basis einer spezifisch modernen Form unternehmerischen Handelns offenlegt, sondern vielmehr auf die „Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt“ (ebd.: 12; Hervorh. im Original) abstellt: Maßgeblich unter dem Einfluss des von Johannes Calvin (1509-1564) formulierten Dogmas der ‚doppelten Prädestination‘, wonach ein jeder Mensch bereits bei ‚Grundlegung der Welt‘ als unwiderruflich zur Erlösung oder zur Verdammnis bestimmt worden sei, entsteht nach Weber im Reformationschristentum des 16. Jahrhundert eine spezifische Glaubensströmung, die einen neuen Subjekttypus zur Folge hat. Gekennzeichnet durch den Anspruch „gesteigerte[r] Werkheiligkeit“ (ebd.: 114) - aus Angst verworfen zu sein - und daher nach permanenter Bewährung durch gottgefälliges Handeln trachtend, trägt diese Glaubenshaltung zur Etablierung einer strengen individuellen Selbstkontrolle in der Arbeit und im ganzen Leben bei. Die sinnstrukturellen Fundamente dieser Haltung, die Weber mit der Begrifflichkeit der „Methode rationaler Lebensführung“ (ebd.: 116) umschreibt, weisen ein deutliches Passungsverhältnis zu den Erfordernissen ökonomischer Zweckrationalität auf und erklären hierdurch nach seiner Einschätzung, dass Korrelationen zwischen der historischen Entstehung des Kapitalismus und der religiösen Prägung von dessen frühen kulturellen Zentren ebenso wie zwischen Konfessionen und sozialen Schichtungsphänomenen bestehen. Im Hinblick auf die innerpsychische Struktur der ersten ‚protokapitalistischen‘ Subjekte können permanente Selbstreflexion, Affektkontrolle und Eigenverantwortlichkeit damit als unmittelbare Ergebnisse religiöser Werthaltungen betrachtet werden. Dass diese in der weiteren historischen Abfolge als ein nun obsoleter Anhang des zum System gewordenen Kapitalismus jedoch verblassen und schließlich ganz verschwinden werden, gehört zu den interessantesten Wendungen in Webers Werk: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein“, stellt er darin schließlich mit einer gewissen Ernüchterung fest (ebd.: 203) und beschreibt, wie die zum „stahlharte[n] Gehäuse“ geronnenen Organisationsstrukturen des bürokratischen Staates und der kapitalistischen Wirtschaftsweise die Subjekte bis hinein ins Innerste verändert haben bzw. ihrerseits hervorbringen (ebd.). Als Verselbständigung einer kollektiven Praxis schlägt die ursprüngliche Rationalität moderner Lebensführung damit vom subjektiven Standpunkt aus betrachtet ins Irrationale um. An dieser Stelle zeigt sich nun, dass und inwiefern die Ansätze Emile Durkheims und Max Webers nicht nur in ihren empirischen Bezugspunkten (moderne Wirtschaft und Arbeitsteilung als Kontext von Subjektivierungs- und Individualisierungsschüben) einander überschneiden, sondern in ihren zeitdiagnostischen Konsequenzen in einer geradezu inversen Beziehung stehen: Startet Durkheim mit einer objektivistischen Auffassung der Soziologie und einem dementsprechend gesellschaftsstrukturell überformten Subjektverständnis, um schlussendlich zu <?page no="70"?> 70 Jörg Oberthür den Möglichkeitsbedingungen individueller Subjektivierung durch Arbeitsteilung zu gelangen, verhält es sich mit Webers subjektivistischen Ansatz in gewisser Weise gegenteilig. Die Grenzen beider Paradigmen und die Konvergenzen der daraus resultierenden Erklärungen lassen indessen vermuten, dass auch Weber und Durkheim in ihrer Polarität durch eine dritte, vermittelnde Position zu ergänzen sind. 22.1.3 Nähe und Distanz: Georg Simmel und die Ambivalenz der Individualisierung als Krise der Moderne Obwohl Georg Simmel selbst nicht explizit als ‚Mediator‘ der Soziologien von Max Weber und Emile Durkheim in Erscheinung trat und hierfür mangels einer entsprechenden direkten Auseinandersetzung beider zu Lebzeiten auch nur wenig Anlass gegeben war, kann er retrospektiv durchaus als Vordenker des Problems von ‚Struktur und Handlung‘ und insofern in einer solchen Rolle gesehen werden. Im Rahmen seines „methodologischen Interaktionismus“ des Sozialen (vgl. Rosa et al. 2013: 97), für den er - im Anschluss an Kant - die „apriorische Bedingungen“ der Gesellschaft formuliert (Simmel 2016 [1908]: 276), in seiner Verbindung von „formale[r]“ und „empirische[r]“ Soziologie (Rosa et al. 2013: 99f.), die nach der Vermittlung objektiver Strukturformen von Gesellschaft mit der konkreten Praxis von Akteur_innen sucht, und schließlich auch in der Verknüpfung einer allgemeinen Differenzierungstheorie mit dem diagnostischen Befund der Individualisierung wird das auf allen Ebenen seines Denkens deutlich. Simmels konkreter Beitrag zur Theorie des modernen Subjekts ist ein dreifacher: Ausgehend von der Beobachtung zunehmend dezentrierter „sozialer Kreise“ (d.h. sich komplex überlappender oder ausschließender Gruppenzugehörigkeiten, vgl. Simmel 1992 [1908]: 464ff.) gelangt er erstens zu der Auffassung, dass die Freisetzung von Subjekten als ‚Individuen‘ im Prozess der Modernisierung traditioneller (z.B. ständischer und gemeinschaftlicher) Lebenszusammenhänge und ihre Re-Integration durch die institutionellen Möglichkeiten formalerer Sozialbeziehungen (allen voran durch das Medium des Geldes, vgl. Simmel 1989 [1900]: 392) Hand in Hand gehen bzw. sich wechselseitig bedingen wie ermöglichen. Zweitens war Simmel allerdings der Ansicht, dass hierbei zwischen quantitativer und qualitativer Individualisierung unterschieden werden muss (vgl. Rosa et al. 2013: 108). Bieten vormoderne Formen des Zusammenlebens den Einzelnen nur in sehr begrenztem Rahmen Möglichkeiten, sich zwischen verschiedenen Optionen des Lebens (z.B. im Hinblick auf Beruf, Wohnort, Lebenspartnerschafen) zu entscheiden, und ist die Kontrolle durch das dichte Beziehungsnetz kleinteiliger sozialer Kreise hier sehr viel ausgeprägter (vgl. Simmel 1995 [1903]: 124f.), so geht er davon aus, dass der Mensch in der Moderne einerseits zwar freier werden, andererseits zugleich jedoch an Erfahrungsqualität und seelischer Tiefe verlieren werde (vgl. ebd.: 129). <?page no="71"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 71 H INTERGRUND & D EBATTE : Emile Durkheim, Max Weber, Georg Simmel - Pole der soziologischen Gesellschaftstheorie E MILE D URKHEIM (1858-1917) gehört zu den ‚Gründervätern‘ der Soziologie und kann zugleich als früher Vertreter jener Denkströmung gelten, die sich am ‚Vorbild‘ der Naturwissenschaften orientiert. In seinem methodologischen Basiswerk von 1895 Les régles de la méthode sociologique formuliert er das Prinzip, „soziologische [ ] Tatbestände wie Dinge zu betrachten“ (Durkheim 1984 [1895]: 115) und mit entsprechenden „Kausalitätszusammenhängen“ bzw. mit „Gesetzen“ zu erklären (ebd.: 208). Das Subjekt in Durkheims Theorie ist damit immer auch Effekt sozialer Tatsachen und infolgedessen weniger als Quelle und mehr als Instanziierung von Kollektivstrukturen zu betrachten. M AX W EBER (1864-1920), ebenfalls ein Vertreter der soziologischen Gründungsgeneration, repräsentiert demgegenüber eine Soziologie, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1972 [1921]: 1). Strukturen des Sozialen sind für Weber - ebenso wie die ‚Naturgesetze‘ - deshalb nur insofern von Relevanz, als sie in „Motivationszusammenhänge“ handelnder Subjekte eingebettet sind und aus ihnen sinnverstehend rekonstruiert bzw. erklärt werden können (ebd.: 3). G EORG S IMMEL (1858-1918), der demgegenüber als Vertreter eines „methodologischen-Interaktionismus“ (vgl. Rosa et al. 2013: 97) betrachtet werden kann, hat durch seine Unterscheidung universeller Bestimmungsgründe sozialer Beziehungen einen wesentlichen Beitrag zur Subjektivitätsdebatte geleistet. Die „drei soziologischen Apriori“ der (institutionellen) „Struktur“, der „Individualität“ und der sozialen „Rolle“ (ebd.) ermöglichen ihm dabei eine Analyse von Subjektivität und Intersubjektivität, die gleichsam an der Schnittstelle zwischen Durkheims und Webers Soziologien ansetzen kann. Paradoxerweise sind es hiernach gerade Individualisierung und soziale Mobilität sowie die damit einhergehenden zeitlichen und räumlichen Interaktionsverdichtungen, die das moderne Subjekt zum Zwecke des Selbstschutzes in eine Haltung der „Blasiertheit“ (Simmel 1995 [1903]: 121) drängen, ihm eine objektivierende Sicht auf Andere aber auch sich selbst nahelegen und schließlich zur „Atrophie der individuellen durch die Hypertrophie der objektiven Kultur“ (ebd.: 130) bzw. zur „Tragödie der Kultur“ (Simmel 1919 [1911]) führen werden. Es bleibt daher festzuhalten, dass in der frühen Moderne Idee und Möglichkeit entstehen, Differenzen und Besonderheiten des Subjektiven auch gegen die Gesellschaft zu verteidigen, wobei sich die Gesellschaft selbst aus eben dieser Spannung bilden muss. Die <?page no="72"?> 72 Jörg Oberthür Aporien, die daraus resultieren, haben die Debatte zur Stellung des Subjekts in der entwickelten Moderne maßgeblich geprägt. 22.2 Entwickelte Moderne: Leben in Institutionen 2.2.1 Zwei konträre Perspektiven auf Gesellschaft als ‚System‘: Kritische Theorie und Talcott Parsons‘ Systemfunktionalismus In der frühen Moderne hatte sich der Gesellschaftstheorie angesichts manifester Krisen die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung vordringlich gestellt. Der Aspekt der Rekonfiguration von Persönlichkeitsmerkmalen in Form von Individualisierungsschüben war dabei als Resultat der Suche nach Modellen einer solchen Ordnung ‚entdeckt‘ bzw. als allgemeine Tendenz behauptet worden. Im weiteren Verlauf schließen gesellschaftstheoretische Analysen auf unterschiedliche Weise hieran an - die methodologischen und zeitdiagnostischen Gegensätze der Gründungsphase schreiben sich dabei zum Teil fort. Soweit es ihre Zuordnung zur Periode der ‚entwickelten Moderne‘ und die darin implizierte Annahme einer Höherentwicklung von Gesellschaft selbst betrifft, zeigt sich, dass deutliche Divergenzen bereits in der Beurteilung der historischen Ausgangslage bestehen. Nach der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, angesichts der systematischen Verfolgung und millionenfachen Ermordung der von der ‚Volksgemeinschaft‘ als andersartig ausgegrenzten Menschen, denen gleichzeitig mit ihrem Status als Subjekt auch das Recht auf Leben abgesprochen wurde, sehen sich insbesondere Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Begründer einer Kritischen Theorie veranlasst, die soziologischen Fortschrittsnarrative der Individualisierung und Rationalisierung nachhaltig in Frage zu stellen: Mit Max Weber teilen sie zwar die Auffassung des in der Aufklärung angelegten Rationalisierungsprozesses, stärker noch als dieser sehen sie jedoch in der objektivierenden und kalkulierenden Logik wissenschaftlich-technischen Denkens zusammen mit der ökonomischen Verwertungslogik des Kapitalismus die ausschlaggebenden Elemente eines schließlich auch alles Menschliche verdinglichenden Herrschaftssystems (vgl. Adorno/ Horkheimer 2008 [1944]: 31f.), in dessen letzter Konsequenz institutionelle Formbildungen wie der totalitäre Staat einerseits und die Kulturindustrie andererseits als auf einer Linie mit dem Modernisierungsprozess liegend betrachtet werden müssen: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen“ (ebd.: 15). Zeitlich parallel, aber inhaltlich durchaus konträr hierzu beginnt mit Talcott Parsons einer der prominentesten Vertreter der amerikanischen Soziologie damit, seine eigene Interpretation klassischer Texte - u.a. auch derjenigen von Emile Durkheim und Max Weber - unter der Überschrift ihrer theoretischen Konvergenz (Parsons 1949 [1937]: 12) auszuarbeiten, die er schließlich zur voluntaristischen Handlungstheorie fortentwickeln wird (ebd.: 11). <?page no="73"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 73 Parsons unternimmt als Differenzierungstheoretiker den Versuch, individuelle Handlungsfreiheit und kollektive Ordnungsmuster durch den Gedanken eines im Sozialisationsprozess verinnerlichten und auf Pluralismus zielenden modernen Wertehorizontes miteinander zu verbinden, durch den in der entwickelten Moderne gewissermaßen die Versprechen der Freiheit und der Pazifizierung sozialer Konflikte gleichermaßen eingelöst werden. Als Funktionalist in der Tradition Emile Durkheims stehend, stellt er sich das Gelingen dieses Vorgangs mit anderen Worten als zunehmende gesellschaftliche Integration durch den immer besseren Abgleich von individuellen Zielen und institutionellen bzw. kollektiven Bestandserfordernissen vor. Das Argument, mit dem sich festgefügte Rahmenbedingungen, wie etwa der organisierten Arbeit und der staatlichen Rechtsordnung, mit (subjektiv) freien Willensentscheidungen in Einklang bringen lassen sollen, besteht darin, Wertüberzeugungen als dem konkreten Willen vorgelagerte Strukturen von Persönlichkeiten zu betrachten, die beide Seiten (Institutionen und Subjekte) so verbinden, dass sie aus der Perspektive der jeweils anderen Ermöglichungsbedingung sind (vgl. Parsons 1973: 224ff.). Parsons hat diese Überlegung gegen Ende seines Lebens schließlich in pointierter Weise mit dem Begriff des „institutionalized individualism“ (Parsons 2016: 424ff.) gefasst und als charakteristisches Merkmal der amerikanischen Gesellschaftsordnung ebenso wie der modernen Gesellschaft überhaupt beschrieben. Dass er vor allem in den systemtheoretisch-funktionalistischen Analysen seines Spätwerks empirisch beobachtbare Konflikte und Devianz ebenso wie historisch anders verlaufende Entwicklungen dabei nur als vorübergehende Abweichungen eines im Übrigen evolutionären Fortschrittsprozesses fassen konnte (vgl. Parsons 1971), zeigt, wie ‚strukturlastig‘ die Soziologie Parsons dessen ungeachtet ist. Dieser generelle Zug seines theoretischen Denkens hat ihm wiederholt die Kritik an einem normativ überintegrierten Akteur_innen- und Gesellschaftsbild eingetragen (vgl. anstelle vieler: Habermas 1995 [1981]: 346). Dennoch: Auch im Vergleich der scheinbar unvereinbaren Positionen der Kritischen Theorie (Adorno und Horkheimer) und des Strukturfunktionalismus (Parsons) ergibt sich eine bemerkenswerte ‚Konvergenz‘. Diese besteht in der Beobachtung, dass die institutionelle Ordnung der entwickelten Moderne als System - im Guten wie im Schlechten - überaus stabil geworden ist. Für die Gesellschaftstheorie wirft das erneut Fragen nach der Möglichkeit sozialer Innovationsfähigkeit, individuell und kollektiv planvoller Handlungspraxis sowie überhaupt nach dem Emanzipationscharakter von Modernisierung auf. Orchestriert wird dieses theoretische Problem seit den 1970er Jahren durch sozialstrukturelle Verschiebungen, welche im Zuge des steigenden Wohlstandsniveaus in westlichen Industriegesellschaften die Entstehung einer stärker denn je auf Kreativität und Selbstentfaltung zielenden Werteformation katalysieren und die von Ronald Inglehart (1977) deshalb als „stille Revolution“ („The Silent Revolution“) beschrie- <?page no="74"?> 74 Jörg Oberthür ben worden sind. Spätestens jetzt wird auch in den Lebenswelten des Alltags (wieder) spürbar, dass die Moderne subjektive Ansprüche, z.B. der politischen Partizipation oder des authentischen Lebens, und institutionelle Funktionsanforderungen keineswegs bereits vollständig und reibungslos miteinander vermittelt hat - ein Umstand, der nach Auffassung vieler Beobachter die wenig später auftretenden Wellen neuer sozialer Protestbewegungen erklärt (vgl. Brand 1998: 37). 22.2.2 Reflexivität und Routine: Anthony Giddens’ Subjektverständnis als Beitrag zum Struktur-Handlungs-Problem der Soziologie Die Arbeit von Anthony Giddens (*1938) ist als Beitrag zu einer Soziologie der „reflexiven Modernisierung“ (vgl. Beck et al. 1996) vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zeitlich und thematisch am Höhepunkt der entwickelten Moderne zu verorten und kann trotz der darin bereits angelegten Transformationsperspektive stellvertretend für diesen Abschnitt stehen. Zum einen versucht auch Giddens in seinem bisherigen Hauptwerk „Die Konstitution der Gesellschaft“ (Giddens 1997 [1984]) mit Rückgriff auf zentrale Werke der klassischen und neueren Gesellschaftstheorie das zentrale Problem der Vermittlung von ‚Struktur und Handlung‘ sowie von ‚System‘ und ‚Individuum‘ zu lösen. Zum anderen kann er dabei als durchaus kritischer, aber gleichwohl konsequenter Vertreter und Beobachter einer sozialwissenschaftlichen Praxis verstanden werden, die sich selbst angesichts der Diffusion ihrer Erkenntnisse eine entscheidende Rolle im modernen Aufklärungs- und Emanzipationsprojekt zugesteht - einem Projekt, das von den Theorien der späten Moderne mehr oder weniger deutlich problematisiert werden wird. In Giddens‘ Versuch, die Defizite bisheriger Theorieentwicklungen zu überwinden, spielt vor allem die Auseinandersetzung mit zwei uns bereits begegneten Ideentraditionen eine wichtige Rolle. Namentlich soziologische Strukturtheorien (wie z.B. der Funktionalismus Durkheims) und individualistische Handlungstheorien (beginnend bei Max Weber) bilden auch für ihn die Gegenpole seiner konzeptionellen Neubestimmung wesentlicher soziologischer Basiskategorien. Ausgehend von Karl Marx (1972 [1852] [MEW 8]: 115) berühmten Diktum über das ‚Geschichtemachen‘, welches zwar durch die Menschen, nicht aber unter „selbstgewählten […] Umständen“ geschehe (ebd.), sieht Giddens die Aufgabe der von ihm entwickelten ‚Strukturierungstheorie‘ darin, das dialektische Verhältnis von Stabilität und Wandel sozialer Verhältnisse zu erklären (vgl. Giddens 1997 [1984]: 35). In Untersuchungen über die „Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften“ (1979), zu den „Konsequenzen der Moderne“ (1995) sowie zur „Politik des Klimawandels“ (2009) zieht sich dabei die Beobachtung immer kürzer aufeinanderfolgender, zunehmend auch globaler Umbrüche und Verwerfungen wie ein roter Faden durch Giddens‘ soziologische Stellungnahmen zur Gegenwart - die ‚stabile‘ Ordnung ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts offenbar dynamischer <?page no="75"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 75 geworden. Gleichzeitig stellt sich diese Dynamik weder als völlig chaotisch noch als im engeren Sinne planbar dar, weshalb Giddens für die Beschreibung ihres ambivalenten Charakters mehrfach das metaphorische Sinnbild des „Dschagannath-Wagens“ (Giddens 1995: 173), eines nur schwer zu steuernden religiösen Prozessionsgefährts, bemüht hat. Subjekt und Subjektivität werden hierdurch abermals auf neue Weise situiert: Ergeben sich aus der permanenten Verflüssigung von Routinen, der fortlaufenden Veränderung von Institutionen und der weitreichenden Mobilisierung von sozialen Beziehungen individuelle wie kollektive Optionen und Gestaltungsspielräume (z.B. auch in der Schwächung der unmittelbaren staatlichen Kontrolle, der Freiheit individueller biographischer Entscheidungen, der Intimbeziehungen usw.), so zeigt sich doch zugleich, dass die nur schwer vorhersehbaren Rückwirkungen dieser Umwälzungen realiter die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Praxis vielfältig beeinflussen und letztlich auch erheblich stören können (vgl. Giddens 1996: 115ff.). Analog zu Ulrich Beck, der die Theorie reflexiver Modernisierung im deutschsprachigen Raum unter der Überschrift der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) vertreten und ihr zum Durchbruch verholfen hatte, geht auch Giddens insofern davon aus, dass soziale Integrationsfunktionen nun im entscheidenden Maße nicht mehr nur von den neuen strukturellen Möglichkeiten, sondern auch von adaptionsfähigen Akteur_innen übernommen werden müssen, die sich dabei vor scheinbar unmögliche Herausforderungen gestellt sehen: Das Subjekt der vollends entfalteten Moderne muss lernen, mit dem Unvorhersehbaren auf oftmals kreative Weise umzugehen, und dabei die reale Möglichkeit des Misserfolgs in Rechnung stellen. Es muss in der Lage sein, das eigene Handeln auch mit Blick auf seine bislang unbekannten Voraussetzungen oder Folgen zu reflektieren und unter der Bedingung unsicheren Wissens gegebenenfalls zu korrigieren - und es muss bei alledem noch immer Vertrauen in fundamentale Routinen des sozialen Alltags haben können (vgl. Giddens 1995: 40, 44ff.). B EGRIFF & D EFINITION : Reflexive Modernisierung Die Selbstirritationseffekte des fortgeschrittenen Modernisierungsprozesses und der gleichzeitig hohe Stellenwert von Wissen für individuelle und kollektive Entscheidungen in der sozialen Praxis sind zentrale Elemente der Zeitdiagnose einer ‚reflexiv‘ gewordenen Moderne. Diese Begrifflichkeit weist eine doppelte Bedeutung auf: Für Ulrich Beck (1996b) verbindet sich die Reflexivität der sozialen Ordnung und Praxis (angelehnt am engeren Wortsinn von ‚Reflexion‘) insbesondere mit dem Zurückwirken des Modernisierungsprozesses auf sich selbst (ebd.: 29f., 65) - vor allem durch gesellschaftliche Risiken (ebd.: 55) und „Nebenfolgen“ (ebd.: 19, 55, 66). Anthony Giddens (1995: 54f.) hebt hervor, dass die permanente Prüfung <?page no="76"?> 76 Jörg Oberthür sozialer Handlungsweisen im Lichte fortlaufend aktualisierter Wissensbestände ein konstitutives Merkmal der Gegenwartsmoderne ist und akzentuiert im Begriff der Reflexivität damit dessen Bedeutungsgehalte als Bewusstseinskategorie. Insofern die damit verbundenen Versuche sozialer Steuerung allerdings neue Probleme erzeugen (vgl. hierzu die weiteren Ausführungen zu Giddens in diesem Kapitel), besteht zwischen beiden Begriffsfacetten eine enge Beziehung. Der Versuch, diese Beziehung für die Gegenwartsdiagnose fruchtbar zu machen, findet sich bei Scott Lash, der im Rahmen eines gemeinsam mit Ulrich Beck und Anthony Giddens publizierten Buchs über „Reflexive Modernisierung“ (Beck et al. 1996) für eine „kulturell-hermeneutisch[e]“ Erweiterung des Reflexivierungsansatzes plädiert (Lash 1996: 341). Giddens‘ Strukturierungsbzw. „Strukturations“-Ansatz (im Englischen: „Theory of structuration“) gibt zusammen mit seinen späteren Publikationen zu politischen Fragen eine Antwort darauf, ob und unter welchen konkreten gesellschaftlichen Bedingungen das überhaupt möglich sein kann. Dazu werden grundlagentheoretisch zunächst vor allem die begrifflichen Gehalte von ‚Ordnung‘, ‚Struktur‘, ‚Handeln‘ und ‚Akteur‘ einer Neubestimmung unterzogen. 14 Das sich durchziehende Motiv besteht hierbei darin, dass Giddens die stabilen und als ‚objektiv‘ erscheinenden Aspekte von Gesellschaft unter Verweis auf den Modus ihrer räumlichen und zeitlichen Existenz an das Konzept der Praxis selbst anbindet: ‚Strukturen‘ werden als Zusammenhänge der „Regeln und Ressourcen“ gedacht, die „in rekursiver Weise in die Reproduktion sozialer Systeme einbezogen sind“ (Giddens 1997 [1984]: 432) und die deshalb nur durch das Handeln und im Handeln von Akteur_innen existieren (vgl. Giddens 1994 [1979]: 64f.). Ähnlich zu Max Weber hat Giddens hierdurch die objektive Seite von Gesellschaft an ihre subjektive „Instanziierung“ („instantiation“, ebd.: 64) angedockt. Aus der Perspektive der Teilnehmenden ist insofern aber ganz wesentlich, was dies unter Berücksichtigung des sozialen Miteinanders, d.h. der ineinandergreifenden Praxen vieler, heißt: Gerade weil sich Akteur_innen nicht im engeren Sinne objektivierend zur Struktur verhalten, d.h. weder ihren eigenen Rekurs darauf, noch den Anteil anderer autonomer Subjekte völlig daraus isolieren können, muss nun im Gegenzug auch die Vorstellung einer direkten bewusstseinsmäßigen Steuerung und Kontrolle von Handlungen und damit der (komplett) voluntaristischen Formbarkeit von Strukturen aufgegeben werden. Giddens fasst diese Überlegungen im einem „Stratifikationsmodell“ (Giddens 1997 [1984]: 56) des Handelns zusammen (vgl. Abbildung 3). 14 Einen sehr guten Überblick über die Strukturierungstheorie und Giddens‘ begriffliche Synthesevorschläge zum ‚Struktur-Handlungs-Problem‘ gibt Jörn Lamla (2003: 45ff.). <?page no="77"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 77 Zu den wichtigsten Innovationen dieses Modells gehört es, dass Praxis nicht als Kette von Einzelhandlungen begriffen wird, sondern nur im kontinuierlichen Ablauf ihrer Dauer („durée“, ebd.: 53) besteht. Auch Momente von Reflexivität, etwa in Form des Nachdenkens über das eigene Tun, können deshalb nur als integrale bzw. verwobene Aspekte dieser praktischen Ganzheit wirksam werden - mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt: ‚Reflexionsschleifen‘ müssen parallel zum Vollzug des beständigen (Weiter-)Handelns in Alltagsvorgänge eingebunden werden und können deshalb nur einen Teil der subjektiven Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Das hat zur Folge, dass mit Notwendigkeit bestimmte Elemente einer jeden Praxis ihrer Bewusstwerdung entgehen. Dem ersten Teil dieses Problems wird im Schichtungsmodell des Handlungsbewusstseins - es weist nicht zufällig gewisse Ähnlichkeiten zu psychoanalytischen Subjekt-Topiken auf - unmittelbar Rechnung getragen. Tatsächlich übernimmt Giddens von Sigmund Freud die Vorstellung, dass unbewusste und vorbewusste Strukturen der Psyche in hohem Maße Einfluss auf das menschliche Verhalten nehmen (vgl. ebd.: 57f.). Er überführt sie in ein Schema, das von der allgemeinen Verhaltensprägung durch „unbewusste Motive“ über das „praktische Bewusstsein“ des Routinewissens bis hin zum „diskursiven Bewusstsein“ expliziten Regelwissens reicht (vgl. ebd.). Dass es dabei tatsächlich nur um die prinzipielle und zudem begrenzte Möglichkeit einer stufenweisen Handlungsbeeinflussung gehen kann, wird ohne weiteres klar, wenn man sich noch einmal die unauflösbare Zeitlichkeit von Praxis vor Augen führt: Es ist durch den kontinuierlichen Fluss des Handelns faktisch unvermeidbar, dass „unbeabsichtigte Handlungsfolgen“ und „unerkannte Handlungsbedingungen“ (ebd.: 56) fortwährend als aktuell unreflektierte Faktoren einströmen und Störungen hervorrufen können (vgl. Abbildung 3). unerkannte Handlungsbedingungen reflexive Steuerung des Handelns Handlungsrationalisierung Handlungsmotivation unbeabsichtigte Handlungsfolgen AAbb. 3: Stratifikationsmodell des Handelns (eigene Darstellung nach Giddens) Was das für eine realistische Auffassung von Subjektivität - insbesondere unter den Bedingungen der entwickelten Moderne - heißt, hat Giddens vor dem Hintergrund der Problematik „raum-zeitliche[r] Abstandsvergrößerung“ (Giddens 1995: 24) ausgeführt. Dabei wird zunächst deutlich, dass jenseits von Situationen zeitlicher und räumlicher „Kopräsenz“ (Giddens 1997 [1984]: 116) sozialer <?page no="78"?> 78 Jörg Oberthür Interaktionspartner nicht das ganze Potential reflexiver Handlungssteuerung entfaltet werden kann - vor allem deshalb, weil sich das Alltagswissen in seinen verkörperten Aspekten erst im Gegenüber von realen Körpern (Mimik, Gestik, Position im Raum etc.) aktualisiert (vgl. ebd.: 116ff.). Wenn das Wesen der reflexiven Modernisierung von Gesellschaften dennoch in Steuerungsversuchen sozialer Kontexte auch über große Spannen hinweg besteht (vgl. Giddens 1995: 32f.), dann nur deshalb, weil auf kollektiver Ebene Reflexivität durch institutionalisiertes Wissen akkumulieren kann (vgl. ebd.: 54ff.). In erster Linie geht es hierbei um die Ausweitung von Expert_innenwissen und dessen funktionale Integration in komplexe Organisationsformen, die durch technische Möglichkeiten (z.B. elektronische Kommunikationsmedien) ihre Reichweite im 20. Jahrhundert erheblich vergrößert haben (ebd.: 40f.). Ohne Frage führt die Vermehrung der damit verbundenen Reflexionsressourcen zur Steigerung von Gestaltungmöglichkeiten individueller und kollektiver Handlungspraxis (z.B. hinsichtlich entfernter Kooperations- und Kommunikationspartner, der Verfügbarkeit von Problemlösungswissen zu verschieden Zeiten und an verschiedenen Orten usw.). Jenseits eines unerlässlichen basalen Vertrauens in die Funktionsfähigkeit solcher Wissenssysteme (vgl. ebd.: 49) impliziert sie aber auch erhöhte Anforderungen an die individuelle Entscheidungsfähigkeit beim Übergang von abstraktem Wissen zur konkreten Alltagspraxis. Unter dem Einfluss vermehrter Erkenntnisse über soziale, ökologische und ökonomische Regeln und Zusammenhänge und wegen der mit damit einhergehenden zunehmenden Kontingenz ergeben sich schließlich auch qualitativ neue, individuell zu bearbeitende Risiken (vgl. ebd.: 50f., 156ff.) - eine Diagnose, mit der sich der Kreis zur Individualisierungstheorie Ulrich Becks schließt. Angesichts dessen müssen nun, so Giddens, gesellschaftspolitische Einschätzungen und die Strategien der Bearbeitung von Unsicherheiten überdacht und andere Wege eingeschlagen werden. Gemeint ist damit vor allem eine Abkehr von der Orientierung am nachträglich ansetzenden, staatlichen (insbesondere sozialstaatlichen) Gefahrenausgleich (vgl. Giddens 1999: 209) und eine Hinwendung zu solchen Programmen, die die Ressourcen reflexiver Handlungsfähigkeit und Problembewältigung schon frühzeitig bei den Akteur_innen selbst bzw. in mikropolitischen Kontexten aktivieren (vgl. ebd.: 217ff.). Mit dieser Quintessenz des politischen Gehalts der Strukturierungstheorie zeichnet sich jedoch auch ab, welche Einwände erhoben werden könnten: Denkbar ist zunächst, dass die funktionale Inanspruchnahme von Subjekten zur Bewältigung defizienter Strukturen von Sozialstaatlichkeit auch das Gegenteil politischer Gestaltung und Partizipation bewirkt. Die Begriffe der ‚Autonomie‘ und ‚Reflexivität‘, wenn man sie als Realisierung mitunter vage formulierter diskursiver Leitbilder begreift, sagen aus dieser Perspektive über die reale Handlungsfreiheit und die Authentizität der ‚angebotenen‘ Lebensentwürfe noch wenig aus. Schließlich ließe <?page no="79"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 79 sich fragen, ob das ‚Subjekt‘, das von den unbewussten Motiven bis zum ‚diskursiven Bewusstsein‘ immer auch Produkt gesellschaftlicher Prägungsbzw. Sozialisationsprozesse ist, überhaupt die normativen Lasten tragen kann, die sich seit der frühen Moderne mit dem Versprechen seiner Aufklärung verbunden hatten. Es sind Problemstellungen wie diese, die im Übergang zur ‚Spätmoderne‘ verstärkt in den Blick genommen werden. 22.3 Späte Moderne: Subjektivierung als ‚Selbstunterwerfung‘ - poststrukturalistische Kritik der Individualisierungsthese Die bislang letzte Phase gesellschaftstheoretischer Subjektivierungsdebatten, die nun auch unter diesem Titel - bzw. präziser unter dem Begriff der ‚Subjektivation‘ (vgl. Reckwitz 2017a) - geführt werden, setzt mit einer zeitlich verzögerten Rezeption der Schriften des französischen Philosophen Michel Foucault (1926- 1984) gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein. Insbesondere für die kritische Analyse moderner Formen institutionalisierter Macht und Herrschaft, die in ihrer relativen Gewaltfreiheit subtiler geworden sind, und für die Dekonstruktion von Normalitätsvorstellungen, auf denen diese wesentlich beruhen (vgl. Schrage 2006: 4124ff.; Link 2006 [1996]), sowie schließlich für die Sichtbarmachung von Machtverhältnissen im Innersten des modernen ‚Selbst‘ haben sich die Methoden und Theorien des französischen ‚Poststrukturalismus‘ (siehe Textbox zu ‚Strukturalismus und Poststrukturalismus‘) als fruchtbar erwiesen. Zu dieser Denkströmung werden neben Michel Foucault z.B. auch Autor_innen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Judith Butler gezählt. H INTERGRUND & D EBATTE : Strukturalismus und Poststrukturalismus Ferdinand de Saussure, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Linguist in seiner Monographie „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ (2001 [1916]) eine Theorie zur Erklärung der Genese sprachlicher Bedeutungen entwarf, gilt als Begründer des Strukturalismus. Dieser wurde später von Claude Lévi-Strauss (1908-2009) für die Ethnologie und Soziologie weiterentwickelt. Saussure ging davon aus, dass die Bedeutung sprachlicher Äußerungen („parole“, ebd.: 17) nicht aus der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem entsteht, sondern einem relationalen Beziehungsgeflecht, dem grammatischen System der Sprache („langue“, ebd.) selbst, entspringt (vgl. ebd.: 135ff.). Weil damit auch Ideen und Gedanken in ihrer propositionalen Gestalt als sprachlich-strukturell verfasst begriffen werden <?page no="80"?> 80 Jörg Oberthür können, wird das Subjekt an sich zum Element der sprachlichen Struktur. Poststrukturalistische Autor_innen greifen diese Überlegungen unter dem Blickwinkel der Wirkmächtigkeit diskursiver Ordnungen, ihrer praktischen Manifestationen und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Erfahrungsräume und Grenzziehungen auf, betonen aber, dass die Diskurse selbst umkämpft bleiben und Machtphänomene damit Bedingung ihrer Existenzmöglichkeit sind (vgl. Foucault 1991a [1974]: 9ff.). Foucault selbst wendet sich im Laufe seines Werkschaffens zunächst den epistemologischen Ordnungen und Diskurssystemen, d.h. vor allem den historischen Bedingungen von ‚Wahrheit‘ und Erkenntnis (vgl. Foucault 1969; 1971; 1973), dann aber zunehmend der geschichtlichen Veränderung und gesellschaftlichen Erzeugung von Subjekten zu (vgl. Schrage 2006: 4125ff.). Autonomie und Unterwerfung als zwei scheinbar konträre Qualitäten der bisher diskutierten Individualisierungsphänomene im Vergesellschaftungsprozess werden dabei so zusammengedacht, dass Spannungen zwischen Emanzipation und institutionellem Zwang als konstitutiv für den Modus operandi eines einheitlichen Subjektivierungsprozesses verstanden werden können. Insbesondere Foucaults Publikationen zur Veränderung des Strafsystems und zur Geschichte der Sexualität sind dafür instruktiv. In „Überwachen und Strafen“ (1991b [1976]) zeichnet Foucault in akribischer Archivarbeit nach, wie sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein spürbarer Wandel der Bestrafungspraxis in der französischen Gesellschaft vollzieht und wie an die Stelle grausamer, auf körperliche Verstümmelungen zielender Strafexzesse augenscheinlich zivilisiertere Formen treten: „[B]innen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstückelte, verstümmelte […] Körper verschwunden. Verschwunden ist der Körper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression“ (ebd.: 15). Dieser zunächst in erster Linie historisch interessante Vorgang erweist sich bei näherer Betrachtung indessen nicht nur als Ausdruck eines reformierten Strafsystems, sondern als Beginn einer neuen Phase gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Sie ist charakterisiert durch den markanten Unterschied zwischen der absolutistischen Monarchie und der in ihr gebündelten „Souveränitätsmacht“ (Foucault 2001 [1976]: 282) und dem modernen Staat, mit dem sich auch eine Veränderung des sozialen Stellenwerts der Individuen vollzieht. Die Annahme, dass es sich dabei hauptsächlich um einen Ausdruck zunehmender Aufklärung und Befreiung handelt, wird von Foucault aber in mehrfacher Hinsicht konterkariert (vgl. Schrage 2006: 4125). Das nun aufkommende neue System mit seiner zwar weniger exzessiven, dafür aber umso lückenloser überwachenden Bestrafungspraxis steht zum einen im Zeichen eines lediglich rationaleren Machttypus, den Foucault unter der Überschrift der „Disziplin“ (Foucault 1991b [1976]: 171) bzw. der <?page no="81"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 81 „Disziplinartechnik“ (Foucault 2001 [1976]: 285) analysiert. Er zielt darauf, Menschen zuzurichten, sie formbar zu machen und in das Spiel der politischen, juristischen und ökonomischen Funktionen der Gesellschaft einzufügen (vgl. Schrage 2006: 4125f.). Zum anderen zeigt Foucault, dass und wie das ‚autonome‘ Selbst dabei als Schaltstelle, aber weder ontologisch noch im normativen Sinne als Voraussetzung gesellschaftlicher Macht betrachtet werden kann. Subjekte und Objekte, Menschen und Körper, ihre Konfiguration in Zeit und Raum und die Logik der Verknüpfungen bilden erst zusammen eine Einheit, die Machteffekte überhaupt erst produziert (vgl. Foucault 1991b [1976]: 259f.). Diese ‚produktive‘ Seite disziplinarischer Macht lässt sich besonders gut am panoptischen Gefängnismodell von Jeremy Bentham studieren (vgl. ebd.: 256ff.). In seiner spezifischen Verbindung von technischen, psychologischen und politischen Aspekten ist es nach Foucaults Einschätzung prägend für die gesamte Bandbreite moderner Institutionen und ihrer Machtwirkungen geworden (vgl. ebd.: 269ff.). Benthams Entwurf sah eine Gefängnisarchitektur vor, die durch die perimetrische Anordnung von Gefangenenzellen um einen zentralen Überwachungsturm und durch die ausgeklügelte Beleuchtung der ganzen Anordnung ein Regime kontinuierlicher „Sichtbarkeit“ bei vollständiger Unsichtbarkeit der Überwachenden erlaubte (vgl. ebd.: 257ff.). Während das ‚Panopticon‘ durch seine räumliche Gliederung und die Vereinzelung der Insassen insofern als bauliche Metapher der repressiven Seite von ‚Individualisierung‘ gelesen werden kann, entspricht für Foucault die psychologische Wirkung des Überwachungsapparats der Genese von modernen Subjekten überhaupt: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ (ebd.: 260) Der Gedanke, dass Individualisierung die Internalisierung äußeren Zwangs bedeutet, findet sich in ähnlicher Weise auch bereits bei Norbert Elias formuliert, der den Zivilisationsprozess als Entwicklung hin zur zunehmenden Affektkontrolle beschreibt (vgl. Elias 1939). Was Foucaults Sichtweise hiervon unterscheidet, ist aber zum einen die Auffassung, dass ohne Unterwerfung unter die Instanzen der gesellschaftlichen Macht keine vorgängige Subjektivität der Individuen entstehen kann (vgl. hierzu auch Butler 2001: 8). Zum anderen zeichnet sich im Verlauf von Foucaults weiteren Forschungsarbeiten zunehmend ab, dass auch Affektimpulse und triebhafte Entäußerungen des vermeintlich ungezügelten Selbst - namentlich etwa des sexuellen Begehrens - durch und durch vermachtet sein können. So seltsam angesichts dessen der Vergleich moderner Gesellschaften in ihrer Ganzheit mit einem ‚Gefängnis‘ anmuten mag - und Foucault geht in der Tat <?page no="82"?> 82 Jörg Oberthür soweit, diesen Vergleich nahezulegen (vgl. Foucault 1991b [1976]: 269ff.) -, so evident ist doch, dass die permanente Selbstüberwachung von Verhaltensweisen und die diesbezügliche Arbeit am eigenen Selbst ebenso wie die Sanktionierung von Versuchen, sich dieser zu entziehen, zum festen Bestandteil des Alltagslebens geworden sind. Neue soziale Medien und ihre Netzwerke, Leistungskennzahlen in den verschiedenen Lebensbereichen sowie schließlich der kompetitive Vergleich mit anderen, aber auch das Zurschaustellen intimster Details aus dem eigenen Leben und die darin anschließenden Anerkennungsrituale lassen vermuten, dass Selbstüberwachung, Selbstdarstellung und Selbstidentität in der Spätmoderne eine immer dichtere Verbindung eingehen. Komplementär zur individuellen Disziplinierung, in deren Ergebnis sich das jeweilige Subjekt als Träger_in einer spezifischen Merkmalskombination, eines gesellschaftlich normierten Willens und einer bestimmbaren Position im sozialen Raum konstituiert, erscheint die moderne Gesellschaft damit als umfassende, komplexe und beständig expandierende Wissensordnung. Mit dem Begriff des Diskurses als Raum der „Möglichkeitsbedingungen dessen, was in einer Kultur, zu einer bestimmten Zeit gedacht oder gesagt werden kann“ (Bublitz 2003: 20), wurde von poststrukturalistischen Autor_innen die Wirkmächtigkeit bzw. Wirklichkeit erzeugende Kraft der sprachlichen Seite dieser Wissensordnungen hervorgehoben. In „Überwachen und Strafen“ zeigt Foucault zudem auf, wie sprachliche und materielle Praxen, vermittelt durch Kontroll- und „Objektivierungsmechanism[en]“ (Foucault 1991b [1976]: 287), ein im engeren Wortsinn ‚gewaltiges‘ Wissen generieren, das die modernen Humanwissenschaften ermöglicht, ebenso wie es von ihnen immer wieder neue Impulse bezogen hat (vgl. ebd.: 288). In seinen Publikationen zur geschichtlichen Entwicklung der Sexualethik (Foucault 1983; 1986a; 1986b) hat Foucault die Untersuchung dieses Zusammenhangs mit Blick auf eines der intimsten Felder menschlichen Verhaltens vertieft. Vor allem im ersten Band dieser Reihe, der unter dem Titel „Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen“ („La volonté de savoir“, Foucault 1983) veröffentlicht wurde, zeichnet er jedoch nicht nur die historischen Verschiebungen und spezifischen Erscheinungsformen der Sexualität, sondern zugleich auch die Konturen und die ubiquitäre Durchsetzung eines weiteren gesellschaftlichen Machttypus nach. Von Foucault als „Bio-Macht“ (ebd.: 135) bezeichnet, ergänzt dieser die Disziplinarmacht in komplementärer Weise: Hatte letztere die Institutionalisierung von Prozeduren und Strukturen mit sich gebracht, die am individuellen Körper und seiner funktionalen Inklusion in soziale Organisationsformen ansetzen, so zielt die Bio-Macht auf die „Bevölkerung“ im Ganzen (ebd.). Abermals im Kontext der Erfordernisse einer expandierenden Ökonomie - namentlich auch hier der kapitalistischen Produktionsweise (ebd.: 136) - geht es dabei um die Steigerung von Effizienz. Gesundheitsfragen, Geburtenraten und Sterblichkeit, die gesamte Bandbreite der sich auf Bevölkerungsentwicklung und -planung richtenden Maßnahmen, in einem Wort: die „Biopolitik“ (ebd.: 135), gelten nun <?page no="83"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 83 einem „Gesellschaftskörper“ (ebd.), der sich aus den ‚disziplinierten‘ Körpern der Einzelnen zusammenfügt. Bio-Macht als Grundprinzip ermöglicht es in Foucaults eigenen Worten, „die Kräfte, die Fähigkeiten, das Leben im ganzen [sic! ] zu steigern, ohne deren Unterwerfung zu erschweren“ (ebd.: 136). Subjektivierung bzw. ‚Subjektivation‘ (im Sinne einer Subjekt-Werdung und ‚Selbstunterwerfung‘ von Individuen) kommt hierbei auf zweierlei Weisen ins Spiel. Foucault zeigt zunächst, dass von der Praxis der christlichen Beichte im 17. Jahrhundert (vgl. ebd.: 26) bis zu den anamnestischen Verfahren der modernen Medizin (vgl. ebd.: 68f.) eine Diskursivierung der Sexualität sich Bahn bricht, die gerade von der Idee ihrer notwendigen Enttabuisierung und Befreiung angetrieben wird. Weil aber die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder formulierte und variierte „Repressionshypothese“ des unterdrücken Sexes (vgl. ebd.: 20ff.) das Sprechen über Sex als vermeintlich subversive Praxis provoziert, hat sie entscheidend dazu beigetragen, ein System öffentlichen Wissens entstehen zu lassen, auf welches Bio-Macht sich stützt (vgl. ebd.: 38ff.). Das von sich sprechende Subjekt ist gleichzeitig Produkt der Macht und notwendige Existenzbedingung seiner selbst. Der damit einhergehende unsichtbare Zwang zur Offenbarung, der von Judith Butler unter der Überschrift der praktischen ‚Performativität‘ von Geschlechtsidentitäten analytisch weiter ausgearbeitet wurde (siehe hierzu Kap. 3), bleibt für die Handelnden aber jederzeit riskant: Wie sich am Beispiel des medizinischen Diskurses der Sexualität ablesen lässt, erfolgt zusammen mit der Bestimmung ihrer kategorialen Struktur als Konstante des menschlichen Verhaltensrepertoires eine relativ rigide Grenzziehung zwischen ‚Normalem‘ und dem ‚Pathologischem‘, zwischen der gesunden Sexualität und ihren „Perversionen“ (vgl. ebd.: 41ff.). Diese Grenzziehung, die das von Bio-Macht und Disziplinarmacht gemeinsam gebildete Feld der Wirklichkeit umschließt, kennt in der Gesellschaft keine Außenseite: Sie ist die Differenz, die die Möglichkeit der Subjektivität an die Unmöglichkeiten ihres jeweils ‚Anderen‘, Unaussprechlichen und nicht mehr Akzeptierten bindet. Dieser Sachverhalt verliert viel von seiner Abstraktheit, wenn man ihn auf Diskriminierungserfahrungen und Normierungsimperative in der Gegenwartsgesellschaft bezieht, denen sich Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierungen, vor dem Hintergrund von Geschlechternormen und Attraktivitätsvorstellungen (vgl. Villa 2008), wegen ‚Behinderungen‘ (vgl. Pfahl 2011) oder auch wegen der ihnen zugeschriebenen ethnischen Merkmale (vgl. Broden/ Mecherill 2010) ausgesetzt sehen. Phänomene wie diese erklären auch, dass zu Beginn des 21. Jahrhundert ein großes sozialwissenschaftliches und philosophisches Interesse an einer Theorie entsteht, deren empirischer Bezugspunkt im eigentlichen Sinne die Phase der frühen Moderne bildet. Dennoch haben sich in der Rezeption Foucaults zwischenzeitlich Modifikationen und Erweiterungen ergeben. Stellvertretend für viele lässt sich das anhand von <?page no="84"?> 84 Jörg Oberthür Gilles Deleuze und dessen poststrukturalistischer Gesellschaftsdiagnose zeigen. In seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ (1993) beschreibt Deleuze, wie die sich gegeneinander abgrenzenden „Einschließungsmilieus“ (ebd.: 255) der Foucaultschen Disziplinargesellschaft von den fluideren, mobilisierten Überwachungstechniken und Funktionsprinzipien der moderneren „Kontrollgesellschaft“ verdrängt und überboten werden (ebd.: 256f.), mit denen auch Subjektivierung zu einem qualitativ gesteigerten, niemals abschließbaren Vorgang wird: „In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit etwa fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation […].“ (ebd.: 257) Der dynamische Charakter der hiervon ausgehenden Normierungsimperative lässt sich indessen sehr gut mit Jürgen Links Begriff des „flexiblen Normalismus“ (2006 [1996]: 452) fassen. Die durch statistische Verteilungsmaße gewonnenen Zonen der Normalität werden hierbei breiter und ihre Grenzen verschieblicher (ebd.: 356). Gleichzeitig folgt daraus, dass in flexibel normalisierten Gesellschaften Inklusion aktiv durch die Akteur_innen selbst, d.h. durch sozialen Vergleich mit anderen und durch situative Anpassungsleistungen betrieben werden muss (ebd.: 363, 374f.). Ulrich Bröckling (2007) wiederum hat diese spätmoderne Fassung des Selbstbestimmungsideals, das sich hierbei unter der Hand einmal mehr in eine obligatorische Vorbedingung sozialer Teilhabe verwandelt, treffend mit dem Bild des „unternehmerische[n] Selbst“ charakterisiert. Die Kennzeichnung ist durchaus doppeldeutig, weil sie impliziert, dass Menschen nunmehr auch das eigene Leben wie ein Unternehmen unter Effizienz- und Konkurrenzgesichtspunkten ‚managen‘ müssen, und weil die jeweils individuelle Zuschreibung von Verantwortlichkeit im Erfolgswie im Versagensfall auch makroökonomisch opportun erscheint (vgl. ebd.: 71f.). Auffällig ist die Nähe dieses Befundes zu Max Webers Studie über die kulturellen Ursprünge des kapitalistischen ‚Geistes‘. Im Unterschied zum religiös grundierten Angstaffekt, den dieser als Bindeglied zwischen dem calvinistischen Prädestinationsdogma und dem entstehenden Kapitalismus beschrieben hatte, wird damit in der Spätmoderne scheinbar allerdings die positive Besetzung der eigenen Selbstwirksamkeit zum Vehikel von Machtverhältnissen und das Leben im ‚stahlharten Gehäuse‘ eine permanente Aufforderung zur Selbstverwirklichung. Diese Diagnose lässt sich stellen, sie bedarf angesichts der eklatanten Exklusionserfahrungen, die im Falle weniger stromlinienförmiger Biographien und fehlender Selbstverwertungsmöglichkeiten drohen, allerdings noch immer der Ergänzung durch den Blick auf die repressive Seite von Subjektivierung. Vor allem Judith Butler hat in ihrem Buch „Die Psyche der Macht“ (Butler 2001) unter Einbezug psychoanalytischer Erklärungsansätze versucht, die grundlegenden Mechanismen <?page no="85"?> 2 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 85 des ambivalenten Verhältnisses von Subjektwerdung und Selbstunterwerfung aufzudecken. In Analogie zur Situation des heranwachsenden Kindes, das seine primären Beziehungen als existenzerhaltende Verschränkung von Liebe und Abhängigkeit erfährt (ebd.: 13), das im Prozess seiner weiteren Subjektivierung diese Ausgangskonstellation jedoch verleugnen muss (ebd.), um ‚Selbst‘ zu sein, kann so auch die generelle Widersprüchlichkeit von Subjektivierung insgesamt entschlüsselt werden: Sie bedeutet, dass das „Ich“ des Individuums „gebunden an das, was es nicht wissen will, von sich selbst geschieden ist und nie ganz es selbst werden oder bleiben kann“ (ebd.: 15). Aus dieser Perspektive wird die Möglichkeit partieller Konvergenzen von Subjektivität und Vergesellschaftung nicht abgestritten, sondern vielmehr als notwendig begriffen. Es zeigt sich aber, dass zwischen dem sozialen ‚Selbst‘ und dem ‚Ich‘ des Individuums ein Rest an Differenzen bleibt, dessen diskursive und praktische Verdrängungen poststrukturalistische Gesellschaftstheorie markieren und darin kritisch sein kann. 22.4 Resümee Individualisierung und Subjektivierung bilden keine identischen Sachverhalte, wohl aber kann Erstere mit Ulrich Bröckling (2007: 23) als historische Ausprägung der Letzteren verstanden werden. Der Individualisierungsprozess selbst stellt sich im Durchgang durch die drei Phasen gesellschaftlicher Modernisierung dabei als beständiges Oszillieren zwischen Freisetzungs- und Vergesellschaftungsprozessen dar. Beginnend mit der frühen Moderne und der Ausdifferenzierung von Handlungssphären, institutionellen Feldern und Gruppenstrukturen erhöht sich zunächst die Komplexität personaler und kollektiver Identitäten bis zu einem Grad, der das soziale Band als solches unter Spannung bringt und gesellschaftliche Integration zu gefährden beginnt. Von Theorien dieser Entwicklungsstufe wird die Frage nach dem Subjekt vor allem als Problem der Ordnung gerahmt. In der entwickelten Moderne gelingt es zwar durch die Inklusion eines nunmehr reflexionsfähigen, eigenverantwortlichen Subjekts in den entsprechend aufgeweiteten sozialen Rahmen und durch optionale Möglichkeiten praktischer Lebensgestaltung, die zentrifugalen Kräfte der Individualisierung einzufangen bzw. zu ‚funktionalisieren‘. Dabei werden zum einen allerdings mehr und mehr Anpassungsleistungen und Integrationserfordernisse in das Subjekt selbst verlagert, so dass Problemstellungen psychosozialer Art (vgl. Riesman et al. 1950) sowohl für die Praxis als auch für die Gesellschaftstheorie zunehmend an Bedeutung erlangen. Zum anderen zeigt sich, dass die Inklusion ‚des‘ Subjekts längst nicht alle Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung akzeptiert, sondern vor allem <?page no="86"?> 86 Jörg Oberthür solche Synergien fördert, durch die das autonome Handeln sich in die Reproduktionsnotwendigkeiten eines auf Leistungssteigerung angelegten gesellschaftlichen Gesamtsystems - namentlich im Kontext seiner Ökonomie, aber auch über diese hinaus - einfügen lässt. Moderne Subjektivität in Freiheit oder unter Zwang erweist sich vor diesem Hintergrund nicht lediglich als eine Frage der Perspektive, sondern als Ausdruck von Widersprüchen, die sich im Durchschnitt des ‚Normalfalls‘ und der ‚gelingenden‘ Biographie invisibilisieren, an den Randzonen - dort, wo die Ausgrenzungen des Normalitätsregimes zu greifen beginnen - aber deutlich erfahren werden können (vgl. hierzu die Anmerkungen zu Jürgen Link im vorigen Abschnitt). Die These, dass Gesellschaftstheorien deshalb entweder eine „negative“, „positive“ oder „ambivalente Individualisierung“ beschreiben, wie sie Markus Schroer (2000: 14ff.) aufstellt, kann im Anschluss an spätmoderne Theorieansätze so reformuliert werden, dass Subjektivierung als solche nur zugleich positiv und negativ begreifbar ist. Mit der poststrukturalistischen Macht- und Subjektivierungsanalyse wird durch die Operation einer radikalen Umkehrung der Vorzeichen zentraler gesellschaftstheoretischer Basisbegriffe (wie z.B. ‚Macht‘ als Strukturkategorie, ‚Autonomie‘ und ‚Subjektivierung‘ als Selbstunterwerfung, Repression als Hervorbringung, Sprache als Wirklichkeit) erreicht, dass die verdrängte Seite dieses Verhältnisses sichtbar werden kann. Theoretische Kritik im Namen der Subjekte selbst wird hierdurch allerdings um vieles komplizierter - ihre Möglichkeit besteht dann letztlich darin, wie es Martin Saar formuliert, die Geschichte der Subjektwerdung als diejenige der Schließung und Öffnung von Kontingenz (neu) zu erzählen: „Erzähle mir die Geschichte der Genese meines Selbstverständnisses als eine Geschichte der Macht auf eine solche Weise, dass ich beim Zuhören so, wie ich glaubte, unwiderruflich sein zu müssen, nicht mehr sein will, und dass ich beim Zuhören auch begreife, dass ich so nicht sein muss.“ (Saar 2007: 128) Fassen wir zusammen: Das Subjekt wird von den unterschiedlichen Gesellschaftstheorien selbst nicht als Grundeinheit des Sozialen, als seine ‚Basis‘ angesehen, steht aber im Schnittpunkt sozialer Beziehungen, die diese Grundeinheiten ausmachen. Als Person, als Individuum, als ‚Mensch‘ ist es dabei Träger_in und Adressat_in von Erwartungshaltungen, normativen Ansprüchen, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten, die ‚subjektiv‘ zugerechnet werden können und insofern eine Voraussetzung für die Kontinuität gesellschaftlicher Praxis bilden. Dynamisiert wird dieses basale Verhältnis durch - und dies gilt für den Gegenstand der Subjektivierung vielleicht in besonderer Weise - immanente soziale Widersprüche, die hier konkret zwischen Bestrebungen der Autonomie und den Strukturerfordernissen ihrer institutionellen Verankerung bestehen. Sie zeigen sich von der „Tragödie der Kultur“ (Simmel) und dem „stahlharten Gehäuse“ (Weber) über die „Fahrt mit dem Dschagannath-Wagen“ (Giddens) bis zur „Psyche der <?page no="87"?> 1 Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis 87 Macht“ (Butler) und dem „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling) als durchgängiger Topos der Subjektivierungsdebatten. So unterschiedlich die jeweiligen Analysen dieser Widersprüche ausfallen, so verschieden sind auch die Perspektiven ihrer Bearbeitung, die dabei aufgezeigt werden. Sie reichen von den Idealen der Aufklärung und dem daraus sich ableitenden Projekt gesellschaftlicher Emanzipation durch Wissenserweiterung, wie es noch für die Ansätze der entwickelten Moderne emblematisch ist, bis zur kritischen Dekonstruktion dieses Fortschritts- und Aufklärungsdiskurses selbst, die durch poststrukturalistische Autor_innen der Spätmoderne betrieben wird und an deren Ende eigentlich nur noch die Erkenntnis des möglicherweise unaufhebbar paradoxalen Moments moderner Subjektivität stehen kann. Wäre an dieser Stelle jedoch ein Ausblick zu wagen, so ließe er sich vielleicht mit der Feststellung verbinden, dass vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein das Feld der Arbeit und die Ökonomie einer sich im zunehmenden Maße dynamisch stabilisierenden Wachstumsgesellschaft (vgl. Rosa et al. 2017) den Horizont für die Frage des Subjekts darstellten. Die Vermutung, dass diese Wachstumsordnung möglicherweise nicht alternativlos ist (vgl. für einen Überblick AK Postwachstum 2016) lässt vorsichtige Überlegungen zu eventuell ganz anders gelagerten Subjektivitäten zu (vgl. Graefe 2016). Gleichzeitig zeigt sich auch aktuell bereits, dass Facetten des Lebens jenseits der ökonomischen Verwertungslogik von Produktions- und Reproduktionsarbeit, jenseits der ‚Normalbiographien‘ in westlichen Industrienationen und im Hinblick auf die generell zunehmende Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit eine Erweiterung des subjektivierungstheoretischen Instrumentariums erfordern, die gerade erst begonnen hat. <?page no="89"?> 33 Geschlechtlichkeit J ORIS A. G REGOR , P ETER S CHULZ , J ANOS S CHWAB Auch wenn aktuell Stimmen aus einschlägig politisch motivierten Kreisen und vom Vatikan laut hörbar sind, die so tun, als ob die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlecht unwissenschaftlich und eine besonders ärgerliche Form der Ideologie sei, standen und stehen die wissenschaftliche Redlichkeit, Notwendigkeit und Relevanz von Geschlechterforschung aus interdisziplinärer gesellschaftstheoretischer Perspektive nie zur Debatte. Zweigeschlechtlichkeit hat nicht erst seit der Moderne eine bedeutende Funktion für die Ordnung mitteleuropäisch-nordamerikanischer (und durch sie kolonial beeinflusster) Gesellschaften. Die Differenzierung in zwei Geschlechter ist nicht auf die Unterscheidung von Lebewesen als männlich oder weiblich (oder in seltenen Fällen ‚zwischengeschlechtlich‘) beschränkt, sondern ist tief in der gesellschaftlichen Ordnung verankert: Das Wissen um das eigene Geschlecht ist an kulturellen Codes orientiert und strukturiert die Interaktion nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch die Wahrnehmung anderer Lebewesen (insbes. Tiere, Nutzpflanzen), die Bewertung von Konsumprodukten (Kleidung, Drogerieartikel, Nahrungsmittel) oder die Einordnung von Handlungsmustern (‚männliche‘ vs. ‚weibliche‘ Eigenschaften und Befähigungen). Kurz: „Struktur und symbolische Ordnung setzen auf das soziale Klassifikationssystem der Zweigeschlechterordnung auf, wie sie umgekehrt die Geschlechterdifferenz (re)produzieren“ (Pimminger 2012: 124). Zweigeschlechtlichkeit (‚gender‘ 15 ) wird so - neben weiteren Struktur- und Prozesskategorien wie beispielsweise die sozio-ethno-kulturelle Verortung (‚race‘), sozioökonomische Positionierung (‚class‘) oder körperlich-geistige Befähigung (‚dis_ability‘ 16 ) - zu einem strukturierenden Moment von Gesellschaft(en), das das Alltagserleben der Individuen einer Gesellschaft orientiert und dessen Komplexität reduziert. Die Kategorie ‚Geschlecht‘ ist also für alle Mitglieder einer Gesellschaft im Prinzip verfügbar, selbstverständlich und jederzeit abrufbar, und die jeweilige Ausgestaltung dieser Differenzierung folgt im Allgemeinen normativen 15 Im Anschluss an Lena Eckert (2016) und Ulrike Klöppel (2010) verstehen wir, mit Blick auf die Genese des Begriffs, gender als explizit zweigeschlechtlich konzipierte Kategorie. Die Analysekategorien sex und gender wurden 1968 von Robert Stoller zur Beschreibung und Rechtfertigung von geschlechtszuweisenden Experimenten an intergeschlechtlichen Menschen entwickelt (vgl. Eckert 2016 und siehe Textbox zu ‚Sex und Gender‘ in Kap. 3.2.4). 16 Diese Schreibweise soll verdeutlichen, dass es keinen klaren Dualismus ‚behindert - nicht behindert‘ gibt, sondern ‚dis_ability‘ verschiedene Formen annehmen kann, die sich auf physischer, psychischer und/ oder kognitiv-geistiger Ebene zeigen. <?page no="90"?> 90 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Prinzipien. Die Zweigeschlechtlichkeit erscheint durch die auf allen drei Ebenen vergeschlechtlichte gesellschaftliche Ordnung - Struktur, symbolische und soziale Ordnung - als naturhafte Notwendigkeit, die für die Individuen Handlungsanleitungen bereitstellt, wie sie sich als das eine oder andere Geschlecht zu verhalten haben und wie mit dem einen oder dem anderen Geschlecht umzugehen sei. Dieser Verhaltenskodex läuft nur begrenzt bewusst ab und kann insbesondere bei jenen Menschen, die geschlechtlich den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechen - d.h. cis- 17 und endogeschlechtlich 18 sind -, latent gehalten werden. Vergeschlechtlichte Handlungen bleiben damit also so lange überwiegend präreflexiv, wie sie konflikt- und reibungsfrei vollzogen werden können. Geschlecht in diesem Sinne als Strukturkategorie zu identifizieren heißt auch, dass Geschlecht ‚nicht nicht interagiert werden kann‘, um eine Wendung von Paul Watzlawick (2000 [1967]) zu entlehnen: Unsere Handlungen orientieren sich gleichsam zwingend, aber nicht zwingend bewusst an geschlechtlichen Vorstellungen, und (re)produzieren damit die soziale Wirklichkeit, die ihnen diese Orientierung erst gibt. Geschlecht und gesellschaftliche Struktur sind damit auf äußerst komplexe und tiefgreifende Weise miteinander verschränkt, und durch die Allgegenwärtigkeit der Zweigeschlechtlichkeit wird Geschlecht im kollektiven Gedächtnis zur Naturtatsache, die dementsprechend mit (vermeintlich eindeutig binären) körperlichen Merkmalen begründet werden kann: „Die Naturalisierung des Körpers ermöglicht den Rückgriff auf seine Biologie als Gegebenes und somit die Absicherung normativer Setzungen“ (Gregor 2015: 29). Der Diskurs der Frauen- und Geschlechterforschung kann insofern seit jeher als Debatte über den ‚Ort‘ der Natur in Sozialität am Beispiel des Geschlechts verstanden werden. Zum einen werden Naturalisierungen von ‚weiblichen‘ Eigenschaften durch männliche Wissenschaftler entschieden zurückgewiesen, zum anderen entsteht - wie auch die Darstellung der Thesen Mathilde Vaertings zeigen wird - lange vor Judith Butlers paradigmatischem Postulat, die Definition von Natur sei immer schon die kulturalisierte Perspektive auf das scheinbar ‚Unzugängliche‘ der Sozialität, eine innerdiskursive Debatte darüber, wo (und ob) diese Grenze zwischen Natur und Kultur zu ziehen sei. 17 Cisgeschlechtlich (cis [lat.] ‚diesseits‘; im Ggs. zu trans [lat.], ‚über-‘ ‚hindurch-‘) meint, bei der Geburt von medizinischer Seite eine zweifelsfreie Diagnose als weiblich oder männlich erhalten zu haben, diesem diagnostizierten Geschlecht entsprechend erzogen worden zu sein und diese Erziehung nie angezweifelt zu haben. 18 Der Begriff ‚endogeschlechtlich‘ (endon [gr. ‚innen‘) hat sich mittlerweile als weitere Möglichkeit etabliert, Menschen zu bezeichnen, die bei der Geburt eine zweifelsfreie Diagnose als weiblich oder männlich erhalten haben, die auch später nicht in Zweifel gezogen wird. Endogeschlechtlichkeit bezieht sich ausschließlich auf die körperlichen Merkmale und markiert so Individuen als nicht-intergeschlechtlich (von inter [lat.] ‚zwischen‘). <?page no="91"?> 3 Geschlechtlichkeit 91 Aus den qua Körpereigenschaften zugeschriebenen Eigenschaften und Befähigungen ergibt sich durch die oben bereits angedeutete unterschiedliche Wertigkeit eine Hierarchie im Geschlechterverhältnis, die auf allen drei Ebenen der gesellschaftlichen Ordnung als Machtverhältnis eingeschrieben ist. Die kulturelle und symbolische Ordnung stehen immer in wechselseitiger Beziehung mit den sozialen Gehalten ihrer Strukturkategorien. Eine allgemeingültige, ‚objektive‘ Beschreibung von Geschlechtlichkeit kann es damit nicht geben, weder, wenn die_der Forscher_in ihre_seine Herkunftsgesellschaft beschreibt, noch wenn sie_er eine Forschung über andere kulturelle Zusammenhänge durchführt. Oyèrónk Wissenschaftler_innen bei der Beforschung anderer kultureller Konzepte oft eine strukturelle Zweigeschlechtlichkeit annehmen. Ihr verzweigeschlechtlichter Blick führt im Zirkelschluss dazu, dass sie diese Strukturierung dementsprechend nachweisen können. darauf, dass ‚westliche‘ Anthropolog_innen so daran scheiterten, afrikanische Gesellschaften in ihrem Eigensinn zu verstehen, weil ihre zweigeschlechtliche Perspektive sie übersehen lässt, dass es möglicherweise wichtigere Distinktionsmerkmale als Geschlecht in einer nicht-‚westlichen‘ Gesellschaft gibt (vgl. e ihre soziale Welt über die Vorstellung organisieren, dass Körper männlich oder weiblich sind r gegen die enorme Relevanz dieser Vorstellung aus und zeigt beispielsweise, dass in der Yoruba-Gesellschaft Alter eine wesentlichere Rolle in der Sprache spielt als Geschlecht. Pronomen werden dort nicht mit einem Geschlechtsmarker versehen, sondern verweisen darauf, ob die Person, die angesprochen wird, älter oder jünger ist als die_der Sprecher_in, während sich die Unterteilung in zwei Geschlechter vor allem in Institutionen finde - einem Vermächtnis der Kolonialmächte (vgl. Annahmen, die über das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit (Hagemann-White 1984) vorherrschen, sind also historisch-geographisch relativ und somit immer als zeitlich und räumlich verortet zu definieren. Damit verwoben sind immer jeweils situative Machtkonstellationen, die eine je unterschiedliche Beziehung zwischen Geschlechtlichkeit und Macht zeitigen. Auch wenn Geschlecht mittlerweile als „Kategorie soziologischer Gesellschaftsanalyse“ (Bublitz 2010 [1992]: 88) in mancher Einführungs- und Grundlagenliteratur genannt wird, ist ein systematischer Einbezug in gesellschaftstheoretische Abhandlungen bisher nicht zu verzeichnen. Viele sich als gesellschaftstheoretisch argumentierend gerierende Autor_innen schreiben von einem geschlechtlich nicht gekennzeichneten (meist männlichen und weißen) Standpunkt aus, ohne diesen offenzulegen und zu reflektieren. Mit einer solchen Auslassung weiterer gesellschaftlich relevanter Perspektiven fehlt die notwendige Mehrdimensionalität für eine gegenstandsangemessene Gesellschaftstheorie. Da wir der Meinung sind, dass ohne die Berücksichtigung des jeweiligen Standpunkts, von dem aus geschrieben wird, und der daraus folgenden notwendigen Komplexitätssteigerung <?page no="92"?> 92 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab durch die Perspektiverweiterung die Gütekriterien für eine Gesellschaftstheorie nicht erfüllt sein können, verstehen wir Geschlecht als eine bedeutende Differenzierungskategorie für Gesellschaftstheorie (neben sozio-ökonomischer Positionierung und sozio-ethno-kultureller Verortung; vgl. Mecheril 2013; siehe auch Kap. 4 und 5). Das (nicht nur wissenschaftliche) Sprechen über Geschlechtlichkeit geschieht immer aus einer partikularen Perspektive. Diese sollte eine Sensibilität entwickeln für bestehende und vergangene gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit verbundene Verwerfungen und Hegemonien. Die Repräsentation von Wissen ist immer verortet, historisiert, verkörpert und partikular (vgl. Haraway 1995: 73-97). Die Sensibilität für die Partikularität der eigenen Perspektive muss auf vier Ebenen operieren, wenn sie den von ihr soziologisch untersuchten Gegenstand angemessen darstellen und diskutieren möchte: Erstens muss die Auseinandersetzung auf der Ebene der sozialen Positionierung des schreibenden Subjekts und dessen Implikationen erfolgen. Es ist zu reflektieren, in welcher Weise die eigene Perspektive auf den Gegenstand beschränkt ist und welche Beweggründe die eigene Forschung leiten. Die zweite Ebene ist die des spezifischen zeitlichen und geographischen Kontexts, in dem sich das dargestellte Wissen bewegt und damit verbunden ist drittens die Ebene der machtkritischen Reflexion über die mögliche Reichweite des im - hier präsentierten - mitteleuropäischen, weißen Raum produzierten Wissens und seine Auswirkungen auf marginalisierte, außer- oder randständige diskursive Positionen. Viertens ist die Ebene der Strukturierung des sozialen Kontexts mitzudenken, in den die Kategorie Geschlecht intersektional eingebettet ist; die Fokussierung auf eine Kategorie läuft immer Gefahr, die strukturell mit ihr verbundenen Aspekte (hier: race - class - dis_ability/ body etc.) ‚unscharf‘ werden zu lassen und gesellschaftlich bedeutende Strukturierungen damit zu vernachlässigen. (Vgl. Gregor 2019) Die Partikularität einer Perspektive zeigt sich selbstverständlich auch bei den im Folgenden vorgestellten drei Frauen- und Geschlechterforscherinnen. Wir haben Mathilde Vaerting, Simone de Beauvoir und Judith Butler als Stellvertreterinnen der frühen, entwickelten bzw. Spätmoderne ausgewählt, weil sie aus unserer Sicht wichtige Beiträge zum mitteleuropäisch-nordamerikanischen feministischen und gesellschaftstheoretischen Diskurs geleistet haben. Der Einfluss der Ansätze von Beauvoir und Butler auf die Diskursentwicklungen der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung muss als paradigmatisch eingestuft werden. Den Ansatz von Mathilde Vaerting sehen wir hingegen als einen bisher unberechtigterweise (nicht nur) von der Soziologie vernachlässigten, wertvollen und ertragreichen Beitrag, den wir hier ‚rehabilitieren‘ und sichtbar machen möchten, um seine Rezeption etwas wahrscheinlicher zu machen. Vaertings Werk trägt zwar aus heutiger Sicht nichts wesentlich Neues zur Analyse der Geschlechterverhältnisse bei, jedoch hätte die Autorin aus unserer Sicht eine Klassikerin feministischer Theorie werden können, wären ihre Analysen nicht durch die Zäsur des <?page no="93"?> 3 Geschlechtlichkeit 93 Nationalsozialismus und die gegen sie ausgesprochenen Publikations- und Ausreiseverbote, die auch die Fortsetzung ihrer Forschung und ihren Wiedereintritt in den Wissenschaftsbetrieb nach 1945 behinderten, in Vergessenheit geraten. Wir halten die Theoreme der ausgesuchten Theoretikerinnen für geeignet, die jeweilige Stoßrichtung der je historisch spezifischen Motivationen und Ziele feministischer Bemühungen in Wissenschaft und Politik stellvertretend zu repräsentieren. Neben der Darstellung ihrer zentralen Thesen und Konzepte setzen wir die damit einhergehende Notwendigkeit der Reflexion ihrer Position im Diskurs und der Reichweite ihrer Überlegungen um, indem wir ihre Publikationen und ggf. politischen Bemühungen in den historischen Kontext der sog. ersten, zweiten und dritten Welle der Frauenbewegungen 19 einbetten. Wir werden in der theoretischen Darstellung unser besonderes Augenmerk auf die Synthesis von Geschlecht und Macht legen, um im abschließenden Resümee die Dynamis dieses Verhältnisses seit der frühen Moderne bis heute herausarbeiten zu können. 33.1 Frühe Moderne: Mathilde Vaerting Die erste Welle der Frauenbewegungen im europäischen Raum lässt sich in etwa eingrenzen auf die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts (seit der Märzrevolution 1848/ 49) bis zur Machtübernahme des Nationalsozialismus, aber auch im 18. Jahrhundert hatten bereits einzelne Frauen wie Olymp de Gouges oder Mary Wollstonecraft Menschenrechte und die Umsetzung der Grundprinzipien der Aufklärung auch für Frauen gefordert. Die bürgerlichen Feministinnen stritten für die Partizipation von Frauen an verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, darunter zuvorderst die Einführung des Frauenwahlrechts (für weiße Frauen), der Zugang zu den Universitäten (als Studentinnen, später auch als Professorinnen) und die Anerkennung der Erwerbsarbeit bürgerlicher Frauen, während im Rahmen der Arbeiter_innenbewegung eine proletarische Frauenbewegung die Gleichstellung der Erwerbsarbeit, den Kampf gegen häusliche Gewalt und die Überwindung des Kapitalismus zentral setzte (auf sie geht auch der Internationale Frauenkampftag zurück, der seit 1921 am 8. März, dem Jahrestag des Beginns der russischen Februarrevolution, begangen wird). Ein notwendiger Schritt für die Umsetzung dieser Ziele war es, zu zeigen, dass Frauen den Männern in ihren Befähigungen ebenbürtig sind und aus diesem Grunde das gleiche Recht haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Frauen, die diese Rechte 19 Die Literatur teilt die (fortlaufend aktiven, durch den Nationalsozialismus im deutschsprachigen Raum jedoch einer Zäsur unterzogenen) Frauenbewegungen im mitteleuropäisch-nordamerikanischen Raum in drei Epochen, die zeitlich in etwa unserer Einteilung in frühe, entwickelte und späte Moderne entsprechen. Der Plural möchte die Vielfalt der unterschiedlichen Aktivitäten innerhalb der sozialen Bewegung abbilden. <?page no="94"?> 94 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab für sich einforderten, waren starken Widerständen ausgesetzt. Ihre Bestrebungen galten als widernatürlich und wurden von Seiten der (zumeist männlichen) Gegner_innen 20 der Bewegung abgewertet und pathologisiert. So erging es auch Mathilde Vaerting (1884-1977), die 1923 nach Margarethe von Wrangell als zweite Frau in Deutschland und erste Frau an der Universität Jena eine Stellung als Professorin erhielt. 33.1.1 Biographische Notizen Mathilde Vaerting wird nach einem Studium der Mathematik, Philosophie, Chemie und Physik in Bonn, München, Marburg und Gießen 1907-1911 zur Dr. phil. promoviert. Sie publiziert 1921 den ersten Band der „Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib“ unter dem Titel „Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche Eigenart im Frauenstaat“, in dem sie erstmals die These vertritt, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern vor allem Produkte der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sind. Das Werk macht sie über ihre Fachbereiche Sexualwissenschaft und Reformpädagogik hinweg bekannt. Es folgt 1923 Band zwei, „Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie“, in dem Vaerting die Thesen aus dem ersten Band psychologisch zu begründen sucht. Der in beiden Bänden angekündigte dritte Band, der versuchen soll, „die wirklich und nicht nur scheinbar angeborenen psychischen Unterschiede der Geschlechter aufzudecken“ (Vaerting 1921: 2), ließ sich bei unseren Recherchen nicht ausfindig machen. 21 „Die Macht der Massen“, der erste Band einer geplanten vierbändigen Reihe zur „Soziologie und Psychologie der Macht“, erscheint 1928. 22 Wie viele ihrer Vorgängerinnen und Zeitgenossinnen publiziert sie unter einem männlichen Pseudonym (Mathias Vaerting), damit ihre Schriften wissenschaftlich anerkannt werden. Nach ihrer Berufung zur ordentlichen Universitätsprofessorin für Soziologie und Pädagogik durch den sozialdemokratischen thüringischen Volksbildungs-minister 1923 wird Vaerting durch die Universität (und ihre Professoren) signalisiert, dass sie nicht an die Universität gehöre. Die ablehnende Haltung ihr gegenüber ändert sich bis zu ihrer Entlassung 1933 nicht. Vaerting war es bis zu ihrer Entlassung 20 Aufgrund der ideologisch verankerten Zweigeschlechtlichkeit des NS und den damit einhergehenden eugenischen und rassenhygienischen Maßnahmen halten wir es hier für angebracht, zu verzweigeschlechtlichen. 21 Es kann gemutmaßt werden, dass die Veröffentlichung des dritten Bandes der Reihe aufgrund des Publikationsverbotes im Nationalsozialismus und der Vernichtung von Vaertings Notizen 1944 (siehe unten) nicht erfolgen konnte. 22 Nach eingehender Recherche in Archiven (Jena, Bielefeld) und Bibliothekskatalogen weltweit sowie der Nachforschung beim Lauinger Verlag ließ sich darüber hinaus nur der dritte Band der Reihe ausfindig machen: „Die Macht der Massen in der Erziehung“ erscheint 1929. <?page no="95"?> 3 Geschlechtlichkeit 95 nicht möglich, ihre Stellung zu verändern, weil sie weder über persönliche noch politische Verbindungen innerhalb der Universität verfügte; die Ablehnung begründeten ihre Gegner auch mit der Behauptung, Vaerting sei nur berufen worden, weil sie eine der sozialdemokratischen Regierung entsprechende radikale Gesinnung habe (vgl. Wobbe 1992: 36). Über ihre gesamte Zeit in Jena wird Vaerting als „Zwangsprofessorin“ betrachtet und mit verschiedenen Mitteln durch ihre Kollegen bekämpft: „Die gezielten Diskriminierungen […] erfuhr Mathilde Vaerting mit aller Konsequenz am eigenen Leibe“ (Wobbe 1994: 128f.). Unter anderem werfen Kollegen aufgrund der Verwendung des Pseudonyms die Frage nach der Autor_innenschaft ihrer Werke auf oder diskreditieren ihre wissenschaftliche Kompetenz, und Ludvig Plate veröffentlicht 1930 eine Polemik gegen Vaerting mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ (Plate 1930). 1933 wird Vaerting mittels des §4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von der Universität entlassen. Ihr werden ein Ausreise- und ein Publikationsverbot auferlegt, wodurch sie Rufe in die Niederlande und die USA nicht annehmen kann. „Für Mathilde Vaerting beginnt nun eine zurückgezogene und einsame Zeit“ (Wobbe 1994: 130). Bei einem Bombenangriff auf Berlin 1944 verbrennen viele ihrer Notizen - ein möglicher Grund, warum die Reihe „Soziologie und Psychologie der Macht“ unvollständig bleibt. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verlässt Vaerting 1945 Berlin und zieht zunächst nach Darmstadt und später mit ihrer Schwester und ihrem Lebensgefährten nach Schönenberg im Schwarzwald. Sie veröffentlicht verschiedene Abhandlungen, insbesondere zur Staatssoziologie. Vaerting stirbt 1977 mit 93 Jahren; der Ort ihres Grabes ist nicht ausfindig zu machen (vgl. Wobbe 1994: 130). 33.1.2 Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib Die Geschlechtertheorie Mathilde Vaertings basiert maßgeblich auf der Annahme, dass Frauen und Männer nicht grundsätzlich verschieden sind, sondern erst die Vorherrschaft eines Geschlechts über das andere zur Herausbildung unterschiedlicher Geschlechtscharaktere führe. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen würden in der Folge fälschlicherweise orientiert an diesen angenommenen Unterschieden ausgelegt. Zwar gebe es darüber hinaus biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern (vgl. Vaerting 1921: 9), diese ließen sich derzeit aber nicht herausarbeiten, weil die Konzeption wissenschaftlicher Untersuchungen falsch angelegt sei. Vaertings Ziel in ihren Arbeiten ist eine grundlegende Kritik der Geschlechterpsychologie ihrer Zeit. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts sich die Ansicht verbreitet, Frauen und Männer seien gleichwertig, aber nicht gleichartig. Zwar hat Vaerting zufolge diese Annahme die Inferioritätstheorie, also die Theorie der weiblichen Unterlegenheit abgelöst, jedoch wird fortan in der Forschung mit großem Eifer die Unterschiedlichkeit der Geschlechter betont und belegt. Wie bereits Theresa Wobbe (1994) herausgearbeitet hat, stellt diese Konstruktion von Unterschieden <?page no="96"?> 96 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab für Vaerting den zentralen Mechanismus bei der (Re)Produktion von Herrschaft generell und somit auch in der Eingeschlechterherrschaft dar: „Mit jeder Vorherrschaft, ganz gleichgültig, wer die Träger sind, geht das Bestreben einher, Unterschiede zwischen den Herrschenden und den Beherrschten nicht nur in der Praxis auszubilden, sondern auch in der Theorie festzulegen.“ (Vaerting 1923: 13) Im Folgenden stellen wir die aus unserer Sicht zentralen Einsichten und Konzepte ihrer geschlechtertheoretischen Analysen vor. Nachdem wir die eingeschlechtliche Vorherrschaft und ihre Folgen für das Geschlechterverhältnis dargestellt haben, erläutern wir das für Vaerting zentrale Moment ihrer Geschlechterpsychologie, die Sexualkomponente. Abschließend möchten wir die von Vaerting eher implizit formulierten wissenschaftstheoretischen Einsichten referieren. Während Vaertings Unterschiedskonstruktion und die wissenschaftstheoretischen Überlegungen uns bis heute anschlussfähig erscheinen, erscheint uns die Sexualkomponente (nicht nur) aus heutiger Perspektive an verschiedenen Stellen problematisch, und sie weist zudem Lücken in der Konzeption auf. Wir stellen sie in ihrer Unvollständigkeit und partiellen Unangemessenheit dennoch dar, weil Vaerting sie als zentrales Moment ihrer geschlechtertheoretischen Überlegungen kennzeichnet. Die in den 1980er Jahren im Zuge der Institutionalisierung feministischer Wissenschaft formulierte feministische Wissenschaftskritik findet sich hier bereits in Ansätzen wieder. 33.1.3 Eingeschlechtliche Vorherrschaft und die Macht des Unterschieds Vaerting identifiziert neben Geschlecht zwar auch weitere Merkmale, die die Position der Individuen in der Gesellschaft bestimmen, allen voran analysiert sie jedoch die von ihr so genannte eingeschlechtliche Vorherrschaft oder Eingeschlechterherrschaft. Sie versieht ihre Überlegungen in „Wahrheit und Irrtum“ jedoch mit dem Hinweis, dass die Charakteristika verschiedener Herrschaftsformen durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Vaerting definiert die eingeschlechtliche Vorherrschaft als ein Herrschaftsverhältnis innerhalb von Gesellschaften, in dem „ein Geschlecht die Macht auf sich vereinigt, trotz des Vorhandenseins von zwei verschiedenen Geschlechtern“ (Vaerting 1923: 4). Prinzipiell betont Vaerting, dass sich der Machtunterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten in der Eingeschlechterherrschaft stetig wandelt und verschiebt. Das Machtverhältnis der Geschlechter sei, so die spekulative These, dem Gesetz der Bewegung unterworfen, die Vorherrschaft ändere sich in Form einer Pendel- oder Wellenbewegung, die durch andauernde kleine Machtschwankungen verkompliziert würde (vgl. ebd.: 161). Diese Dynamik der Macht unterteilt sie in die Phasen der Unterordnung (des beherrschten unter das herrschende Geschlecht), des Widerstands (aufgrund zu hohen Drucks durch die Beherrschung) und der Machtergreifung der Beherrschten, die als herrschendes Geschlecht wiederum Druck auf die Beherrschten ausüben - die Pendelbewegung wiederholt sich unter umgekehrten geschlechtlichen Vor- <?page no="97"?> 3 Geschlechtlichkeit 97 zeichen. Der Machtwechsel sei letztlich Ergebnis einer Überspannung der Macht, diese „ruft […] die Kräfte zu ihrem eigenen Sturze auf den Plan“ (ebd.: 164). Den Grund hierfür sieht sie auch darin, dass das vorherrschende Geschlecht seine Macht missbrauchen könne, weil es niemandem Rechenschaft schuldig sei (vgl. ebd.). Die durch die unterschiedliche Erziehung zum Mann oder zur Frau in der Praxis ausgebildeten Geschlechterunterschiede sind für Vaerting Folge der Machtverteilung; sie erscheinen den Individuen jedoch als angeboren und damit als Begründung für den Machtunterschied (ebd.: 14). So bringt die Unterschiedskonstruktion einen Abstand zwischen den Geschlechtern und eine Ähnlichkeit innerhalb der Geschlechter hervor - zugunsten des herrschenden Geschlechts, da die Eigenschaften jeweils nur einem Geschlecht zugeordnet und die Eigenschaften des herrschenden Geschlechts positiv konnotiert werden. In der Folge streben die Beherrschten danach, wie die Herrschenden zu werden, ihre Unterlegenheit zu überwinden. Da der Abstand jedoch quasi-ontologisch festgeschrieben ist, müssen sie zwangsweise scheitern. Die Beherrschten bilden aufgrund der ihnen zugeschriebenen ‚minderwertigen Eigenschaften‘ ein geringes Selbstvertrauen aus, das auch daraus resultiert, dass die Individuen in der Eingeschlechterherrschaft von ihrer Unter- oder Überlegenheit überzeugt sind und die Herrschaft anerkennen (ebd.: 14f., 31f., 54). Einige der zugeschriebenen Eigenschaften und ihre Auswirkungen auf Frauen unter der männlichen Herrschaft analysiert Vaerting näher, um deren Bedeutung für die Reproduktion der Herrschaft offenzulegen. Viele Aspekte ihrer Analysen finden sich in ähnlicher Form in Analysen von Feministinnen der zweiten Welle wieder. So arbeitet sie beispielsweise heraus, dass das sexuelle Leben in eingeschlechtlichen Vorherrschaften von einer doppelten Moral geprägt ist, nach der das herrschende Geschlecht sexuelle Freiheiten hat, die dem beherrschten unter Berufung auf Werte, Normen und Gesetze vorenthalten werden (vgl. ebd.: 5ff.). Das herrschende Geschlecht weist dem beherrschten die Rolle des sexuell Schamhaften zu, fasst es vor allem als Geschlechtswesen auf und sieht klare Rollenzuweisungen bei der Werbung vor (vgl. ebd.: 67ff.). Zudem seien auch die Ansichten über die Verteilung von Schönheit und Intelligenz unter den Geschlechtern das Produkt von Herrschaft: Schönheit hänge eng mit der Sexualisierung zusammen, und so sei das beherrschte Geschlecht immer Adressat für Schönheitsnormen. Auch die „Anschauung über die Größe der Intelligenz einer Klasse, Kaste oder eines Geschlechts“ sei ebenso „ein reines Machtprodukt“ (ebd.: 77). Damit stellt Vaerting heraus, dass es auch in eingeschlechtlichen Vorherrschaften keinen Unterschied in der Intelligenz der Geschlechter gebe, sondern es sich hier lediglich um eine Ansicht handele, die als eine Folge der Vorherrschaft einzuordnen sei (vgl. ebd.: 76). ‚Schwatzhaftigkeit‘ wird stereotyp Frauen zugeschrieben. Vaerting zufolge dient das dazu, Frauen zum Schweigen zu bringen. Flankiert wird das damit, dass Frauen, die als ‚aufmerksame Zuhörerinnen‘ gelten, dafür gelobt <?page no="98"?> 98 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab werden - zuhören sollen sie den männlichen Redenden. Dass Frauen weniger sprechen, weil sie andernfalls als schwatzhaft gelten könnten und Anerkennung für Zuhören bekommen, hat Vaerting zufolge zwei Ziele: mögliche Kritik an der Männerherrschaft zu unterbinden und Frauen als Konkurrenz um Wissen auszuschalten. Vaerting folgert, dass das unterschiedliche Redeverhalten, sofern es sich tatsächlich messen lässt, „ein Produkt des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern“ (ebd.: 41) sei. Vaerting verortet daneben die Gründe für die unterschiedliche körperliche Beschaffenheit der Geschlechter in der Arbeitsteilung in Haus- und Erwerbsarbeit (und also in innerhäusliche und außerhäusliche Tätigkeiten, eine Unterteilung, die sich in den Analysen der entwickelten Moderne als private bzw. öffentliche Sphäre wiederfinden wird): „[D]as Geschlecht, welches im Haus beschäftigt ist, [hat] mehr Ruhe und Muße und weniger Bewegung und Aufregung, da die Sorge für die Erhaltung der Familie stets die Pflicht des herrschenden, also außerhäuslich tätigen Geschlechts ist“ (ebd.: 55). Vaerting kommt letztlich zu dem Schluss, dass „die Übereinstimmung der psychischen Anlagen bei beiden Geschlechtern sehr stark sein muß“ (ebd.: 135), und wendet sich mit der an die These anschließenden Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise explizit gegen den offen antifeministischen und frauenfeindlichen Proudhon (vgl. ebd.: 145), der die Gleichberechtigung als Gefahr für das universelle Prinzip der Gerechtigkeit sieht. Vaerting selbst identifiziert die Erkenntnisse aus „Männerstaat und Frauenstaat“ in „Wahrheit und Irrtum“ als „hauptsächlich auf soziologischem Gebiet“ (Vaerting 1923: 7) liegend. Die Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern werden als Auswirkungen der eingeschlechtlichen Vorherrschaft identifiziert und so zu den damaligen Machverhältnissen zwischen den Geschlechtern in Beziehung gesetzt. In „Wahrheit und Irrtum“ fundiert sie ihre Annahme, die eingeschlechtliche Vorherrschaft sei eine bedeutende Fehlerquelle für wissenschaftliche Untersuchungen, psychologisch. Zentral für ihre Argumentation ist hier das Konzept der Sexualkomponente. 33.1.4 Die Sexualkomponente Die Sexualkomponente ist nach Vaerting eine Art der unbewussten Beeinflussung, die die Wahrnehmung der Menschen heterosexuell strukturiert und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern maßgeblich mitbestimmt. Vaerting versteht darunter eine Art ‚sexuelle Influenz‘, die ihre Wirkung in der gemischtgeschlechtlichen Interaktion entfalten kann, aber nicht muss (vgl. ebd.: 66). Wird die Sexualkomponente ausgelöst, kann sie sich in zwei Ausprägungen zeigen: als Lust- oder Unlustbetonung (ebd.: 61), also positive bzw. negative Sexualkomponente. Die Wirkung zeitigt sich hier also als eine psychische Doppelgesichtigkeit (ebd.: 67), die einen bedeutenden Einfluss auf das Handeln und Denken der Geschlechter hat, und so einen tiefgreifenden Einfluss auf das „seelische Geschehen“ (ebd.: 61) nimmt. Für Vaerting liegt in der Sexualkomponente der „wahre Hauptunterschied <?page no="99"?> 3 Geschlechtlichkeit 99 der Geschlechter“, weil sie die „psychische Doppelgesichtigkeit infolge der Wirkung oder Latenz der Sexualkomponente“ (ebd.: 67) hervorbringt. Männer reagieren auf andere Männer anders als auf Frauen, weil im zweiten Fall die Sexualkomponente die Perspektive beider an der Interaktion beteiligten Geschlechter verändert: „Aufgrund der Wirkung der Sexualkomponente würde ein Mann (oder eine Frau) als selbst bei Mann und Weib von ganz gleicher psychischer Beschaffenheit trotzdem Unterschiede konstatieren, die rein auf der durch das Geschlecht bedingten Doppelgesichtigkeit der Psyche beruhen“ (ebd.: 62). Vaerting schließt daraus, dass eine nahezu objektive Darstellung wissenschaftlicher Beobachtungen erst dann erreicht werden kann, wenn „die Erfahrungen und Beobachtungen beider Geschlechter an beiden Geschlechtern“ (ebd.: 63) zusammengebracht würden. Dies erlaube jedoch noch nicht, auf angeborene Unterschiede zu schließen. Die Sexualkomponente übt einen tiefgreifenden Einfluss auf die geistige Entwicklung aus, aus der weitreichende kulturelle Abweichungen und Unterschiede zwischen den Geschlechtern hervorgehen, die sich nicht ohne weiteres herausfiltern lassen. Hier deuten sich Vaertings folgende Untersuchungen zum Einfluss der Erziehung auf die Entwicklung von Individuen bereits an (siehe ihre Veröffentlichung zur Macht). Die Sexualkomponente ist für Vaerting unmissverständlich heterosexuell organisiert. Sie geht zwar kurz darauf ein, dass ihre Wirkung bei lesbischen und schwulen Menschen sich insofern ändert, als dass sich gleichsam die Vorzeichen umkehren: Dem gleichen Geschlecht gegenüber zeige sich nun die positive Richtung, und in Richtung des Gegengeschlechts „scheint eine Tendenz zur Auslösung einer negativen Sexualkomponente vorzuliegen“ (ebd.: 127). Tatsächlich ordnet Vaerting Homosexualität jedoch als Krankheit ein, spricht von „pathologischen Abarten der sexuellen Influenz“ (ebd.) und konzentriert sich dementsprechend auf die „Wirkung der Sexualkomponente in Bezug auf die Beurteilung der Homosexualität vonseiten gesunder Individuen“ (ebd.). Dass Männer und Frauen Homosexualität beim eigenen Geschlecht stärker ablehnen als beim anderen, sieht sie als Wirkung der (heterosexuellen) Sexualkomponente an: „Sie bewirkt eine Verstärkung des Abscheus gegenüber dem eigenen Geschlecht“ (ebd.). Vaerting zieht die Homosexualität also zur Dimensionalisierung der heterosexuellen Sexualkomponente heran - und erliegt, so können wir aus heutiger Sicht festhalten, der auf Ebene der Begehrensstruktur eben jenen Mechanismen, die sie ihren Kollegen im Hinblick auf die Ebene der Geschlechtlichkeit vorwirft. Das bemerkenswerte an der Sexualkomponente ist, dass sie in gewisser Weise der heterosexuellen Matrix Butlers (siehe Kap. 3.3) gleicht - während Butler jedoch bemüht ist, Gründe und Mechanismen der Diskriminierung von nicht-heterosexuellen L(i)ebensweisen aufzuklären, deutet sich bei Vaerting eine Ontologisierung des heterosexuellen Begehrens und damit der Interaktionsstruktur in der Gesellschaft an, die in dieser Form heutigen biologischen und psychologischen Erkenntnissen über das somatische Geschlecht und Begehrensformen widerspricht. <?page no="100"?> 100 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab 33.1.5 ‚Objektive Wissenschaft‘ in der Geschlechterpsychologie Vaerting stellt zu Beginn von „Männerstaat und Frauenstaat“ heraus, dass die „vergleichende Psychologie […] von alters her und auch heute noch auf einer ganz falschen Grundlage“ (Vaerting 1921: 1) basiere: Die bisherige Praxis, innerhalb einer Gesellschaft das herrschende mit dem beherrschten Geschlecht zu vergleichen, führe zu uneindeutigen Ergebnissen, die ebenso soziologisch wie biologisch begründet sein könnten. Aus dieser Perspektive dann auf eine grundlegende Verschiedenheit zwischen Männern und Frauen zu schließen, sei ein Irrtum, es brauche eine neue Vergleichsbasis: „Es dürfen nur Geschlechter verglichen werden in völlig gleicher Lage“ (ebd.), also herrschende Frauen mit herrschenden Männern und beherrschte Frauen mit beherrschten Männern. Ihre Konklusion, die sie gar als „wichtiges Grundgesetz“ bezeichnet, lautet: Die „heutige weibliche Eigenart in ihren Hauptlinien [wird durch] den Männerstaat bestimmt […] und [hat] ihre genaue und vollkommene Parallele […] in der männlichen Eigenart im Frauenstaat“ (ebd.: 2). In „Männerstaat und Frauenstaat“ liefert Vaerting einen solchen methodisch richtigen Vergleich. Sie analysiert vor allem allgemeine Charakteristika der eingeschlechtlichen Vorherrschaft, indem sie verschiedene historische und ethnographische Untersuchungen heranzieht und die Eigenschaften der jeweils herrschenden resp. beherrschten Geschlechter miteinander vergleicht. In „Wahrheit und Irrtum“ nimmt sie darauf aufbauend eine Analyse und Kritik der zeitgenössischen Geschlechterpsychologie vor und arbeitet heraus, dass diese als Wissenschaft unter männlicher Vorherrschaft deren falsche Prämissen und Überzeugungen reproduziert. Vaerting weist auf die Voreingenommenheit der Forscher hin. Ergebnisse von Erhebungen werden immer unter Annahme der ‚weiblichen Inferiorität‘, der Unterlegenheit von Frauen interpretiert. Dies zeigt Vaerting an diversen psychologischen Studien zur Geschlechterdifferenz auf (Vaerting 1923: 15, 23). Sie formuliert bereits hier die im Kontext der feministischen Wissenschaft der zweiten Welle breit rezipierte Einsicht, dass die Varianz der Unterschiede innerhalb einer geschlechtshomogenen Gruppe größer ist als die Varianz zwischen den Geschlechtern (ebd.: 17). Vaerting weist sehr differenziert darauf hin, dass die in quantitativen Studien gemessenen Geschlechterunterschiede einerseits zum Teil eher gering, zum Teil überinterpretiert werden, andererseits werden die Differenzen vorschnell biologisiert, d.h. ihre Ursache in der natürlichen Differenz zwischen den Geschlechtern vermutet. Vaerting gibt hingegen zu bedenken, dass es in einer Gesellschaft mit Eingeschlechterherrschaft immer anerzogene Unterschiede geben wird und diese deshalb nicht eindeutig auf biologische Differenzen zurückgeführt werden können. Vergleichende Studien könnten erst zu ‚objektiven‘ Ergebnissen führen, wenn es keinerlei Unterschiede mehr in der Erziehung gebe. <?page no="101"?> 3 Geschlechtlichkeit 101 Daraus zieht Vaerting den Schluss, dass Wissenschaft nicht objektiv sei, sondern tendenziell mit den jeweils vorherrschenden Denkmustern konform gehe und diese reproduziere: Bei den Herrschenden sei die Beobachtung und Interpretation bei der Erforschung der Geschlechter von der Annahme verfälscht, dass Herrschaft aus Überlegenheit resultiere: Forschungsergebnisse würden im Sinne der Reproduktion der Herrschaft interpretiert (ebd.: 14), die in der Praxis ausgebildeten sozialen und geschlechtlichen Unterschiede würden in und mit der Theorie festgeschrieben. 33.2 Entwickelte Moderne: Simone de Beauvoir Die zweite Welle der Frauenbewegung (ca. 1960er bis 1980er Jahre) setzte die Kämpfe der ersten Welle nach der Zäsur durch den Nationalsozialismus ab den 1950er/ 60er Jahren fort und baute auf deren Erfolgen auf. Die Protagonist_innen forderten nach dem freien Zugang von Frauen an die Universitäten (Beginn des 20. Jh.) und zur Erwerbsarbeit (in Westdeutschland 1977) die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Zentrale Anliegen waren etwa die Bekämpfung der Gewalt im Geschlechterverhältnis (insbes. häusliche Gewalt), die körperlich-sexuelle Selbstbestimmung von Frauen (u.a. die Illegalisierung von Vergewaltigung in der Ehe [1997] und die Legalisierung der Abtreibung [bis heute rechtswidrig, seit 1974 unter bestimmten Voraussetzungen straffrei]) sowie die Kritik an Haus- und Sorgearbeiten als Aufgabe der Frauen. Simone de Beauvoir (1908-1986), deren Werk „Das andere Geschlecht“ die „Erneuerung der feministischen Geschlechtertheorie“ (Connell 2013: 61) einleitete und ein zentraler theoretischer Bezugspunkt der zweiten Welle der Frauenbewegung wurde, verstand sich erst ab 1971 als Teil der Frauenbewegung. 1949, als das Buch erschien, „gab es keinerlei Anzeichen für die künftige Explosion der Frauenbewegung“ (Moi 1996: 327) und Beauvoir setzte ihre Hoffnungen hinsichtlich der Überwindung der Frauenunterdrückung auf die sozialistische Bewegung. 3.2.1 Biographische Notizen Dass Simone de Beauvoir die agrégation, die Zulassungsprüfung für Lehrer_innen der gymnasialen Oberstufe in Frankreich, 1929 als Zweitbeste bestand, war zweifellos Ausdruck ihrer Begabung - zumal sie, anders als der Erstplatzierte Jean- Paul Sartre, aber auch anders als viele andere Männer, die schlechter als sie abschlossen (unter ihnen Maurice Merleau-Ponty), erst 1926 das Philosophiestudium aufgenommen hatte; zugleich war es aber auch Ausdruck sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse: „Gemischte Einstufungslisten in der Philosophieagrégation wurden beispielsweise 1929 eingeführt […]. Frauen war es erst ab 1924 erlaubt, alle Universitätsexamen mit Männern gleichberechtigt abzulegen.“ (Moi 1996: 98) Ihr Abschluss sicherte Beauvoir ihre ökonomische Unabhängigkeit als <?page no="102"?> 102 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Lehrerin und stärkte ihr intellektuelles Selbstbewusstsein. Dennoch dauert es 14 Jahre, bis 1943, bis sie ihr erstes Buch, den Roman „Sie kam und blieb“ veröffentlichte - 1943, dem Jahr, in dem sie unehrenhaft aus dem Schuldienst entlassen wird, offiziell „wegen ‚Verführung Minderjähriger‘ […], nachdem sie die Beziehung einer Schülerin zu einem spanischen Juden verteidigt hatte.“ (Appelt 2007: 228) Von da an lebt sie weitgehend als unabhängige Schriftstellerin, und ihre Arbeit verteilt sich gleichermaßen auf belletristische, theoretische und später autobiographische Schriften, die „enge intertextuelle Beziehungen“ (Moi 1996: 23) aufweisen und gleichermaßen als Ausdruck ihrer gesellschaftstheoretischen Arbeit zu verstehen sind. B EGRIFF & D EFINITION : Gleichheits- und Differenzfeminismus Gleichheit und Differenz sind neben Natur und Kultur zwei der zentralen Begriffe des feministischen Diskurses. Mit dem Aufkommen der Kategorien sex und gender in den 1970er Jahren (vgl. Kap. 3.2.4) werden diese beiden Begriffspaare miteinander verschränkt. Vertreter_innen des Gleichheitsfeminismus berufen sich insbesondere auf das soziale Geschlecht (‚man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht‘) gehen von einer grundsätzlich gleichen Befähigung aller Menschen aus und fordern deshalb eine kompromisslose Gleichstellung von Männern und Frauen. Vertreter_innen des Differenzfeminismus hingegen betonen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, und einige berufen sich nicht nur auf soziale, sondern auch auf biologische Unterschiede. Die ‚weiblichen‘ Eigenschaften werden als entweder gleich- oder höherwertig zu den ‚männlichen‘ Eigenschaften verstanden. Differenzfeminist_innen fordern dem entsprechend eine Gleichbzw. Höherstellung von Frauen, indem sie auf die geschlechtsspezifischen Eigenschaften verweisen und so die bessere oder schlechtere Befähigung eines Geschlechts für bestimmte Handlungsbereiche postulieren. Beauvoir wurde als Vertreterin eines Gleichheitsfeminismus von französischen Differenzfeministinnen wie Luce Irigaray oder Antoinette Fouque für ihren „intoleranten, gleichmacherischen, sterilisierenden Universalismus, der jedes Anderssein haßt“ (Fouque, zitiert nach Moi 1996: 279), scharf kritisiert. Mit dem Aufkommen des poststrukturalistischen oder dekonstruktivistischen Feminismus (siehe Kap. 4.3) werden die Kategorien als solche in ihrer Bedeutung hinterfragt, und eine erneute Diskussion im feministischen Diskurs entsteht. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Debatte vgl. z.B. den gemeinsamen Band von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser (Benhabib et al. 1993). <?page no="103"?> 3 Geschlechtlichkeit 103 Schon 1943 war Beauvoir der Skandalisierung ihrer Arbeiten ausgesetzt, da „Sie kam und blieb“ normenbrechende Formen der Sexualität und des Intimlebens darstellte und zugleich die autobiographischen Bestandteile erkennbar waren. „Das andere Geschlecht“ erregte dann 1949 noch weit größeres Aufsehen. Insbesondere von konservativer und katholischer Seite sah sich Beauvoir „einer beispiellosen Reihe gemeiner und sexistischer Attacken“ (Moi 1996: 274) ausgesetzt, die versuchten, das Werk als Produkt einer sexuell gestörten Frau zu delegitimieren - aber auch Albert Camus, der ihr politisch und theoretisch nahestand, und die männlichen Autoren der parteikommunistischen Presse griffen sie scharf an. Zugleich wurde das Werk, „das einzige Buch, das Frauen [in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, d. Aut.] eine nonkonformistische Analyse ihrer Situation bot“ (ebd.: 275), breit rezipiert. Es brachte Beauvoir in die ambivalente Situation, einerseits aus dem Schatten Sartres herauszutreten, im dem sie als Philosophin in der öffentlichen Wahrnehmung vorher stand, andererseits zukünftig als Feministin, und damit auf Geschlechterfragen reduziert, wahrgenommen zu werden, anstatt als Vertreterin der existenzialistischen Philosophie in toto - obwohl sie sich selbst erst 1971, als sie sich öffentlich der neuen Frauenbewegung anschloss, als Feministin bezeichnete und vorher ihr Werk als sozialistischen Beitrag zur Befreiung verstanden wissen wollte. 33.2.2 Freiheit in Situation Häufig gilt als Zentralbegriff der existenzialistischen Philosophie von Beauvoir und Sartre die ‚Freiheit‘, und zweifellos machte es die Attraktivität dieser Philosophie in den 40er und 50er Jahren aus, dass sie ein Angebot lieferte, wie im Angesicht von Nationalsozialismus, Holocaust und Kollaboration die Freiheit des Individuums zum Widerstand als unbedingt und damit die Menschen als verantwortlich für ihre Handlungen begründet werden können. Ebenso sehr, und wie sich zeigen wird davon untrennbar, ist diese Philosophie aber eine der ‚Situation‘, also der Bedingungen, in und mit denen diese Freiheit praktisch zu realisieren ist. Entsprechend wandten sich Beauvoir und Sartre, nachdem sie die philosophischen Grundlagen ihrer Theorie in „Das Sein und das Nichts“ (1943) und „Pyrrhus und Cineas“ (1944) entwickelt hatten, einerseits der Frage nach einer Theorie der Verantwortung, einer existenzialistischen Ethik zu, Beauvoir mit dem 1947 erschienenen Essay „Für eine Moral der Doppelsinnigkeit“, Sartre mit den nicht fertiggestellten und erst posthum veröffentlichten „Entwürfen für eine Moralphilosophie“, und andererseits den Analysen konkreter Situationen, Sartre zu Jüd_innen mit den „Überlegungen zur Judenfrage“, die er 1944 schrieb, und Schwarzen mit „Schwarzer Orpheus“, 1948, und Beauvoir schließlich 1949 mit „Das andere Geschlecht“ zu Frauen. Die Auswahl der konkreten Situationen, die sie untersuchen, verweist darauf, dass der Begriff der Situation mit dem der Freiheit in einem negativen Verhältnis verknüpft ist. Die Freiheit zu realisieren heißt, die eigene, bisherige Situation zu <?page no="104"?> 104 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab überschreiten - zu transzendieren, wie es bei Beauvoir häufig heißt - und so die Ausgangsbedingungen in der Zukunft zu verändern; die existenzialistische Ethik setzt an einer Kritik der Beschränkung der Freiheit - Herrschaft - an. Die Situationen von Jüd_innen, Schwarzen und Frauen - und auch von Arbeiter_innen, die im Werk der Sozialist_innen Sartre und Beauvoir stets präsent sind - werden daher zum Gegenstand, weil sie von spezifischen Herrschaftsverhältnissen geprägt sind, und der Existenzialismus, als engagierte Theorie, gegen diese Herrschaftsverhältnisse antritt. 33.2.3 Die Ambivalenz der menschlichen Existenz Das negative Verhältnis von Freiheit und Situation bildet dabei sowohl den sozialtheoretischen Kern der Theorie Beauvoirs und Sartres als auch den Gegenstand ihrer konkreten Analysen. Sozialtheoretisch fasst Beauvoir es am Anfang ihres Essays „Für eine Moral der Doppelsinnigkeit“ komprimiert zusammen, indem sie in fünf grundlegenden Bestimmungen die anthropologische Basis dieses Verhältnisses bestimmt. Erstens unterscheidet sie den Menschen von „Tier und Pflanze“, mit denen er zwar seine Leiblichkeit und damit ihre Sterblichkeit teilt. Der „Mensch jedoch kennt“ die Ambivalenz zwischen Leben-Wollen und Sterben-Werden, er „erfaßt sie geistig“ (Beauvoir 2007 [1947]: 79), kann also reflexiv und bewusst auf sie Bezug nehmen. Zweitens versucht der Mensch dieser Ambivalenz zu entkommen und strebt danach seine Freiheit von seinen leiblichen Beschränkungen, deren Fluchtpunkt die Sterblichkeit ist, zu befreien, sich also als Selbstbewusstsein, als Subjekt, zu realisieren. Drittens ist er „gleichzeitig Bewußtsein und Bestandteil dieser Welt“, er ist also nicht nur Subjekt, sondern „erfährt sich […] gleichzeitig als Sache, auf der schwer das Gewicht der anderen Sachen lastet“ (ebd.). Der Mensch ist also nicht nur selbstbewusst und frei, sondern auch, wie es bei Sartre heißt, Faktizität, ein Objekt unter anderen Objekten. Viertens bestimmt Beauvoir die spezifische Zeitlichkeit des menschlichen Seins: In „jedem Augenblick vermag er die zeitlose Wahrheit seines Daseins zu ergreifen, und doch ist dieser Augenblick, in dem er da ist, zwischen der Vergangenheit, die nicht mehr ist, und der Zukunft, die noch nicht ist, ein Nichts.“ (ebd.) Die menschliche Freiheit ist somit kein Zustand, sondern realisiert sich nur in der verzeitlichten Bewegung, in der Menschen ihr bisheriges Sein negieren und so versuchen, eine Zukunft, die sie entwerfen, zu realisieren. Fünftens schließlich muss der Mensch seine Besonderheit, „einzigartiges Subjekt inmitten einer Welt von Objekten“ zu sein, „mit allen seinesgleichen teilen; für die anderen wiederum ist er seinerseits Objekt“ (ebd.). Er ist also Objekt nicht <?page no="105"?> 3 Geschlechtlichkeit 105 nur unter Objekten, sondern auch für andere Subjekte, und somit ein dezidiert soziales Wesen. Diese Sozialität ist dabei für Beauvoir und Sartre latent konflikthaft - und diese Konflikthaftigkeit ist Ausgangspunkt für die konkreten Analysen etwa der Situation der Frau, während die existenzialistische Ethik darauf zielt, mit diese Konflikthaftigkeit nicht-herrschaftsförmig umzugehen, indem sie die „Verantwortung“ (ebd.: 85), die aus der menschlichen Freiheit resultiert, zentral stellt und es somit ablehnt, „a priori zu leugnen, daß vereinzelte Wesenheiten gleichzeitig miteinander verbunden sein können“ (ebd.: 87). Die Ambivalenz, zugleich Subjekt und Objekt, als Selbstbewusstsein Freiheit und als Leib Faktizität zu sein, und dieses Verhältnis niemals einseitig auflösen zu können, bildet also das Zentrum der Sozialtheorie Beauvoirs. Gleichzeitig versucht der Mensch stets, diese Ambivalenz zu bewältigen, wofür es zwei Optionen gibt: Seine Freiheit gegen die bisherige Situation zu realisieren, indem der Mensch „sich von der Welt loszureißen und sich als Freiheit zu bestätigen“ (ebd.: 91) versucht, oder seine eigene Freiheit zu leugnen, sich mit seiner Situation abzufinden und damit ihr Andauern zu befördern. Der Mensch kann zwar nicht wählen, unfrei zu sein, aber er kann wählen, seine Freiheit zu leugnen, indem er das Bestehende wählt (vgl. ebd.: 91, 99). Ausgangspunkt für die Wahlentscheidung ist dabei ein Entwurf, auf den die Freizeit zielt, ein Sein-Wollen des Menschen. Diese Frage - die Frage danach, wie es sein kann, dass Menschen „unaufrichtig“ (ebd.: 98) gegenüber ihrer Freiheit sind - analysiert Beauvoir schon in „Eine Moral der Doppelsinnigkeit“ vergleichend anhand der Situation von Kindern, Frauen (und Sklaven): „[D]em Kind ist seine Situation aufgezwungen, während die Frau (ich verstehe darunter die moderne Frau des Westens) ihre Situation wählt oder zumindest mit ihr einverstanden ist. Unwissenheit und Sichirren sind Tatsachen, die ebenso unabänderlich sind wie die Mauern eines Gefängnisses. […] Sobald jedoch eine Befreiung möglich erscheint, ist der Verzicht auf eine Ausnützung dieser Möglichkeit ein Verzicht auf die Freiheit, ein Verzicht, der Unredlichkeit bedeutet und eine positive Schuld ist.“ (ebd.: 102) Die Wahlentscheidung - für oder gegen die eigene Freiheit, aber auch für eine bestimmte Form, sie zu realisieren - ist dabei mehr als eine Wahl hinsichtlich der jeweils konkreten Entscheidung, sie ist immer auch eine Wahl, was für ein Mensch man sein möchte. Daher spricht Sartre von einem Initialentwurf (vgl. Sartre 2009 [1943]: 805), von dem die konkreten einzelnen Entwürfe letztlich abhängen. Dieser Initialentwurf kann zwar revidiert werden, aber „in Wirklichkeit ist es schwierig, die einmal getroffene Entscheidung zu ändern, weil uns die Welt eine von uns getroffene Entscheidung, welche durch die von ihr geschaffene Welt bestätigt wird, widerspiegelt.“ (Beauvoir 2007 [1947]: 103) Eine solche Revision des Initialentwurfs wäre ein Brechen mit dem bisherigen eigenen Leben. <?page no="106"?> 106 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Beauvoir geht über Sartre hinaus, wenn sie die Sozialisation in den Blick nimmt und feststellt, dass der Initialentwurf in der Kindheit und Jugend entsteht, bevor der Mensch sich seiner Freiheit bewusst ist (vgl. ebd.: 104). Während „durch den Leib keine Verhaltensweise vorausbestimmt“ (ebd.: 105) wird, ist es die Sozialisation und die von ihr nahelegten, unbewussten Wahlentscheidungen der Kindheit und Jugend, die die Grundlage für den andauernden Verzicht auf die eigene Freiheit bilden. 33.2.4 Die Situation der Frau Dies bildet die Basis für die berühmte, paradigmatische Aussage: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (Beauvoir 1968 [1949]: 265), mit der Beauvoir den Abschnitt zur Kindheit in „Das andere Geschlecht“ beginnt. Nie „bestimmen Anatomie und Hormone […] entscheidend eine Situation und stellen kein Objekt auf“, (ebd.: 382) - und es besteht, wie Beauvoir mit Bezug auf trans- und intergeschlechtliche Menschen feststellt, „keine scharfe biologische Grenze“ (ebd.: 383) zwischen Männern und Frauen. Stattdessen ist es die Situation der Frauen, die ihre Verhaltensweisen und ihren Geschlechtscharakter bestimmt (vgl. ebd.: 567). Und diese Situation, so der Kern der Analyse Beauvoirs, ist geprägt von einer Orientierung auf die „Immanenz“ (ebd.), also des Sich-Abfindens mit der eigenen Situation. Anstatt die eigene, menschliche Freiheit zu ergreifen, legt die Situation der Frau nahe, sich mit ihr abzufinden und in ihr einzurichten. Diese Situation versteht Beauvoir zweiseitig: einerseits die konkrete Lebenssituation der (erwachsenen) Frau, andererseits ihre Erziehung und der daraus entstandene Geschlechtscharakter. Die Lebenssituation drängt zur ‚Immanenz‘, indem er der „Frau keine Möglichkeit [bietet], ein positives Werk zu tun und infolgedessen als vollwertige Person Anerkennung zu finden.“ (ebd.: 437). Beauvoir schreibt dies im Angesicht der Situation der bürgerlichen Frau in den 1940er Jahren in Frankreich (also der Situation ihrer Zeit und ihres eigenen Milieus), in der Frauen weitgehend von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Anders als der Mann, der „Zugang zum ganzen Universum hat und sich in Entwürfen behaupten kann“ (ebd.: 425), die er in der Erwerbsarbeit, der Politik usw. realisieren kann, ist die Frau „in die eheliche Gemeinschaft eingeschlossen“ (ebd.). Dort findet sie Hausarbeit vor, die ihrem Charakter nach laut Beauvoir besonders ungeeignet ist, um Entwürfe zu realisieren, da sie stets wiederkehrende Aufgaben stellt, die nie wirklich erledigt sind. Beauvoir zählt dazu das Putzen der Wohnung, das Waschen sowie das Kochen und Backen (ebd.: 426ff.), die zudem nur in Abhängigkeit vom Mann, der der letztliche Bezugspunkt dieser Tätigkeiten (wie auch der weiblichen Körperpflege und -inszenierung [ebd.: 515] und der ehelichen Sexualität) ist, Bedeutung haben. Ein dem Geschlechtscharakter entsprechender Ausweg aus dieser Situation reiner Immanenz bieten Schwangerschaft und die Mutterrolle, da sie das heranwachsende Kind als Überschreitung der Situation im Haushalt verspricht (vgl. ebd.: 495ff.). Aber auch die Mutterrolle bleibt ambivalent, wieder realisiert <?page no="107"?> 3 Geschlechtlichkeit 107 die Frau ihre Freiheit nur in Abhängigkeit und im Dienste eines anderen Menschen. Um zu verstehen, wieso die meisten Frauen (ihrer Zeit) aus dieser Situation nicht auszubrechen versuchen, muss laut Beauvoir auf die Vorstellung des Initialentwurfs und der Hürden, ihn zu revidieren, zurückgegriffen werden. Für die Wahlentscheidungen, die den Initialentwurf begründen und bestätigen, ist die Erziehung zentral, da der Initialentwurf, wie ausgeführt, noch nicht bewusst gewählt wird. Insofern und ausgehend davon, dass das Neugeborene sich zunächst als „sexuell undifferenziert“ (ebd.: 265) auffasst, ist die Erziehung in Kindheit und Jugend dasjenige, was den Initialentwurf geschlechtsspezifisch formt, weil sie selbst geschlechtsspezifisch erfolgt. Diese Geschlechtsspezifik der Erziehung arbeitet Beauvoir anhand zahlreicher Aspekte heraus, mit denen sie erfasst, dass Jungen zur Aktivität erzogen werden, dazu, ihre „Existenz als freie Bewegung in Richtung auf die Welt“ und ihren „Körper als Mittel, die Natur zu beherrschen, und als ein Werkzeug im Kampf“ (ebd.: 275) zu erfassen, während Mädchen zur Passivität erzogen werden. Das Mädchen wird „gelehrt, sie müsse zu gefallen suchen, müsse sich zum Objekt machen, um zu gefallen; sie solle also auf ihre Autonomie verzichten“ (ebd.). In heterodoxer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Freuds arbeitet sie heraus, wie der anatomische Unterschied, einen Penis zu haben oder ihn nicht zu haben (den Beauvoir unhinterfragt als Differenz zwischen Jungen und Mädchen voraussetzt), mit dem Unterschied zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit sowie zwischen Aktivität und Passivität identifiziert wird. Einerseits, weil Beauvoir den Penis als physiologischen Vorteil sieht, ohne den das Mädchen sich, um „zu urinieren, […] hinkauern, sich entblößen und infolgedessen verstecken [muss]: Ein schamvoller und unbequemer Zwang“ (ebd.: 269), vor allem aber, weil „Mütter und Ammen […] die Tradition fort[setzen], die den Phallus mit der Idee der Männlichkeit identifiziert“ (ebd.: 268) und ihn entsprechend symbolisch aufwerten. Der psychoanalytischen These des Penisneids stimmt Beauvoir für das Mädchen zu, rückt sie aber in den Kontext der spezifischen gesellschaftlichen Situation. Er ist „im Leben der erwachsenen Frau [aber] nur bedeutungsvoll, wenn sie ihr Frauentum als eine Verstümmelung empfindet. Dann wünscht sie sich das männliche Organ anzueignen, insofern es alle Privilegien des Mannseins verkörpert“ (ebd.: 668). B EGRIFF & D EFINITION : ssex und g ender 1968 veröffentlich Robert Stoller das Buch „Sex and Gender“, in dem erstmals die Unterscheidung zwischen einem sozialen/ sozialisierten und einem biologischen/ körperlichen Geschlecht festgehalten wird (Stoller 1968). Die (analytische) Unterscheidung von Geschlecht in sex und gender ist aber mitnichten allein durch Stoller konzipiert worden, vielmehr entsteht er im Kontext verschiedener Forschungen zur Geschlechtsentwicklung eines For- <?page no="108"?> 108 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab scher_innenteams an der Baltimorer John-Hopkins-Universität, zu dem neben John Money, Joan und John Hopkins u.a. auch Stoller selbst und Harold Garfinkel zählen. Es werden ab den 1950er Jahren Forschungen an intergeschlechtlichen Kindern durchgeführt, die auf einer „spezifischen Lesart“ (Eckert 2013: 1) der Freudschen Theorien zu weiblicher Sexualität durch Money basieren. Zentrale These ist, dass das psychosoziale Geschlecht vom biologischen abkoppelbar sei, indem vor allem Erziehung und soziale Prägung (imprinting) als entscheidend herausgestellt werden, sich diese jedoch maßgeblich an den Genitalien orientierten. Diese Prämisse erlaubte es den Forscher_innen, den intergeschlechtlichen Körper (vor dem zweiten Lebensjahr und damit ohne Einwilligung der Betroffenen) operativ und/ oder medikamentös einem der gültigen Geschlechter zuzuweisen, auf den die Erziehung dann entsprechend ‚aufsetzt‘. Die Genitalien fungieren in der so genannten gender-imprinting-theory, die bis heute weitgehend und mit nur wenigen Modifikationen den Umgang ‚westlicher‘ Schulmedizin mit intergeschlechtlichen Kindern orientiert, als Scharnier zwischen medizinischer Theorie und Praxis (vgl. Klöppel 2010: 307ff.). Dieses Verständnis von sex als einer körperlich-materiellen Basis, an die die geschlechtsspezifische Sozialisation des entsprechenden gender anschließt, stößt zunächst auf großen Widerhall im feministischen Diskurs in den USA (vgl. Rubin 1975) und breitet sich dann über den feministischen Diskurs des gesamten globalen Nordens und die durch die Kolonialisierung beeinflussten Gebiete aus. Es kann als das zentrale Konzept der feministischen Theorie der zweiten Welle eingeordnet werden. Unkritisch und begeistert bezieht man sich von nun an auf diese Unterscheidung, um die Veränderbarkeit der weiblichen Sozialisation nachzuweisen - und versäumt es, den Entstehungshintergrund des Konzepts zu reflektieren. Bis heute finden nur vereinzelt Hinweise auf seine Entstehung und seine Verwendung als Begründung der operativen Zurichtung der Körper intergeschlechtlicher Kleinstkinder statt, Gayle Rubin gilt bis heute gemeinhin als ‚Begründerin‘ des so genannten sex-gender-Dualismus‘. In den 1990er Jahren beginnt in den USA ebenso wie im deutschsprachigen Raum sukzessive eine kritische Aufarbeitung mit den ersten Veröffentlichungen von und über intergeschlechtliche Personen und die an ihnen verübten Menschenrechtsverletzungen. Im deutschsprachigen Raum ist Gabriele Dietze (2006) die erste, die in einem Artikel in der Zeitschrift Die Philosophin auf die Herkunft der Unterscheidung von sex und gender verweist (vgl. ebd.: 47f.), eine breitere Auseinandersetzung findet jedoch erst ab den 2010er Jahren statt, als die historische Aufarbeitung des gender-Begriffs durch Ulrike Klöppel den medizinischen Umgang mit intergeschlechtlichen Personen und die seine zweifelhafte Herkunft sichtbar macht (vgl. Klöppel 2010). <?page no="109"?> 3 Geschlechtlichkeit 109 Am Phallus wird also festgemacht, wie die Bezugspersonen das Kind behandeln, ob sie es früher oder später entwöhnen, es mehr oder weniger zu Bewegung anhalten oder in bewegungshemmende Kleidung stecken, aber auch, welche Rollenmodelle sie ihm zur Identifikation präsentieren. Dies betrifft sowohl die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil (Beauvoir setzt eine heterosexuelle Paarkonstellation als Eltern voraus), als auch die fiktiven und historischen Vorbilder, da in Märchen wie in historischen Erzählungen die Helden, Eroberer und Künstler männlich sind und die Erzählungen selbst „vom Stolz und den Wünschen der Männer geschaffen wurden.“ (Beauvoir 1968 [1949]: 282). Die Relevanz dieser ideellen Erziehung neben der praktischen ist für Beauvoir nicht zu unterschätzen, „das andere Geschlecht“ besteht aus zwei Teilen. Vor der Analyse der Erziehung und Lebenssituation findet sich der Abschnitt „Fakten und Mythen“, in dem Beauvoir wissenschaftliche Rechtfertigungen, historische Entwicklung und ästhetische Verbrämung der Geschlechterasymmetrie kritisiert. Aus diesen geht ein Ideal hervor, dem das Mädchen ausgesetzt ist, und dem es nie entsprechen kann: „Es genügt nicht, wenn sie heterosexuell, auch nicht, wenn sie Mutter ist, um dieses Ideal zu verwirklichen. Die ‚wahrhafte Frau‘ ist ein künstliches Gebilde, das die Zivilisation erzeugt“ (ebd.: 384). Dieses Ideal leitet „ihre ganze Erziehung“, die darauf zielt, „ihr die Wege der Auflehnung und des Abenteuers zu versperren“ (ebd.: 672), und dabei meist erfolgreich ist. Es wird komplementiert von der Erziehung, die Jungen erleben, und in der Frauen als passive und zu erobernde, unterlegene Objekte auftauchen. Das Ideal hat dabei über die Erziehung hinaus eine Wirkung auf die Situation der Frau: Bricht eine Frau aus ihrer vorgesehenen Rolle aus und erschließt sich selbst etwas Welt, droht die Sanktion ihres Verhaltens in Form von Belästigungen und (angedrohter) Gewalt (vgl. ebd.: 319f.) durch Männer. 33.2.5 Weibliche Sexualität Die Gewalt, die das Geschlechterverhältnis absichert, zeigt sich für Beauvoir besonders deutlich in der heterosexuellen Sexualität. Sie ist geprägt von Metaphern der Eroberung und ihnen entsprechenden Praktiken. Von der Situation der (bürgerlichen) Frauen Frankreichs der 40er Jahre ausgehend beginnt diese für die Frau mit der gewaltsam erfahrenen Entjungferung. „Selbst wenn der Mann rücksichtsvoll und höflich ist, bleibt übrigens die erste Penetration immer ein Akt der Gewalt.“ (ebd.: 361), auch, weil unter Bedingungen fehlender Sexualaufklärung die Frau zu einer zärtlichen, die „Liebkosungen auf ihre[n] Lippen, ihre[n] Brüsten“ (ebd.) begehrenden Sexualität erzieht, den Mann aber zu einer unzärtlichen, die Penetration zentrierenden Sexualität. Die Sexualität ist also vom Geschlechtscharakter ebenso durchzogen wie das übrige Leben (vgl. ebd.: 309), und - wie Beauvoir gegen eine Biologisierung der Sexualität gerichtet schreibt - „die Frau empfindet sich im Liebesakt nur so tief passiv, weil sie sich in ihrem Denken für passiv hält“ (ebd.: 678). <?page no="110"?> 110 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Der Blick auf die Gewalt im Geschlechterverhältnis erlaubt es Beauvoir auch, die Unterscheidungen zwischen legitimer und illegitimer Sexualität zu hinterfragen. Die Gewalt innerhalb des Eheverhältnisses erkennend, verliert es - und die heterosexuelle Paarsexualität insgesamt - seine bzw. ihre - normative Sonderstellung, und Beauvoir kann die eheliche Sexualität mit der Sexualität in der Sexarbeit parallelisieren, die „ihr unmittelbares Gegenstück“ (ebd.: 533) ist. Sexarbeiterin und Ehefrau liefern beide mit dem „sexuelle[n] Akt eine Dienstleistung“ (ebd.: 534), für die sie ökonomisch entschädigt werden; die „Zweite wird auf Lebensdauer von einem einzigen Mann verpflichtet, die Erste hat mehrere Kunden, die sie stückweise bezahlen“ (ebd.). Die Zweite wird „zwar als Ehefrau unterdrückt, aber als Mensch geachtet“ (ebd.), die Erste sei dafür ökonomisch unabhängig. Letztlich ist das Konzept legitimer Sexualität selbst Bestandteil der die Geschlechtscharaktere begründenden Rechtfertigungen, die Beauvoir kritisiert. „Als normal wird das System angesehen, das [die Frau, d. Aut.] als Beute an den Mann ausliefert“ (ebd.: 383) und dessen gewaltsame Herrschaft in der Sexualität rechtfertigt und verlängert. Diese spezifische Normalität, aber auch das Konzept der a/ normalen Sexualitäten insgesamt, widerspricht dabei der existenzialistischen Sozialtheorie der Freiheit in Situation, und entsprechend ist Homosexualität für Beauvoir „eine existenzielle Wahl wie jede andere“ (Moi 1996: 307), und zwar eine Wahl, die versucht, die eigene Autonomie auf dem Feld der Sexualität zu realisieren (vgl. Beauvoir 1968 [1949]: 383) - nachhaltiger als das ebenfalls auf Autonomie zielende Fremdgehen (vgl. ebd.: 528). In lesbischer Homosexualität realisiert sich für Beauvoir eine herrschafts- und gewaltfreie Sexualität, in der „keine Trennung statt[findet], es […] keinen Kampf, keinen Sieg, keine Niederlage [gibt]. Jede ist genau gegenseitig Subjekt und Objekt, Herrscherin und Sklavin zugleich. Die Zweiheit wird zum Mittun.“ (ebd.: 392) Diese gewaltfreie Sexualität ist dabei nicht - denn das stünde der Naturalisierungskritik Beauvoirs entgegen - an die Homosexualität an sich gebunden. Ziel eines freien Verhältnisses zwischen den Geschlechtern ist auch eine Sexualität, in der die Frau „mit Freuden ihr Frauendasein erfüllen [kann], wie es der Mann mit seinem Dasein tut“ (ebd.: 387), die jenseits von Hetero- oder Homosexualität steht, weil die komplementären Geschlechtscharaktere und überhaupt die Einschränkung des eigenen Entwurfs durch das Geschlecht überwunden sind. Unter den Bedingungen der Wirkmacht des derzeitigen Geschlechterverhältnisses ist diese Sexualität für Beauvoir aber wahrscheinlicher zwischen Frauen zu finden. 33.2.6 Das gesellschaftliche Programm der Befreiung der Frau Das Ziel der Kritik Beauvoirs ist die Realisierbarkeit der Freiheit der Menschen. „Für Beauvoir ist das Gegenteil von Freiheit Unterdrückung: In ihrer Problemstellung geht es um Macht, nicht um Identität und/ oder Differenz.“ (Moi 1996: 281) Identität ist für Beauvoir eine Folge der freien Entscheidung, nicht ihre <?page no="111"?> 3 Geschlechtlichkeit 111 Grundlage, und entsprechend lehnt sie eine Kritik der Herrschaft und Unterdrückung auf Basis der Identität ab, zumindest für Frauen, da diese weder über einen gemeinsamen identitätsstiftenden Bezugspunkt vor der Unterdrückung verfügen noch durch ihre Unterdrückung vergemeinschaftet sind, anders als die „Schwarzen Amerikas, [die] Juden im Getto, [die] Arbeite[r] von Saint-Denis oder […] der Renaultwerke“ (Beauvoir 1968 [1949]: 13), und sie träumen auch nicht von einer Gesellschaft ohne die Unterdrücker - die Männer (ebd.). Ein Ende der Herrschaft ergibt sich daher laut Beauvoir nur durch eine wechselseitige Anerkennung der Freiheit auch zwischen Männern und Frauen. Diese wechselseitige Anerkennung hat - wie die Unterdrückung der Frauen - gesellschaftliche Grundlagen: „Eine Welt, in der Mann und Frau gleich sind, kann man sich leicht vorstellen. Denn es ist genau die Welt, welche die sowjetische Revolution versprochen hatte: Die Frauen würden genau wie Männer erzogen und geformt, sie arbeiteten unter den gleichen Bedingungen und um den gleichen Lohn. […] Die Ehe würde auf einer freien Vereinbarung beruhen, welche die Gatten aufkündigen können, sobald sie wollen. Die Mutterschaft wäre frei, d.h. man würde die Geburten-Beschränkung und die Abtreibung gestatten und dafür allen Müttern und ihren Kindern genau dieselben Rechte geben, ob sie verheiratet sind oder nicht. Schwangerschaftsurlaub würde von der Kollektivität bezahlt werden, welche die Betreuung der Kinder übernähme.“ (ebd.: 675) Das bestimmende Kriterium für diese, für das Frankreich der 40er Jahre skandalös radikale Befreiungsperspektive ist das Ende der Passivität in Erziehung und Lebenssituation. In der Lebenssituation durch die Unabhängigkeit der Frau, ökonomisch, rechtlich und sexuell, in der Erziehung zentral durch Professionalisierung, sexuelle Aufklärung (ebd.: 677) und andere Rollenvorbilder. Das Ziel ist dabei nicht, wie es erscheinen könnte, die Abschaffung der Passivität, sondern die Anerkennung der menschlichen Ambivalenz unabhängig vom Geschlecht, in „Wirklichkeit ist der Mann wie die Frau ein Körper, somit eine Passivität“, und „sie ist wie er inmitten des leiblichen Fiebers Einwilligung, freiwilliges Geschenk, Aktivität“ (ebd.: 678). Die Überwindung der Frauenunterdrückung würde also die zweigeschlechtliche Kodierung von Aktivität und Passivität und damit die Geschlechtscharaktere insgesamt obsolet machen. 33.3 Späte Moderne: Judith Butler Die dritte Welle der Frauenbewegung ist weniger deutlich von der vorhergehenden zu trennen und muss als sukzessive sich aus der zweiten Welle herausbildender Strang verstanden werden. Die Reflexionen von Diskriminierung und Benachteiligung innerhalb der Bewegungen (insbes. Rassismus, Heteronormativität) und die damit einhergehende Anpassung der Inhalte und Ziele der Bewegung hin zu einer Berücksichtigung der intersektionalen Verschränkungen der Kategorie <?page no="112"?> 112 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Geschlecht mit anderen Differenzierungskategorien (siehe Kap. 3.2) wurden initiiert durch Kritiken Schwarzer Feministinnen wie Audre Lorde, Angela Davis, Kimberlé Crenshaw oder bell hooks. Die feministischen Bewegungen differenzieren sich so sukzessive weiter aus, indem im Sinne ihres Anspruchs als social justice movements weitere innerhalb der Bewegung marginalisierte Gruppen mit ihren jeweils spezifischen Forderungen und Bedürfnissen berücksichtigt werden. Mit dieser Differenzierung innerhalb der Bewegungen entsteht die Notwendigkeit, das ‚Subjekt der Bewegung‘ theoretisch zu reflektieren. Schon der Schwarze Feminismus hatte mit seiner Kritik darauf verwiesen, dass bei der Verwendung des Begriffs ‚Frauen‘ in der Regel weiße, akademisch gebildete, bürgerliche Frauen adressiert würden und die Lebensrealitäten nicht-weißer, proletarischer, körperlich anders befähigter etc. Frauen nicht abbildeten. Im deutschsprachigen Diskurs werden ab den 1980er Jahren neben Stimmen Schwarzer Frauen (insbes. mit dem und im Anschluss an den Aufenthalt Audre Lordes in Berlin als Gastprofessorin 1984) auch Stimmen aus der Lesbenbewegung hörbar (siehe Kap. 3.2.5), die nicht nur die Heteronormativität der Bewegung kritisieren, sondern im Anschluss an Beauvoir auch auf den emanzipatorischen Gehalt lesbischer Beziehungen verweisen (vgl. prominent Schwarzer 1975). Das Sichtbarwerden weiterer marginalisierter Phänomene in den Bewegungen (bspw. dis_ability, nicht-monogame L(i)ebensweisen, Transgeschlechtlichkeit) lassen das Sprechen von ‚dem‘ Feminismus und ‚den‘ Frauen fragwürdig erscheinen; die theoretische Reflexion der immer komplexeren Anforderungen an die feministische Bewegung findet sich insbesondere in poststrukturalistischen Ansätzen repräsentiert. Mit „Gender Trouble“ legt Judith Butler (*1956) 1990 den ersten gesellschaftstheoretischen Versuch vor, die Anforderungen an das derart ‚fragmentierte‘ Subjekt der Bewegung zu beschreiben und eine neue Vermessung des Verhältnisses von Natur und Kultur vorzunehmen. Sie wird später retrospektiv erklären: „Sosehr auch die radikale Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht für den Feminismus Beauvoirscher Prägung von zentraler Bedeutung war, ist sie doch in den letzten Jahren kritisiert worden, weil sie das Natürliche zu dem herabstuft, was ‚vor‘ der Intelligibilität liegt und des Kennzeichens, wenn nicht der Verunstaltung durch das Soziale bedarf, um Bedeutung zu tragen, wißbar zu sein und Wert zu erlangen.“ (Butler 1997: 25) Ihre zentrale Gegenthese zum Differenzfeminismus, dass sex immer schon gender, also ebenfalls kulturell konstituiert und mitnichten eine vorgängige Realität sei, initiiert von den USA ausgehend einen richtiggehenden Paradigmenwechsel in der Frauen- und Geschlechterforschung: „Nachdem der Feminismus den Satz ‚Alles ist Biologie‘ überführt hatte in ‚Biologische Unterschiede werden kulturell überformt‘ heißt die (nicht so ganz) neue Devise: ‚Alles ist Kultur - inklusive der Biologie selbst‘“ (Landwehr/ Rumpf 1993: 4). <?page no="113"?> 3 Geschlechtlichkeit 113 H INTERGRUND & D EBATTE : GGender Trouble in der deutschen Frauenbewegung Die kategoriale Unterscheidung von sex und gender wird im deutschsprachigen Diskurs zwar bereits von Carol Hagemann-White (1988) kritisiert, indem sie die Unvereinbarkeit von Alltagstheorie und humanbiologischer Definition von Geschlechtlichkeit herausstellt (vgl. ebd.: 228), ihre Kritik wird jedoch kaum rezipiert. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992) identifizieren für die 1980er und 90er Jahre zurecht eine ‚Rezeptionssperre‘ von Theorieentwürfen, die Alternativen zum dominierenden Differenzfeminismus anbieten (vgl. ebd.: 203). Als das Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) in deutscher Übersetzung erschien, löste es eine Welle der Empörung in der deutschsprachigen Frauenbewegung aus. Butlers Aussage, dass die Differenzierung von Geschlecht in die zwei sich wesentlich unterscheidenden Dimensionen männlich - weiblich als das Ergebnis sozialer Konvention aufgefasst werden muss, die über die Zeit den Status der ‚Natürlichkeit‘ erhalten hat, ließ die deutschsprachigen Wissenschaftler_innen annehmen, Butler wolle das Subjekt ‚Frau‘ gleichsam abschaffen zugunsten einer radikalen Relationalität von Geschlechtlichkeit. Im Jahr 1993 widmete die Zeitschrift feministische studien der Diskussion eine ganze Ausgabe: Neben Barbara Dudens bekannter Kritik an Butler („Die Frau ohne Unterleib“; vgl. Duden 1993) und Gesa Lindemanns Plädoyer gegen sozialkonstruktivistische Ansätze - Butlers sprachwissenschaftlicher Ansatz wird gemeinhin häufig als solcher gelesen - und für eine „Mikrosoziologie“, die „konsequent von leiblicher Subjektivität her zu denken“ sei (Lindemann 1993: 52), um Transgeschlechtlichkeit angemessen erfassen zu können, finden sich in dem Heft Beiträge u.a. von Isabell Lorey, Hilge Landweer, Stefan Hirschauer und Carol Hagemann-White. Letztere grenzt sich übrigens deutlich und nachdrücklich von Butler ab, wenn sie „Das Unbehagen der Geschlechter“ als „höchst oberflächliche[s] und ärgerliche[s] Buch“ (Hagemann-White 1993: 69) bezeichnet. Diese heftige Reaktion der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung ist weltweit einmalig. Butler widmet ihr in der deutschen Ausgabe von „Körper von Gewicht“ (1997) ein eigenes Vorwort. Sie sieht die Gründe für die Repulsion in der spezifisch deutsch(sprachigen)en Perspektive: Zum einen benennt sie die Schwierigkeit, sex und gender angemessen ins Deutsche zu übersetzen, zum anderen stellt sie die Bedeutung der Fokussierung des deutschsprachigen Diskurses auf die biologische geschlechtliche Differenz heraus (vgl. Butler 1997: 9f.). Butler macht hier explizit deutlich, dass es das politische Ziel ihrer Überlegungen ist, „Biologie als Schicksal, Biologie als Zwang zu überwinden, nicht aber […] Feminismus als eine Praxis der Entkörperung zu betreiben“ (ebd.: 10). <?page no="114"?> 114 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab 33.3.1 Biographische Notizen Butlers Entwicklung als Sozial- und Sprachphilosophin hat ihre Wurzeln einerseits in ihrer Sozialisation in der jüdischen Religion und Kultur, durch die sie mit Schriften zahlreicher jüdischer Philosophen vertraut gemacht wird. Andererseits hat Butler im Teenageralter Zugang zu den Büchern ihrer Mutter, einer Wirtschaftswissenschaftlerin ungarischer Herkunft, wodurch sie recht früh die philosophischen Werke von Spinoza, Kierkegaard und Schopenhauer liest (vgl. Butler 2009: 371ff.). Während ihrer Zeit als Graduate-Studentin besucht Butler Schwulenbars, in denen auch Auftritte von drag-Künstler_innen 23 stattfinden (vgl. ebd.: 338); Butler stellt fest, dass „einige dieser sogenannten Männer Weiblichkeit viel besser darstellen konnten, als ich es jemals konnte, jemals wollte oder jemals können würde“ (ebd.). Diese frühe Erkenntnis prägt ihre späteren theoretischen Überlegungen zur Performativität von Geschlecht. Sie kommt nicht nur wiederholt auf ihre Beobachtungen zu sprechen (vgl. z.B. Butler 1991; 1996; 2009), die Praxis des drag wird auch zum Ausgangspunkt für ihre theoretischen Überlegungen zur Konstitution von Geschlechternormen. Sie konstatiert in ihren Reflexionen, dass „die Travestie genau jene Struktur der Nachahmung [inszeniert], mit der jede Geschlechtsidentität angenommen wird“ (Butler 1996: 26), während „wir weiter in einer Welt leben, in der man für das Vergnügen, das man sucht, die Phantasie, die man verkörpert, das Gender, das man darstellt, ernste Entrechtung und physische Gewalt riskieren kann“ (Butler 2009: 340). Die Spannung, die zwischen der (lustvollen) Inszenierung geschlechtlicher Identität einerseits und der drohenden Versehrung aufgrund bestimmter Mangelhaftigkeiten oder der Brüchigkeit dieser Inszenierungen andererseits fluktuiert, wird zum zentralen Aspekt ihrer Theorie der performativen Konstitution einer ‚Zwangsordnung Geschlecht‘ in Form der heterosexuellen Matrix. 3.3.2 Butlers Performativitätstheorie Die „Gewalt vor der Gewalt“, so stellt Eva von Redecker (2011) heraus, kann als der Ausgangspunkt für Butlers gesamtes Werk gesehen werden (ebd.: 13). Gemeint ist damit, dass die strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft (bezogen auf die Anerkennung sozialer Identitäten und deren Verhältnis zu den Machtstrukturen, die sie hervorbringen) bereits inhärent gewaltvoll sind, wenn sie die für eine Vergemeinschaftung von Individuen notwendigen Komplexitätsreduktionen mittels Ausschluss realisieren. Die grundlegenden Annahmen, die eine Gesellschaft als solche konstituieren, bilden den Ausgangspunkt für „einzelne, offenkundige Ausschreitungen“ (ebd.: 13f.) - die Diskriminierung und Verletzung 23 Drag (dt. Travestie; veraltet) bezeichnet die künstlerische Inszenierung von Geschlechtlichkeit. Dabei ist es üblich, vom eigenen Geschlechtsverständnis aus das andere Geschlecht zu inszenieren. Die Darsteller_innen bezeichnen sich als Drag Queen resp. Drag King. <?page no="115"?> 3 Geschlechtlichkeit 115 von Individuen aufgrund ihrer ‚Andersartigkeit‘ gehörten hier ebenso dazu wie häusliche Gewalt oder das Anzünden von Geflüchtetenunterkünften. Die Definition dieser ‚Gewalt vor der Gewalt‘ ist dabei explizit von dem jeweiligen Gegenwartsbezug ihrer Analysen abhängig. Im Umkehrschluss ist die Reichweite der Analysen Butlers entsprechend eingeschränkt, die jeweilige Perspektive, die sie in ihren Arbeiten darstellt, geographisch-historisch klar partikularisiert. Im Folgenden möchten wir die zentralen Thesen ihrer geschlechtertheoretischen Abhandlungen darstellen. Wir werden ihre Analysen zur ‚Macht der Geschlechternormen‘ derart zusammenziehen, dass sich die partikularen Perspektiven in ihren grundlegenden Gemeinsamkeiten zu einem ‚Destillat‘ ihrer Theorie verbinden lassen. 33.3.3 Die Neuvermessung des Natur-Kultur-Dualismus Butlers wohl bekannteste und umstrittenste These ist auch ihre beständigste: sex ist ebenso wie gender sozial-sprachlich hervorgebracht und dem entsprechend unter gender zu subsumieren. Im „Unbehagen der Geschlechter“ kündigt sie zu Beginn ihrer Argumentation an: „Tatsächlich wird sich zeigen, daß das [körperliche, d. Aut.] Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist“ (Butler 1991: 26). Sie stellt heraus, dass der Unterscheidung von sex und gender, wie sie Feminismen der zweiten Welle vornehmen, eine Zeitlichkeit inhärent ist: Menschen müssten demnach zunächst mit einem (der beiden gültigen) körperlichen Geschlechter geboren werden, um in der Folge geschlechtlich sozialisiert werden zu können. Es gibt jedoch, so Butler, „keinen Rückgriff auf einen Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist“ (ebd.). Geschlecht kann deshalb keine „vordiskursive, anatomische Gegebenheit“ (ebd.) sein. Der zentrale Einsatz Butlers ist es nun, stattdessen die Unmöglichkeit eines epistemischen Zugangs zu dem zu postulieren, was ‚vor‘ der sprachlichen Repräsentation und damit Denkbarkeit (Intelligibilität) liegt. Körper, Biologie, Natur sind dem entsprechend bereits epistemologische Konzepte mit kultureller Prägung, keine feststehenden, universalen Konzepte, denen qua Existenz ein Wahrheitsgehalt zuzuschreiben wäre. Butler setzt dem sex-gender-Dualismus ein genuin linguistisches Konzept der Materialisierung von Geschlechternormen entgegen. Durch die Wiederholung von Sprechakten (Aussagen mit generativem Gehalt; siehe Textbox zu ‚Sprechakte‘), die Aussagen über die Gestaltung von Männlichkeit und Weiblichkeit treffen, werden diese sukzessive derart nachhaltig sedimentiert (vgl. Berger/ Luckmann 2007 [1966]), dass sie als Naturtatsache erscheinen. In der Folge wird der vergeschlechtlichte Körper (sex) als das vordiskursive Fundament für soziale Ausformungen des jeweiligen gender verhandelt, obwohl der Körper nach Butler selbst ein sozial-sprachlich konstituierter Erkenntnisgegenstand ist, dessen Wahrnehmung als männlich resp. weiblich erst durch seine konsequente sprachliche Repräsentation als männlich oder weiblich generiert wird. Anders ausgedrückt: In unserem kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit (Hagemann-White 1984), wie wir <?page no="116"?> 116 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab es in der Hinführung beschrieben haben, werden unsere Blicke über die Sprache, die wir verwenden, in bestimmter Weise ‚diszipliniert‘, sodass wir Körper gleichsam präreflexiv als entweder männlich oder weiblich einordnen. Körper materialisieren sich als männlicher oder weiblicher erst dadurch, dass die Individuen einer Gesellschaft mit kulturellen Codes ausgestattet werden, die ihre Wahrnehmung entsprechend fokussieren. Auch vermeintlich ‚objektive‘ natur- und lebenswissenschaftliche Erkenntnisse sind also lediglich Produkte dieser fokussierten Wahrnehmung und damit als relational zum jeweils hegemonialen Diskurs zu verstehen. Diese Abhängigkeit von diskursiven Grenzen schränkt die Möglichkeiten der denkbaren und umsetzbaren (intelligiblen) Konfigurationen von gender ein (vgl. Butler 1991: 26f.). Das Instrument, mit dem die diskursive Macht materialisiert wird, ist die Performativität. Butler erkennt damit sehr wohl die relative Determination von lebbaren Geschlechtsentwürfen durch die jeweils gültigen Episteme an und stellt heaus, dass eine Veränderung von Geschlechternormen immer nur transformativ, nicht revolutionär vonstattengehen kann. Gender ist nach Butler also keineswegs ein radikal offenes Konzept, das die Wünsche und Bedürfnisse aller Individuen einer Gesellschaft integriert, sondern ein „Schnittpunkt zwischen kulturell und geschichtlich spezifischen Relationen“ (ebd.: 29). 33.3.4 Performativität und Parodie Der Begriff der Performativität wurde von John L. Austin (1972) geprägt. Performativität ist definiert über die Annahme, dass Sprache nicht einfach ein Instrument zur Beschreibung ist, sondern dass das sprachliche Handeln selbst produktiv, die Benutzung von Sprache also ein Handlungsvollzug ist, der Wirklichkeit (mit)konstituiert. B EGRIFF & D EFINITION : Sprechakte Austin unterscheidet zwischen illokutionären und perlokutionären Sprechakten. Erstere „tun das, was sie sagen, indem sie es sagen, und zwar im gleichen Augenblick“ (Butler 2006: 11), Zweitere rufen bestimmte Folgeerscheinungen durch das Gesagte hervor, indem aus dem, was sie sagen, bestimmte Effekte folgen. Während im illokutionären Sprechakt also Tat und Sprechen zusammenfallen, zeitigen perlokutionäre Sprechakte bestimmte Wirkungen oder Effekte, die nicht mit dem Sprechakt selbst zusammenfallen. Der Sprechakt „Es ist ein Junge! “ ist demnach illokutionär und perlokutionär zugleich: Während die Diagnose ad hoc eine gültige Geschlechtsidentität (und damit einen Subjektstatus) zuweist, zeitigt sie zugleich diverse Effekte, die diese Identität über die Zeit bestätigen und damit festigen. <?page no="117"?> 3 Geschlechtlichkeit 117 Für Butler ist Performativität ein wesentlicher Baustein für ihre geschlechtertheoretischen Überlegungen. Geschlecht performativ zu konzeptualisieren bedeutet zunächst, es als ein Produkt der Macht des Diskurses zu verstehen, den es mit seiner Materialisierung wiederum bestätigt, denn die Materialisierung geschlechtlicher Körper vollzieht sich über die ständige Wiederholung diskursiver Normen. Indem bestehende Vorstellungen von Geschlecht beständig zitiert werden, schreiben sie sich in die Individuen ein und materialisieren sich in der Repräsentation der entsprechenden Geschlechtsidentität. Materialität ist damit eine „Wirkung einer Machtdynamik“, die körperliche Materie und die sie regulierenden Normen sind untrennbar miteinander verbunden: „Die performative Reproduktion der Geschlechternormen materialisiert sich in körperlichen Repräsentationen ebenso, wie körperliche Repräsentationen im Sinne der Zweigeschlechtlichkeit gelesen und alle Abweichungen entsprechend als unnormal und also pathologisch eingeordnet werden“ (Gregor 2015: 126). Butler versteht Performativität also nicht als etwas, das dem Subjekt Existenz verleiht, sondern als „jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“ (Butler 1997: 22). Sex, als die Summe aller diskursiv anerkannten Aussagen über Geschlechtskörper, wird so zur produktiven kulturellen Norm. Die performative Annahme, Aufnahme und Aneignung dieser Norm versteht Butler als konstitutiven Prozess, durch den das sprechende ‚Ich‘ (Subjekt) 24 hervorgebracht wird (vgl. ebd.: 23), und gerade nicht als etwas, das das Subjekt durchlebt. Das Subjekt ist der Performativität damit nicht vorgängig, sondern in der Entstehung abhängig von ihr. Diesem Prozess der Identifizierung ist die Zurückweisung (Differenzierung) inhärent. Dass Geschlecht performativ konstituiert ist, setzt ein Verständnis von Materie als dauerhaft unabgeschlossen voraus, weil die Materialisierung nie ganz vollendet sein kann (vgl. ebd.: 21). Diese Unabgeschlossenheit wiederum ist die Bedingung für die Möglichkeit von Neuartikulation und Widerstand: Durch den regulatorischen Apparat gender geht zwar „die Produktion und Normalisierung des Männlichen und Weiblichen vonstatten“ (Butler 2009: 74), die Definition von gender darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit seinem normativen Ausdruck (ebd.). Gender umfasst immer auch jene Geschlechtsentwürfe, die über die Zweigeschlechtlichkeit hinausweisen und impliziert so die Möglichkeit zur Überschreitung des normativen Rahmens. „[J]eder Widerstand gegen die Norm [ist] bereits in der Norm enthalten und für ihr Funktionieren von entscheidender Bedeutung“ (ebd.: 89). Alle „Spielarten von Gender“ (ebd.: 74) jenseits dieser kontingenten Binarität sind genauso Teil davon und ermöglichen die prozesshafte, sich immer wiederholende und fortsetzende Sedimentierung der normativen Prinzipien männlich - weiblich. 24 Für eine auf den Prozess der Subjektivierung fokussierte Darstellung siehe Kap. 2. <?page no="118"?> 118 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab F ALLBEISPIEL : Travestie Butler verdeutlicht die Beteiligung aller Varianzen von gender an der Konstitution der heterosexuellen Matrix am Beispiel der Travestie: „Travestie ist nicht das ‚Übernehmen‘ einer Geschlechtsidentität, die eigentlich einer anderen Gruppe gehört, das heißt kein Akt der Expropriation oder Appropriation, der voraussetzt, daß Geschlechtsidentität eine rechtmäßige Eigenschaft des Geschlechts ist, daß ‚maskulin‘ zu ‚männlich‘ und ‚feminin‘ zu ‚weiblich‘ gehört. […] Die Travestie konstituiert die profane Form, in der Geschlechtsidentitäten appropriiert, theatralisiert und angelegt werden; sie impliziert, daß jedes ‚Gendering‘, jedes Spiel mit der Geschlechtsidentität, eine Form der Darstellung und der Annäherung ist. Wenn das stimmt, so scheint es, dann gibt es keine durch die Travestie imitierte originäre oder primäre Geschlechtsidentität, sondern die Geschlechtsidentität ist eine Imitation, zu der es kein Original gibt; tatsächlich ist sie eine Imitationsform, die als Effekt und Konsequenz der Imitation die Auffassung von der Existenz eines Original erst produziert.“ (Butler 1996: 26, Herv. d. Aut.) 33.3.5 Die heterosexuelle Matrix als regulatorisches Regime Der Prozess der Identifikation ist also abhängig von den diskursiven Mitteln, die bestimmte geschlechtliche Identitäten ermöglichen und andere nicht. Individuen werden entsprechend der hegemonialen Vorstellungen von Geschlecht sozialisiert; entsprechen sie diesen Vorstellungen nicht, droht bei scheiternder Disziplinierung die Verwerfung (abjection). Die heterosexuelle Matrix, an anderer Stelle beschrieben als „die Summe aller Normen des Diskurses, der Menschen in dieser Gesellschaft zu Männern oder Frauen macht“ (Gregor 2015: 123), stellt eine Reihe von intelligiblen Repräsentationsmöglichkeiten zur Verfügung und produziert mittels Differenzierung einen Bereich des ‚Anderen‘, das konstitutive Außen, das als Abgrenzungsfolie für die Norm fungiert und qua Existenz die ‚Grenzen des Lebbaren‘ markiert (siehe Textbox zu ‚Differenzierung und Verwerfung‘). Heterosexualität meint hier gleichzeitig immer auch Zweigeschlechtlichkeit, beide Begriffe sind untrennbar miteinander verbunden: Wird ein Individuum geschlechtlich markiert, wird unhinterfragt angenommen, dass es sich begehrend auf das Gegengeschlecht bezieht. Umgekehrt gilt: Begehrt ein Individuum ein Geschlecht, so muss es dem anderen angehören. Entsprechen Individuen nicht diesen Geschlechts- und Begehrennormen, werden ihre Eigenschaften als ‚Nachahmung‘ abgewertet und entnormalisiert. <?page no="119"?> 3 Geschlechtlichkeit 119 „Die Zwangsheterosexualität setzt sich selbst als das Original, das Wahre, das Authentische. Die Norm, die das Reale bestimmt, impliziert, Lesbisch-‚Sein‘ sei immer eine Art Nachahmung, ein vergeblicher Versuch, an dem unfaßlichen Oberfluß naturalisierter Heterosexualität Anteil zu haben, ein Versuch, der immer und in jedem Fall fehlschlagen wird.“ (Butler 1996: 25) B EGRIFF & D EFINITION : Differenzierung und Verwerfung (aa bjection) Differenzierung meint bei Butler erstens die Binnendifferenzierung der verschiedenen, sich wechselseitig bedingenden Anteile des Subjekts (‚innere Unterscheidung‘), zweitens die Unterscheidung der eigenen Subjektformierung von anderen. Diese ‚äußere Unterscheidung‘ bezieht sich einerseits auf andere intelligible Subjektformationen, andererseits umfasst sie auch die Abgrenzung von verworfenen Subjektentwürfen, die mittels der (Geschlechter-)Normen verworfen wurden. Drittens meint Differenzierung den Ausschluss des Verlusts des eigenen Subjektstatus‘ (vgl. Butler 2010: 133). Als Verwerfung (abjection) bezeichnet Butler die Verdrängung jener „Dimensionen des Selbst […], die bestimmten durch die Normen des menschlichen Subjektseins vorgegebenen Gestaltungen nicht entsprechen“ (ebd.: 132). Während sich das Subjekt nur über Differenzierungs- und Ausschlussvorgänge anhand gültiger Normen materialisiert, kann es gleichzeitig andere nur als Subjekte (an)erkennen und benennen, wenn es auf diese Normen Bezug nimmt. (vgl. Gregor 2015: 123). Abb. 4: Butlers Theorem der heterosexuellen Matrix <?page no="120"?> 120 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab Die Macht der heterosexuellen Matrix ähnelt als „regulatorisches und disziplinarisches Regime“ (Butler 2009: 73) zwar in der Form dem Machtverständnis Foucaults, Butler formuliert jedoch zwei Vorbehalte gegen dessen Konzeption, entlang derer sie ihren Machtbegriff schärft: Zunächst stellt sie heraus, dass das regulatorische Prinzip der Geschlechternormen nicht nur auf ein bereits existierendes Subjekt wirkt, wie Foucault es fasst, sondern dass diese Normen das Subjekt im gleichen Zuge konstituieren und formen und also „jede juridische Form der Macht ihren eigenen produktiven Effekt hat“ (ebd.: 72). Daran anschießend betont sie, „dass einer Regulierung unterworfen zu werden ebenfalls bedeutet, von ihr subjektiviert zu werden“; diejenige produktive Macht des Diskurses, die das Subjekt von gender formen, sind gleichzeitig auf es angewiesen, um es hervorzurufen. Mit Butlers wirkt Macht wirkt damit nicht innerhalb, sondern neben, mit und jenseits des regulatorischen Apparates der Foucaultschen Macht und fügt ihr gleichsam eine Dimension hinzu. Die Geschlechternormen ermöglichen erst den Gedanken an einen Menschen, der der Anerkennung und Repräsentation wert ist (vgl. Butler 2010: 130). Die heterosexuelle Matrix ist demnach das Regulativ, das Individuen Anerkennbarkeit zu- oder abspricht, sie „geht dem Zum-Vorschein-Kommen des ‚Menschen‘ voraus“ (Butler 1997: 29). Bedingung für die Möglichkeit von Anerkennbarkeit ist, dass die Modi ihrer Erzeugung ihr vorausgehen; „es kann damit zwar nicht-anerkannte Subjekte geben, Subjekte existieren jedoch gleichzeitig nie unabhängig von den Bedingungen der Anerkennbarkeit“ (Gregor 2015: 124). Identität und Subjekt sind demnach keine starren Gebilde, in die sich Kultur einschreibt, sie sind Knotenpunkte der Kräfte-, Sichtbarkeits-, Aussagelinien sowie der verschiedenen, das Netz weiterhin dynamisierenden ‚Störungslinien‘ (vgl. Deleuze 1991) im Koordinatensystem der heterosexuellen Matrix, jener Verschränkung aller performativen Verordnungen, die sie intelligibel machen. 33.4 Resümee Die Entwicklung der feministischen Bewegung und Wissenschaft stehen seit jeher in einem engen Verhältnis. Die feministische Bewegung der frühen Moderne ist durch den Kampf für das Wahlrecht, für Erwerbsarbeit auch für Frauen und den Zugang zu Bildung und Universitäten gekennzeichnet. Vaerting ist eine der ersten Frauen, die konkret von den Forderungen der ersten Welle der Frauenbewegungen profitiert, indem sie überhaupt studieren kann und dann als zweite Frau in Deutschland einen Ruf auf eine Professur erhält. Ihre Analysen sind geprägt von einer Zeit, in der Frauen als Menschen zweiter Klasse gelten; ‚weibliche‘ Eigenschaften werden als Argumente genutzt, um Frauen die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten abzuerkennen und sie aus dem Universitätsbetrieb zu <?page no="121"?> 3 Geschlechtlichkeit 121 drängen - eben jene Erfahrungen, die Vaerting selbst machen muss, und die bis heute, wenn auch in anderer Form, weiterhin von vielen Frauen gemacht werden. In der entwickelten Moderne differenzieren sich die Forderungen der Frauenbewegung aus. Frauen sind - insbesondere als Studentinnen - an den Universitäten angekommen und setzen nun alles daran, die gleichen Rechte und Berechtigungen wie ihre männlichen Kommilitonen zu erhalten. Was im deutschsprachigen Raum mit der Selbstorganisation von Frauen für eine gemeinschaftliche Kinderbetreuung (und damit einer gegenseitigen Unterstützung zur Abmilderung der Doppelbis Dreifachbelastung durch Kindererziehung, Haushaltsführung und Studium/ Lohnarbeit) beginnt, wächst sich zu einem breiten Widerstand gegen Gewalt an Frauen aus. Neben der Entstehung einer vielfältigen FrauenProjekte-Bewegung, in deren Zuge auch die ersten autonomen Frauenhäuser und Gewaltberatungsstellen gegründet werden, werden die bestehenden Gesetze zur Kontrolle der weiblichen Gebärfähigkeit und Sexualität attackiert (Abtreibungsverbot, Legalität der Vergewaltigung in der Ehe). Simone de Beauvoir legt in dieser Zeit ihr als Klassiker geltendes Werk „Das andere Geschlecht“ vor und macht so die Lebensrealitäten von Frauen weithin sichtbar; zugleich ist sie eine der führenden Persönlichkeiten in Frankreich, die sich gegen das Abreibungsverbot einsetzen. Alice Schwarzer, eine Freundin Beauvoirs, bringt die Aktion „Wir haben abgetrieben“ (Stern, Juni 1971) von Frankreich nach Deutschland. An den Universitäten entstehen Fraueninitiativen und erste wissenschaftliche Forschungen, die die Bemühungen der Bewegung zunächst begleiten (und zur kommunalen Finanzierung und also Professionalisierung von Arbeit gegen Gewalt an Frauen beitragen). Später entwickeln sich diese Bemühungen zu einem eigenen Strang der feministischen Forschung fort. Ab den 1980er Jahren entstehen erste Abschlussarbeiten als Beiträge zur Lesbenbewegung. Die Frauenbewegung beginnt, sich stärker auszudifferenzieren. Die Spätmoderne zeichnet sich durch Differenzierungs- und Dekonstruktionsbemühungen aus. Über die Benennung der Differenzen zwischen Frauen wird deutlich, dass die Kategorie ‚Frau‘ häufig nur cis- und endogeschlechtliche, weiße, akademisch gebildete Frauen meint und deshalb letztlich nicht als Bezugsgröße für eine inklusive, breitenwirksame Frauenbewegung taugt. Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ legt den Finger zur richtigen Zeit in die Wunde und stößt einen Paradigmenwechsel in der Frauenbewegung und Geschlechterforschung an. Dieser kurze Abriss sollte erstens verdeutlichen, dass frühe, entwickelte und Spätmoderne nicht klar voneinander zu trennen sind - einige Forderungen der ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung sind bis heute nicht erfüllt worden. Zweitens reagieren die verschiedenen Modernen aber auch aufeinander - die zweite Welle schreibt die Forderungen der ersten fort und dient wiederum als Reflexions- und Abgrenzungsfolie für die dritte, ohne jedoch mit deren Entstehen zu <?page no="122"?> 122 Joris A. Gregor, Peter Schulz, Janos Schwab enden. Aktuelle queer_feministische Kämpfe zeigen, dass Strömungen diese beiden letzten Wellen teils solidarisch miteinander agieren (bspw. in Kämpfen für körperliche Selbstbestimmung sowohl hinsichtlich der Abtreibung als auch hinsichtlich der geschlechtlichen Selbstverortung), teils sich stark voneinander abgrenzend (vgl. die Kontroverse zwischen den sich selbst als ‚materialistischen‘ Feminismus bezeichnenden Ansätzen im Anschluss an die Kritische Theorie und Marx und den von der Gegenseite fälschlicherweise und vulgärtheoretisch unter dem Begriff ‚Queerfeminismus‘ subsumierten sozialkonstruktivistischen Ansätzen). Eine Konstante der Bewegungen ist die Verhandlung des Verhältnisses von Natur und Kultur (nature/ nurture). Alle drei vorgestellten Ansätze diskutieren den Ort der Natur im Sozialen und weisen die Veränderungen der Aushandlung des Natur-Kultur-Verhältnisses über die Zeit nach. Mit der Trias sex - gender - desire lässt sich dies pointiert nachzeichnen: Frühe Moderne: sex + desire = nature gender = nurture Vaerting setzt die körperlichen Geschlechtsmerkmale als natürliche, ebenso ist für sie die Begehrensstruktur Teil der Natur. Für die Geschlechterunterschiede in der Gesellschaft hingegen ist das Soziale verantwortlich. Hier legt sie die Möglichkeit für Widerstand an: Das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern versteht sie als dynamische Pendelbewegung, es befindet sich dadurch in ständigem Wandel. Entwickelte Moderne: sex = nature desire + gender = nurture Ebenso wie Vaerting verhandelt de Beauvoir den Geschlechtskörper als Natur, hingegen sind aber die Begehrensstrukturen ebenso wie die gesellschaftlichen Geschlechterunterschiede sozial formiert und somit veränderbar. Durch die Sichtbarmachung weiblicher Lebensrealitäten legt sie die tiefgreifenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern offen. Ihr Werk initiiert - gemeinsam mit vielen anderen - eine Diskussion über die patriarchale Macht auch in heterosexuellen Zweierbeziehungen. Spätmoderne: sex = gender gender + desire = nurture <?page no="123"?> 1 Geschlechtlichkeit 123 Butler stellt unser Verständnis von körperlichen Geschlechtsmerkmalen als Produkte des biologischen und medizinischen Diskurses heraus, die wiederum selbst Produkte der Sozialität einer Gesellschaft sind. Sie stellt die Dichotomie Natur/ Kultur als solche in Frage und torpediert das Verständnis von Strukturkategorien als Konzepte mit universeller Gültigkeit: Die Wissensgenerierung selbst ist (rassistisch, sexistisch, klassenspezifisch etc.) vermachtet, und so wird die Rezeption mancher Perspektiven wahrscheinlicher als die anderer. Der feministische Diskurs - hier verstanden als ein Konglomerat aus Theorie und Praxis, Wissenschaft und soziale Bewegung - bewegt sich selbst im Spannungsfeld von Differenzierung/ Abgrenzung einerseits und Gleichheit/ Verbindung andererseits. Während es in der ersten Welle noch zuvorderst um die Kritik der männlichen Vormacht im Geschlechterverhältnis gehen muss, indem die Gleichwertigkeit von Frauen als Menschen und damit ihr Recht auf eine gleichberechtigte Partizipation an Gesellschaft immer wieder argumentativ gerechtfertigt und durch entsprechende politische Forderungen orchestriert wird, kann die zweite Welle auf ersten Erfolgen aufbauen und nun insbesondere Dinge verhandeln, die als ‚Privatangelegenheiten‘ bislang dem öffentlichen politischen Diskurs entzogen werden konnten. Unter dem Slogan ‚Das Private/ Persönliche ist politisch‘ werden die tiefgreifenden und umfassenden Verwurzelungen der Geschlechterhierarchie auf allen gesellschaftlichen Ebenen als patriarchale Strukturen offengelegt. Dass die Frauenbewegungen selbst vermachtet sind, ist wiederum eine der zentralen Erkenntnisse, die der dritten Welle zugeschrieben werden. Macht ist etwas, das uns alle angeht und die wir alle verkörpern: Sie schreibt sich produktiv in unsere Körper und Praktiken ein, und ein Entkommen ist nicht möglich - wohl aber eine Auseinandersetzung, Sichtbarmachung und ein Kokettieren, das die Grenzen des Anerkannten (und Anerkennbaren) verschieben kann. Der Diskurs um Geschlecht zeigt damit auf, dass Gesellschaft unzureichend theoretisiert wird, wenn sie nicht als vermachtet begriffen wird, und diese Vermachtung bringt die grundlegendsten Momente der Vergesellschaftung - das Natur- Kultur-Verhältnis und damit die Grenze der Gesellschaft - erst hervor. Feministische Theorien zeigen zudem, wie sich dieses Hervorbringen alltäglich in der Praxis der Akteur_innen die gesellschaftliche Struktur (re)produziert. Diese Vermachtung gilt selbstverständlich auch für die Gesellschaftstheorie und ihre Produzent_innen und muss daher reflektiert werden, um ihrem eigenen Anspruch als Gesellschaftstheorie gerecht zu werden, statt die Theorie weißer Männer zu bleiben. <?page no="125"?> 44 Ethnizität und Rassismus K ARIN S CHERSCHEL Gesellschaftliche Phänomene in ethnischen Begriffen zu beschreiben, ist in Alltag und Öffentlichkeit eine verbreitete Praxis. Zur Erklärung der Bestrebungen der Katalanen, die ihre Unabhängigkeit von Spanien einforderten, fiel nicht selten der Begriff ‚ethno-nationaler Konflikt‘. Für diese Deutung gab es sowohl Fürsprecher_innen als auch Kritiker_innen. Während Erstere argumentierten, dass die Katalanen sich auf eine gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte beriefen, argumentierten Letztere, dass sich hinter den Forderungen der separatistischen Bewegung politische und ökonomische Gründe verbergen würden. Begriffe wie ‚katalanisch‘ oder ‚ethnisch‘ wecken bestimmte Assoziationen. Diese kann jeder und jede bei sich selbst prüfen. ‚Ethnisch‘ ist ein gängiger Terminus, um soziale Ereignisse zu deuten, und eine prägende Kategorie des Gesellschaftsverständnisses. Dies gilt aber nicht nur für den Alltagsverstand - den common sense -, sondern auch für das Denken und die Schriften der Soziolog_innen. Eine einheitliche Definition des Begriffes ‚ethnisch‘ existiert nicht. So weist Mathias Bös etwa daraufhin, dass es „zahlreiche unterschiedliche Definitionen einer ethnischen Gruppe [gibt], wobei die überwiegende Anzahl der Definitionen meist folgende drei Aspekte umfasst: erstens nehmen sich die Mitglieder einer Gruppe selbst als verschieden von anderen Menschen wahr, zweitens wird diese Gruppe von anderen ebenfalls als verschieden wahrgenommen, und drittens nehmen die Mitglieder der Gruppe an gemeinsamen Aktivitäten teil, die sich auf ihre (reale oder mythische) gemeinsame Herkunft oder Kultur beziehen“ (Bös 2008: 55). Erstmals wird der Begriff ‚Ethnizität‘, der weit später als der Begriff ‚ethnisch‘ auftaucht, in der US-amerikanischen Debatte bei W. Llyod Warner in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts verwendet (ebd.: 56). Er wird weit früher in der US-amerikanischen als in der deutschen Soziologie benutzt. Erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre beginnt in der deutschsprachigen Soziologie eine Auseinandersetzung mit Ethnizität. Es existiert - ebenso wie bei ‚ethnisch‘ - keine einheitliche Definition des Terminus, vielmehr eine Vagheit in Verwendung des Begriffes. Alltägliches common-sense-Wissen fließt nicht selten in die wissenschaftliche Analyse ein (Müller/ Zifonun 2010: 10). Verschiedene Autor_innen verweisen darauf, dass ‚Ethnizität‘ als unscharfer Sammelbegriff oder Containerbegriff verwendet wird (Scherr 2000; Gümen 1999). Es existiert auch keine eindeutige Verhältnisbestimmung der Begriffe ‚Ethnizität‘ und ‚Rasse‘. Peter Kivisto (2002: 14) nennt drei unterschiedliche Varianten, die Beziehung von Ethnizität und Rasse zu bestimmen: <?page no="126"?> 126 Karin Scherschel „The first position contends that ethnicity and race should be treated as being analytically distinct. The second is a modification of the first insofar as it wants to maintain a distinction, while at the same time conceding that in some circumstances ethnicity and race overlap. The third position disputes both of these stances, suggesting instead that ethnicity ought to be viewed as the overarching term, with race being seen as a subset of ethnicity.“ Die Diskussion über Ethnizität hat im Laufe der Zeit im Hinblick auf ihre Erklärungen, was unter Ethnizität zu verstehen ist und welche Rolle diese in modernen Gesellschaften spielt, verschiedene Wendungen genommen. Diese Wendungen werden sowohl durch gesellschaftliche Entwicklungen wie beispielweise Migrationen, den Aufschwung rechter Parteien oder ökonomische Transformationsprozesse beeinflusst als auch durch die je herrschenden Paradigmen der Wissenschaft. Im Folgenden werden Ethnizitätsdebatten exemplarisch für je eine bestimmte Phase der Moderne präsentiert. Den Anfang für die frühe Moderne machen die Überlegungen Max Webers zu den ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen. Seine fragmentarischen Ausführungen dazu in „Wirtschaft und Gesellschaft“ stellen bis heute einen Schlüsselbeitrag der soziologischen Debatte um Ethnizität dar. Weber formuliert die soziologischen Grundeinsichten, die im Späteren maßgeblich geworden sind. Für die Phase der entwickelten Moderne werden Diskussionsverläufe sowohl für die US-amerikanische Soziologie als auch für den deutschen Diskurs präsentiert. Bei der Rekonstruktion wird deutlich, dass Ethnizität zeitbezogen in beiden Kontexten unter ganz anderen gesellschaftlichen Vorzeichen diskutiert wird. Charakteristisch für die Phase der entwickelten Moderne ist ein Paradigmenwechsel in der Ethnizitätsdebatte. Ist man in der frühen Debatte noch wie Max Weber davon überzeugt, dass Ethnizität an Bedeutung verlieren würde, zeigt sich im Zuge der gesellschaftspolitischen Dynamiken die Bedeutsamkeit von als ethnisch klassifizierten Phänomenen für moderne Gesellschaften. Für die Phase der späten Moderne werden Rassismusanalysen vorgestellt, die Bestandteil der Ethnizitätsdebatte sind. Exemplarisch wird hier auf die Arbeiten Stuart Halls und auf Analysen zum antimuslimischen Rassismus von Iman Attia und Yasemin Shomann eingegangen. 44.1 Frühe Moderne: Max Weber - ethnische Gemeinschaftsbeziehungen Es ist Max Weber (1864-1920), der 1910 beim ersten deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main die Tauglichkeit des Rassekonzeptes zur Erklärung gesellschaftlicher Prozesse im Disput mit Alfred Ploetz in Frage stellt. Alfred Ploetz, seines Zeichens Arzt und einer der Gründerväter der sogenannten Rassenhygiene macht in seinen Ausführungen die Erklärungskraft des Rassekonzeptes für <?page no="127"?> 4 Ethnizität und Rassismus 127 gesellschaftliche Entwicklungen stark. Während Ploetz - dem Denken der Rassentheoretiker_innen seiner Zeit verhaftet - die Fähigkeiten einer menschlichen Gruppe auf ihre biologische Konstitution zurückführt, macht Max Weber hingegen soziale Prozesse geltend. 25 Die frühe Debatte um Phänomene, die aus heutiger Perspektive unter den Begriffen ‚Ethnizität‘ und ‚Rassismus‘ diskutiert werden, ist geprägt von den rassistischen Klassifikationen und dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Max Weber greift das Thema ethnische Gemeinschaftsbeziehungen und Rasse für die noch junge Soziologie auf. Seine Ausführungen gelten als einer der ersten systematischen Beiträge in der soziologischen Debatte. Im vierten Kapitel des zweiten Teils seines Hauptwerks „Wirtschaft und Gesellschaft“ finden sich unter der Überschrift „Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“ vier Paragraphen zum Thema. Wohlwissend um die Komplexität des Gegenstandes schreibt er, dass „[j]ede eigentliche soziologische Untersuchung […] die Begriffe ungemein viel feiner differenzieren [müßte] als wir es hier für unseren begrenzten Zwecke tun“ (Weber [1921] 1972: 238). Dennoch werden auf diesen wenigen Seiten, die für das heutige soziologische Verständnis von Ethnizität bedeutsamen Linien bereits vorweggenommen. Was sind diese grundlegenden Linien? Sie werden ersichtlich, vergegenwärtigt man sich Max Webers vielzitierte Definition der ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche aufgrund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht. […] Die ethnische Gemeinschaft (im hier gemeinten Sinne) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment“ (ebd.: 237). Max Weber führt - dem methodologischen Individualismus verpflichtet - kollektive Erscheinungen des Sozialen auf das Handeln und die Entscheidungen der Einzelnen zurück. Entscheidend ist beim Prozess der Gemeinschaftsbildung der subjektive Glaube der Individuen an die Gemeinschaft. Ihre gemeinsam geteilten Sitten sind das Ergebnis sozialen Handelns, sie müssen definiert, kultiviert und in Grenzziehungsprozessen artikuliert werden. Ethnien sind kein universelles Prinzip menschlicher Gemeinschaftsbildung. Die ethnische Gemeinsamkeit ist „nicht selbst Gemeinschaft“, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes 25 Der Disput ist in Weber/ Ploetz (1911) dokumentiert. <?page no="128"?> 128 Karin Scherschel Moment“ (ebd.: [1921] 1972: 237), sie entsteht erst im Rahmen von sozialen Grenzziehungsprozessen durch das aktive Tun der Individuen. Webers Ausführungen zu den ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen stehen im Zusammenhang mit seinem Bemühen, die „Quellen des Gemeinschaftshandelns“ zu systematisieren. Sie schließen an seine Überlegungen zu Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen an. Im Falle der Vergemeinschaftung handelt es sich um einen Typus sozialer Beziehungen, der auf subjektiv gefühlter - entweder affektueller oder traditionaler - Zusammengehörigkeit beruht. Vergesellschaftungen hingegen gründen im rationalen (wert- oder zweckrationalen) Handeln. Ethnien werden - wie Stände - als Typus der Vergemeinschaftung klassifiziert. Mit der Betonung, dass Ethnien den Charakter von sozialen Beziehungen haben, die auf dem subjektiven Gefühl bzw. dem Glauben der Beteiligten beruhen, verfolgt Weber eine explizit antibiologistische Argumentation. Er wird nicht müde, das Moment der sozialen und kulturellen Willkür des Handelns gegenüber den als ethnisch und als rassisch anders Definierten zu betonen. So geht er zwar von der anthropologischen Existenz von Rassen, die er als einen Typus ethnischer Gemeinschaften fasst, aus, er lehnt es aber dennoch ab, von der biologisch unterstellten Gemeinsamkeit auf kollektive Formen des Gemeinschaftshandelns zu schließen. An unterschiedlichen Stellen seiner Ausführungen finden sich entsprechende Hinweise. So schreibt Weber: „Keineswegs jede Gemeinsamkeit der Qualitäten, der Situation oder des Verhaltens ist eine Vergemeinschaftung. Z.B. bedeutet die Gemeinsamkeit von solchem biologischen Erbgut, welches als ‚Rassen‘-Merkmal angesehen wird, an sich natürlich noch keinerlei Vergemeinschaftung der dadurch Ausgezeichneten. Durch Beschränkung des commerciums und connubium seitens der Umwelt können sie in eine gleichartige - dieser Umwelt gegenüber isolierte - Situation geraten“ (ebd.: 196-197). Oder an anderer Stelle: „Ständische, also anerzogene Unterschiede und namentlich Unterschiede der ‚Bildung‘ (im weitesten Sinne des Wortes) sind ein weit stärkeres Hemmnis des konventionellen Konnubiums als Unterschiede des anthropologischen Typus“ (ebd.: 235). Vergegenwärtigt man sich den historischen Kontext, dann ist diese Analyse Webers keineswegs selbstverständlich, da der Rassismus in dieser Epoche, so Poliakov et al. (1992 [1976]: 109), „die Wissenschaft vom Menschen und nicht eine abzulehnende ethische Haltung“ war. Die Fortschrittlichkeit von Max Webers Position, der der Rassenbiologie die Erklärungskraft der Soziologie entgegensetzt, muss im Kontext der Genese des Rassismus betrachtet werden, die sich vor dem Hintergrund der Entstehung der modernen Wissenschaften in der frühen Moderne vollzieht. <?page no="129"?> 4 Ethnizität und Rassismus 129 H INTERGRUND & D EBATTE : Historische Genese des Rassismus Der wissenschaftliche Rassismus entwickelt sich im 18. Jahrhundert als ein umfassendes Denksystem mit eigenen Theorien und typischen Diskursformen (Mosse 1997 [1978]: 7). Das 18. Jahrhundert ist durch zwei in ihren Ergebnissen widersprüchliche Strömungen gekennzeichnet: „Die Kritik an den herrschenden Mächten und Glaubenssätzen im Namen der Gedankenfreiheit, und die Katalogisierung der Menschheit im Geiste der erwachenden Naturwissenschaften“ (Poliakov et al. 1992 [1976]: 77). Mit ihrem Streben nach Ordnung und Klassifikation war der Wunsch der Wissenschaften verbunden, Gesellschaft nach den Prinzipien von Klarheit und Reinheit zu gestalten. Rassismus diente dem Phantasma der Segregation moderner Gesellschaften (Bauman 1992). Während des 18. Jahrhunderts dominierte der Gedanke einer einheitlichen Abstammung des Menschen. Die Vorstellung der Einheit des Menschengeschlechts korrespondierte mit den aufklärerischen Postulaten einer universellen Vernunft und der Gleichheit der Menschen (Poliakov 1993 [1971] ). Hier handelte es sich freilich um eine Idee, die keinesfalls dazu führte, dass von rassistischen Klassifikationen Abstand genommen wurde. Im 19. Jahrhundert stellten die Erfahrungen negativer Auswirkungen des Industriekapitalismus, wie die zunehmende Verelendung breiter Massen, die Konzeption des Liberalismus von einer auf friedlichem Austausch gegründeten Gesellschaft, in Frage. Die zunehmende Konkurrenz unter den jungen Nationalstaaten und der Legitimationszwang kolonialistischer Expansion evoziert die Vorstellung eines Systems sozialer Gruppen, die in antagonistischen Beziehungen zueinander stehen (Lentz 1995: 66). Ideen von Gleichheit und Vernunft einerseits und Abwertungsprozesse ethnisch Anderer andererseits greifen dabei ineinander (Scherschel 2006a). Rassismus wird zu einem Schlüsselbegriff der Geschichte, um gesellschaftliche Prozesse zu erklären. Rassismus, so Poliakov et al. (1992 [1976]: 27), ist „in Wirklichkeit diejenige Haltung, die die intellektuellen oder moralischen Merkmale einer gegebenen Menschengruppe als direkte Folge ihrer physischen und biologischen Merkmale ansieht“. Die Analysen von Léon Poliakov (1992; 1993), George L. Mosse (1997 [1978]) und Zygmunt Bauman (1992) liefern grundlegende Einsichten in die historische Genese des Rassismus, die Ausbreitung der Rassentheorien und die Entwicklung des wissenschaftlichen Rassismus in der frühen Moderne. Max Webers frühe Ausführungen zu den ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen sind nicht nur im Kontext ihrer Zeit zu würdigen, sie sind auch von soziologischer Voraussicht geprägt. Denn Weber nimmt im Prinzip, so Scherr (2000: 411), alle <?page no="130"?> 130 Karin Scherschel wesentlichen Gedankengänge vorweg, die aktuelle Ethnizitätsdebatten in ihrer Kritik am Biologismus, aber auch am naiven Kulturalismus aufgreifen, der dazu tendiert, Kultur zum alleinigen Erklärungsschlüssel gesellschaftlicher Phänomene zu machen. Max Weber hat dagegen bereits sozialstrukturelle und nicht ausschließlich kulturelle Aspekte im Blick. Die Ungleichheitsrelevanz ethnischer Gemeinschaftsbeziehungen wird in ihrer Monopolisierungsfunktion deutlich. Sie dienen nicht nur Prozessen der Fremd- und Selbstbeschreibungen und haben Selbstvergewisserungsfunktionen, sondern sie haben auch die Funktion, Güter - materieller oder symbolischer Art - zu monopolisieren. Scherr (2000: 410) ermittelt bei Weber drei Formen der Ethnisierung, also der Herstellung und Konstruktion ethnischer Gruppen: „(a) Ethnisierung als Reaktion auf die Erfahrung ökonomischer Ungleichbehandlung, (b) Ethnisierung als Reaktion auf politische Diskriminierung, sowie (c) Ethnisierung in Folge sozialräumlicher Konzentration von Einwanderergruppen.“ Webers Ausführungen zu ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen sind getragen von einer modernisierungstheoretischen Grundüberzeugung. Er prognostiziert, dass diese im Prozess der kapitalistischen Entwicklung und der fortschreitenden Rationalisierung als Grundlage für gemeinschaftliches Handeln an Bedeutung verlieren würden. „Diese ‚künstliche‘ Art der Entstehung eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens entspricht ganz dem uns bekannten Schema der Umdeutung von rationalen Vergesellschaftungen in persönliche Gemeinschaftsbeziehungen. Unter Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten Gesellschaftshandelns attrahiert fast jede, auch eine rational geschaffene, Vergesellschaftung ein übergreifendes Gemeinschaftsbewußtsein in der Form einer persönlichen Verbrüderung auf der Basis ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens“ (Weber [1921] 1972: 237). Er gelangt schlussendlich zu der Einschätzung, dass, je genauer man sich mit dem Phänomen des ethnischen Gemeinschaftsgefühls befasst, kaum etwas übrigbleibe, um es soziologisch zu fassen: „Dabei würde der Sammelbegriff ‚ethnisch‘ sicherlich ganz über Bord geworfen werden. Denn er ist ein für jede wirklich exakte Untersuchung ganz unbrauchbarer Sammelname“ (ebd., 242). Webers modernisierungstheoretische Prognose ist grundlegend für gesellschaftstheoretische Perspektiven der entwickelten Moderne. Ethnische Phänomene werden in dieser Phase nun als Relikte vormoderner Gesellschaften behandelt, deren Funktion in entwickelten kapitalistischen und sozial differenzierten Gesellschaften weitgehend bedeutungslos würde. <?page no="131"?> 4 Ethnizität und Rassismus 131 44.2 Entwickelte Moderne: Ethnizität und Migration Welche Rolle spielt Ethnizität für die Organisation moderner Gesellschaften? Folgt man Webers Annahmen, dann verlieren ethnische Vergemeinschaftungen an Bedeutung. Was bedeutet dies für die Einzelnen? Moderne Menschen identifizieren sich nicht mit einer Ethnie, sondern sie entwickeln weitere Bezugspunkte für ihre Identität und ihr Gemeinschaftshandeln. Ihre Orientierungen und subjektiven Deutungen werden nicht primär durch die Tatsache bestimmt, dass sie Mitglieder einer ethnischen Gemeinschaft sind. Im Prozess der Individualisierung verlieren auf sogenannten askriptiven, also zugeschriebenen Merkmalen beruhende Identifikationen an Bedeutung. Personen nehmen in der Gesellschaft unterschiedliche Positionen ein: sie sind z.B. Studierende der Soziologie, Fußballvereinsmitglieder, politische Aktivist_innen gegen den Klimawandel oder Angestellte in einem Reisebüro. Dies sind nur einige mögliche soziale Positionierungen. Diese Positionen sind Resultat gemeinsamer Interessenlagen. Nicht jeder dieser Positionen ist jedoch völlig frei wählbar, sondern steht, wie im Falle von Positionen im Bildungssystem oder am Arbeitsmarkt, in einem Zusammenhang mit zu erbringenden Leistungen und vorhandenen Ressourcen. Der Zugang zu diesen Positionen sollte nach meritokratischen Prinzipien erfolgen, die die Basis von Selektions- und Allokationsprozessen in modernen Institutionen darstellen. D.h. die Einzelnen sollen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht auf Basis ihrer Leistungen in die Gesellschaft einbezogen werden. Das Gleichheitspostulat ist auch gesetzlich und normativ verankert. Artikel 3 des Grundgesetzes hält fest, dass niemand wegen „seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. In modernen Gesellschaften gelten - so zumindest die Prognose der soziologischen Theorie - universelle Prinzipien des Einbezugs der Individuen. Soziologische Diagnosen gingen von einer zunehmenden Erosion kollektiver und gruppenspezifischer Identitätsquellen, ihrer fortschreitenden „Aufzehrung, Auslösung und Entzauberung“ (Beck 1996b: 330) aus. Modernisierungstheorien nehmen an, dass „lokale Bornierungen aufgebrochen werden und sich die Bande lockern“, die den Einzelnen an Traditionen und Kollektivgebräuche binden (Scherr 2000: 408). Wie bereits an den Beispielen zu Kapitelbeginn deutlich wurde, sind Zweifel über die Geltungskraft dieser Prognosen der frühen Soziologie zur abnehmenden Relevanz ethnischer Phänomene in modernen Gesellschaften angebracht. Zwar wird Modernisierung durch Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse getragen, dennoch verliert Ethnizität nicht an Bedeutung. Die moderne Form der Chancengleichheit - so die Idee - soll partikularistische Zugangsrestriktionen außer Kraft setzen. Allerdings wird diese Gleichheit innerhalb eines Nationalstaates <?page no="132"?> 132 Karin Scherschel praktiziert und ist an das Staatsbürger_innenprinzip geknüpft und deshalb entsprechend begrenzt. 44.2.1 Assimilation und Pluralismus Um die Prognosen der Soziolog_innen bei der Betrachtung ethnischer Phänomene besser zu verstehen, ist ein Blick in die frühe US-amerikanische Debatte um Migration und Stadt hilfreich, da diese sich mit Fragen der Integration und Assimilation von Einwander_innen befasste. Ganz anders als in der deutschen Soziologie, wo die Debatte erst Ende der 1980er Anfang der 1990er Jahre beginnt, startet in der US-amerikanischen Soziologie sehr früh eine Auseinandersetzung mit den Kategorien race, ethnic groups und ethnicity. Bös (2010) teilt in seiner wissenssoziologischen Rekonstruktion der verschiedenen Begriffsbestimmungen von race und ethnicity die Debatte in vier zeitliche Phasen ein. Uns interessieren im Folgenden die ersten drei Phasen, da diese zeitlich der entwickelten Moderne zugeordnet werden können. In den Jahren zwischen 1920 und 1944 etabliert sich das Feld der ‚race relation‘-Forschung, ihr können auch Studien der Chicago School of Sociology zugeordnet werden. In der Nachkriegsphase (1945-1968) taucht hingegen ethnicity als wissenschaftliche Kategorie und die ‚race and ethnic relations‘-Forschung auf. Die Phase von 1969 bis 1989 ist durch das ethnic revival und Debatten zum Multikulturalismus gekennzeichnet (Bös 2010: 41). In den grundlegenden Arbeiten der Chicago School of Sociology wurde der Begriff der Ethnizität zunächst nicht verwendet, allerdings galt das Interesse den sozialen Beziehungen der ethnic groups (Bös/ Schraml 2009: 3). Es waren die Ankunfts-, Arbeits- und Lebenssituationen der süd- und osteuropäischen Immigrant_innen, die die Soziologie interessierten und die Gegenstand namhafter Studien und Konzepte wurden. Die Chicago School of Sociology befasste sich mit sozialen Dynamiken von Migrationen und Urbanisierungsprozessen. H INTERGRUND & D EBATTE : Chicago School of Sociology Die Chicago School of Sociology ist eine der fruchtbarsten Forschungstraditionen der Soziologie. Zentrale migrationssoziologische und stadtsoziologische Studien, die bis heute zu den Standardwerken der Soziologie zählen, gingen aus diesem Forschungszusammenhang hervor. Blickt man in das Buch „Schlüsselwerke der Migrationsforschung“, dann stammen viele der dort besprochenen Werke aus dem Umfeld der Chicago School of Sociology (Mecheril/ Reuter 2015). Zu ihren wichtigsten Vertreter_innen zählen unter anderem Robert E. Park, Ernest W. Burgess und William I. Thomas. Die städtischen Entwicklungen in Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die durch Urbanisierung, Industrialisierung und Migration gekennzeichnet sind, bilden die gemeinsame <?page no="133"?> 4 Ethnizität und Rassismus 133 Klammer der Analysen. Die Soziolog_innen interessieren sich für den rasanten Wandel sowie das Zusammenleben unterschiedlicher sozialer Gruppen in der Stadt. Chicago dient ihnen quasi als modernes Labor. Durch den rapiden Wandel dort und das Aufeinandertreffen verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen lassen sich soziale Des- und Integrationsprozesse in Echtzeit beobachten. Die Chicagoer Bevölkerung wächst innerhalb kürzester Zeit sprunghaft an. Es sind die Lebenssituationen verschiedener Einwanderergruppen, die analysiert und zum Ausgangspunkt diverser theoretischer Modelle und Konzepte werden. Wie gestaltet sich das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen? Welche sozialen Probleme entstehen im Prozess der Einwanderung? Wie verläuft Integration? Welche Etappen lassen sich im Prozess der Integration ausmachen? Dies sind nur einige der Fragen, die die Untersuchungen leiten und die mit theoretischen Modellen, wie dem race-relation cycle beantwortet werden. Der von George Herbert Mead und John Dewey propagierte US-amerikanische Pragmatismus bildete das sozialtheoretische Fundament der Chicago School. Die Chicago School of Sociology war dem qualitativen Forschungsparadigma verpflichtet. Robert Ezra Park, Nestor der Chicagoer Stadtsoziologie, identifizierte beispielsweise in seinem Schlüsselkonzept des race relation cycle fünf für die Assimilation relevante Etappen. Es handelte sich um contact, competition, conflict, accommodation und assimilation. Die Gestaltung der sozialen Beziehungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und ethnischen Minderheiten war durch diese fünf Phasen gekennzeichnet. Wie bei Park war es üblich, von race und nicht von ethnischen Gruppen zu sprechen (Bös 2010: 44). Sowohl der von Robert E. Park entwickelte race-relation cycle als auch andere soziologische Konzepte jener Zeit sind von dem modernisierungstheoretischen Grundgedanken getragen, dass Assimilation ein in verschiedenen Stufen verlaufender progressiver und irreversibler Prozess sei. Man ging freilich nicht davon aus, dass es sich hier um einen konfliktfreien und reibungslosen gesellschaftlichen Vorgang handele. Unterschiedliche Studien machten daher Desintegrationsprozesse und Marginalisierung zum Thema. Nachfolgend sollen zwei Untersuchungen kurz Erwähnung finden, die zu den bekanntesten Studien dieser Zeit gehören. In der zuerst zwischen 1918 und 1920 erschienenen Arbeit „The Polish Peasant in Europe and America“ (1984 [1918]) untersuchen Florian Znaniecki und William I. Thomas, Pioniere der Chicago School of Sociology, die Anpassungsprozesse in der Immigration und ermitteln verschiedene Immigrant_innentypen. Desorientierung und Desintegration sind ein wichtiges Thema dieser Studie. Der von Robert E. Park konzipierte marginal man (Park 1928) verkörperte einen neuen Persönlichkeitstypus: <?page no="134"?> 134 Karin Scherschel „[A] cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples; never quite willing to break, even if he were permitted to do so, with his past and his traditions, and not quite accepted, because of racial prejudice, in the new society in which he now sought to find a place. He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused“ (Park 1928: 892). Der anfänglichen Einschätzung, dass es nur eine Frage der Zeit sei, dass sich Einwander_innen an die herrschenden Verhältnisse anpassen und ohne Friktionen in den Arbeitsmarkt oder das Bildungssystem integriert werden könnten, weicht die Erkenntnis, dass ethnische Phänomene ein Beharrungsvermögen besitzen. Nathan Glazers und Daniel P. Moynihans erstmals im Jahre 1963 erschienenes Werk „Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City“ wird gemeinhin als Wende von der Assimilationshin zur Pluralismustheorie bezeichnet (Aigner 2015: 150f.). Glazer und Moynihan widerlegen die Annahme, dass eine vollständige Assimilation der im Untertitel genannten Gruppen stattfinden würde. Vielmehr tragen diese Gruppen zu einer neuen Vielfalt der Gesellschaft bei. Das sogenannte ethnic revival in den 1970er Jahren führt dazu, dass ethnicity eine analytische Kategorie für die angloamerikanische Debatte wird. Prominent taucht der Begriff in Glazer und Moynihans Werk „Ethnicity“ auf, dort findet sich folgende Definition: „We are suggesting that a new word reflects a new reality and a new usage reflects a change in that reality. The new word is ‚ethnicity‘, and the new usage is the steady expansion of the term ‚ethnic group‘ from minority and marginal subgroups at the edges of society - groups expected to assimilate, to disappear, to continue as survivals, exotic or troublesome - to major elements of a society. (…) [T]here is something new afoot in the world, and that we may label it ‚ethnicity‘“ (Glazer/ Moynihan 1975: 5). Die Diskussion um Ethnizität nimmt also im US-amerikanischen Kontext rückblickend betrachtet unterschiedliche Wendungen. Zweifelsohne muss man bei der Betrachtung der soziologischen Debatten den politischen Kontext ihrer Zeit berücksichtigen. Die Anfänge waren geprägt durch eine Amerikanisierungsdiskussion. Es ging um das politische Ziel, aus den Immigrant_innen Amerikaner_innen zu machen (Bös 2010: 43). Eine Assimilation an die angelsächsische Mehrheitsgesellschaft galt als selbstverständlich. Der Begriff des melting pot steht für die Idee eines Schmelztiegels der Kulturen, geprägt durch die angelsächsische Mehrheitsgesellschaft. Dieses Bild wird später durch das der salad bowl abgelöst. Letztere steht für ein multikulturelles Zusammenleben, in dem die einzelnen ethnischen Gruppen ihre Eigenheiten wahren; gleichwohl existiert ein gemeinsames Zusammenleben in der Gesellschaft. <?page no="135"?> 4 Ethnizität und Rassismus 135 44.2.2 Ethnizität: Strukturmerkmal moderner Gesellschaft oder rübergehende Phase im Prozess funktionaler Differenzierung? Im deutschsprachigen Raum taucht die Debatte um Ethnizität erst in den 1980er Jahren vor dem Hintergrund einer ganz anderen einwanderungspolitischen Situation auf. Die Migrationspolitik Deutschlands ist durch eine strikte Weigerung gekennzeichnet, sich als Einwanderungsland zu begreifen. Aber auch auf Seiten der Forschung ist die Situation eine andere. In Deutschland existiert keine mit den Studien der Chicago School of Sociology vergleichbare Forschungstradition, die Migrationssoziologie etabliert sich erst zu einem späteren Zeitpunkt. Erst in den späten 1980er, frühen 1990er Jahren wird eine Reihe an Arbeiten veröffentlicht, die sich dem Thema Ethnizität widmen (z.B. Bukow/ Llyarora 1988; Dittrich/ Radtke 1990). Kontroverse gesellschaftstheoretische Positionen zum Stellenwert ethnischer Phänomene in der entwickelten Moderne lassen sich sehr gut an einer in der ‚Zeitschrift für Soziologie‘ Ende der 1980er Jahre geführten Debatte zwischen Hartmut Esser und Reinhard Kreckel um die Relevanz ethnischer Differenzierungen im Prozess der Moderne veranschaulichen. Beide Soziologen widmen sich der Frage, wie das Widererstarken ethnischer Phänomene zu erklären sei und gelangen dabei zu entgegengesetzten Einschätzungen. Esser stellt fest, dass „die vorzufindende Wirklichkeit […] der traditionellen Theorie moderner Gesellschaften offensichtlich in eklatanter Weise [widerspricht]“ (Esser 1988: 236). Empirische Phänomene, wie das Wiedererstarken ethnischer Bewegungen, militanter Separatismus oder ethnische Unterschichtungen (strukturelle Benachteiligungen von Gruppen entlang askriptiver Merkmale) laufen der Annahme einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung, die sich durch eine Expansion der Marktbeziehungen, Rationalisierungsprozesse und eine Generalisierung der Beziehungen und Positionszuweisungen auszeichnet, entgegen (ebd.). Unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft dürften ethnischen Merkmalen für die soziale Organisation keinerlei Bedeutung mehr zukommen. Dennoch zeichnen sich systematisch ethnische Unterschichtungen ab. Welche theoretischen Einsichten folgen aus den empirischen Realitäten? Ist der Prozess der Modernisierung nicht so fortgeschritten, wie angenommen? Oder sind ethnische Phänomene doch nicht so unvereinbar mit der Moderne? (ebd.: 239). Esser erklärt Ethnizität zum Übergangsphänomen, das im Prozess der Modernisierung bestimmte Funktionen erfüllt. Ethnizität ist jedoch keine dem Prozess der funktionalen Modernisierung inhärente Gegenbewegung (ebd.: 240). Im Zuge von Modernisierungsprozessen werden altvertraute Gewissheiten und Routinen in Frage gestellt. So argumentiert Esser: „Erst mit dem Verlassen des Dorfes, der Auflösung der Isolation der Parzellenbauern, dem Ausbruch aus dem Ghetto, der Migration in urbanisierte Verhältnisse, der Lockerung der allerextremsten Unter- <?page no="136"?> 136 Karin Scherschel drückung und Benachteiligung […] u.a. entsteht ein Problemlösungsbedarf, für den die alten Rezepte nicht mehr wirksam sind.“ (ebd.) Ethnische Gemeinschaftsbildung ist deshalb als Reaktion auf die Zumutungen der Moderne zu verstehen und biete eine rationale Lösung zur Orientierung der Individuen in einer für sie unübersichtlich gewordenen Welt. Das ethnic revival ist Resultat einer Modernisierung, die ihren Endpunkt noch nicht erreicht habe (ebd.: 246). In den Aufnahmegesellschaften treffen - bedingt durch Migrationen - unterschiedliche Stadien der Modernisierung aufeinander. Esser vermutet: „[M]öglicherweise füllen die Arbeitsmigranten in den westeuropäischen Gesellschaften die Restbereiche der traditionellen industriegesellschaftlichen Produktionsweise mit den Bestandteilen feudaler Orientierung und Rollenkonformität, der dafür noch erforderlich ist, die jedoch von den in funktionaler Differenzierung individualisierten und anomisierten autochthonen Teilen der Bevölkerung nicht mehr erbracht werden können“ (ebd.). Ethnische Differenzierungen sind nicht nur das Resultat einer ungleich fortschreitenden Modernisierung, sondern sie tragen in bestimmten Phasen sogar zur Modernisierung bei (ebd.: 241). In einer tatsächlich funktional differenzierten modernen Gesellschaft entfallen jedoch die objektiven Grundlagen für dauerhafte ethnische Vergemeinschaftungen und für ethnische Mobilisierungen (ebd.: 246f.). Kreckel stellt in seiner kritischen Replik ebenfalls fest, dass es eigentlich kein ethnic revival angesichts liberaler und marxistischer Fortschritts- und Modernisierungstheorien geben dürfte, dennoch stellt sich die empirische Wirklichkeit anders da. Kreckels Argumente gründen nicht in einem progressiven Fortschrittsmodell der Moderne, sondern in einer kapitalismuskritischen Sicht auf Prozesse globaler sozialer Ungleichheit und Machtasymmetrien zwischen nationalstaatlich verfassten Gesellschaften (Kreckel 1989: 164). Er argumentiert, dass Essers gesellschaftstheoretischer Deutungsversuch in mehrfacher Hinsicht nicht überzeuge. Moderne Gesellschaften sind in dem Sinne „unmodern“, dass sie auf einer askriptiven Segmentierung in Nationalstaaten beruhen. Die historisch bekannten „modernen“ Gesellschaften sind in einen nach kapitalistischen Prinzipien funktionierenden Weltmarkt eingebettet, der weltweite Entwicklungsungleichgewichte in systematischer Weise herstellt und reproduziert. Essers Idee einer letztlich universellen Entwicklung sei unter kapitalistischen Weltmarktbedingungen unrealistisch. Kreckel identifiziert moderne Gesellschaften demnach als Nationalstaaten, die restriktive Migrationskontrollen betreiben und ihren Wohlstand gegen Einwander_innen absichern. Ethnische Vergemeinschaftungen werden also als Reaktion auf ökonomisch und nationalstaatlich erzeugte Ungleichheiten verstanden: „Vergemeinschaftungen nichtinstrumenteller, ‚nicht-systemischer‘ Natur können sich immer wieder einstellen, um die Friktionen zu mildern, die sich aus der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ durch die kalte Modernisierungslogik ergeben. Dies können auch ethnische Vergemeinschaftungen sein, und sie können auch weiterhin als Basis für die Organisation von Konfliktpotential dienen“ (ebd.: 166). <?page no="137"?> 4 Ethnizität und Rassismus 137 Die Rekonstruktion exemplarisch ausgewählter Diskurse für die entwickelte Moderne zeigt, dass sich die Interpretationen von Ethnizität im Laufe der Zeit wandeln. Ihre Deutung steht in einem Zusammenhang mit den herrschenden normativen Leitprämissen für das gesellschaftliche Zusammenleben und den jeweiligen Theorietraditionen. 44.3 Späte Moderne: Ethnische Ungleichheit und Rassismus Ethnizität im Kontext von sozialer Ungleichheit, rassistischer Diskriminierung und Unter- und Überordnungsverhältnissen zu diskutieren, kennzeichnet die neuere deutsche wie die bereits früher einsetzende internationale Debatte um Ethnizität. Im Folgenden wird zunächst anhand einiger ausgewählter Studien und Debatten die deutschen Diskussion um Ethnizität skizziert, um im Anschluss auf die Rassismusdebatte einzugehen, die wesentlich durch den angloamerikanischen Kontext inspiriert wurde. 4.3.1 Ethnizität, Diskriminierung und Ethnisierung Menschen mit Migrationshintergrund sind am deutschen Arbeitsmarkt überproportional häufiger erwerbslos als Personen ohne Migrationshintergrund. Seibert und Solga (2005) untersuchen in ihrer Studie den Wert eines Ausbildungsabschlusses bei deutschen und nicht-deutschen Absolvent_innen. Analysiert werden die Arbeitsmarktchancen von Ausgebildeten und Ausbildungslosen verschiedener ethnischer Gruppen. Im Ergebnis zeigt sich, dass bei gleichen Abschlüssen insbesondere türkische Absolvent_innen schlechtere Arbeitsmarktchancen haben. Die Autor_innen gehen davon aus, dass ethnische Ungleichheit am Arbeitsmarkt durch die Rekrutierungsentscheidungen der Arbeitgeber_innen zustande kommt, da ethnische Signale als ‚Orientierungshilfen‘ fungieren. Da sie negativ konnotiert sind, führt diese in Konkurrenzsituationen zum Ausschluss. Sie gehen von einem „ethnisierten Signalwert“ eines Ausbildungsabschlusses aus. Schulerfolge, dies belegen die PISA-Studien wiederkehrend, stehen in Deutschland nicht nur in einem systematischen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Schüler_innen, sondern auch mit ihrer ethnischen Herkunft. Gomolla und Radtke (2002) können in ihrer Studie zur institutionellen Diskriminierung, in der sie sich mit der Herstellung ethnischer Differenz in der Schule befassen, belegen, dass Bildungsentscheidungen seitens des Lehrpersonals in Abhängigkeit von der ethnischen Herkunft getroffen werden. Das heißt, beim Übergang in die Sekundarstufe werden Migrant_innenkinder bspw. in ihrer Beurteilung trotz guter Noten heruntergestuft und für die Real- oder Hauptschule empfohlen. Als Grund werden u.a. mangelnde Sprachkenntnisse angeführt, die im späteren auf dem Gymnasium zu Problemen führen könnten (ebd.: 269). Obwohl <?page no="138"?> 138 Karin Scherschel bei Sonderschulaufnahmeverfahren zu prüfen ist, ob nicht fehlende Deutschkenntnisse die Ursache für die Einstufung sind, wird dies nur in Ausnahmefällen systematisch umgesetzt. Das heißt, dass viele Migrant_innenkinder nicht aufgrund von Lernschwierigkeiten, sondern von Sprachdefiziten zur Sonderschule überwiesen werden (ebd.: 268). „Organisationen, nicht nur die Schulen, produzieren durch ihre Distributions- und Selektionsleistungen die bestehende Sozialordnung und die zugehörige Unterordnung/ Diskriminierung permanent selbst, um sie anschließend als objektive, äußerliche, quasi naturgegebene ethnische Ordnung zu erfahren, zu deuten und darzustellen“ (ebd.: 266). Bommes (2004) begründet die ethnische Ungleichheit am Arbeitsmarkt mit den arbeitsmarkt- und migrationspolitischen Voraussetzungen der frühen westdeutschen Arbeitsmigration. Er argumentiert, dass die moderne Form der Chancengleichheit zwar partikularistische Zugangsrestriktionen (z.B. nach Geschlecht) außer Kraft setze, nichtsdestotrotz sei diese Gleichheit an das Staatsbürgerprinzip geknüpft und entsprechend exklusiv. Blickt man auf die Migrationsbiographien der Arbeitsmigrant_innen, die im Zuge der Anwerbung in den 1950er bis 1960er Jahren nach Deutschland kamen, dann ist evident, dass ihre Lebensläufe vom institutionalisierten Normlebenslauf abweichen. Ihre Bildungs- und Berufswege sind durch niedrige Bildungsabschlüsse und eine Beschäftigung im Jedermannssektor gekennzeichnet. Mit Blick auf diesen historisch spezifischen Migrationstypus ist die Karrierelosigkeit zunächst die ureigene Voraussetzung ihrer arbeitsmarktpolitischen Integration. Im Laufe des Strukturwandels des Arbeitsmarktes werden diese Positionen allerdings prekär. Den Nachkommen wiederum wird diese „Rekrutierungsgeschichte“ in Form von geringem ökonomischem Kapital und fehlenden Netzwerken „vererbt“ (ebd.). Angesichts der Tendenz der öffentlichen und mitunter auch der wissenschaftlichen Debatte, soziale Probleme zu kulturalisieren, also den kulturellen Eigenheiten der Migrant_innen zuzuschreiben, machen auch Bommes und Scherr deutlich, dass Migrationsphänomene im Kontext der ökonomischen, sozialen und politischen Gegebenheiten betrachtet werden müssen. Migration könne nicht als Problem des multikulturellen Zusammenlebens diskutiert werden, da damit gleich mehrere Unterstellungen einhergingen, die einer genaueren Prüfung nicht standhielten (Bommes/ Scherr 1991: 292). Zum einen würden strukturelle Formen der Diskriminierung, wie etwa die überproportional hohe Erwerbslosigkeit von Migrant_innen, die ihren Ausgangspunkt in Politik und Ökonomie haben, so beispielweise als Kulturproblem behandelt. Zum anderen werde damit unterstellt, dass Individuen „durch ihre ethnische Zugehörigkeit in ihren subjektiven Sinnstrukturen, Gewohnheiten und Handlungsorientierungen in einer Weise determiniert [seien], die dazu berechtigt, sie als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft zu betrachten“ (ebd.). Es gehe vielmehr in der wissenschaftlichen Debatte darum, zu fragen, „[w]elche Verhältnisbestimmungen von Kollektivität und Individualität eingegangen werden“ und „wie damit Probleme der jeweils konkreten Lebens- <?page no="139"?> 4 Ethnizität und Rassismus 139 situation, ökonomische, politische und soziale Verhältnisse durch Individuen und soziale Gruppen bearbeitet werden“ (ebd.: 302). Entschieden wenden sich beide Autoren gegen eine Inszenierung der Zuwanderung als Kultur(konflikt)frage; stattdessen diagnostizieren sie eine „verweigerte Selbstverständlichung“ der Anwesenheit von Migrant_innen in Deutschland, die unter anderem darin zum Ausdruck komme, dass Migrant_innen faktisch von der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen seien (ebd.: 308). F ALLBEISPIEL : Politische Beteiligung von Migrant_innen Roland Roth (2018: 630) bilanziert den Stand der politischen Partizipation von Migrant_innen in Deutschland. Er hält fest, dass in „öffentlichen Debatten, aber auch in der Wahrnehmung vieler Migranten […] die politische Integration nur einen nachrangigen Status im Integrationsgeschehen [hat]. Sprache, Wohnen, Bildung und Arbeit werden deutlich höher bewertet. […] Politische Partizipation gehört zu den eher randständigen Themen in der deutschen Integrationspolitik. Die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund findet nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Dies gilt besonders für die rechtliche und faktische Gleichstellung von Eingewanderten in den Kerninstitutionen repräsentativer Demokratien, also in Parlamenten, Parteien und bei Wahlen. Auch wenn die Forschungslage insgesamt unbefriedigend ist, kann für diese ‚direkte politische Partizipation‘ in allen Bereichen und auf allen Ebenen festgestellt werden, dass von einer gleichberechtigten und proportionalen Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund keine Rede sein kann.“ Formelle politische Beteiligungen bei Wahlen auf allen Ebenen (Bund, Land, Kommune) sind an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden. Personen ohne Staatsbürgerschaft haben in Deutschland sowohl kein aktives als auch kein passives Wahlrecht (Schmidt 2017); dadurch sind diese aus demokratischen Willensbildungsprozessen ausgeschlossen. Ausländer_innen ohne deutschen Pass zählen - mit Ausnahme der EU-Angehörigen bei Kommunalwahlen - nicht zum Wahlvolk. Demokratische Beteiligungsformen für Migrant_innen, wie etwa Ausländerbeiräte und Integrationsbeauftragte, haben nur beratende Funktionen (Roth 2018: 643). 44.3.2 Rassismen ‚Rassismus‘ ist in der deutschsprachigen Forschung keine verbreitete soziologische Analysekategorie. Das Verhältnis zwischen Mehr- und Minderheiten unter der Perspektive historisch gewachsener Dominanzverhältnisse zu analysieren, ist ein systematischer Bestandteil der Rassismusdiskussion (Rommelspacher 1995). <?page no="140"?> 140 Karin Scherschel Zwei Aspekte wurden in der Vergangenheit wiederholt gegen eine Verwendung des Rassismusbegriffs herausgestellt. Zum einen sei der Begriff für die deutsche Debatte deshalb nicht geeignet, weil er untrennbar mit dem Nationalsozialismus verwoben sei, sich also auf ein konkretes historisches Ereignis beziehen würde. Zum anderen würde der Gebrauch des Begriffes eine Existenz von Rassen unterstellen. Gegen beide Einwände liegt mittlerweile eine Reihe an Gegenargumenten vor. Theoretiker_innen der angelsächsischen und französischen Forschung haben wiederholt herausgestellt, dass es (1) nicht den Rassismus gibt, stattdessen sollte von Rassismen gesprochen werden. So argumentiert Stuart Hall (1989a: 917): „Aber wo immer wir Rassismus vorfinden, entdecken wir, dass er historisch spezifisch ist, je nach der bestimmten Epoche, nach der bestimmten Kultur, nach der bestimmten Gesellschaftsform, in der er vorkommt. Diese jeweiligen spezifischen Unterschiede muß man analysieren. Wenn wir über konkrete gesellschaftliche Realität sprechen, sollten wir also nicht von Rassismus, sondern von Rassismen sprechen.“ Spricht man von Rassismus, unterstelle man (2) nicht die Existenz von Rassen als faktisch existierende biologische Einheiten, sondern man gehe von sozialen Konstruktionen aus, die nichtsdestotrotz in den Selbst- und Fremdbeschreibungen von Personen und Institutionen eine Wirkmächtigkeit entfalten würden. Robert Miles (1992) analysiert diesen Prozess der Konstruktion von Rassen mit den Begriffen racialisation und signification. In Begriffen wie ‚Kultur‘ und ‚Ethnie‘ bestehe (3) die Idee von Rassen fort. Diese Termini fungieren mehr oder weniger als Sprachversteck für Rasse (Guillaumin 1991). Begriffe wie Neorassismus, Kulturrassismus und differentialistischer Rassismus versuchen, diese Transformationen konzeptionell zu erfassen. B EGRIFF & D EFINITION : Robert Miles ssig nification und ra cialisation Robert Miles verwendet die Begriffe ‚Signifikation‘ und ‚Rassenkonstruktion‘ (racialisation), um den Prozess der Rassenkonstruktion analytisch zu fassen. Der Begriff der ‚Signifikation‘ dient „zur Bezeichnung eines repräsentationalen Prozesses, durch den bestimmten Objekten, Merkmalen und Prozessen Bedeutungen dergestalt zugewiesen werden, daß diesen Objekten, usw. eine besondere Signifikanz zukommt und sie mit einer Reihe zusätzlicher Merkmale zweiter Ordnung ausgestattet werden oder diese besitzen [...]. Von daher schließt Bedeutungskonstruktion als Verfahren Selektion ein: aus einer verfügbaren Bandbreite von Objekten, Merkmalen und Prozessen werden nur einige ausgewählt, um zusätzliche Bedeutungen zu vermitteln. [...] Die Bedeutungskonstruktion ist ein zentrales Moment des Darstellungsprozesses, d.h. jenes Vorgangs, in dem die gesellschaftlichen Vorgänge beschrieben werden und in dem ein sinnhaftes Bild davon vermittelt wird, wie die Dinge ,wirklich sind‘“ (1992: 94). <?page no="141"?> 4 Ethnizität und Rassismus 141 Biologische und somatische Merkmale werden aus einer Bandbreite möglicher Merkmale gewählt und repräsentieren als Bedeutungsträger eine angenommene naturgegebene Differenz. Diesen Merkmalen werden spezifische kulturelle Charakteristika zugeschrieben, sodass Bevölkerungsgruppen ein spezifisches Eigenschaftsprofil erhalten. ‚Rassenkonstruktion‘ (racialsation) ist ein „Prozeß der Beschreibung von Gruppengrenzen und der Verortung von Personen innerhalb dieser Grenzen durch den vorrangigen Bezug auf (möglicherweise) angeborene und/ oder biologische (meist phänotypische) Merkmale. Es handelt sich von daher um einen ideologischen Prozeß. [...] Ich verwende von daher den Begriff der Rassenkonstruktion für jene Fälle, in denen gesellschaftliche Beziehungen zwischen Menschen durch die Bedeutungskonstruktion biologischer Merkmale dergestalt strukturiert werden, daß sie differenzierte gesellschaftliche Gruppen definieren und konstruieren. Die als Bedeutungsträger ausgewählten Merkmale haben eine geschichtliche Variationsbreite; für gewöhnlich sind es sichtbare somatische Eigenschaften, aber auch unsichtbare (fiktive und reale) biologische Eigenschaften sind zu Bedeutungsträgern geworden“ (1992: 100f.). Der Rassismusbegriff sollte sich ausschließlich auf ein ideologisches Phänomen beziehen und die spezifisch repräsentationalen Eigenschaften benennen können, die vorhanden sein müssen, damit von Rassismus gesprochen werden kann. Der ideologische Gehalt liegt: 1. in der Bedeutungskonstruktion eines oder mehrerer Merkmale als Kriterien für die Bezeichnung einer Kollektivgruppe in der Weise, dass ihr ein naturgegebener, unwandelbarer Ursprung und Status und von daher eine ihr innewohnende Differenz anderen Gruppen gegenüber zugeschrieben wird (ebd.: 105). Weiterhin müssen 2. dieser Gruppe negativ bewertete Merkmale zugeschrieben werden. Diese Merkmale können biologischer (z.B. Hautfarbe) oder kultureller (z.B. Religion) Provenienz sein. Dieser Konstruktion liegt implizit der Gedanke zugrunde, dass die Präsenz einer solchen Gruppe als problematisch erscheint. Sie wird ideologisch als Bedrohung dargestellt (ebd.: 105f.). Stuart Hall - neue Ethnizitäten und Rassismen Im deutschsprachigen Raum wurde Stuart Hall Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre durch seine im Argumentverlag publizierten Schriften zum wichtigen Impulsgeber für die deutsche Rassismusdiskussion. Er ist einer der Gründerväter der Cultural Studies und zählt zu den bekanntesten marxistischen Intellektuellen Großbritanniens. Hall wird 1932 in Jamaica geboren, seine Familie gehört der unteren Mittelschicht an. Er migriert in den frühen Fünfzigern nach Großbritannien und wird dort einer der führenden Köpfe der British New Left. Er leitete für mehrere Jahre das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham. <?page no="142"?> 142 Karin Scherschel H INTERGRUND & D EBATTE : Cultural Studies Popkultur, Medien, Massenkultur, Arbeiterklasse, jugendliche Subkulturen, Rasse, Sexualität, Ethnizität und Geschlecht sind einige der zentralen Themen der Cultural Studies, die in den 1950er Jahren in Großbritannien entstehen. Kultur wird als die Gesamtheit von (Alltags-)Praktiken, Deutungen und Selbstvergewisserungen von Individuen, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen verstanden. Sie soll, politisch betrachtet, sozialisiert und demokratisiert werden, d.h. Kultur ist nicht nur Hochkultur, sondern auch die alltäglichen Praktiken - beispielsweise der Arbeiterklasse - sind Teil der Kultur. In einem soziologischen Sinne ist Kultur eine eigenständige Sphäre des Gesellschaftlichen, da kulturelle Deutungen keine bloße Reflexion ökonomischer Verhältnisse sind. Diese Haltung ist charakteristisch für die in Anlehnung an Laclau und Mouffe vertretene Perspektive innerhalb der Cultural Studies. Gesellschaftliche Antagonismen gehen über Klassenwidersprüche hinaus, und es existiert eine relative Autonomie sexistischer und rassistischer Unterdrückung (Moebius 2009: 190). Es handelt sich um ein Forschungsfeld, das in ganz unterschiedlichen Disziplinen (z.B. Literaturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Soziologie, Anglistik etc.) situiert ist und sich verschiedener Theorieperspektiven bedient (z.B. Postkolonialismus, Marxismus, critical race theory, postmoderne Perspektiven etc.). Die Cultural Studies sind - zumindest in ihren Anfängen - kein ausschließlich akademisches Unterfangen, sondern ein politisches und pädagogisches Projekt. Die Pioniere der Cultural Studies kommen aus der Erwachsenenbildung und propagieren ein demokratisches und emanzipatorisches Bildungsideal (Bromley et al. 1999: 10). Zu ihren Gründern zählen Richard Hoggart und Raymond Williams, beide aus dem Arbeitermilieu kommend und in der britischen New Left verankert (Moebius 2009: 119). Unterschieden werden können laut Moebius (ebd.: 121), der Rainer Winter folgt, drei Phasen ihrer Formierung bis in die 1970er Jahre: Mit der Gründung des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (1964) erfolgt eine Institutionalisierung. Beforscht werden Texte der Populärkultur aus einer literaturkritischen Perspektive (1. Phase). Mit Stuart Hall als neuem Leiter rücken soziologische Perspektiven stärker in das Blickfeld. Kultursoziologische Perspektiven in der Tradition von Weber, Simmel und Durkheim, aber auch Studien der Chicago School werden aufgegriffen (2. Phase). Die dritte Phase wird durch marxistische und strukturalistische Perspektiven bestimmt. Zentrale Texte der frühen Cultural Studies versammeln Bromley et al. (1999). <?page no="143"?> 4 Ethnizität und Rassismus 143 Wissenschaftliche Analyse ist kein Selbstzweck, sondern sie verfolgt das Ziel, politisch zu intervenieren, da Theorie „immer der Umweg auf dem Weg zu etwas wichtigerem“ (Hall 1994: 66) ist. Stuart Hall befasst sich mit dem Verhältnis von Kultur, Medien, Identität und Macht. Dabei sind Ethnizität und Rassismus zwei seiner zentralen Themen. Seine soziale Herkunft - das Aufwachsen in einer der ehemaligen Kolonien Großbritanniens - prägt sein wissenschaftliches Schaffen. Die Reflexionen der kolonialen Rolle Großbritanniens und der Einwanderungssituation sind zentraler Teil seiner Schriften. Stuart Hall nutzt die Schilderung biographischer Erlebnisse, um Macht und Herrschaftsverhältnisse in ihren konkreten Auswirkungen für das Erleben der Einzelnen greifbar zu machen. In seinen „selbstreflexiven Rekonstruktionen eines Diasporaintellektuellen“ sind die Erfahrungen in der Alltagswelt als einem politisch umkämpften Ort wiederholt Thema (Tsianos 2015: 59). Mit Ironie und Scharfsinn kommentiert er Biographisches im Zusammenhang mit der postkolonialen Situation in Großbritannien: „Menschen wie ich, die in den fünfziger Jahren nach England kamen, haben dort - symbolisch gesprochen - seit Jahrhunderten gelebt. Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse. Ich bin der süße Zahn, die Zuckerplantage, die die Zähne von Generationen englischer Kinder ruinierte. Dann gibt es neben mir Tausende andere, die der Tee in der Tasse selbst sind. Der läßt sich nämlich, wie Sie wissen, nicht in Lancashire anbauen. Im Vereinigten Königreich gibt es keine einzige Teeplantage. Und doch steht die Tasse Tee symbolisch für die englische Identität. Was wissen denn die Menschen überall auf der Welt schon von den Engländern, außer daß sie ohne eine Tasse Tee den Tag nicht überstehen können“ (Hall 1994: 74). Hall wurde im deutschen Sprachraum als Ideologietheoretiker bekannt, der sich in der Tradition des westlichen Marxismus um eine Erneuerung gesellschaftskritischen Denkens bemüht. Dazu verknüpft er marxistische mit postmodernistischen Identitäts- und Subjektvorstellungen. Unterschiedlichste Theorien nutzt er als Werkzeuge, um konkrete gesellschaftliche Problemzusammenhänge zu analysieren. „Dieses Prinzip der Bricolage wurde auch wegweisend für den transdisziplinaren Forschungsansatzes der Cultural Studies, die in ihrer britischen Variante ihre Entwicklung, ihren internationalen Erfolg und innovative Kraft Stuart Hall maßgeblich verdanken […]“ (Winter 2006: 382). Stuart Hall legt in seinen Arbeiten keine einheitliche Bestimmung von Ethnizität vor. Er verwendet diesen Begriff, um grundlegende Reflexionen über die koloniale Rolle Großbritanniens, Nationalstaatlichkeit und Rassismus anzustellen. Ethnizität ist für ihn ein Strukturmerkmal moderner Gesellschaften und muss im Kontext der historisch gewachsenen Beziehungen zwischen Großbritannien und seinen Kolonien sowie der seinerzeitigen Einwanderungssituation analysiert werden. Ethnizität ist eine Ressource zur Orientierung in einer globalen Welt, die sich durch vielfältige Prozesse des sozialen Wandels auszeichnet. Ungewissheit und <?page no="144"?> 144 Karin Scherschel Unübersichtlichkeit erzeugen das Bedürfnis nach identitätsstabilisierenden Ruhepolen. „Die Wiederbelebung und Rekonstruktion der imaginären, erfahrbaren Orte erfolgt angesichts der globalen Postmoderne, die die Identität der spezifischen Orte zerstört, sie in diesen postmodernen Fluß der Diversität aufgenommen hat. Damit wird verständlich, wann die Menschen nach diesen Grundlagen greifen. Es ist dieses Greifen nach den Grundlagen, das ich Ethnizität nenne. Ethnizität ist der notwendige Ort oder Raum, von dem aus Menschen sprechen. Die Wiederentdeckung der eigenen Ethnizität ist ein wichtiges Moment für die Geburt und Entwicklung all der lokalen und marginalen Bewegungen, die die letzten zwanzig Jahre verändert haben“ (Hall 1994: 61). Die kapitalistische Krise hat in den 1970er Jahren in Großbritannien soziale Verwerfungen zur Folge aufgrund der Deregulierung und der Öffnung globaler Waren- und Finanzmärkte (ebd.: 48). Diese führen in den darauffolgenden Jahren in der Thatcher-Ära, als deren scharfer Kritiker er gilt, zu einem verstärkten Rückgriff auf ethnische Identität: „Folglich führt der Thatcherismus genau zu dem Zeitpunkt, an dem die sogenannte materielle Basis der alten englischen Identität am Horizont des Westens und des Ostens verschwindet, das Englischsein zu einer engeren, aber gefestigteren Definition als je zuvor. […] Der Thatcherismus beruht genau hierauf. Er fragt oft: ‚Bist du einer von uns? ‘ Wer ist einer von uns? Die Zahl der Menschen, die nicht zu uns gehören, würde jedenfalls ein ganzes Buch füllen. Kaum jemand gehört zu uns. […] Wenn die Ära der Nationalstaaten in der Globalisierung niederzugehen beginnt, ist also eine Regression hin zu einer sehr defensiven und höchst gefährlichen Form der nationalen Identität zu beobachten, die durch eine sehr aggressive Form des Rassismus angetrieben wird. Dies ist ein Teil der Geschichte der Ethnizität und Identität in einer älteren Form der Globalisierung“ (ebd.: 50f.). Stuart Hall argumentiert mit einem für die Vertreter_innen der Cultural Studies charakteristischen antiessentialistischen Identitätsverständnis. Es existiert keine ethnische Essenz oder ein Wesen des Schwarzen‘. Auf die Frage, welche Rolle seine Kindheit in Jamaika für sein wissenschaftliches und politisches Schaffen und seinen Kampf gegen den Kolonialismus hat, antwortet er in einem Interview mit dem Freitag im Jahre 2001: „Ich weiß nur, was ich nicht bin: Ich bin nicht das, was meine Familie von mir erwartet hat, und ich bin nicht an dem Platz, den mir die Gesellschaft zugewiesen hat. In diesem Sinn habe ich keine Idee davon, wer ich bin. Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass ich ein Antiessenzialist bin und für Hybridität eintrete“ (Hall 2001). Inspiriert wird Halls Verständnis von Identität durch die Arbeiten des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci, der in Halls Lesart ein postmodernes <?page no="145"?> 4 Ethnizität und Rassismus 145 Subjektverständnis vertritt, das jede Vorstellung eines vorgegebenen, einheitlichen ideologischen Subjektes ablehne, z.B. die Idee eines Proletariers mit wahren revolutionären Ideen oder eines Schwarzen mit garantiert anti-rassistischem Bewusstsein. Gramsci erkenne „die Pluralität der Individuen und Identitäten, aus denen das sogenannte ,Subjekt‘ des Denkens und der Vorstellungen zusammengesetzt ist“, an (Hall 1989b: 82). In seinem programmatischen Aufsatz „Neue Ethnizitäten“ befasst sich Stuart Hall mit einer Neubestimmung des Ethnizitätsbegriffs. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind „Verschiebungen“ - oder besser - Neuorientierungen in der schwarzen Kulturpolitik. Die erste Phase schwarzer Kulturpolitik charakterisiert Hall als Phase, die das Ziel hatte, die Frage nach dem Recht auf Repräsentation bzw. den Zugang zu „Repräsentationsverhältnissen“ zu stellen und zudem eine positive schwarze Bildsprache zu entwickeln, die mit rassistischen Darstellungsweisen bricht (Hall 1994: 16). „Die Verschiebung kann am besten als ein Übergang vom Kampf um die Repräsentationsverhältnisse zu einer Politik der Repräsentation selbst beschrieben werden“ (ebd.: 17). Hall analysiert Kultur nicht als bloße Reflexionsfläche ökonomischer Verhältnisse, sondern als eigenständige Dimension des Gesellschaftlichen, die die Sinnwelten der Menschen machtvoll prägt und auf Lebensweisen Einfluss nimmt. Bei der kulturellen Produktion von rassistischen Bildern spielen Medien eine bedeutsame Rolle, deshalb nimmt die Auseinandersetzung mit Medien und ihrer Macht, gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen und Ideologien zu produzieren, eine zentrale Rolle in seinem Schaffen ein. Halls Verständnis von Ideologie ist durch den Foucault‘schen Diskursbegriffs, die ideologietheoretischen Überlegungen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und des französischen Philosophen Louis Althusser geprägt. Er (1989b: 150f.) formuliert sein Ideologieverständnis wie folgt: „Ich verwende den Begriff, um mich auf solche Bilder, Konzepte und Prämissen zu beziehen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen, interpretieren und ihnen einen Sinn geben.“ Ideologische Aussagen werden von Individuen getroffen, aber sie entstammen nicht dem individuellen Bewusstsein, sondern sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses. Der Diskursbegriff von Foucault differenziert nicht zwischen Denken und Handeln oder Sprache und Praxis (ebd.: 150). Diskurse treten in soziale Praktiken ein und beeinflussen diese. Von den Arbeiten Gramscis und Althussers inspiriert, wendet sich Hall (1994; 1989b) gegen eine materialistische Analyse des Rassismus, die diesen ausschließlich durch ökonomische Faktoren determiniert sieht; stattdessen geht er von der relativen Autonomie des Symbolischen aus. Vassilis S. Tsianos kommentiert treffend das Innovative dieses Ansatzes: <?page no="146"?> 146 Karin Scherschel „Das konzeptuell Neue des CCCS-Ansatzes bestand im Versuch, die symbolisch-kulturellen Vermittlungsprozesse des Rassismus herauszuarbeiten, wobei die notwendig widersprüchlichen Interdependenzen zwischen sozialer Struktur und soziosemantischer Ordnung weder ökonomistisch reduziert noch als explizit autonom begriffen wurden. In diesem Sinne wurde eine theoretische Neubestimmung der ‚Rassen-Klassen‘-Dialektik angestrebt, und zwar unter Rückgriff einerseits auf das ‚Hegemoniekonzept‘ von Antonio Gramsci, der den historisch-materialistischen, simplifizierenden Dualismus von Basis und Unterbau unterminierte, und andererseits auf die ideologietheoretischen Arbeiten von Louis Althusser, der die relative Autonomie des Ideologischen gegenüber der alles determinierenden Produktionsebene präzisierte“ (Tsianos 2015: 60). Die Wirkungsmacht des Rassismus kann demnach nicht losgelöst von ökonomischen Beziehungen angemessen verstanden werden. Das Problem ist laut Hall nicht, ob die ökonomischen Strukturen für ‚rassische‘ Spaltungen relevant sind, sondern wie beide theoretisch verknüpft werden (Hall 1994: 92). Worin besteht die Funktion des Rassismus? Hall bestimmt Rassismus als Ausgrenzungspraxis, die dazu führt, Personen den Zugang zu wertvollen Ressourcen in der Gesellschaft zu verweigern. Rassismus ist: „eine soziale Praxis, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden, etwa wenn man die Bevölkerung nicht in Arme und Reiche, sondern z.B. in weiß und schwarz einteilt. Kurz gesagt, in rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz. Es entsteht etwas, was ich als rassistisches Klassifikationssystem bezeichnen möchte, ein Klassifikationssystem, das auf ,rassischen‘ Charakteristika beruht. Wenn dieses Klassifikationssystem dazu dient, soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen, dann handelt es sich um rassistische Praxen“ (Hall 1989a: 919). Rassismus hat eine Naturalisierungsfunktion, da „Rassismen enthistorisieren - sie übersetzen historisch spezifische Strukturen in die zeitlose Sprache der Natur; sie zerlegen die Klassen in Individuen und setzen diese disaggregierten Individuen wieder zu rekonstruierten Einheiten zusammen, großen kohärenten Gebilden, neuen ideologischen ‚Subjekten‘: sie übersetzen ‚Klassen‘ in ‚Schwarze‘ und ‚Weiße‘, ökonomische Gruppen in ,Völker‘, feste Kräfte in ,Rassen‘“ (Hall 1994: 135). Stuart Halls Überlegungen liefern bedeutsame Einsichten in die Wirkungsweisen des Rassismus und die Vielfalt rassistischer Repräsentationen. Rassistische Ideologien folgen keiner einheitlichen Entwicklungslogik, sondern artikulieren sich je unterschiedlich sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen historisch unterschiedlichen Gesellschaftsformationen (Scherschel 2006b). Rassistische <?page no="147"?> 4 Ethnizität und Rassismus 147 Diskurse sind in komplexe Machtverhältnisse eingebettet und in ihrer produktiven Koexistenz mit unterschiedlichen Machtdimensionen zu analysieren. Insbesondere die feministische Diskussion hat eine Debatte um die Kategorie ,Rasse‘ mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit angeregt. Kossek (1999: 14) plädiert beispielsweise dafür, sich nicht auf die reine Differenz zu spezialisieren und soziale Konstruktionen abseits ihrer reziproken Überlagerungen und außerhalb von strukturellen Machtordnungen zu untersuchen: „Der Blick ist darauf zu richten, dass unterschiedliche Machtfaktoren zwar nicht voneinander zu trennen, wohl aber voneinander zu unterscheiden sind. [...] In (historisch) konkreten Untersuchungen sind vielmehr Fragen bedeutend, wie Rassismus mit gender, sexuellen Präferenzen, Klasse, Nation u.a. im globalen und lokalen Kontext von Machtverhältnissen verknüpft sind.“ Besondere Aufmerksamkeit hat im Kontext dieser Diskussionen das Konzept der Intersektionalität erhalten, das den Versuch darstellt, verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit in ihrem Zusammenwirken zu begreifen. B EGRIFF : Intersektionalität Kimberlé Crenshaw, eine US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin und Mitbegründerin der Critical Race Theory, prägte den Begriff ,Intersektionalität‘. Intersections stehen metaphorisch für Straßenkreuzungen. In ihrem vielzitierten Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ kritisiert Crenshaw die US-amerikanische Antidiskriminierungsrechtsprechung. Antidiskriminierungsgesetze kommen entweder weißen Frauen oder schwarzen Männern zu Gute. Schwarze Frauen stehen auf der Mitte einer Kreuzung, die Straßen symbolisieren verschiedene Machtverhältnisse: „Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and sometimes, from all of them. Similarly, if a black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination” (Crenshaw 1989: 149). In der US-amerikanischen Rechtsprechung existiert laut Crenshaw ein „single-axis framework“. Die Adressat_innen der Antidiskriminierungspolitik sind entweder schwarze Männer oder weiße Frauen. Viele Texte, die seit den 1970 Jahren geschrieben werden, kommen aus dem Black Feminism. Schwarze Aktivistinnen der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung und Wissenschaftlerinnen üben scharfe Kritik an ihrer marginalen Position in der US-amerikanischen Gesellschaft. Thematisiert werden u.a. die Folgen der Sklaverei, die marginale Position der Schwarzen in der US-amerikanischen Gesellschaft und die Kluft zwischen schwarzen Männern und schwarzen Frauen. Die Kritik des Black Feminism richtet sich nicht nur gegen <?page no="148"?> 148 Karin Scherschel eine als rassistisch und kapitalistisch markierte Gesellschaft, sondern auch gegen einen weißen westlichen Mittelstandsfeminismus (Talpade Mohanty 1988). Als vielzitierte historische Zäsur in der Diskussion gilt die Erklärung „History is a Weapon“ des Combahee River Collective (1977), einem Zusammenschluss schwarzer Aktivist_innen. Die Autor_innen plädieren für die Entwicklung einer integrierten Analyse, die verschiedene Formen der Unterdrückung in ihrer Koexistenz untersucht und bekämpft. Zentrale Beiträge in der deutschen Debatte zu Intersektionalität wurden u.a. von Winker/ Degele (2009), Hess et al. (2011) und Lutz et al. (2013) vorgelegt. Die Rassismusdiskussion hat viele Differenzierungen und kritische Wendungen erfahren. Jüngere Forschungen, wie die Critical Whiteness Studies, befassen sich mit der unhinterfragten Normalität des „Weißseins“. In der deutschen Diskussion wurden prominente Beiträge von Arndt et al. (2005) hierzu vorgelegt. Mittlerweile existieren verschiedene Begrifflichkeiten, die die Spezifik von Rassismen erfassen sollen. Dazu zählen Antisemitismus, Antiziganismus bzw. Antiromaismus oder antimuslimischer Rassismus. Diese Rassismen weisen strukturell die gleichen Mechanismen auf. „Sie vereint ein Rassifizierungsprozess, der über bloße Vorurteile oder Stereotypisierungen hinaus geht, mit der Etablierung und Verteidigung gesellschaftlicher Machtverhältnisse einhergeht und auf diese Weise Privilegien und den Zugang zu Ressourcen reguliert“ (Attia/ Keskinciliç 2017: 121). Im Folgenden soll auf einen der aktuellen Diskursstränge der Rassismusforschung am Beispiel des antimuslimischen Rassismus eingegangen werden. Antimuslimischer Rassismus: Iman Attia und Yasemin Shomann Die aktuelle Forschung zum antimuslimischen Rassismus untersucht, warum und in welcher Weise Muslim_innen als Andere konstruiert werden (Attia/ Keskinciliç 2016). Die Abwehr gegen Muslime erreicht in Deutschland einen Höhepunkt mit der Pegida-Bewegung („Patriotische Europäer gegen eine Islamisierung des Abendlandes“), die sich explizit gegen den Islam wendet. Dies zeigt sich auch in Umfragen und quantitativen Einstellungsmessungen zum Islam. Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung kommt etwa in seiner Sonderauswertung Islam zum Ergebnis, dass über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland den Islam als Bedrohung wahrnehmen und der Annahme sind, dass der Islam nicht in die westliche Welt passe (Bertelsmann Stiftung 2015: 7). Die Abwehr gegen den Islam ist allerdings kein neues Phänomen. Eine Islamisierung der Debatten um Migration und Integration, ebenso wie eine Ethnisierung religiöser Zugehörigkeit setzten bereits mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA ein. Statt von Ausländer_innen würde nun von Muslim_innen gesprochen, so Shomann (2015: 149). Yasemin Shomann ist Historikerin und derzeitige wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). <?page no="149"?> 4 Ethnizität und Rassismus 149 Die Dämonisierung des Islam hat eine historische Dimension. Im Rassismus verbinden sich historische Bilder des Anderen, die über Berichte, Erzählungen, Abenteuerromane, Musik, Prosa, Reiseberichte, Kinderbücher, filmische Darstellungen und Geschichtsdeutungen kolportiert und mit gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen verknüpft werden. Zu den bis heute wirkmächtigen, die Vorstellungen vom Islam prägenden Werken zählen zweifelsohne die Märchen aus 1001 Nacht und die Bücher Karl Mays (Attia 2009: 57). Es sind die Bilder von berauschend schönen, sexuell wollüstigen, verschleierten Frauen oder von blutrünstigen, hinterlistigen, grausamen Orientalen, die in den Wissensfundus ganzer Generationen einfließen. Wissen über den Islam und Muslim_innen wird seit Jahrhunderten in kulturellen Repräsentationen hervorgebracht (Said 1978). In rassistischen Konstruktionen des Anderen tauchen sowohl historische „Anleihen“ als auch gegenwärtige kulturelle Wahrnehmungsweisen auf. Iman Attia, eine deutsche Sozialpädagogin und Professorin an der Alice Salomon Hochschule, liefert in ihrem Buch „Die ‚westliche Kultur‘ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion des Orientalismus und antimuslimischen Rassismus“ eine historische Rekonstruktion der abwertenden Beschreibungsmodi des Islam (Attia 2009). Warum von antimuslimischem Rassismus sprechen? Kritiker_innen argumentieren, dass die Abwehr gegen Muslim_innen nicht als Form des Rassismus qualifiziert werden kann, da sie sich gegen eine Religion richte, die im Gegensatz zu einer Hautfarbe frei wählbar sei. Shomann (2015: 152) weist dagegen in ihren Schriften auf die Arbeiten von Nasar Meer, Tariq Modood und Juanid Rana hin, um das Argument der freien Wählbarkeit zu entkräften. Man könne sich eben nicht aussuchen, ob man in eine muslimische Familie hineingeboren würde, oder die Gesellschaft frei wählen, in der muslimisches Aussehen mit negativen Assoziationen verknüpft würde. Der Anthropologe Juanid Rana mache zudem - so Shomann - darauf aufmerksam, dass bspw. durch das racial profiling bei der Bekämpfung von Terrorismus versucht wird, zu definieren, wie ein Muslim aussieht. Dadurch finden Markierungen statt, die das Äußere von Personen als ‚typisch für …‘ qualifizieren. Das heißt, im antimuslimischen Rassismus verbinden sich je nach Kontext Zuschreibungen von Religiosität mit äußerlich wahrnehmbaren Merkmalen. Um diese Konstruktionsprozesse beschreibbar zu machen, greift Iman Attia in ihren Analysen das Othering-Konzept auf. Die „Anderen“ existieren nicht in der Realität, sondern sie werden im Prozess des Otherings - des Andersmachens - konstruiert. So schreiben Attia und Keskinc ç (2017: 121): „Mit Hinweis auf ihre ‚Rasse‘, Ethnie, Kultur und/ oder Religion werden Menschen zu Gruppen zusammengefasst und in einem Konstruktionsprozess homogenisiert, essentialisiert und dichotomisiert, d.h. sie werden als im Wesentlichen untereinander gleich angenommen (Homogenisierung), weil ihre Gene, Kultur oder Religion so sei (Essentialisierung) und sie darin ganz anders als wir <?page no="150"?> 150 Karin Scherschel seien (Dichotomisierung). Differenzen innerhalb der in diesem Otheringprozess hervorgebrachten Gruppen werden vernachlässigt oder zu Ausnahmen erklärt - ebenso wie Gemeinsamkeiten über die Gruppengrenzen hinweg. So werden etwa (prominent im Falle des antimuslimischen Rassismus) Sexismus, Homophobie oder Antisemitismus im ‚eigenen‘ Kontext entweder als berechtigt oder als Ausnahme bzw. Relikt aus der Vergangenheit verharmlost, während sie bei ‚den anderen‘ zu einem genuinen Merkmal ihrer ‚Rasse‘, Ethnie, Kultur oder Religion erklärt und problematisiert werden.“ Im antimuslimischen Rassismus wird hegemoniales Wissen über den Islam und Muslim_innen hervorgebracht (Attia 2009; Shooman 2015). 44.4 Resümee Zentrale Charakteristika und Verwendungen der Begriffe ‚Ethnizität‘, ‚Ethnie‘ und ‚Rasse‘ wurden in den vorangegangenen Kapiteln anhand ausgewählter Debatten im Horizont dreier Phasen der Moderne skizziert. Folgende Kernpunkte lassen sich für die soziologischen Debatten zusammenfassen: Ethnizität ist das Resultat sozialer Prozesse: Ethnien und Rassen sind keine vorsozialen, natürlich bzw. biologisch verfassten Gruppen und kein universelles Prinzip sozialer Vergemeinschaftung, sondern das Ergebnis von sozialen Grenzziehungen. Die soziale Konstruktion von Ethnien und von Rassen wird als eine Form der Naturalisierung sozial hergestellter Gegebenheiten identifiziert. Diese werden durch das aktive Handeln der Individuen im Alltag und in den zentralen Institutionen moderner Gesellschaften hergestellt. Es gibt unterschiedliche Verhältnisbestimmungen der Begriffe ‚Rasse‘ und ‚Ethnie‘ im zeitlichen Verlauf. Der Begriff der Rasse wird vorzugsweise benutzt, um körperliche Merkmale zu fassen, der der Ethnie, um kulturelle Merkmale zu beschreiben. Zuweilen wird Ethnie als Oberbegriff verwendet (siehe Max Weber), und Rasse gilt als ein spezifischer Typus von Ethnie. Ebenso wird Rasse als Generalkategorie verwendet, um sie in verschiedene Ethnien zu differenzieren. Zudem wird Ethnie seitens der UNESCO bereits 1950 als begriffliche Alternative zum Rassenbegriff vorgeschlagen. Ethnizität ist in ihrer je konkreten Bedeutung sowohl im Angesicht historischer Entwicklungen wie Kolonialismus, Nationalstaatenbildung, Verbreitung von Rassentheorien, gewaltsamen Vertreibungen, Diasporabildung als auch im Horizont gegenwärtiger gesellschaftlicher Dynamiken der Globalisierung, der Weltgesellschaft und von (Flucht-)Migrationen zu analysieren. Ethnizität ist eine sinnhafte Erfahrungsdimension von Individuen, die in den Selbstbeschreibungen von Individuen, ihren Definitionen von Zugehörigkeit und ihren Identifikationen mit Gemeinschaft Relevanz besitzt. Ethnizität ist <?page no="151"?> 1 Ethnizität und Rassismus 151 kein natürliches Konstituens menschlicher Identität, sondern beruht auf dem subjektiven bzw. kollektiven Glauben an eine ethnisch definierte Gemeinschaft. Ethnizität ist ein Strukturgeber sozialer Ungleichheit: Ethnizität ist Legitimationsquelle sozialer Machtausübung und diskriminierender Praktiken. Sie konstituiert Über- und Unterordnungsverhältnisse, Ein- und Ausgrenzungen, die in ökonomischen, politischen und rechtlichen Ungleichheiten von Personengruppen zum Ausdruck kommen. Sie kann im Dienste politischer Interessen z.B. von rechtspopulistischen oder separatistischen Bewegungen zur Mobilisierung von symbolischen und materiellen Ressourcen eingesetzt werden. Ethnizität ist in komplexe Machtverhältnisse eingebettet und in ihrem Zusammenwirken mit weiteren Strukturgebern sozialer Ungleichheit, wie z.B. Klasse und Geschlecht, zu analysieren. Ethnizität, Ethnie, Rasse und Rassismus, dies haben die vorangegangen Ausführungen gezeigt, sind keine klar definierten Begriffe und keine leicht zu analysierenden sozialen Phänomene. Was darunter verstanden wird, steht in einem Zusammenhang mit dem jeweiligen historischen Kontext, den zeitgenössischen politischen Diskursen und den herrschenden wissenschaftlichen Deutungen. <?page no="153"?> 55 Soziale Ungleichheit S EBASTIAN S EVIGNANI „Inequality is a violation of human digntity; it is a denial of the possibility for everybody’s human capabilities to develop. It takes many forms, and it has many effects: premature death, ill-heath, humiliation, subjectvation, discrimination, exclusion from knowledge or from mainstream social life, poverty, powerlessness, stress, insecurity, anxiety, lack of self-confidence and of pride in oneself, and exclusion from opportunities and life-chances. Inequality, then, is not about the size of wallets. It is a socio-cultural order, which (for most of us) reduces our capabilities to function as human beings, our health, our selfrespect, our sense of self, as well as our resources to act and participate in this world.“ (Therborn 2016: 1). Mit dieser eindringlichen Beschreibung eröffnet der aus Schweden stammende Soziologieprofessor an der Universität Cambridge, Göran Therborn, sein Buch „The Killing Fields of Inequality“ (2016). Wer den Gegenstand so bestimmt oder darauf hinweist, dass zwar gegenwärtig die Ungleichheit zwischen Nationen insgesamt eher abnimmt, aber die Aufholjagd vieler Länder gegenüber der ‚entwickelten‘ Welt begleitet ist von einer drastischen Polarisierung zwischen den Menschen, der beschreibt soziale Ungleichheit als Problem und positioniert sich bereits in einer Kontroverse über die normativen Implikationen der Gesellschaftstheorie und darüber, ob Gesellschaften eher vertikal oder horizontal differenziert zu denken sind (Schwinn 2004; Schroer 2010; Mergel 2013). H INTERGRUND & D EBATTE : Vertikale oder horizontale Differenzierung der Gesellschaft Theorien sozialer Differenzierung, die die Gesellschaft horizontal unterteilen, betrachten Ungleichheiten im Gegensatz zu Theorien vertikaler Schichtung als Ungleichartigkeiten in Bezug auf askriptive Merkmale, kulturelle Vorlieben, individuelle Kompetenzen und (Arbeits-)Tätigkeiten. Die Gesellschaft wird dabei durch die horizontale Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären bzw. Logiken charakterisiert. Diese Differenzierung ermöglicht für die Akteur_innen unterschiedliche Rollenübernahmen, die dann entweder - positiv besetzt - als Ausbildung von Individualität bzw. Kompetenzerweiterungen oder aber auch - negativ besetzt - als Identitätsverlust, Verselbständigungsprozesse und Verlust von Ordnung analysiert werden. Theorien sozialer Differenzierung verstehen sich im Unterschied zur Perspektive sozialer Ungleichheit als problematische Ungleichwertigkeit <?page no="154"?> 154 Sebastian Sevignani häufig wertfrei-beschreibend und nicht normativ-verändernd, d.h. an der Lösung sozialer Probleme orientiert. Kritische Gesellschaftstheorien sozialer Ungleichheit zeichnen sich demgegenüber gerade durch ein starkes Interesse an Gerechtigkeitsfragen aus. Die Verbindung beider Paradigmen erweist sich gesellschaftstheoretisch als spannend und notwendig: z.B. ist die Unterscheidung zwischen Ungleichartigkeit und Ungleichheit auch für kritische Theorien sozialer Ungleichheit interessant. Wann werden aus Ungleichartigkeiten soziale Ungleichheiten, die gerade die individuelle Entwicklung hemmen? Wenn ‚Gleichmacherei‘ nicht das Ziel ist, welchen normativen Fluchtpunkt haben Theorien sozialer Ungleichheit? Es lässt sich zudem argumentieren, dass die Wahrnehmung und Bewertung von Ungleichartigkeiten durch die Akteur_innen notwendiger Bestandteil aller Mechanismen sozialer Ungleichheitsproduktion ist (Diewald/ Faist 2011; Tilly 1998). Sodann ist die Unterscheidung sozialer Ungleichheit entlang unterschiedlicher Dimensionen und die Analyse von deren Verbindungen, z.B. zwischen ökonomischen, kulturellen und politischen Ungleichheiten, einem differenzierungstheoretischen Blick auf Gesellschaft geschuldet. Auch wenn einzelne Dimensionen, wie z.B. die ökonomische (v.a. Einkommen und Vermögen), als zentral markiert werden sollen, wäre es schlicht unterkomplex, nicht auch Verstärkungs-, Abschwächungs- und Widerspruchsmomente zwischen verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit zu beachten. Schließlich wird der differenzierungstheoretische Blick wichtig, soll Ungleichheit nicht nur in ihren graduellen, sondern auch in ihren kategorialen Formen erfasst werden. Dies verweist auf für die soziale Ungleichheit grundlegenden Inklusions- und Exklusionsverhältnisse. Einfache Theorien sozialer Ungleichheit, die nur nach oben vs. unten bzw. Graden der Ungleichheit und der Benachteiligung unterscheiden, können das Problem grundsätzlicher Inklusion bzw. Exklusion nicht denken, da diese nur vor dem Hintergrund von systemischen Funktionslogiken oder differenzierten Wertsphären bestimmbar ist. In Anlehnung an die in der Einleitung getroffene Unterscheidung verschiedener Phasen der Moderne, werden in diesem Kapitel drei Gesellschaftstheorien der sozialen Ungleichheit verhandelt und mit einander ins Gespräch gebracht. Dabei wird deutlich, dass die Soziologie sicherlich als Schlüsseldisziplin für das Problem der sozialen Ungleichheit gelten kann, sie aber auch bei der Behandlung dieser Frage nicht ohne interdisziplinäre Bezüge auskommen kann, die in diesem Fall vor allem polit-ökonomischer und sozialphilosophischer Natur sind. In der frühen Moderne weist wie kein zweiter Karl Marx (1818-1883) auf die Persistenz sozialer Ungleichheit hin. Das Problem sozialer Ungleichheit in der entwickelten Moderne wird am Beispiel der Gesellschaftsanalyse Pierre Bourdieus <?page no="155"?> 5 Soziale Ungleichheit 155 (1930-2002) diskutiert. Nancy Fraser (geb. 1947) wird schließlich als heute einflussreiche Gesellschaftstheoretikerin vorgestellt, die die soziale Frage unter spätmodernen Bedingungen der Flexibilisierung und Funktionskrise stabiler gesellschaftlicher Ordnungen diskutiert. Mit Pierre Bourdieu und Nancy Fraser wird auch der Einfluss Max Webers berücksichtigt, der neben Marx zweite Klassiker der Ungleichheitsforschung, ohne jedoch explizit verhandelt werden zu können. Es wird jeweils nach dem gesellschaftstheoretischen Rahmen gefragt. Dann wird die Theorie sozialer Ungleichheit dargestellt (Dimensionen, Achsen, Mechanismen, Verschränkungen). Schließlich wird beleuchtet, was die jeweiligen Theorien auf der Ebene gesellschaftlicher Praxis anbieten: Wie lassen sich ausgehend vom Problem der sozialen Ungleichheit eine Kritik an den sozialen Verhältnissen und Gestaltungsoptionen für die gesellschaftliche Transformation zum ‚Besseren‘ oder ‚Gerechteren‘ denken? B EGRIFF & D EFINITION : Grundkategorien der sozialen Ungleichheit Dimensionen der Ungleichheit: Bereits Max Weber (1972 [1921]: 177ff., 857ff.) unterschied zwischen verschiedenen ökonomischen (Klassen), kulturellen (Stände) und politischen (Parteien) Ungleichheiten und nahm so eine Differenzierung der Ungleichheit nach grundlegenden Gesellschaftsdimensionen vor. Achsen der Ungleichheit: Achsen der Ungleichheit liegen quer zu den Dimensionen und sind inhaltlich bestimmt. Neuere Intersektionalitätstheorien (vgl. Degele/ Winker 2011) beobachten soziale Ungleichheiten mindestens entlang der Achsen „class, race, gender“. Sie betonen, dass Ungleichheit entlang der Achsen multidimensional betrachtet werden muss, also nicht ausschließlich als ökonomische, kulturelle oder politische Ungleichheit. Sie machen auch deutlich, dass sich Achsen zwar vielfältig überschneiden können, sich aber nicht auf eine (Haupt-)Achse reduzieren lassen. Mechanismen der Ungleichheit: Ein sozialer Mechanismus der Ungleichheit vermittelt zwischen einem spezifischen Input und einem Output. Seine Analyse soll erklären, wie es (im Durchschnitt) zustande kommt, dass z.B. eine mit mittlerer Bildung zertifizierte Arbeiterin (Input) am Ende ihres Lebens nicht in den oberen 30 Prozent der Wohlstandsverteilung einer Gesellschaft rangiert (Output), oder, wie es z.B. möglich ist, dass beständig eine Teilung in Arbeitnehmer_innen und Arbeitgeber_innen in der Gesellschaft reproduziert wird. Verschränkungen von Ungleichheiten: Wie werden die Verbindungen zwischen den Dimensionen, Achsen und Mechanismen der Ungleichheit konzipiert? Macht es Sinn, Dimensionen der Ungleichheit zu unterscheiden, oder muss Ungleichheit durch einen von vorneherein integrativ angelegten <?page no="156"?> 156 Sebastian Sevignani Blick auf Achsen hin analysiert werden? Korrespondieren bestimmte Achsen der Ungleichheit mit bestimmten Gesellschaftsdimensionen, z.B. Klasse mit der ökonomischen und Geschlecht mit der kulturellen Dimension? Welche Verstärkungs- oder Abschwächungseffekte gibt es zwischen den Dimensionen, Achsen und Mechanismen der Ungleichheit? Ist es angemessen, aus sozialtheoretischen oder aus zeitdiagnostischen Gründen einzelne Dimensionen, Achsen und Mechanismen zentral zu setzten? Antworten auf solche Fragen stellen den zugleich interessantesten, am wenigsten ausgearbeiteten und umstrittensten Teil einer Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit dar. 55.1 Frühe Moderne: Karl Marx Mit Marx wird der Umstand, dass soziale Ungleichheit ein Problem der Gesellschaftstheorie ist, fulminant etabliert und seine tiefenscharfe Analyse wichtiger Ursprünge des Problems bleibt aktuell. Er weist nach, dass die modernen kapitalistischen Verhältnisse die für die feudalen Verhältnisse typischen und offen zutage tretenden Ungleichheitsverhältnisse in neuer Form reproduzieren. Die Marx‘sche Theorie orientiert bereits sozialtheoretisch auf die ökonomische Dimension sozialer Ungleichheit, indem sie den Menschen und seine Entwicklung wesentlich durch den Arbeitsprozess bestimmt sieht. In der Arbeit vergegenständlichen sich die Menschen in Arbeitsprodukten, indem sie sich Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände aneignen. Dabei verändert sich nicht nur die Umwelt, sondern die arbeitenden Menschen entwickeln auch ihre Fähigkeiten weiter und ‚bilden‘ sich dabei. Das System der menschlichen Produktivkräfte spannt sich also bei Marx als tätige Beziehung (Aneignung, Vergegenständlichung, Bildung) zwischen Subjekten und natürlichen bzw. bereits geformten Objekten in der Arbeit auf (Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 192ff.; Marx 1967 [1844] [MEW 40]: 515). Arbeit findet immer in sozialen Verhältnissen, den Produktionsverhältnissen (Marx 1961 [1859] [MEW 13]: 8). statt. Mit diesem kategorialen Rahmen ist es Marx möglich, historisch unterschiedliche Produktionsweisen zu identifizieren, in denen die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in widerspruchsvoller Form zusammenspielen. Marx‘ gesellschaftstheoretischer Hauptgegenstand ist eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht (Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 49), und diese hatte sich zu seinen Lebzeiten vor allem im sich industrialisierenden England etabliert. Diese kann mit den bereits skizzierten sozialtheoretischen Begrifflichkeiten im historischen Vergleich deutlicher gefasst werden. Vor allem in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ ist Marx an einer Art abstrakter Zeitdiagnose interessiert. Es geht ihm nicht nur darum, einzelne gesellschaftliche Konjunkturen <?page no="157"?> 5 Soziale Ungleichheit 157 zu theoretisieren, sondern den Kapitalismus auch in seinem „idealen Durchschnitt“ (Marx 1968b [1894] [MEW 25]: 839) und „die Gesellschaft, nach ihrer ökonomischen Struktur“ (ebd.: 327) hin darzustellen. Was also ist der ideale Durschnitt des Kapitalismus für Marx, und wie hängt der Kapitalismus mit der Produktion sozialer Ungleichheit zusammen? Marx beginnt sein Hauptwerk mit der Feststellung, dass in kapitalistischen Gesellschaften Reichtum in Form von Waren auftritt. Waren sind für den Austausch bestimmte Ergebnisse der menschlichen Produktion. Damit aber etwas ausgetauscht wird, muss eine spezielle Arbeitsteilung vorherrschen, die sich nicht in der Spezialisierung von Arbeitstätigkeiten erschöpft, sondern privatwirtschaftliche Produktion ist. Die Fragen, was, wozu, wie und mit welchem Mitteleinsatz produziert wird, werden im Kapitalismus privat, d.h. ohne Vermittlung über eine soziale oder politische Instanz entschieden. Warum sich in einer solchen Gesellschaft qualitativ doch sehr verschiedene Arbeitsprodukte gegeneinander austauschen lassen wird für Marx zum Springpunkt für das Verständnis des Kapitalismus (Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 56). Die Lösung, die Marx hier anbietet, ist eine spezielle Form von Arbeit, die er als „abstrakte Arbeit“ bezeichnet und die die unterschiedlichen konkreten Arbeiten auf einen vergleichbaren Nenner bringt und so einen Ausdruck im Geld ermöglicht. Dabei handelt es sich nicht um eine empirisch beobachtbare Form der Arbeit, sondern um ein soziales Verhältnis. Die in den Waren vergegenständlichte, qualitativ unterschiedliche menschliche Arbeit wird auf Märkten verglichen. Dies geschieht nicht bewusst und nicht geplant, sondern im praktischen Vollzug des Warentausches findet eine „Realabstraktion“ (Sohn-Rethel 1971: 41; vgl. Ritsert 1998a) von den Qualitäten der Arbeit statt, die dann den gesellschaftlichen Wert geleisteter Arbeit festlegt. Was, wozu, wie und mit welchem Mitteleinsatz produziert wird, regelt die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes. Ob eine Produktion ‚wertvoll‘ war, stellt sich also immer erst a posteriori, nach erfolgter Produktion heraus. D.h. trotz Mühe, Arbeitsaufwand und Nützlichkeit kann ein Produkt ‚wertlos‘ sein, wenn es nicht auf eine kaufkräftige Nachfrage trifft, seinen Wert nicht auf dem Markt ‚realisiert‘. Nicht jede Arbeit ist somit wertschaffend im kapitalistischen Sinn. Scheitert der Tausch, ist sie nichts wert. Gleichwohl würden wir sie, wie z.B. im Fall nicht getauschter Fürsorgearbeiten, manchmal trotzdem als gesellschaftlich wertvoll erachten. Dies hat ungleichheitsrelevante Implikationen: Eigentlich wertvolle Arbeiten, etwa in der Altenpflege und Erziehung, werden im Kapitalismus nicht gut repräsentiert, d.h. sie tauchen z.B. in den Bilanzen nicht auf. Diejenigen, die diese Arbeiten verrichten, sind im Gegensatz zu denjenigen, die im kapitalistischen Sinne ‚wertschaffende‘ Arbeiten leisten, benachteiligt. Für Marx vergesellschaften sich die Menschen in der Arbeit als gegenständliche Gattungswesen; im Kapitalismus findet dies in der Form abstrakter Arbeit, d.h. als Wert bzw. a posteriori als Vergesellschaftung über das Geld statt. <?page no="158"?> 158 Sebastian Sevignani Die für Vergesellschaftung charakteristische private Produktion von Waren hat neben der Unmöglichkeit einer bewussten Planung der gesellschaftlichen Produktion noch ein weiteres für das Verständnis des Kapitalismus entscheidendes Merkmal. Produziert wird nicht nur, um zu tauschen, sondern auch, um aus den eingesetzten Geldmitteln einen Profit zu ziehen. Der Wert (d.h. die im Geld ausgedrückte und nurmehr quantitativ sich unterscheidende Arbeit) wird im Kapitalismus zum Selbstzweck, der die gesellschaftliche Entwicklung unablässig antreibt und sich gegenüber qualitativen Begrenzungen, wie z.B. gegenüber den Erschöpfungszuständen der Arbeitenden oder, wie wir bei Nancy Fraser sehen werden, gegenüber seinen eigenen natürlichen, politischen und sozialen Ermöglichungsbedingungen, unablässig antreibt. Geld (G) wird im Kapitalismus gegen Waren getauscht (G-W), um mehr Geld zu erhalten (G-W-G´). So wird es zum Kapital. Die Akkumulation des Kapitals vermittelt sich über die, für die Privatproduktion typische, Konkurrenz. Weil ich nicht weiß, welche Antworten andere Marktteilnehmer_innen auf die oben genannten Produktionsfragen nach dem Was, Wozu, Wie und mit welchen Mitteln finden, versuche ich diese Fragen für mich möglichst effizient zu beantworten, um möglichst mehr Wert zu realisieren, als ich eingesetzt hatte. Dies setzt eine ungeheure krisenhafte Konkurrenzdynamik (Mandel 1973: 149ff.; Sablowski 2003; Henning 2005: 60ff.; Harvey 2015) um die private Realisation von Werten in Gang. Mit dem Kapitalverhältnis schaffen sich die Menschen eine Struktur, die sich gegenüber ihren tätigen Praxen verselbstständigt. Maßlose und endlose Mehrwertproduktion, nicht menschliche Bedürfnisbefriedigung ist das systemische Ziel des Kapitalismus. Letztlich aber hat die krisenhafte Akkumulationsdynamik ihren tieferen Grund nicht im Tauschgeschehen und im Geld, sondern in den Ausbeutungsverhältnissen innerhalb der Produktion - was uns direkt zum Kernstück der Marx‘schen Theorie sozialer Ungleichheit führt. 55.1.1 Die Bedeutung der Produktionsverhältnisse: Kapitalistische Ausbeutung als dialektisches soziales Verhältnis Da Marx den sozialtheoretischen Fokus auf Arbeit und die sie umgebenden sozialen Verhältnisse legt, interessiert er sich v.a. für die ökonomische Dimension der Ungleichheit. Dabei sieht er aber auch, wie die spezielle Eigenlogik dieser Dimension politisch ermöglicht und abgesichert wird. Entlang der ökonomischen Achse sozialer Ungleichheit bilden sich Klassen, die für Marx zunächst durch ihre Stellung zum gesellschaftlichen Produktionsprozess bestimmt sind. Für Marx ist alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen (Marx/ Engels 1959 [1848] [MEW 4]: 462), die sich letztlich um die Auseinandersetzung drehen, wie jeweils historisch das über die bloße Reproduktion des Gegebenen hinausgehende erwirtschaftete gesellschaftliche Surplus-Produkt verteilt wird. Der hauptsächliche soziale Mechanismus zur Klassenbildung und der tiefere Grund für die Kapitalakkumulation liegt für Marx in der Ausbeutung. Bei <?page no="159"?> 5 Soziale Ungleichheit 159 Ausbeutung handelt es sich um die Instrumentalisierung von bestimmten menschlichen Fähigkeiten zu Lasten einer und zum Vorteil einer anderen Gruppe. Sie ist durch drei Merkmale gekennzeichnet (Wright 1997: 10): der materielle Reichtum einer Gruppe basiert auf den materiellen Entbehrungen einer anderen Gruppe; diese Beziehung beruht auf dem einseitigen Ausschluss der Ausgebeuteten von produktiven Ressourcen; der soziale Mechanismus, der Ungleichheit und Ausschluss miteinander verbindet, ist der der Aneignung der Arbeitserträge der Ausgebeuteten durch die ausbeutende Gruppe, die über die Kontrolle der produktiven Ressourcen verfügt. Fehlt der letzte (dialektische) Aspekt, kann von nicht-ausbeutender ökonomischer Unterdrückung, aber nicht von Ausbeutung gesprochen werden, weil die privilegierte Gruppe nicht auf die Tätigkeit der weniger privilegierten Gruppe angewiesen ist (Wright 2015: 7ff., 85). Welche Form nimmt nun Ausbeutung im ‚idealen Durschnitt‘ des Kapitalismus an? Für Marx lässt sich die Antwort darauf durch eine historische Analyse der ursprünglichen Akkumulation finden, an dessen Ende die doppelt freien Lohnarbeiter_innen stehen. In England findet mit Beginn des 16. Jahrhundert eine durch politische Gewalt forcierte Scheidung der Produzent_innen von ihren Produktionsmitteln statt, u.a. durch staatliche Umverteilungsmaßnahmen von unten nach oben, gewaltsame Enteignungen, Veräußerungen von Staatsdomänen und Verwandlung von Feudaleigentum in Privateigentum. Komplementär bildeten sich durch die Expropriation der Bäuer_innen eine Klasse von Grundeigentümer_innen heraus, und aus deren Pächter_innen entwickelten sich schließlich die Kapitalist_innen, die gleichzeitig auf Kosten der Landlords und der Lohnarbeiter_innen reich wurden (Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 772). Ähnlich wie bei Max Weber ist dieser - bei Marx allerdings als äußerst gewaltsam beschriebene - historische Prozess mit der Konzentration der Produktionsmittel, freien Arbeitskräften, der Herausbildung von Märkten inklusive Arbeitsmärkten, einer neuen Klassenformation sowie dem kulturell etablierten Wert produktiver Effizienz und schließlich dem Gewinn als Ziel wirtschaftlichen Handelns, abgeschlossen. Eigentumsverhältnisse, in denen die Arbeiter ‚doppelt frei‘, also frei von den Mitteln zur Sicherung der eigenen Existenz (Produktionsmittel) sowie frei von personaler Herrschaft durch Dritte (wie im Feudalismus), sind, bedürfen dann aber eines diese Freiheiten sichernden Staates. So wurden typisch kapitalistische Verwertungsverhältnisse, die auf Ausbeutung von Lohnarbeit beruhen, ermöglicht. Nach Marx kann nur dann von spezifisch kapitalistischer Ausbeutung gesprochen werden, wenn die menschliche Fähigkeit zu arbeiten durch den oben skizzierten historischen Prozess in die Warenform gezwungen wird (ebd.: 386). Die Lohnzentriertheit seines Verständnisses der Ausbeutung der Arbeiter_innen wird so <?page no="160"?> 160 Sebastian Sevignani plausibel. Über die Warenform der Arbeit, d.h. über das historische Entstehen von Märkten für Arbeitskräfte, ist die Marx‘sche Theorie sozialer Ungleichheit systematisch mit der Gesellschaftstheorie verkoppelt. Marx verklammert in seiner Analyse der Struktur des Kapitalismus seine Theorie des Wertes mit der Theorie der Ausbeutung. Das Kapitalverhältnis ist für ihn um die Ebene der Produktion (P) zu ergänzen, und hieraus ergibt sich die entsprechende Langformel von G- W-G´. G - W (Ak + Pm) … P… W´- G´. Die Besonderheit der von den Kapitalist_innen eingekauften Ware Arbeitskraft (Ak) ist es, in Kombination mit den Produktionsmitteln (Pm), die den Kapitalist_innen gehören, mehr Wert zu schaffen als für ihre Reproduktion an Wert notwendig ist. Das heißt, die Arbeiter_innen arbeiten mehr als die für sie zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft „notwendigen“ Lebensmittel kosten. Marx bestimmt so die Untergrenze des Wertes der Ware Arbeitskraft durch die zu ihrer physischen Reproduktion notwendigen Subsistenzmittel; daneben geht aber ein „historisches und moralisches Element“ (Marx 1968a [1867] [MEW 23]: 185) in diese Wertbestimmung ein. Löhne unterschreiten ein jeweils gesellschaftlich anerkanntes Existenzminimum nicht, welches durch den je historisch erreichten Stand der Klassenauseinandersetzung definiert ist. In der Zeit, in der die Lohnarbeiter_innen über die Deckung der Kosten für ihre Lebensmittel hinaus für die Kapitalist_innen tätig sind, erarbeiten sie ein Mehrprodukt (W´), welches die Realisation eines Mehrwerts (G´) ermöglicht. Wird dieser Mehrwert wiederum für die Mehrwertproduktion eingesetzt, kommt es zur (erweiterten) Akkumulation des Kapitals bzw. der Reproduktion des mit ihm verbundenen sozialen Tausch- und Klassenverhältnisses (ebd.: 611). Die Klassenposition sowohl der Monopolist_innen der Produktionsmittel, als auch der abhängig Arbeitenden wird laufend wiederhergestellt, obwohl oder gerade, weil auf Märkten zu Äquivalenten getauscht wird oder, wie Marx spöttisch bemerkt, die Zirkulationssphäre, in der sich der „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft [...] bewegt“, als ein „wahres Eden der angeborenen Menschenrechte“ (ebd.: 189) mit staatlich sanktionierten Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsrechten erscheint. Erst jetzt, d.h. mit dem Verständnis kapitalistischer Ausbeutung, lässt sich Marx‘ Konzeption gesellschaftlicher Synthesis und Dynamis verstehen. Das Kapital, d.h. die Wertbewegung (G-W-G´) ist für ihn ein krisenhaftes zweifaches gesellschaftliches Verhältnis des Tausches und der Ausbeutung. Mit der Entschlüsselung des Hauptmechanismus sozialer Ungleichheitsproduktion im Kapitalismus lassen sich eine Reihe weiterer krisenhafter Dynamiken des Kapitalismus erklären: In der Produktionssphäre führt das auf Mehrwertrealisation beruhende Profitprinzip zu technischen und organisatorischen Veränderungen des Produktionsprozesses, um die eingesetzte Arbeit einerseits zu extensivieren und andererseits zu intensivieren. Bei der Extensivierung stößt das Kapital letztlich auf das Widerstandsvermögen <?page no="161"?> 5 Soziale Ungleichheit 161 der Arbeitskräfte, die nicht ihre ganze Lebenszeit arbeiten können und wollen. Um diese Schranken zu umgehen, wird die Arbeit intensiviert, also z.B. produktiver gestaltet oder durch den Einsatz von Maschinen rationalisiert. Dabei steigt das eingesetzte konstante Kapital (Produktionsmittel) und der Anteil an variablem Kapital (Arbeitskräfte) nimmt ab. Die Tendenz des Überflüssig-Machens von Arbeitskraft im Produktionsprozess, also den ungleichheitsrelevanten Entzug von Lohneinkommen, betrifft aber genau jenes Element des Verwertungsprozesses, welches für Marx erst die Mehrwertproduktion ermöglicht. Zudem ist der Zusammenhang zwischen Löhnen (Zirkulationssphäre) und der Kapitalakkumulation (Produktionssphäre) eine mögliche Krisenursache, denn mit zunehmender Akkumulation des Kapitals werden mehr Arbeitskräfte benötigt und es können Knappheiten am Arbeitsmarkt entstehen. Diese können sich in höheren Löhnen und folglich in fallenden Profiten darstellen, was einen Rückgang der Investitionen und eine stockende Akkumulation zur Folge hat. Dies kann dann wiederum zu Arbeitslosigkeit und erneut sinkenden Löhnen führen usw. Die Ungleichheit zwischen Kapitalist_innen und Arbeiter_innen ist so grundsätzlich nicht zu überwinden. In den Marx‘schen Schriften lassen sich unterschiedliche Modelle einer Klassentheorie identifizieren. Das einfachste und zugleich bekannteste ist das dichotome Klassenmodell, wie es z.B. im „Manifest der Kommunistischen Partei“ dargestellt wird. In der Annahme, dass durch die kapitalistische Entwicklung alles Ständische „verdampft“ und sich die Lebenslagen und Interessen innerhalb der unteren Schichten und des Proletariats allmählich angleichen werden (Marx/ Engels 1959 [1848] [MEW 4]: 469f.), visiert Marx einen finalen ‚Showdown‘ zwischen den zwei Kernklassen des Kapitalismus, der Bourgeoisie und dem Proletariat, an (ebd.: 463). Das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer der beiden Klassen ist die Angewiesenheit bzw. Nichtangewiesenheit auf den Verkauf der Arbeitskraft zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts. Komplizierter wird es, wenn man Marx‘ eigenes polit-ökonomisches Instrumentarium klassentheoretisch fruchtbar macht. Formalisiert man den kapitalistischen Produktionsprozess wie oben, wird deutlich, dass an jedem einzelnen Punkt des Zyklus, den der Wert durchlaufen muss, eine Klassenposition entstehen kann. Zirkulationsagent_innen, wie z.B. Banker_innen, Logistiker_innen oder Marketing-Fachleute können durchaus andere Interessen verfolgen als die Kapitalist_innen, die im unmittelbaren Produktionsprozess Arbeiter_innen ausbeuten. Die Reproduktion der Lohnarbeiter_innen hängt z.B. von Fürsorgetätigkeiten ab, die in der Logik des Kapitals gar nicht auftauchen. Staatsbeamte, die zwar daran arbeiten, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wertzirkulation (Schutz des Privateigentums) gegeben sind, sind ebenfalls eine in dieser Formel nicht explizierte Voraussetzung. Geht man so vor, können unterschiedliche Klassenpositionen anhand ihrer spezifischen Stellung <?page no="162"?> 162 Sebastian Sevignani im, aber auch der Funktion für den Produktionsprozess identifiziert werden (Ritsert 1998b: 59). Dabei ist es auch hilfreich, den Blick auf die Produktionsverhältnisse über den unmittelbaren Produktions- und Verwertungsprozess hinaus zu erweitern. Dann wird nämlich klar, dass es sich bei ihnen um ein ganzes Bündel von Eigentums-, (Um-)Verteilungs- und Aneignungsverhältnissen handelt (Krysmanski 1990). Beispielsweise müssen Teile der von den Kapitalist_innen erwirtschafteten Erträge aufgrund spezieller Eigentumsverhältnisse (etwa zwischen Unternehmer_innen und Finanziers) bereits im ökonomischen Prozess abgeführt werden, oder sie werden aufgrund von Steuergesetzgebungen politisch umverteilt. Folgt man dieser erweiterten klassentheoretischen Sichtweise, wird ein weiterer bereits von Marx, aber auch heute wieder prominent in der gesellschaftstheoretischen Debatte (Neckel 2016) diskutierter Mechanismus sozialer Ungleichheit wichtig. Renteneinkünfte beruhen, anders als die durch Ausbeutung erlangten Profite, auf keinem Ausbeutungsverhältnis zwischen bevor- und benachteiligten Gruppen, sondern auf ökonomischer Unterdrückung (das letzte Kriterium in der Definition von Ausbeutung fehlt). Renten sind Einkommen, die durch die Monopolisierung, d.h. den Ausschluss anderer von produktivitätssteigernden Mitteln realisiert werden können, z.B. durch die Verpachtung von besonders gut gelegenem Grund oder fruchtbaren Boden. Der soziale Mechanismus der Ungleichheitsgenerierung ist dabei nicht der der Ausbeutung, sondern der der Chancenhäufung. Der Ausschluss anderer etabliert nur ein äußeres Verhältnis zwischen Bevorteilten und Benachteiligten, d.h. die Reichen sind nicht reich, weil die Armen sie reich machen, sondern sie sind reich, weil die anderen arm an produktiven Ressourcen sind. Für Marx sind solche Rentengewinne jedoch letztlich nur möglich, weil sie Abzüge vom andernorts durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft erwirtschafteten Profit und daher eine Form von innerökonomischer Umverteilung darstellen (Marx/ Engels 1968b [1894] [MEW 25]: 627ff.; Mandel 1973: 322ff.). In den ersten beiden Varianten der Marx‘schen Klassentheorie wird ein struktureller und ökonomischer Klassenbegriff begründet, den er dann in einer dritten Variante versucht, fruchtbar zu machen. Sie findet sich an jenen Stellen, wo Marx sich den konkreten Kämpfen der Klassen seiner Zeit widmet, und nicht, wie Bourdieu später sagen wird, nur ein Klassenmodell ‚auf dem Papier‘ entwirft. Dies geschieht v.a. in den Schriften zur Französischen Revolution von 1848 und prominent im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (Marx 1972 [1852] [MEW 8]; vgl. Weyand 2014: 72ff.). Legt man diesen dort entwickelten historisch-politischen Klassenbegriff zugrunde, bildet eine Klasse nur, wer zusammen kämpft und ökonomische Interessen politisiert. Die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Modelle einer Klassentheorie hat Marx nicht abschließend beantwortet. Seine historisch-politischen Theorien klassenspezifischer sozialer Ungleichheiten versuchen, erklärende Zwischen- <?page no="163"?> 5 Soziale Ungleichheit 163 stücke zwischen einer durch die Struktur der Wirtschaft und Gesellschaft bestimmten Klassenlage (Klasse an sich) und den real existierenden Klassen, also Klassen mit Bewusstsein und politischer Praxis (Klasse für sich), anzubieten. Der Vermittlungsbegriff zwischen (Klassen-)Struktur und (Klassen-)Handeln ist der der unterschiedlichen Interessen, die für die Stellung im Produktionsprozess typische Orientierungen und Motive abbilden sollen. Zwischen unterschiedlichen Interessen kann es zu (Klassen-)Kompromissen kommen. An die historisch-politische Variante des Klassenmodells schließen alle wissenssoziologischen und ideologietheoretischen Überlegungen von Marx an, die von einem Primat der Ökonomie samt den ihr zugehörigen kulturellen Sinnbestandteilen (z.B. der Warenfetisch) für die Erklärung gesellschaftlicher Praxen ausgehen (vgl. Ritsert 2015 [2002]; Reitz 2014; Chibber 2017). Für Marx war klar, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, allerdings nicht immer „aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1972 [1852] [MEW 8]: 115). Die Frage, welcher der beiden Pole aber mehr betont wird, ob die politischen Kämpfe, angetrieben durch die Produktivkraft Mensch, oder die kapitalistischen Strukturlogiken, die die Klassenkämpfe bestimmen, bleibt angesichts der vorgelegten klassentheoretischen Varianten letztlich offen. 55.1.2 Klassenkampf, Entfremdung und die Skepsis gegenüber der Moral Insgesamt lassen sich drei, teilweise ineinander übergehende, Formen des Klassenkampfes bei Marx identifizieren (vgl. Weyand 2014: 69ff.): Die erste Form bildet der Kampf für die Aufwertung der eigenen Stellung im Produktionsprozess, wie z.B. das Erkämpfen höherer Löhne in der Exportindustrie oder die Bezahlung bisher umsonst geleisteter (Fürsorge-)Arbeiten. Diese Form korrespondiert unmittelbar mit der zweiten Variante seiner Klassentheorie. Orientiert am zentralen Kriterium der ersten Variante, d.h. der grundlegenden Unterscheidung zwischen nicht oder unabhängig arbeitenden und abhängig arbeitenden, also ausgebeuteten Gruppen, lassen sich zweitens Kämpfe finden, die nicht einzelnen Interessen, sondern dem Gesamtinteresse der Ausgebeuteten dienen. Ein Beispiel wäre der Kampf um Arbeitszeitverkürzung bei gleichzeitiger Sicherung des Lebensstandards mittels steuerlicher Umverteilung. Ein starker Bezug zur historisch-politischen Klassentheorie von Marx besteht, wenn, drittens, Klassenkämpfe nicht nur Reformen, sondern eine Revolution anstreben. Diese ultimative Form des Klassenkampfs verweist auf die normativen Implikationen der Marx‘schen Gesellschaftstheorie: Wieso soll überhaupt gekämpft werden? Wieso sollte für eine Revolution statt nur für Reformen gekämpft werden? Wieso soll Ausbeutung nicht nur gelindert, sondern ganz überwunden werden? Marx‘ Antwort auf diese Fragen findet sich in seiner Vorstellung des Kommunismus zusammengezogen. Damit wird von ihm eine Gesellschaftsform bezeichnet, <?page no="164"?> 164 Sebastian Sevignani in der das gute Leben für alle mittels einer allseitigen Entwicklung der Individualität möglich wird und die keine Klassen mehr kennt. Allseitige Entwicklung lässt sich im Rückgriff auf Marx‘ Bestimmung des Menschen als Gattungswesen als gelingende Ausdrucksbeziehung fassen, in der „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis“ ist (Marx 1973 [1891] [MEW 19]: 21) ist. Die Entfremdung (der Arbeit) fungiert als Gegenbegriff und zeigt gestörte Aneignungs-, Vergegenständlichungs- und Bildungsverhältnisse an. Menschen sind, so die Marxsche Annahme, in der Lage, sich aus dem „Reich der Notwendigkeit“, d.h. einem Leben voller fremdgesetzter Zwecke, in ein „Reich der Freiheit“ (Marx 1968b [1894] [MEW 25]: 882) vorzuarbeiten. Zu den Beharrungskräften, die dies verhindern, gehört die Ausbeutung und, generell, ein klassenförmiger Charakter von Gesellschaft. Dadurch wird die eingangs skizzierte tätige Beziehung zwischen Subjekten und Objekten unterbrochen, indem sich eine Klasse die Vergegenständlichungen der anderen Klasse aneignet und über den Arbeitsprozess bestimmen kann. Dies beeinträchtigt die umfassende ‚Bildung‘ der beteiligten Subjekte und führt über die dem Kapitalismus eigenen konkurrenzvermittelten Verwertungszwänge zu gesamtgesellschaftlichen allgemeinen Entfremdungserscheinungen (Marx 1967 [1844] [MEW 40]: 512ff.; vgl. Elbe 2014). Hier wird deutlich, dass Marx eine Kritik der Entfremdung mit der Kritik sozialer Ungleichheit strikt zusammendenkt. Wie verträgt sich diese bei Marx vorfindliche normative Zielvorstellung gesellschaftlicher Praxis mit einem weiteren Prinzip seiner Gesellschaftstheorie, der Immanenz von Kritik? Er formuliert es an verschiedenen Stellen, in der mit Engels zusammen verfassten „Deutschen Ideologie“ z.B. so: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ (Marx/ Engels 1969 [1845] [MEW 3]: 35) Zusammengenommen ergibt sich eine gewisse Ambivalenz zwischen der immanent und der transzendent ansetzenden Kritik der Gesellschaft, zwischen einer sozialtheoretisch und sozialphilosophisch gestützten Vorstellung des guten Lebens, welches für Marx unbedingt auch die Aufhebung der strukturellen Ungleichheit zwischen den Menschen mit einschließt, und einer gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Orientierung an den begrenzenden und ermöglichenden Strukturen, realen Kämpfen und wirklichen Bewegungen. Wie soll man mit dieser Ambivalenz umgehen? Marx‘ materialistische Gesellschaftsanalyse hat wissen(schaft)ssoziologische Implikationen, die zum einen die Interessengebundenheit von Ideen und die damit einhergehenden unterschiedlichen Chancen einer gesellschaftlichen Akzeptanz normativer Standpunkte betrifft (ebd.: 46ff.). Es sind die professionellen Ideo- <?page no="165"?> 5 Soziale Ungleichheit 165 logen, wie z.B. Wissenschaftler_innen, Spindoktor_innen etc., die eine „täuschende Verallgemeinerung partikularer Interessen“ (Reitz 2014: 86) öffentlichkeitswirksam leisten und deren Rolle in historisch-politischen Klassenkämpfen mit bedacht werden muss. Zum anderen behauptet Marx, dass bestimmte Denkbahnen, Handlungsweisen und damit auch Werte und Normen von der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur vorgegeben werden (vgl. zum Warenfetischtheorem Rehmann 2008). Ein bereits angeführtes Beispiel ist die (vermeintliche) Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte im Tausch, die aber auch ausbeutungsermöglichender Teil der Reproduktion sozialer Ungleichheit ist. Ein anderes Beispiel ist der sog. ‚Lohnfetisch‘, der darin besteht, dass die Ausgebeuteten annehmen, tatsächlich im vollen Umfang für die von ihnen geleistete Arbeit bezahlt zu werden. Dabei verschwindet dann der Mehrwert bzw. er wird nur der Leistung der Kapitalseite zugeschrieben. Aus der gesellschaftstheoretischen Analyse der systemisch-affirmativen Funktionalität von Moral im Kapitalismus ergibt sich so einerseits eine ethische Zurückhaltung. Damit wird aber andererseits auch das einfache, nicht durch Ideologiekritik informierte, Anknüpfen der Gesellschaftstheorie an bestehende Normen in den Klassenauseinandersetzungen als immanente Kritikform ausgeschieden. Trotzdem kann man mit Marx erkennen, dass vom Kapitalismus auch zivilisierende und ungleichheitsnivellierende Momente ausgingen. Freiheit, Gleichheit, Eigentum werden in ihm erstmals historisch als Ansprüche formulierbar, an die sich aber nicht ungebrochen anknüpfen lässt. Eine weitere immanente Kritikstrategie von Marx ist die Funktionskritik. Sie knüpft unmittelbar an die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus an und findet sich zugespitzt in der - allerdings in dieser deterministischen Form nicht von Marx vertretenen - These des zwangsläufigen automatischen Zusammenbruchs. Die Argumentation ist hier, dass die kapitalistische Logik ihre eigenen Existenzbedingungen untergräbt, und damit verwandt ist auch die Vorstellung, dass „die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten“ (Marx 1961 [1859] [MEW 13]: 9), geraten können. Aber auch die Funktionskritik will den Kapitalismus nicht abstrakt negieren. Die von ihm angetriebene Entwicklung der Produktivkräfte und Domestizierung der Welt ist zweischneidig, sie ermöglicht das partielle Zurückdrängen des Reichs der Notwendigkeit und begründet damit die Rede von einem Reich der Freiheit und auch von einer Gleichheit zwischen den Menschen, bei gleichzeitiger Festschreibung einer klassenspezifischen Zuweisung von Notwendigkeiten. Aufgrund technischer Möglichkeiten sind z.B. Warnungen vor und Vorkehrungen gegenüber Naturkatastrophen heute in einem ganz anderen Umfang möglich als früher, aber die Jagd nach Profiten auf Kosten der Natur trägt auch zu deren Vermehrung und Intensivierung bei. Die Folgen treffen in der Regel die Ärmsten zuerst und besonders hart. <?page no="166"?> 166 Sebastian Sevignani Aus all dem folgt aber nicht die Absage ethischer Überlegungen schlechthin, denn auf diese rekurrieren auch die anderen Modi der Kritik (Henning 2015; Lindner 2013). Mit Marx sollte es aber vermieden werden, Ethik von der Gesellschaftstheorie und damit von einer Theorie sozialer Ungleichheit abzutrennen und so eine kritische Analyse des Kapitalismus durch sie zu verstellen. Die kommunistische Perspektive muss mit Marx mindestens gesellschaftstheoretisch mit den Beharrungskräften eines sich gegenüber den Praxen der Menschen verselbständigten kapitalistischen Systems, den sich aus den Widersprüchen des Kapitalismus ergebenen Unsicherheiten und Freiheitsgraden, einer Kritik der für eine Gesellschaft typischen Ideologien und ideologischen Formen sowie den im Stand der Produktivkräfte erreichten Möglichkeitshorizont für gesellschaftliche Transformation abgeglichen werden. 55.2 Entwickelte Moderne: Pierre Bourdieu Zumindest in den industrialisierten Ländern der entwickelten Moderne wurde (und wird) immer wieder auf den „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986) und das Phänomen der allmählichen Verallgemeinerung des erreichten Wohlstandes verwiesen: Ungleichheit wurde zwar nicht nivelliert, aber alle Mitglieder der Gesellschaften konnten sich kontinuierlich ein bisschen mehr leisten und mussten dafür weniger (Lohn-)Arbeitszeit aufwenden. Die Rede von der durch Klassen strukturierten Gesellschaft verlor an Einfluss. Pierre Bourdieu, in der ideologiekritischen Stoßrichtung durchaus mit Marx vergleichbar, macht in dieser Situation deutlich, dass sich Klassenunterschiede zwar verfeinert, aber nichts an ihrer strukturierenden Kraft verloren haben. Bourdieu interessiert sich dabei mehr für die Frage, wovon die Menschen Ungleiches haben und wie unterschiedliche Dimensionen der Ungleichheit in einer Klassengesellschaft zusammenspielen. Dabei verliert die Marx‘sche Unterscheidung zwischen Tausch und Produktion in einer Situation etablierter sozialer Ungleichheit an Bedeutung und das differenzierungstheoretische Problem der vielfältigen Dimensionen der Ungleichheit wird explizit adressiert. Bourdieus Sozialtheorie ist dezidiert anti-dualistisch und relational. Die Akteur_innen werden dabei aus dem Zentrum der Theorie verschoben, vielmehr kommt das Zusammenspiel zwischen ihnen und den Strukturen in den Blick. Der Habitus, Bourdieus zentraler sozialtheoretischer Begriff, vermittelt in der Dialektik der Praxis, zwischen Struktur und Akteur_in, zwischen Klassenlage und Klassenhandeln in horizontal und vertikal ausdifferenzierten sozialen Räumen der Gesellschaft. In sozialen Räumen lassen sich Relationen zwischen bestimmten Positionen eintragen. Diese Positionen sind mit unterschiedlichen Graden und Arten von Macht ausgestattet, die eingesetzt wird, um die eigene Position im Verhältnis <?page no="167"?> 5 Soziale Ungleichheit 167 zu anderen Positionen zu verbessern. In diesem Sinne findet im sozialen Raum ein permanenter Konkurrenzkampf statt. B EGRIFF & D EFINITION : Das Konzept des Habitus bei Bourdieu Der Habitus ist ein System dauerhafter und kohärenter Dispositionen sowie „Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata“ (Bourdieu 1987a: 100). Er stellt eine Korrelation zwischen objektiven Wahrscheinlichkeiten und subjektiven Erwartungen her. Das Habituskonzept operiert mit folgenden Annahmen (Müller 2014: 42): Die Inkorporationsannahme besagt, dass der Habitus durch praktisches Erlernen und Verinnerlichen der Verfasstheit und der Regeln von sozialen ‚Spielen‘ entstanden ist. Die Stabilitätsannahme besagt, dass er, als durch Inkorporation zur Natur gewordene Geschichte, relativ unabhängig von den Veränderungen der aktuellen Situation wirkt. Die Strategieannahme besagt, dass der Habitus einem praktischen Sinn folgt, der sich als „Anlage-Sinn“ (Bourdieu 1987a: 151) von Macht, d.h. im Hinblick auf Erhalt und Verbesserung der eigenen Position in einem Spiel verstehen lässt. Die Unbewusstheitsannahme besagt, dass strategisches Handeln gemäß dem Habitus und in Abgrenzung zur Vorstellung eines utilitaristisch-rational handelnden homo oeconomicus nicht in einer bewussten Chancenabwägung (ebd.: 99ff.) besteht; vielmehr gibt es eine „Sofortunterwerfung unter die Ordnung“ (ebd.: 100), die den Horizont der Reflexion einengt. Die Wandlungsannahme besagt schließlich komplementär zur Stabilität, die sich aus der Naturalisierung und unbewussten Übernahme der sozialen (Struktur-) Logiken ergibt, dass der individuelle Habitus sich zwar homolog, aber nicht identisch zu dem für größere soziale Einheiten typischen Gruppen- oder Klassenhabitus verhält. Unter dem „Gewicht ursprünglicher Erfahrungen“ und mit der „Besonderheit der sozialen Lebensläufe“ (ebd.: 113) kann es zum Hysteresis-Effekt kommen. Damit ist der Umstand gemeint, dass „Dispositionen, die sich unter Umständen länger halten können als die sozialen und ökonomischen Bedingungen ihrer Erzeugung, […] Grundlage sowohl von Nichtanpassung, wie von Anpassung, von Auflehnung wie von Resignation sein“ können (ebd.: 117). Im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften kommt es zu einer zweifachen Differenzierung des sozialen Raums, die gleichzeitig mit einer Verstetigung von Machtverhältnissen (Herrschaft), aber auch einer Vervielfältigung der Formen von Macht einhergeht. Neben einer relativ stabilen Etablierung vertikaler Über- und Unterordnungen in der Klassengesellschaft, findet eine horizontale Ausdifferenzierung des Raums in unterschiedliche sachliche (Spiel-)Felder mit einem jeweils unterschiedlichen, praktischen Sinn (Spielregeln). Bourdieu verfasste <?page no="168"?> 168 Sebastian Sevignani eigenständige Studien zu den Feldern Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Philosophie, Sprache, Religion, Kunst, Fotografie und Literatur. Jedes dieser Felder besitzt eine relative Autonomie, die „sich an der ‚Brechung‘ oder dem ‚Brechungswinkel‘ der allgemeinen Kräfte des sozialen Raumes“ (Müller 2014: 78) bemisst. Soziale Ereignisse werden feldspezifisch verarbeitet (gebrochen). In jedem dieser (Mikro-)Kosmen sind unterschiedliche Kombinationen von Macht als ‚Währung‘ im Konkurrenzkampf wichtig, und der Grad der Autonomie und damit auch die relative Bedeutung im gesamten sozialen Raum hängt mit der im Feld akkumulierten Machtfülle zusammen. Im Inneren sind die Felder meist polar strukturiert, eine Orthodoxie steht in kämpferischer Auseinandersetzung mit heterodoxen Positionen. Die feldspezifische Zusammensetzung der Gesellschaft, also die relative Autonomie und Bedeutung einzelner Felder im gesamtgesellschaftlichen Ganzen, variiert historisch. Der späte Bourdieu (2004; 2009 [1993]) konstatiert zeitdiagnostisch eine mit dem politischen Projekt des Neoliberalismus verbundene Ökonomisierungstendenz in der Gesellschaft. Die im ökonomischen Feld wichtigen Machtsorten und die Positionen derer, die diese besitzen und im Konkurrenzkampf einsetzen können, greifen auf andere Gesellschaftsfelder aus und führen z.B. zu einem Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften. 55.2.1 Kulturtheoretische Brechungen: Akkumulation unterschiedlicher Kapitalsorten und Klassifikation Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit wendet sich gegen eine Reihe von Privilegierungen in bisherigen Ansätzen, z.B. der Klasse auf dem Papier auf Kosten der realen Klassen und der ökonomischen Produktionsverhältnisse auf Kosten eines mehrdimensionalen sozialen Raums (Bourdieu 1985: 9). In seinem klassentheoretischen Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (1987b) gelingt es Bourdieu, vor dem Hintergrund einer Propagierung des vermeintlichen Endes der Klassengesellschaft, zu zeigen, dass Klassenspaltungen trotz ihrer Pluralisierung weiterhin existieren, indem er vorfindliche höchst unterschiedliche Lebensstile bzw. Alltagspraxen mit der Verteilung von (Macht-)Ressourcen bzw. Lebensbedingungen in Korrelation bringt. Nur wenn man sich auf das bloße Registrieren einer Pluralität unterschiedlicher Lebensstilmilieus beschränkt, ist die Rede vom Ende der Klassengesellschaft plausibel. Bourdieu legt den Schwerpunkt auf die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Folgestudien, etwa für die BRD (vgl. Vester et al. 2001 [1993]), haben seine These vom Fortbestand klassengesellschaftlicher Strukturen bestätigt. Zwar gibt es in modernen Gesellschaften eine erhebliche soziale Mobilität. Diese bezieht sich aber eher auf horizontale Veränderungen in den jeweiligen Segmenten der Klassenstruktur und weniger auf eine hohe vertikale Mobilität zwischen den Klassen. Bourdieu entlehnt aus der Marx‘schen Theorie den Kapitalbegriff, um den Raum sozialer Positionen zu analysieren. Er fasst ihn, wie Marx, als Ergebnis der Arbeit <?page no="169"?> 5 Soziale Ungleichheit 169 und als Machtverhältnis auf (Bourdieu 1992: 49ff.). Gleichzeitig verkürzt und erweitert er ihn aber, indem er einerseits den von Marx herausgearbeiteten gesellschaftstheoretischen Gehalt des Kapitals als zweifaches soziales Verhältnis des Tausches und der Ausbeutung ausblendet. Andererseits unterscheidet er zwischen verschiedenen Kapitalsorten und will so verhindern, dass nicht-ökonomische Praxen so erscheinen, als seien sie von Konkurrenzkämpfen um Macht ausgenommen (Bourdieu 1992: 52). Bei der Kapitalakkumulation handelt es sich für Bourdieu um ein ‚Nullsummenspiel‘, d.h. relative Verluste auf der einen Seite ziehen relative Gewinne auf der anderen Seite nach sich. B EGRIFF & D EFINITION : Kapitalsorten Die Anzahl der verschiedenen Sorten des Kapitals variiert in den Schriften Bourdieus, was darauf verweist, dass er seine Theorie aus der Empirie entwickelt. Sie unterscheiden sich generell in ihren eher symbolischen oder materiellen Erscheinungsformen, ihrer Übertragbarkeit und Vermehrbarkeit. Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und seine bevorzugte Institutionalisierungsform sind Eigentumsrechte. Das kulturelle Kapital erscheint in drei Formen: im inkorporierten Zustand als „Bildung“, die nicht kurzfristig weitergegeben werden kann, sondern nur persönlich durch Zeit- und Arbeitseinsatz zu akkumulieren ist; im objektivierten Zustand als Kulturgüter, welche materiell übertragbar sind, aber inkorporierte Fähigkeiten (Bildung) zur (symbolischen) Aneignung voraussetzen. Und schließlich im bevorzugten institutionalisierten Zustand z.B. als Bildungstitel, welche inkorporiertes kulturelles Kapital offiziell zertifizieren. Das soziale Kapital besteht aus einem Netz von Beziehungen des gegenseitigen Kennens oder Anerkennens, welches für spezifische Zwecke in Anspruch genommen werden kann und mobilisierbar sein muss. Dabei ist es entscheidend, wie viel Kapital in welcher Zusammensetzung insgesamt in einem geknüpften Netzwerk vorhanden ist. Arbeit fällt hier für die Beziehungspflege an. Die Delegation und Repräsentation dieses Kapital erfolgt manchmal diffus (z.B. informell durch Familienälteste) oder offiziell geregelt durch Mandate. Das symbolische Kapital beruht auf der Anerkennung und Wertschätzung der jeweiligen (feld-)spezifischen Kapitalstrukturen und Unterscheidungen als legitime und selbstverständliche. Die vertikal und horizontal ausdifferenzierte Gesellschaft spannt sich für Bourdieu in einen Raum sozialer Positionen (Struktur-Seite) und einen Raum der Lebensstile (Akteur_innen-Seite) auf, die durch den Klassenhabitus vermittelt sind und in denen Kämpfe um die ausdifferenzierten Formen der Kapitalien, also der Macht geführt werden. Im Gegensatz zu einseitig ökonomischen Theorien <?page no="170"?> 170 Sebastian Sevignani sozialer Ungleichheit wird das Kulturelle bei Bourdieu auf mehreren Ebenen in den Vordergrund gerückt. So spielt das kulturelle Kapital im Raum sozialer Positionen auf der Strukturseite der Praxis eine wichtige Rolle, und der Raum der Lebensstile ist selbst ein Kulturraum, in dem sich positionsspezifische Geschmäcker ausdrücken. Die Betonung von symbolischen Kämpfen mit und um symbolisches Kapital sowie die besondere Rolle, die Bourdieu dem gesellschaftlichen Feld der Kulturproduktion inklusive der Gesellschafts- und Klassentheoretiker_innen einräumt, gehören ebenso zu diesem kulturtheoretischen Fokus. Das ‚Kulturelle‘ - auch hier versucht Bourdieu den Dualismus zu überwinden - besteht aus materiellen Artefakten und Institutionen, wie z.B. Kulturgüter oder Bildungseinrichtungen, sowie aus einem Bereich des Symbolischen. Mit Klaus Eder kann man von „kulturtheoretischen Brechungen der Klassentheorie“ (1989) durch Bourdieu sprechen, aber auch das klassische Kulturverständnis selbst wird dabei ‚gebrochen‘. Bourdieu befreit die Kultur aus ihrer vermeintlich selbstzwecklichen, überzeitlichen und autonomen Rolle, indem er nachweist, dass gerade dieses verbreitete Kulturverständnis funktional für die Reproduktion sozialer Ungleichheit ist. Verschränkungen zwischen diesen Dimensionen der Ungleichheit kommen für Bourdieu einerseits als Transformationen zwischen den Kapitalsorten in den Blick, die selbst mit Arbeit bzw. Kapitalverlust verbunden sein können, aber auch eine Chance bieten, Kapital über die Zeit und unterschiedliche Bedingungen hinweg zu erhalten. Die ‚Wechselkurse‘ zwischen den Kapitalsorten sind selbst (unter Einsatz von Kapital) umkämpft. Hinsichtlich der Rangfolge der Kapitalsorten und der ihnen entsprechenden Felder spricht Bourdieu dem ökonomischen Feld eine „tendenzielle Dominanz“ (Bourdieu 1985: 11) zu, ohne einem Reduktionismus das Wort reden zu wollen. Mit dem Einsatz von ökonomischem Kapital und entsprechender Transformationsarbeit lassen sich die anderen Sorten meist erwerben (Bourdieu 1992: 70f.). Andererseits gibt es vielfältige Verstärkereffekte zwischen den Kapitalsorten. Die Verfügung über viel ökonomisches und kulturelles Kapital erhöht z.B. die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens eines effektiven sozialen Netzwerkes (ebd.: 64). Ein hohes ökonomisches Kapital ermöglicht unter Umständen die freie Verfügung über Lebenszeit, die wiederum zum Erwerb kulturellen Kapitals genutzt werden kann. Mit Hilfe institutionalisierten kulturellen Kapitals (Bildungszertifikate) kann wiederum der Zugang zu Jobs, also zum Erwerb ökonomischen Kapitals, reguliert werden. Die Klassenlage ergibt sich für Bourdieu anhand der Position im sozialen Raum, die wiederum durch a) das jeweilige Kapitalvolumen (viel/ wenig), b) die jeweilige Kapitalstruktur oder -zusammensetzung sowie c) die „Geschichte des Erwerbs“ der Kapitalien, also die jeweilige soziale Laufbahn, die zu einer sozialen Position geführt hat, bestimmbar ist. Mit Hilfe des letzten Aspekts kann das Phänomen ‚sozialer Mobilität‘ auch klassentheoretisch in den Blick genommen werden, eine Frage, die für Marx, weil er von einer zunehmenden Klassenpolarisierung im dichotomen Klassenmodell ausging, nicht wichtig war. <?page no="171"?> 5 Soziale Ungleichheit 171 Der Raum der Lebensstile beinhaltet die in einer Gesellschaft vorfindlichen unterschiedlichen Attitüden, Meinungen, Handlungs- und Verhaltensweisen. Die Bourdieu‘sche Frage ist nun, ob sich empirisch zwischen den Lebensstilen und den Positionen im sozialen Raum Homologien und Korrespondenzen finden lassen. So kann forschungslogisch einerseits der Raum der Lebensstile von den sozialen Positionen her erschlossen werden, was in der Tendenz das Vorgehen des frühen Bourdieus in „Die feinen Unterschiede“ war, und andererseits der Raum der sozialen Positionen von den Lebensstilen her aufgeschlüsselt werden, wie es etwa der späte Bourdieu in „Das Elend der Welt“ praktizierte. Kulturelle Praxen, die sich in den unterschiedlichen Lebensstilen ausdrücken, haben auch eine symbolische Seite, und auch in diesem Bereich wird um (eine spezifische Form der) Macht konkurriert. Das ebenfalls akkumulierbare symbolische Kapital besteht in der Anerkennung und Wertschätzung der Logik einer spezifischen Kapitalstruktur. Es ist „Kapital, das als selbstverständliches erkannt und anerkannt ist“ (Bourdieu 1985: 22). Symbolisches Kapital wird in Distinktions- und Klassifikationskämpfen eingesetzt. War das symbolische Kapital in Bourdieus frühen Schriften eher ein Effekt des sozialen Kapitals, bekommt es später eine immer größere Bedeutung, indem es die Dimension bezeichnet, ohne die eine Kapitalform mangels Anerkennung gar keinen Wert erlangt. Symbolische Macht bzw. symbolisches Kapital ist in diesem Sinne eine Art Vorschuss, der den Mächtigen von den weniger Mächtigen gewährt wird, die davon ausgehen, dass dieser (Macht-)Kredit auch durch das bereits akkumulierte Kapital gedeckt ist. Die Akkumulation des symbolischen Kapitals erfolgt durch einen (feldspezifisch) legitimen Symbolgebrauch, etwa wenn die Klassenposition durch das Ansehen ‚perfekt sitzender‘ und zum Anlass ‚perfekt passender‘ Kleidung beurteilt wird. Es wird deutlich, dass das zuerkannte symbolische Kapital ggf. auch gar nicht durch andere Kapitalien ‚gedeckt‘ sein kann, aber auch, dass durch seine Akkumulation die zugeschriebene Position im sozialen Raum tatsächlich leichter erreicht werden kann. Ein Zusammenhang zwischen dem eher materiellen kulturellen Kapital und dem symbolischen Kapital besteht in der Wichtigkeit von Bildung, um sich Wissen um Anerkanntes (z.B. den ‚Wert der Klassiker_innen‘) anzueignen. Damit ist die Hoffnung auf sozialen Aufstieg verknüpft, der aber entscheidend vom Habitus abhängt, der wesentlich langfristiger erworben wird und sich gegenüber dem neuerworbenen Wissen als träge erweist. Habitusspezifische Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata sind das Produkt vergangener symbolischer Auseinandersetzungen, und ‚Legitimität‘ erwächst dabei aus dem quasi perfekten Zusammenfallen von objektiven und inkorporierten Strukturen. (ebd.) <?page no="172"?> 172 Sebastian Sevignani AAbb. 5: Bourdieus Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit (eigene Darstellung) Durch die Differenzierung der Kapitalsorten und ihrer unterschiedlichen Zusammensetzung sowie dem Fokus auf zugehörige Lebensstile werden auch Kämpfe zwischen Fraktionen innerhalb einer Klasse beobachtbar. Ein Beispiel ist der Unterschied in den Strategien der Akkumulation und den Geschmacksdispositionen zwischen Hochschullehrer_innen und Investmentbanker_innen, die sich beide in den höheren Etagen des sozialen Raums befinden. Zusammenfassend bietet Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“ (1987b) ein vereinfachtes Modell seiner klassentheoretischen Analysen an, das sich an einer Dreiteilung orientiert. Die herrschende Klasse, bestehend aus Gruppen mit hohem ökonomischen Kapital und einem ‚luxuriösen‘ Lebensstil und Gruppen mit hohem kulturellen Kapital und einem eher asketischen und ästhetisierten Lebensstil, definiert das, was als legitimer Geschmack in einer Gesellschaft gilt, und bewegt sich in dieser Kultur sicher und ungezwungen, weil sie die ihre ist. Die Mittelklasse folgt hingegen einem ‚prätentiösen‘ Geschmack und zeichnet sich durch „Beflissenheit“ statt „Ungezwungenheit“ aus. Die Volksklasse hat einen „Notwendigkeitsgeschmack“, der sich durch Anpassung an den Mangel auszeichnet. Theoretisches Vermittlungsstück zwischen den Räumen des Sozialen (Positionen, Lebensstile, Symbolisches) ist wiederum das Konzept des Habitus. Lebensstile sind der subjektive, akteur_innen-seitige Ausdruck des Habitus, <?page no="173"?> 5 Soziale Ungleichheit 173 der dann eine Klassenspezifik annimmt, wenn er einer Position im sozialen Raum (gekennzeichnet durch das Kapitalvolumen, die Kapitalstruktur und die Geschichte des Erwerbs) zuordbar ist. Die Klassifikation kann als eigenständiger Mechanismus sozialer Ungleichheit beschrieben werden, für den alle Kennzeichen des Habitus (siehe Textbox zum ‚Konzept des Habitus bei Bourdieu‘: Inkorporation, Strategie, Unbewusstheit, Stabilität und Wandlung) gelten. Ohne die Konstruktion von Differenzen zwischen den Menschen, kann kein anderer Mechanismus sozialer Ungleichheitsproduktion greifen. Aber Bourdieus Klassifikationskonzept geht hier weiter und verknüpft die fundierende Funktion der Klassifikation mit symbolischer Gewalt und Herrschaft, d.h. einer ‚sanften‘, ohne physische Gewaltanwendung auskommenden Form der Herrschaft, die auf der sequentiellen Logik des Erkennens, Anerkennens und Verkennens beruht (Peter 2011: 18). Kategorien werden z.B. durch die Klassentheorie bereitgestellt, um die soziale Welt zu verstehen, sich im gesellschaftlichen Raum zu orientieren und die eigene Perspektive mit den bereits verallgemeinerten und zu Strukturen geronnenen Einordnungen ins Verhältnis zu setzten. Bestimmte Attribute werden so Gruppen oder Personen zugewiesen, und diese Kategorien werden von den Individuen habituell erworben und eingesetzt, um die Welt wieder zu (re-)konstruieren. Bourdieu versucht auch hier, einen Dualismus zwischen vollständiger sozialer Konstruktion und dem bloßen ‚Nachkonstruieren‘ vorgängiger sozialer Strukturen zu umgehen. Eine Klasse definiert sich „durch ihr Wahrgenommen-Sein ebenso wie durch ihr Sein“ (Bourdieu 1987b: 754). Klassifikationen schaffen nicht nur erkenntnisnotwendige Unterscheidungen, sondern gleichzeitig auch anerkannte Ordnungen und anerkannte Formen der Unterordnung. Etwas wird im Hinblick auf etwas klassifiziert, und diejenigen, die über symbolisches Kapital verfügen, bestimmen die Art der Klassifikation. So ist z.B. die vor allem von Frauen geleistete Haus- oder Sorgearbeit eine Form der Arbeit. Wenn wir aber an ‚Arbeit‘ denken, dann haben wir wahrscheinlich zunächst ein Bild von vielleicht harter, männlich konnotierter, Erwerbsarbeit vor Augen. Die vermeintliche Symmetrie zwischen unterschiedlichen Formen der Arbeit erweist sich bei näherer Analyse als eine zu- oder unterordnende Asymmetrie. Die Haus- und Sorgearbeit wird von der herrschenden Position der Erwerbsarbeit her definiert und erscheint als zweitrangiger Zusatz, welchen man sich nach getaner (Erwerbs-)Arbeit in der Freizeit widmen kann. Symbolische Gewalt ist ein Verhältnis, das Beherrschte und Herrschende, z.B. Frauen und Männer, zugleich „eint und entzweit“ (Bourdieu 1997: 163). Mit der symbolischen Anerkennung legitimer Lebensführungen geht praktisch, d.h. mittels habitueller Inkorporierung, auch immer die Verkennung der Gewordenheit, Umkämpftheit und Kontingenz des Anerkannten einher. Beispiele wären etwa die Umwandlung von Macht in ‚Charisma‘ und ‚Charme‘ oder von sozialen in schulische Unterschiede, die dann als Leistungsunterschiede legitimiert sind. Auf affektiv-psychologischer Ebene drückt sich symbolische Gewalt einerseits in der <?page no="174"?> 174 Sebastian Sevignani positiven Besetzung (z.B. Liebe, Bewunderung und Respekt) legitimer Kultur aus, andererseits negativ z.B. auch in Schüchternheit, Ängstlichkeit, Scham- und Schuldgefühl, wenn erkannt wird, dass die bewunderte Kultur nicht die eigene ist. Diese widersprüchliche Situation trägt sich in einem (auch körperlichen) Widerstreben aus und macht deutlich, dass es sich auch hier um eine Form der gewaltförmigen Beherrschung handelt. 55.2.2 Störende und verstörende Eingriffe Wenn Klassifikation ein wichtiger ungleichheitsgenerierender Mechanismus ist, dann liegt es nahe, den Feldern der gesellschaftlichen Kulturproduktion besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In diesen Feldern wird Klassifikation zum eigenständigen „Geschäft, zum spezifischen Interesse berufsmäßiger Produzenten von objektivierten Repräsentationen der sozialen Welt, oder besser: von Objektivierungsmethoden“ (Bourdieu 1985: 20). Dies schließt durchaus auch die Gesellschaftstheoretiker_innen ein, die an sozialer Ungleichheit interessiert sind. Mit Bourdieu muss jede Theorie ihre klassifikatorischen Theorieeffekte mitreflektieren, um nicht unbewusster Teil der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu sein. Ziel einer reflektierten Gesellschaftstheorie ist daher eine „Objektivierung der Objektivierung“ (ebd.: 29) und die Analyse der klassifikatorischen Effekte von Theorie selbst. Neben einer reflexiven Aufklärung der alltäglichen Doxa muss auch die reflexive Aufklärung der wissenschaftlichen Doxa treten. Dieser doppelte Bruch mit der Doxa ist das vermeintliche Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten ‚verstörende‘ oder desillusionierende Moment. Wie aber wird das Verhältnis von aufklärender Gesellschaftstheorie und gesellschaftlicher Praxis von Bourdieu konzipiert? Aufklärung heißt weiterhin, den Prozess des Erkennens, Anerkennens und Verkennens dadurch transparent zu machen, dass er in eine Verbindung mit Machtungleichheiten gebracht wird, um so einer Verstetigung dieser Ungleichheiten zu Herrschaftsverhältnissen entgegenzuwirken. Bourdieu geht davon aus, dass die herrschenden Mächte „mit dem Schweigen“ und dem „‚gesunden Menschenverstand‘“ im Bunde stehen (1993 [1980]: 24). Es gibt keine Macht, „die nicht einen - und beileibe nicht den geringsten - Teil ihrer Wirksamkeit dem Umstand verdankt, daß die sie begründenden Mechanismen unerkannt bleiben“ (ebd.: 27). Dies ist der ‚störende‘ oder machtkritische Aspekt der Bourdieu‘schen Gesellschaftstheorie. Wiederum selbstreflexiv gewendet bedeutet dies, dass sich die Gesellschaftstheorie von der eigenen Illusion, keinerlei Illusion zu haben, befreien muss, um nicht auch selbst passiv-unbewusst an Herrschaft zu partizipieren. Die Aufgabe einer soziologisch orientierten Gesellschaftstheorie, die sich von der Sozialphilosophie emanzipiert, kann für Bourdieu allerdings nicht die Entwicklung und Begründung normativer Maßstäbe sein (ebd.: 19). Die Frage, warum soziale (Macht-)Ungleichheit ein Problem ist, muss außerwissenschaftlich beantwortet werden. Eine normative Zielperspektive der Versöhnung oder Aufhebung der (Konkurrenz-)Kämpfe in <?page no="175"?> 5 Soziale Ungleichheit 175 der Klassengesellschaft (wie etwa bei Marx) würde zudem mit der konflikt- und konkurrenzorientierten Sozialtheorie Bourdieus kollidieren. So bleibt das Verhältnis von Bourdieus theoretischen Schriften und seinen politischen Eingriffen (etwa gegen den Neoliberalismus, vgl. Bourdieu 2004) letztlich unaufgeklärt. Welche Aussichten auf eine veränderte gesellschaftliche Praxis ergeben sich aus einem solchen aufklärerischen Ansatz angesichts der eigenen, im Konzept des Habitus zusammengezogenen gesellschaftstheoretischen Annahmen (vgl. Eickelpasch 2002)? Entgegen einem vielleicht häufig nahegelegten reproduktiven Determinismus, der in der Stabilitätsannahme steckt, muss auf die Wandlungsfähigkeit des Habitus hingewiesen werden. Die Wandlungsannahme besagt, dass sich die Strukturen über den Habitus in die Praxis vermitteln, aber nicht bruchlos, sondern durch eine aktive Orientierung (Erkennen, Anerkennen und Verkennen) in der jeweiligen Situation bzw. im jeweiligen Feld. Aufgrund dieser Ordnungen und anerkannten Formen der Unterordnung lohnt sich der Einsatz des symbolischen Kapitals der Gesellschaftstheoretiker_innen in Klassifikationskämpfen. Die Entsprechung von symbolischer Welt und materieller Welt ist aufgrund der Möglichkeit eines partiellen Auseinanderfallens von Habitus und Struktur (in Folge einer gesellschaftlichen Krise oder individueller Hysteresis-Effekt) nicht hermetisch und Klassifikationsprinzipien können einander widersprechen, d.h. sie können mit bestehenden (binären) Ordnungen, etwa zwischen Mann und Frau, in Konflikt geraten und schließlich zu einem Bruch mit ihnen führen. Angesichts der Inkorporations- und Unbewusstheitsannahmen wird aber auch deutlich, dass eine kognitivistisch verkürzte Aufklärung nicht hinreicht. Die Bewusstwerdung müsste um Elemente einer „Gegendressur“ (Bourdieu 2010 [1997]: 220, Herv. d. Autors), d.h. eines praktischen Umlernens und wiederholten Eintrainierens von Widerstand gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse ergänzt werden. 55.3 Späte Moderne: Nancy Fraser Unter spätmodernen Bedingungen der umfassenden Reorganisation und Verflüssigung von gesellschaftlichen Zusammenhängen wird mit Nancy Fraser sichtbar, dass sowohl die von Marx, als auch von Bourdieu analysierten modernen und etablierten sozialen Verhältnisse der Ungleichheit auf Voraussetzungen beruhen, die bisher zu wenig thematisiert wurden (vgl. auch Weiß 2016). Fraser betont, dass zusätzlich zu den zuvor genannten Perspektiven (Marx und Bourdieu) die Frage, wer eigentlich die Subjekte der Ungleichheit sind, gestellt und neu beantwortet werden muss. Sie nähert sich damit dem Problem der kategorialen Exklusion von sozialer Teilhabe. Fraser geht sozialtheoretisch davon aus, dass alle menschlichen Praktiken umkämpft und von Machtbeziehungen und Ressourcenungleichheiten durchzogen sind. Machtbeziehungen stabilisieren sich zeitweise in (wiederum umkämpften) <?page no="176"?> 176 Sebastian Sevignani Diskursen und institutionellen Arrangements, die dann Praxen strukturieren und Individuen subjektivieren. Der Modus der Stabilisierung ist der der Hegemoniebildung, d.h. wiederstreitende Interessen oder Bedürfnisse müssen durch Kompromissbildung befriedigt werden, die durchaus auch durch Unterordnung und Exklusion die Macht- und Ressourcenungleichheiten absichern. In neueren Arbeiten wendet sich Nancy Fraser verstärkt der politischen Ökonomie zu und entwickelt ein erweitertes Verständnis des Kapitalismus als politisch institutionalisierter, gesellschaftlicher Ordnung. Dieses gibt den Rahmen für ihr Verständnis sozialer Ungleichheit ab. Während Marx deutlich machte, dass hinter die wirtschaftlichen Tauschprozesse geblickt werden müsse, um die Entstehung und Perpetuierung sozialer Ungleichheit wirklich verstehen zu können, macht Nancy Fraser - wie viele andere sozialistische Feminist_innen - deutlich, dass der von Marx aufgedeckte Mechanismus der Ausbeutung in der Produktionssphäre, selbst auf notwendigen Voraussetzungen in der sozialen Reproduktionssphäre beruht, die lange unterbelichtet blieben, aber für eine Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit mitgedacht werden müssen (Fraser 2014a). Kapitalistische Gesellschaften zeichnen sich nicht nur durch eine institutionalisierte Trennung der Bereiche Politik und Ökonomie aus, sondern auch durch eine Reihe weiterer umkämpfter Trennungen und Unterscheidungen (Fraser 2013: 59ff.; Fraser/ Jaeggi 2018; Fraser 2019). Diese Blickverschiebung basiert auf der Einsicht, dass der Kapitalismus, damit er in seinem ‚idealen Durschnitt‘ funktioniert, ständig auf ein nicht aus ihm ableitbares politisches, natürliches, soziales ‚Außen‘ angewiesen ist (vgl. auch Luxemburg 1975 [1913]; Harvey 2003; Dörre 2009). Nahm Marx eine Verschiebung vom Tausch auf die Produktion vor, geht es Fraser darum, den Blick zusätzlich auf die politische, ökologische und soziale Reproduktion des Kapitalismus zu richten (Fraser 2017a). Wie jeweils die Grenzen zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Markt und sozialen Gemeinschaften, zwischen Gesellschaft und Natur gezogen werden, ob und inwieweit also bestimmte natürliche oder menschliche Ressourcen, wie z.B. Rohstoffe, Care-Tätigkeiten, oder migrantische Arbeitskraft für den Kapitalismus eine externe Größe, d.h. eine Art ‚free lunch‘ (Fraser 2016a: 31), darstellen, variiert historisch. Konzeptuell jedoch ist es für diese nicht-ökonomistische, nicht-teleologische und nicht-funktionalistische Gesellschaftstheorie (Fraser 2015: 167) wichtig festzuhalten, dass die institutionalisierten Trennungen nach dem Prinzip ‚teile und herrsche‘ zwar funktional für den Kapitalismus sind, durch die Eigenlogik der Reproduktionsbereiche kommt aber auch eine weitere (Funktions-)Krisenanfälligkeit hinzu. Fraser unterscheidet dann zwischen mehr oder weniger offenen transformativen sozialen Kämpfen um neue Grenzziehungen im Kapitalismus von eher affirmativen Kämpfen, die innerhalb der existierenden Trennungen stattfinden (ebd.: 168). Während Marx an der Bestimmung der kapitalistischen Form in ihrem idealen Durchschnitt interessiert war, haben kritische Theoretiker_innen wie Nancy <?page no="177"?> 5 Soziale Ungleichheit 177 Fraser (vgl. auch die sog. Regulationstheorie, Lipietz 1985; Atzmüller et al. 2013) zeitdiagnostisch verschiedene Phasen des Kapitalismus unterschieden (Fraser 2015; 2016a; 2016b). Im Hinblick auf die Rolle der reproduktiven Voraussetzungen des Kapitalismus (Natur, soziale Reproduktion, Politik) kann aus sehr generalisierender Perspektive gesagt werden, dass der liberale Kapitalismus der frühen Moderne diese Voraussetzungen ‚privatisiert‘, d.h. aus der öffentlichen Diskussion verbannt und (politisch) unsichtbar macht. Im staatlich-verwalteten (Monopol-)Kapitalismus der entwickelten Moderne wurden die reproduktiven Voraussetzungen hingegen teilweise sozialisiert, d.h. in die öffentliche und politische Arena geholt und z.B. über Steuern finanziert. Im globalen, neoliberalen und finanzialisierten Kapitalismus der späten Moderne geht es darum, Voraussetzungen der Kapitalakkumulation zu internalisieren und selbst in die Warenform zu überführen (Fraser 2016a: 32). Diese Bereiche, wie etwa der zunehmend unter Druck geratene Sozialstaat in den europäischen Ländern, tragen dann nicht mehr zu einer Nivellierung, sondern zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheit bei. Bezogen auf soziale Ungleichheit befinden wir uns heute in einer Situation „abnormaler Gerechtigkeit“, in der zwar bisherige Probleme sozialer Gerechtigkeit, wie die Abhängigkeit des Wohlstands des globalen Norden von der Armut im Süden, offen zutage treten. Allerdings konstatiert Fraser auch, „dass uns trotz erweiterter Diskussionen über Ungerechtigkeiten weniger Mittel zur Verfügung stehen, den Vorwurf der Ungerechtigkeit zu untermauern und sie dann zu beseitigen“ (Fraser 2008b: 53). Dies ist so, weil einerseits in einer globalisierten Welt politische Zuständigkeiten schwerer zu identifizieren und zu adressieren sind, und andererseits normative Standards hierfür unter pluralisierten Bedingungen stärker herausgefordert sind. 55.3.1 Perspektivischer Trialismus auf soziale Ungleichheit: Ökonomie, Kultur und Politik Fraser entwickelt ihre Theorie sozialer Ungleichheit in zwei Stufen. Vor dem Hintergrund eines gleichermaßen feministischen wie auch sozialistischen Erkenntnisinteresses beobachtet sie nach dem Jahr 1968, dass politische Forderungen zweier sozialer Bewegungen bis zur Unversöhnlichkeit auseinandertreten. Zum einen zielen sozialkritische Positionen gegen Ausbeutung, Deprivation und Marginalisierung, die gewöhnlich mit dem sozialdemokratischen bis sozialistischen politischen Spektrum verbunden werden, auf eine Veränderung der polit-ökonomischen Strukturen und erheben Forderungen nach ökonomischer Umverteilung bis hin zur Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Beispiele hierfür wären etwa die gerechtere Besteuerung und Verteilung der Arbeit sowie Forderungen nach Mitbestimmung in Unternehmen. Zum anderen artikulieren sich in den so genannten neuen sozialen Bewegungen, wie z.B. der Frauen-, Queer- oder Schwarzen-Bewegung, Forderungen nach kultureller Anerkennung von Differenzen. Ein Beispiel ist das Sichtbarmachen und die Akzeptanz einer <?page no="178"?> 178 Sebastian Sevignani Diversität von Lebensformen gegenüber ausgrenzenden Normalitätsvorstellungen. Frasers Anspruch ist es, eine Theorie sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, die die ökonomischen und kulturellen Forderungsgruppen gleichermaßen aufnehmen kann und damit sowohl das Problem des Verdrängens und Vergessens einer Dimension zugunsten einer anderen in der Debatte über soziale Ungleichheit (Fraser 2008a: 130) als auch das Problem eines „Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemmas“ (ebd.: 13) vermeidet. Ein solches Dilemma entsteht, wenn Forderungen nach und Maßnahmen für Anerkennung, jenen nach Umverteilung praktisch widersprechen und umgekehrt. So kann die Einführung einer Redezeitquote, die die Sichtbarkeit und Anerkennung einer bestimmten sozialen Gruppe zum Ziel hat, mit Forderungen nach Umverteilung in Spannung geraten. Während in dem einen Fall eine Differenzlinie sichtbar eingezogen werden soll, sollen durch Umverteilungsmaßnahmen gerade soziale Differenzen zurückgenommen werden (ebd.: 18). Fraser spricht sich für einen perspektivischen Dualismus auf kulturelle und ökonomische Ungleichheit aus, denn nur so lasse sich historisch-konkret prüfen, in welchem Verhältnis beide stehen. Wird eine Achse gar nicht beachtet? Welche Dimension muss in welchen sozialen Feldern problematisiert werden? Gibt es Verstärkungs- oder Abschwächungseffekte zwischen ihnen? Nur mit einer analytischen Trennung der Dimensionen, so Fraser, die sich etwa gegen Theorien richtet, die die performative Nichtunterscheidbarkeit polit-ökonomischer und kulturell-symbolischer Praxen betonen (ebd.: 62ff.) bzw. alle Praxen in kulturell-symbolische Diskurse auflösen (ebd.: 132ff.), lassen sich auch die beschriebenen Dilemmata erkennen, und dies sei eine notwendige Bedingung ihrer praktischen Überwindung. Der perspektivische Dualismus Frasers schließt damit theoretisch zwar einen einseitigen Reduktionismus auf eine Ungleichheitsdimension aus, aber Unter- und Überordnungsverhältnisse zwischen den Dimensionen sind möglich; das reale Verhältnis verschiedener Ungleichheitsdimensionen wird so für empirische Untersuchungen geöffnet. Ein besonders interessanter Fall im Rahmen dieser Theorie stellen bivalente Kollektive dar. Damit sind soziale Gruppen gemeint, in denen die beiden Ungleichheitsdimensionen gleichgewichtig interagieren. Zu diesen Gruppen gehören die Frauen, die oft zugleich kulturell diskriminiert und sozialökonomisch schlechtergestellt werden. Dementsprechend kommen beim Kampf gegen geschlechtsspezifische Ungleichheiten zwei Strategien zum Zuge. Die Strategie der Umverteilung zielt darauf ab, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ökonomisch einzuebnen. Bei der Strategie der Anerkennung geht es aber gerade um die Sichtbarmachung, in diesem Fall des weiblichen Geschlechts z.B. mittels einer Quote. Fraser bietet nun mit der Unterscheidung zwischen affirmativen und transformativen Ansätzen eine Lösung des Umverteilung-Anerkennung-Dilemmas an. Mit <?page no="179"?> 5 Soziale Ungleichheit 179 affirmativen Ansätzen sind Lösungen gemeint, die Umverteilung oder Anerkennung anstreben, dabei aber die Bedingungen ihrer Genese nicht antasten, d.h. der Input und der Mechanismus sozialer Ungleichheit wird nicht problematisiert, sondern nur der Output. Bei transformativen Lösungen werden hingegen die generativen Bedingungen des ungleichen Ergebnisses angegangen. Das Leitbild des ‚Multikulturalismus‘ wird von Fraser der affirmativen Strategie und die ‚Dekonstruktion‘ kultureller Normen dem transformativen Weg zur Anerkennung zugeordnet. Der erste affirmative Weg würde das gleichberechtigte Nebeneinander von ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Identitäten einklagen, der transformative würde die Hegemonie dieser Unterscheidung selbst z.B. mittels einer Kategorie des dritten Geschlechts in Frage stellen. So würden Gruppenidentitäten eher verwischt statt bestärkt. Diese Strategie entgeht einem Problem, das Fraser als „Problem der Verdinglichung“ von Gruppenidentitäten bezeichnet (ebd.: 130). Affirmative Strategien der Umverteilung assoziiert Fraser mit dem Modell liberaler Sozialstaaten. Hier erfolgt eine Umverteilung des bereits erwirtschafteten Wohlstands über Steuern. Transformative, sozialistische Strategien der Umverteilung hingegen zielen auf eine gleichere Verteilung der Bedingungen für die Erzielung eines eigenen Erwerbsarbeitseinkommens ab, z.B. mittels einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Transformation bedeutet im Gegensatz zur Affirmation die Veränderung mindestens der grundlegenden Regeln des Spiels, vielleicht aber sogar des gesamten Spiels; nur veränderte Spielzüge hingegen affirmieren das bereits gespielte Spiel (vgl. Wright 2010: 251). Für Fraser sind diese deshalb nicht nachhaltig und sogar selbstwidersprüchlich. Affirmative Strategien der Umverteilung beanspruchen ‚offiziell‘ eine Idee universaler Anerkennung, d.h. das Ergebnis einer (zu großen) Ungleichheit zwischen sozialen Gruppen oder Personen soll verhindert werden. Um dies aber zu verhindern, identifiziert der Sozialstaat Anspruchsgruppen von ‚Bedürftigen‘, womit ‚praktisch‘ neue Differenzen geschaffen werden, die im Leitbild universaler Anerkennung nicht vorgesehen sind. Transformative Strategien entgehen diesem Widerspruch. Die Umverteilung produktiver Ressourcen verhindert die Entstehung von Anspruchsgruppen, denen der Sozialstaat helfen muss. Es wird deutlich, dass Fraser eine theoretisch vielversprechendere Lösung des Umverteilung-Anerkennung-Dilemmas im Bereich transformativer Strategien verortet. Praktisch aber, im Sinne politischer Umsetzbarkeit und subjektiver Motivationslagen, entstehen hier gravierende Probleme der Trägheit und Pfadabhängigkeit (vgl. z.B. Bourdieus Habituskonzept) sowie des Risikos, dass Subjekte ihre erreichte Handlungsfähigkeit verlieren (Fraser 2008a: 39; vgl. auch Wright 2010; Holzkamp 1985; Chibber 2017). Fraser entwirft deshalb das strategische Leitbild eines ‚revolutionären Reformismus‘ (siehe Kap. 5.3.2). Zeitdiagnostisch stellt Fraser fest, dass die Forderungen nach Anerkennung im Gefolge von 1968, die zunächst ein notwendiges Korrektiv und einer Ergänzung zur ausschließlichen Orientierung auf ökonomische Umverteilung waren, mehr <?page no="180"?> 180 Sebastian Sevignani und mehr die Tendenz hatten, die ökonomische Dimension zu verdrängen. Diese Verdrängung erleichtert es Vertreter_innen einer (verkürzten) Anerkennungspolitik, Bündnisse mit neoliberalen Kräften einzugehen und so eine Art „progressiven Neoliberalismus“ (Fraser 2017b) zu begründen, der breitere, auch links-liberalen Bevölkerungsschichten in ein Projekt der Umverteilung von unten nach oben einbinden kann. Die problematische Verdrängung der ökonomischen Ungleichheit aus der Anerkennungspolitik gelingt dann leicht, wenn die Anerkennungstheorie sich von der Analyse konkreter institutioneller Arrangements abwendet, in denen sich beide Dimensionen der Ungleichheit häufig (verstärkend) überschneiden, und Anerkennung als rein kulturell-symbolisches (Diskurs-)Phänomen fasst. Diese, aus der Perspektive eines perspektivischen Dualismus, reduktionistische Tendenz verwirft Fraser. In der heutigen Ordnung des globalisierten und finanzialisierten Kapitalismus ist ein eindeutiger Adressat für Anerkennungs- und Umverteilungspolitiken abhandengekommen. Bis in die 1970er Jahre hinein war klar, dass die Bürger_innen der Nationalstaaten die Subjekte der Gleichheitspolitiken waren. Diese Selbstverständlichkeit besteht heute nicht mehr, und mit ihrem Verschwinden kehrt für Fraser das Problem der Repräsentation vehement zurück auf die Tagesordnung der Gesellschaftstheorie. Der Übergang vom perspektivischen Dualismus zum Trialismus von Ökonomie, Kultur und Politik ist bei Fraser also einerseits zeitdiagnostisch begründet, entspricht aber auch ihrem sozialtheoretischen Fokus auf Hegemoniekämpfe. In der politischen Dimension sozialer Ungleichheit wird entschieden, wer legitimerweise Forderungen nach Anerkennung und/ oder Umverteilung stellen kann und wer von Forderungen nach Gleichheit ausgeschlossen ist. Zugleich wird der Modus bzw. das Verfahren festgelegt, wie solche Forderungen artikuliert werden können (Fraser 2008a: 278f.). Ungleichheit äußert sich in dieser Dimension als fehlende Repräsentation oder ‚Missrepräsentation‘, welche wiederum in zwei Formen auftreten kann: Die gewöhnliche politische Missrepräsentation bezieht sich auf Probleme innerhalb eines bereits bestehenden institutionellen Rahmens, wenn etwa eine Fünf- Prozent-Hürde bei Wahlen bestimmte Minderheitsparteien aus der politischen Deliberation in Parlamenten ausgeschlossen werden. Die grundsätzlichere Form der Missrepräsentation sieht Fraser in einer Fehlrahmung („misframing“) am Werk. Fraser integriert hiermit auch das Problem des kategorialen und nicht nur graduellen Ausschlusses in ihre Theorie. Das Problem dieser Form der Missrepräsentation ist, dass bestimmte Interessen und Ansprüche als solche gar nicht wahrgenommen werden, weil sie sich außerhalb des (offiziellen) Diskurses befinden und gar nicht in Diskussionen um veränderte institutionelle Arrangements eingehen. Auch gegen das Problem der Missrepräsentation gibt es eher affirmative und eher transformative Strategien. Bei Ersteren bleibt der grundsätzliche <?page no="181"?> 5 Soziale Ungleichheit 181 Bezug auf den nationalen Territorialstaat erhalten, bei Letzteren wird gerade dieses vermeintlich selbstverständliche, durch den Globalisierungsprozess aber herausgeforderte ‚Spielfeld‘ in Frage gestellt und nicht nur die Regeln, die darüber entscheiden, wer mitspielen darf. Ein Beispiel für transformative Strategien sind politische ‚Gegengipfel‘, wie etwa das Weltsozialforum, als ein Projekt einer alternativen Globalisierung, während Treffen der G8-Staten und der Welthandelsorganisation (WTO) als affirmative Strategien gelten können. Wenn nationalstaatlich gefällte politische Entscheidungen spürbare Auswirkungen über die Grenzen des Nationalstaats hinaus haben, dann zieht dies neue Fragen auch für die Theorie sozialer Ungleichheit nach sich, z.B. wie die nach der Konzeptualisierung transnationaler politischer Repräsentationsräume. Fraser schlägt hier eine Demokratisierung der Verfahren durch transnationale Öffentlichkeiten vor (Fraser 2014b; siehe Kap. 5.3.2), in denen diskutiert wird, wer eigentlich von welchen Entscheidungen betroffen ist, anstatt wie bisher - wenn die nationalstaatliche Logik überhaupt verlassen wird - die Entscheidungen den ökonomischen und politisch-bürokratischen Eliten zu überlassen. Politische Ungleichheiten auf der globalen Ebene und die Blockade funktionierender transnationaler Öffentlichkeiten bezeichnet Fraser als meta-politische Missrepräsentation. Trotz ihres perspektivischen Trialismus von Ökonomie, Kultur und Politik scheint Nancy Fraser dem Feld der Politik ein gewisses Primat auch für die Lösung ökonomischer und kultureller Ungleichheiten einzuräumen. Politik ist in ihrem Ansatz zugleich eine eigenständige Dimension der Ungleichheit und die Bühne, auf der alle Forderungen nach Gerechtigkeit vorgetragen und ausgefochten werden. Fraser unterscheidet zwischen der institutionalisierten Politik (funktionale Sphäre, Institutionen, Regeln der verbindlichen Entscheidungsfindung) und dem vorgängigen ‚Politischen‘ (Fraser 2013: 60). Mit Letzterem ist der diskursive und von Machtunterschieden durchzogene Bereich gemeint, aus dem heraus die Politisierung verschiedenster Anliegen und Bedürfnisse geschieht, die dann an die ‚offizielle‘ Politik herangetragen werden. Was als legitime politische Interessen in die Politik integriert wird, ist ebenfalls umkämpft. Auf die Bühne der Politik müssen Forderungen nach Gleichheit deshalb gebracht werden, weil nur dort letztlich für alle bindende Entscheidungen gefunden und getroffen werden können. Auf die Bühne des Politischen müssen zunächst aber auch sie, um überhaupt zu Forderungen zu werden. Für die Dimension der Politik, welche in der kapitalistischen Gesellschaft eine eigene funktional-ausdifferenzierte Sphäre darstellt, und die Kämpfe um Repräsentation, kann es für Fraser höchstens konjunkturell ein Primat geben (Fraser 2008a: 343), z.B. in Situationen drastischer örtlicher und zeitlicher Divergenzen zwischen den Möglichkeiten politischer Regulierung einerseits und der beschleunigten und globalen ökonomischen Profitlogik andererseits. Einen kategorialen Politizismus in der Bekämpfung sozialer Ungleichheit gibt es aber bei ihr nicht, sondern einen analytischen Blick, der Politik, Kultur und Ökonomie nicht reduktiv behandelt. Hinsichtlich der anderen, <?page no="182"?> 182 Sebastian Sevignani vorgängigen Ebene des Politischen, nämlich dort, wo sich Forderungen nach Gleichheit formen und allererst artikuliert werden, könnte man Fraser ein Primat des Politischen unterstellen, und dies gewinnt Plausibilität vor dem Hintergrund ihrer Hegemonietheorie. Das Politische als die Möglichkeitsbedingung aller gesellschaftlichen Praxen führt dazu, dass die institutionalisierte Politik den Rahmen dafür abgibt, wie Kämpfe um Anerkennung und Umverteilung geführt werden können (ebd.: 278). Dimensionen der Ungleichheit Ökonomische Umverteilung Kulturelle Anerkennung Politische Repräsentation Problem Fehlverteilung oder klassenspezifische Ungleichheit Missachtung oder Statushierarchie Missrepräsentation (mangelnde Repräsentation oder mangelnde Mitbestimmungschancen) Strategien gegen Ungleichheit Transformation - - - - - Affirmation Spielzüge Sozialstaatliche Sicherung von Bedürftigen Repressiver Kommunitarismus verdinglichter Identitäten Verbesserte Repräsentation in bestehender politischer Ordnung und politischen Verfahren Spielregeln Umverteilung Pluralismus von Identitäten (Multikulturalismus) Reframing von legitimen Interessen(gruppen) und Verfahren Art des Spiels (gleiche) Verteilung Dekonstruktion von Identitäten Meta-politisches Reframing der Prozesse und Verfahren der Repräsentation TTab. 2: Nancy Frasers Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit In Frasers erweiterten Kapitalismusverständnis rückt der Mechanismus der Enteignung in den Fokus sozialer Ungleichheitsproduktion (Fraser 2016b). Dieser auf der Schnittstelle der ökonomischen und politischen Dimensionen verortete Mechanismus sozialer Ungleichheitsproduktion ermöglicht (ungerechten) Tausch <?page no="183"?> 5 Soziale Ungleichheit 183 und Ausbeutung. 26 Enteignung spielt nicht nur historisch, wie bei Marx‘ Analyse der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, eine wichtige Rolle. Sie ist vielmehr die fortdauernde, aber häufig verdeckte Voraussetzung der Ausbeutung. Ohne ein Verständnis kapitalistischer Enteignung ist kein adäquates Verständnis des bei Marx zentral gesetzten ungleichheitsgenerierenden Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung zu erlangen. Im Gegensatz zum bloßen Diebstahl ist sie „confiscation-cum-conscription-into-accumulation“ (ebd.: 167). Enteignungen können gewaltsam, wie z.B. im Fall der Vertreibung der indigenen Landbevölkerung aus Urwäldern zwecks kapitalistischer Holzproduktion, oder auch in pseudo-legaler Form vonstattengehen, wie z.B. im Falle der Enteignung zukünftiger Lebenszeit für die Zurückzahlung von Studienkrediten mit teilweise räuberischen Vertragsbedingungen. Hinsichtlich der Funktionalität für kapitalistische Verwertungszusammenhänge ist die Enteignung einerseits in der ökonomischen Dimension verortet. Die oftmals aktive Rolle des Staates weist aber auch darauf hin, dass die politische Dimension ebenso relevant ist. Um Menschen enteignen zu können, muss ihnen ein inferiorer politischer Status zukommen, der sie von wirklich freien Staatsbürger_innen, aber auch von den klassischen kapitalistisch Ausgebeuteten zumindest graduell abhebt. Ein Beispiel wären migrantische Arbeitskräfte, die (illegal) Sorgetätigkeiten in Lohnarbeiter_innen-Familien leisten. Die Konsequenz hieraus ist, dass eine Strategie für die Besserstellung der in den kapitalistischen Zentren Ausgebeuteten zu Lasten peripherer Gruppen gehen kann. Die Enteignung ist in diesem Fall politisch und ökonomisch zugleich und entsteht an der Schnittstelle beider Ungleichheitsdimensionen (ebd.: 169f.). 55.3.2 Reflexive Gerechtigkeit: Institutionalisierte gleiche Teilhabe und transnationale Öffentlichkeiten Frasers Gesellschaftstheorie kombiniert eine multidimensionale Ontologie der Gesellschaft (ökonomische, kulturelle und politische Dimension der Ungleichheit) mit einem normativen Monismus, der sich am Prinzip der gleichberechtigten Partizipation orientiert. Sie legt dar, wie gerechte wertende Entscheidungen in einer Gesellschaft zustande kommen sollten, nimmt aber nicht deren Inhalte theoretisch vorweg. Wer ökonomische Gleichheit einfordert, muss zeigen, dass die existierende Verteilung der materiellen Ressourcen die gleichberechtigte Partizipation am sozialen Leben behindert. Wer Anerkennung fordert, muss zeigen, dass intersubjektive Verhältnisse bestimmte Personen oder Gruppen an der Teilnahme am sozialen Leben hindern. Und wer politische Gleichheit einfordert, muss deutlich machen, dass bestimmte Personen oder Gruppen in Verfahren und Institutionen nicht repräsentiert sind. In diesem Sinne schließt Fraser an Diskurstheorien der Gerechtigkeit an, denen es um den gerechten Prozess der Aushandlung einer 26 Die spezifischen kulturell-symbolischen Aspekte sind hingegen kapitalismustheoretisch (noch) nicht ausgearbeitet (Fraser 2016b: 176). <?page no="184"?> 184 Sebastian Sevignani unter den Bedingungen des modernen Wertepluralismus grundsätzlich offenen Antwort auf die Frage geht, was im jeweiligen Fall genau unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Mit dieser Verlagerung auf politische Verfahren wird die Frage der Gerechtigkeit mit der Frage der Institutionalisierung funktionierender demokratischer Öffentlichkeiten als Bühnen der Verhandlung von Gleichheitsansprüchen verknüpft (Fraser 2007: 318). Die gleiche Teilhabe fungiert aber nicht nur als Maßstab des Prozesses der Deliberation, sondern zugleich als ein Kriterium zur Beurteilung der Ergebnisse der Aushandlungen (Input- und Output-Modell der gleichen Teilhabe, Fraser 2008a: 339f.). Faire Aushandlungen müssen auch zu Ergebnissen führen, welche die zukünftige Chancengleichheit sichern. So versucht Fraser, einen praktikablen Mittelweg zwischen affirmativen und transformativen Strategien der Bekämpfung sozialer Ungleichheit vorzuschlagen. Ein ‚revolutionärer Reformismus‘ kann das Ergreifen affirmativer Maßnahmen beinhalten, wenn diese dann später auch transformativ wirken können. Leitend ist das Bild einer dynamischen Spirale, wo die Bedingungen der Deliberation ‚gut und gerecht genug‘ sind, dass ihr Ergebnis gleichzeitig die Bedingungen für bessere und gerechtere zukünftige Deliberationen bildet (ebd.: 341). In der späten Moderne, unter Bedingungen eines neoliberalen Kapitalismus und einer nach-westfälischen Weltordnung, wird die Frage danach, wer als gleichberechtigt an demokratischen Deliberationen partizipieren soll, akut. Fraser selbst schlägt ein modifiziertes Betroffenheitsprinzip vor, welches in der Lage sein sollte, in einer Welt voller Interdependenzen die moralisch entscheidenden zu identifizieren. All jene, die einer bestimmten Regierungsstruktur unterworfen sind, sollen auch gleichberechtigt an der Ausgestaltung dieser Struktur teilhaben (Fraser 2008b: 64). Fraser argumentiert, dass die Existenz eines weltumspannenden kapitalistischen Systems alle Menschen betrifft und sie daher auch an der Ausgestaltung oder Ersetzung relevanter Organisationen und Verfahren, wie z.B. der WTO und dem Freihandelsabkommen, beteiligt werden müssten. Dabei hat ihr erweitertes Kapitalismusverständnis praktische Konsequenzen. Antikapitalistische Kämpfe sind gegenüber dem klassischen Marxismus weiter zu fassen, und zwar als Kämpfe innerhalb des Kapitalismus (Produktion) wie um die Außengrenzen (Reproduktion), sowie manchmal auch gegen den ganzen Kapitalismus als institutionalisierte Ordnung (Fraser/ Jaeggi 2018). Die spiralförmige Dynamik hin zu mehr Gerechtigkeit, d.h. die Realisierung von Ergebnissen, die gut genug im Sinne einer gleichen Teilhabe sind, soll, so argumentiert Fraser in ihren breit rezipierten öffentlichkeitstheoretischen Arbeiten (1996; 2014b), durch eine gelungene Balance zwischen den Legitimität generierenden transnationalen Öffentlichkeiten und den politischen Institutionen angetrieben werden. Letztere sind wichtig, um die Ergebnisse demokratischer Deliberation auch umzusetzen, denn „ohne eine Vorstellung von der Beziehung zwi- <?page no="185"?> 5 Soziale Ungleichheit 185 schen öffentlichem Diskurs und legitimierter Entscheidungsfindung können wir das Alle-Subjekte-Prinzip nicht implementieren und sind nicht in der Lage, konfrontative Debatten in abnormalen Zeiten zu führen“ (Fraser 2008b: 67). Aus der Kombination der ethischen Implikationen der Hegemonietheorie hinsichtlich der Offenheit und Unabgeschlossenheit von Ordnungen mit einer Diskursethik, die verbindliche, aber dialogische Entscheidungsverfahren ermöglichen soll, gewinnt Fraser die skizzierte Konzeption einer „reflexiven Gerechtigkeit“ in der späten Moderne (Fraser 2008b: 73ff.). 55.4 Resümee: Auf dem Weg zur Entschlüsselung der Verschränkungen sozialer Ungleichheit in der kapitalistischen Moderne Das Problem der sozialen Ungleichheit wird in den drei hier vorgestellten Gesellschaftstheorien unter verschiedenen Perspektiven betrachtet: der sozialtheoretischen im engeren Sinne, der zeitdiagnostischen und der Perspektive auf das komplexe Zusammenspiel der Dimensionen und Mechanismen der sozialen Ungleichheit und ihrer politischen und normativen Implikationen für eine Transformation der Ungleichheitsverhältnisse. Der Ebene der Sozialtheorie kommt jeweils eine prägende Rolle für die hier betrachteten drei Gesellschaftstheorien zu. Bei Marx wird mit den Produktivkräften und der Arbeit der ungleichheitstheoretische Fokus auf die Ökonomie vorbereitet, wie auch die normative Zielperspektive einer Verwirklichung des menschlichen Gattungswesens durch die Überwindung der entfremdeten Verhältnisse im Kapitalismus. Bourdieus praxistheoretische Ausrichtung hat, wie er selbst betont, Verbindungen zu Marx (v.a. seinen Feuerbachthesen), lässt sich aber nicht auf Arbeit bzw. Gegenständlichkeit und Produktion reduzieren. Bei ihm ist es schwieriger, die Sozialtheorie als eigenständig auszuweisen, da sie mit der Zeitdiagnose vermischt wird bzw. aus letzterer heraus entwickelt wird. Insbesondere die prominente Stellung von (Macht-)Kämpfen hat Bourdieu den Vorwurf eingebracht, er würde die kapitalistische Konkurrenz und Ungleichheit zur universellen Eigenschaft jeglicher Sozialität machen (vgl. Honneth 1990; Ellmers 2012). Dazu passt auch die bei Bourdieu, trotz der grundsätzlich anti-dualistischen Stoßrichtung seines Denkens, oft bemerkte Tendenz zur Überbetonung des Strukturalismus und der Reproduktion ungleicher sozialer Verhältnisse zuungunsten von Wandlungsprozessen (Calhoun 1993; Archer 2010). Frasers diskurs- und hegemonietheoretische Betonung von Macht zeigt wiederum ihren gesellschafts- und ungleichheitstheoretischen Fokus auf Politik und das Politische an. Der Machtbzw. Kapitalbegriff als sozialtheoretische Zentralkategorie erweist sich als weiter und inklusiver gegenüber den verschiedenen Dimensionen, Achsen und Mechanismen der Ungleichheit, kann aber normativ weniger gut angereichert werden als der Begriff der Arbeit und Vergegenständlichung. Als normative Zielperspektive bleibt hier (bei Bourdieu, aber auch bei Fraser) meist nur eine <?page no="186"?> 186 Sebastian Sevignani gerechtere Temperierung oder Verflüssigung von Macht, eine Gesellschaft ohne Macht ist hingegen nicht vorstellbar. Zeitdiagnostisch wird von Fraser, hierbei Marx folgend, der Kapitalismus als gesellschaftstheoretische Konkretisierung der Moderne wieder eindrucksvoll in die Debatte um soziale Ungleichheit eingebracht. Während Marx den idealen Durchschnitt des Kapitalismus bestimmt, erweitert Fraser dieses Verständnis um die reproduktiven Voraussetzungen des Kapitalismus und konkretisiert ihre Zeitdiagnose regulationstheoretisch durch die Unterscheidung unterschiedlicher Phasen der kapitalistischen Entwicklung. Der Neoliberalismus steht, wie bereits bei Bourdieu, im Zentrum ihrer kritischen Aufmerksamkeit; sie betont aber seine eminent politische Dimension, die sie als nach-westfälische globale Ordnung bestimmt. Bei Bourdieu wird der Neoliberalismus statt kapitalismustheoretisch eher differenzierungstheoretisch als Vormacht des ökonomischen Feldes beschrieben, andere Feldlogiken zu brechen (Calhoun 1993). Dies impliziert - im Gegensatz zu Marx und Fraser - normativ nicht die Überwindung des Kapitalismus, sondern eher seine Zähmung oder Einbettung. Mit Marx und Fraser und gegen Bourdieu zeigt sich deutlich die Fruchtbarkeit einer der konkreten Zeitdiagnose vorgelagerten Form- und Kapitalismusanalyse für die Gesellschaftstheorie. Bezogen auf eine Theorie sozialer Ungleichheit kann man zuspitzend verschiedene dimensionale Schwerpunkte bei den behandelten Autoren ausmachen, die sich im Sinne einer komplexen Gesellschaftstheorie ergänzen müssen. Bei Marx liegt der Schwerpunkt klar auf der (politisch abgesicherten) ökonomischen Klassenungleichheit. Mit Bourdieus vielfältigen „Brechungen“ der marxistischen Klassentheorie verschiebt sich der Schwerpunkt in Richtung der Dimension der Kultur und des Symbolischen. Die Suche nach ‚sanfteren‘ ideologischen Reproduktionsmechanismen der Klassengesellschaft wird unter dem Eindruck ausbleibender Revolutionen und dem zumindest im Westen relativ stabilen keynsianistisch-fordistischen Regulationsmodell verständlich. Nancy Fraser betont zwar einen perspektivischen Trialismus in ihrer Gesellschaftstheorie, jedoch gibt es Indizien dafür, dass die politische Dimension der Ungleichheit für sie zentral ist, und dies kann auch aus ihrer Zeitdiagnose der Auflösung einer stabilen globalen Ordnung abgeleitet werden, die noch für Bourdieu den gesellschaftstheoretischen Rahmen abgab. Überschneidungen zwischen den Dimensionen der Ungleichheit und die relative Eigenständigkeit der Dimensionen werden erst mit Bourdieu und Fraser adäquat analysierbar, wohingegen Marx eher davon ausgeht, dass die Ökonomie die anderen Gesellschaftsbereiche und alle sozialen Ungleichheiten determiniert. Bei Bourdieu wird die Verschränkung vor allem als kapitalvermittelte Transformation und Verstärkung zwischen den Ungleichheitsdimensionen gedacht. Fraser lenkt den Blick auf Ungleichheitsdilemmata, wodurch die Irreduzibilität verschiedener Dimensionen betont wird, gleichzeitig aber eine Richtungsbestimmung für Kämpfe gegen soziale Ungleichheit und für politische Transformationsstrategien erfolgt. Bei Bourdieu gibt es sowohl eine Überbetonung als auch eine analytische <?page no="187"?> 5 Soziale Ungleichheit 187 Unterbestimmtheit der ökonomischen Dimension. Einerseits werden die ökonomischen Markt- und Konkurrenzlogiken auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet. Andererseits verbleibt seine Analyse des Ökonomischen - wie bereits bei Max Weber und im Gegensatz zu Marx und Fraser - auf der Zirkulationsebene und stößt nicht zu den ‚versteckten Bereichen‘ der kapitalistischen Ungleichheitsproduktion, wie Ausbeutung und die Reproduktion der Arbeitskraft vor (Desan 2013; Ellmers 2012). Diese polit-ökonomische Tiefenschärfe in der Analyse ökonomischer Ungleichheit sollte jedoch nicht aufgegeben werden. Eine systematische Bestimmung verschiedener Formen und Typen von Verschränkungen der Dimensionen steht für die Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit noch aus. Eine möglichst präzise Analyse unterschiedlicher Mechanismen, wie soziale Ungleichheit zustande kommt, ist für die Gesellschaftstheorie eine ebenso wichtige, wie in systematischer Absicht noch zu leistende Aufgabe. Über die Abgrenzung verschiedener Mechanismen und deren Ordnung, d.h. Sequenzierung, Hierarchisierung, Positionierung auf verschiedenen Ebenen, ließe sich auch ein genaueres Bild der vielfältigen Verschränkungen sozialer Ungleichheiten gewinnen. B EGRIFF & D EFINITION : Mechanismen der Ungleichheitsproduktion Vier zentrale, in den gesellschaftlichen Verhältnissen liegende, Mechanismen zur Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten können unterschieden werden: Klassifikation: Es werden bestimmte Kategorien konstruiert, die Personen oder Gruppen im Unterschied zu anderen Personen oder Gruppen im sozialen Raum positionieren. Dabei geht es um die gesellschaftliche Etablierung von Ungleichartigkeiten, an die die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit anschließen kann. Chancenhäufung: Die Armen und Benachteiligten können bestimmte Ressourcen oder Möglichkeiten nicht zu ihrem Vorteil einsetzten, wohingegen die Reichen oder Bevorteilten ihre Möglichkeiten nutzen, um ihre privilegierte Position zu sichern und weiter ausbauen. Es handelt sich um eine Art Matthäus-Effekt: Wer viel hat, dem wird gegeben. Ausbeutung: Dieser Mechanismus ist im Vergleich dazu durch eine innere Beziehung zwischen ungleichen Gruppen gekennzeichnet. Die Reichen sind reich, weil die Armen sie durch ihre Arbeit reich machen. Ausschluss bzw. Exklusion: Gruppen oder Personen von etwas auszuschließen ist ein grundlegender Mechanismus, auf dem einerseits im Sinne eines Ausschlusses von materiellen Ressourcen und Möglichkeiten die anderen Mechanismen, wie Ausbeutung und Chancenhäufung aufbauen. So erzeugt der Ausschluss unterschiedliche Positionen in einer Ungleichheitsordnung. Andererseits ist auch der die kategoriale Exklusion aus einer bestehenden <?page no="188"?> 188 Sebastian Sevignani Ordnung ungleichheitsrelevant. Noch schlimmer, als etwa ausgebeutet zu werden, ist die Totalexklusion aus dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben, also überhaupt von niemanden mehr gebraucht zu werden. Diese Mechanismen werden gesellschaftstheoretisch je unterschiedlich ausgearbeitet, indem z.B. ökonomische, politische und/ oder kulturelle Wege ihrer Etablierung betont werden. Bei Marx kann die Gesellschaftstheorie etwas über die in der polit-ökonomischen Struktur des Kapitalismus liegenden Mechanismen der Ungleichhheitsproduktion lernen. Fraser betont Mechanismen der Umverteilung, der Missrepräsentation und der Missachtung, die auf der stets umkämpften institutionellen und politischen Ebene liegen. Und Bourdieu beschreibt mit den Klassifikationskämpfen einen symbolischen Mechanismus, den er mit den anderen Ebenen (Struktur, Institutionen) zu verknüpfen sucht. Gegenüber Bourdieu und mit Marx ist auf die bleibende Bedeutung der Ausbeutung für die Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit zu verweisen. Ausbeutungsbeziehungen begründen eine wechselseitige Abhängigkeit gegenläufiger Interessen in Bezug auf die Verfügung über Lebenschancen. Diese Dialektik macht sie gegenüber anderen Mechanismen einzigartig, auch gegen Marx‘ Bestimmung des Rentenmechanismus. Gleichwohl muss gesehen werden, dass Ausbeutung auf dem wohl grundlegenderen Mechanismus des Ausschlusses von produktiven Ressourcen bzw. Produktionsmitteln beruht, aber auch auf die prinzipielle Inklusion in eine Ungleichheitsordnung und damit auf die Bedeutung der Fraser‘schen politischen Repräsentationsmechanismen verweist. Interessant wäre es, das Verhältnis von politischer Repräsentation und symbolischer Klassifikation genauer zu bestimmen. Wie lassen sich ausgehend vom Problem der sozialen Ungleichheit Kritik an den sozialen Verhältnissen und Gestaltungsoptionen für eine gesellschaftliche Transformation zum ‚Besseren‘ oder ‚Gerechten‘ denken? Bourdieu ergänzt mit dem Konzept des Habitus die Marx‘sche Theorie, die sich auf die Bestimmung und Wirkung von Klassenlagen fokussiert, um unverzichtbare Theoriestücke zum Klassenbewusstsein, Klassenhandeln und zu Organisationsbildungen bzw. zum Klassenkampf beizusteuern. Weiterführungen wären hier durch eine Integration des Bourdieu‘schen Habituskonzept mit dem Marx‘schen Warenfetischtheorem und Ideologieverständnis zu erwarten (vgl. Herkommer 2004; Rehmann 2008). Fraser setzt schon mit der Berücksichtigung der Existenz von Kämpfen gegen soziale Ungleichheit und für mehr Gerechtigkeit ein. Diese können zwar aus dem öffentlichen und politischen Diskurs ausgeschlossen werden oder in ihm marginalisiert sein; pluralistische und teilweise auch antagonistische Interessen sind aber bei ihr, im Gegensatz zu Bourdieu, vorgängig, und so wird verständlich, dass es aus ihrer Sicht Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie ist, in und für Emanzipationsbewegungen im Sinne von Kämpfen um Hegemonie zu wirken. <?page no="189"?> 5 Soziale Ungleichheit 189 Beide, Bourdieu und Fraser, schließen so eher an eine politische Klassentheorie, die es bei Marx auch gibt, an. Für die Gesellschaftstheorie stehen mit den hier behandelten Autor_innen drei unterschiedliche Varianten einer normativen Begründung von Gerechtigkeit als Kritik sozialer Ungleichheit zur Auswahl. Bourdieu vertritt die soziologistische Variante einer Enthaltsamkeit gegenüber einer normativen Begründung und setzt auf sozialwissenschaftliche Aufklärung, die durch eine praktische ‚Gegendressur‘ gestützt werden muss. Nancy Fraser geht mit ihrem prozessualistisch und konsequentialistisch gefassten Modell gleicher Teilhabe (an demokratisch-öffentlicher Deliberation), ausgehend von den Unterdrückungserfahrungen neuer sozialer Bewegungen, einen Weg der moralischen Begründung der Kritik an sozialer Ungleichheit. Sie verweigert sich aber jeglicher weiterer inhaltlicher Füllung des Kritikbegriffs. Genau letzteres versucht das mit Marx assoziierbare Modell einer ethischen Begründung der Kritik an sozialer Ungleichheit als Entfremdung, die die Verwirklichung des Gattungswesens in jedem einzelnen Menschen (durch Bildung, Vergegenständlichung, Aneignung) verhindert. Es fällt auf, dass die sozialtheoretische Bezugnahme auf Macht und Kämpfe die ethische Variante der Begründung von sozialer Gerechtigkeit eher ausschließt. Eine Vermittlung von gleicher Teilhabe (Fraser) und Entfremdungskritik (Marx) (vgl. Rosa 2017a), flankiert mit der Bourdieu‘schen aufklärerischen epistemologischen Haltung scheint gesellschaftstheoretisch höchst interessant. <?page no="191"?> 66 Demokratie und Gesellschaft U LF B OHMANN Bis in die jüngere Vergangenheit schien der Demokratie als Idee und Praxis ein schier unaufhaltsamer Aufstieg beschieden. Theoretisch wie politisch kam ihr der Status als unhintergehbare Größe, ja als funktionale wie auch normative Selbstverständlichkeit zu. Diese Selbstverständlichkeit ist in der Gegenwart nachhaltig erschüttert. Dies lässt sich an einer Gemengelage aktueller Entwicklungen ablesen: Eine Welle des Rechtspopulismus verhilft autoritären und exkludierenden Vorstellungen zu politischem Gewicht und zu Regierungsmehrheiten; gelenkte Demokratien befeuern eine neue Systemkonkurrenz, die mit dem Ende des Kalten Krieges als überwunden galt; formal demokratische Prozeduren werden wahrgenommen als entkernt, fremdgesteuert oder bloßen Sachzwanglogiken unterworfen, und mit dem Etikett der ‚Postdemokratie‘ belegt. Zugleich tritt eine Vielzahl an neuen Gegenbewegungen und Protestkulturen auf den Plan, die ein anspruchsvolleres Verständnis politischer Ziele und Selbstregierungsformen artikulieren. Und so stellt sich mit neuem Nachdruck die Frage: Um was geht es aber überhaupt, wenn von ‚Demokratie‘ die Rede ist? Demokratie bedeutet, einen grundlegenden Zugriff auf die Gesellschaft zu haben - oder genauer: dass Gesellschaft einen Zugriff auf sich selbst hat. Folgt man dem Historiker Reinhard Koselleck (1972) und seiner Figur der ‚Sattelzeit‘, setzt sich mit den Anfängen der Moderne im Zeitalter der Aufklärung die Vorstellung durch, dass der Lauf der Geschichte, und mithin auch die Einrichtung der Gesellschaft, keiner unabänderlichen kosmischen Ordnung folgt, sondern gemacht ist, und somit auch als grundsätzlich gestaltbar gelten muss. Damit rückt der Topos der (Un-)Verfügbarkeit von Gesellschaft ins Zentrum (Rosa 2018). Was an den sozialen Verhältnissen ist autonom und intentional gestaltbar, und wo herrschen Eigenlogik und Unsteuerbarkeit vor? Eine gesellschaftstheoretische Variante ist, von der prinzipiellen Politisierbarkeit und gezielten Veränderbarkeit aller Verhältnisse in der Gesellschaft auszugehen, wohlgemerkt ohne jemals alle Verhältnisse gleichzeitig und vollständig politisiert zu sehen, denn dann wäre gleichsam nichts politisiert. Entsprechend wäre vielmehr historisch zu unterscheiden, was zu einem gegebenen Zeitpunkt dem demokratischen Zugriff zugänglich ist und was nicht - mithin, welche Facetten der Gesellschaft jeweils als sichtbar oder unsichtbar erscheinen, und wo die Gestaltungsintentionen an der ‚Widerständigkeit der Gesellschaft‘ abgeprallt sind. Eine andere, in der soziologischen Theorie prominente Variante ist demgegenüber, von der prinzipiellen Eigenlogik von Gesellschaft auszugehen, und etwa mit dem dezidierten Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann (1998) eine ausdrücklich skeptische Position in puncto <?page no="192"?> 192 Ulf Bohmann gezielter Gestaltbarkeit einzunehmen. Entsprechend gehen weithin anerkannte Theorien funktionaler Differenzierung davon aus, dass sich die moderne Gesellschaft zentrumslos in unterschiedliche Funktionssysteme aufteilt, die Politik also nur ein System unter vielen darstellt, und gerade keinen privilegierten Zugriff auf die Gesellschaft hat. Damit ist der Ort der Demokratie angesprochen: Ist sie eine Arena unter vielen, oder die Kommandobrücke? Das bisher Gesagte, so dürfte sich bereits aufgedrängt haben, lässt sich nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Politik allgemein sagen. Nun ist die Demokratie ein Spezialfall von Politik. Die zeitdiagnostische Besonderheit ist jedoch, dass Demokratie in der gemeinhin als ‚westlich‘ bezeichneten Moderne in deren Selbstverständnis der ideelle Normalfall ist. Demokratie und Politik werden als allgemeine Konzepte somit weitestgehend deckungsgleich, was sich im meist synonymen alltäglichen wie auch sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch nur allzu deutlich niedergeschlagen hat. Das Primat des Demokratiebegriffs in der Moderne ergibt sich nun in einer spezifischen Strukturanalogie: Demokratie und Moderne sind beide mit einer elementaren normativen Fortschrittsidee angetreten. Der Lauf der Geschichte wird somit nicht als mehr oder weniger erratische Entwicklung verstanden. Vielmehr wird, einhergehend mit der Idee der Gestaltbarkeit, die Lernfähigkeit der Gesellschaft unterstellt. Demokratie und Moderne geben also beide ein Emanzipationsversprechen ab: Eine ‚bessere‘ Gesellschaft ist möglich. Worin die Verbesserung nun auch genau bestehen mag - als zu verwirklichende Leitideen gelten typischerweise etwa Gleichheit und Freiheit, Frieden und Wohlstand, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Solidarität und Selbstentfaltung -, stets muss in Ermangelung einer allgemeingültigen, überhistorischen, kulturunabhängigen, von allen Gesellschaftsmitgliedern widerspruchsfrei affirmierten konkreten Zielvorstellung je neu erarbeitet und entschieden werden, in welche Richtung die Gesellschaft sich verändern sollte. Damit aber wird die Demokratisierung selbst zum intrinsischen Ziel und legitimen Selbstzweck: eine bessere Gesellschaft ist immer auch eine demokratischere, da nur so die nach jeweiliger Überzeugung besten Möglichkeiten zur kollektiven Zielfindung und Mitgestaltung gewährleistet werden können. Doch selbst dort, wo Demokratie unzweideutig affirmiert wird, ist nur allzu oft ungeklärt oder chronisch unbeantwortbar, worin eine Demokratisierung eigentlich besteht. Dies betrifft nicht nur das konkrete institutionelle Arrangement, sondern auch die normativen Zielvorstellungen. So nimmt es nicht wunder, dass dies in unterschiedlichen Modernephasen signifikant anders, wenn auch kaum je einheitlich beantwortet wurde. Die Rede von einer klar umrissenen, normativ unambivalenten, gleichsam ‚wahren‘ Demokratie, die es nur noch zu finalisieren und zu perfektionieren gelte, erweist sich somit schnell als Hybris. Demokratie bleibt trotz ihrer Langlebigkeit ein durch und durch historisches Phänomen. Mehr noch: Diagnostisch wird hinterfragt, ob wir gegenwärtig in einem robusten Sinne unter demokratischen Bedingungen leben, oder jemals demokratisch gewesen sind. Die <?page no="193"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 193 Vorstellung einer tiefgreifenden Kontingenz der Demokratie galt in der entwickelten Moderne gleichwohl als absurd. In der Spätmoderne tritt die Infragestellung der Demokratie nur umso entschiedener auf den Plan. Diese geht im Wesentlichen von zwei Lagern aus, die beide darauf abzielen, dass die moderne Demokratie nur scheinbar demokratisch sei: Einerseits werden Regressionen oder inhärente Mängel beanstandet (Geiselberger 2017). Das mittlerweile weitverbreitete Etikett der Postdemokratie etwa bezeichnet eine gegenwärtige Entkernung der Demokratie, die formal intakt erscheint, aber nur noch eine leere Hülle aus scheindemokratischen Institutionen darstellt (dazu Jörke 2005; Ritzi 2014). Etwas anders gelagert, aber aus ähnlicher Perspektive argumentierend, sind radikaldemokratische Kritiken (vgl. Comtesse et al. 2019), die das Politische und zugleich Demokratische an ganz anderen Orten als in den klassischen politischen Institutionen suchen, oder die Gefahr des Umschlagens in Totalitarismus in der modernen, liberalen Demokratie selbst angelegt sehen. Andererseits wird die Regression vom zweiten Lager gewissermaßen bewusst betrieben. Unter Preisgabe des Emanzipationsanspruchs werden exklusivere, autoritäre, gelenkte Arten der Regierung eingefordert, die effektiver, leistungsfähiger oder ‚volksnäher‘ sein sollen. Die zeitdiagnostische Relevanz bezeugt sich im gegenwärtigen Erstarken des (Rechts-)Populismus (dazu Müller 2016; Jörke/ Selk 2017). Dieser erhebt den exklusiven Anspruch, festlegen zu können, wer das ‚wahre Volk‘ ist und worin seine ‚eigentlichen‘ Interessen bestehen. Gesellschaftstheoretisch gesprochen wird hier somit eine partikulare Identität universalisiert, also eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe zur Allgemeinheit erklärt. Die charakteristisch moderne Haltung, Demokratie als das selbstverständlich Richtige und Anzustrebende anzusehen, ist also auch normativ und politisch keineswegs unumstritten. Mit dem letzten Punkt ist zugleich die Dimension der sozialen Konstellationen innerhalb der Gesellschaft angesprochen. Sachdienliche Fragen hierzu sind, wie sich Gesellschaft gliedert und welche Hierarchie- und Herrschaftsverhältnisse vorherrschen. Wer regiert also wen? Wie verhalten sich die verschiedenen Gesellschaftsgruppen und Partikularitäten zueinander? Und damit auch: Wie repräsentiert sich eine Gesellschaft symbolisch als Totalität, was paradoxerweise zugleich notwendig wie unmöglich ist (Marchart 2013)? Totalität ist einerseits notwendig, um anstatt bloß auf einzelne soziale Phänomene überhaupt auf ‚die Gesellschaft‘ rekurrieren zu können, und andererseits unmöglich, da sie unter modernen Bedingungen niemals wirklich homogen sein oder auf ewiggültigen Prinzipien basieren kann, und sich stets durch eine Pluralität von Partikularitäten auszeichnet. Totalität impliziert dabei immer auch, nach den Grenzen zu fragen - innerhalb und außerhalb der Gesellschaft. Damit wird der Blick einerseits auf handelsübliche Grenzziehungen gerichtet, etwa im Sinne des Territoriums von Nationalstaaten samt zugehöriger Mitgliedschaftsrechte, andererseits aber auch allgemeiner auf die jeweils auch innerhalb der Gesellschaft Exkludierten, oder noch abstrakter, auf das jeweils Ausgeschlossene an sich. <?page no="194"?> 194 Ulf Bohmann Besonders virulent werden diese Fragen, wenn es über die sozialwissenschaftliche Analyse und Deskription von Gesellschaftsstrukturen hinaus auch um das mögliche normative Selbstverständnis von Gesellschaft als politischer Gemeinschaft geht. Diese sich situativ oder dauerhafter einstellende Schließung, diese zumindest temporäre, imaginierte, symbolische Homogenisierung zu einem handelnden Kollektivsubjekt, gehört maßgeblich zum gesellschafstheoretisch relevanten Arsenal der Demokratie, da sich immer auch auf ebendiese Weise der Zugriff der Gesellschaft auf sich selbst - mithin die Selbstregierung - manifestiert. Entsprechend vielfältig und kontrovers wird diskutiert, was unter einer hinreichend integrierten politischen Gemeinschaft, die über ihre Angelegenheiten befindet, zu verstehen ist, ob selbige überhaupt möglich ist, und wie sie hergestellt werden könnte. Dies ist keineswegs selbstverständlich, da die Soziologie frühzeitig von einer Entgegensetzung von (vielfältiger, heterogener, loser) Gesellschaft und (integrierter, einheitlicher, dichter) Gemeinschaft geprägt wurde, wie sie insbesondere Ferdinand Tönnies im späten 19. Jahrhundert formuliert hat. In historischer Entwicklung diversifiziert sich diese Unterscheidung gleichwohl weiter in verschiedene Konstellationen von dualer Opposition bis zur situativen Verschränkung, und so nimmt es nicht wunder, dass gerade auch das identitätsauflösende, differenzbetonende poststrukturalistisches Denken der Gegenwart auf die Gemeinschaftsdimension abzielt (zum Überblick: Gertenbach et al. 2010). Gerade in der jüngeren Theorieproduktion wird typischerweise betont, wie Gesellschaft in einem ereignishaften demokratischen Akt zur Gemeinschaft wird, ohne dauerhaft und stabil den Aggregatszustand zu wechseln. Gemeinschaft ist also zugleich Ergebnis und Voraussetzung: In Akten des (demokratischen) Selbst-Zugriffs auf Gesellschaft, im Verfügbarmachen, zeigt sich die politische Gemeinschaft. Etwa aus postfundamentalistischer Perspektive (Marchart 2010) wird entsprechend von keinem festen Fundament (an Subjekten, Prinzipien, Institutionen), sondern von beständigen politischen Neugründungen der Gesellschaft ausgegangen. Zu fragen wäre dann weiterführend, was eine spezifisch demokratische Neugründung ausmacht. In spezifisch demokratischer Perspektive geht es neben dem Symbolischen immer auch um die institutionelle Dimension der Verwirklichung des Freiheits- und Gleichheitsideals, vielleicht der normative Kernbestand von Demokratie schlechthin. Denn erst durch selbige wird dem Wesen nach eine Demokratie zur Demokratie, unterschiedliche Definitionen und Modelle unbenommen: Alle Gesellschaftsmitglieder sind zumindest dem Prinzip nach frei und gleich beteiligt. Zu unterscheiden ist hier, ob nun wirklich alle Gesellschaftsmitglieder unmittelbar partizipieren, oder ‚die Gesellschaft‘ repräsentiert wird. Die erste Vorstellung geht maßgeblich auf Rousseaus Idee einer ‚identitären Demokratie‘ zurück, gewissermaßen als in den Anfängen der Moderne im 18. Jahrhundert vollzogene Weiterentwicklung des klassischen Bildes von Demokratie schlechthin. Nur allzu gerne wird das Idealbild der attischen Polis romantisierend angerufen - als vollständig integrierte politische Gemeinschaft der Gleichen, die über alle kollektiven Angelegenheiten <?page no="195"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 195 autonom und konsensuell befindet, während es sich doch um eine Sklavenhaltergesellschaft mit eklatanter Ungleichheit und restriktivem Zugang handelte. Die zweite Vorstellung prägt spätestens seit der Durchsetzung des Parlamentarismus und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts das Ideal und die Praxis aller ‚westlich‘-liberalen, modernen Demokratien. Diese Vorstellungen variieren mit der Größenordnung der demokratischen Einheit, also je nachdem, ob etwa auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene politisch gehandelt wird. Je nachdem, wo ‚die Gesellschaft‘ überhaupt verortet wird, stellt sich eine Frage je spezifisch: Was hält die Gesellschaft zusammen? Durch die unterschiedlichen Ebenen und institutionellen Ausprägungen hindurch gilt, dass der Modus der Vergesellschaftung divergieren kann: Keineswegs nur bei normativer oder politischer Übereinstimmung, sondern gerade auch im Konflikt vergesellschaftet die demokratische Tätigkeit. Die hier einleitend aufgeworfenen Fragen werden im Folgenden mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandelt. Dies erfolgt exemplarisch an drei Denker_innen, die für drei Phasen stehen: Alexis de Tocqueville für die frühe, Hannah Arendt für die entwickelte und Jacques Rancière für die späte Moderne. Gemein ist dem überaus heterogenen Trio, das es sicherlich nicht zum klassischen Kanon der Soziologie gehört, sondern typischerweise in der politischen Theorie und Sozialphilosophie aufgegriffen wird. Gemein ist den drei Denker_innen aber auch, dass sie auf jeweils charakteristische und originelle Weise zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen beitragen und dabei helfen, den soziologisch eigentümlich unterbelichteten Zusammenhang von Demokratie und Gesellschaft genauer zu beleuchten. 66.1 Frühe Moderne: Alexis de Tocqueville Alexis Charles Henri Clérel de Tocqueville (1805-1859) verkörpert die gesellschaftlichen wie auch demokratischen Fragen, Widersprüchlichkeiten und Transformationen seiner Zeit wie kaum ein zweiter. Selbst dem alten französischen Adel entstammend, war sein Lebensthema - biographisch wie theoretisch - der Anachronismus der Aristokratie vor dem Hintergrund „des nahen, unaufhaltsamen, allgemeinen Aufstiegs der Demokratie in der Welt“ (Tocqueville 1959 [1835]: 3). Es handelte sich um eine Zeit, die zutiefst von den bereits erfolgten und noch bevorstehenden Revolutionen geprägt war. Tocquevilles Wirken fand mitten in der formativen Phase der Moderne statt, noch bevor die soziologischen Klassiker ebendiesen Umbruch als ihr zentrales, die Soziologie überhaupt erst hervorbringendes Thema erkennen konnten. Tocqueville war sich nur allzu bewusst, was diese Umwälzungen für die akademische Untersuchung der Gesellschaft bedeutete: „Eine völlig neue Welt bedarf einer völlig neuen politischen Wissenschaft“ (ebd.: 9). Sein Wirken war zugleich demokratietheoretisch wie demokratiepraktisch. Tocqueville war zum einen selbst aktiver Politiker und unter <?page no="196"?> 196 Ulf Bohmann anderem Abgeordneter in der Nationalversammlung, und 1849 zwischenzeitlich sogar kurz als französischer Außenminister tätig; zum anderen gilt sein zweibändiges Werk „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835 und 1840 als Meilenstein der Sozialwissenschaft. Wie etwa Sheldon Wolin (2001: 8) in seiner großen Studie über Tocqueville argumentiert, handelt es sich um dasjenige Buch, das zugleich die vergleichende Politik- und Sozialwissenschaft begründet, als auch den Moment beschreibt, in dem ‚Demokratie‘ überhaupt erst zum systematischen Gegenstand der politischen Theorie wird. Wolin folgt dabei Tocquevilles Zeitgenossen John Stuart Mill in der Einschätzung, dass es sich um das erste philosophische Buch überhaupt handelt, dass sich der Demokratie widmet, wie sie sich in der Gesellschaft manifestiert. 66.1.1 Demokratie in der Gesellschaft: Regierungs- und Sozialform ‚Gesellschaft‘ wurde von Tocqueville zuallererst als Nationalgesellschaft gedacht. Und so nimmt es nicht wunder, dass seine maßgeblichen Gesellschaftsbeobachtungen und sein Demokratieverständnis von einem Vergleich geprägt ist: zwischen seiner heimatlichen französischen und der bis dato im wissenschaftlichen Diskurs eher unerschlossenen amerikanischen Gesellschaft. Seine Überlegungen entstammen einer protosoziologischen wie protoempirischen Herangehensweise: Er reiste 1831 zusammen mit seinem ebenfalls adeligen Freund Gustave de Beaumont neun Monate durch die USA, um sich ein eigenes, unmittelbares Bild der dortigen jungen Demokratie zu machen. Daraus entstand sein Hauptwerk „Über die Demokratie in Amerika“ (Tocqueville 1959 [1835]; 1962 [1840]), das einerseits geradezu zu einem zeitgenössischen Bestseller wurde, und andererseits bis heute als ein echter Klassiker des politischen Denkens gilt. Gerade für seine Zeit ist bemerkenswert, wie Tocqueville von einem deskriptiven Zugang zur Form und Praxis der tatsächlich vorfindbaren amerikanischen Demokratie zu einem normativen Idealbild von Demokratie überhaupt kommt. Wenn man so möchte, war dieses Buch zugleich ein Paradebeispiel für die Überraschungen der qualitativen Sozialforschung: Eigentlich war Tocqueville vom französischen Justizministerium entsandt worden, um vom als fortschrittlich wahrgenommenen amerikanischen Gefängnissystem zu berichten - der eigentliche Klassiker ist also ein aus der angewandten Forschung entstandenes Nebenprodukt. Ein Teil der Aufmerksamkeit resultierte dabei vermutlich auch aus einem Überraschungseffekt durch den Import eines Demokratiebegriffes nach Frankreich, als ‚Demokratie‘ noch stark mit der Zeit des nachrevolutionären Terrors, mit Tyrannei, Chaos und Elend verbunden war, und führende Liberale lieber den Begriff der ‚Republik‘ gebrauchten. Tocqueville zeigte sich demgegenüber fasziniert von der Demokratie - die er jedoch, wie später zu zeigen sein wird, durchaus ambivalent betrachtete. Kern des aus der Anschauung gewonnenen Demokratieverständnisses Tocquevilles ist, Demokratie nicht mehr wie zu seiner Zeit üblich in rein staatsrechtlichen Begriffen zu betrachten, sondern als soziale Form - wie sie mithin in der Gesell- <?page no="197"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 197 schaft gelebt wird. Er kritisierte deshalb die zeitgenössischen politischen Wissenschaften, welche die politischen und sozialen Prozesse einseitig aus der Perspektive des Staates und des Regierungshandelns beschrieben hatten, und setzte ein duales Verständnis dagegen, dass großen Wert auf die ‚moeurs‘ legt, also auf die Sitten und Gebräuche, Einstellungen, Werte und Praktiken, auf die tatsächlich beobachtbaren Kooperationen unter Menschen. Dieser Aspekt hat unter dem von Tocqueville entliehenen Begriff „Habits of the Heart“ (Bellah et al. 1985) insbesondere ins kommunitaristische Denken Eingang gefunden. Gleichzeitig war Tocqueville keineswegs blind für die institutionalisierte Seite der Demokratie, die in dieser Perspektive nochmals zu unterteilen ist in die Herausforderungen der Steuerung einer Gesellschaft durch Regierung und Verwaltung und die angemessene Repräsentation und Partizipation der Bürger_innen. Für die institutionelle Seite der Gesellschaftssteuerung, die er im ersten Band von „Über die Demokratie in Amerika“ entwickelt (ausführlich dazu die umfangreiche Studie von Krause 2017a), ist für Tocqueville die Frage der gebührenden Nähe oder Distanz maßgeblich. Er ist glühender Verfechter eines dezentralen Föderalismus. Für Ausnahmen müsse es gute Gründe geben: Einen Zentralismus der Regierung hält er zwar für unabdingbar, eine Nation benötige stets eine starke Regierungsgewalt. Für diese gelte es jedoch - wie am amerikanischen Beispiel erfolgreich praktiziert - zu erkennen, dass sich die nationale Regierung nur mit solchen politischen Angelegenheiten beschäftigt, die nicht auf lokaler oder regionaler Ebene sinnvoll zu bearbeiten sind, wie etwa Fragen der Außenpolitik. Tocquevilles Präferenz wird im Falle der Verwaltung deutlich verstärkt: Hier laufe eine demokratisch wünschenswerte kommunale Selbstverwaltung stets Gefahr, durch einen intransparenten und anonymen Verwaltungszentralismus erstickt zu werden. Analog verhält es sich für ihn in puncto politischer Repräsentation und Partizipation. Moderne Gesellschaften sind für Tocqueville ob ihrer schieren Größe darauf angewiesen, auf allgemeine Wahlen und parlamentarische Repräsentation auf nationaler Ebene zu setzen. Dafür seien Parteien und Berufspolitiker_innen - zu denen er später als Abgeordneter selbst zählte - vonnöten, sein Unbehagen gegenüber beidem wird jedoch immer wieder deutlich (so auch Jörke 2011: 226). Sein eigentliches Streben gilt aber der Überwindung einer rein repräsentativen Demokratie, welche die Bürger_innen auf die Rolle bloßer Wähler_innen reduziere. In seinen Beschreibungen der amerikanischen Realität interessiert er sich entsprechend besonders dafür, wie Bürger_innen auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen auch zwischen den Wahlen in die politischen Prozesse integriert werden können. Um Politik möglichst beteiligungsoffen zu halten, ist dabei erneut Dezentralität der entscheidende Punkt, die er am vorbildlichsten in den kommunalen ‚township meetings‘ verwirklicht sieht. Ähnliches gilt für die Partizipation jenseits der klassisch politischen Arenen, etwa in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und der Gerichtsbarkeit. Bei Letzterer erblickt Tocqueville im sozialintegrativ-demokratischen Modell der Schöffengerichte eine amerikanische Vor- <?page no="198"?> 198 Ulf Bohmann reiterrolle. Ähnliches gelte für die flankierend notwendigen Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheiten. Entscheidend ist für Tocqueville dabei stets, dass kollektive Erfahrungs-, Handlungs- und Freiheitsräume geschaffen und genutzt werden würden, die sich gegenseitig bedingen (Krause 2017a: 13ff., sowie ausführlich ebd.: 185 ff.). 66.1.2 Freiheit und Gleichheit Tocquevilles Werk kreist um zwei normative Grundprinzipien: die Freiheit und die Gleichheit. Er setzt sie weder axiomatisch voraus, noch leitet er sie anthropologisch her - er findet sie in der Gesellschaft vor, oder genauer: Er rekonstruiert sie aus seiner Gesellschaftsbeobachtung. Die scheinbar universellen Prinzipien sind für Tocqueville dabei historische Begriffe, in dem Sinne, dass er sie zugleich aus dem historischen Kontext des Wandels hin zur Moderne gewinnt, und selbigen mit ihrer Hilfe analytisch aufschließt. Für heutige Ohren klingt es nur allzu selbstverständlich, Demokratie mit Freiheit und Gleichheit geradezu gleichzusetzen. Nicht so Tocqueville: Er setzt die Demokratie geradezu mit dem Gleichheitsprinzip gleich. Die Idee der Freiheit bezeichnet für ihn hingegen ein republikanisches Motiv, das er in einer natürlichen Nähe zur Aristokratie wähnt, die wiederum von der demokratischen Gleichheit tendenziell bedroht werde. Welche Rolle spielt nun die Gleichheit für Tocqueville? Wenn es um die Beschreibung der gesellschaftlichen Umwälzung durch die Demokratie geht: die entscheidende Rolle. So leitet er sein Hauptwerk unumwunden mit folgenden Worten ein: „Unter den neuen Erscheinungen, die während meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit erregten, hat keine meinen Blick stärker gefesselt als die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen“ (Tocqueville 1959 [1835]: 5). Er sieht die gesellschaftliche Gleichheit gar als weit über die politischen Zustände hinaus „wirkende Ursache“ (ebd.), die den Mittelpunkt aller seiner Betrachtungen bilde. Doch diese Gleichheit sei nicht einfach prinzipiell in jeder Gesellschaft vorhanden, sondern zuallererst ein Kind der Moderne, und die Zwillingsschwester der sich Bahn brechenden Demokratie. Für Tocqueville sind Demokratie und Gleichheit aber auch keine sich allmählich einstellenden gesellschaftlichen Zustände, sondern ein Umbruch; entsprechend bezeichnet er Folgendes als Grundgedanken von „Über die Demokratie in Amerika“: „Mitten unter uns geht eine demokratische Revolution vor sich“ (ebd.). H INTERGRUND & D EBATTE : Revolutionen Tocqueville interessierte sich für die Umwälzungen und Transformationen hin zu einer modernen Gesellschaft, mithin für die ‚demokratische Revolution‘ im weiteren Sinne. Damit einhergehend war sein Leben, Wirken und Denken auch von mehreren konkreten Revolutionen im engeren Sinne geprägt. Maßgeblich - gerade für seinen Vergleich der französischen und <?page no="199"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 199 amerikanischen Gesellschaft - waren dabei naheliegenderweise die Französische Revolution (1789-1799), die Amerikanische Revolution (1773-1783) und die in der gegenwärtigen Forschung zunehmend wiederentdeckte Haitianische Revolution (1791-1804). Ausführlicher analysierte Tocqueville die Französische Revolution in „Der alte Staat und die Revolution“ von 1856 (Tocqueville 1987 [1856]). Seine Generalthese lautet, dass die nachrevolutionäre Gesellschaft größtenteils die Gesinnungen, Gewohnheiten und Ideen des „alten Staates“ beibehalten hätte, oder in seinen Worten: „ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient“ habe, „um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen“ (ebd.: 9). Doch auch zu seinen Lebzeiten und als aktiver Politiker war sein Schaffen von Revolutionen geprägt, insbesondere von der Julirevolution von 1830 und der Februarrevolution 1848. Bekannt ist insbesondere seine in einer Rede vom 29. Januar 1848 vor der Abgeordnetenkammer ausgesprochene Warnung vor den kommenden Ereignissen: „Merken Sie - wie sage ich? - den Revolutionssturm nicht, der in der Luft liegt? “ (Tocqueville 1954: 52). In der gegenwärtigen Sozialtheorie wird hingegen weniger das große Ereignis als vielmehr analog zur ‚demokratischen Revolution‘ der langwierige Prozess thematisiert (für einen aktuellen Ansatz, der auf das Zusammenwirken von Alltagspraktiken als Motor radikalen Wandels fokussiert, vgl. von Redecker 2018). Gleichwohl sind Gleichheit und Demokratie für Tocqueville nicht aus den singulären Ereignissen einer konkreten Revolution hervorgegangen. Vielmehr sieht er in der ‚demokratischen Revolution‘ einen historischen Prozess, der insbesondere für das Frankreich seiner Zeit noch keineswegs an ein Ende gelangt ist. Seine Beurteilung ist jedoch ambivalent: Er ist fasziniert von diesem gesellschaftlichen Wandel und weist immer wieder auf seine Unaufhaltsamkeit hin, doch die revolutionären Zustände im engeren wie weiteren Sinne - Aufbruch, Unordnung und Instabilität - sind für ihn in gesellschaftlicher wie politischer Hinsicht ein akutes Problem, das durch ein beharrliches Streben nach Gleichheit erzeugt werde. So habe das Verlangen nach Gleichheit in Frankreich zu einer ganzen Reihe von Revolutionen und Staatsstreichen geführt, die zwar die alte Ordnung beseitigt, aber kein stabiles neues Regime hervorgebracht hätten. Mehr noch: Ungezügelte Gleichheit führe geradewegs in die Anarchie (vgl. Jörke 2011: 249). Die Aufgabe der politischen Wissenschaft besteht für Tocqueville mithin zugleich darin, diesen Strukturwandel der Gesellschaft in seiner Dynamik zu erfassen, aber vor allem auch jene gesellschaftlichen Institutionen und Verfahren zu benennen, die dabei helfen können, diesen Wandel in stabile politische Strukturen zu lenken (vgl. Krause 2017a: 11). Wie erwähnt bezeichnet ‚Demokratie‘ für ihn nicht nur eine institutionalisierte politische Praxis oder eine Regierungs- und Staatsform, sondern eine umfassende <?page no="200"?> 200 Ulf Bohmann Lebensform, die er als Gleichheit in den Sozialbeziehungen fasst. Welche Gleichheit meint er dabei? Gerade weil der Begriff für Tocqueville so omnipräsent und facettenreich ist, fällt eine präzise konzeptuelle Bestimmung schwer. Er verwendet die Bezeichnung für viele, sozialwissenschaftlich eigentlich zu differenzierende Kategorien. So setzt er bei rechtlichen, politischen und sozialen Dimensionen der Gleichheit an, die allesamt im Zuge der Abschaffung aristokratischer Vorrechte und quasi-natürlicher Hierarchien ihren Durchbruch erreichten. Er meint aber immer auch die alltäglichen, scheinbar selbstverständlichen (oder nebensächlichen) Aspekte der sozialen Beziehungen, etwa Umgangsformen und Erwartungshaltungen der Menschen. Durch die Gleichsetzung von Demokratie und Gleichheit knüpft Tocqueville an das klassentheoretische Demokratieverständnis der antiken Diskussion an. Auch dort wurde der Begriff der Demokratie in erster Linie mit dem als illegitim aufgefassten Streben nach Gleichheit verbunden. (vgl. Jörke 2011: 224). Mehr noch: Demokratie neige dazu, ganz im Sinne der antiken politischen Theorie, zu einer freiheitsgefährdenden Herrschaft der ‚Masse‘ zu werden. Entsprechend zeigt sich der Adlige Tocqueville bestrebt, republikanisch-aristokratische Elemente in das Zeitalter der Gleichheit hinüberzuretten. Die Herausforderung besteht für ihn mithin darin, die vermeintlich nivellierenden Tendenzen der Demokratie auszubalancieren (ebd.: 225). Während er etwa amerikanische ‚township meetings‘ als Errungenschaft, ja Vorbild verbucht, findet sich bei ihm aber auch das Bild leidenschaftlich-chaotischer demokratischer Versammlungen, die Demagogen eine Bühne böten und eine rationale Entscheidungsfindung verunmöglichten, was er auf die soziale Zusammensetzung dieser Versammlungen zurückführt (ebd.: 249). Seine eigene Zerrissenheit bringt Tocqueville 1841 mit folgenden Worten auf den Punkt: „Ich habe für die demokratischen Einrichtungen eine verstandesmäßige Neigung, aus Instinkt aber bin ich Aristokrat, das heißt ich fürchte und verachte die Menschenmengen. […] Die erste meiner Leidenschaften aber ist die Freiheit.“ (Tocqueville 1985 [1841]: 87, Übers. d. Aut.; vgl. auch Bluhm 2005). Tocqueville gibt nicht nur in diesen Zeilen der Freiheit unmissverständlich den Vorzug. Er sieht in ihr nicht zuletzt eine notwendige Voraussetzung, Gleichheit zu realisieren, und nicht umgekehrt. Gleichwohl bleibt seltsam uneindeutig, was er mit diesem Begriff genau bezeichnet. So hat er ihn nie allgemein umrissen, ja explizit darauf verzichtet (vgl. Hereth 2001: 26). Was fällt also darunter? Zum einen gibt es die konkreten Hinweise auf ‚negative‘ Freiheitsrechte, die vor äußerlicher Beeinträchtigung (etwa durch Staat und Verwaltung) schützen sollen, wie die Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheiten. Freiheit bedeutet für ihn, keiner Willkür unterworfen oder in Knechtschaft gehalten zu werden. Zum anderen finden sich immer wieder Anklänge an die ‚positive‘ Vorstellung, dass private wie öffentliche Freiheit nur über ein aktives politisches Leben - eben in kollektiven Freiheitsräumen der Selbstverwaltung - verwirklicht wird. Freiheit erschöpft sich mithin nicht in Rechten, sondern wird von ihm geradezu als eine <?page no="201"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 201 Lebensform verstanden. Dazu zählt nicht zuletzt, sich als politische Gemeinschaft selbst gestalten und die eigene Geschichte schreiben zu können. 66.1.3 Gefahren der Demokratie Im skizzierten Unbehagen an der Gleichheit steckt ein Kerngedanke Tocquevilles, der für gegenwärtige Leser_innen (aus gutem Grund) zunächst kontraintuitiv erscheint. Tocquevilles Hauptaugenmerk gilt nicht den Gefährdungen der Demokratie, sondern vielmehr den aus der Demokratie selbst kommenden gesellschaftlichen und politischen Gefahren. Nicht dem Verhindern, Abschaffen oder Unterdrücken von Demokratie, sondern den der Demokratie eigenen und zum Teil problematischen Mechanismen gilt seine Aufmerksamkeit und Sorge. Man kann bei Tocqueville mindestens drei entsprechende Probleme identifizieren. (1) Die demokratische Revolution neigt dazu, Widersprüche zu überdecken. Bei Tocqueville wird das vor allem an seinen Beobachtungen zum ‚Anderen‘ von Freiheit und Gleichheit deutlich: Sklaverei und Rassismus (Tocqueville 1959 [1835]: 366ff.; zur Analyse Krause 2017b). Tocqueville beschreibt, wie trotz der erfolgreichen Abschaffung der Sklaverei im Norden der Vereinigten Staaten, die unter anderem aus dem wachsenden Selbstverständnis als demokratische Gesellschaft resultierte, massive rassistische Vorurteile und soziale Ausgrenzungen intakt blieben, was für die Zeitgenossen ein schlichtweg vernachlässigtes Problem war. Anstatt die schwarze Bevölkerung faktisch in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, verblieb diese als distinkte Gruppe segmentiert am unteren Ende der Gesellschaft und von dieser ausgeschlossen. Tocqueville führt dies zur Erkenntnis, dass rechtliche Gleichstellung allein nicht ausreiche, um die Praktiken der Diskriminierung durch eine vorherrschende weiße Bevölkerung aufzuheben. Nun war Tocqueville nach heutigen Maßstäben sicherlich kein glühender Antirassist, und zudem war er ein überzeugter Befürworter des Kolonialismus, etwa in Algerien (Tocqueville 2006 [1841]). Doch den verdeckten Widerspruch einer nur scheinbar egalitären Gesellschaft konnte und wollte er nicht übersehen. Als Erklärung für dieses verdeckte Interesse an sozialer Asymmetrie führte er zum einen ökonomische Gründe an, da durch die Durchsetzung der Lohnarbeit auf dem Arbeitsmarkt überproportional der weißen Bevölkerung zugutekam. Zum anderen betonte Tocqueville bereits lange vor Pierre Bourdieu, dass soziale Hierarchien nicht nur durch Privilegien, Fähigkeiten, Qualifikationen, Rechte und Pflichten hervorgebracht und stabilisiert werden, sondern in ganz entscheidendem Maße auch durch soziale Distinktions- und Umgangsformen, durch die bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata reproduziert und damit gesellschaftliche Grenzziehungen über Generationen hinweg verstetigt werden (Krause 2017b: 161). (2) Häufig zitiert wird Tocquevilles Diktum von der Tyrannei der Mehrheit (Tocqueville 1959 [1835]: 289ff.) als einer der Demokratie innewohnenden Gefahr. Hier <?page no="202"?> 202 Ulf Bohmann greift er das antike Thema der Angst vor der ‚Pöbelherrschaft‘ auf. In der Hochzeit Athens war die Demokratie entsprechend nicht der Name für die beste Regierungsform, sondern für eine Verfallsform, die es zu verhindern galt. Nicht so die Sichtweise Tocquevilles. So preist er die Rolle der Deliberation: „Die Angelegenheiten, die die Gesamtheit angehen, werden auf dem öffentlichen Platz und in der Vollversammlung der Bürger erörtert, wie in Athen.“ (ebd.: 47). Eine geradezu existenzielle Gefahr sieht er jedoch in der Launenhaftigkeit von Mehrheitsentscheidungen, sobald sie sich mit der Schrankenlosigkeit der Machtausübung verbindet. Zwar sieht er im Willen der Mehrheit den Ursprung für alle Staatsmacht, er „halte jedoch die Freiheit für bedroht, wenn diese Macht auf kein Hindernis stößt […]. Allmacht dünkt mich eine an sich schlechte und gefährliche Sache.“ (ebd.: 290). Daraus ist nur unschwer abzuleiten, dass Tocqueville für Gewaltenteilung, Machtkontrolle und individuelle Freiheitsrechte plädiert, um Demokratie gewissermaßen durch Einhegung vor sich selbst zu schützen. Die demokratischen Staatswesen würden mithin weniger von Ohnmacht, sondern vielmehr vom schlechten Gebrauch ihrer Macht - mithin durch eigenes politisches Handeln - bedroht. Tyrannei erhöhe schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass der Regierung die Macht gewalttätig (also insbesondere qua Revolution) entrissen werde (ebd.: 299ff.). B EGRIFF & D EFINITION : Tocqueville-Effekt und Tocqueville-Paradoxon Es handelt sich um zwei insbesondere in der vergleichenden Demokratie- und Transformationsforschung und der Sozialstrukturanalyse aufgegriffene und Tocqueville nachträglich zugeschriebene Konzepte, die auf einer analogen Grundidee beruhen und so häufig synonym oder in vertauschten Sinnbezügen verwendet werden, dass eine klare Zuordnung schwerfällt. Es handelt sich zum einen um den Umstand, dass eine Revolution insbesondere dann auszubrechen droht, wenn eine schlechte Regierung Reformen einleitet, also eigentlich die Missstände abbaut. Das ist insbesondere Thema in Tocquevilles „Der alte Staat und die Revolution“ (Tocqueville 1987 [1856]). Zum anderen thematisiert Tocqueville das Phänomen, dass mit zunehmender Gleichheit die Frustration gegenüber verbleibenden Ungleichheiten (wie etwa Privilegien) steigt, auch wenn sie vergleichbar geringfügig sind. In seinen Worten: „Der Haß der Menschen gegen das Vorrecht wächst in dem Grade, wie die Vorrechte seltener und kleiner werden, so daß es ist, als loderten die demokratischen Leidenschaften gerade dann am stärksten auf, wenn sie am wenigsten Nahrung finden. […] Sind die gesellschaftlichen Bedingungen alle ungleich, so fällt keine noch so große Ungleichheit kränkend auf […]. Daher ist es natürlich, daß mit der Gleichheit die Liebe zu ihr unaufhörlich zunimmt; indem man sie befriedigt, steigert man sie.“ (Tocqueville 1962 [1840]: 318f.) <?page no="203"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 203 (3) Der zentrale Topos bei Tocqueville, und die vielleicht einflussreichste Idee, ist die Sorge vor einem milden Despotismus. Damit bezeichnet er eine Art selbstverschuldeten Freiheitsverlust, der aus Entpolitisierung hervorgeht, oder anders: aus der freiwilligen Nichtnutzung der demokratischen Möglichkeiten. Dies ist insbesondere Tocquevilles Thema im zweiten Band von „Über die Demokratie in Amerika“ (Tocqueville 1962 [1840]). Dort beschreibt er, wie der demokratische Individualismus in einen Privatismus umzuschlagen droht, bei dem der Einzelne nur noch an sein eigenes materielles Wohl denkt, und keinen Antrieb mehr verspürt, sich für die Belange der Allgemeinheit zu interessieren (vgl. die zeitgenössische Fortführung von Taylor 1995). Dies öffne wiederum der zentralisierten Verwaltung Tür und Tor: „Im übrigen bin ich überzeugt, daß kein Volk mehr in Gefahr ist, unter das Joch zentralisierter Verwaltung zu geraten als eines mit demokratischer Ordnung“ (Tocqueville 1959 [1835]: 109). Je mehr jedoch Politik zur Verwaltungssache werde, desto mehr gesellschaftliche Anonymisierung und politische Apathie stelle sich bei den Bürger_innen ein, auch wenn sie regelmäßig zur Wahl gingen. Dies beobachtet Tocqueville nicht zuletzt am Umstand, dass die französischen Bürger_innen der Nationalversammlung mit einer Mischung aus Unverständnis und Desinteresse begegnen würden, was man heutzutage mit dem Begriff der ‚Politikverdrossenheit‘ zu fassen versucht (vgl. Jörke 2011: 227). Bei fehlender Ausübung der eigentlich vorhandenen demokratischen Möglichkeiten und politischen Freiheiten aber verkümmere sowohl der Geist der Freiheit wie auch das Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Demokratische Leere führe wiederum dazu, dass die gewählte Regierung und der Staat - vermeintlich zum Wohle der Gesellschaft - nahezu alle Belange des Lebens regelten (daher auch die Bezeichnung des „demokratischen Despotismus“, Tocqueville 1962 [1840]: 344). Über die nur noch privaten Bürger_innen „erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild“ (ebd.: 342). Spätestens wenn Tocqueville die Regierung als „Hirten“ darstellt (ebd.: 343), der sich scheinbar gutmütig um das vermeintliche Wohl der gesellschaftlichen Herde kümmere, drängt es sich geradezu auf, einzelne Motive - von Überwachung über Kontrolle bis zur Normalisierung - der Gouvernementalität und Biopolitik von Michel Foucault (2006 [1978]) vorweggenommen zu sehen. Für gegenwärtige Herausforderungen der Demokratie ist es zudem bezeichnend, dass sich Tocquevilles Einlassungen auch für einen zeitgenössischen Postdemokratiediskurs anbieten und dergestalt ungeahnte Aktualität und Relevanz erlangen. Insofern ist es alles andere als eine Zufälligkeit, dass in Wolins großer Tocqueville-Studie (2001: 561ff.) eine der frühesten Erwähnungen des Begriffs der „Postdemokratie“ zu finden ist und der Autor das Konzept in einer späteren Arbeit mit Blick auf die USA zeitdiagnostisch als „invertierten Totalitarismus“ weiterführt (Wolin 2008). <?page no="204"?> 204 Ulf Bohmann 66.2 Entwickelte Moderne: Hannah Arendt Hannah Arendt (1906-1975) wurde wohl wie keine Zweite gleichermaßen vom Optimismus wie auch von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geprägt. Sie ist eine überaus produktive, weithin inspirierend wirkende und nach wie vor viel diskutierte Denkerin, deren vielseitiges Werk sich dagegen sperrt, in einfache Kategorien eingeteilt zu werden. Dies ist nicht zuletzt ihrem literarischen Stil und ihrem dichterischen Denken geschuldet, das sich wiederum selbst in einem beachtlichen Maße aus literarischen Quellen speist (Weißpflug 2019). Bemerkenswert ist zudem, mit welchem Respekt Arendt aus teilweise geradezu entgegengesetzten wissenschaftlichen und politischen Lagern bedacht wird. Zu ihren philosophischen Lehrern zählten Karl Jaspers, Edmund Husserl und Martin Heidegger. Mit Letzterem ging sie während ihrer Studienzeit kurzzeitig eine Beziehung ein und blieb mit ihm, den sie als Philosophen bewunderte, Zeit ihres Lebens in Kontakt. In Anbetracht der unrühmlichen Rolle Heideggers im Nationalsozialismus blieb es jedoch eine überaus ambivalente Beziehung. Als Jüdin musste Arendt 1933 emigrieren und wurde wenig später ausgebürgert, sodass sie bis zur Annahme der US-Staatsbürgerschaft nach dem Krieg lange Zeit staatenlos war. Neben ihrem Wirken als eine ‚ohne Geländer denkende‘ Philosophin, ‚urteilskräftige‘ politische Theoretikerin und ‚perlentauchende‘ Ideenhistorikerin (zu ihrem Werdegang als politische Denkerin vgl. Maffeis 2018) war Arendt auch als öffentliche Intellektuelle aktiv, die sich politisch zu Wort meldete. Insbesondere ihre im Rahmen einer Reportage für die Zeitschrift „The New Yorker“ niedergeschriebenen Beobachtungen zum 1961 in Jerusalem stattfindenden Prozess gegen den führenden Nationalsozialisten Adolf Eichmann, der maßgeblich die ‚Endlösung der Judenfrage‘ mitorganisiert hatte, führten zu Kontroversen. Diese fokussierten sich insbesondere auf Arendts im Zuge des Prozesses geprägte Formel von der „Banalität des Bösen“ (Arendt 1964). Damit wollte sie zum Ausdruck bringen, welches unvorstellbare Schrecken sich in der Person und den Handlungen eines nur allzu gewöhnlichen, biederen Beamten manifestierte, wo man doch einen Dämon erwartet hätte. Obwohl bei Arendt nur ansatzweise ein expliziter Begriff von Demokratie zu finden ist, ist ihre politische Philosophie und Gesellschaftstheorie gleichwohl durchwirkt von einem demokratischen Geist, von der Suche nach einem robusten Gegenentwurf zum Totalitarismus. 6.2.1 Das Gesellschaftliche und das Politische Bei Arendt taucht der Begriff der Gesellschaft in vielfältiger Form auf: Etwa als pluralistische „Menschengesellschaft“ (Arendt 1960: 27), die anthropologisch gesehen die Bedingung der Möglichkeit für jegliches Handeln sei und auf der Vorstellung ruht, dass es nicht den Menschen, sondern nur die Menschen gebe. Oder, auf die Moderne bezogen, in Gestalt der handelsüblicheren Begriffe wie „nationale Gesellschaft“, „bürgerlichen Gesellschaft“ (Arendt 1955: 92), „Arbeits-“ und <?page no="205"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 205 „Konsumgesellschaft“ (Arendt 1960: 115), „Klassengesellschaft“ (Arendt 1955: 487) oder auch „Massengesellschaft“ (ebd.: 93). Mit letzterem Begriff knüpft Arendt ausdrücklich an Tocqueville an (Arendt 1960: 40), um im Prinzip der Gleichheit einen Motor für Nivellierung und Konformismus in der Gesellschaft zu sehen. Jenseits dieser diversen Einzelbegriffe ist es jedoch eine bestimmte Unterscheidung von Arendt, die gesellschaftstheoretisch besonders folgenreich ist (und umstritten, vgl. Jaeggi 2008: 4; Sörensen 2016: 185ff.): die Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen (oder häufiger synonym: dem Sozialen) und dem Politischen. Wie versteht Arendt diese Trennung? Im Anschluss an Aristoteles identifiziert sie einen ‚gesellschaftlichen‘ Bereich des oikos bzw. des Haushalts, in dem die materielle Reproduktion vonstattengeht (Arendt 1960: 31ff.). Er folgt dem Gesetz der Notwendigkeit, also den prä-politischen Zwängen der menschlichen Bedürfnisse und Lebensnotwendigkeiten, die Ordnung ist auf Ungleichheit aufgebaut. Es ist der Raum des Privaten. Der Bereich des Politischen hingegen ist der Raum des Öffentlichen, das erhabene ‚Reich der Freiheit‘, in dem Gleiche zusammenkommen und miteinander an der Gestaltung der gemeinsamen Welt arbeiten. Für Arendt wird das Gesellschaftliche geradezu zur Bedrohung für das Politische, wenn die bloßen Notwendigkeiten zunehmend zu kollektiven Angelegenheiten werden, oder in ihren Worten: wenn sich ein „unnatürliches Wachstum des Natürlichen selbst entfesselt“ (ebd.: 47) und den Bereich des Politischen ‚überwuchert‘, mithin das freie politische Handeln zu ersticken droht. Übertragen auf klassisch moderne Fragen wie die Bewältigung sozialer Ungleichheit durch Umverteilung bedeutet dies zunächst, dass Arendt - darin Tocqueville überaus ähnlich - die bürokratische Art der Bearbeitung beklagt. Problematisch sei daran, dass sich im „Wohlfahrtsstaat alle politischen Fragen in administrative Aufgaben auflösen“ (Arendt 1963: 350). Damit ist wohlgemerkt keineswegs gesagt, dass Arendt eine Apologetin des neoliberalen Selbstverantwortungsdenkens oder Ähnlichem ist. Ungleichheit ist ein Teil der Gesellschaft; das für Arendt entscheidende Gut der politischen Freiheit impliziert jedoch eine (zumindest hinreichende) Gleichheit aller Mitglieder des politischen Gemeinwesens. Da diese Zuordnungen ein nicht unerhebliches Maß an Missverständnissen mit sich bringen können, erweitern zeitgenössische Interpret_innen Arendts die Sortierung von Gesellschaftlichem und Politischem um eine wesentliche Komponente - sie betrachten sie als zwei unterschiedliche Modi der Thematisierung von Fragen (Jaeggi 2008: 6f.). Das verhindert eine naturalisierende Grenzziehung, was zu welchem Bereich gehört, zugunsten der Art der Behandlung eines Problems: als gesellschaftliche oder politische Frage. Demnach wäre kein Thema, kein Gegenstand, kein Verhältnis an sich politisch, aber eben prinzipiell alles politisierbar - so auch die ‚soziale Frage‘, die kapitalistische Ökonomie, ausbeuterische Arbeits- und patriarchale Herrschaftsverhältnisse. Dieser Umdeutung entspricht wiederum Arendts Feststellung, dass es die zentrale Gefahr für das Politische ist, <?page no="206"?> 206 Ulf Bohmann „Tatsächliches für notwendig und daher für unabänderbar zu halten“ (Arendt 1994a [1961]: 363). Was macht nun dieses für Arendt offenkundig primäre Politische aus? Dies zeigt sich, wenn man ihre Vorstellung des politischen Handelns betrachtet, da Politik für sie nur im Handeln entsteht. Arendt versteht darunter, kurz gesagt, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen: „Politik bezweckt Änderung, Erhalt oder Gründung von Welt“ (Arendt 2003: 192). Damit erteilt sie solchen Verständnissen eine klare Absage, denen es um Interessensausgleich oder herrschaftsförmiges Durchsetzen geht. „Politisch zu sein, in einer Polis zu leben“, heißt für sie demnach, dass „alle Angelegenheiten vermittels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt“ (Arendt 1960: 30). Soziologisch ist also zu diagnostizieren, dass Arendt einen Begriff kommunikativ erzeugter Macht zugrunde legt. Diese gestalterisch notwendige Macht wird entsprechend niemals individuell, sondern nur assoziativ, in Gemeinschaft, generiert. Die Gemeinschaft ist dabei jedoch nicht präexistent (als eine bestimmte, fest umrissene soziale Gruppe), sondern entsteht erst im Augenblick des politischen Handelns als das Gemeinsame, konstituiert sich erst durch das Stellen der Frage, ‚wie wir leben wollen‘. Politiktheoretisch ist damit zugleich gesagt, dass Arendt im politischen Handeln das Ausüben von kollektiver positiver Freiheit erkennt, dass sich also das Handeln nicht damit begnügt, bloß negativ von äußeren Beeinträchtigungen befreit zu sein (dazu Taylor 1992). Die handlungsleitende Sorge um die gemeinsame Welt, der Wille ihrer Gestaltung, impliziert im mehrfachen Sinne einen normativen Politikbegriff (der, wie bereits klar geworden sein dürfte, geradezu ein verkappter Demokratiebegriff ist): Es ist für Arendt normativ wünschenswert, dass politisch gehandelt wird; im Handeln werden normative Fragen verhandelt; durch das Handeln realisiert sich Gemeinwohl. Politisches Handeln heißt also für Arendt, in radikaler Freiheit die Welt zu gestalten, mithin nicht an gegebene Ordnungen gebunden zu sein, sondern immer wieder neue Anfänge zu machen. B EGRIFF & D EFINITION : Natalität Jede menschliche Geburt ist stets ein Neuanfang - jedes menschliche Handeln für Arendt aber auch: In jedem Handeln vollzieht sich eine ‚zweite Geburt‘ als Bestätigung und Realisierung des ursprünglichen Geborenseins und wird Verantwortung übernommen. Für Arendt ist „Handeln und etwas Neues anfangen dasselbe“ (Arendt 1960: 166). Vordringliche Merkmale sind entsprechend die Spontaneitat und die Initiative. Anders als Arbeiten und Herstellen - die beiden anderen existenziellen Grundbegriffe in „Vita activa“ - besitze Handeln zwar einen klaren Anfang, aber kein vorhersagbares Ende (ebd.: 130). Um nachhaltige Wirkung zu entfalten, müsse es aber in schon vorausliegende und zukünftige Handlungen anderer eingewoben werden. Als Mensch könne man zwar immer auch alleine anfangen, doch <?page no="207"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 207 im politischen Handeln sei man auf die Hilfe anderer, auf Pluralität angewiesen. Diese Bestimmungen gelten gleichermaßen für das alltägliche politische Handeln wie für große ereignishafte Umwälzungen: Historisch gesehen seien Revolutionen (entgegen dem Wortsinn des ‚Zurückrollens‘) die einzigen politischen Ereignisse, die uns „direkt und unausweichlich mit einem Neubeginn konfrontieren“ (Arendt 1963: 23). In nicht-totalitärer Politik ist stets mit dem Unvorhergesehenen zu rechnen. Man kann also auch sagen: In demokratischer Politik darf es keine ewig gültigen Ordnungen geben, ein Neubeginn muss stets möglich bleiben (vgl. Marchart 2005; 2011). 66.2.2 Revolution und Demokratie Für Arendt sind Revolution und Demokratie nicht etwa Gegensätze, sondern vielmehr aufs engste miteinander verwoben (diese Perspektive wird insbesondere in der Deutung von Oliver Marchart 2005; 2006 herausgearbeitet). Wie Arendt in „Über die Revolution“ (Arendt 1963) beschreibt, werden moderne Republiken in Revolutionen gegründet, bringen also stets ein politisches Moment, einen weltgestaltenden Neuanfang mit sich. Sie lädt den Revolutionsbegriff gar noch weiter normativ auf: Ziel einer Revolution sei „die Stiftung der Freiheit und das Geschäft einer revolutionären Regierung die Gründung der Republik“ (ebd.: 183). Und die Freiheit wiederum „ist nie verwirklicht, wenn das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten den Bürgern nicht garantiert ist“ (ebd.: 281). Die Anklänge an Tocquevilles Haltung sind überdeutlich: Auch sie weist der Freiheit eine normative Schlüsselrolle zu, auch Arendt bevorzugt den Begriff der Republik gegenüber dem der Demokratie. Das Ereignis der Revolution, sowie das, was Tocqueville als Prozess der ‚demokratischen Revolution‘ bezeichnet, wird jedoch unzweideutig affirmiert. Arendt beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit der amerikanischen Revolution und beschreibt selbige überaus positiv. Im Unterschied zu Tocqueville hält sie jedoch fest, dass es auch den Vereinigten Staaten nicht gelungen sei, den „Geist und die Prinzipien des Gründungsakts in dauernden Institutionen festzuhalten“ (ebd.: 162). Wichtig ist dabei jedoch, auf das Motiv der permanenten Anfänge und Neugründungen im politischen Handeln hinzuweisen. Für Arendt reicht die einmalige Einrichtung politischer oder auch im engeren Sinne demokratischer Institutionen keineswegs aus. Erst durch beständiges politisches Handeln und die kontinuierliche Generierung kommunikativer Macht können sie sich reproduzieren: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“ (Arendt 1970: 42; zum Institutionenbegriff bei Arendt: Sörensen 2012). Wie kann nun aus dem historischen Ereignis eine beständige demokratische Praxis erwachsen? Erneut zeigt sich, wie aufgeladen Arendts Begriff des politischen <?page no="208"?> 208 Ulf Bohmann Handelns ist und wie er analog zur Revolution funktioniert; und erneut zeigen sich implizite Parallelen zu Tocqueville: Am amerikanischen Beispiel entwickelt Arendt die Position, dass es den Bürger_innen (in einer Demokratie) erlaubt sein müsse, auf elementarer Ebene - konkret etwa in den ‚township meetings‘ - weiterhin so zu handeln, wie im Moment der Revolution: als permanenter politischer Neubeginn (vgl. Arendt 1963: 321). In Anlehnung an den amerikanischen ‚Gründervater‘ Thomas Jefferson spricht sie gar von „Elementarrepubliken“ (ebd.). Jede politische Handlung, die einen noch so bescheidenen Neuanfang setzt, wird auf diese Weise zu einer „Mikrorevolution“ (Marchart 2006: 154). Was bedeutet das auf grundbegrifflicher Ebene für Arendts Demokratieverständnis? Sie steht dem klassisch liberalen Repräsentationsprinzip skeptisch gegenüber, sieht sie doch im System der repräsentativen Demokratie die Gefahr, dass sich die Repräsentant_innen von der Bevölkerung ablösen und gewissermaßen zu einer elitären Kaste entwickeln könnten. Das macht Arendt - auch wenn sie stellenweise das Prinzip der Demokratie mit dem Majoritätsprinzip identifiziert (Arendt 1963: 213) - nicht zu einer Anhängerin des Plebiszits, denn das Plebiszit bedeutet für sie den „Tod aller Meinungen“ (ebd.: 294) und damit das Ende der Pluralität im Politischen. Konzise kann man die demokratietheoretische Position Arendts wie folgt zusammenfassen: „Sie setzt Partizipation an die Stelle von Delegation und Deliberation an die Stelle von Repräsentation.“ (Marchart 2006: 162) In institutioneller Hinsicht darf man in Arendt entsprechend eine Vertreterin des Modells der Räterepublik erkennen: Sie sah in den im Zuge der Französischen Revolution spontan entstehenden Räten eine tentative Verwirklichung der Idee der Elementarrepubliken. Ähnliche Räte bildeten sich „in der Pariser Commune von 1871, in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917/ 1918, in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg und zuletzt im Zuge der ungarischen Revolution von 1956. Immer zielten die neu-erfundenen Modelle auf eine spontane Form gleichberechtigter Selbstverwaltung und Mitbestimmung.“ (ebd.: 153) Die Funktionsweise des Rätemodells kann man sich etwa folgendermaßen vorstellen: Auf lokaler Ebene kommt eine Pluralität von Menschen zusammen, um politische Positionen auszutauschen und sich - als ‚Elementarrepublik‘ - auf eine gemeinsame Position zu einigen, die durch eine Entsandte im nächsthöheren Rat weiter debattiert wird. Diese Entsandte beteiligt sich an einem neuen Deliberationsprozess, in dem sich die Position transformieren kann. In diesem Fall wird die neu gebildete Position in den ersten Rat zurückgetragen und dort wiederum diskutiert. In ihren historischen Erscheinungsformen als Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte sind jedoch die sozialen Gruppen bereits etabliert, noch bevor sie sich politisch konstituieren. Hier fällt also die oben eingeführte problematische Unterscheidung von Gesellschaftlichem und Politischem wieder auf Arendt zurück: „Welch Ironie, dass gerade Arendt, die das Politische vor dem Zugriff des Sozialen bewahren will, einem politischen Organisationsmodell anhängt, das auf einem sozialen Organisationsmodell basiert.“ (ebd.: 163) <?page no="209"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 209 66.2.3 Totalitarismus als Antithese zur Demokratie Quer zur bereits erwähnten Bedrängung des Politischen bzw. der Freiheit durch das ‚wuchernde‘ Gesellschaftliche gibt es für Arendt eine fundamentale Bedrohung der Demokratie durch ihr absolutes Gegenteil: die totalitäre Herrschaft. Arendt widmet ihr umfangreichstes Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Arendt 1955) der Analyse des Totalitarismus, der Antithese der Demokratie. Darin beschreibt sie ein System der totalen Beherrschung, das das Politische suspendiert und die Welt zur Sinnlosigkeit verdammt und zerstört (vgl. Tassin 2011). Entsprechend ist ihr Ziel nicht, das Aufkommen einer neuen Regierungsform zu erklären. Der Totalitarismus ist weder eine autoritäre Regierung, noch eine klassische Tyrannei, noch eine moderne Ein-Parteien-Diktatur, sondern ein allumfassendes Prinzip. Während Diktaturen noch gewisse Freiheiten bestehen ließen, würde der Totalitarismus noch das kleinste Fünkchen Spontaneität im menschlichen Bewusstsein ersticken, was jegliches politisches Handeln verunmögliche. Entsprechend schaffe der Totalitarismus keinen politischen Raum, er beende Politik. Historisch zieht Arendt hierfür den Nationalsozialismus und den Stalinismus heran (und nicht etwa den - zynisch gesprochen: unvollständigen - italienischen Faschismus). Durch massiven Terror und umfassende Ideologisierung könne sich jedoch prinzipiell jede Weltanschauung total setzen. In ihrem Buch identifiziert Arendt zwei Sorten des Ursprungs totaler Herrschaft: den Antisemitismus (totalitäres Bewusstsein) und den Imperialismus (totalitäre Herrschaft). Im Gegensatz zum religiös bedingten, vormodernen Antijudaismus ist der totalitäre Antisemitismus eine Gesamtweltanschauung, die paradoxerweise gar nicht mehr auf der konkreten Erfahrung mit Juden ruht. Etwa nach dem Ersten Weltkrieg transformierte sich der Antisemitismus hin zu einer nicht mehr nationalen, sondern ‚rassischen‘ Frage, die dazu gereichte, die eigene prinzipielle ‚völkische‘ Überlegenheit oder Auserwähltheit in Anspruch zu nehmen. Der Nationalsozialismus hat dies zum Kern seiner Ideologie gemacht. Arendt stellt den totalitären Antisemitismus zugleich in den Kontext des Imperialismus. In diesem sieht sie die Geburt eines „neuen politischen Prinzips, der Expansion um der Expansion willen“ (Arendt 1955: 347), das im historisch konkreten Fall insbesondere von Rassismus und Kapitalismus getrieben sei. Interessanterweise problematisiert Arendt den Rassismus ebenso wie Tocqueville, ist aber eine entschiedene Gegnerin des Kolonialismus; sie parallelisiert zudem ebenfalls die Bürokratie mit dem Despotismus, sieht in ihnen aber bezeichnenderweise integrale Bestandteile des Imperialismus (ebd.: 394ff.). Dem Kapitalismus wiederum wohne eine besonders ausgeprägte Expansionstendenz inne: „Der unbegrenzte Prozeß der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung einer ‚unbegrenzten Macht‘, nämlich eines Prozesses von Machtakkumulation, der durch nichts begrenzt werden darf außer durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation“ (ebd.: 239). Dieser Prozess sei gesellschaftlich gestützt durch ein historisches Bündnis zwischen Kapital, Elite und ‚Mob‘. (ebd.: 244ff. <?page no="210"?> 210 Ulf Bohmann bzw. 525ff.). Was man an dieser Stelle zugleich erkennen kann, ist ein veränderter Machtbegriff. Denn hier wird in Umkehrung zur ‚guten‘ kommunikativ erzeugten Macht des politischen Handelns eine ‚schlechte‘ und gefährliche Macht beschrieben. Genauer gesagt findet sich bei Arendt also eine Unterscheidung von konstitutiver und repressiver Macht (vgl. Brunkhorst 2007). H INTERGRUND & D EBATTE : Flucht und Vertreibung Arendt gilt als eine der ersten politischen Theoretikerinnen überhaupt, die sich dem Thema Flucht und Vertreibung systematisch näherte und es in einen Zusammenhang zu Staat, Souveränität und Recht - als Verlust derselbigen - stellte. Einschlägig ist hier ihr Text „Wir Flüchtlinge“, im englischen Original von 1943 (Arendt 2016 [1943]). Arendt reflektiert darin auch ihre eigne Flucht aus Deutschland und Europa und verquickt so persönliche Erfahrungen mit analytischen Positionen. So nimmt sie etwa Teile der heutigen Begriffskritik vorweg, wenn sie gleich am Anfang schreibt: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ‚Neuankömmlinge‘ oder als ‚Einwanderer‘“ (ebd.: 7). Arendt zeichnet weiter die Veränderungen des Begriffsgehalts nach, insbesondere mit der Zäsur des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieges. Galt zuvor, dass ein ‚Flüchtling‘ jemand ist, der aufgrund seiner Handlungen und politischen Ansichten verfolgt wurde und um Aufnahme in einem anderen Land ersuchte, so galt danach, dass er typischerweise aufgrund dessen, ‚was er ist‘, verfolgt wird. Flüchtlinge würden so im schlimmsten Fall zu „Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden“ (ebd.). Als displaced persons hätten sie buchstäblich keinen Platz mehr in der Welt, was Arendt dazu bringt, diesen existenziellen Zustand im emphatischen Sinne ‚weltlos‘ zu nennen. Zugleich fungierten aber „Flüchtlinge als Avantgarde“ (ebd.: 35), da sie die Staatengemeinschaft nötigen würden, über ihr bisheriges Selbstverständnis nachzudenken und es progressiv zu ändern, da sonst die eigenen normativen Grundlagen untergraben werden: Die „Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als - und weil - sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Mitglieds zuließ“ (ebd.: 36). Einerseits beschreibt Arendt dabei einen historisch spezifischen (Nach-)Weltkriegskontext, der sich nicht umstandslos in die Gegenwart übertragen lässt, andererseits bleibt irritierend, welch vielfältige und deutliche Parallelen es zur heutigen Lage gibt. Die paradigmatische Institution des Totalitarismus ist das Lager (Arendt 1955: 693ff.; dies führt in postmarxistischem Sinne insbesondere Agamben 2002 weiter). Es ist der radikalste Ausdruck für ein fehlendes „Recht, Rechte zu haben“ (ebd.: 476), wie Arendt ihr konzeptuelles Äquivalent zur Menschenrechtsidee <?page no="211"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 211 bezeichnet. Lager dienten dem Totalitarismus als „Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist“, und dazu „unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in Dinge zu verwandeln“ (ebd.: 693f.). Freiheit sei dagegen unter „normalen Umständen“ niemals ganz auszuschalten (ebd.: 694). Eine Gefahr für die Demokratie ist jedoch nicht allein der ‚reine‘ Totalitarismus - verwandte Elemente finden sich auch unter ‚normalen‘ Bedingungen. Zum einen gibt es auch jenseits des Lagers schlechte Institutionen, die Freiheit behindern, Neuanfänge blockieren und politisches Handeln suspendieren - und so eine identitätsgefährdende Entfremdung entstehen lassen können (Sörensen 2016: 87ff.). Entfremdung bedeutet bei Arendt entsprechend auch Entpolitisierung, also die Tendenz, dass das Gemachte, das ‚Ver-handelte‘ (und somit auch die Änderbarkeit) der Welt, insbesondere der sozialen und politischen Verhältnisse, unsichtbar gemacht wird. Zum anderen, so die komplementäre Gefahr, droht der „Raum des Politischen“ zu verschwinden, „auch wenn das institutionell-organisatorische Gerüst intakt bleiben sollte“ (Arendt 1994b [1961]: 225) - womit angedeutet ist, dass sich bei Arendt implizit und avant la lettre ein Begriff der gegenwärtig so häufig diagnostizierten Postdemokratie finden lässt, was möglicherweise ein weiterer Grund für die aktuelle Renaissance ihres Denkens ist. 66.3 Späte Moderne: Jacques Rancière Jacques Rancière (*1940) ist einer der bedeutendsten und anregendsten politischen Philosophen der Gegenwart. Wie so manch anderer herausragender französischer Intellektueller hat er, geboren in Algier, eine besondere Aufsteigerkarriere hinter sich, die ihn über die renommierte École normale supérieure in Paris an die Universität Paris VIII Vincennes/ Saint Denis führte. Unter den Auspizien von Michel Foucault wirkte er dort bezeichnenderweise ab 1968 akademisch (später auch als Professor) sowie dezidiert politisch. Anders als Tocqueville und Arendt ist Rancière nicht mehr umstandslos anschlussfähig für die ganze Breite des politischen Spektrums. Er ist ein charakteristischer Vertreter des typisch spätmodernen Ansatzes des Postmarxismus, zu denen Denker wie etwa Alain Badiou, Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe oder zählen. Der Postmarxismus unterscheidet sich dabei von anderen Neomarxismen wie etwa im Kontext der Frankfurter Schule durch einen ausgeprägt poststrukturalistischen Zugang. Nicht zuletzt daher dürfte im Falle Rancières die vor allem in Abgrenzung zu Pierre Bourdieu erfolgte Selbstinszenierung als Anti-Soziologe rühren (dazu Rancière 2018; Celikates 2014; Linpinsel 2018). Eine intensive Beschäftigung mit Ästhetik, und hier insbesondere mit Film und Malerei, sorgt einerseits für eine breite Rezeption im Kunstbereich, und schlägt sich andererseits in seinem teilweise ins Poetische gehenden Schreibstil nieder. Dabei sind für Rancière <?page no="212"?> 212 Ulf Bohmann ästhetische und politische Fragen aufs Engste verknüpft (vgl. etwa Rancière 2006a), was sich geradezu paradigmatisch in seinem vielzitierten Begriff der „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2006b) zeigt, der die umkämpften Ordnungen der öffentlichen Sicht-, Sag- und Hörbarkeit (bzw. Regime der Vorenthaltung) in einer politischen Gemeinschaft beschreibt, und demokratietheoretisch mithin einen eher ungewöhnlichen Zugang zur Partizipationsfrage darstellt. Gegenwärtig gilt Rancière schließlich als einer der zentralen Vertreter_innen einer Theorie des Politischen (Bröckling/ Feustel 2010) und der Radikaldemokratie (Comtesse et al. 2019). B EGRIFF & D EFINITION : ‚Das Politische‘ und ‚die Politik‘ In jüngeren Theoriedebatten hat der postmarxistische Begriff ‚des Politischen‘ stark an Bedeutung gewonnen (Bedorf/ Röttgers 2010). Er bezeichnet nicht mehr das, was handelsüblich unter Politik verstanden wird - die Abläufe in politischen Institutionen wie etwa Parlamenten, das Erlassen von Gesetzen oder den Wahlkampf -, sondern meint das Ereignis, in dem die fundamentale Kontingenz, die Gemachtheit und die Umkämpftheit der gesellschaftlichen Ordnung zum Vorschein kommt. 1968 dient gerne als Beispiel für einen solchen Moment des Politischen. Der Begriff gewinnt seinen Inhalt genau aus der Kontrastierung der ereignishaft-revolutionären und alltäglich-institutionellen Aspekte des politischen Lebens. Die Spannung dieser Dualität firmiert entsprechend als die „politische Differenz“ (Marchart 2010). Theoriesystematisch wird die Beschwörung des Politischen dem sogenannten ‚Linksheideggerianismus‘ zugeordnet. Dabei gibt es im Wesentlichen eine (etwa auf Arendt bauende) assoziative und eine (bei dem Gros der Postmarxist_innen - wie auch Rancière - vorliegende) dissoziative Variante. Theoriegeschichtlich geht diese begriffliche Aufladung des Politischen auf einen intensiven französischen Debattenkontext zurück, der von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy am nur von 1980 bis 1984 an der Université de Strasbourg bestehenden Centre de recherche philosophique sur le politique geschaffen wurde (‚la politique‘ bezeichnet im Französischen ‚die Politik‘, ‚le politique‘ ‚das Politische‘). In Veröffentlichungen wie „Retraiter le politique“ (Lacoue-Labarthe/ Nancy 1983) wurden die entsprechenden Diskussionen dokumentiert. Der Titel ist dabei ein charakteristisches Wortspiel: Das Politische soll wieder behandelt werden, es ist aber auch im Rückzug begriffen. Dieser ‚Rückzug‘ lässt sich dabei wiederum zweifach deuten: als eine Essenz, die flüchtig und also theoretisch schwer zu greifen ist, aber auch als pessimistische Zeitdiagnose der Entpolitisierung. In der praktizierten Begriffsverwendung gibt es jedoch immer wieder Missverständnisse, da die maßgeblichen Protagonist_innen sich nur allzu oft gar nicht an diese Nomenklatur halten, sondern (wie Rancière) mit ‚Politik‘ gerade dasjenige meinen, was gemeinhin als ‚das Politische‘ firmiert. <?page no="213"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 213 66.3.1 Demokratie als Politik des Dissenses Ähnlich wie bei Arendt ist das Demokratische bei Rancière zuallererst in der Politik überhaupt zu finden und mit dieser geradezu identisch. Anders als bei Arendt geht es dabei für Rancière jedoch nicht um das gemeinsame politische Handeln im Sinne einer konsensherstellenden Deliberation, sondern um den Auftritt des Dissenses auf der ‚Bühne‘ (so Rancières politische Leit- und Lieblingsmetapher). Dieser Dissens ist jedoch keinesfalls misszuverstehen als unterschiedliche Ansichten oder Interessen zu einer gegebenen inhaltlichen Streitfrage. Entsprechend deutlich ist der ausdrückliche Gegensatz zu einem Diskursmodell wie dem von Jürgen Habermas, das auf konsensueller Verständigung und dem ‚zwanglosen Zwang des besseren Arguments‘ beruht. Ebenso dreht sich der Dissens nicht um die Frage, wer für wen als Repräsentant_in sprechen darf bzw. wer sich durchsetzt, um eine herausgehobene Stellung als Sprecher_in zu erhalten. Vielmehr geht es Rancière um den fundamentalen Dissens, wer überhaupt als sprachfähig - und damit als potenzielle Teilnehmerin im Diskurs - erkannt und anerkannt wird, wessen Worte also als qualifizierte Rede gelten. Sein Argument lautet nun, dass die gegebenen Gesellschaftsbzw. Herrschaftsordnungen konstitutiv auf diesen grundlegenden Ausschlüssen beruhen. Um diese tiefgreifende Uneinigkeit, diese Nicht-Verstehbarkeit zum Ausdruck zu bringen, verwendet Rancière einen ungewöhnlichen Begriff, der titelgebend für sein politikphilosophisches Hauptwerk ist: „Das Unvernehmen“ (Rancière 2002). Die politische Gemeinschaft wie auch die (politische) Identität werden dabei nicht als vorgängig gedacht, sondern als erst im Prozess des Dissenses entstehend: Es gibt also keine festen Subjekte mit festen politischen Positionen, die diese nur artikulieren müssten, sondern die Subjektposition wird erstens durch die Abgrenzung zu einem Anderen geschaffen, und ist zweitens stets als Verhältnis der Ausgeschlossenen zur herrschenden Ordnung zu sehen. (Wie sich das aus Rancière‘scher Perspektive in realen gegenwärtigen sozialen Bewegungen darstellt, demonstriert May 2010). Um die Bedeutung, den Modus und die Logik dieses fundamentalen Dissenses zu beschreiben, spaltet Rancière den üblichen Politikbegriff in die Differenz von ‚Polizei‘ und ‚Politik‘. Mit dem zunächst ungewöhnlich ausgelegten Begriff der ‚Polizei‘ schließt er an Foucaults einschlägiges Verständnis einer Regierungstechnik an, die selbiger als ‚Polizeywissenschaft‘ adressiert und dessen Funktion er in der wissenschaftlichen Zurichtung und Ordnung der Gesellschaft sieht (vgl. Rancière 2002: 40; ausführlich Foucault 2006 [1978]). Der Begriff meint entsprechend eine bestimmte Art des (scheinbar) politischen Zugriffs, nicht die Institution, oder anders ausgedrückt: das Prinzip des Ordnungshütens, nicht die personifizierten Ordnungshüter_innen. Sie ist „keine gesellschaftliche Funktion, sondern eine symbolische Konstruktion des Sozialen.“ (Rancière 2008: 31). Dies geschieht zugleich über handfeste Manifestationen: über soziale Institutionen, über Staatsapparate, über das, was gemeinhin als ‚alltägliche Politik‘ wahrgenommen wird. Die Polizei herrscht somit in umfassender Weise über die ,Aufteilung des Sinnlichen‘, sie <?page no="214"?> 214 Ulf Bohmann ist somit zuerst eine „Ordnung der Körper, die die Aufteilung unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung das Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm“ (Rancière 2002: 41) ‚Politik‘ ist in Ranciéres Verständnis hingegen die Antithese zur ‚Polizei‘, oder genauer: durch die konflikthafte Infragestellung der herrschenden Unterscheidung eines Innen und Außen der sozialen Ordnung nur als ‚Unterbrechung‘ oder Störung jeder Ordnung möglich (vgl. ebd.: 24). Sie wird so zu einem außeralltäglichen, die Spielregeln grundlegend ändernden Ereignis. Dergestalt verstandene ‚Politik‘ verweist für Rancière mithin immer auf „die Abwesenheit eines Grundes, die reine Kontingenz aller gesellschaftlichen Ordnung. Es gibt Politik einfach deshalb, weil keine gesellschaftliche Ordnung in der Natur gegründet ist, kein göttliches Gesetz die menschlichen Gesellschaften beherrscht.“ (ebd.: 28). Was wäre demnach politisches Handeln? Rancière schreibt dazu: „Ich schlage nun vor, den Namen Politik auf genau die bestimmte Tätigkeit, die der ersten [der Polizei, d. Aut.] feindlich ist, zu beschränken: diejenige, die die sinnliche Gestaltung zerbricht, wo die Teile und die Anteile oder ihre Abwesenheit sich durch eine Annahme definieren, die darin per definitionem keinen Platz hat: die eines Anteils der Anteillosen.“ (ebd.: 41) Und weiter: „Die politische Tätigkeit ist jene, die einen Körper von einem Ort entfernt, der ihm zugeordnet war oder die die Bestimmung eines Ortes ändert; sie lässt sehen, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde.“ (ebd.). Politik als Einforderung des ‚Anteils der Anteilslosen‘ wird somit prinzipiell zum fundamentalen Dissens, wer am Dissens beteiligt ist oder überhaupt die Fähigkeit haben darf, beteiligt sein zu können. Diese Einforderung ist also der politische Streit über „das Dasein einer gemeinsamen Bühne, über das Dasein und die Eigenschaft derer, die auf ihr gegenwärtig sind“ (ebd.: 38). Und was wird auf dieser Bühne gespielt? „Das Wesentliche der Politik ist die Demonstration des Dissens, als Vorhandensein zweier Welten in einer einzigen.“ (Rancière 2008: 33). Auch hier kommt Rancières Postmarxismus zum Vorschein, erinnert diese Formulierung (wie etliche andere) an die Logik eines Klassenkampfes, der sich nicht mehr ausschließlich oder vordringlich auf die ökonomische Dimension bezieht (vgl. Marchart 2010: 179). Wo ist hier nun ‚das Politische‘ zu verorten? In den Zuordnungen der Interpret_innen wird es meist synonym mit Rancières engerem Verständnis von Politik verwendet, wofür es auch viele Indizien gibt. Genauer scheint aber zu sein, mit dem Politischen die Bühne selbst zu bezeichen, auf der sich das Unvernehmen zeigt. In einem jüngeren Interview beschreibt Rancière es folgendermaßen: „Was ich ‚das Politische‘ nenne, ist der Interaktionsraum zwischen Polizei und Politik“, da von einer sauberen Aufteilung in Institutionen (als Polizei) auf der einen, und <?page no="215"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 215 Aufstand (als Politik) auf der anderen Seite keine Rede sein könne (Rancière in Wetzel/ Claviez 2016: 166; vgl. auch Marchart 2010: 180). Welche Rolle spielt hier nun die Demokratie? Es bleibt zunächst festzuhalten, dass Rancière sie nur allzu häufig in seinem Werk ausdrücklich mit der Politik im genannten Sinne gleichsetzt: „Mit dem Namen Demokratie ist also die Politik selbst gemeint.“ (Rancière 2011: 53). Nach dem bisher Gesagten liegt es jedoch nahe, davon auszugehen dass Rancière das Wort ‚Demokratie‘ nicht im herkömmlichen Sinne verwendet. Vielmehr versucht er „eine Konzeption von Demokratie zu verteidigen, die sich weder auf eine Regierungsform, noch auf eine Gesellschaftsform beschränken läßt“ (Rancière 2012: 90). Entsprechend findet sich keine stabile oder systematische Modellierung der Demokratie. Da die politischen Institutionen, über die eine Bestimmung der Demokratie üblicherweise läuft, stets der Logik der Polizei angehören, fallen sie für Rancière auch prinzipiell als demokratische Momente aus. Er bindet Demokratie als Politik im engeren Sinne vielmehr an ein fundamentales Prinzip: die Gleichheit. 66.3.2 Radikale Gleichheit Gleichheit ist der normative Kernbegriff in Rancières Philosophie. Er gibt ihr dabei nur allzu gerne einen eigentümlichen Namen und nennt sie oft synonym ‚das Prinzip Jacotot‘. Dies ist eine Referenz auf den französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die radikale These vertrat (und auch praktizierte), dass von der prinzipiellen Wissensgleichheit aller Menschen auszugehen sei, mithin auch zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen. Ihm widmete Rancière das für seine Gleichheitsvorstellung grundlegende Buch „Der unwissende Lehrmeister“ (Rancière 2007 [1987]). Die Gleichheit zieht sich wie ein roter Faden durch eine Vielzahl der Schriften Rancières, und ist seinem Verständnis von Demokratie elementar eingeschrieben (vgl. zum Folgenden Bohmann 2018: 80f.). Doch auch hier entzieht sich Rancière dem gewissermaßen handelsüblichen Verständnis von Gleichheit wie auch einer trennscharfen begrifflichen Festlegung: Zum einen kann (etwa anders als in vielen liberalen Ansätzen) nie eindeutig und mit universalistischer Gültigkeit abgeleitet werden, worin exakt diese Gleichheit besteht. So bleibt die Frage: Gleichheit von was? Formale und rechtliche Gleichheit sind damit nicht gemeint - eher die gleiche Sprachfähigkeit des Menschen und der gleiche Anspruch auf einen Platz im öffentlichen Leben (Rancière 2002). Rancière geht es aber begriffspolitisch vor allem um immer neue Interpretationen von Gleichheit, die sich auf immer neue Bereiche auszudehnen haben (vgl. ausführlich Rancière 2007; 2014). Zum anderen, und das erscheint besonders kontraintuitiv, ist Gleichheit kein Ideal, kein zu erreichendes Ziel, sondern zugleich Voraussetzung für die nie erschöpfende Verwirklichung von Demokratie. Während die Soziologie nur die Art und das Ausmaß der Ungleichheit messe (etwa Rancière 2011: 41), legt Rancière die Gleichheit immer schon zugrunde. Für die Demokratie folgt für ihn daraus: „Was ich zu sagen versuche, ist, <?page no="216"?> 216 Ulf Bohmann daß die Demokratie im Sinne der Volksherrschaft, als Herrschaft derer, die weder einen besonderen Anspruch auf ihre Ausübung noch eine spezifische Eignung dafür besitzen, Politik überhaupt erst denkbar macht. Wenn die Herrschaft wieder in die Hände der Geschicktesten, Stärksten und Reichsten gelangt, findet keine Politik mehr statt.“ (Rancière 2012: 93). Und dieses Abstellen von Politik ist für Rancière - wie für Arendt - letztlich der Tod jeder Demokratie. Gleichheit ist also umgekehrt ein wünschenswerter Zustand der Unordnung. Die polizeilich kontrollierte Ordnung wiederum erkennt ein zu regelndes Problem im demokratischen Menschen, als des „vor Gleichheit trunkenen, demokratischen Verbrauchers“ (Rancière 2011: 46). Entsprechend ist alles, was die scheinbar natürliche Überlegenheit - sei es durch Wissen, Reichtum oder Fähigkeit - einer Gruppe über eine andere begründet und in Herrschaftsstrukturen manifestiert wird, als Ungleichheit und Nicht-Politik zu verstehen. Somit ist jede Maßnahme, die eine feste Ordnung in ein ‚Oben‘ und ‚Unten‘ unterläuft, in umfassender demokratischer Hinsicht willkommen. Dabei sind Rufe nach Gleichheit - die Rancière‘sche Politik im Dissens - keine Forderungen einer partikularen Gruppe zu ihrem bloßen Vorteil, sondern stets Referenzen auf das Allgemeine, die Gesellschaft. Vielmehr führe die Artikulation einer bisher ungehörten Interpretation der Gleichheit im Erfolgsfalle zu einer anderen Ordnung des gesellschaftlich Möglichen, die eben nicht nur die (im Prozess erst entstandene) Gruppe, sondern die ganze Gesellschaft betrifft: „Obwohl die Artikulation also von einer fraglichen Gruppe ausgeht, präsentiert sie sich als allgemeine, d.h. eine fragliche Gruppe fordert nicht partikularistisch Güter für sich selbst ein, da sie sich eine bestimmte Qualität zuschreibt, die anderen fehlt, sondern sie formuliert einen allgemeinen Grund, aus dem heraus Entscheidungen, die alle betreffen, zukünftig gefällt werden sollten. […] Selbst Unterbrechungen, die Ungleichheiten etablieren wollen, müssen sich daher der Figur der Gleichheit bedienen, um vermittelt über einen bestimmten Akt der Gleichheit die notwendige Ungleichheit in anderen Aspekten zu legitimieren.“ (Niederberger 2004: 140; vgl. Wetzel/ Claviez 2016: 52). Dieser unverbrüchliche Gleichheitsbezug ist wiederum genau das, was demokratische von populistischen Forderungen unterscheidet, die Partikulares als Allgemeines - so Müllers (2016) Definition - ausgeben. Doch die Referenzgröße bleibt bei Rancière etwas unklar: Geht es ihm tatsächlich um ‚die Gesellschaft‘ im engeren Sinne, oder um so etwas wie die politische ‚Gemeinschaft‘, oder um die anzustrebende, aber faktisch nie vollständige Überlagerung? Die Spannung wird in folgendem Zitat deutlich: „Es gibt kein Prinzip der Gemeinschaft der Gleichen, das zugleich Prinzip gesellschaftlicher Organisation wäre. […] Wenn die Gleichheit das Gesetz der Gemeinschaft ist, gehört die Gesellschaft zur Ungleichheit. […] Die Gemeinschaft der Gleichen wird niemals die Gesellschaft der Ungleichen verdecken, doch sie existieren auch nicht ohne einander.“ (Rancière 1994: 123). <?page no="217"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 217 Dort, wo Rancière von einer Gesellschaft der Gleichheit spricht, scheint er sie wiederum zu ent-totalisieren und in ihre Elemente aufzulösen: „Die nichtegalitäre Gesellschaft trägt keine egalitäre Gesellschaft in sich. Die egalitäre Gesellschaft ist nichts als das Ensemble egalitärer Beziehungen, die hier und jetzt durch singuläre und prekäre Handlungen geformt werden.“ (Rancière 2011: 142). In Anbetracht der teils schwer greifbaren Begriffsverwendung wird Rancière an anderer Stelle jedoch erstaunlich konkret und bietet einen Institutionalisierungsvorschlag an: Es ist das Losverfahren zur Besetzung politischer Ämter auf Zeit (insb. Rancière 2011: 64 ff.), das für ihn offenbar eine geradezu paradigmatische Verkörperung der verflüssigten Ordnung (oder gelebten demokratischen Unordnung) darstellt. Dem Los wohnt der ‚Skandal‘ des Zufalls inne, dass niemand qua vorgängiger Berechtigung, sondern allein qua Zufall - der für alle vollkommen gleich ist - in eine vorübergehende Herrschaftsposition gelangt. Im Los gibt es mithin keine polizeiliche Regelung, keinen Machtkampf, keine quasi-natürliche Hierarchie (zur politischen Theorie des Losens allgemein vgl. Buchstein 2009). Über diese konkrete Einlassung hinaus finden sich bei Rancière aber praktisch keine weiteren Vorschläge zur institutionellen Ausgestaltung der Demokratie, wie sie sozialwissenschaftlich angebracht wären. Doch ebendiese Sozialwissenschaften weißt Rancière scharf zurück: Sie reproduzierten durch die Untersuchung verschiedener Grade und Dimensionen der Ungleichheit nur selbige, und beteiligten sich dabei stets an der herrschenden Ordnung, selbst wenn sie dem Selbstverständnis nach kritisch seien. Insofern interessiert ihn eine soziologische oder politikwissenschaftliche Modellierung der Demokratie auch überhaupt nicht (wie eine Soziologie der Gleichheit im Anschluss an Rancière vielleicht dennoch aussehen könnte, erkundet Linpinsel 2018). Rancière zielt vielmehr auf Radikale Demokratie als Anrufung der radikalen Gleichheit im radikalen Dissens. H INTERGRUND & D EBATTE : Radikale Demokratie Der schillernde Ansatz einer Radikalen Demokratie ist mittlerweile im Zentrum der politik- und gesellschaftstheoretischen Debatten angekommen, nicht zuletzt dank des Rancière‘schen Denkens (Comtesse et al. 2019). Gleichwohl entzieht sich der Begriff einer einfachen Konzeptualisierung und Vermessung. In jüngerer Zeit werden vor allem zwei Zugänge mit dieser Bezeichnung versehen oder reklamieren sie für sich: ‚Neo-Athen‘-Ansätze und der Postmarxismus (vgl. Bohmann/ Muraca 2016: 298 ff.). Im ersten Fall steht die Bezeichnung ‚Neo-Athen‘ für die Idealisierung von Prinzipien, die es historisch in dieser Form selbstredend nie gegeben hat: Unmittelbarkeit, Inklusivität, kollektive Autonomie und Deliberation machen den Kern dieser Vorstellungen aus. Dabei geht es typischerweise um eine Selbstregierung jenseits von Markt und Staat. Die maximale demokratische Verfügbarkeit in möglichst umfangreicher inhaltlicher Hinsicht (ökonomisch, sozio- <?page no="218"?> 218 Ulf Bohmann kulturell, politisch, ökologisch usw.) ist hier das wesentliche Strukturprinzip Radikaler Demokratie (für ein Beispiel einer derartig radikalen ökologischen Demokratie vgl. etwa Kothari 2014). Entsprechenden Ansätzen wird mit Tocqueville häufiger die Gefahr der ‚Tyrannei der Mehrheit‘ vorgehalten. Die Radikale Demokratie im Sinne des Postmarxismus, die deutlich häufiger in Theoriedebatten eine Rolle spielt, kommt hingegen charakteristischerweise ohne einen positiven Institutionenbegriff aus und verhält sich in der Regel avers dazu. Diese Demokratievorstellung ist nicht radikal im Sinne einer (Wieder-)Herstellung eines vermeintlich einmal dagewesenen Zustandes, als Rückkehr zu den Wurzeln (wie der Wortstamm ‚radix‘ nahelegt), und auch nicht als Anstreben einer genau ausbuchstabier- und einrichtbaren ‚wahren‘, ‚echten‘, ‚idealen‘ Demokratie zu sehen. Radikal ist sie vielmehr einerseits in ihrer bewussten radikalen Unmöglichkeit, andererseits in ihrer radikalen Infragestellung, Störung oder Bekämpfung der gegebenen Herrschaftsordnung (Norval 2001: 589). Entsprechenden Ansätzen wird häufiger die Gefahr des Verzichts auf eine emanzipative Gestaltung der Gesellschaft vorgeworfen (etwa Hirsch 2007). 66.3.3 Der Hass der Demokratie Die inhärente Selbstgefährdung der Demokratie wird von Rancière maßgeblich in seinem demokratietheoretisch einschlägigsten Buch „Der Hass der Demokratie“ (Rancière 2011) entwickelt (zum Folgenden vgl. ausführlicher Bohmann 2018). Der Kern seines Arguments besteht darin, den Totalitarismus nicht wie bei Arendt als Gegenteil der Demokratie zu setzen, sondern ihn gewissermaßen im Vergleich zu Tocqueville als Radikalisierung in das Innere der Demokratie selbst zu verlagern (wie es typisch für viele Theorien des Politischen ist, vgl. Lacoue-Labarthe/ Nancy 1983). Rancière schreibt: „Jene Eigenschaften, die gestern noch dem Totalitarismus als einem die Gesellschaft verschlingenden Staat zugeschrieben wurden, sind nun zu den Eigenschaften der Demokratie als einer den Staat verschlingenden Gesellschaft geworden.“ (Rancière 2011: 23). Nach Rancière müssen wir also von einem intimeren Gegensatz innerhalb der gegenwärtigen Demokratie selbst ausgehen: „Denn die gute demokratische Regierung ist diejenige, die in der Lage ist, ein Übel zu beherrschen, das ganz einfach ‚das demokratische Leben‘ heißt.“ (ebd.: 16). Diese Regierung ist nicht mit der gewählten Administration zu verwechseln, sondern ist erneut mit Foucault als politische Technik zu verstehen; und sie ist für Rancière alles andere als gut im landläufigen Sinne. „Der Hass der Demokratie“ ist nun dadurch charakterisiert - und hier weicht er wieder von Foucault ab - dass ein Träger, eine Art hassendes Kollektivsubjekt, zu identifizieren ist. Hierfür verwendet Rancière ein letztlich zweiseitig-klassenkämpferisches Bild von ‚oben‘ und ‚unten‘: Für ihn sind es die (in seinen Beispielen vorwiegend französische) ‚Elite‘, die ‚Intelligenz‘, die Klasse der ‚Besitzenden‘, die sich <?page no="219"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 219 als geeignete Herrschende setzen und Hass gegenüber der Masse des ‚Pöbels‘ empfinden. ‚Demokratie‘ ist dann zugleich die Selbstbetitelung jener Elite, die als gute Regierung ordnend und bändigend - eben ‚polizeilich‘ - auf das unübersichtliche Gewühl des ‚Pöbels‘ zugreifen will, auf das ‚Übel‘ des ungeordneten und ungebändigten ‚demokratischen Lebens‘. Zur Charakterisierung dieses demokratischen Lebens bringt Rancière in mehrfachen Umkreisungen eine ganze Reihe von Inferiorisierungen, formuliert aus der Perspektive der Demokratie-Elite: In selbigem manifestiere sich die „Herrschaft des narzisstischen Verbrauchers“ (ebd.: 39); dadurch komme es zur „zivilisatorischen Katastrophe“ der „konsumtrunkenen Demokratie“, die das „Ende der Kultur“ durch den „Supermarkt der Lebensstile“ und die „Club-Mediterranisierung der Welt“ (ebd.: 44) bedeute; und schließlich sei es eine Anmaßung der zügellos fordernden Armen, die exzesshaft Anspruch auf das Privileg des Individualismus erheben würden (ebd.: 47f.). Demgegenüber reagiere die Elite also mit einer Anrufung einer umfassend verstandenen Ordnung - und zwar innerstaatlich wie auch international, da auch anderen Völkern die Wohltat der geordneten Demokratie zu bringen sei. Rancière formuliert erneut paradox: „Weil die Demokratie nicht die Idylle der Regierung des Volkes durch sich selbst, sondern die Unordnung der nach Befriedigung durstenden Leidenschaften ist, kann und muss sie sogar von außen und beschützt durch die Waffen einer Supermacht eingeführt werden.“ (ebd.: 14) Ob Zügellosigkeiten zu Hause, oder barbarische Verhältnisse andernorts, stets verlange es der Demokratie-Elite danach, durchaus unter Zuhilfenahme von Gewalt, in das Übel des ‚demokratischen Lebens‘ zu intervenieren. Es ist etwas überraschend, dass Rancière nun Platon als Erfinder dieser scheinbar modernen, soziologischen Lesart anführt, der zufolge Demokratie zu verstehen ist als ein „Lebensstil, der sich jeder geordneten Regierung widersetzt“ (ebd.: 56). Aus Rancières fundamentaler Opposition gegenüber diesem Verständnis leitet sich entsprechend auch seine kontinuierliche Polemik gegen die Soziologie und die Sozialwissenschaften ab. Rancière möchte allerdings die Doppeldeutigkeit des Demokratiebegriffs beibehalten, doch gerade nicht, um im Kampf um den Begriff die Waffen zu strecken. Sein erklärtes Ziel ist es vielmehr, den „Skandal, der dem Wort ‚Demokratie‘ eingeschrieben ist, positiv zu wenden und ihrer Idee die Sprengkraft wiederzugeben“ (ebd.: 11). Denn es sei ein „Skandal für die ‚besseren‘ Menschen, die nicht zulassen können, dass ihre Geburt, ihr Alter oder ihr Wissen [oder ihr Reichtum] sich dem Gesetz des Zufalls beugen sollen.“ (ebd.: 62f.). Unter der Doppeldeutigkeit und inneren Spaltung scheint jedoch hervor, welche Demokratievorstellung Rancière affirmiert: eine zuvorderst gleichheitsbezogene radikale Demokratie, der Rancière aber nicht diesen Namen gibt. Er wählt vielmehr den Begriff der Anarchie (zur allgemeinen Einführung in den Anarchismus vgl. Loick 2017). Rancière schreibt: „Demokratie bedeutet also […] Folgendes: eine anarchische Regierung, die auf nichts anderem gründet als auf dem Fehlen jedes Herrschaftsanspruchs.“ (Rancière 2011: 64). Sie ist also nicht als Verfassungstyp oder Regierungsform zu verstehen, sondern als Macht und Ermächtigung der Anteilslosen; nicht der <?page no="220"?> 220 Ulf Bohmann vermeintlich Fähigsten, nicht der Mehrheit, nicht der Arbeiterklasse, sondern im Sinne des Gleichheitsprinzips: als Macht, die „denjenigen eigen ist, die weder zum Regieren bestimmt sind, noch zum Regiertwerden.“ (ebd.: 71). Anarchie bedeutet hier also nicht Abwesenheit von jeglicher Steuerung, sondern eine radikale Form der temporären, fluiden Selbstregierung ‚von unten‘ - durch beliebige und alle nur denkbaren Gesellschaftsmitglieder. Was Rancière also schärfen will, ist der „anarchische Stachel im Herzen der Demokratie“ (Flügel 2006). Die Kehrseite des anarchisch-radikalen Flügels der Demokratie bezeichnet Rancière an anderer Stelle als Postdemokratie (Rancière 1996). Er ist dabei einer der wesentlichen Stichwortgeber dieser Zeitdiagnose (vgl. Ritzi 2014). Diese ist für ihn verbunden mit den Gefahren einer Entpolitisierung, die er im „Unvernehmen“ weiter differenziert in die Pathologien der ‚Archi‘-, ‚Para‘- und ‚Metapolitik‘ (Rancière 2002: 73ff.). Im Kern ist die Postdemokratie aber gerade „kein Verfall der demokratischen Institutionen, sondern ihr Triumph über die Demokratie und sogar über die Politik selbst. Postdemokratie stößt der Demokratie nicht zu, sondern ist ihre Selbstaufgabe, eine Abwehr ihres eigenen demokratischen Impulses in ihrem eigenen Innern.“ (Saar 2019: 484, Herv. d. Aut.). Die postdemokratische Seite der Demokratie negiere den Umstand, dass Demokratie „weder eine zu regierende Gesellschaft noch eine Regierung durch die Gesellschaft [ist], sie ist strenggenommen jenes Unregierbare, das jede Regierung letztendlich als ihre Grundlage anerkennen muss.“ (Rancière 1996: 154). Seine Einlassungen offenbaren gleichwohl deutliche Parallelen zur ‚guten demokratischen Ordnung‘, allen voran die postdemokratische Vormachtstellung der Expert_innen (ebd.: 145) bzw. die Übertragung der Herrscherpositionen an die Fähigsten (ebd.: 154), was, wie angedeutet, Rancières Gleichheitskriterium verletzt. Zusätzlich beschreibt Rancière die zunehmende Etablierung einer konsensuellen Demokratie, in welcher der grundlegende politische Dissens zugunsten einer ordentlichen und guten Regierung ausgeklammert wird, als wesentliches Merkmal der Postdemokratisierung (ebd.: 138). Nicht zuletzt bedeutet Postdemokratie für Rancière, die umfassend verstandene Politik zugunsten einer Politik zu suspendieren, die nur noch in eingedampfter Form als Berechnung auftritt (ebd.: 141), als entleertes arithmetisches Schauspiel der Wahlen und des Parlamentarismus. So wird die ‚repräsentative Demokratie‘ für ihn zum Oxymoron - es gibt nur entweder Repräsentation oder Demokratie. 66.4 Resümee Tocqueville, Arendt und Rancière sind - soweit man das einer Einzelperson je zuschreiben kann - charakteristische Beispiele für die drei historischen Epochen der frühen, entwickelten und späten Moderne. Gleichwohl stehen diese drei vorgestellten Theorieentwürfe in keiner logischen Abfolge und keiner linearen Entwicklung. Auch die unmittelbare Rezeption Tocquevilles durch Arendt, und beider durch Rancière, hält sich in engen Grenzen. Dennoch zeigen sich nicht nur <?page no="221"?> 6 Demokratie und Gesellschaft 221 vereinzelte wiederkehrende Motive, sondern mehrfache Querverbindungen. Auffällig ist etwa, dass sich bei allen drei Denker_innen ein Beitrag zur (möglicherweise also nicht ganz so aktuellen) Postdemokratiedebatte finden lässt. Mehr noch: Im systematisierenden Überblick wird erkennbar, dass Tocqueville, Arendt und Rancière mit vergleichbaren Theorieelementen arbeiten, die sie jeweils unterschiedlich inhaltlich ausgestaltet haben. Fünf hervorstechende Elemente seien hier herausgegriffen und gegenübergestellt: (1) ein eher unkonventioneller Begriff von Demokratie, (2) eine Theorieperspektive auf den Totalitarismus, (3) ein zentraler normativer Grundbegriff, (4) eine mindestens implizite Auseinandersetzung mit der Idee des Fortschritts, sowie (5) ein deutlicher Bezug zum Thema Revolution. Tocqueville Arendt Rancière bevorzugter Demokatietyp dezentral/ lokal: ‚township meetings‘ als kollektiver Freiheitsraum revolutionär und deliberativ: gemeinsames politisches Handeln und kommunikative Macht; Form: Räte, Elementarrepubliken radikal: in der Unterbrechung der herrschenden polizeilichen Ordnung Totalitarismus teilweise invers zur Demokratie: milder Despotismus Antithese zur Demokratie in gegenwärtiger Demokratie selbst verortet normativer Grundbegriff Freiheit vor Gleichheit emphatische Freiheit emphatische Gleichheit Fortschritt ambivalentes Geschichtsverständnis: klar benennbare Gewinne und Verluste Unterscheidung von guten und schlechten Verhältnissen, aber: keine Lernprozesse, sondern beständige Neugründungen keine Utopie, aber: permanent neue und reichhaltigere Deutungen von Gleichheit Revolution ‚demokratische Revolution‘ als Prozess; Kontinuitäten bei konkreten Revolutionen welterschließendes Ereignis; in Mikrorevolutionen des politischen Handelns aufgehoben emphatischer Ereignisbegriff: Politik als Eruption, als eingeforderter Anteil der Anteilslosen TTab. 3: Systematisierung: Fünf Vergleichselemente bei Tocqueville, Arendt und Rancière. <?page no="223"?> FFazit: Gesellschaftstheorie, intellektuelle Redlichkeit und das Problem der Formationsbegriffe H ARTMUT R OSA Was ist die Moderne? Gibt es sie überhaupt? Gibt es eine westliche Moderne? Was ist dann der Westen? Oder müsste es eher die Gesellschaften des Nordens heißen? Liegen China oder Indien dann im Norden, liegt Chile im Süden? Handelt es sich um moderne Gesellschaften oder um kapitalistische Gesellschaften, wenn gegenwärtige soziale Formationen untersucht werden, oder ist das das Gleiche? Und sind es viele Gesellschaften, die gleichsam an den Ländergrenzen aufhören, oder gibt es nur eine (weltweite) Gesellschaft? Wenn wir von Differenzen zwischen den Lebensformen reden, sollen wir dann sagen: Die Gesellschaften unterscheiden sich, oder die Kulturen? Oder ist das das Gleiche? Sollten wir von der indischen Kultur reden, oder von der indischen Gesellschaft, oder gibt es sie beide nicht, weil es jeweils viele sind? Tatsächlich lässt sich keine einzige dieser Fragen eindeutig beantworten. Die Formationsbegriffe der Sozial- und Kulturwissenschaften sind in der Krise, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen herrscht Ungewissheit nicht nur darüber, welcher Aggregatsbegriff der Richtige ist, sondern auch darüber, ob man soziale Aggregate begrifflich überhaupt konsistent bilden und verwenden kann. Sollen wir von einer Kultur oder einem Kulturkreis, von einer Sprachgemeinschaft, einer Nation oder einer Gesellschaft reden, wenn wir uns auf eine soziale Formation, etwa auf die Eigenarten des sozialen Lebens in indischen Städten und Dörfern, beziehen wollen? Handelt es sich dort um Besonderheiten Indiens, oder um Besonderheiten der indischen Gesellschaft, oder der Kultur, oder sollten wir gar nicht von Indien reden, sondern zwischen Hindus und Muslimen differenzieren, oder zwischen Punjabi und Bengalen, die sich in vielem unterscheiden? Bei jedem dieser Begriffe stellt sich dann jedoch das Problem erneut, dass es sich nicht um einheitliche und homogene Gebilde handelt, sondern um in sich differenzierte, heterogene und widersprüchliche Gemeinschaften: Es gibt nicht nur nicht ‚die Inder‘, es gibt auch nicht ‚die Hindus‘, nicht ‚die Punjabis‘ etc. Folgt man dieser Logik, lösen sich alle Formationsbegriffe auf, und es bleibt nur die Möglichkeit einer mikro- oder mesosoziologischen Analyse einzelner Phänomenketten. Was dann systematisch aus dem Blick gerät, ist der Zusammenhang und die Logik der Wechselwirkungen zwischen den heterogenen Phänomenbereichen, so haben wir bereits in der Einleitung gesehen. Das Formationsproblem stellt sich aber nicht nur auf der allgemeinen Ebene der Sozialtheorie, sondern ebensosehr auf der Ebene der Zeitdiagnose als dem zweiten zentralen Element der Gesellschaftstheorie, bei der es darum geht, die charakteristischen Spezifika einer historisch bestimmten sozialen Formation zu benennen. Lässt <?page no="224"?> 224 Hartmut Rosa sich eine gesellschaftliche Moderne identifizieren - und wenn ja, wie lässt sie sich bestimmen? Von was ist sie zu unterscheiden - von ‚der‘ Vormoderne schlechthin? Die letztere Option, obwohl sie durchaus konstitutiv für die Herausbildung der Soziologie in ihrer Frühphase war, wird heute sicher niemand mehr vertreten. Unterschieden werden muss die Moderne, wenn man den Begriff nicht aufgeben will, von einer Vielzahl anderer sozialer Formationen. Aber auch hier begegnet uns das Problem der internen Heterogenität: Ist die ‚westliche‘ Moderne nicht anders als die indische, chinesische oder japanische, die ostafrikanische oder lateinamerikanische Moderne? Unterscheidet sich die europäische Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts nicht in Vielem von der des 19. Jahrhunderts, sodass wir gezwungen sind, verschiedene Phasen der Moderne zu unterscheiden? Einen Versuch, dieses Problem zu lösen, haben Sozialwissenschaftler_innen um Shmuel N. Eisenstadt unternommen, indem sie den Begriff der ‚multiplen Moderne‘ vorschlugen. Dabei zeigte sich jedoch rasch, dass es einfach ist, immer neue Differenzen zwischen Weltgegenden, Phasen oder sozialen Schichten und kulturellen Gruppen zu identifizieren, es dabei aber immer schwieriger wird, dahinter eine formative Einheitlichkeit zu erkennen, die eine Verwendung des Begriffs der Moderne noch rechtfertigen könnte (Eisenstadt 2002). Ein wesentliches Ziel dieses Buches bestand deshalb darin zu zeigen, dass es allen Schwierigkeiten zum Trotz nicht nur sinnvoll ist, auf beiden Ebenen an der Idee einer Bestimmung und Analyse sozialer Formationen festzuhalten, sondern dass dies für ein adäquates soziologisches Verständnis des sozialen Lebens schlechterdings unverzichtbar ist. Deshalb stellt dieses Buch auch den Versuch dar, die Kategorie der Gesellschaft ebenso wie den Begriff der Moderne gegen ihre Kritik zu verteidigen und ihre analytische Fruchtbarkeit nachzuweisen. Wir wollen Gesellschaftstheorie betreiben, weil wir sie erkenntnistheoretisch für unverzichtbar halten. Dabei teilen wir in mancherlei Hinsicht durchaus die Auffassung Oliver Marcharts, der Gesellschaft als ein ‚unmögliches Objekt‘ begreift (Marchart 2013), weil sie sich konzeptuell nicht eindeutig fundieren lässt: Sie bleibt perspektivisch widersprüchlich, uneindeutig und vielschichtig, weil sie stets politisch umkämpft ist - aber gerade darin und dadurch bleibt sie als Begriff theoretisch und politisch auch unhintergehbar. Das bürdet uns indessen postwendend die Last auf, den Begriff der modernen Gesellschaft dann allen Schwierigkeiten zum Trotz auch so zu bestimmen, dass er einerseits einen Formationscharakter trennscharf zu definieren vermag und andererseits nicht dazu zwingt, die genannten Heterogenitäten und Differenzen zu verwischen. Ein notorisches Problem jeder Gesellschaftstheorie besteht darin, dass sie eine Zentralperspektive auf das Ganze des sozialen Lebens reklamieren muss, von der her sich die formativen Aspekte und die Zusammenhänge über alle gesellschaftlichen Felder hinweg erkennen lassen. Liegt das gesellschaftliche Zentrum in der Wirtschaft, dann lässt sich die moderne Gesellschaft (zumindest in ihrem gegenwärtig westlichen Typus) beispielsweise als kapitalistische Gesell- <?page no="225"?> Fazit 225 schaft bestimmen. Liegt es dagegen in der Politik, dann handelt es sich um eine demokratische Gesellschaft. Versucht man die Formation hingegen über den Konsum zu erschließen, haben wir es heute vielleicht mit einer Wegwerfgesellschaft zu tun, oder mit einer Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992). Weitere (subjektzentrierte) Alternativen bilden die Arbeitsgesellschaft (Offe 1984), die Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2017b) und die Multioptionsgesellschaft (Gross 1994). Erblickt man dagegen im Naturverhältnis den zentralen Ankerpunkt für eine Formationsanalyse, dann erkennt man in der gegenwärtig dominanten Sozialformation vielleicht eine Risikogesellschaft (Beck 1986). Tatsächlich sind in der Geschichte soziologisch-gesellschaftstheoretischen Denkens alle diese Vorschläge bereits gemacht und erprobt worden. Gegen solche Versuche wenden insbesondere die Vertreter_innen der Systemtheorie ein, dass die moderne Gesellschaft funktional differenziert und damit polykontextural sei (Luhmann 1984; 1998): Es lasse sich keine Spitze und kein Zentrum erkennen, und die Gewichte der einzelnen Felder oder Systeme verschieben sich auch untereinander nicht wie in einem Nullsummenspiel, sodass ein Feld an Bedeutung gewinnt, wenn ein anderes an Bedeutung verliert. Vielmehr scheint die Gesellschaft der Moderne dadurch bestimmt, dass etwa Politisierung, Verrechtlichung, Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung sich gleichermaßen steigern, sodass man in der Tat, je nach Perspektive, verwundert feststellen kann, dass heute doch ‚alles‘ eine Frage des Geldes, aber eben auch alles eine Frage der Politik, eine Frage der Wissenschaft, alles eine Frage des Rechts, ein Gegenstand der Werbung und des Konsums etc. geworden sei. 27 Die von uns vertretene Konzeption der Gesellschaftstheorie folgt der Systemtheorie in der Einsicht, dass sich Prozesse der Differenzierung von Funktionen und Wertsphären als bedeutsam für die Entwicklung der modernen Gesellschaft erweisen, hält dies aber nicht schon für das Letzte und Einzige, was über die moderne Gesellschaft als Formation zu sagen wäre. Tatsächlich unterscheidet sich der hier entwickelte ‚Jenaer Ansatz‘ von der Systemtheorie Luhmann‘scher Provenienz in zwei wesentlichen Hinsichten: Zum Ersten haben unsere Analysen deutlich gemacht, dass die moderne Gesellschaft sich seit ihrer Herausbildung im 18. Jahrhundert immer weiter entwickelt und verändert, dass sie nicht einfach ihren Aggregatszustand von einer früheren, stratifizierten, ständisch verfassten Gesellschaft zu einer funktional differenzierten gewechselt hat und dann im Wesentlichen die gleiche geblieben ist, sondern dass sie von einer ungeheuren Dynamik angetrieben und substantiell verändert wird, die mit dem Begriff der funktionalen Differenzierung nicht erfasst werden kann, sondern vielmehr den Aus- 27 Eine interessante Variante der Differenzierungstheorie wird von Uwe Schimank vertreten, der den Kapitalismus bzw. ein ökonomisches Primat als notwendige Implikation funktionaler Differenzierung begreift und damit die Moderne als funktional differenzierte und kapitalistische - und darüber hinaus als in Organisationen verfasste - Gesellschaft zugleich begreift (vgl. Schimank 2010). <?page no="226"?> 226 Hartmut Rosa differenzierungsprozessen noch zu Grunde liegt. Eine moderne Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur durch Steigerung erhalten kann, so haben wir in der Einleitung bereits gesagt und dafür den Begriff der dynamischen Stabilisierung geprägt. Weil sich dieses Merkmal - dass sich die Gesellschaft nur im Modus des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung strukturell zu reproduzieren vermag, da sie anders ihren institutionellen Status quo (das Wirtschaftssystem und den Wohlfahrtsstaat, das Bildungswesen und die Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen etc.) nicht erhalten kann - nach unserer Analyse erstens in allen Feldern des sozialen Lebens gleichermaßen bemerkbar macht und zweitens den Differenzierungsprozessen selbst zugrunde liegt (vgl. Rosa 2005: 428ff.), bestimmen wir die moderne Gesellschaft (zumindest versuchsweise) also über den Modus dynamischer Stabilisierung. Damit lässt sich eine eskalatorische Steigerungslogik und ein Steigerungszwang zur ‚Strukturerhaltung‘ identifizieren, der sich systemtheoretisch nicht einholen lässt. Dieser Steigerungszwang wiederum verursacht soziale Spannungen und Widersprüche und führt zu sozialen und politischen Kämpfen und Bewegungen, die - und dies ist der zweite zentrale Unterschied zur Systemtheorie - aus unserer Sicht für die Bestimmung und die Analyse der sozialen Formation ‚Gesellschaft‘ ebenso wesentlich sind wie die Identifikation der ‚Strukturlogik‘. Die Perspektiven, Interessen und Deutungen der sozialen Akteur_innen sind in unserem Verständnis nicht nur Teil des Gegenstandes gesellschaftstheoretischer Analyse - der Gesellschaft -, sondern sie sind auch ein unverzichtbares Element der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis, mithin also der Theorie: Wir folgen Max Webers Einsicht, dass der sozialwissenschaftliche Begriffsapparat stets auf das ‚Licht der großen Kulturprobleme‘ einer Gesellschaft angewiesen ist und darauf reagiert (was keineswegs heißt, dass die Perspektiven der Akteur_innen einfach übernommen werden), 28 und der epistemologischen Position des Pragmatismus, wie sie etwa John Dewey formuliert, wenn er betont, dass die wissenschaftliche Reflexion stets auf die Erfahrung und das Manifestwerden praktischer Krisen und Probleme reagiert. Gesellschaftstheorie reagiert nach unserem Verständnis in der Tat auf Probleme, welche die Gesellschaft hat, sie tut, anders als es der Systemtheoretiker Nassehi meint, nicht gut daran, Probleme zu lösen, die wir ohne sie nicht hätten (Nassehi 2006): Wenn Webers und Deweys Überlegungen stichhaltig sind, dann kann sie das gar nicht. Selbst die Systemtheorie reagiert dann kritisch auf eine 28 „Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten. […] Aber irgendwann wechselt die Farbe: […]. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen: […].“ (Weber 1988a [1904]: 214) <?page no="227"?> Fazit 227 gesellschaftliche Problemlage, etwa auf das Scheitern politischer Steuerungsversuche sozialer und ökonomischer Entwicklungen. 29 Wir haben deshalb schon in der Einleitung auf die konstitutive Rolle der Bezugsprobleme für die Gesellschaftstheorie hingewiesen. Welche Plausibilität kann nun aber die These, dass der Modus dynamischer Stabilisierung das grundlegende Merkmal der modernen Gesellschaft sei, im Lichte der in diesem Buch versammelten Analysen beanspruchen? Natürlich lässt sich nicht jede soziale Bewegung und jeder endogene Zug der Theorieentwicklung einfach umstandslos aus der Logik dynamischer Stabilisierung und ihrer Voraussetzungen und Folgen deduzieren. Blicken wir jedoch aus dieser Perspektive noch einmal auf die sechs von uns in diesem Band identifizierten Bezugsprobleme und die durch sie induzierte Theorieentwicklung, so wird die Zentralität der Logik dynamischer Stabilisierung klar ersichtlich. Die unaufhörliche Dynamisierung der Welt, ihr buchstäbliches In-Bewegung-Setzen in gewaltigen Transportströmen von Rohstoffen und Materialien, Waren und Gütern, Menschen und Tieren, Bildern und Daten, Geld und Kapital, Nachrichten und Ideen, hat eine unübersehbare materiale Unterseite: Sie basiert in höchstem Maße auf der Verbrennung von Kohlenstoffen und Öl, die sie antreibt, und ebenso sehr auf der Extraktion, dem Transport, der Verarbeitung und Umwandlung von Rohstoffen aller Art. Diese Stoffumwandlung von gigantischen Ausmaßen ist ein Kennzeichen der Moderne, sie stellt die greifbarste Dimension dynamischer Stabilisierung dar, und in ihr manifestieren sich heute auch die greifbarsten Folgeprobleme dieses Stabilisierungsmodus: Die Gesellschaft der Spätmoderne ist zu schnell, oder zu dynamisch, für die Eigenzeiten der Ökosysteme im Hinblick auf die biologische Reproduktionsfähigkeit - die Regenwälder wachsen langsamer nach, als wir sie abholzen, die Fischbestände in den Ozeanen reproduzieren sich langsamer, als wir sie plündern - ebenso wie im Hinblick auf die Verarbeitung von Abfällen und giftigen Emissionen. Der heute weltweit als Treibhauseffekt diskutierte Klimawandel ist im Grunde nichts anderes als die sich aus der materiellen Dynamisierung auf der Erdoberfläche als Nebenfolge ergebende Beschleunigung der Atmosphäre: Die Erhitzung eines Gases bedeutet die Beschleunigung seiner Molekülbewegungen. Es sind nicht zuletzt die so verursachten ökologischen Probleme, welche der Vermutung, der Modus dynamischer Stabilisierung befinde sich im frühen 21. Jahrhundert selbst bzw. insgesamt in einer Krise, Plausibilität verleiht. Die zur Aufrechterhaltung der Sozialformation erforderlichen Steigerungsleistungen in Form von Wachstum, Beschleunigung und Innovierung können indessen weder von den gesellschaftlichen Strukturen noch von den sozialen Institutionen oder Organisationen als solche erbracht werden: Es sind die handelnden Subjekte, 29 Diese Vermutung legen vor allem Niklas Luhmanns eigene Analysen nahe (vgl. Luhmann 1981; 1986). <?page no="228"?> 228 Hartmut Rosa die jedes Jahr schneller, effizienter und innovativer werden müssen und die als Produzenten ebenso wie als Konsumenten die Steigerungen zu realisieren haben. Die aus dem Modus dynamischer Stabilisierung resultierenden Steigerungszwänge sind nur zu erfüllen, wenn sie in die Handlungsorientierungen der Subjekte ‚übersetzt‘ werden, das heißt, wenn sie sich in den Ängsten und Hoffnungen der Individuen manifestieren. Wie das zweite Kapitel deutlich gemacht hat, tun sie dies im Wandel der Subjekt- und Subjektivitätsformen: Die Prozesse der Individualisierung, die mit der Moderne einhergehen, erweisen sich als Prozesse der Aktivierung und Mobilisierung zunächst dadurch, dass der Platz eines Individuums in der Sozialordnung nicht mehr gegeben ist, sondern - insbesondere im Modus des Wettbewerbs - dynamisch ausgehandelt wird. Dadurch wird die soziale Ordnung beweglich gemacht und buchstäblich mit kinetischer Energie versorgt. Die Subjekte müssen mit dem Fortschreiten der Moderne gleichsam immer schneller laufen, um ihren Platz zu halten, was in der Spätmoderne zu einer Situation der unabschließbaren, performativen Optimierungsimperative führt. War die dominante Subjektform der entwickelten Moderne darauf hin angelegt, einen ‚authentischen‘ Entwurf personaler Identität zu entwickeln und über den Lebenslauf hinweg zu entfalten, scheinen in der Spätmoderne Subjektfiguren zu dominieren, welche eine stetige performative ‚Neuerfindung‘ anstreben, zumindest aber eine hohe Flexibilität und Veränderungsbereitschaft aufweisen. Hieraus, so hat das Kapitel gezeigt, ergeben sich eine ganze Reihe von Bezugsproblemen, die insbesondere auch mit Fragen der Identität verknüpft sind. Trifft die These zu, dass es insbesondere die Logik des Wettbewerbs ist, welche die individuelle, kulturelle und politische Antriebsenergie erzeugt, die zur Aufrechterhaltung des Modus dynamischer Stabilisierung erforderlich ist, dann ist die signifikante soziale Ungleichheit keine Begleiterscheinung, sondern eine konstitutive Voraussetzung für die moderne Gesellschaft; zugleich bildet sie aber auch eines ihrer grundlegenden Bezugsprobleme. Bedarf die moderne Gesellschaft der Ungleichheit zur Erzeugung ihrer Antriebsenergie und zur Aufrechterhaltung der Steigerungslogik, stellt sie in der Verheißung des Wachstums zugleich ein Mittel zur Linderung der dadurch verursachten Schmerzen zur Verfügung: Wenn der zu verteilende Kuchen signifikant größer wird, kann Ungleichheit wachsen und zugleich für die Armen und die Ärmsten dennoch etwas mehr abfallen als zuvor. Wie wir im fünften Kapitel gezeigt haben, ist die Grundbewegung allen kapitalistischen Wirtschaftens, von Karl Marx auf die einfache Formel der Wertbewegung G-W-G´ gebracht, zugleich der einfachste und klarste Ausdruck dynamischer Stabilisierung: Geld wird nur investiert, wirtschaftliche Tätigkeit kommt nur in Gang, wenn es eine realistische Aussicht auf seine Vermehrung in Form eines Profits, eines Gewinns oder einer Rendite (G´) gibt. Steigerung in Form der Kapitalakkumulation zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufes ist das kardinale Merkmal modernen Wirtschaftens, und von Marx bis Weber waren sich schon die ‚Klassiker‘ der Soziologie einig, dass ebendies ein Spezifikum der <?page no="229"?> Fazit 229 Moderne sei. Dies ist der Grund dafür, warum sich die Gesellschaftstheoretiker_innen bis heute nicht einig darüber sind, ob die moderne Gesellschaft nun in erster Linie als funktional differenzierte zu beschreiben ist, wobei nur das Wirtschaftssystem kapitalistisch organisiert ist, oder als kapitalistisch, weil die Logik und die Erfordernisse der Kapitalakkumulation alle Gesellschaftssphären, etwa auch die Politik oder das Recht, durchziehen. Der in diesem Buch vertretene Ansatz der Gesellschaftstheorie vertritt demgegenüber eine Mittelposition, indem er die Logik der Akkumulation und der Steigerung als maßgebend für alle Gesellschaftssphären betrachtet - sie zeigt sich etwa auch auf dem Feld der Wissenschaft, das nur dadurch und so lange existiert, wie die unaufhörliche Erweiterung und Innovierung des Wissens versprochen wird -, ohne sie notwendig auf die Mechanismen der Kapitalakkumulation zu reduzieren. Dass Gender und Ethnizität demgegenüber erst vergleichsweise spät ins Zentrum der Gesellschaftstheorie rückten, ist dann aus dieser Perspektive kein Zufall. Beide Dimensionen der Sozialformation sind wesentlich für die Produktion sozialer Ungleichheit, und beide weisen auf die Außenseiten dynamischer Stabilisierung hin. Vielleicht können wir die dadurch bezeichneten Bezugsprobleme auf die provokative Formel bringen, dass die dynamische Stabilisierung in wesentlichen Hinsichten das Produkt männlicher weißer Herrschaft sei. Lange Zeit hindurch konnten in der modernen Gesellschaft nur Männer und nur Weiße als Unternehmer und als Eigentümer fungieren. Die soziale Reproduktionsseite der Gesellschaft, die repetitive Aufrechterhaltung jener Lebensprozesse, die sich kaum oder gar nicht steigern lassen, wurde erstens gesellschaftlich radikal abgewertet und zweitens gleichsam ‚verweiblicht‘; damit wurden sie in ihrer Systemnotwendigkeit weitgehend invisibilisiert. Durch die fortwährende Konstruktion ethnischer Differenzen wurden zugleich nicht nur neue kulturelle, oft rassistisch grundierte Ungleichheitslinien erzeugt und legitimiert, sondern immer wieder auch gewaltsame ‚Landnahmen‘ (vgl. dazu Dörre 2009; Harvey 2003) gerechtfertigt, welche die Motoren dynamischer Stabilisierung auf Kosten exkludierter, expropriierter und marginalisierter Gruppen antrieben. Die heute im gesellschaftstheoretischen Diskurs immer wichtiger werdenden postkolonialen Stimmen und Diskurse lassen die damit verbundenen Bezugsprobleme sichtbar werden, dass nämlich erstens die auf dem Modus dynamischer Stabilisierung beruhende Sozialformation ein hegemoniales und ethnozentrisches Projekt ist, welches zum Zweiten konstitutiv auf der Erzeugung, Ausbeutung und Abwertung marginalisierter Gruppen und der Zerstörung alternativer Sozialformationen beruht, und zum Dritten von sich aus weder sozial noch ökonomisch noch ökologisch nachhaltig sein zu können scheint. Indessen beruht die moderne Gesellschaft zumindest in ihrer Selbstdeutung auf einem Autokorrekturmechanismus, der im Grunde die erfolgreiche Bearbeitung aller Bezugsprobleme verspricht. Gemeint ist der Modus politischer Demokratie, der auf der Verheißung beruht, jedem und jeder eine wirksame politische Stimme zu geben, mit deren Hilfe Krisen zu bewältigen und Ungerechtigkeiten zu <?page no="230"?> 230 Hartmut Rosa bearbeiten seien. Dass dieser Modus der reflexiven Selbsteinwirkung im frühen 21. Jahrhundert selbst in einer geradezu globalen Krise zu stecken scheint, hat möglicherweise damit zu tun, dass die erbarmungslosen Steigerungszwänge dynamischer Stabilisierung - Wachsen, Beschleunigen, Innovieren, Optimieren und die Erhöhung von Wettbewerbsfähigkeit - alle anderen Gesichtspunkte und alle Spielräume demokratischen Gestaltens zurückzudrängen scheinen und die krisenanfällig gewordenen Subjekte darauf nun ihrerseits mit Sehnsüchten nach identitärer oder ethnischer Schließung reagieren. An dieser Schnittstelle wird sich vielleicht in naher Zukunft erweisen, ob die moderne Gesellschaft als prädominant kapitalistisch, oder als demokratisch oder einfach nur als funktional differenziert zu verstehen ist: Sind die Steigerungszwänge dieser Sozialformation (noch) politisch zu bearbeiten, sind sie (rein) ökonomisch außer Kraft zu setzen, sind sie jeweils nur bereichsspezifisch wirksam? Ganz ebenso wie Gesellschaft kein homogenes, einheitliches Gebilde ist, und wie sie vor einer Vielfalt von Herausforderungen steht, wird auch die Gesellschaftstheorie heterogen, pluralistisch und multiparadigmatisch bleiben, und das ist auch gut so. Das enthebt sie aber nicht der Aufgabe, das Ganze der Gesellschaft von ihren unterschiedlichen Perspektiven her zu denken und nach dem Zusammenhang ihrer Phänomenbereiche zu fragen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, sich von den Sichtweisen und Problemstellungen anderer Perspektiven zumindest irritieren, gegebenenfalls aber eben auch revidieren oder korrigieren zu lassen. Hier wie überall gilt es, dem etwa von Max Weber postulierten Gebot intellektueller Redlichkeit zu folgen, das verlangt, Argumenten und Evidenzen, die gegen die eigene Position sprechen, die größtmögliche Aufmerksamkeit zu widmen und sie, wo sie nicht zu widerlegen und zu leugnen sind, vorbehaltlos anzuerkennen. In jedem Falle aber stehen denjenigen, die Gesellschaftstheorie betreiben wollen, an vielen Punkten unterschiedliche Pfade offen. Zunächst, so haben wir schon mehrfach gesehen, gibt es drei unterschiedliche Ansatzpunkte dafür, das Ganze der modernen Gesellschaft in den Blick zu nehmen: Man kann sie als ökonomisch fundiert und damit als kapitalistisch analysieren, man kann sie als politisch verfasst verstehen, oder nach ihrer Differenzierungsform als funktional differenziert bestimmen. Eine weitere Alternative besteht darin, eine hermeneutische Perspektive zu wählen und die Selbstinterpretation der Gesellschaft, ihre Selbstauslegung zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Solche Ansätze werden als ‚kulturalistisch‘ bezeichnet, sie basieren auf der Überzeugung, dass soziale Wirklichkeit niemals einfach nur faktisch gegeben ist, sondern dass sie stets (auch) das ist, was sie für die Akteur_innen ist (grundlegend dazu etwa Taylor 1975). Jede dieser vier Alternativen muss sich jedoch auf kritische Fragen einlassen, die aus postkolonialer oder geschlechtsreflektierter Perspektive an solche Moderne- Konzepte gestellt werden: Basieren nicht alle diese Gesellschaftsbegriffe auf den Erfahrungen des weißen Mannes, klammern sie nicht ganz erhebliche, weniger hegemonietaugliche Aspekte westlicher (Gewalt-)Herrschaft aus, und ignorieren <?page no="231"?> Fazit 231 sie die Perspektiven der Subalternen nicht völlig? Hermeneutische Ansätze scheinen für diese Art des Fragens und für allfällige Modifikationen grundsätzlich zugänglicher als strukturalistische, funktionalistische oder ökonomistische Ansätze, weil sie die Perspektiven der Subjekte konstitutive einbeziehen. Als eine Grundfrage der Gesellschaftstheorie erweist sich damit die nach dem Verhältnis oder der Vermittlung zwischen subjektivistischen bzw. kulturalistischen Ansätzen, welche Gesellschaft gleichsam aus der Perspektive der ‚Ersten Person‘ in den Blick nehmen, und objektivistischen bzw. (post-)strukturalistischen Ansätzen, die aus der Perspektive der ‚Dritten Person‘ auf soziale Wirklichkeit blicken. Wie im Durchgang durch die unterschiedlichen Problemdimensionen deutlich geworden ist, bedarf eine umfassende Analyse der gesellschaftlichen Totalität in jedem Falle des Einbezugs beider Perspektiven, weil sich soziale Wirklichkeit gerade aus dem Zusammenspiel beider Seiten ergibt. Die Art ihrer Vermittlung wird aber gewiss weiterhin umstritten bleiben. Eine weitere Grundfrage für jeden Versuch der Gesellschaftstheorie betrifft das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie. Welcher Art der empirischen Fundierung, Rückbindung, Evidenzbildung oder Prüfung bedarf gesellschaftstheoretisches Denken? Hier toben derzeit, wie sich etwa auf dem 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen im Herbst 2018 gezeigt hat, durchaus auch heftige Auseinandersetzungen insbesondere in der deutschen Soziologie. Der Streit dreht sich dabei um die Frage nach dem Verhältnis von Deuten und Messen: Muss Gesellschaftstheorie ihre Deutungsvorschläge aus empirischen Befunden deduktiv ableiten können? Oder muss sie zumindest induktiv zu einer Hypothesenbildung beitragen, die unmittelbar empirisch zu überprüfen ist? Wie immer man sich in dieser Frage positionieren mag, aus gesellschaftstheoretischer Sicht kann, gleichgültig welcher Spielart man zuneigt, kein Zweifel daran bestehen, dass es einer Vermittlung von Theorie und Empirie bedarf, dass also Theoriebildung auf empirische Evidenzen angewiesen ist und Theorien und Deutungsvorschläge umgekehrt an der Empirie erprobt werden müssen. Die Art der Evidenzbildung und der Erprobung, also der empirischen Rückbindung, sollte jedoch aus unserer Sicht nicht vorschnell und künstlich verengt werden: Qualitative und quantitative empirische Forschung, aber auch phänomenologische Analysen und Introspektion, Literatur und Popkultur ebenso wie politische und feuilletonistische Diskurse können als materiale Basis herangezogen werden, um die Theoriebildung zu inspirieren und ihr primordiale Evidenz zu verleihen. Ebenso muss sich dann aber auch die Tauglichkeit, Plausibilität und Überzeugungskraft so generierter theoretischer Deutungsvorschläge auf allen Ebenen dem Empirietest unterziehen: Sind sie plausibel und haltbar im Lichte der verfügbaren qualitativen und quantitativen Daten, der Akteur_innenerfahrungen und des Akteur_innenwissens auf den unterschiedlichen Ebenen und Feldern des gesellschaftlichen Lebens? Erweisen sie sich als fruchtbar und erkenntnisaufschließend gegenüber der gesellschaftlichen Problemdefinition, gegenüber der Bearbeitung der jeweiligen Bezugsprobleme? Hier <?page no="232"?> 232 Hartmut Rosa scheinen uns die Ansätze Webers, des Pragmatismus und der aktuellen Public Sociology (vgl. Clawson et al. 2007) zu konvergieren: Theorien gewinnen ihre Überzeugungskraft und Evidenz im Lichte der ‚großen‘ und je aktuellen ‚Kulturprobleme‘, und diese Kulturprobleme werden durch theoretische Reflexion und sozialwissenschaftliche Begriffsbildung immer auch neu definiert und re-konfiguriert und damit verändert. Die Vorstellung einer Soziologie, welche gesellschaftliche Wirklichkeit einfach nur ‚misst‘ erscheint theoretisch und epistemologisch schlechterdings nicht haltbar. Gesellschaftstheorie ist eine Akteurin auf dem Feld gesellschaftlicher Problembearbeitung, aber eine, deren Aufgabe in der Beobachtung und Reflexion des Ganzen der Sozialformation besteht und die sich dazu aller verfügbarer Wissensquellen und Erfahrungshorizonte zu bedienen versucht - und sich dem Grundprinzip der intellektuellen Redlichkeit verpflichtet weiß. Die Qualität einer Theorie bemisst sich dann an der Fruchtbarkeit und Plausibilität der gewonnenen Deutungsvorschläge. <?page no="233"?> LLiteratur Adkins, Lisa (2006): Subject and Subjectivity, in: Harrington, Austin/ Marhall, Barbara I./ Müller, Hans-Peter (Hg.): Encyclopedia of Social Theory, New York, S. 611-614. Adorno, Theodor W. (1972 [1957]): Soziologie und empirische Forschung, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., S. 196-216. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. Aigner, Petra (2015): Von der Assimilationstheorie zur Pluralismustheorie. Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan: ‚Beyond the Melting Pot: The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italian, and Irish of New York City‘, in: Mecheril, Paul/ Reuter, Julia (Hg.): Schlüsselwerke der Migrationsforschung. Pionierstudien und Referenztheorien, Wiesbaden, S. 149-168. AK Postwachstum (2016): Wachstum - Krise und Kritik. 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U LF B OHMANN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Technischen Universität Chemnitz. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Politische Philosophie der Gegenwart, Ideengeschichte, Qualitative Sozialforschung, Zeitsoziologie, Demokratietheorie. J ORIS A. G REGOR ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, queer theory, Interpretative Sozialforschung, Biographieforschung, Trauma*tisierung, Körpersoziologie, new materialism . S TEPHAN L ORENZ ist apl. Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Überfluss, Konsum, Sozioökologie und Nachhaltigkeit, Armut und Ausgrenzung, Kultursoziologie, Gesellschaftstheorie, explorative Methodik. J ÖRG O BERTHÜR ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, institutioneller Wandel und Subjektivität in Gegenwartsgesellschaften, gesellschaftliche Kontexte technologischer Innovation, Diskurstheorie, qualitative Sozialforschung. K ARIN S CHERSCHEL ist Professorin für gesellschaftstheoretische Grundlagen der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Soziale Ungleichheit und Teilhabe an der Hochschule RheinMain. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Strukturwandel der Arbeit, Prekarisierung, Migration, Asyl und Flucht, Menschenrechte, Rassismus, Gender Studies. P ETER S CHULZ ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theoretische Soziologie, Kapitalismustheorie, Subjektivierungstheorie, Kritische Theorie, Rechtsextremismusforschung, Techniksoziologie. <?page no="258"?> 258 Die Autor_innen J ANOS S CHWAB ist Promovend am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller- Universität Jena und Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er forscht zum Thema Männlichkeit, Gewalthandeln und Gewaltbetroffenheit. S EBASTIAN S EVIGNANI ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kritische Gesellschaftstheorie, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Digitalisierung, Medien und Kommunikation, Privatheit und Bedürfnisse. <?page no="259"?> VVerzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abb. 1 Klaus Eders Ambivalenzmodell ................................................................49 Abb. 2 Verfahrensschritte im „Parlament der Dinge“ ........................................57 Abb. 3 Stratifikationsmodell des Handelns...........................................................77 Abb. 4 Butlers Theorem der heterosexuellen Matrix ....................................... 119 Abb. 5 Bourdieus Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit ......................... 172 Tab. 1 Grid-Group-Typologie ...............................................................................44 Tab. 2 Nancy Frasers Gesellschaftstheorie sozialer Ungleichheit.................. 182 Tab. 3 Systematisierung: Fünf Vergleichselemente bei Tocqueville, Arendt und Rancière.............................................................................................. 221 <?page no="261"?> IIndex Adorno, Theodor W. 13, 28, 72-73 Affektkontrolle 69 Affirmation 179, 192 Agamben, Giorgio 210 Aggregationseffekte 223 Akkumulation 158 Akteur-Netzwerk-Theorie 52, 55, 59 Anarchie 199, 219 Aneignung 162 Anerkennung 55, 111, 120, 171, 177-83 Anomie 67 Antisemitismus 148, 209 Apriori, soziale 70 Arbeit 39-40, 54, 61, 156, 157, 159 Sexarbeit 110 Subjektivierung von Arbeit 63 Arbeitsteilung, soziale 66-67 Arendt, Hannah 204-11, 212, 213, 220-21 Aristoteles 205 askriptive Merkmale 135 Assimilation 133, 134 Athen 202, 217-18 Attia, Iman 148-50 Aufklärung 15, 28, 72, 174, 191 Ausbeutung 159-60, 177, 183, 187, 188, 205 Ausschluss 114, 159, 175, 187, 193, 213 Austin, John L. 116 Autonomie 73, 78, 217 Badiou, Alain 211 Bauman, Zygmunt 29 Beaumont, Gustave de 196 Beauvoir, Simone de 92, 101-11, 121 Beck, Ulrich 29, 42, 75 Begehren 109, 122 heterosexuelles 99 homosexuelles 99 bell hooks 112 Bentham, Jeremy 81 Beschleunigung 226 Bezugsprobleme, gesellschaftstheoretische 227 Bildung 156, 164, 171 Biopolitik 203 Blasiertheit 71 Bourdieu, Pierre 22, 48, 162, 185, 201, 211 Bröckling, Ulrich 84-85, 87 Burgess, Ernest W. 132 Bürokratie 69, 197, 205, 209 Butler, Judith 19, 79, 83-85, 87, 90, 92, 99, 111-20, 121 Calvin, Johannes 69 Camus, Albert 103 Chancenhäufung 162, 187 Chicago School of Sociology 132- 35, 142 <?page no="262"?> 262 Index Comte, Auguste 21, 28, 39 Crenshaw, Kimberlé 112, 147 Critical Race Theory 142, 147 Critical Whiteness Studies 148 Cultural Studies 142, 141-44 Cultural Theory 43 Davis, Angela 112 Dekonstruktion 79, 182 Deleuze, Gilles 79 Deliberation 202, 208, 213, 217 Demokratie 33, 50, 55, 62, 139, 184, 191-221, 229 radikale 193, 212, 217, 219 Derrida, Jacques 79 Despotismus 203, 209 Dewey, John 30, 41, 133, 226 Dialektik 52, 159, 166, 188 Dietze, Gabriele 108 Differenzierung 27, 48, 58, 66, 89- 90, 92, 112, 117, 119, 123, 131, 153, 167, 169, 192 funktionale 16, 136, 225 Differenzierungstheorie 59, 153, 225 Diskriminierung 95, 114, 137 institutionelle 137 Diskurs 47, 49, 50, 80, 178, 213 Dissens 213-14, 216, 220 Disziplinierung 116 Domestizierung 27 Douglas, Mary 37, 43-47, 47 Duden, Barbara 113 Durkheim, Emile 21, 23, 40, 43, 65-68, 71, 72, 73 Dynamis des Sozialen 25, 37, 160 Dynamische Stabilisierung 29, 87, 226 Dynamisierung 199 Eder, Klaus 37, 42, 47-50, 59, 170 Eigentum 159-62, 165 Eisenstadt, Shmuel N. 224 Elias, Norbert 81 Elite 208, 209, 218 Emanzipation 111, 192-93, 218 Enteignung 159, 182 Entfremdung 38, 164, 211 Entpolitisierung 203, 211, 212, 220 Enttraditionalisierung 70 Ereignis 194, 199, 207, 214 Erkenntnisinstrumente 15 Erziehung 97, 107 Esser, Hartmut 135-37 Ethik 166 existenzialistische 105 Ethnizität 32, 125-51, 229 Fahrstuhleffekt 166 Feminismus 102, 177 Differenzfeminismus 102 Gleichheitsfeminismus 102 Schwarzer Feminismus 112, 147 Flucht 210 Formationsbegriffe 223 Fortschritt 37-40, 41, 48, 54, 58, 192, 221 Fortschrittlichkeit 128 Foucault, Michel 19, 31, 79-83, 211, 213, 218 Fouque, Antoinette 102 <?page no="263"?> Index 263 Frankfurter Schule 28, 72, 211 Fraser, Nancy 155 Frauenbewegung zweite Welle 100-101 Frauenbewegungen 93, 120 dritte Welle 111 erste Welle 93 zweite Welle 97 Freiheit 53-54, 103, 160, 164, 165, 194, 198, 203, 205, 207 negative 200 positive 200, 206 Freud, Sigmund 77, 107 Fukuyama, Francis 28 Funktionalismus 66, 73 Garfinkel, Harold 108 Gattungswesen 156-57, 164 Geld 157 Gemeinschaft 11, 21, 63, 70, 206, 210, 213 politische 194, 216 Gerechtigkeit 61, 177 Geschlecht 32, 89-123, 142, 229 cisgeschlechtlich 90 endogeschlechtlich 90 Intergeschlechtlichkeit 108 Gesellschaft 11, 12, 131, 134, 223 Gesellschaftstheorie 14, 16, 35, 36, 37, 42, 60 Gesetze, soziale 66 Gestaltung 191, 205, 218 Gewalt 109-10, 114, 159, 183, 202, 206, 219 Gewalt vor der Gewalt 114 symbolische 174 Giddens, Anthony 16, 20, 29, 74- 79, 86 Gildemeister, Regine 113 Gleichheit 95, 123, 129, 131, 138, 160, 165, 194, 198-202, 215-17, 220 Globalisierung 177, 180, 184 Gouges, Olymp de 93 Gouvernementalität 203 Grenze 193, 205 Gruppen, soziale 70 Habermas, Jürgen 25, 213 Habitus 167, 171, 173, 175 Hagemann-White, Carol 113 Hall, Stuart 141-46 Handeln, soziales 68 Handlung 90 Handlungstheorie 72 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22 Hegemonie 176, 180 Heidegger, Martin 204, 212 Herrschaft 17-18, 20, 48, 60, 96- 98, 100, 159, 193, 200, 213, 216, 217, 219, 229 heterosexuelle Matrix 118, 119 Hierarchie 193, 200, 217 Hirschauer, Stefan 113 Historizität 191, 198 Hobbes, Thomas 20, 23 Hopkins, Joan 108 Hopkins, John 108 Horkheimer, Max 28, 72-73 Humanismus 156, 164 Husserl, Edmund 204 Hysteresis 167, 175 <?page no="264"?> 264 Index Ideengeschichte 204 Identität 111, 114, 144, 193, 211, 213 Identität/ Identifikation 118 Ideologie 89, 145, 163, 164-65, 209 Imperialismus 209 Individualbewusstsein 67 Individualisierung 27, 64, 67, 70, 63-74, 131-32, 228 Individualismus 203, 219 methodologischer 68, 127 Individuum 64 Industrialisierung 37, 38, 52, 65, 132, 161 Inglehart, Ronald F. 73 Innovation, Innovierung 226 Institutionalisierung 96 Institutionen 13, 28-29, 43, 45, 53, 56, 68, 73, 192, 197, 207-8, 210, 214, 217 Integration, soziale 67, 73, 75 Intelligibilität 112, 115 Interaktion 99 Interdisziplinarität 17, 24, 26 Intersektionalität 32, 147, 155 Intitutionen 226 Irigaray, Luce 102 Jacotot, Jean Joseph 215 Jaspers, Karl 204 Jefferson, Thomas 208 Kampf 160, 163, 167, 212, 214, 226 Kapital 157, 160, 169, 171 Kapitalakkumulation 228 Kapitalismus 63, 156, 177-83, 186, 205, 209, 228 Klasse 158, 161, 172, 200, 205 Klassifikation 172-74, 187 Klassifikationssystem 89 Klimawandel 35, 58, 61, 131 Klöppel, Ulrike 108 Kollektivbewusstsein 67 Kolonialismus 91, 144, 201 Kommunismus 163-66 Kommunitarismus 182, 197 Konflikte 46, 59 ökologische 55, 56 soziale 18, 226 Konkurrenz 158-63 Konstruktivismus 41, 42, 50, 53 Kontingenz 15, 193, 212, 214 Kontrollgesellschaft 84 Körper 37, 78, 83, 91, 104, 115, 167, 213-14 Koselleck, Reinhard 191 Kreckel, Reinhard 135-37 Krise 21, 24, 29, 158, 161-62, 226, 230 ökologische 35-62 Kritik 14-15, 24, 38, 164-66, 174, 183-84, 188-89 Funktionskritik 165 Kritische Theorie 51-52, 72 Kultur 47-52, 60, 71, 109, 112, 142, 170, 174, 223, 230 Kulturalismus 231 Kunst 58, 59 <?page no="265"?> Index 265 Laclau, Ernesto 211 Lacoue-Labarthe, Philippe 212 Landnahmen 176, 229 Landweer, Hilde 113 Lash, Scott 76 Latour, Bruno 13, 35, 37, 41, 51- 60 Lebensstil 168, 171, 219 Lebensweise 36, 38, 44, 47, 54, 61 Lebenswelt 39, 51 Lefort, Claude 211 Legitimation 216 Leistungsprinzip 165 Lévi-Strauss, Claude 79 Liberalismus 129, 193, 196, 215 Lindemann, Gesa 16, 113 Link, Jürgen 84, 86 Lorde, Audre 112 Lorey, Isabell 113 Luhmann, Niklas 16, 24, 25, 28, 35, 191, 225, 227 Macht 19, 48, 91, 123, 89-123, 166, 168, 186, 202, 209, 219 Biomacht 82 Disziplinarmacht 80 Institutionalisierung von Macht 20 kommunikative 206, 207, 210 konstitutive 210 Machtkampf 217 Rationalisierung von Macht 20 repressive 210 Souveränitätsmacht 80 Marchart, Oliver 207, 224 Marginalisierung 133 Markt 157, 160, 217 Marx, Karl 20, 22, 25, 39, 51, 61, 74, 154, 170, 176, 185, 228 Marxismus 143 Materialität 21, 23, 117, 227 Mead, George Herbert 41, 133 Mehrwert 158-60, 228 Merleau-Ponty, Maurice 101 Methodologie 71, 231 Migration 126, 132, 138 Miles, Robert 140 Milieu 168 Mill, John Stuart 196 Mobilität, soziale 71 Moderne 12, 21, 223 entwickelte 28 frühe 27 multiple 224 späte 28, 227 Modernisierung 27, 135 reflexive 26, 42, 75 Money, John 108 Moral 47-48, 58, 66 Mouffe, Chantal 211 Müller, Jan-Werner 216 Nancy, Jean-Luc 212 Nassehi, Armin 226 Natalität 206 Nationalgesellschaft 196, 204 Nationalsozialismus 72, 93, 103, 140, 204, 209, 210 Natur 90 Naturbeherrschung 49, 51, 55 <?page no="266"?> 266 Index Naturdeutungen 37, 42, 46, 50, 61 Naturverhältnis 31, 35-62, 227 Naturverständnis 46-47 Naturvorstellungen 37, 44-47 Naturzugang 38, 42, 44, 47, 48, 49 Natur/ Kultur 115, 122 Naturalisierung 90, 146 Naturwissenschaft 18, 23, 35, 38- 40, 43, 60-61, 129 Nebenfolgen 75 Neoliberalismus 168, 184, 186, 205 progressiver 180 Netzwerk 52, 55, 59 Neurath, Otto 12 Normalisierung 84 Normativität 13, 14, 67, 192, 194, 206, 221 Normen 114 Objektivierung 48 Objektivismus 231 Objektivität 66 Öffentlichkeit 47, 50, 52, 125, 181, 184, 202, 205 Ökologie 218 politische 35, 50-60 Ökonomie 50, 59, 138 politische 154, 176 Ontologie 21, 183 Ordnung 21, 66, 199, 203, 205, 207, 212, 213, 216 materielle 23 soziale 23 symbolische 21 91 Panoptikon 81 Park, Robert E. 41 Parlament 195, 197, 212, 220 Parodie 116-18 Parsons, Talcott 72, 73 Partizipation 139, 197-98, 208, 212 Pathologie 23, 66 Performativität 83, 114, 116-18 Perspektive partikulare 92, 115 Perspektivenwechsel 92 Philosophie 17, 204, 215 existenzialistische 103-6 politische 204, 211, 213 Sozialphilosophie 195 Plate, Ludvig 95 Platon 17, 23, 219 Politea 17 Politik 78, 181, 185, 212 Politische Theorie 17, 195-96, 204, 206, 210 Politische, das 181, 185, 205, 212, 214, 218 Polizei 213 Popitz, Heinrich 20 Populismus 191, 193, 216 Postdemokratie 191, 193, 203, 211, 220-21, 230 Postkolonialismus 229 Postmarxismus 210-12, 214, 217 Postmoderne 29 Poststrukturalismus 79, 112, 194, 211 <?page no="267"?> Index 267 Postwachstumsgesellschaft 87 Pragmatismus 41, 133 Praktiken 48, 56, 59, 61 Praxis 13, 25, 30, 37, 50, 77, 166, 174, 230 Privatsphäre 157, 177 Produktion 156 Produktionsparadigma 156 Produktivkraft 156, 165 Profit 158, 160 Psychoanalyse 67, 77, 107, 108 Public Sociology 232 race 89, 133 racialisation 140 Rancière, Jacques 211-21 Rassismus 128, 129, 137-50, 201, 209 antimuslimischer 148-50 Räterepublik 208 Rationalisierung 27, 68 Raum und Zeit 77 Rawls, John 24 Realismus 42 Recht 58-60, 200, 210 Reckwitz, Andreas 64 Redecker, Eva von 114 Reflexivität 77, 174, 185 Reformation 69 Regierung 193, 197, 203, 215, 218- 20 Religion 47, 59, 69 Rente 162 Repräsentation 180, 197-98, 208, 213, 220 Reproduktion 160 gesellschaftliche 229 Revolution 163, 179, 195, 198, 207-8, 221 Risiko 42, 44, 47, 51, 53, 61, 75, 78 Roth, Roland 139 Rousseau, Jean-Jacques 20, 194 Rubin, Gayle 108 Russell, Bertrand 19 Saar, Martin 86 Sartre, Jean-Paul 103 Saussure, Ferdinand de 79 Schimank, Uwe 225 Schwarzer, Alice 121 sex-gender-Dualismus 89, 107-8, 113, 115, 122 Sexualität 83, 97, 98, 109 Sexualkomponente 96, 98-99 Shomann, Yasemin 148-50 Simmel, Georg 28, 66, 71, 72, 86 Sinn 41, 48, 68 Sklaverei 195, 201 Soffwechsel, gesellschaftlicher 227 Solidarität 67 Sorgearbeit 106, 157, 173 soziale Bewegungen, neue 101, 213 soziale Frage 156, 205 Soziale, das 205, 213 Sozialforschung 196 empirische 11, 231 rekonstruktive 71 Sozialisation 73, 107 Sozialtheorie 16, 156, 185, 223 <?page no="268"?> 268 Index Soziologie 17, 21, 35, 38-41, 131, 195, 211, 215, 217, 219 US-amerikanische 132 Spencer, Herbert 39 Sprache 55, 79, 115-20, 213, 214, 215 Sprechakte 116 Staat 17, 18, 20, 159, 196, 210, 213, 217, 218 Stabilisierung 176 Stoller, Robert 107 Struktur 20, 42, 43, 44-47, 47, 89, 199 Struktur und Handlung 70, 74 Strukturalismus 47, 79, 185 Strukturierungstheorie 20, 76 Subjekt 37, 52, 55, 64, 104, 112, 213 Subjektivation 79 Subjektivierung 31, 74-87, 228 Subjektivismus 231 Synthesis des Sozialen 25, 37, 160 System 73, 76 Systemtheorie 15, 24, 35, 42, 225 Tatbestände, soziologische 67 Tatsache, soziale 22 Tausch 157, 160, 165 Taylor, Charles 203 Technik 51 Technologie 49, 53-55 Thatcher, Margaret 12 Thomas, William I. 132 Thoreau, Henry David 40 Tocqueville, Alexis de 20, 195-205, 211, 218, 220-21 Tocqueville-Effekt/ Tocqueville- Paradoxon 202 Tönnies, Ferdinand 21, 194 Totalitarismus 193, 203-4, 207, 209-11, 218, 221 Totalität 14, 193, 217, 231 Transformation 178-79, 202 Travestie 118 Tyrannei 201, 209, 218 Umverteilung 162, 177-83, 205 Umwelt 35, 41, 50, 58 Ungleichheit, soziale 32, 136-37, 147, 205, 228 Grundkategorien 155 Ungleichheitsproduktion 187 Unternehmerisches Selbst 84 Unterschiedskonstruktion 96-97 Unverfügbarkeit 191 Urbanisierung 38, 65, 70, 132 Vaerting, Mathilde 90, 92, 93-101, 120 Verdinglichung 179 Vergemeinschaftung 128, 131, 136 Vergesellschaftung 47-50, 59, 128, 158, 160, 195 Verhalten 90 Vernetzung 36, 54, 53-58, 62 Vernunft 47, 129 Vertragstheorie 18, 20 Verwerfung (abjection) 118, 119 Wachstum 28, 42, 49, 87, 209, 226 Walzer, Michael 30 <?page no="269"?> Index 269 Wandel 199 sozialer 26 Ware 157 Warenfetisch 163, 165 Watzlawick, Paul 90 Weber, Max 17, 19, 20, 22, 23, 30, 40, 66, 68-70, 71, 72, 86, 126-30, 155, 159, 187, 188, 226, 228 Welt 195, 206, 214 Wert 157 Werte 14, 197 Wertewandel 73 Wertrationalität 69 Werturteile 23-24, 66 Werturteilsfreiheit 24 Wettbewerb 228 Wetterer, Angelika 113 Widersprüche, soziale 226 Wissen 75, 78, 82, 215 Wissensproduktion 91, 98 Wissenschaft 11, 18, 20, 23, 36, 52, 58, 68 Wissenschaftskritik, feministische 96, 100-101 Wohlfahrtsstaat 12 Wolin, Sheldon 196, 203 Wrangell, Margarethe von 94 Zeitdiagnose 16, 179, 185, 192, 203, 212, 220, 223, 224-25 Zivilgesellschaft 197 Zivilisationsprozess 21, 81 Slavoj 211 Zwang 119 Zweckrationalität 69 <?page no="271"?> ,! 7ID8C5-cfceeb! ISBN 978-3-8252-5244-1 Hartmut Rosa Jörg Oberthür u.a. Gesellschaftstheorie Gesellschaft ist ein komplexes und sich historisch veränderndes Gebilde. Die vorliegende Einführung macht es theoretisch und begrifflich fassbar, indem sie von konkreten sozialen Problemfeldern ausgeht und daran die unterschiedlichen sozial- und geisteswissenschaftlichen Positionen und Herangehensweisen deutlich werden lässt. Auf diese Weise wird die Vielfalt gesellschaftstheoretischer Ansätze in ihrer historischen Entwicklung und ihrer gegenwartsbezogenen Relevanz erkennbar. Dabei werden sowohl die Interdisziplinarität der Zugänge als auch die Möglichkeiten einer kritischen bzw. beurteilenden Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse berücksichtigt und diskutiert. Soziologie Gesellschaftstheorie Rosa | Oberthür u. a. Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52441 Rosa_M-5244.indd 1 52441 Rosa_M-5244.indd 1 16.01.20 14: 38 16.01.20 14: 38
