Die UNO
Aufgaben und Arbeitsweisen
1125
2019
978-3-8385-5292-7
978-3-8252-5292-2
UTB
Dr. Reinhard Wesel
Die Kooperation der Staaten bei transnationalen und globalen Problemen - Frieden/Sicherheit, Menschenrechte, Weltwirtschaft, Entwicklung, Umwelt/Klima - ist orientiert am Mandat der UNO: Die "Charta der Vereinten Nationen" legt als Kernstück des Völkerrechts seit 1945 nahezu unverändert die Pflichten und Rechte der Organisation und ihrer nun 193 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten fest, bestimmt also Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO und regelt ihre Funktionsweise. Über 75 Jahre haben sich jedoch die Arbeitsweisen und Methoden der multilateralen Diplomatie ausdifferenziert. Das Handbuch
- erklärt in überblickenden und zugleich gewichtenden Darstellungen die Grundlagen und oft schwer durchschaubaren Regelungen internationaler Zusammenarbeit in der und durch die UNO,
- veranschaulicht das nötige Informationswissen mittels zahlreicher Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/Contra-Listen,
- gibt strukturierende Orientierung, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können
- und bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung an.
<?page no="0"?> Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen Die UNO Wesel Die Kooperation der Staaten bei transnationalen und globalen Problemen - Frieden/ Sicherheit, Menschenrechte, Weltwirtschaft, Entwicklung, Umwelt/ Klima - ist orientiert am Mandat der UNO: Die „Charta der Vereinten Nationen“ legt als Kernstück des Völkerrechts seit 1945 nahezu unverändert die Pflichten und Rechte der Organisation und ihrer nun 193 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten fest, bestimmt also Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO und regelt ihre Funktionsweise. Über 75 Jahre haben sich jedoch die Arbeitsweisen und Methoden der multilateralen Diplomatie ausdifferenziert. Das Handbuch ● erklärt in überblickenden und zugleich gewichtenden Darstellungen die Grundlagen und oft schwer durchschaubaren Regelungen internationaler Zusammenarbeit in der und durch die UNO, ● veranschaulicht das nötige Informationswissen mittels zahlreicher Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/ Contra-Listen, ● gibt strukturierende Orientierung, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können ● und bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung an. Politikwissenschaft ,! 7ID8C5-cfcjcc! ISBN 978-3-8252-5292-2 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52922 Wesel_L-5292.indd 1 28.10.19 13: 57 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 0000 u t b 5 2 9 2 <?page no="2"?> Dr. Reinhard Wesel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Magdeburg und Betreuer der MUN-Gruppe der Universitäten Magdeburg und München. <?page no="3"?> Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen UVK Verlag · München <?page no="4"?> Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http: / / dnb.ddb.de abrufbar. © UVK Verlag München 2019 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Nymphenburger Straße 48 · 80335 München Internet: www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Internet: www.narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck UTB -Nr. 5292 ISBN 978-3-8252-5292-2 (Print) ISBN 978-3-8385-5292-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5292-2 (ePub) <?page no="5"?> Inhalt 1. Einführung: „Die UNO“ 7 1.1 Was ist „die UNO“? 7 1.2 Zu diesem Buch 11 2. Bedingungen internationaler Kooperation 15 2.1 Dilemmata und Optionen 15 2.2 Multilateralismus 23 2.3 Internationale Organisationen 27 2.4 Völkerrecht 34 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ 39 3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg 39 3.2 Entstehung und Gründung im Zweiten Weltkrieg 44 3.3 Entwicklung seit 1945 51 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben 61 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ 73 5.1 Die Hauptorgane … 73 5.2 … und deren untergeordnete Neben- und Spezialorgane … 75 5.3 … zusammen mit den selbständigen Sonderorganisationen … 78 5.4 … bilden das „System“ der UNO 81 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO 83 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane 83 6.1.1 Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA) 86 6.1.2 Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC) 94 6.1.3 Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC) 102 6.1.4 Treuhandrat / Trusteeship Council 105 6.1.5 Internationaler Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ) 106 6.1.6 Sekretariat [bzw. Generalsekretär] / Secretariat [or Secretary General (SG)] 107 6.2 Machtverteilung in der UNO 111 7. Arbeitsweisen und Methoden 113 7.1 Rhetorik und Verhandlung 115 7.2 Resolutionen und Verträge 122 7.3 Berichte und Konferenzen 126 <?page no="6"?> 6 Inhalt 7.4 Gruppenbildung 134 7.5 Konsens und Ritualität 140 7.6 Inkrementelles „Durchwursteln“ 144 7.7 Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs 145 7.8 Öffentlichkeitsarbeit 147 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung 149 8. Arbeitsbereiche der UNO 157 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) 157 8.1.1 Rüstungskontrolle und Abrüstung 161 8.1.2 Konfliktbewältigung und Friedenssicherung 167 8.1.3 „Humanitäre Intervention“ und „Schutzverantwortung“ 190 8.2 Menschenrechte (human rights) 196 8.2.1 Anspruch der Menschenrechte 198 8.2.2 Abkommen und Mechanismen 201 8.2.3 Internationale Strafgerichtsbarkeit 214 8.3 Weltwirtschaft (world economy) 216 8.3.1 Stabilität der Währungen 220 8.3.2 Freiheit und Regelung des internationalen Handels 221 8.3.3 Globale Finanz- und Wirtschaftspolitik? 224 8.4 Entwicklung (development) 226 8.4.1 Wirtschaftliche, soziale und „menschliche“ Entwicklung 229 8.4.2 Agenturen und Methoden multilateraler Entwicklungspolitik 233 8.4.3 (Welt-)Ernährung 243 8.5 Umwelt und Klima (environment) 249 8.5.1 Probleme und Konflikte 250 8.5.2 Institutionen und Verfahren 252 8.5.3 Umwelt-, Natur-, Arten- und Ressourcenschutz 256 8.5.4 Klima-Erwärmung 259 8.6 diverse spezielle Aufgaben und Arbeitsbereiche … 265 9. Der Wert der Vereinten Nationen 269 9.1 Kritik und Reform: Optionen 271 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge 274 9.3 Erwartungen und Hoffnungen 283 10. Literatur 287 <?page no="7"?> 1. Einführung: „Die UNO“ „Die UNO“ gibt es nicht! Im Geist von des Sophisten Gorgias’ Essay Über das Nicht-Seiende ist über sie zu sagen: 1. die UNO existiert nicht; 2. wenn die UNO existieren würde, wäre sie nicht begreiflich; 3. wenn die UNO begreiflich wäre, würde sie nicht zu vermitteln sein; 4. wenn die UNO vermittelbar wäre, würden dies kein Fernsehsender und erst recht kein Blog bringen. 1.1 Was ist „die UNO“? Was ist „die UNO“ - und was nicht? Erst einmal muss diese Frage geklärt werden. Dabei helfen kann eine klassische Antwort auf die verwandte Frage: Wozu gibt es denn die Vereinten Nationen - in diesem Buch meist nur „UNO“ genannt - überhaupt? This organization is created to prevent you from going to hell. It isn’t created to take you to heaven. Diese Organisation wurde geschaffen, um Euch davor zu bewahren, zur Hölle zu fahren. Sie wurde nicht gemacht, um Euch in den Himmel zu bringen. Henry Cabot Lodge Jr., amerikanischer Politiker und 1953-1960 Ständiger Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen Der Bezug auf Himmel und Hölle ist so abwegig nicht, wenn es um die Vereinten Nationen geht. Keine große politische Institution außer der katholischen Kirche wurde je mit so vielen Heilshoffnungen und Verwünschungen bedacht wie diese erste funktionierende „Weltorganisation“. Schon ihr erfolgloser Vorgänger, der Völkerbund, war an seinen realen Möglichkeiten und Machtmitteln gemessen völlig überfrachtet worden mit Erwartungen, die er von vornherein nicht erfüllen konnte. Der Völkerbund war ein Produkt des Ersten Weltkrieges, die Vereinten Nationen sind im Zweiten Weltkrieg aus ihm heraus entstanden. Aus der verstörenden Erfahrung dieses Krieges wuchsen ihr früh als Garantin des Weltfriedens und Agentin des allgemeinen Fortschritts der Menschheit symbolpolitische Funktionen zu, die mehr zu einem Bittgottesdienst passen als zu einem kontrollierten Mechanismus zum Ausgleich nationaler Interessen oder zur zwischenstaatlichen Konfliktaustragung. Das mag zum einen in naiv idealistischer Friedenssehnsucht gründen oder zum andern scheinheilig zu frommen Ersatzhandlungen und zu zynischer <?page no="8"?> 8 1. Einführung: „Die UNO“ Manipulation funktionalisiert worden sein - immer noch glauben viel mehr Menschen - auch Journalisten und Politiker - über die UNO als dass sie wissen. Die gängigen Vorstellungen über „die UNO“ in der Öffentlichkeit schwanken zwischen ▶ der vagen, aber zählebigen Idee oder kontra-faktischen Meinung, sie sei eine Art „Weltregierung“, und ▶ der abgeklärt-skeptischen Einsicht, sie sei lediglich eine institutionalisierte „permanente Botschafterkonferenz“. Oft werden überzogene Erwartungen an „die UNO“ zumindest implizit gehegt und gepflegt: Sie soll jedes irgendwie denkbare politische, soziale und kulturelle Problem erkennen, klären, aufgreifen und lösen. Weil das fast so oft nicht so recht funktioniert, erhebt sich leicht enttäuschte Pauschalkritik - und über das „Versagen der UNO“ wird in der Medien-Öffentlichkeit meist sehr undifferenziert und weit entfernt von der Materie schwadroniert und geleitartikelt; zum Beispiel ▶ wird „der UNO“ gerne vorgeworfen, sie sei untätig, unfähig und ineffizient - und das auch von denselben Leuten, die ungeachtet möglichen besseren Wissens irreale Erwartungen geschürt haben; ▶ ist häufig in den USA, aber auch bei uns der pauschale Vorwurf zu hören, „die UNO“ sei zu teuer und letztlich Verschwendung - dagegen hilft auch der Hinweis wenig, dass pro Kopf der Weltbevölkerung für das ganze UN-System jährlich weniger als 2-US-Dollar aufgewendet werden, für Rüstung aber weit über 150-US-Dollar; ▶ beschwören meinungsstarke Gegner multilateraler Politik, wieder besonders in den USA, gerne die Gefahren, die von „der UNO“ als einer Weltverschwörung oder gar einer sich Allmacht anmaßenden „Weltregierung“ ausgingen; ▶ versteht die bei uns gängigere weniger absurde Variante „die UNO“ als hoffnungsvolles Weltregierungs-Projekt, was aber als solches dann versagt und enttäuscht. „Die UNO“ muss entmystifziert werden gemäß der banalen Einsicht, dass sie weder himmlisch noch höllisch, sondern einfach weltlich, d. h. politisch funktioniert. Man muss unterscheiden - und sich entscheiden - zwischen ▶ der wohlfeilen Unart, ohne hemmende Rücksicht auf Sachverhalte über „die UNO“ zu reden, um Weltsichten und Projektionen auszudrücken, die mit der konkreten internationalen Organisation nichts oder nicht viel zu tun haben, und ▶ dem anspruchsvollen Versuch, die UNO als komplexes Phänomen und vielschichtigen Prozess zu betrachten und zu verstehen. <?page no="9"?> 9 1.1 Was ist „die UNO“? Beispiele von Missverständnissen: „Die UNO“ als Welt-Instanz oder Sündenbock? Süddeutsche Zeitung vom 13.09.1999, Leserbrief zur Kirchensteuer (Hervorhebungen R.W.): „Diese Situation ist so, als gäbe es für einige Bürger nicht die Gleichheit vor dem Gesetz und als existiere nicht die Rechtsschutzpflicht des Staates. Diese ist unter anderem auch in der UN-Charta festgelegt und damit höher im Rang als die entsprechenden Kirchenartikel des Grundgesetzes.“ ▶ Ein Kämpfer gegen die Kirchenmacht ruft die Autorität der Charta der höheren Instanz UNO an. Süddeutsche Zeitung vom 22.02.2018, Kommentar zum Syrien-Krieg: Unter der Überschrift „Das brutale Versagen der Vereinten Nationen“ im Text: „Während Menschen von Bomben zerrissen werden, blockiert die Vetomacht Russland den UN-Sicherheitsrat. Doch die Weltgemeinschaft ist nicht so ohnmächtig wie sie tut.“ ▶ Das passt nicht zusammen: der Vorwurf des „brutalen Versagen“ und die Feststellung der Verweigerung einer „Vetomacht“, die ja gerade dadurch definiert ist, dass sie „die UNO“ blockieren kann; die angesprochene nicht ohnmächtige Handlungsalternative ist fiktiv. Was also ist die UNO? Die UNO ist historisch gesehen ein mühsam und nur dank vieler fragwürdiger Kompromisse ausgehandeltes Kriegsergebnis; die schlimmsten Massenmörder des 20. Jahrhunderts waren auf ihre Weise Paten der Vereinten Nationen: Hitler als Kriegsfeind ihrer Allianz, Stalin als Alliierter und Mitgründer. Der politische Prozess der Ausarbeitung und Aushandlung der Charta der Vereinten Nationen ▶ verarbeiteten die Erfahrungen mit dem machtlosen Völkerbund, ▶ spiegelten die internationale Machtstruktur der Zeit des endenden Krieges und deren Widersprüche wider, ▶ reagierten aber auch schon auf die sich herausbildende Machtkonstellation der Ost-West-Konfrontation („Kalter Krieg“). Viele der heute auffälligen Eigentümlichkeiten der UNO werden aus widersprüchlichen Zwangslagen zur Zeit ihrer Gründung verständlicher, etwa das „Veto-Recht“ einiger wichtiger Staaten (siehe 3.2). Die Struktur der modernen Staatenwelt seit dem 17. Jahrhundert produzierte weitere Zwänge wie den fundamentalen Widerspruch zwischen dem Prinzip der unantastbaren Souveränität des Staates und dem immer stärker gewordenen Anspruch auf ein Recht der „Staatengemeinschaft“ (oder gar der „Völkerfamilie“) auf Intervention in die politischen Verhältnisse eines Mitgliedstaates. Von der Geschichte belehrt wird darzustellen sein, <?page no="10"?> 10 1. Einführung: „Die UNO“ ▶ dass es „die [eine] UNO“ nicht gibt, sondern allenfalls ein komplex differenziertes und vielschichtig verflochtenes, aber auch widersprüchliches „System“ der Vereinten Nationen auf der Grundlage der vielfach veralteten, aber auf ihre Weise gut funktionierenden Charta der Vereinten Nationen; ▶ wer denn wer ist in dieser undurchsichtigen UNO und wer was zu sagen hat, also wer die in ihr und durch sie handelnden Akteure und welche die von ausschlaggebender Bedeutung sind - und wer allenfalls am Rande mitspielt oder lediglich als schmückendes Beiwerk dienen darf; ▶ was die UNO im Gegensatz zu manchen landläufigen Meinungen nicht sein darf und nicht leisten kann; ▶ als was sie jedoch analytisch zu konzipieren wie sie zu verstehen ist, ▶ was daraufhin zu Recht und realistisch von ihr zu erwarten ist ▶ und welche Arbeitsweise(n) und Methoden in der UNO konkret genutzt werden. „Die UNO“ ist konkret vorhanden und aktiv immer nur jeweils als ein Gremium von Vertretern von Regierungen von Staaten - was nicht in jedem Fall gleichbedeutend ist mit Vertretern von Ländern und Völkern. Gegen zu blauäugigen Idealismus ist daran zu erinnern, dass in den meisten Mitgliedstaaten Politiker und Diplomaten nur erfolgreich Karriere machen, wenn sie persönliche Qualitäten wie Konfliktbereitschaft, Machtbewusstsein, Skrupellosigkeit oder gar Brutalität nutzen können - wieso sollten sie sich friedlich und hilfsbereit zeigen, nur weil sie für ihr Land in der UNO sitzen? Ungeachtet der allgegenwärtigen „Globalisierung“ ist die UNO keine globale politische Institution, denn es gibt dafür keine tragende globale politische Struktur (eines Weltstaates? ) oder gar eine globale Legitimation (durch eine Weltvolksversammlung? ); aber die inter-gouvernementale UNO ist eine multilateral-universale Institution (siehe 2.2), da nun nahezu alle Staaten der Erde in ihr mitarbeiten. Wenn die Charta der Vereinten Nationen nicht eine Verfassung eines Weltstaates, die Generalversammlung nicht ein Weltparlament, der Sicherheitsrat nicht eine Weltregierung oder der Generalsekretär nicht ein Weltpräsident ist, dann passiert in der UNO auch nicht eine Welt-Gesetzgebung: Keine weltverfassungsgebende Versammlung von Vertretern eines Weltvolkes, kein Weltparlament oder ein anderer legitimer Gesetzgeber sind irgendwo in Sicht, nicht einmal als virtuelles Netzwerk der Zivilgesellschaft zur Fundierung ihrer „global governance“. Weder „die UNO“ noch eines ihrer Organe hat die Legitimation für Legislativfunktionen; diese bleiben den (mehr oder weniger) legitimen Gesetzgebungs-Instanzen in den Mitgliedsländern vorbehalten. Einer spezifischen Ausnahme könnte künftig größere Bedeutung zuwachsen: In bestimmten Situationen kann der UNO-Sicherheitsrat für die Regierungen aller Mitgliedstaaten rechtlich verbindliche Entscheidungen für den jeweiligen Einzelfall treffen; nach den Anschlägen vom 11.September 2001 hat er dies erstmals nicht nur auf einen Einzelfall beschränkt ausgeübt, sondern beansprucht, in einer Resolution abstrakte Normen als verbindlich zu formulieren (S/ RES/ 1373 (2001)). Ob sich auf diese höchst indirekte Weise eine legitime globale Regelungskompetenz konstruieren lässt, ist stark zu bezweifeln - aber ein Ansatzpunkt scheint gegeben. <?page no="11"?> 11 1.2 Zu diesem Buch Sicherlich ist die UNO keine Ausgeburt des Weltgeistes mit ordnungsstiftendem Auftrag, aber wie wäre sie denn griffig zu charakterisieren? Sinnvoller als die Alternative Weltregierung versus Botschafterkonferenz ist eine Einordnung nach den möglichen Funktionen von internationalen Organisationen (vgl. 2.3); von der UNO wäre zu erwarten, dass sie ▶ als politisches Instrument der Interessendurchsetzung von Hegemonialmächten dient, ▶ das Gesprächs-Forum oder die Kampf-Arena für ein international-multilaterales Verhandlungssystem für die kooperative Bearbeitung globaler Probleme bietet, ▶ als ein entstehender welt(bundes)staatlicher Akteur der Souveränität der alten Nationalstaaten immer engere Grenzen zu setzt, um sie letztlich aufzulösen. Diese Leistungen sind sinnvollerweise als emergent aufeinander aufbauende Schichten, nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen. Die erste Möglichkeit ist unbefriedigend für Nicht-Supermächte, die dritte größtenteils schlechte Political-Science-Fiction; die interessante mittlere Schicht der Funktion des Verhandlungssystems kann noch differenziert werden: Internationale Organisationen ▶ besorgen und bewerten Informationen und beobachten und analysieren Entwicklungen, ▶ bündeln Einzelinteressen zu denen von Gruppen oder gar zum Gemeininteresse, ▶ verschaffen schwächeren Akteuren mehr Einfluss und stärkeren mehr Legitimität, ▶ organisieren Meinungsaustausch, Verhandlungen und Entscheidungen, ▶ entwickeln Standards, Regeln und Normen und damit das Völkerrecht fort, ▶ schaffen und mobilisieren Öffentlichkeit. 1.2 Zu diesem Buch Was in diesem Buch beschrieben wird, ist alles auch irgendwo und irgendwie im Internet zu finden; Sachinformationen aller Art sind dort zahlreicher und umfänglicher, spezifischer und aktueller gespeichert und leicht zu finden - z. B. eine nach Beitrittsjahren geordnete Liste der Mitgliedstaaten (www.unric.org/ de/ aufbau-der-uno/ 89) oder generell Informationen der UNO über sich selbst (www.un.org) wie das große offizielle Organigramm der UNO, das kaum noch in ein Buch passt (www.un.org/ depts/ german/ orgastruktur/ dpi2470rev4-deu. pdf). Zu den Arbeitsgebieten der UNO (siehe 8) sind digital unübersehbar viele Informationen und Meinungen zu finden. Damit kann ein schmaler Band, der sich auch nicht wie von selbst stetig auf den neuesten Stand bringt, nicht konkurrieren. Was aber hier geboten werden kann, ist so im Netz nicht zu finden, nämlich ein Versuch, dieses riesige Stoffgebiet mit seinen unübersehbaren Elementen und Regelungen ▶ nicht nur gewichtet zusammenfassend im Überblick darzustellen, ▶ sondern auch strukturierende Orientierung zu geben, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können, ▶ und ferner Interpretationen anzubieten, wie dies alles verstanden und beurteilt werden könnte. <?page no="12"?> 12 1. Einführung: „Die UNO“ Was in der reißenden Informationsflut meist untergeht, ist ein vergleichsweise überschaubarer Text, der viel zu wenig gelesen wird - obwohl er als wichtigstes Dokument des geltenden Völkerrechts die UNO und ihre Arbeit begründet und regelt; seine rechtliche Verbindlichkeit ergibt sich daraus, dass er der internationale Vertrag ist, den inzwischen fast alle Staaten der Welt unterzeichnet und ratifiziert haben: die „Charta der Vereinten Nationen“ („United Nations Charter“), die gegenüber den Tausenden anderer Verträge zwischen Staaten vorrangig ist (siehe 4). Dieser zentrale Text wird hier zwar nicht wiedergegeben (zu finden unter www. unric.org/ de/ charta bzw. www.un.org/ en/ charter-united-nations), aber die Kapitel 4 bis 8 dieses Bandes sind in Aufbau und Darstellung eng an ihm orientiert; immer wieder werden die Bestimmungen der Charta zu beachten sein - gerade da, wo sich die reale Praxis an ihr vorbei entwickelt hat oder zu haben scheint. Die folgenden Kapitel bieten: 2 Bedingungen internationaler Kooperation: Welcher Art von Problemen und Dilemmata stellen sich ihr, welche Optionen hat sie? Was ist Multilateralismus, wozu und wie funktionieren multilaterale internationale Organisationen? Was sind dafür wichtige Prinzipien des Völkerrechts? 3 Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“: frühere Ideen für eine internationale Friedensorganisation; internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg, besonders der Völkerbund; Entstehung und Gründung der UNO aus dem und im Zweiten Weltkrieg; ihre Entwicklung seit 1945. 4 Das „Mandat“ der UNO: Ziele und Grundsätze, Aufgaben und Instrumente gemäß der Charta der Vereinten Nationen; allgemeine Erläuterungen zu Struktur, Schwerpunkten und Dauerhaftigkeit der Charta. 5 Struktur und Organisation der UNO und des UN-„Systems“: Wie die Hauptorgane und deren untergeordnete Neben- und Spezialorgane zusammen mit den selbständigen Sonderorganisationen das „System“ der UNO bilden. 6 Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO: Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane bestimmen deren Einfluss und Möglichkeiten; Bedeutung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. 7 Arbeitsweisen und Methoden der UNO: Diplomatische Arbeitsweisen und Instrumente von oft recht speziellem multilateralem Charakter (Rhetorik und Verhandlung, Resolutionen und Verträge, Berichte und Konferenzen, Gruppenbildung, Konsens und Ritualität, inkrementelles „Durchwursteln“, Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs, Öffentlichkeitsarbeit sowie Finanzierung/ Personal/ Verwaltung). 8 Arbeitsbereiche der UNO: Probleme (Interessen und Konflikte, Kooperation und Prinzipien) und Instrumente (Rechtsgrundlagen und Institutionen, Programme und Mechanismen) der stofflich kaum mehr überschaubaren Arbeitsfelder (Frieden und Sicherheit; Menschenrechte; Wirtschaft und Währung; Entwicklung; Umwelt und Klima; u. a.). 9 Der Wert der Vereinten Nationen: Leistungen und Erfolge, Kritik und Vorwürfe, Reform-Optionen - was sind realistische Erwartungen und gibt es begründete Hoffnungen? <?page no="13"?> 13 1.2 Zu diesem Buch Um die Chancen und Leistungen multilateraler Kooperation generell und speziell der UNO angemessen einschätzen zu können, ist es ratsam, sich frei zu machen von einfachen Antworten auf falsch gestellte Fragen und von eingängigen Vorausurteilen - in der internationalen Politik ist halt alles noch ein wenig komplizierter: (1) das Bemühen um sprachliche Exaktheit, (2) der Respekt vor völkerrechtlichen Regeln und (3) die Bereitschaft zu politischem Realitätsbewusstsein sind einfach nötig, wenn man „die UNO“ verstehen will. Beispiel eines Missverständnisses: Der angebliche „UNO-Migrationspakt“ Als 2018 heftig über den angeblichen „UNO-Migrationspakt“ (siehe 8.2.2) gestritten wurde, ist das Thema sprachlich, politisch und völkerrechtlich meist weit verfehlt worden: (1) Die offizielle Bezeichnung in der Arbeitssprache Englisch ist „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“; das Wort „compact“ ist zwar nicht präzise, aber im internationalen Kontext im Sinne einer informellen Übereinkunft gemeint. Auf Deutsch schwirrten ungenaue Benennungen herum wie „UNO“-/ „UN“-‘/ „VN-Migrationspakt“ oder sogar der doppelt irreführende „Weltmigrationsvertrag“. Laut dem Übersetzungsdienst der UNO heißt der Text ins Deutsche übersetzt „Globaler Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“; sachlich falsch ist die Variante „Globaler Vertrag für […] Migration“, weil: (2) Anders als die Genfer Flüchtlingskonvention ist der sog. „Pakt“ kein verbindlich rechtsetzender Vertrag, sondern eine politische (Absichts-)Erklärung, mit der Staaten sich rhetorisch selbst verpflichten, durch die sie aber zu nichts gezwungen sind; das souveräne Recht jeden Staates, seine Migrationspolitik im Rahmen des geltenden Völkerrechts selbst zu bestimmen, wird im Text ausdrücklich betont. (3) Rechtsgerichtete populistische Propaganda oder andersartig motivierte Gegner internationaler Kooperation nützen das Fehlverständnis des „Pakts“ als gegenseitig bindenden Vertrag aus, indem sie unterstellen, „die UNO“ maße sich nun an, den Staaten vorzuschreiben, wie sie mit Migration umzugehen haben. Schließlich sind noch sprachliche und technische Erläuterungen nötig: ▶ Zur Verwendung englischer Bezeichnungen und Abkürzungen: Die Sprache internationaler Organisation (siehe 7.1) ist inzwischen praktisch fast ausschließlich Englisch; die meisten Dokumente und wichtige Texte zirkulieren nur noch in der englischen Version, auch wenn sie in eine andere offizielle Arbeitssprache der UNO (Arabisch, Chinesisch, Französisch, Russisch, Spanisch) übersetzt sind - unsere „Globalisierung“ zeigte sich rasch in der Sprache. Um zu viel „Denglisch“ zu vermeiden, werden hier die deutschen Bezeichnungen verwendet, sofern sie allgemein eingeführt und verständlich sind; die englischen Bezeichnungen und Termini werden meist angefügt. Deutsche Abkürzungen werden immer seltener gebraucht, sofern sie es denn überhaupt gibt. Keine adäquate <?page no="14"?> 14 1. Einführung: „Die UNO“ deutsche Abkürzung gibt es z. B. für die Internationale Arbeitsorganisation (International Labor Organisation, ILO); der Internationale Währungsfond (International Monetary Fund, IMF) wird oft noch mit „IWF“ abgekürzt; die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for Reconstruction and Development, IBRD) ist unter dem Kürzel „Weltbank“ bekannt, ähnlich setzte sich im Englischen „World Bank“ statt „International Bank“ durch. ▶ Viele nötige Fachtermini sind nicht eindeutig definiert, was besonders verwirren kann, wenn es sich auch um ein Wort unserer Alltagssprache handelt; die Bedeutung wird dann möglichst im Kontext erläutert. Schon das gängige Wort „international“ führt zu Missverständnissen; im engeren Sinne bedeutet es zwischenstaatlich, gemeint ist aber oft nur intergouvernemental (zwischen Regierungen); im weiteren Sinne ist es zu verstehen als grenzübergreifend oder grenzüberschreitend. Mit „transnational“ sind Aktivitäten gemeint, die durch Staatsgrenzen von diesseits nach jenseits hindurch gehen wie z. B. wirtschaftlicher Verkehr oder das Surfen im Internet. Mit „supernational“ oder auch „supranational“ dagegen sind Instanzen und Mechanismen gemeint, die über der Ebene der Nationalstaaten funktionieren und auf diese zugreifen und auch in diese eingreifen können. Hier soll „Internationale Organisationen“ nur die intergouvernementalen Staaten-Organisationen bezeichnen, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt. Für „Non-governmental Organizations“ (NGOs)“ hat sich die direkte Übersetzung „Nicht-Regierungsorganisationen“ eingeschlichen, obwohl eigentlich eher „nichtstaatliche Organisationen“ gemeint sind; das englische „governmental“ bezeichnet nicht nur die Regierung, sondern den staatlichen Bereich insgesamt, so wie „intergovernmental“ auch Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen meint. ▶ Offizielle Dokumente aus dem UN-System werden nach dessen Regeln zitiert, z. B. die erwähnte Resolution S/ RES/ 1373 (2001) = Sicherheitsrat/ Resolution/ laufende Nr./ (Jahr) oder die „Uniting for Peace“-Resolution A/ RES/ 377(V) = Generalversammlung/ Resolution/ laufende Nr./ (Sitzungsperiode). ▶ Und zuletzt noch zu Zitaten und Literaturangaben: Bücher und Aufsätze, die der Darstellung zugrunde liegen oder Belegstellen bieten, sind in der Bibliographie am Ende des Bandes (siehe 10) zu finden. Nach den einzelnen Kapiteln oder größeren Abschnitten wird zum jeweiligen Thema auf die wichtigste Literatur hingewiesen, zwangsläufig nur in einer überschaubaren Auswahl. Literaturverweis zu 1.: Allgemeine (und „klassische“) Einführungen zur UNO Berridge/ Jennings 1985; Boyd 1967; Brühl/ Rosert 2014; Claude 1956/ 1971; Gareis/ Varwick 2014; Hüfner 1991/ 1992; Karns/ Mingst 2018; Opitz 2002; Rittberger/ Mogler/ Zangl 1997; Schaepler 1994; Scheuermann 2014; Smith 2006; Unser 2004; Volger 2007, 2010; Wesel 2012; Wolf 2010; Varwick 2014 <?page no="15"?> 15 2.1 Dilemmata und Optionen 2. Bedingungen internationaler Kooperation Das Leben der meisten Menschen auf der Welt und ihrer künftigen Nachkommen ist existentiell oder qualitativ bedroht, obwohl die Menschheit noch nie soviel wissenschaftliches, technisches, infrastrukturelles und materielles Potential hatte wie heute. Die Entwicklung der Waffentechnik, der schadstoffausstoßenden Industrieproduktion oder der Kommunikationsmedien nahm auf Staatsgrenzen wenig Rücksicht; technologischer Fortschritt und freier Handel machen die Welt zu einem einzigen Markt für Güter und Dienstleistungen, aber auch zu einem gemeinsamen Raum für Gefahren und Schäden. Die neueren Probleme von weltweiter Art sind nicht mehr auf das Territorium eines Staates beschränkt oder gar im Rahmen der rechtlichen und politischen Kompetenzen einer Staatsregierung zu lösen, sondern wären nur durch die konstruktive Beteiligung mehrerer oder sogar aller Staaten zu bewältigen: Abrüstung und Friedenswahrung, weltwirtschaftliche Stabilität und Kampf gegen Armut (und nicht gegen die Armen), Arten-/ Umwelt-/ Klimaschutz in politischer Nachhaltigkeit, Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Abwehr von Terrorismus - oder positiv formuliert: Durchsetzung und Sicherung von demokratischen und menschenrechtlichen Standards. Völlig klar scheint also zu sein, dass angesichts dieser Herausforderungen eine die Grenzen von Herrschaftsgebieten übergreifende Zusammenarbeit für Frieden und Wohlstand nötig ist; das ist aber politisch - noch? - nicht realistisch. Denn internationale Kooperation ist keineswegs selbstverständlich, sondern wäre erst einmal jeweils in der Sache wie hinsichtlich ihrer politischen Erfolgsaussichten generell zu begründen - und das vor allem aus der Perspektive der wenigen starken und mächtigen Staaten, wie die Entstehungsgeschichte der UNO gezeigt hat (siehe 3.2). 2.1 Dilemmata und Optionen Die grundsätzliche Frage ist: Warum sollte ein Staat mit anderen Staaten kooperieren, statt einfach zu tun, was in seiner Macht steht? Im Einzelfall ist immer zu fragen: Lohnt sich Kooperation im Sinne einer rationalen Prüfung des Verhältnisses von Kosten und Nutzen? Für Regierungen wäre es unverantwortlich, dieser zweckrationalen Kalkulation auszuweichen in die wertrationale Hoffnung, dass auch Staaten nett zueinander sein könnten und sollten. Der alte Satz „si vis pacem para bellum“ („Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“) wird vielleicht keine hohen Zustimmungswerte erreichen, bleibt aber logisch zwingend: Solange man nicht sicher sein kann, dass nicht unter all den Guten ein Böser Übles plant, sollte man ein Mittel gegen das Üble parat haben. Aber: Die zwingende Logik der Realität dieses „Sicherheitsdilemmas“ wird zur fixen Idee und zum zerstörerischen Zwangsverhalten, wenn sie nicht politisch eingebettet wird in die komplexen Realitäten der interdependenten Welt. Die Einsicht in die Interdependenz - also die vielseitige Bestimmtheit und gegenseitige Abhängigkeit von internationaler Politik und Wirtschaft - ist unter den Regierungen schon weit verbreitet; aber die Folgerung, dass deswegen Kooperation nötig sei, kann nur auf ihrem <?page no="16"?> 16 2. Bedingungen internationaler Kooperation Vertrauen aufbauen, dass die Bereitschaft zur Kooperation sich lohne, aber nicht von den Kooperationspartnern oder auch von Unbeteiligten ausgenutzt werde. Ausreichende und verlässliche Anreize dafür kann nur eine starke Hegemonialmacht gewährleisten - solange sie starke Hegemonialmacht bleibt - oder ein kollektives System allseitiger Verpflichtungen und Regelungen, die auch real durchgesetzt werden können. Damit in einer internationalen Welt souveräner Staaten - also ohne eine übergeordnete supranationale Zentralmacht mit allgemeinem Gewaltmonopol - ein solches System funktionieren kann, müssen alle politisch, militärisch und wirtschaftlich starken Staaten eingebunden werden: insbesondere für die mächtigen Regierungen muss die Kosten/ Nutzen-Rechnung positiv für Kooperation aufgehen, damit sie nicht aus eigener Machtvollkommenheit sich durchzusetzen versuchen. Die wichtigste Voraussetzung für potentielle Kooperation ist das Verständnis, dass sie auf Gegenseitigkeit orientiert eben kein Nullsummenspiel sein muss, in dem eine Partei nur das gewinnen kann was eine andere verliert, sondern dass vielmehr der Verzicht auf destruktiven Konfliktaustrag zugunsten des Einsatzes konstruktiver Problembewältigung in einem Variablesummenspiel womöglich sogar ‚den zu verteilenden Kuchen größer machen’ kann zugunsten aller, auch der relativ benachteiligten Parteien. Die wesentlichen Methoden von effektiver Kooperation sind Kommunikation und darauf aufbauende Vertrauensbildung. Gelingen Kommunikation und Vertrauen, entstehen fragile aber erfreuliche Chancen, dass die Praxis der internationalen Zusammenarbeit über geraume Zeit zu einer Zivilisierung des Verhaltens und Handelns interessenfixierter und/ oder machtbesessener Regierungen führen könnte - hinsichtlich der diplomatischen Umgangsformen, der Normen kooperativer Problemlösungen oder gar der zielbestimmenden Werte. Das klassische Gedankenexperiment des „Gefangenen-Dilemmas“ ▶ verdeutlicht, wie ohne Kommunikation eine Situation den Handelnden ausweglos erscheinen kann, ▶ stützt aber die These, dass es sich für die Handelnden langfristig lohnt zu kooperieren, weil sie sonst Gefahr laufen, durch das Handeln anderer schlechter gestellt zu werden. Das spieltheoretische „Gefangenendilemma“ Zwei Verdächtigen A und B wird bewaffneter Raub vorgeworfen, aber zwingende Beweise fehlen. Beide haben alternative Optionen: Leugnen oder Gestehen. Beide müssen entscheiden ohne zu wissen, wie der andere entscheidet … Leugnen beide Verdächtige, haben sie nur eine Geldstrafe für Waffenbesitz zu erwarten. Gesteht einer der Verdächtigen die gemeinsame Tat, kann er als Kronzeuge mit Freispruch rechnen. Dem anderen, der leugnet, droht dann die Höchststrafe von fünf Jahren Haft. Gestehen beide Verdächtige, bekommen sie wegen gezeigter Reue nur ein Jahr Haft als Mindeststrafe. A A B leugnet gesteht leugnet Geldstrafe für A für B Geldstrafe Freispruch für A für B 5 Jahre gesteht 5 Jahre für A für B Freispruch 1 Jahr für A für B 1 Jahr <?page no="17"?> 17 2.1 Dilemmata und Optionen Die fiktiven Spieler handeln in ihrer Entscheidungssituation unter Unsicherheit rein zweckrational, um ihren Nutzen zu maximieren bzw. ihre Kosten zu minimieren; Wertungen wie „Verbrechen“ oder „gerechte Strafe“ sind irrelevant. Ihr Dilemma ist, dass aus der individuellen und der sozialen Perspektive sich ein Widerspruch für das Handeln ergibt, der durch keinerlei Verhaltenskodex gelöst wird. Mangels Kommunikation untereinander kann kein Spieler die Handlungsweise des anderen einschätzen und beeinflussen; zwar wäre es von außen gesehen für beide das Vorteilhafteste, sich gegenseitig zu vertrauen und zu kooperieren - aber dazu müssten die Spielregeln zulassen, dass Austausch erlaubt und Vertrauensbruch sanktioniert wird. Misstrauen wird Kooperation verhindern, weil ein grundsätzlich kooperationsbereiter Spieler befürchten müsste, dass durch sein einseitig kooperatives Verhalten ein anderer Spieler dafür belohnt werden könnte, dass er zum eigenen Vorteil unkooperativ handelt. Da das für beide optimale Ergebnis also unwahrscheinlich ist, werden wohl beide versuchen, den möglichen Schaden zu begrenzen und gestehen, also nur das zweitbeste - aber wenigstens auch nur zweitschlechteste - Ergebnis erreichen. Wenn man allerdings das Gedankenexperiment so erweitert, dass das Spiel mehrfach - weiter ohne direkte Kommunikation - wiederholt wird, könnten jeder Spieler die Entscheidungen des anderen aus den vorigen Runden in seine aktuelle Entscheidung einbeziehen; er könnte versuchen, Kooperation zu belohnen oder Vertrauensbruch zu bestrafen. Das lohnendste Verhalten wäre dann, sich zunächst in Vorleistung kooperationswillig zu zeigen, auf Nicht-Kooperation aber mit Bestrafung zu reagieren, aber nicht nachtragend zu sein, wenn der Mitspieler dann doch kooperativ wird, sondern ebenfalls wieder kooperativ zu werden. So könnte sich also mittels indirekter Kommunikation in einem Lernprozess Kooperationsbereitschaft entwickeln. Wird das Gedankenexperiment noch erweitert um ungehinderte Kommunikation und geförderten Informationsaustausch, erscheint eine Perspektive, in der eine interdependente Welt sich auch ohne oberste Gewalt recht gut ordnen kann - in internationaler Kooperation: Wenn das zu lösende Problem eben kein reines Nullsummenspiel ist, sondern durch abgestimmtes gemeinsames Handeln der zu verteilende Vorteil größer werden kann, ist Kooperation im Eigeninteresse aller Mitspieler. Der Versuch, sich unkooperativ egoistisch zu verhalten, kann zu einem höheren eigenen Verlust führen; aber auch wenn unkooperatives Verhalten sich für einen Spieler auszahlt, könnte der kollektive Ertrag geringer sein als bei kooperativem Verhalten. Die im Gedankenexperiment ausgearbeiteten Befunde gelten nicht nur bilateral für zwei Parteien, sie lassen sich auch auf komplexere Situationen mit mehreren bis vielen Mitspielern übertragen. Die Frage, wie sinnvoll oder notwendig - multilaterale - Kooperation ist, stellt sich in allen Problembereichen der internationalen Politik: ▶ In fast alle Fragen der Sicherheit ist das klassische Sicherheitsdilemma logisch eingebaut: die anderen - Nachbarn, Konkurrenten, potentielle Gegner, erklärte Feinde, Terroristen - könnten schneller und stärker aufzurüsten versuchen, also ist dem rechtzeitig eigene Waffenkapazität entgegenzusetzen, was wiederum zu sich aufschaukelndem Wettrüsten verleitet; Misstrauen oder Bedrohungsmentalität sind dabei intensivierende Momente, <?page no="18"?> 18 2. Bedingungen internationaler Kooperation aber seit dem Fall der ersten Atombomben ist das sicherheitspolitische Kosten/ Nutzen-Kalkül von besonderer Qualität, weil nun das eigene Überleben insgesamt auf dem Spiel steht. Das Konzept der „Kollektiven Sicherheit“ als Friedens(ver)sicherung auf Gegenseitigkeit wäre logisch ein Ausweg aus diesem Dilemma: die zur Friedenssicherung gemeinsam zusammenwirkenden Kräfte aller wären stärker als die destruktive Macht einzelner Aggressoren - wenn die Kooperation gelingt. ▶ Auch in den Interessenkonflikten der sich weiter globalisierenden Wirtschaft und bei den Problemen der sog. Entwicklung zeigt sich das Dilemma, dass jeder beteiligte Staat für sich das Maximum auf Kosten anderer sichern will, damit der eigene Anteil gewahrt oder gesteigert werden kann - aber damit allen und auch sich selbst schadet; sowohl das liberale Konzept des Freihandels als auch der Gedanke der aktiven Kooperation durch gemeinsame Institutionen zeigt, dass ein nur auf die vermeintlich eigenen wirtschaftlichen Interessen bezogenes Verhalten gerade dazu führen kann, dass alle Staaten insgesamt einen geringeren Effekt erreichen: der Kuchen wird kleiner statt größer. ▶ Beim Umwelt- und Klimaschutz finden sich die Staaten in einem ähnlichen Dilemma: Jeder Staat, dessen Regierende eine Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt wahrnehmen, will seine Umwelt schützen und seinen Nutzen aus globalen Umweltgütern sichern, aber ohne die ökonomischen Kosten dafür zu übernehmen - also schiebt er die Verantwortung auf andere Staaten/ -gruppen und versucht, seinen Kosten-Anteil für die ohnehin meist unzureichenden kollektiven Anstrengungen möglichst gering zu halten. Das mindert die Chance auf effektive internationale Zusammenarbeit mit geregelter Lastenverteilung; und das wiederum schädigt auf lange Sicht alle Staaten, die kooperationswilligen wie die unwilligen. ▶ Zum Schutz der Menschenrechte erzwingt kein vermeintliches Nullsummenspiel ein Kosten/ Nutzen-Kalkül: kein Staat hat unmittelbar einen Vorteil oder einen Nachteil davon, wenn ein anderer Staat die Menschenrechte respektiert oder verletzt, sofern nicht eine friedensbedrohende oder handelshemmende Situation entsteht. Aber der Einfluss der Zivilgesellschaft und deren Standards moralisch-politischer Korrektheit scheint mangelndes Interesse von Regierungen an Bürger- und Menschenrechten ausgleichen zu können; anders als komplizierte sicherheits-, handels- oder klimapolitische Fragen sind massive Menschenrechtsverletzungen nicht so leicht an die kaum jemand interessierende Außenpolitik abzuschieben. Leider aber können Regierungen Menschenrechte und ihre Auslegung als vorgeschobene Argumente oder ihren Schutz als willkommenes Instrument für machtpolitische und andere Zwecke nutzen. Der dummen, aber bequemen Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! “ wird reflexartig auf fast allen Feldern internationaler Politik gefolgt. Sind Staaten auch nur Menschen (oder kleine Kinder) - oder warum sonst verhalten sie sich in rationalem Kalkül dann doch im Effekt irrational? Ein Blick auf die vorherrschenden Perspektiven, in denen die Rolle der Staaten in der internationalen Politik gesehen und verstanden wird, ist hilfreich für Orientierung und Kritikfähigkeit: Die möglichen Blickwinkel und verschiedenen Sichtweisen auf das weltpolitische Geschehen sind nicht objektiv als so und nicht anders vorgegeben, <?page no="19"?> 19 2.1 Dilemmata und Optionen sondern sind bedingt durch subjektive Wahrnehmungen der eigenen Interessen und durch vorherrschende Annahmen über die Natur des Menschen und seiner Welt - sei es in Form gängiger Meinungen und Vorurteile, sei es im Gewand ausgearbeiteter sozialwissenschaftlicher Theorien. Leider hat sich die theoretische Debatte über die internationalen Beziehungen zu sehr verselbständigt in fiktionales Wunschdenken oder narrative Selbstbezogenheit - oft sind die Probleme, die sich vor allem deutsche Fachvertreter/ -innen machen, nur schwer in Verbindung zu bringen mit Aussagen von Praktikern oder Berichten von sachkompetenten Journalisten über die Welt da draußen. Offenkundig dienen Theoriedebatten auch Zwecken jenseits der theoretischen Kernfunktion; eigentlich sollten Theorien - nur - diskutierbare Arbeits-Grundlagen schaffen für Beschreibung und Erklärung undurchschauter Phänomene, indem sie ▶ Erfahrungen, Beobachtungen und Informationen in Bereiche zu strukturieren und einzuordnen helfen, damit aber auch als bestimmte Ausschnitte von Realität eingrenzen; ▶ komplexe Sachverhalte auf einfache bzw. idealtypische Merkmals- oder Ablaufsbeschreibungen zu reduzieren erlauben, damit aber zugleich bestimmte Aspekte betonen, andere ausblenden; ▶ praktisches Handeln anzuleiten versprechen, damit jedoch zwangsläufig das Notwendige, Zweckmäßige und/ oder Sinnvolle aus ihrer Perspektive formulieren; ▶ Argumente vorgeben, mit denen dieses erwünschte praktische Handeln zu rechtfertigen ist. Eine Theorie soll versuchsweise eingenommener Standpunkt sein, aber nicht Heimat und schon gar nicht Schutzbunker; theoretische Argumente sollen nicht als Kampfmittel dienen, sondern als Werkzeuge - wie gut geschliffene und geputzte Brillen, die man je nach „objektiven“ Licht- und Wetterbedingungen oder „subjektiver“ Sehkraft auch wechselt. Bewährte Kriterien für die Einordnung der Theoriebildung zur internationalen Politik sind die den Akteuren unterstellten Interessen, die verstanden werden ▶ entweder nur als auf den eigenen Nutzen fixiert ▶ oder als an einem universalen Gemeinwohl orientiert und die eingenommenen Perspektiven, die ausgehen ▶ „subjektiv“ von den Motiven, die aufgrund der menschlichen Triebstruktur vorgeben sind oder durch leitende Ideen formuliert werden, ▶ oder „objektiv“ von materiellen Strukturen wirtschaftlicher Prozesse oder realen Organisationsformen. Kombiniert ergibt das eine Vierfeldertafel (vgl. Menzel 2001, S. 21ff): <?page no="20"?> 20 2. Bedingungen internationaler Kooperation Perspektive Interesse „subjektiv“: Ideen, Triebstruktur „objektiv“: materielle Strukturen bzw. Institutionen Eigennutz Realismus Institutionalismus Allgemeinwohl Idealismus Strukturalismus ▶ Das Menschenbild des klassischen Realismus ist negativ, zumindest skeptisch: der Mensch mag vernunftbegabt sein, ist aber vorrangig triebgesteuert, am eigenen Wohl und Nutzen interessiert und nur begrenzt lernfähig. Kooperation ist immer fragil, realistischer ist es, sich auf Selbsthilfe zu verlassen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das bedeutet militärische Aufrüstung und die wiederum führt dank des Sicherheitsdilemmas zum Wettrüsten. Der Friedensbegriff ist negativ definiert, nämlich dass kein Krieg ist. Wenn es zum Krieg kommt, muss er gewonnen werden können - oder zumindest für einen Angreifer nicht zu gewinnen sein, was ihn abschrecken soll. Diese Logik gilt auch auf anderen Politikfeldern: Selbstbestimmte Kontrolle über Ressourcen ist verlässlicher als Kooperation um gemeinsame Güter. Die souveränen Nationalstaaten sind die wesentlichen Akteure in einem anarchischen internationalen System, in dem Macht ausschlaggebend ist und also möglichst eine Vormachtstellung zu sichern ist - Hegemonie statt Zusammenarbeit ist die praktische Konsequenz. ▶ Die kritische Gegenposition zum lange vorherrschenden Machtrealismus liefert der „Idealismus“, der Mensch und Gesellschaft für durch Argumente beeinflussbar und zum Guten lernfähig hält: Vernunft und Fortschritt machen eine friedliche Welt möglich, in der Konflikte durch Ausgleich und Kooperation lösbar sind. Der Anarchie zwischen den Staaten ist mit sachlicher Aufklärung und rationalem (Ver-)Handeln zu begegnen, zumal wenn weltweiter Wohlstand durch ungehinderten Austausch und internationale Arbeitsteilung entsteht. Dieser Gedankenwelt entstammt auch der zu einer Orthodoxie gewordene „Sozialkonstruktivismus“, der statt Staat, Macht und Interessen als gegebene Realitäten zu analysieren herausarbeiten will, wie politische Wahrnehmung, Kommunikation und Normen die internationalen Beziehungen bestimmen - oder gar erst „konstruieren“. Während das Sicherheitsdilemma ein „realistischer“ Ausgangspunkt ist, bleibt eine Art „Unsicherheit-der-Umsetzung-Dilemma“ als Konsequenz der „idealistischen“ Vorstellungen. ▶ Eine vermittelnde Synthese zwischen macht-fixiertem Realismus und moral-ambitioniertem Idealismus bieten Ansätze des „Institutionalismus“; der hat zwar auch kein freundlicheres Menschenbild als der Realismus, zieht aber daraus andere Konsequenzen: Kooperation ist prinzipiell möglich und sinnvoll, nur muss sie realistisch und nicht idealistisch fundiert sein; eben der Eigennutz kann zur Zusammenarbeit motiveren - <?page no="21"?> 21 2.1 Dilemmata und Optionen wenn sie sich eindeutig auszahlt. Verlässlich kontrollierte Rüstungsbegrenzung kann das Sicherheitsdilemma neutralisieren, damit Ressourcen für produktivere Nutzung freimachen und somit den Wohlstand bei allen Kooperationspartnern mehren. Internationale Kooperation zwischen den Staaten braucht internationale Institutionen aller Art zur Friedenssicherung - aber im Sinne eines weit gefassten positiven Friedensbegriffs, der auch zur Wahrung der Menschenrechte, zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen anleitet. ▶ Für kritische Analysen grundlegend, aber für praktische Anregungen offenkundig wenig hilfreich ist der sog. „Strukturalismus“, der in der Marx’schen - also nicht in der „realsozialistischen“ - Tradition gründet: Er unterlegt allen inter- oder transnationalen Beziehungen eine ökonomische Basis; in den Strukturen des kapitalistischen Weltsystems sind Wohlstand und Macht ungleich verteilt, wofür Kolonialismus, Imperialismus und Abhängigkeitsbeziehungen, aber auch Krieg verantwortlich zu machen sind. Die an Eigeninteresse und Selbsthilfeprinzip orientierte Politik der Nationalstaaten führt zu Dominanz, Sicherheit und Wohlstand für einen Teil der Welt, damit aber auch zu Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterentwicklung für andere Teile. Zwischenstaatliche Kooperation führt unter diesen Bedingungen nicht zu Frieden und Gerechtigkeit; dazu wäre ein radikaler Wandel der Strukturen der Ungleichheit vorauszusetzen. Die theoretische Auseinandersetzung über internationale Politik wird seit Jahrzehnten geführt, oft in langen Wellenbewegungen nach intensiven Debattenrunden - meist recht zeitgeistabhängig und immer modebewusst; die verästelten Differenzierung sind nur schwer überschaubar - Abgrenzung und Konkurrenz beleben auch hier das Geschäft. Besser orientieren kann eine schlichte Dreiteilung: ▶ Macht-basierte Ansätze gehen in realistischer Tradition von den Machtbeziehungen unter Staaten aus und sind prioritär an Sicherheit interessiert; weil internationale Kooperation direkt von der Machtverteilung zwischen den beteiligten Staaten abhängt, geben sie ihr nur geringe Chancen; den Staaten unterstellen sie, kompromisslos immer nur ihren relativen Vorteil zu suchen, damit kein anderer bessergestellt wird. ▶ Interessens-basierte Ansätze untersuchen in z. B. institutionalistischer Perspektive die Interessenkonstellationen von Staaten und auch anderer Akteure, aus denen sich reelle Motive für Kooperation ergeben; den Akteuren unterstellen sie, absolute Vorteile für sich zu suchen, auch wenn andere noch bessergestellt werden. ▶ Wissens-basierte Ansätze legen in kognitivistischer bzw. konstruktivistischer Interpretation Prozesse der Wissensdynamik, der Kommunikation und der Identitätsbildung zugrunde, die verbindliche Normen für kooperatives Verhalten schaffen; den staatlichen Akteuren unterstellen sie, durch die Interaktion untereinander und besonders mit nicht-staatlichen Akteuren lernen zu können, allseitige Vorteile zu suchen. Die politische Bedeutung dieser akademischen Debatten für die Organisation der Vereinten Nationen lässt sich reduzieren auf die Kernfrage: Leben wir noch im Zeitalter der „Anarchie“ zwischen den Staaten oder sind wir schon im Stadium einer „global governance“? <?page no="22"?> 22 2. Bedingungen internationaler Kooperation ▶ Seit den Anfängen der Lehre von den Internationalen Beziehungen galt, dass zwischen den Staaten Anarchie herrsche und also letztlich das Recht des Mächtigeren gelte, weil es über den souveränen unabhängigen Staaten keinerlei legitime Instanz gibt, die Autorität hätte, deren Verhalten zu regeln; diese realistische Einsicht wurde trotz der stetigen Entwicklung des Völkerrechts und Erfahrungen mit gelingender Kooperation zum verfestigten Dogma, das vielfach bezweifelt, aber nicht grundsätzlich widerlegt werden konnte. ▶ In jüngerer Zeit überwog allerdings zumindest rhetorisch das modische Wunschdenken von „global governance“ oder „Weltregieren“: das Versprechen lautet, dass zielorientierte und planvolle Regelung von politischen und gesellschaftlichen Prozessen auch ohne von oben steuernde Zentralinstanz möglich sein soll, wenn die Rolle von Staaten eingeschränkt oder gar tendenziell ersetzt durch die Aktivität von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die national wie international „vernetzt“ agieren - also ohne eine supranationale Leitung auskommen. Problematisch sind beim sog. „Weltregieren“ allerdings zentrale Annahmen und Einschätzungen, die nicht so ganz der politischen Wirklichkeit gerecht werden: was wirklich ist, ist zwar sicherlich nicht so einfach ohne theoretische Reflexion zu erfassen oder zu verstehen - aber es ist halt wirksam. Denknotwendige aber zum Teil nur stillschweigend vorausgesetzte Elemente von „global governance“ existieren bisher nur als Ideen oder als Behauptungen, allenfalls als schwache Tendenzen: Die unterstellte Gemeinwohlorientierung einer „globalen“ Zusammenarbeit ist allenfalls als kontrafaktisch anmutende Hoffnung eher technokratischen Charakters annehmbar; die Prognose vom Bedeutungsverlust der Staaten als meist destruktive Machtzentren zugunsten der Zunahme zivilgesellschaftlicher Selbstregierung ist normativ ambitioniert, aber insgesamt wenig wahrscheinlich; die entscheidende Frage, ob und wie so etwas wie eine (groß-)machtunterlegte politische Führung der „governance“ nötig ist, wird ausgeblendet. Weil das „global governance“-Denken ohne Beachtung seiner stillschweigenden Voraussetzung einer globalen Ordnung ausgesponnen wird, ist dabei eben das politische Problem als schon erledigt vorausgesetzt, zu dessen Lösung oder wenigstens Milderung über Multilateralität nachgedacht und internationale Kooperation versucht wird. Was das Dogma der Anarchie als unrealistisch ignoriert, wird von der Mode der „global governance“ idealisiert und haltlos übertrieben: die Option einer multilateralen Kooperation von staatenübergreifender oder gar globaler Reichweite mittels internationaler Organisationen im Rahmen von internationalen Regelungssystemen bzw. „internationalen Regimen“ - ohne eine übergeordnete Steuerungsinstanz, aber fokussiert durch Probleme, gehemmt von Ungleichheiten und mit Konflikten belastet. Auseinanderzuhalten sind also ▶ die Einsicht, dass wir immer mehr komplexe und interdependente Fragen von globaler Reichweite haben, die - zumindest teilweise - in weltweiten Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gründen, weswegen sie - zumindest teilweise - „über“ den Handlungsebenen einzelner Staaten oder Staatengruppen bearbeitet werden müssen, <?page no="23"?> 23 2.2 Multilateralismus ▶ und der fröhliche Aufruf, gegen all diese Übel machen wir statt dem Hickhack zwischen den Staaten lieber gleich „global governance“ auf dem Niveau des „Weltregierens“, am besten als Zivilgesellschaft mithilfe der NGOs. „governance“: drei Möglichkeiten (nach Zürn 1998, S. 166ff) ▶ „governance by government“: Regelungen zwischen den Staaten - also der herkömmliche Multilateralismus ▶ „governance with government“: Regelungen zwischen Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren mit mehr oder weniger führender Rolle der Regierungen - ein sich entwickelnder erweiterter Multilateralismus ▶ „governance without government“: Regelungen ohne Staaten - nur eine recht spekulative Vision 2.2 Multilateralismus Grundsätze und Methoden der meist stabilitätsorientierten Außenpolitik und der immer konservativen Diplomatie ändern sich nur allmählich, aber seit dem 19. Jahrhundert entwickeln sich neben der klassischen bilateralen Kommunikation zwischen Staaten, die diskret oder gar als „Geheimdiplomatie“ verborgen bleibt, neue und sichtbarere - aber deswegen noch nicht transparente - Formen multilateraler Diplomatie im aufkommenden internationalen Konferenzwesen, dann im Völkerbund und nun in den Vereinten Nationen. Entscheidend für den Spielraum von Diplomatie, zumal der multilateralen, ist ihr machtstruktureller Rahmen: wird die Welt eher unipolar dominiert von einer Hegemonialmacht (wie dem antiken Römischen Imperium), wird sie von zwei konkurrierenden Vormächten bipolar geführt (wie von Frankreich und Deutschland im 19. Jh., von den USA und der Sowjetunion im 20. Jh.) - oder sind in einer multipolaren Welt große und kleine Mächte auf Abstimmung und Zusammenarbeit angewiesen? Unipolarität bzw. Bipolarität als Machtstruktur sind nicht zwingend gleichzusetzen mit Unilateralismus bzw. Bilateralismus als außenpolitischer Methode, aber Multipolarität jedenfalls erfordert einen wie immer gearteten Multilateralismus; allenfalls eine relativ große und starke Macht, die sich für autonom und gar autark hält, mag glauben, sich den Zumutungen und Mühen des Multilateralismus entziehen zu können - aber das funktioniert nicht auf Dauer. „Multilateralität“ bedeutet, dass nicht nur ein starker Staat anderen (unilateral = einseitig) sagt, was zu tun ist, oder dass nicht nur zwei Staaten (bilateral = zweiseitig) miteinander zu verhandeln haben, sondern, dass viele, potentiell alle, zumindest mitreden, vielleicht sogar mitentscheiden können. Logisch ist inbegriffen, dass Multilateralität zu einem Verhältnis der Teilnehmer zueinander führt, das es idealerweise ermöglicht, gemeinsame Probleme als prinzipiell gleichberechtigte Staaten nach für alle verbindliche Regelungen kooperativ <?page no="24"?> 24 2. Bedingungen internationaler Kooperation zu behandeln; im besten Fall würden die Interessen aller beteiligten Akteure angemessen berücksichtigt. Multilateralismus entsteht ▶ aufgrund der Einsicht, dass zum effektiven Problemlösen international kooperierende Partner gebraucht werden, ▶ mittels daraufhin vereinbarter Normen, Prinzipien und Regeln ▶ als eine soziale Ordnung unter Staaten, ▶ die eine dauerhafte Regelung der Beziehungen und Koordination der Zusammenarbeit zwischen (mindestens drei, aber bis zu vielen oder allen) Staaten ermöglicht, ▶ was nicht notwendigerweise aber häufig mittels internationaler Organisationen praktisch umgesetzt wird. Komplementäre Verständnisse von Multilateralismus ▶ Vertragsmultilateralismus oder kontraktueller Multilateralismus (Ikenberry 2003, S. 534- 535): Das System aller explizit kodifizierten (oder aber auch implizit gültigen) Normen, Standards und Regeln zwischenstaatlichen Verhaltens ▶ Organisatorischer Multilateralismus (Keohane 1990, S. 731): Das System der zwischenstaatlichen Abmachungen zur politischen, ökonomischen oder administrativen Organisation globaler oder regionaler Ordnung Wenn eine internationale Organisation (fast) alle existierenden Staaten als Mitglieder gewonnen hat, ist sie nicht nur multilateral, sondern auch (fast) universal. Politisch bedeutet das: Alle Regierungen sind dabei und können mitreden, ▶ was tragfähige Legitimation für Problemlösungen schaffen kann, ▶ aber wegen der Ungleichverteilung von Ressourcen aller Art automatisch zu Problemen in Interessenkonflikten führt. Ein nicht universaler, sondern exklusiver Club von wenigen Mächtigen könnte sich zwar vielleicht leichter einigen, aber sicherlich nicht für alle sprechen. Politische Funktion und sachliche Aufgabe des Multilateralismus ist die Bereitstellung bzw. Sicherung von globalen öffentlichen Gütern (global public goods): Frieden und Sicherheit, funktionierende Güter- und Finanz-Märkte, intakte Umwelt und stabiles Klima, sowie Gerechtigkeit, Gesundheitsvorsorge, Freiheit des kulturellen Leben u.v.m., soweit diese Güter im einzelstaatlichen Rahmen nicht zu gewährleisten sind. Die Grundidee für jede multilaterale Kooperation ist die einer Versicherung auf Gegenseitigkeit. Das wird paradigmatisch deutlich an der klassischen und wichtigsten Art globaler öffentlicher Güter, Frieden und Sicherheit: Zur Verhinderung von Krieg sind im unilateral/ bilateralen Bezugssystem nur einseitige Aufrüstung zur Abschreckung und bestenfalls gegen- <?page no="25"?> 25 2.2 Multilateralismus seitige Ausbalancierung der Zerstörungspotentiale realistisch, während in einer multilateral organisierten Welt eine Versicherung auf Gegenseitigkeit als Ausweg möglich wird, indem alle potentiell kriegführenden Mächte sich einander in einem kollektiven Sicherheitssystem verlässlichen Schutz vor einander durch gegenseitigen Beistand garantieren. Multilaterale Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit funktioniert in Abhängigkeit von der Art des politischen Problems unterschiedlich gut - die Struktur der zu behandelnden Themen und besonders die Zahl und Art der dafür relevanten Akteure bedingen die Erfolgsaussichten. Wenn (wie in Fragen der nuklearen Abrüstung) nur wenige Akteure von besonderer Bedeutung (weil sie über die realen Machtmittel Atomwaffen verfügen) miteinander verhandeln müssen, kann dies leichter bilateral oder wenigstens in einer nur kleinen Gruppe geschehen, während ein multilaterales Vorgehen nur von symbolischer Natur wäre (z. B. zur Bekräftigung der Friedenssehnsucht der „Weltgemeinschaft“). Wenn sehr viele oder alle Staaten mit einbezogen sein oder gar aktiv mitarbeiten sollen (wie bei Menschrechtsfragen oder im Umweltschutz) ist letztlich nur das mühsame multilaterale Geschäft erfolgversprechend. Multilateralität ist heute in den vielfältigen Dimensionen des Nord-Süd-Konfliktes von größerer Bedeutung und Wirksamkeit als sie es im bipolaren Ost-West-Konflikt war. Neben rahmensetzenden Regelungen für die weltweite Ökonomie sind es die Entwicklungspolitik sowie Umwelt- und Klimaschutz, die zur Schaffung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine friedlichere Welt multilateral verhandelt und organisiert werden müssen. Dafür müssen viele recht zähe Brocken analytisch zerkaut und politisch verdaut werden. Die Entscheidungsfindung in der sog. „Entwicklungszusammenarbeit“ wird z. B. durch einen klassischen Konflikt zwischen bilateralen und multilateralen Methoden erschwert: Die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Regierungen - der Geber wie meist auch der Nehmer - werden leichter bilateral befriedigt, während unter sach-rationalen Aspekten zumindest langfristig eine multilaterale Durchführung durch internationale Fachorganisationen viel sinnvoller wäre. Sofern sie nicht nur eine getarnte Hegemonialität ist - also hinter dem vielfältig-bunten Betrieb eine Vormacht oder auch konkurrierende Führungsmächte verschiedener Block-Konstellationen (wie Ost gegen West, reiche gegen arme Länder o. ä.) die Entscheidungen treffen und durchziehen - hat Multilateralität einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem bilateralem Austrag von Interessenkonflikten: die Großen dürfen weniger unbekümmert ihre Macht ausüben und die kleineren Mächte können besser ihre Interessen verfolgen, weil alle ein gemeinsames höheres Interesse zumindest grundsätzlich anerkennen. Das Funktionieren von Multilateralität wird aber durch diverse Hemmnisse und innere Wiedersprüche beeinträchtigt oder gefährdet; besonders der für multilaterale Verfahren nötige kommunikative und organisatorische Aufwand hat politisch prägende Auswirkungen: Eigentlich kann Multilateralität gar nicht richtig funktionieren, weil es praktisch nicht möglich ist, dass viele oder gar alle Regierungen so einfach miteinander reden und gemeinsam entscheiden - was mehr bedeutet als eine bloße Stimmabgabe; es müssen dafür Verfahren und Verhaltensweisen entwickelt werden, die zwangsläufig kompliziert, umständlich und wahrscheinlich oft ineffizient sind (siehe 7.). <?page no="26"?> 26 2. Bedingungen internationaler Kooperation Oft wurde als ein weiterer Vorzug von Multilateralität genannt, dass sie im Gegensatz zur geheimnistuerischen bilateralen Diplomatie zwangsläufig transparenter und somit vielleicht auch legitimer sei; das dürfte aber in den meisten Fällen ein frommer Wunsch bleiben: Eine Lüge wird dadurch nicht wahrer, dass sie öffentlich vorgebracht wird. Bedeutsamer und problematisch ist, dass die scheinbar transparente Multilateralität spezielle Formen diskreter Absprachen und Verhandlungen in kleinem Kreis herausbildet oder auch nicht-multilaterale Alternativen suchen lässt. Denn durch komplexe Arbeitsweisen oder politische Unvereinbarkeiten überbeanspruchte Multilateralität kann auch typische Gegenreaktionen provozieren: ▶ Austritt einzelner Staaten aus einer Organisation oder die Drohung damit (z. B. der USA aus der UNESCO wegen deren Politisierung im Nahostkonflikt, 1984-2003 und wieder 2017); ▶ Bildung einer „coalition of the willing“ durch eine Gruppe „gleichgesinnter“ Staaten, die ihr eigenes Programm verfolgen (z. B. den Krieg im Irak 2003); ▶ Schaffung interner Alternativen durch Doppelung/ Überlappung, so dass politisch und/ oder methodisch sehr unterschiedlich ausgerichtete Organisationen bzw. Unterorganisationen das gleiche Problem komplementär oder konkurrierend bearbeiten, was beides eine etablierte Institution bedeutungslos machen kann (z. B. UNCTAD vs. GATT/ WTO); ▶ Nutzung externer Alternativen wie die Zusammenarbeit spezieller Staatengruppen (z. B. G7[/ 8]), G20), was universale Multilateralität zu untergraben droht. Gruppenbildung ist eine zwangsläufig nötige Methode multilateraler Zusammenarbeit (siehe 7.4), aber in deren regulatorischem und organisatorischem Rahmen, nicht außerhalb. Die sich seit 1975 stetig weiter entwickelte Praxis, dass sich die führenden Wirtschaftsnationen und nun auch aufkommende Schwellenländer jenseits der Zwänge des multilateralen Geschäfts regelmäßig treffen und untereinander offiziell nur weltwirtschaftspolitische Fragen behandeln, aber auch andere besprechen oder gar entscheiden, erzwingt schon die kritische Frage: Sind die G7 und G20 als eine nicht legitimierte Konkurrenz zu den multilateralen Mechanismen der etablierten internationalen Organisationen einzuschätzen - oder als eine informelle Weiterentwicklung zu einer Art exklusivem Multilateralismus? Internationale Kooperation kann ideal erwünscht werden, normal funktionieren oder real gefährdet sein: Ideal ist der kooperative Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten gelten und eingehalten werden. Normal ist ein imperialer oder besser hegemonialer Multilateralismus, in dem die Regeln gelingender internationaler Zusammenarbeit möglichst aller Staaten formal und auch politisch einigermaßen gewahrt, multilaterale Mechanismen aber in erster Linie doch zur Durchsetzung von Dominanz eingesetzt werden; eingeschränkte oder nur scheinbare Kooperation kann zudem unilaterale Verhaltensweisen mächtiger Regierungen maskieren. Diese zweite Möglichkeit kann deswegen als Normalfall angenommen werden, weil die ideale Situation nur real werden könnte, wenn in einer möglichst multipolaren Welt keine gravierende Ungleichheit der Ressourcen- und Machtpotentiale der Staaten gegeben wäre <?page no="27"?> 27 2.3 Internationale Organisationen - das war bisher in der Geschichte der internationalen Zusammenarbeit noch nie der Fall, weder in der UNO noch in der EU. Gefährdet ist Multilateralismus immer und in verschiedener Weise: ▶ Das Phänomen eines „angefochtenen Multilateralismus“ (Morse/ Keohane 2014: „contested multilateralism“) ist zu beobachten, wenn Regierungen Aufgabenstellung, Regeln und/ oder Arbeitsweise multilateraler Institutionen herausfordern und auf ihre Belastbarkeit austesten, um ihr Missfallen auszudrücken und entsprechende Veränderungen zu erzwingen - oder gar alternative bzw. konkurrierende multilaterale Institutionen zu etablieren und durchzusetzen; einzelne existierende Institutionen können durch solche „Anfechtungen“ Autorität verlieren, aber auch gewinnen. ▶ Starke Staaten, zumal heute die USA, können sich es oft leisten, eine Strategie des instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus zu verfolgen, also aus den besten Angeboten zu wählen, ob sie in einzelnen Fragen oder ganzen Politikfeldern kooperativ oder unilateral vorgehen - aus der Sicht internationaler Organisationen ist das ein schädlicher „kompetitiver Multi-Multilateralismus“ (Braml 2009, S. 374). ▶ Für die UNO könnte besonders der exklusive Multilateralismus nach Art der G7/ G20 gefährlich werden. Literaturverweis zu 2.2.: Multilateralismus Acharya 2018; Barnett/ Finnemore 2018; Braml 2009; Brühl 2019; Ikenberry 2003; Griffin 2018; Kahler 1992; Keohane 1990; Menzel 2001; Morse/ Keohane 2014; Schieder 2018; Touval/ Zartman 2010; Zürn 1998 2.3 Internationale Organisationen Multilateralismus setzt logisch wie politisch voraus, dass sich der moderne Nationalstaat als Ordnungsprinzip historisch durchgesetzt und damit sogleich inter-nationale Zusammenarbeit für Frieden und Wohlstand nötig und sinnvoll gemacht hat: dafür geeignete Instrumente sind internationale Institutionen aller Art - informelle wie eine lockere Folge von Konferenzen oder formelle wie eine auf einem Vertrag fest basierte und organisierte Struktur: ▶ Die meisten internationalen Institutionen sind Internationale Organisationen, doch auch sog. Internationale Regime sind zu beobachten; ▶ Organisationen sind entweder Internationale zwischenstaatliche (oder intergouvernementale) Organisationen (International Governmental Organisations/ IGOs) oder Internationale nichtstaatliche (oder Nichtregierungs-) Organisationen (International Non-Governmental Organisations/ INGOs). Die INGOs werden meist nur „NGOs“ genannt - und mit „Internationale Organisationen“ sind fast immer die zwischenstaatlichen bzw. Regierungsorganisationen gemeint. Die INGOs müssen weiter unterschieden werden in international operierende Dachverbände nationaler <?page no="28"?> 28 2. Bedingungen internationaler Kooperation Interessenverbände (aus Wirtschaft und Sport oder auch aus Religion, Wissenschaft und Kultur) und ebenfalls in der sog. Zivilgesellschaft basierte Organisationen mit kritisch-politischem Anspruch zu themenbzw. problemspezifischen Zielen und Aktions- oder Hilfs-Programmen. Wenn von den „NGOs“ gesprochen wird sind meist die zivilgesellschaftlich Guten wie amnesty international oder der World Wildlife Fund gemeint, aber auch ein Verband der ölfördernden Industrie ist eine Nichtregierungsorganisation - und letztlich gehört auch die Mafia zur Zivilgesellschaft. Während IGOs nur auf der internationalen Ebene zwischen Staaten bzw. Regierungen arbeiten, wirken INGOs auch transnational staatenübergreifend auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Auch Militärbündnisse wie die NATO sind IGOs, die - ungeachtet realer Machtverhältnisse - zwischen souveränen Staaten funktionieren. Mit Ausnahme der Europäschen Union (EU) als spezifischem Sonderfall gibt es noch keine supranationale Organisation, die über-staatliche Kompetenzen hätte; nur der Sicherheitsrat der UNO hat bislang in bestimmten seltenen Situationen das Recht, über-staatlich einzelnen souveränen Staaten gegenüber anzuordnen, was sie zu tun oder zu unterlassen haben (siehe 6.1.2 und 8.1). Zur Anzahl Internationaler Organisationen Internationale Organisationen aller Art gibt es überraschend viele. Exakte Zahlen sind nicht verfügbar, doch waren in 2010er-Jahren ungefähr ▶ zweieinhalbtausend multilaterale Verträge bzw. Abkommen in Kraft, ▶ mehrere Tausend Internationale Nicht-Staatliche Organisationen (INGOs) aktiv, davon ein halbes Tausend von universaler Bedeutung, ▶ zweibis dreihundert Internationale (Regierungs-)Organisationen (IGOs), davon über dreißig universale, im Dienst (z. B. 2001: 232/ 34, 2006: 246/ 34, 2013: 265/ 33) (nach der Datenbank der Union of International Associations/ UIA, Brüssel [http: / www.uia.org] bzw. das von der UIA herausgegebene „Yearbook of International Organizations“) Eine allseits anerkannte Definition für „Internationale (Regierungs-)Organisationen“ (IGOs) gibt es nicht; auch hier gehen immer theoretische und politische Annahmen in die Formulierungen ein. <?page no="29"?> 29 2.3 Internationale Organisationen „Internationale Organisationen“: typische Definitionen „[…] sowohl problemfeldbezogene als auch problemfeldübergreifende zwischenstaatliche Institutionen, die gegenüber ihrer Umwelt aufgrund ihrer organschaftlichen Struktur als Akteure auftreten können und die intern durch auf zwischenstaatlich vereinbarten Normen und Regeln basierende Verhaltensmuster charakterisiert sind, welche Verhaltenserwartungen einander angleichen.“ (Rittberger/ Zangl 2008, S. 25) „Unter einer IGO wird eine durch multilateralen völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Staatenverbindung mit eigenen Organen und Kompetenzen verstanden, die sich als Ziel die Zusammenarbeit von mindestens drei Staaten auf politischem und/ oder ökonomischem, militärischem, kulturellem Gebiet gesetzt hat und die gegenüber ihrer Umwelt als selbständiger Akteur auftreten kann.“ (Woyke 2007, S. 203) „Die internationalen Organisationen sind ein Zusammenschluss souveräner Staaten. Was sie erreichen können, hängt von dem Grad der Übereinstimmung ab, den sie untereinander erzielen.“ (Schraepler 1994, S. IX; Hervorhebung R.W.) Internationale Regierungs-Organisationen (IGOs) haben immer einen Internationalen Vertrag als für die ihm beitretenden Staaten verbindliche Rechtsgrundlage (siehe 2.4). Dieser Vertrag und damit die Organisation stehen aber immer in einem größeren historischen und politischen Kontext, der Problemzusammenhänge und Arbeitsfelder absteckt, die nicht kongruent sind mit dem Zuschnitt dieser Internationalen Organisationen. Der klassische politikwissenschaftliche Regime-Ansatz versucht deswegen, komplexe Regelungssysteme zu bestimmen und zu untersuchen, um die internationale Kooperation bezogen auf einen umfassenden Problem- und Arbeitsbereich als Ganzes in den Blick zu bekommen - wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen, den Menschenrechtsschutz, die Regelung des Welthandels oder den Kampf gegen die Klimaerwärmung. Leider ist zumindest im Deutschen der Begriff „Regime“ uneindeutig konnotiert; alltagssprachlich ist damit meist abwertend eine eher fragwürdige einzelne Regierung gemeint. Internationale Organisationen sind sicht- und greifbarer als die Internationalen Regime, die aber wiederum das wichtigere Bezugssystem für die Erfolgschancen internationaler Kooperation bilden. Der Problemfeld-Bezug der Organisationen ist für einzelne Fragen spezifisch (wie die OPWC zur Chemiewaffenkontrolle), Themen übergreifend (wie die FAO für Landwirtschaft) oder universal (wie die UNO), der von Regimen ist problemfeldspezifisch fokussiert. Die vertikale Struktur der meisten Organisationen ist hierarchisch festgefügt; Regime sind in ihrer horizontalen Struktur weniger formell und eher flexibel formbar. Auch die Regime basieren auf einem internationalen Vertrag oder meist auf einem gewachsenen System mehrerer Verträge. Zu einzelnen Regimen können mehrere verschiedene Verträge und Organisationen gehören, die ihrerseits wiederum möglicherweise verschiedenen Regimen <?page no="30"?> 30 2. Bedingungen internationaler Kooperation zuzurechnen sind; noch komplizierter wird es, wenn zum Funktionszusammenhang eines Regimes auch eine internationale Schiedsstelle oder gar ein Internationales Gericht beiträgt. Internationale Regime („Konsensdefinition“) (Krasner 1983b, S. 2, Übers. RW) „Regime können definiert werden als Instrumentarien aus impliziten oder expliziten Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zur Entscheidungsfindung, durch die vermittelt die Erwartungen der Akteure auf einem bestimmten Gebiet der internationalen Beziehungen konvergieren. Prinzipien sind grundlegende Annahmen über tatsächliche Gegebenheiten, kausale Zusammenhänge und richtige Bewertungskriterien. Normen sind durch Rechte und Verpflichtungen definierte Standards des Verhaltens. Regeln sind spezifische Vorschriften und Verbote zur Anleitung des Handelns. Verfahren zur Entscheidungsfindung geben Praktiken für das Treffen und Umsetzen einer gemeinsamen Auswahl vor.“ Die Unterscheidung in die vier Elemente Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren bietet ein brauchbares Schema zur Analyse international-multilateraler Kooperation in Internationalen Regimen wie durch Internationale Organisationen. ▶ Prinzipien sind die grundlegenden Aussagen über die Wirklichkeit in einem Arbeitsbereich, über die Ursachen und Auswirkungen der zu bearbeitenden Probleme sowie über die von den Partnern einer Kooperation geteilten Bewertungskriterien; auf dieser Basis können die Ziele der Kooperation formuliert wie auch die dazu passenden Zweck-Mittel-Relationen bestimmt werden. Wenn Problemsicht und Lösungsbereitschaft potentieller Partner nicht zusammenpassen, wird es schon schwierig sein, generelle Prinzipien im Konsens zu finden. ▶ Normen geben maßgebliche Standards und verpflichtende Richtlinien für das angemessene Verhalten vor; sie beschreiben und verteilen die Rollen in der Kooperation, indem sie komplementär Pflichten auferlegen und Rechte einräumen. Erst die Achtung der Normen macht die prinzipiellen Überzeugungen und Ziele zu gemeinsamen politischen Verpflichtungen. ▶ Konkrete und meist rechtsverbindliche Regeln definieren spezifische Vorschriften und Verbote; sie übersetzen die weiten Prinzipien und generellen Normen operativ in konkrete Handlungsanweisungen. Das macht die Zusammenarbeit leistungsfähig und wirksam, weil intern und Dritten gegenüber berechenbar. Bei der oft mühsamen Festlegung der Regeln und zumal durch ihre Einhaltung zeigt sich erst definitiv, wie ernst es den Staaten wirklich ist, international zu kooperieren. ▶ Festgelegte Verfahren zur Entscheidungsfindung und zum praktischen Handeln aller Art (wie Geschäftsordnung, Mitgliedschaft, Information, Kommunikation, Aktionsprogramme, Konfliktschlichtung, Sanktionen) sichern eine verlässlich funktionierende prozedurale Routine und damit zugleich Flexibilität bei der Anpassung an sich verändernde Situationen, ohne dass kurzfristig Regeln geändert, Normen angetastet oder Prinzipien bemüht werden müssten. In der Arbeitsweise bei der Umsetzung und Durchsetzung zeigt sich, wie konstruktiv die Kooperationspartner sein können oder wollen. <?page no="31"?> 31 2.3 Internationale Organisationen Ebene … … der internationalen Kooperation und … … ihr Effekt/ ihre Konsequenz Prinzipien Kriterien und Ziele Legitimität und Verpflichtung Normen Standards und/ oder Ge- und Verbote Rechte und Pflichten Regeln konkret-detaillierte Verhaltensanweisungen Berechenbarkeit/ Wirksamkeit Verfahren Vorgegebene aber auch sich in der Praxis herausbildende Arbeitsweisen und Methoden Verlässlichkeit/ Um- und Durchsetzung Den internationalen Menschenrechtsschutz zum Beispiel (siehe 8.2) legitimiert das Prinzip, dass es unveräußerliche Rechte von universaler Geltung gäbe (allerdings oft im Konflikt mit dem Prinzip der unantastbaren Souveränität der Staaten), konkretisiert in den Normen, die Rechte und Pflichten der Staaten deklamatorisch in einer „Allgemeinen Erklärung“ formulieren und in einzelnen Pakten verbindlich festlegen; die Regeln sollen dann als spezifische Handlungsanweisungen Wirksamkeit herstellen und schließlich die praktischen Verfahren Verlässlichkeit sichern, indem sie Menschenrechtsschutz in Aktionsprogrammen (wie Berichtspflicht, Überprüfung, fact findig missions, Beschwerdeverfahren) umsetzen und gegebenenfalls mit Sanktionsmechanismen durchsetzen. Mit diesem Ordnungs-Schema nach Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren können für alle Problem- und Arbeitsbereiche die Funktionen, Arbeitsweisen und Leistungen internationaler Kooperationsformen dargestellt und diskutiert werden. Wenn Internationale Organisationen als Instrument, Forum oder Akteur gesehen werden können, ergeben sich als Rollen-Zuschreibungen: ▶ Sie dienen den uneingeschränkt souveränen Staaten, zumal den mächtigsten, zur Verfolgung ihrer eigenen Interessen; diese dominieren die organisationsinternen Entscheidungsprozesse. ▶ Sie geben allen Akteuren dank ihrer logistisch-technischen Vorleistungen und mittels standardisierter Verfahrensweisen dauerhaft und verlässlich die Gelegenheit zu multilateralen Verhandlungen aller Art und Reichweite - zu den Zwecken von Informationsaustausch, technisch-organisatorischer Koordination und politischer Kooperation. ▶ Sie können selbst als Akteur nur auftreten, wenn und insoweit sie von den souveränen Staaten dazu bevollmächtigt sind - das Entstehen bundesbzw. weltstaatlicher, also supra-nationaler Strukturen über den Staaten bleibt vorerst Spekulation (siehe 2.4). Diese Funktionen sind als emergent aufeinander aufbauende Schichten, nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen. Für internationale Kooperation ist die Bereitstellung eines komplexen Verhandlungssystems politisch wie organisatorisch die Grundlage; die Leistungen von Internationalen Organisationen dafür sind vielfältig: Indem sie ▶ Informationen besorgen, analytisch aufbereiten und verteilen (intern, aber auch medial), ▶ diskret oder öffentlich Gespräche und Verhandlungen politisch anregen, organisatorisch durchführen und durch Verfahrensregeln absichern, ▶ Interessen durch Bündelung (in Staatengruppen) hörbar artikulieren und durch Konfliktschlichtung ausgleichen, ▶ Normen diskutieren und formales (Völker-)Recht fortentwickeln, <?page no="32"?> 32 2. Bedingungen internationaler Kooperation verschaffen Internationale Organisation ▶ schwächeren Akteuren mehr Einfluss ▶ und stärkeren mehr Legitimität und ermöglichen oder unterstützen so ▶ Gefahrenabwehr durch vertrauensbasierte Kooperation ▶ und Stiftung von Ordnung durch globale Regelungen. Funktionen Internationaler Organisationen informationell ( → medial) z.B. für Menschenrechtsschutz, Umwelt-/ Klimaschutz ▶ Sammeln, Auswerten und Verbreiten von Informationen und Daten ▶ Beobachtung und Auswertung von Entwicklungen und Trends ▶ Schaffung von internationaler Öffentlichkeit ▶ Unterstützung für politische Initiativen politisch ( → prozessual) z.B. für Frieden/ Sicherheit, Wirtschaft/ Welthandel ▶ Austausch, Verhandlung und Entscheidung ▶ Bündelung nationaler zu Gruppen- und multilateralen Interessen ▶ Schaffung von Einflussmöglichkeit für schwächere Akteure ▶ Schaffung von mehr Legitimität für stärkere Akteure normativ ( → rechtlich) z.B. für Menschenrechtsschutz, Welthandel, Umwelt/ Klima ▶ Generierung von Normen und Regeln für staatliches Verhalten ▶ Festlegung von Verhaltens-Standards ▶ Ausarbeitung von völkerrechtlich bindenden Verträgen regulativ ( → evaluativ) z.B. für Frieden/ Sicherheit, Rüstungskontrolle, Welthandel ▶ Konflikt- und Streitschlichtung ▶ Förderung der Anwendung von Normen und Regeln ▷ Kontrolle ihrer Umsetzung ▷ Sanktionierung ihrer Missachtung ▷ Erzwingung ihrer Einhaltung ▶ Bildung und Nutzung von Verifikationsinstrumenten operational (organisatorisch/ logistisch) z.B. für Entwicklungszusammenarbeit, Noteinsätze ▶ Serviceleistungen aller Art für grenzüberschreitende Kooperation ▶ Durchführung komplexer operativer Aktionen ▶ Umsetzung von umfassenden Arbeitsprogrammen ▶ Ressourcen-Allokation ▶ Not- und Katastrophen-Hilfe ▶ internationaler Einsatz von national gestellten Truppen <?page no="33"?> 33 2.3 Internationale Organisationen Die frostige Metapher von den internationalen Organisationen als „gefrorene[n] Entscheidungen“ (Keohane 1988, S. 384; siehe 3) wirft ein kaltes, aber klares Licht auf ihre Struktur und Eigenart, die erst aus historischer Perspektive auf ihr Entstehen und Fortbestehen verständlich werden. Nur jeweils in einer historischen, also einmaligen spezifischen Situation, die nicht auf Dauer so sein wird, sind konkrete Festlegungen von weitreichender Bedeutung in Verträgen möglich - was in Diplomatensprache (siehe 7.1) gern „window of opportunity“ genannt wird. Solche sehr seltenen Gelegenheiten zur verbindlichen Umsetzung eines gelingenden Konsens zu nutzen, bedeutet aber, dass die Vertragspartner notwendigerweise immer auch auf Bedingungen dieser spezifischen Situation eingehen und diese somit in Form von bleibenden normativen und organisatorischen Regelungen festschreiben: „Geschichte verschlüsselt in Regeln“ (March/ Olson 1984, S. 741). Aus machtpolitischen Motiven und wegen der rechtlichen Verfahrensprobleme bei einer Änderung oder auch schlicht aus Gewohnheit bleiben diese Regelungen stabil, selbst wenn die Entstehungssituation und ihre Zwänge kaum noch erinnerlich sind. In entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zeigen sich auch langfristige Trends als Rahmenbedingungen internationaler Kooperation: ▶ Durchsetzung und unbedingte Achtung der Souveränität als Grundregel der Beziehungen der konsolidierten modernen Staaten als den entscheidenden Akteuren (siehe 2.4); ▶ Institutionalisierung von vertragsbasierten Organisationen und Verfahren, u. a. wegen der wachsenden Anzahl und Vielfalt der staatlichen Akteure, und ▶ in der Folge dessen zunehmende Verregelung oder Verrechtlichung der immer komplexeren internationalen Beziehungen im kooperativen Multilateralismus (siehe 2.2); ▶ wegen Überbeanspruchung durch den somit gefährdeten Multilateralismus (siehe 2.2) als gegenläufige Tendenz auch Informalisierung (siehe 7.6 und 9.2), die paradoxerweise die Zusammenarbeit im jeweils gegebenen, möglicherweise zu starren institutionellen Rahmen aufrechterhalten oder sogar vertiefen könnte. Es zeigt sich eine Tendenz: Funktionierender Multilateralismus macht allmählich das Souveränitätsprinzip problematisch und konnte es schwächen; Staaten bleiben bislang die Handlungskerne der Kooperation, aber andere Instanzen und Mechanismen lagern sich um sie an und gewinnen an Handlungsspielraum. Ob diese Entwicklung nachhaltig ihre Ausgangslage des Primates der Nationalstaaten transformiert oder wiederum Gegenreaktionen provoziert, wird das 21. Jahrhundert prägen. Literaturverweis zu 2.3.: Internationale Organisationen Karns/ Mingst 2018; Keohane 1984; Keohane/ Nye 1987; Keohane 1988; Krasner 1983; March/ Olson 1984; Müller 1993; Rittberger/ Zangl 2008; Schraepler 1994; Wesel 2012; Woyke 2007 <?page no="34"?> 34 2. Bedingungen internationaler Kooperation 2.4 Völkerrecht Den gesetzestreuen, zumindest Polizei und Justiz achtenden Bürgern eines Rechtsstaates ist es schwer verständlich, dass es ein weltweit geltendes Recht geben soll - ohne Polizei und Justiz, also ohne Staat als politischen Rahmen, der die rechtmäßige Ordnung sichert und Rechtsverletzungen ahndet. Im Deutschen schafft die altehrwürdige Bezeichnung „Völkerrecht“ noch weitere Missverständnisse; das englische „international law“ drückt deutlicher aus, worum es geht: um das Recht zwischen den Staaten, nicht um Recht unter Völkern oder gar Rechte der Völker. Wenn es also um zwischenstaatliches Recht geht, ist immer sogleich über die wichtigste Eigenschaft eines Staates zu reden: seine Souveränität. Das Konzept der Souveränität ist die Grundlage des modernen Staates und aus ihm folgt das maßgebliche Prinzip des Verhältnisses der Staaten untereinander: Anarchie ohne vorgegebene Regeln. Paradoxerweise gilt ein Friedensvertrag als Beginn dieses Zustandes zwischen den Staaten: Im Vertrag des Westfälischen Friedens von 1648 zum Ende des Dreißigjährigen Krieges ist erstmals völkerrechtlich greifbar, dass der souveräne Nationalstaat der entscheidende Akteur aller Politik sein wird: Im modernen internationalen System handeln nun uneingeschränkt nach innen und nach außen unabhängige, souveräne und gleichberechtigte Staaten - ohne übergeordnete geistliche oder weltliche Machtinstanz. Das sog. Westfälische Staaten-System Der Vertrag des Westfälischer Friedens von 1648 zum Ende des Dreißigjährigen Krieges erkannte nur noch Staaten als die oberste - eben „souveräne“ - Macht auf ihrem Territorium an, was nach den Religionskriegen kirchliche Einflüsse eindämmte. Das Abstraktum „Staat“ wurde noch nicht genannt, aber gemeint waren als neue Träger der Souveränität eben nicht mehr autorisierte Personen und Personenverbände als Herrscher, sondern die territoriale Herrschaft selbst - die „Völker“ waren dabei nicht angesprochen. Die Deckungsgleichheit von Territorium, Staat, Volk und auch des religiösen Bekenntnisses wird in der Folge als Idealfall angenommen; die Durchsetzung des Prinzips „cuius regio, eius religio“ („Wessen Herrschaft, dessen Religion“) war damals ein friedensschaffender zivilisatorischer Fortschritt: Der Verzicht auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates entschärfte eine häufige Kriegsursache. Das Westfälische Staaten-System ist begründet durch das Souveränitätsprinzip und das Territorialprinzip; das Legalitätsprinzip machte es zu einem funktionierenden inter-nationalen Regelwerk: Ungeachtet seiner Größe, Bevölkerung, militärischen Macht oder Wirtschaftskraft ist jeder souveräne Staat gegenüber allen anderen souveränen Staaten absolut gleichberechtigt; völkerrechtliche und vertragliche Regelungen gelten nur auf der Basis von Freiwilligkeit und Kündbarkeit nach Maßgabe der eigenen Interessen; Kriegsführung als ultimatives Mittel zur Wahrung der eigenen Souveränität bleibt legitim. Der Gedanke der Souveränität wurde eng mit dem modernen Staatsbegriff verwoben und ständig als Kampfbegriff eingesetzt, aber als regulatives Konzept allerdings praktisch nie <?page no="35"?> 35 2.4 Völkerrecht vollständig umgesetzt. Einige Hegemonialmächte mögen in ihren stärksten Zeiten ihre Souveränität tatsächlich voll ausgenutzt haben, meist aber waren pragmatisch Rücksichtnahme auf andere Staaten und die Duldung von Einflussnahme von außen angebracht; immer wurde versucht, die Souveränitätsrechte konkurrierender oder gegnerischer Staaten faktisch zu untergraben. Eine Balance zu finden, war immer riskant und meist wenig verlässlich, denn in der Logik eines anarchischen Staatensystems ohne vorgegebene Verhaltensregeln provoziert Konflikt, wer seine Möglichkeiten ausschöpft; wer dem Konflikt ausweicht, wird ausgenutzt. Während die Staaten-Souveränität im 19. Jh. noch fast als absolut gesehen wurde, haben konkurrierende Ansprüche und Normen sie im 20. Jh. immer mehr bedrängt; im Rahmen von Völkerbund und dann der UNO wurde Souveränität in Verbindung gesetzt mit der Mitgliedschaft in der internationalen Gemeinschaft, d. h. dass das Recht eines Staates durch seine Verpflichtung dieser gegenüber bedingt ist; dieser Gedanke wurde weiterentwickelt bis zum aktuellen Postulat einer Schutzverantwortung (siehe 8.1.3). Als dogmatisiertes Prinzip schafft Souveränität logischerweise für zwischenstaatliche Zusammenarbeit endlose Probleme, weil es nicht nur aktive Einmischung von außen ungeachtet der Begründung ausschließt, sondern schon öffentliche Kritik der Entscheidungen eines souveränen Staates oder den Versuch der argumentativen Einflussnahme darauf delikat oder sogar konterproduktiv machen kann. Schon die Gründung der UNO war geprägt durch den Widerspruch zwischen Souveränität und der Einsicht, eine kooperative Staatenorganisation sollte ihre Mitglieder - gegebenenfalls auch massiv - beeinflussen können (siehe 3.2); der Anspruch auf Einmischung ist ja nicht erst bei Krieg und Völkermord relevant, sondern bei allen Problemen aufgrund eines grenzüberschreitenden oder globalen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Einige Völkerrechtler postulieren, dass eine Art Verfassung der internationalen Gemeinschaft im Entstehen sei, die den Staaten abverlangt, vorrangige und vom Willen einzelner Staaten unabhängige Normen zu beachten, und ihnen letztlich als verbleibende Souveränität lediglich ein gewisses Maß an Autonomie garantiert. Das würde aber verlangen, dass die Staaten ihre Souveränitäts-Rechte wenigstens teilweise abgeben an die neu entstehende souveräne Struktur supranationalen Charakters, die im wörtlichen Sinn höherrangiger sein müsste als eine bloße internationale Organisation, die supranationale Kompetenzen allenfalls ausnahmsweise ausüben könnte. Die einzigen empirisch beobachtbaren Fälle supranationaler Kompetenz sind die vielgeschmähte Europäische Union (EU) - als einmaliger regionaler Sonderfall - und der Sicherheitsrat der UNO aufgrund seiner weitreichenden Rechte in bestimmten sicherheitsgefährdenden Situationen (siehe 6.1.2 und 8.1.2) - eine sehr spezifische und ebenfalls einmalige Regelung. Beschränkungen der Souveränität gibt es bislang nur für internationale Kooperation, nicht zugunsten der Bildung einer überstaatlichen Machtinstanz; insbesondere sind supranationale Kompetenzen für die UNO sachfremdes Wunschdenken. Und ein Weltstaat ist - dem Himmel sei Dank - nicht in Sicht. <?page no="36"?> 36 2. Bedingungen internationaler Kooperation Schlechte Political-Science-Fiction: Der „Weltstaat“ In krisengeschüttelten Köpfen spukt immer wieder ein wunderliches Gespenst: der „Weltstaat“. Auch ernstzunehmende Geister (wie Albert Einstein) haben von dieser utopischen Spinnerei geträumt. Der Gedanke ist gespenstisch, weil der Weltstaat schon ein Zombie sein muss bevor er je leben konnte. Der anspruchsvollen Idee eines die ganze Welt regierenden Zentralstaates, der mit Weltethik und Weltgesetzen, Weltpolizei und Weltgerichten weltweit Frieden und Gerechtigkeit schafft, genügten weder die alten Weltreiche noch die katholische („alles umfassende“) Kirche und erst recht nicht zwischenstaatliche „Weltorganisationen“ wie der Völkerbund oder heute „die UNO“; keine politische Kraft ist vorstellbar, die einen Weltstaat errichten und seine Macht sichern könnte. Der Weltstaat und seine Regierung sind unmöglich und unerwünscht - vor allem wären sie ungeeignet für die Lösung globaler Probleme: Ein globaler Staat über allen Völkern und Kulturen wäre notwendig zentralistisch und bürokratisch, nach demokratisch-partizipatorischen Standards nicht kontrollierbar; nicht mal aus technokratischer Sicht würde er problemspezifisch genug funktionieren. Zwar gelten bekennende Anhänger der Allmachts-Phantasien vom Weltstaat als skurrile Außenseiter, aber als leitende Idee oder Denkreflex wirkt der Weltstaatsgedanke hintergründig: „die UNO“ wurde schon von vielen Zeitgenossen ihrer Gründung und von überzeugten Unterstützern als Weltstaats-Ersatz missverstanden. Wo es keinen „Weltstaat“ gibt, gibt es auch kein „Weltrecht“ in seinem Rahmen und Namen; was bleibt ist ein zwischenstaatliches Recht, das nicht über den Staaten steht, aber unter ihnen Ordnung vorgeben und Verbindlichkeit herstellen kann - soweit diese das als Einzelne zulassen, aber auch als Kollektiv umsetzen. Dahinter bleibt die philosophische Frage offen, ob die universale Gültigkeit menschheitsübergreifender Rechtsnormen mit globalem Anspruch anzunehmen oder gar zwingend zu begründen ist. Das „Völkerrecht“ ist also keine einfache Materie: Wie es entsteht, wer es trägt und wen es verpflichtet bzw. „bindet“, was seine Grundsätze sind - und wie und von wem es durchgesetzt werden kann - sind schwierige Fragen. Quellen des Völkerrechts/ internationalen Rechts sind ▶ hauptsächlich und vorrangig Internationale Verträge - der wichtigste ist die Charta der Vereinten Nationen (siehe 4), ▶ aus der Praxis entstandenes Gewohnheitsrecht, ▶ allgemeine Rechtsgrundsätze, ▶ richterliche Entscheidungen von international zuständigen Gerichtshöfen ▶ und qualifizierte Lehrmeinungen. <?page no="37"?> 37 2.4 Völkerrecht Quellen des Völkerrechts/ internationalen Rechts nach dem Statut des Internationalen Gerichtshofes (IGH) Art. 38 Abs. 1 „Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an ▶ internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind; ▶ das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung; ▶ die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze; ▶ […] richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen.“ Rechtssubjekte des Völkerrechts / internationalen Rechtes - also Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten - sind ▶ in erster Linie (souveräne) Staaten, ▶ eingeschränkt Internationale Organisationen, ▶ selten auch Individuen. Tragende Prinzipien des Völkerrechts / internationalen Rechtes sind ▶ Souveränität und zugleich Interventionsverbot: Seine innere politische Ordnung ist von jedem Staat unabhängig selbst zu bestimmen und er hat somit die uneingeschränkte Gebietshoheit und Personalhoheit; es gibt also kein Recht zu Eingriffen in einen Staat seitens eines anderen oder mehrerer anderer Staaten - auch nicht aller anderen zusammen - daher gilt das Interventionsverbot, das die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates garantiert. ▶ Gleichheit: Für alle souveränen Staaten gilt logischerweise (pars in parem non habet imperium) ungeachtet ihrer Größe, Lage, Macht, Geschichte u. a. gleiches Recht, z. B. im Prinzip „Ein Staat = eine Stimme“ bei Abstimmungen in internationalen Organisationen (allerdings nicht in allen, was begründet sein muss). ▶ Reziprozität: Was für Staat A gegenüber Staat B gilt, gilt gleichermaßen auch für Staat B gegenüber Staat A; jeder Staat ist somit rechtlich sowohl Urheber wie Adressat. ▶ Gewaltverbot: Die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates ist verboten; wie das Interventionsverbot ergibt dies sich schon aus dem Souveränitätsprinzip, dazu kommt der Ausschluss von Gewalt als legitimem Mittel der Außenpolitik; das Recht auf Selbstverteidigung ist aber gegeben. ▶ Grundsatz von „Treu und Glauben“: Die Staaten sind zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet, d. h. Verträge müssen eingehalten werden (pacta sunt servanda), einseitige Versprechen sind verbindlich, Rechtsmissbrauch ist verboten u.ä. <?page no="38"?> 38 2. Bedingungen internationaler Kooperation Instrumente zur Durchsetzung des Völkerrechts/ internationalen Rechtes sind ▶ Internationale Gerichte (wie IGH, EGMR oder spezielle Schiedsstellen wie die der WTO), ▶ Internationale Organisationen, in erster Linie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (siehe 6.1.2). Bislang schützt das Völkerrecht in erster Linie die souveränen Staaten: Gewaltverbot und Interventionsverbot garantieren den Bestand jeden Staates; nur er kann seine innere Ordnung bestimmen und nur er hat das legitime Gewaltmonopol auf seinem Territorium; in seinem auswärtigen Handeln ist er allerdings eingeschränkt. Das Problem einer Rechtsordnung ohne eigenen Rechtsstaat bleibt: Welche/ wessen Macht darf und kann Gerichtsurteile oder Beschlüsse des Sicherheitsrates umsetzen? Da es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die internationales Recht faktisch durchsetzen könnte, gilt es leider oft nur kontrafaktisch - aber: Außer illegitimer Ausübung von Gewalt bleibt als Option nur mühselige internationale Kooperation. Literaturverweis zu 2.4.: Völkerrecht Alvarez 2018; de Serpa Soares 2015; Dörr 2016; Fassbender 2000; Fassbender/ Siehr 2012; Herdegen 2019; Hobe 2014; Nußberger 2009; Ruffert/ Walter 2009; Simma 1991; Tomuschat/ Walter 2018; Vitzthum/ Proelß 2016 <?page no="39"?> 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ Zwischen Staaten gibt es schon seit längerem Abstimmung von und Zusammenarbeit bei Regelungen sowie dazu dienende Institutionen - was wir heute internationale Kooperation und Organisation nennen. Die ersten funktionsspezifischen internationalen Organisationen erzwang der technisch-industrielle Fortschritt, wenn technische oder logistische Fragen über Staatsgrenzen hinweg abgestimmt und organisiert werden mussten, so für die Rheinschifffahrt schon 1815, dann für die Telegraphie 1865, in der Meteorologie 1873, für Post 1874 und Eisenbahn 1922; aber auch die internationale Arbeitsorganisation wurde als erste fachpolitische schon 1919 gegründet. Universale internationale Organisationen mit nicht spezifisch eingegrenzten, sondern weitreichendem oder umfassenden politischen Anspruch wurden aus Krieg und Zerstörung geschaffen - um den Frieden zu wahren. Alle internationalen Organisationen und besonders das schwer durchschaubare Geflecht der heutigen Vereinten Nationen (UNO) sind nur aus der geschichtlichen Situation zur Zeit ihrer Entstehung heraus zu verstehen: ▶ Nach der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen ordnete der Wiener Kongress die Staatenwelt; ▶ der Völkerbund wurde aus dem Ersten Weltkrieg entwickelt als Versuch, wenigstens eine friedenswahrende Instanz den bisher zum Frieden unfähigen Nationalstaaten entgegenzusetzen; ▶ die Vereinten Nationen (UNO) wurden mitten im Zweiten Weltkrieg erarbeitet, ausgehandelt und noch vor dessen Ende gegründet - ungefiltert aufgrund der Erfahrungen dieses mörderischsten aller Kriege, der schon vor dem ersten Einsatz der Atombombe die Gefahr der Zerstörung der menschlichen Zivilisation ahnen ließ. Die UNO hatte zudem die zwei schlimmsten Massenmörder der Weltgeschichte als „Paten“ ihrer Entstehung aus dem Zweiten Weltkrieg - Hitler als Feind jeder Zivilisation und zu besiegender Kriegstreiber, Stalin als notwendiger Alliierter im Krieg und als Kooperationspartner für eine Friedensordnung danach. Das ist kein Makel für die UNO, aber markierte von vorne herein, wie schwierig ihre Arbeit sein würde. Internationale Organisationen als „gefrorene Entscheidungen“ (Keohane 1988, S. 384) oder „Geschichte verschlüsselt in Regeln“ (March/ Olson 1984, S. 741) zu sehen, erleichtert sehr, sie angemessen einzuschätzen. 3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg So alt wie die Menschheit ist der Krieg - eben so alt ist der Traum vom Frieden in der Welt. Diesen Traum zu verwirklichen könnte nur gelingen, wenn ▶ als minimaler Konsens Grundsätze einer universalen Friedensethik gültig wären <?page no="40"?> 40 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ und zugleich oder wenigstens alternativ ▶ Friedenssicherung auch „realpolitisch“ verlässlich durchgesetzt werden könnte sei es durch eine dauerhaft übergeordnete imperiale Macht, sei es durch ein verbindliches Regelsystem, das alle potentiellen Friedensstörer zum Wohlverhalten verpflichtet. Konzepte und Vorschläge zur Sicherung von Frieden in Antike und Mittelalter hatten wenig Erfolg: Die Militärbündnisse der griechischen Stadtstaaten und das römische Imperium suchten den Krieg mit Kriegsbereitschaft zu kontrollieren („si vis pacem para bellum“); das mittelalterliche Reich unter der Führung von Papst und/ oder Kaiser sollte auch als Garant von Frieden zumindest innerhalb der Christenheit verstanden werden, war es aber selten. Manche Ideen waren aber originell und wohl überlegt: Der Mönch Engelbert von Admont hatte im frühen 14. Jh. schon das Konzept eines ausgleichenden „Weltstaates“ mit einer Eintracht erzwingenden einheitlichen „Weltregierung“; auch der Dichter Dante Alighieri dachte zu dieser Zeit über eine Gerechtigkeit schaffende Weltmonarchie nach; 1462 entwarf der böhmische König Georg von Podiebrad einen recht konkreten und anspruchsvollen Staatenbundplan, wonach eine europäische Friedenskonferenz ein Schiedsgericht zur Streitschlichtung einrichten und mit einer gemeinsamen Armee Frieden schaffen sollte. In der Neuzeit wurden differenziertere Optionen durchdacht, denn mit der Etablierung der Nationalstaaten als exklusive Träger der unteilbaren Souveränität im modernen Staatensystem - historisch am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Vertragswerk des „Westfälischen Friedens“ von 1648 zu greifen (siehe 2.4) - mussten sich alle Überlegungen zu einer Friedensordnung am neuen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten orientieren: Nicht mehr denkbar waren nun alle zentralisierten und hierarchischen Herrschaftsformen, die eigenständige Regelungskompetenz statt der und über den nationalstaatlichen Regierungen hätten, also kein Reich/ Imperium/ Weltstaat mit einer zentralen supra-nationalen Zentralinstanz/ Weltregierung - wohl aber freiwillige Staaten-Bünde und zwischen-staatliche = inter-nationale Institutionen. Die unterschiedlichsten Überlegungen und Vorschläge für eine Organisation der internationalen Gemeinschaft wurden angeboten von Praktikern wie dem französischen König Heinrich IV. oder dem Herzog von Sully, doch vor allem durch Gelehrte: Hugo Grotius, Eméric Crucé, William Penn, Charles Irénée Castel (Abbé de Saint-Pierre), Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Jeremy Bentham. Einige skizzierten schon recht konkret Struktur und Funktionsweise der späteren internationalen Organisationen, Castel entwickelte gar schon den Gedanken eines Rechtes auf Einmischung in die Souveränität; der Jurist Hugo Grotius klärte erstmals die Grundsätze des internationalen Rechts („De jure belli et pacis“/ „Über das Kriegs- und Friedensrecht“, 1652); der Philosoph Immanuel Kant gab eine Argumentations-Vorlage zu den Möglichkeiten internationaler Organisation („Zum ewigen Frieden“, 1795), mit der heute noch gerne gearbeitet wird. Intellektuell angeregt von diesen friedenstheoretischen Werken, religiös und idealistisch vom Friedenswunsch inspiriert, aber auch ökonomisch gegen die Kosten von Krieg motiviert, entstanden seit dem 19. Jh. in den USA und Großbritannien und später in ganz Europa die unterschiedlichsten Friedensgesellschaften. <?page no="41"?> 41 3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts u.v.m. wurden auf diversen internationalen Friedenskongressen diskutiert und propagiert. Als weltfremd und naiv geschmäht hatten die Friedensbewegten gegen den in den meisten Ländern nationalistischen und militaristischen Zeitgeist überraschend großen Erfolg bis in die Tagesordnungen der internationalen Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907; der Kampf gegen das Wettrüsten ging verloren, aber wenigstens humanitäre Regeln für die Kriegführung konnten durchgesetzt werden. Noch älter als der Völkerbund von 1919 und viel älter als die UNO von 1945 sind einzelne funktionsspezifische internationale Organisationen. Die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung zwang schon im 19. Jahrhundert die sich rasch industrialisierenden Nationalstaaten zu internationaler Kooperation, damit Fortschritte auch organisatorisch umgesetzt werden konnten. Dazu gab es unterschiedliche Wege der Entwicklung und dann der Kooperation mit den jüngeren universalen Organisationen Völkerbund und Vereinte Nationen. Das Wetter - selbst im klassischen Zeitalter der Nationalstaaten naturgemäß ein übernationales Phänomen - regte die Meteorologie schon 1873 an, die Leiter der einzelnen Wetterdienste in einer internationalen nichtstaatlichen Organisation zusammenarbeiten zu lassen, die erst gut sieben Jahrzehnte später zur einer zwischenstaatlichen „Sonderorganisation“ der UNO (siehe 5.3) wurde. Auch die altehrwürdige internationale Postorganisation von 1874 wurde ebenso erst nach fast gleich langer Zeit durch Kooperationsverträge als Regierungsorganisation eine Sonderorganisation der UNO. Dagegen kam der grenzüberfahrende Zugverkehr überraschenderweise lange ohne eine fachspezifische internationale Organisation aus, bis dann 1922 ein internationaler Verband der Bahnen und Unternehmen, nicht der Staaten, gegründet wurde, der nie eine formelle Bindung zum UN-System einging. Neben den klassischen frühen Organisationen gab es einige internationale Gruppen und Zusammenschlüsse, meist auf Initiative von Wissenschaftlern und technischen Experten, aus denen sich mit der Zeit formelle internationale Organisationen entwickeln konnten - so z. B. 1945 die Welternährungsorganisation FAO aus dem „Internationalen Landwirtschaftsinstitut“ von 1905. Frühe internationale Regelungssysteme und Organisationen seit/ Sitz Bezeichnung Kürzel Arbeitsbereich 1815 Straßburg Zentralkommission für die Rheinschifffahrt Commission Centrale pour la Navigation du Rhin ZKR CCNR Flussschifffahrt auf dem Rhein 1865 Genf 1934 1949 SO der UNO Welttelegraphenverein International Telegraph Union International Telecommunication Union ITU ITU Telegraphie und Fernmeldewesen, Internet 1873 Genf 1950 SO der UNO International Meteorological Organization World Meteorological Organization IMO WMO Meteorologie 1874/ 1878 Bern 1948 SO der UNO General Postal Union Universal Postal Union UPU Postwesen 1905 1945 Rom 1945 SO der UNO Internationales Landwirtschaftsinstitut Welternährungsorganisation/ Food and Agricultural Organization FAO Landwirtschaft und Ernährung <?page no="42"?> 42 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ Frühe internationale Regelungssysteme und Organisationen seit/ Sitz Bezeichnung Kürzel Arbeitsbereich 1919 Genf 1946 SO der UNO Internationale Arbeitsorganisation/ International Labour Organization ILO Arbeit 1922 Paris Internationaler Eisenbahnverband Union internationale des chemins de fer UIC Eisenbahnverkehr Die frühen internationalen Organisationen erfüllten meist unpolitische Aufgaben der grenzüberschreitenden Abstimmung und Zusammenarbeit, indem sie die nationalen Verwaltungen koordinierten und die Einhaltung der Verpflichtungen ihrer Mitglieder überwachten - allein schon diese sachbezogene internationale Praxis konnte von politischer Bedeutung sein. Der Ständige Schiedsgerichtshof (Permanent Court of Arbitration) zur Beilegung internationaler Streitigkeiten (Den Haag) hätte eine Sonderstellung gehabt; er war von der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 geschaffen worden, wurde dann allerdings wenig genutzt. Erst die Erschütterung der europäischen Staatenwelt durch den Ersten Weltkrieg politisierte die internationale Kooperation. Denn die Erfahrung des Ersten Weltkrieges als epochale Katastrophe machte die Idee der internationalen Friedensorganisation realistisch. Die USA hatten 1917 mit ihrer entscheidenden Beteiligung am Krieg die weltpolitische Führungsrolle übernommen, was die meisten Europäer erst viel später bemerkten; ein elementares Kriegsziel von Präsident Woodrow Wilson (als letzter seiner „14 Punkte“ 1918) war die Gründung eines Völkerbundes als „eine allgemeine Vereinigung der Nationen […] zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistungen für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten.“ Der Völkerbund (League of Nations) war die erste internationale Organisation mit universalem Anspruch: Möglichst alle Staaten sollten neben der Hauptaufgabe der Friedenswahrung auch tendenziell das ganze Spektrum internationaler Probleme bearbeiten. Er war ein wesentliches und konstruktives Element der Nachkriegsordnung von 1919, wie sie auf der Pariser Friedenskonferenz als Versailler Vertrag ausverhandelt wurde. Die neuartige internationale Staaten-Organisation hatte 42 Gründungsmitglieder; ihr Sitz wurde Genf. Gemäß der sachlich logischen Grundstruktur internationaler Organisationen, die fast allen gemeinsam ist, waren die Organe des Völkerbundes: ▶ eine Versammlung aller seiner Mitgliedstaaten als Diskussionsforum und Entscheidungsgremium, die aber nicht ständig tagt: die Bundesversammlung, die nie mehr als 57 Staaten gleichzeitig umfasste; ▶ ein Exekutiv-Ausschuss, der ständig bzw. auf kurzfristige Einladung tagt, leistet die eigentliche politische Arbeit, weil er wegen seiner geringen Mitgliederzahl ein arbeitsfähiges Gremium ist: der Völkerbundrat mit 4-5 ständigen und 4-11 nicht-ständigen Mitgliedern; ▶ zur Erledigung von Verwaltungsaufgaben und zur Koordination der Arbeit ein ständiges Sekretariat mit nur der internationalen Organisation verpflichteten Mitarbeitern unter Leitung eines Generalsekretärs; <?page no="43"?> 43 3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg ▶ verschiedenartige Nebenorgane für besondere Aufgaben (Ständige Mandatskommission, Abrüstungsausschuss); ▶ ein Gerichtshof als Schiedsstelle für Streitigkeiten unter den Mitgliedern: der Ständige Internationale Gerichtshof (Den Haag), dem Völkerbund seit 1920 zugeordnet aber formal autonom. Als wichtigste Aufgabe sollte der Völkerbund Frieden durch allgemeine Abrüstung gewährleisten. Durch den internationalen Vertrag der Völkerbundssatzung waren seine Mitglieder zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten verpflichtet, hatten aber auch die Pflicht zum gegenseitigen Beistand bei Verstössen dagegen, um Aggressoren abzuschrecken im Sinne des Konzepts der kollektiven Sicherheit (siehe 4 und 8.1); die gegenseitige Schutzverpflichtung sollte es den Staaten überhaupt erst möglich machen, das Risiko von Abrüstung einzugehen. Generell sollte die Organisation Konflikte im internationalen Verhalten mildern oder gar ausräumen. Weil aber einige wichtige Staaten nie oder zeitweise nicht Mitglieder des Völkerbundes waren, wurden Universalität und damit politische Verbindlichkeit nie erreicht. Das besiegte und gedemütigte Deutschland wurde mühsam erst 1926 aufgenommen und trat mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1934 wieder aus. Russland, durch die Revolution von 1917 lange mit sich selbst beschäftigt, trat erst 1934 bei. Katastrophal aber war, dass sich in den USA ungeachtet des Engagements der Wilson-Regierung politisch wieder die isolationistische Doktrin durchsetzen konnte, sich nicht in Streitigkeiten europäischer Mächte hineinziehen zu lassen; 1920 lehnte der amerikanische Senat den Versailler Friedensvertrag und damit den Eintritt der USA in den Völkerbund ab. Somit standen als liberal verfasste Großmächte nur Großbritannien und Frankreich gegen die erstarkenden totalitären Kräfte in Europa. Zu einer angemessenen Einschätzung der historischen Leistung des Völkerbundes sind angemessene Kriterien nötig; die ihm vorgegebenen Bedingungen und die ihm von den Staaten zugestandenen Rechte sind realistisch einzuschätzen, um nicht leichtfertig der gängigen Rede von seinem „Scheitern“ zu folgen - denn der Völkerbund hatte schlicht nicht das ausreichende Instrumentarium, um seine Aufgaben erfüllen zu können: Er hatte generell zu wenig Kompetenzen; er hatte keine eigenen Streitkräfte und auch nicht die Autorität, Aufgaben an Streitkräfte der Mitgliedstaaten zu delegieren; er hatte faktisch keinerlei Sanktionsmacht gegen Staaten, auch wenn sie massiv gegen die Völkerbundssatzung verstießen. In dieser Satzung fehlte ein wichtiges Element, das in der Charta der UNO dann zu finden ist und gerne harsch kritisiert wird: Vorrechte für Großmächte. Weil diese institutionell keinen besonderen Einfluss hatten, konnte der Völkerbund als politische Organisation so wenig Druck auf seine Mitgliedstaaten aufbauen. Denn Beschlüsse konnten im Völkerbundsrat nur einstimmig gefällt werden, also nur mit Zustimmung aller (vier bis fünf) ständigen (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Deutschland 1926-1933 bzw. UdSSR 1934-1939) wie aller (vier bis elf) nicht-ständigen Mitglieder; nur direkt an einem Konflikt beteiligte Parteien hatten bei Abstimmungen dazu kein Stimmrecht. Da zumindest alle Mitglieder des Völkerbundsrates gleichermaßen jeden Beschluss verhindern konnten, hatten die Großmächte nicht das Privileg, die Kooperation zu verweigern - und also wenig Anreiz zur Mitarbeit. Ohnehin <?page no="44"?> 44 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ waren die Kompetenzen des Völkerbundsrats gegenüber der Versammlung nicht klar abgegrenzt oder er gar vorrangig berechtigt. Der Völkerbund konnte folglich zwar in kleineren Konflikten erfolgreich vermitteln, aber wenn interessierte Mitgliedsregierungen die Kooperation verweigerten wie 1931 Japan (Mandschurei) und 1936/ 37 Italien (Abessinien), war sein Mechanismus unzureichend. Dies diskreditierte ihn selbst; er stellte seine Arbeit mit dem Zweiten Weltkrieg praktisch ein und wurde im April 1946 formal aufgelöst. Immerhin war sein kurzer Auftritt der erste Versuch, durch eine Staaten-Organisation verlässlich und dauerhaft internationale Sicherheit zu schaffen. Bisher sollte das Gleichgewicht der Mächte mit bilateraler Geheimdiplomatie austariert werden, was oft genug misslang; nun wäre in multilateralen Verhandlungen das Prinzip der kollektiven Sicherheit durch gegenseitige Kooperation durchzusetzen gewesen, was im ersten Anlauf aber auch noch nicht gelang. Zu erinnern ist daran, dass zur Zeit des Völkerbundes Krieg noch als ein taugliches Instrument der internationalen Politik galt und auch völkerrechtlich durchaus legitim war - egal ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, sofern er nur formell erklärt war. Die Staaten waren durch die Völkerbunds-Satzung lediglich an ein relatives Kriegsverbot gebunden: Nach einem ihnen nicht genehmen Schiedsspruch durch den Internationalen Gerichtshof sollten sie nicht vor Ablauf einer Frist von drei Monaten einen Krieg beginnen. Mit dem Vorwurf des „Scheiterns“ dem Völkerbund die Verantwortung dafür zuzuschieben, dass zu seiner Zeit Krieg nicht gebannt und verhindert werden konnte, ist irreführend, denn die Unfähigkeit zum Frieden war in Gesellschaft, Politik und Militär seiner Mitgliedstaaten zu finden: Wie jede internationale Organisation konnte auch der Völkerbund nur so erfolgreich sein wie seine Mitglieder es zuließen. Zumal seiner vorrangigen Aufgabe einer allgemeinen Abrüstung boten die Staaten keine Chance zur Verwirklichung. Dennoch war der Völkerbund als Vorläufer der heutigen UNO ein lehrreiches Moment der unendlichen Geschichte der Zivilisierung der internationalen Politik. Literaturverweis zu 3.1.: Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg Müller 1996; Ostrower 1996; Pfeil 1976; Ter Meulen 1917/ 1929/ 1940; Traz 1935; Valentin 1920; Weber 1987 3.2 Entstehung und Gründung im Zweiten Weltkrieg Die UNO ist wie der Völkerbund aus dem mörderischen Geschehen eines Weltkrieges heraus auf Initiative von kriegführenden Regierungen späterer Siegermächte entstanden, nicht als kühner Entwurf für eine bessere Weltorganisation aus der Mitte der „Völker“. Schon die Benennung der neuen Organisation als die der „Vereinten Nationen“ zeigt, dass sie ein unmittelbares Produkt des Zweiten Weltkrieg ist: Als die Alliierten gegen Deutschland, Italien und Japan an Neujahr 1942 eine gemeinsame programmatische Botschaft abgaben, nannten sie diese die „Erklärung der Vereinten Nationen“ („Declaration by United Nations“). Der Kampf gegen Deutschland und Japan wurde ohne den Völkerbund gewonnen, in dem die Alliierten kein geeignetes Instrument gegen staatliche Aggression mehr sahen; dennoch <?page no="45"?> 45 3.2 Entstehung und Gründung im Zweiten Weltkrieg galt es schon im größten und schlimmsten Krieg der Geschichte als selbstverständlich, dass nun eine neue und bessere internationale Organisation zu gründen war, die endlich dauerhaft in der Lage sein sollte, Krieg und Kriegsverbrechen zu verhindern - und Frieden aktiv zu ermöglichen. Trotz der Enttäuschungen mit dem Völkerbund geriet die Organisation der Vereinten Nationen in Ansatz und Struktur ihm recht ähnlich nach den idealtypischen Merkmalen, die der ausgearbeitete Gedanke einer internationalen Friedens-Organisation vorgab: ▶ Das im vorausgegangenen Krieg siegreiche Bündnis wird zu einem System der kollektiven Sicherheit unter Vorrang der Großmächte, die als ständige Mitglieder im entscheidungsmächtigsten Gremium sitzen; ▶ dabei bleibt die unantastbare Souveränität der einzelnen Staaten oberste Maxime, also auch das prinzipielle Verbot der Einmischung in deren innere Angelegenheiten; ▶ idealistisch wird Abrüstung beschworen und realistisch Rüstungsbegrenzung versucht; ▶ zum Konfliktaustrag ist friedliche Streiterledigung verpflichtend, durch Verhandlungen und/ oder Schiedsgerichte; ▶ stützend werden Mechanismen für Entwicklung und Ausbau der Beziehungsgeflechte zwischen den Staaten im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich vorgesehen; ▶ dazu werden (eigenständige) Fachorganisationen eingerichtet; ▶ rhetorische Formeln dienen dem Bekenntnis zu hochstehenden moralischen Prinzipien und Zielen, insbesondere zur Achtung der Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte. Die USA waren die treibende Kraft der Neugründung; die Amerikaner gingen wohl davon aus, dass ihre aktive und bestimmende Mitarbeit nun den Erfolg bringen würden. Da dieser Optimismus durch ihr im Krieg ständig gewachsenes Machtpotential wohl unterfüttert war, konnten die alten Rezepte nur wenig modifiziert fortgeschrieben werden. Somit wurde der status quo von 1945 in die Struktur der neuen Organisation nur schwer korrigierbar eingeschrieben; jedenfalls wurde „die einmalige Gelegenheit versäumt, eine an den Bedürfnissen der Staatengemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerichtete Weltorganisation zu schaffen“ und ihr „institutionelle […] Mechanismen, die einen kontrollierten Wandel ermöglicht hätten“, zu geben (Bertrand 1995, S. 37f.). Die Gespräche und Verhandlungen zu Konzept und Planung der neuen Organisation seit 1941 verliefen entlang von drei interessenbestimmten Konfliktlinien, ▶ zwischen den USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt und Großbritannien unter Premierminister Winston Churchill, ▶ zwischen diesen beiden und der Sowjetunion unter Generalsekretär Josef Stalin, ▶ zwischen den Großmächten und dem Rest der Kriegsalliierten. Der Verhandlungsprozess war immer von Konkurrenz um Macht und die dynamische Entwicklung ihrer Verteilung im Krieg geprägt: Großbritanniens Vormachtstellung schwand im Abwehrkampf gegen Deutschland, während das Machtpotential der hilfreichen USA trotz ihres Engagements auf zwei Kriegsschauplätzen rasch wuchs; die früher randständige Sowjetunion musste immer stärker in die Entscheidungen eingebunden werden, damit der Krieg <?page no="46"?> 46 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ in Europa zu gewinnen war, weswegen unterschiedliche Vorstellungen der USA und Großbritanniens der gemeinsamen Linie gegenüber Stalin untergeordnet wurden. Die UNO wurde in vier Phasen konzipiert und ausverhandelt: ▶ Dezember 1941 bis Sommer 1944: erste Überlegungen, auslotende Gespräche und erste konzeptionelle Absprachen; ▶ August/ September 1944: detaillierte Verhandlungen zur Festlegung der Struktur; ▶ Februar 1945: verbindliche Entscheidungen in einzelnen Interessenkonflikten; ▶ April-Oktober 1945: Konsens-Findung und Gründungs-Beschluss. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill berieten bereits im August 1941 über die Nachkriegsordnung - die USA waren noch gar nicht in den Krieg eingetreten. Weil das Treffen an Bord des britischen Schlachtschiffes „Prince of Wales“ mitten im atlantischen Ozean stattfand, wurde die Abschlusserklärung als „Atlantik-Charta“ bekannt; sie betonte als wesentliche Prinzipien der zukünftigen Weltordnung das Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Gewaltverzicht der Staaten untereinander sowie den internationalen Freihandel, aber auch internationale Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Zur Frage einer neuen internationalen Organisation wurde vorerst nur die Absicht zur „Errichtung eines weiteren und dauernden Systems der allgemeinen Sicherheit“ verkündet. Die leitende Vorstellung war wohl zunächst, dass die USA zusammen mit den Briten als hegemoniale Ordnungsmächte die internationale Sicherheit garantieren würden, während alle anderen Staaten abrüsteten. Aber die Dynamik des Krieges erwies das dann als unrealistisch, weil zur Bezwingung von Deutschland, Italien und Japan eine wesentlich breitere Koalition von Alliierten nötig wurde. Anfang 1942 beschloss das Kriegsbündnis von 26 Staaten die - für die spätere UNO namengebende - „Erklärung der Vereinten Nationen“ („Declaration by United Nations“). Auch die Sowjetunion (UdSSR) unter ihrem Diktator Josef Stalin war als alliierte Großmacht einzubinden, wofür ihr der Status einer mit den USA und Großbritannien gleichberechtigten Schutzmacht für die spätere internationale Ordnung zugestanden werden musste. Aus der atlantischen Zweier-Hegemonie wurden die „großen Drei“ und später sogar die „großen Vier“, als die drei Großen auf der Außenministerkonferenz in Moskau im Oktober 1943 beschlossen, dass auch China als Garantiemacht für den Weltfrieden nötig sein würde. Aus dem hegemonialen Denken und Vorgehen heraus hatte sich ein stärker multilaterales Moment entwickelt. Erstmals wurde von der Moskauer Konferenz die Absicht erklärt, als Ersatz für den Völkerbund eine neue Weltorganisation zu gründen, was in einem speziellen Konsultations- und Verhandlungsprozess vorbereitet werden sollte. Die „großen Drei“ handelten die grundsätzlichen Entscheidungen, die zunächst meist recht kontrovers waren, im Kern unter sich aus: Die UNO ist von ihrer Entstehung an durchwegs ein Verhandlungskompromiss. Zwei Optionen standen zur Entscheidung, ▶ eine regionale Konzeption, nach der jeweils die Großmächte unabhängig voneinander als Hegemonialmächte in ihren Weltregionen Frieden schaffen, also die USA in Amerika, <?page no="47"?> 47 3.2 Entstehung und Gründung im Zweiten Weltkrieg Großbritannien in Europa und die Sowjetunion im Fernen Osten - was Churchill und Stalin bevorzugten, ▶ eine universale Konzeption, nach der die Großmächte in gemeinsamer weltweiter Zuständigkeit den Weltfrieden sichern - was Roosevelt vertrat. Der amerikanische Präsident konnte sich auf der Konferenz in Teheran im November 1943 durchsetzen: Die UNO würde von universaler Struktur sein. Die USA dominierten auch den folgenden Gründungsprozess: Im Sinne der klassischen Verhandlungs-Maxime „always control the paper“ übernahmen sie die Federführung bei der Ausarbeitung und Formulierung der Charta - also der völkerrechtlichen Vertragsgrundlage - zu Aufbau und Auftrag der zu gründenden Organisation. Der Entwurf der Charta aus dem US-Außenministerium war die Arbeitsgrundlage der entscheidenden Expertenkonferenz, die auf dem Landsitz Dumbarton Oaks bei Washington im Spätsommer 1944 über Wochen im Detail verhandelte; vertreten waren nur die „großen Vier“ - USA, Großbritannien, UdSSR und China. Das Verhandlungsergebnis legte die Struktur der zu gründenden Organisation in ihren wesentlichen Elementen fest. Die prägenden Maximen waren, ▶ dass ein gegenüber der Versammlung aller Mitgliedstaaten in Fragen von Krieg und Frieden vorrangig zuständiger Sicherheitsrat mit wenigen Mitgliedern und mit handlungsbefähigenden Kompetenzen einzurichten sei, ▶ dass im Gegensatz zur Versammlung aller Mitgliedstaaten in diesem operativen Gremium die Großmächte substantielle Vorrechte haben sollten: Ständige Mitgliedschaft und eine Art Vetorecht. Zudem wurde schon entschieden, dass auch dem bislang besetzten Frankreich als fünfter Großmacht ein ständiger Sitz in diesem Sicherheitsrat zustehe. Zwei noch offene Fragen klärten Roosevelt, Churchill und Stalin auf ihrer Konferenz in Jalta im Februar 1945: Die Forderung der Sowjetunion, alle 16 Sowjetrepubliken als selbständige Mitglieder der Organisation aufzunehmen, hätte Stalin einen gewichtigen Stimmenblock in der Vollversammlung verschafft; sie wurde auf die Aufnahme von nur zwei (Weißrussland, Ukraine) abgemildert. Schwieriger war die Einigung auf einen Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat; der als „Jalta-Formel“ bekannte Kompromiss gab den Großmächten ein indirekt formuliertes Vetorecht: Nicht nur eine festgelegte Anzahl von Mitgliedern des Rates, sondern darunter auch alle ständigen Mitglieder müssen dem Entwurf einer Resolution zustimmen, um sie wirksam zu verabschieden. Nach den Klärungen von Jalta sollte nun die neue Organisation so schnell wie möglich gegründet werden - auch um das noch günstige Meinungsklima in den USA zu nutzen. Zur Gründungskonferenz (United Nations Conference on International Organization/ UNCIO) luden die „großen Vier“ für den 25. April 1945 nach San Francisco (USA) ein; bis zum 26. Juni konferierten die Vertreter von 50 Regierungen - die der alliierten Staaten, die mit Deutschland und Japan im Kriegszustand waren, ferner Argentinien, Libanon und Syrien sowie die <?page no="48"?> 48 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland; Polen konnte seine Delegation zwar nicht rechtzeitig anmelden, gilt aber als 51. Gründungsmitglied. Zumindest staatsrechtlich waren ca. 80-Prozent der Weltbevölkerung vertreten - alle Kontinente, alle Rassen, alle Religionen; 850 Delegierte, ihre Mitarbeiter und Berater sowie das Konferenz-Sekretariat, insgesamt ca. 3500 Personen, nahmen teil, anwesend waren etwa 2500 politische Beobachter und Journalisten - UNCIO war wahrscheinlich die größte nicht-kriegerische internationale Versammlung der Geschichte bisher. Ihre Arbeitsweise und Verhandlungsmethoden sind für alle großen multilateralen Konferenzen üblich geworden, weil sie deren organisatorische und kommunikative Probleme zwar nicht lösen aber wenigstens vereinfachen: ▶ Die Vollversammlung dient rechtlich der formellen Beschlussfassung und politisch der öffentlichen Darstellung - das Opernhaus von San Francisco war ein angemessener Ort. Im Vorsitz der Versammlung wechselten sich die Leiter der Delegationen der vier Großmächte (USA, GB, UdSSR, China) ab. ▶ Die eigentliche Arbeit, die konkreten Formulierungen des Vertragstextes zu verhandeln, wurde verteilt auf verschiedene Ausschüsse und meist differenziert organisiert durch informelle Interessen-Gruppen oder „Freundes“-Zirkel. Ein Lenkungsausschuss aus allen 50 Delegationsleitern entschied in wesentlichen Fragen; weil aber auch er zu schwerfällig war für die Behandlung der Masse der Probleme, wurde ein 14-köpfiger Vorstand gewählt, der Empfehlungen vorbereitete. Der Entwurf der Charta wurde in vier Abschnitte und entsprechende Kommissionen aufgeteilt, in denen der Text detailliert bis ins letzte Komma ausformuliert wurde: (1) allgemeine Ziele der Organisation, Grundsätze, Mitgliedschaft, Sekretariat, Frage von Änderungen der Charta, (2) Generalversammlung und ihre Kompetenzen, (3) Sicherheitsrat und seine Kompetenzen und (4) die Satzung des Internationalen Gerichtshofs, die von Juristen aus 44 Ländern vorbereitet worden war; diese vier Kommissionen waren unterteilt in zwölf Fachausschüsse. Nur zehn Vollversammlungen von allen Delegationen, aber fast 400 Sitzungen der Ausschüsse wurden abgehalten. Viele Fragen waren trotz der zum Teil schon definitiven Vorgaben durch die Abmachungen der Großmächte noch zu klären. Neue oder noch nicht bedachte Probleme ergaben sich, deren Lösungen noch offen waren. Oft ging es aber um Konfliktstoffe aufgrund der Interessengegensätze zwischen Großmächten und anderen Staaten, aber auch aus denen zwischen der Sowjetunion und des sich ihr gegenüber formierenden westlichen Lagers: der „Kalte Krieg“ zwischen Ost und West hatte schon längst begonnen. Politisch bedeutende Streitpunkte und ihre Lösungen waren: ▶ Das Recht jedes einzelnen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, gegen Beschlussvorschläge ein „Veto“ auszusprechen, war so umstritten, dass die Konferenz wegen des zähen Widerstandes von vielen Ländern mit niedrigerem Machtstatus zu scheitern drohte; beschlossen wurde aber sogar gemäß des Vorschlags der Großmächte die weitestgehende „Veto“-Regelung nach der „Jalta-Formel“. <?page no="49"?> 49 3.2 Entstehung und Gründung im Zweiten Weltkrieg ▶ Der Status von „regionalen Organisationen“, die durch regionale Abkommen über Verteidigung und gegenseitigen Beistand zu begründen oder wie die Arabische Liga schon gegründet waren; beschlossen wurde, sofern ihre Ziele und Aktivitäten mit denen der Vereinten Nationen übereinstimmten sollten sie an der friedlichen Beilegung von Konflikten sowie gegebenenfalls sogar an Zwangsmaßnahmen beteiligt werden. ▶ Die Kompetenzen des Internationalen Gerichtshofs; beschlossen wurde, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sein würden, die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzuerkennen, aber sich einer verbindlichen Rechtsprechung freiwillig unterwerfen könnten. ▶ Zukünftige Ergänzungen der Charta; beschlossen wurde eine extrem strukturkonservative Option mit sehr restriktiven Regelungen für Änderungen und Ergänzungen. Neben den oft widerstrebenden Vorstellungen der mächtigen und der weniger mächtigen Regierungen gab es noch andere politische Akzente in den Debatten von San Francisco: Amerikanische Nichtregierungsorganisationen und engagierte Einzelpersonen waren in den Wochen der Gründungskonferenz aktiv dabei - als Lobbyisten oder sogar als Delegationsmitglieder (wie die Literatur-Professorin und Frauenrechtlerin Virginia Gildersleeve); erst ihr Druck ermöglichte es, dass Menschenrechte als Ziel der Vereinten Nationen in den Text der Charta aufgenommen wurden. Vor ihrer formellen Gründung schon mischten sich also zivilgesellschaftliche Akteure in die Arbeit der neuen Internationalen Organisation ein - wobei selbstverständlich galt, dass deren Grundstruktur zwischenstaatlich und ihre Arbeitsebene regierungsamtlich sein sollte. Darin wirkte schon eine die UNO prägende Ambivalenz zwischen ihrer politischen und rechtlichen Grundlage als zwischen-staatlicher Regierungs-Organisation und den vielfältigen Ansprüchen an die „Organisation der Vereinten Nationen“ als vermeintlicher Weltinstanz - wie es sich auch in der heute modischen Rhetorik von „global governance“ (siehe 2.2) u. ä. ausdrückt. Dieser Widerspruch lässt sich gut an der feierlich-idealistischen Präambel zur Charta (siehe 4) erkennen, die wie ein Fremdkörper wirkt vor dem rechtsverbindlichen internationalen Vertrag, der in sachlicher Rechtsprache hart errungene Kompromisse als Ergebnisse zwischenstaatlicher Verhandlungen der mächtigsten Regierungen der Welt mitten in einem mörderischen Krieg festhält. Bei der Abstimmung über den dann endlich vorgelegten Entwurf der Charta in der letzten Plenarsitzung am 25. Juni 1945 war eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig; die Delegierten aller teilnehmenden Länder nahmen die Charta der Vereinten Nationen sogar einstimmig an. Sie versammelten sich am nächsten Tag zum Ritual der Unterzeichnung - symbolisch passend im Auditorium der Veterans’ Memorial Hall - und unterschrieben nacheinander die Texte der Charta der Vereinten Nationen und der Satzung des Internationalen Gerichtshofs; als dem erstem Opfer eines Angriffs im Weltkrieg kam China die Ehre zu, zuerst zu unterzeichnen. Aber erst nach dem vollständigen Durchlaufen der Prozedur der Schaffung internationalen Vertragsrechts konnte die Charta wirklich in Kraft treten: In der Mehrzahl der unterzeichnenden Länder („Signatarstaaten“), darunter in allen ständigen Mitgliedsländern des künftigen Sicherheitsrates, musste sie von den legislativen Instanzen, meist den gesetzgebenden Parlamenten, in formellem Beschluss angenommen, also „ratifiziert“ werden. Zudem musste die <?page no="50"?> 50 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ offizielle Bekanntgabe dessen hinterlegt werden, im Fall der VN-Charta beim Außenministerium der USA; am 24. Oktober 1945 war dies erreicht - dieses Datum wurde dann von den Vereinten Nationen zum Tag der „Vereinten Nationen“ erklärt. Und es ist immer wieder daran zu erinnern: Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, als die UNO gegründet wurde; die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen erst am 6. und 9. August 1945, Japan kapitulierte am 2. September. Chronologie der Gründung der UNO: Erklärungen, Verhandlungen, Konferenzen 1941 6. Januar Washington (USA) Verkündung der „Vier Freiheiten“ durch Präsident Roosevelt vor dem Kongress der USA 14. August im Atlantik (Schiff GB) Beratungen von Präsident Roosevelt (USA) und Premierminister Churchill (GB); Erklärung der „Atlantik-Charta“ 1942 1. Januar Washington (USA) „Erklärung der Vereinten Nationen“ („Declaration by United Nations“) durch Vertreter von 26 gegen Deutschland und Japan alliierte Staaten 1943 10. Oktober Moskau (UdSSR) Außenministerkonferenz der Alliierten: Einrichtung einer internationalen Organisation zur Friedenssicherung („Moskauer Deklaration“) 1. Dezember Teheran (Iran) Bestätigung und Konkretisierung durch Roosevelt (USA), Churchill (GB) und Stalin (UdSSR) („Konferenz von Teheran“) 1944 1. bis 23. Juli Bretton Woods (USA) Ein Weltwährungs- und Weltwirtschaftssystem wird von 44 alliierten Staaten ausgehandelt („Bretton Woods“-System) 21. Aug. bis 7. Okt. Washington (USA) Vertreter Chinas, Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion verhandeln konkret Satzung und Institutionen der zu gründenden Weltorganisation („Expertenkonferenz von Dumbarton Oaks“) 1945 4. bis 11. Februar Jalta (UdSSR) Die Großmächte (USA, GB und die UdSSR) einigen sich definitiv auf die Gründung der UNO („Konferenz von Jalta“) 25. April bis 26. Juni San Francisco (USA) Gründungskonferenz: Letzte und entscheidende Verhandlungen unter Vertreter/ inne/ n von 50 Staaten über die Struktur, die Aufgaben und die Kompetenzen der UNO 25. Juni Verabschiedung der „Charta der Vereinten Nationen“ 24. Oktober Die Charta der Vereinten Nationen tritt in Kraft nach Hinterlegung der 51. Ratifikationsurkunde ⇒ „Tag der Vereinten Nationen“ 27. Dezember Das „Bretton Woods“-Abkommen zur Gründung der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD/ „Weltbank“) und des Internationalen Währungsfonds (IMF/ IWF) tritt in Kraft In der Konzeption der neuen Organisation zur künftigen Sicherung des Weltfriedens war ein sachlich nicht auflösbares Dilemma politisch zu bewältigen: <?page no="51"?> 51 3.3 Entwicklung seit 1945 ▶ Anders als im Völkerbund sollten alle Großmächte dauerhaft eingebunden sein - aus eigenem Interesse an einer aktiven und möglichst konstruktiven Mitarbeit, d. h. die internationale Kooperation sollte ihnen verlässlich mehr Nutzen als Kosten bringen und insgesamt auch für sie nützlicher sein als Nicht-Kooperation. ▶ Zugleich sollte die neue Organisation eine wirklich universale werden, also möglichst alle Staaten als aktive Mitglieder haben, nicht nur als mitlaufende Statisten oder gar passive Zuschauer, d. h. alle Regierungen sollten ungeachtet der oder gar gegen die Machtposition der Großmächte ihren Einfluss ausüben können. Einerseits wurde befürchtet, dass die neue Organisation ohne eine Vormachtstellung der Großmächte nicht wirksam werden könnte, weil diese daran desinteressiert sein könnten, andererseits, dass die Großmächte ihre Vormachtstellung nur zur Verfolgung eigener Interessen nutzen würden - was beides dem Frieden nicht dienlich wäre. Ein spezielles, aber ernstzunehmendes Problem war zudem die öffentliche Meinung und außenpolitische Stimmungslage in den USA, die wie nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Isolationismus hätte umschlagen können. Die nötige Quadratur des Kreises konnte auch auf der Gründungskonferenz 1945 in San Francisco nicht gelingen: die gefundene Lösung privilegiert die Großmächte durch die Sonderstellung der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat; in den meisten entscheidenden Fragen ist der Sicherheitsrat vorrangig und steht in einem institutionellen Spannungsverhältnis zur Generalversammlung, in der dafür die „souveräne Gleichheit“ aller Mitglieder unbehindert zelebriert werden kann. Literaturverweis zu 3.2.: Entstehung und Gründung der UNO im Zweiten Weltkrieg Bertrand 1995; Kaltofen 2015; Morris 2018; Schlesinger 2003; Tavares de Sá 1966; Volger 1995, 2008; Weber 1991 3.3 Entwicklung seit 1945 So war die UNO also nun gegründet als „eine Organisation, in der die Großmächte einen beherrschenden Einfluss ausüben, in der sie vor allem jede Aktion verhindern können, die sie nicht billigen“ (Volger 1995, S. 27f). Die Großmächte, von denen bald für Jahrzehnte nur noch die den Westblock anführenden USA und die Sowjetunion für den Ostblock als Supermächte übriggeblieben waren, haben ihre privilegierte Stellung in der UNO ▶ sowohl destruktiv zur Blockade von deren Funktionsfähigkeit, ▶ als auch konstruktiv zur Unterstützung ihrer Arbeit genutzt; oft haben sie Regeln und Prinzipien der Vereinten Nationen missachtet, selten aber explizit misshandelt. Die Welt hat sich seit 1945 wesentlich verändert, doch die Grundstruktur der UNO hat sich in diesem dreiviertel Jahrhundert bewährt. Die Organisation bzw. das vielfältige „System“ der um sie gruppierten internationalen Institutionen ist stark gewachsen - oder gar aufgebläht - <?page no="52"?> 52 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ und ist differenzierter geworden, wurde aber nie wesentlich geändert. Der rapide Wandel der inter- und transnationalen Probleme und Beziehungen lässt das problematisch erscheinen und Reformbedarf ist tatsächlich überall zu entdecken - aber interessanterweise hat sich gerade durchaus auch als Stärke erwiesen, dass die niemals ideale Grundstruktur der UNO und besonders die immer unvollkommene Charta der Vereinten Nationen so veränderungsresistent sind: Man musste früh lernen, damit kreativ und flexibel umzugehen. Nach der Gründungsphase 1941-1945 sind folgende Phasen anzusetzen: ▶ erste Bewährungsproben 1945-1954, ▶ Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West 1955-1963, ▶ Umsetzung des Universalitätsanspruchs dank der Entstehung neuer Staaten 1964-1973, ▶ Aufbrechen des Gegensatzes zwischen Nord und Süd 1974-1986, ▶ die Eröffnung neuer Chancen mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1987-1995, ▶ neue Herausforderungen, Reformbemühungen und Enttäuschungen seit 1995, ▶ die Gefahr von Beschädigung und Bedeutungsverlust seit 2003. In dieser langen Entwicklungszeit der Funktions- und Arbeitsweisen der UNO stellten sich ihr - oder besser ihren entscheidungsmächtigen Mitgliedsregierungen - viele politische Herausforderungen und neue wirtschaftliche und/ oder gesellschaftliche Probleme, die oft in eigendynamischen Prozessen zu unerwarteten Folgen führten sowie die Handelnden zu improvisierten Methoden zwangen. Die wohl wirkungsmächtigsten waren ▶ die Blockade des Sicherheitsrates im Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Ostblock, ▶ die Dekolonisierung der dann sogenannten „Dritten Welt“ und ▶ die Probleme von deren „Entwicklung“ und Eingliederung in die Weltwirtschaft, ▶ dann thematisch völlig neu und als „globaler“ Problemkomplex politisch vielschichtig die Gefährdung der natürlichen Umwelt und des Weltklimas, ▶ mit diesen neuen Arbeitsgebieten auch der wachsende Einfluss der transnational operierenden Wirtschaftsunternehmen und das Auftreten von immer mehr neuartigen Mitspielern aus der sog. Zivilgesellschaft, ▶ die Hoffnungen auf eine „neue Weltordnung“ und eine „Friedensdividende“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts - die zumeist heftig enttäuscht wurden, ▶ der „Krieg gegen den Terror“ seit den Anschlägen vom 11.September 2001, der auch mit problematischen oder gar schädlichen Mitteln geführt wird - oft am Instrumentarium der UNO vorbei, ▶ und damit eng verbunden die Gefahr der dauerhaften Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt sowie des - hoffentlich nur nostalgischen - Wiederaufflackern des Kalten Krieges. Wie die Gegner der Veto-Regelung befürchtet hatten, wurde die besondere Machtstellung der Großmächte - die diese ja eben verlässlich einbinden sollte in den politischen Prozess in der UNO - immer wieder genutzt, um das Funktionieren des Sicherheitsrates zu behindern oder gar zu blockieren. Die ständigen Mitglieder Großbritannien und Frankreich haben ihre Posi- <?page no="53"?> 53 3.3 Entwicklung seit 1945 tion nur selten (wie in der Palästina-Frage und in der Suez-Krise 1956) im engeren Eigeninteresse als ehemalige Kolonial- und Weltmächte ausgespielt. Aber im weltumspannenden und sich stetig vertiefenden Konflikt zwischen dem kapitalistischen und größtenteils demokratisch verfassten Westen und dem staatswirtschaftlich-kommunistischen und diktatorisch geführten Osten hatten rasch nur noch die Hegemonialmächte der beiden Blöcke entscheidende Bedeutung. Der politische Kampf zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Imperium wurde mit allen diplomatischen und militärischen Mitteln auch auf ideologischer und wirtschaftlicher Ebene geführt; die neue Weltorganisation wurde zur meistbeachteten Bühne für den rhetorischen und symbolpolitischen Austrag der Gegensätze, aber sie war nicht die eigentliche Kampfarena, denn gültige Entscheidungen konnten ja eben wegen der Veto-Rechte der Protagonisten nicht zustandekommen. Solange der Westen in Sicherheitsrat und Generalversammlung noch Mehrheiten hatte, blieb dem Osten innerhalb der UN-Gremien nur eine konsequente Verweigerungshaltung, indem ein Veto eingelegt oder wenigstens angedroht wurde - oder schlicht durch eine „Politik des leeren Stuhls“ Sitzungen boykottiert wurden. Dennoch befasste sich der Sicherheitsrat mit einer Reihe von internationalen Konflikten: Durch den Ost-West-Konflikt verursacht oder zumindest auf ihn bezogen waren die Berlin-Blockade 1948/ 49, der Korea-Krieg 1950-1953, der Ungarn-Aufstand 1956, die Kuba-Krise 1962, sowie der Indochina-Krieg 1946-54 bzw. Vietnam-Krieg 1964-1975; vom Ost-West-Gegensatz stark beeinflusst waren u. a. die Problemsituationen Iran 1946, Griechenland 1946- 1950, Palästina 1947-1949, Indien/ Pakistan 1948, Suez 1956 und Kongo 1960. Weil ein unmittelbarer Konfliktaustrag wegen der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung mit Atomwaffen nicht mehr möglich war, lieferten sich die Blöcke politische und militärische Kämpfe („Stellvertreterkriege“) in abgelegeneren Weltregionen, wo der Prozess der Entkolonialisierung und der politischen Emanzipation reichlich Konfliktstoff bot. Probleme der klassischen Sicherheitspolitik zwischen hochgerüsteten Großmächten bestimmten wie erwartet zunächst die Arbeit der UNO, aber es stellten sich sehr bald auch ganz andere Fragen der Friedenswahrung, die von den Autoren der Charta nicht vorhergesehen werden konnten. Neuartige innerbzw. trans-staatliche Konfliktstoffe erwiesen sich als komplexer und schwieriger lösbar als es die herkömmlichen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen gewesen waren; anti-koloniale Befreiungsbewegungen und postkoloniale Verteilungskämpfe sorgten in der eingefrorenen Schlachtordnung des Kalten Krieges für heiße Stellen und einige Brände. Bis Mitte der 1960er-Jahre bildeten sich in der politischen Praxis Musterlösungen für Handlungsmöglichkeiten in und durch die UNO heraus, die ihre weitere Arbeit stärker prägen sollten als manche Absichten der Gründungsphase. Diese pragmatischen Lösungen hielten einer kritischen formalen Betrachtung oft kaum stand - aber sie funktionierten und wurden so als gängige Übung im Lauf der Zeit zur allseits akzeptierten Regel: ▶ Während nach dem Text der Charta schon eine Enthaltung für ein Veto ausreicht, gilt es praktisch nur durch eine explizit abgegebene Nein-Stimme eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates als eingelegt. ▶ Der Machtkampf um die Kompetenzen der einzelnen UN-Hauptorgane zeigte, dass die Rollenverteilung zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung nicht geklärt war; <?page no="54"?> 54 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ jedenfalls konnte die Generalversammlung durchaus weitergehende Ansprüche erheben, wenn der Sicherheitsrat nicht funktionierte (vgl. die „Uniting for Peace“-Resolution von 1950; siehe 6.2). ▶ Zur Strukturierung des politischen Willens der Mitgliedsregierungen, zur Kanalisierung und Artikulation ihrer Interessen sowie zur Bündelung ihres Machtpotentials und ihrer Handlungsfähigkeit bewährte sich spätestens mit dem raschen Anstieg der Mitgliederzahl die Bildung von und die Zusammenarbeit in Ländergruppen als effizienteste Methode für multilaterale Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse. ▶ Der von der Charta mit der militärischen Komponente der kollektiven Sicherheit beauftragte Generalstabsausschuss ist nie ernsthaft eingesetzt worden, geschweige denn dass ein UN-eigenes Militärpotential aufgebaut worden wäre; wegen des militärischen Patts und der politischen Blockade zwischen den Blöcken blieben als Instrumentarium zur Kanalisierung und Eindämmung von Konflikten nur unkonventionelle und in der Charta in dieser Weise nicht vorgesehene „friedenserhaltende“ Maßnahmen - wie der Einsatz von Militärbeobachtern („Blaumützen“) und Friedenstruppen („Blauhelmen“). Mit dem meist unfriedlichen Prozess der Dekolonisierung der abhängigen Gebiete entstanden Dutzende „junger Staaten“ - als List der Geschichte waren die wichtigsten untergehenden Kolonialmächte neben Belgien, Holland und Portugal die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates Großbritannien und Frankreich. Die neuen souveränen Staaten und UNO-Mitglieder wurden als die sog. „Dritte Welt“ neben der ersten (Nordwest) und der zweiten (Nordosten) wahrgenommen; sie ergänzten dann den Ost-West-Gegensatz um den insbesondere als wirtschaftlich verstandenen Nord-Süd-Konflikt. Vielzahl und Vielfalt neuer Länder vor allem in Asien und Afrika veränderten die UNO und die multilaterale Diplomatie gründlich; zwischen 1945 und 1965 verdoppelte und bis 1975 verdreifachte die Weltorganisation die Zahl der ihrer anfangs 51Vollmitglieder (1955: 76, 1965: 117, 1975: 144) und bis heute hat sie die Anzahl - besonders wegen der Auflösung des östlichen Imperiums - fast vervierfacht (1985: 159, 1995: 185, 2005: 191; 2015: 193). Schon Anfang der 1970er-Jahre hatten die Ländergruppen der afrikanischen Staaten (über 40 Mitglieder) und der asiatischen Staaten (etwa 30) zusammen die Stimmenmehrheit in der Generalversammlung; die Gruppe der sog. Entwicklungsländer wuchs bis Ende der 1970er Jahre auf über zwei Drittel der Mitgliedschaft. Größe und Bevölkerungszahl, Ressourcenausstattung und wirtschaftliches Potential, Kulturen und Religionen, politische Traditionen und Verfassungen variierten in der wachsenden Mitgliedschaft in den verschiedensten Mischungen. Damit wurde die UNO erst wirklich universal - und zugleich differenzierten und erweiterten sich die Interessen der Mitglieder. Die Schwerpunkte der internationalen Kooperation verlagerten sich allmählich auf die Probleme wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung; Konfliktstoff lag in der Frage, welche Strukturen des Welthandels dafür schädlich oder günstig waren. Die Führungsmächte der Blöcke bemühten sich, die neuen Staaten in die Ost-/ West-Konfrontation auf ihrer Seite einzubinden, diese versuchten oft, den Ost-West-Gegensatz zum eigenen Vorteil zu nutzen. <?page no="55"?> 55 3.3 Entwicklung seit 1945 Auf fast allen Foren des UN-Systems wurde mit großer Rhetorik und viel politischer Energie der Nord-Süd-Konflikt geführt um ▶ die angemessene entwicklungspolitische Orientierung für die aufbzw. auszubauenden Wirtschaften und Gesellschaften zwischen den westlichen und östlichen Konkurrenzmodellen, ▶ den Wunsch nach der Finanzierung von „nachholender Entwicklung“ („Entwicklungshilfe“), ▶ internationale Gerechtigkeit und Ausgleich kolonialer Beschädigungen (Struktur des Welthandels, Fragen der Rohstoffe-Preise, Forderung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“), ▶ die Berechtigung zur politischen Nutzung der Knappheit bestimmter Rohstoffe, bes. des Erdöls (OPEC-Kartell), ▶ Apartheid und Rassismus, die von der südlichen Mehrheit der UNO-Mitglieder neben Südafrika auch Israel vorgeworfen wurden, ▶ Zweifel, ob das westliche Eintreten für die Menschenrechte im Osten und im Süden immer nach den gleichen Kriterien ausgerichtet sei. Diese Probleme sind nicht erledigt, aber in den Hintergrund geraten: Nach 1989 ist mit dem Zusammenbruch des Ostblocks die konkurrierende System-Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum potentiell unbegrenzten Freihandel weggefallen. Von noch epochalerer Bedeutung war, dass die ungelösten Probleme der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im Süden schon seit den 1970er-Jahren wachsende Konkurrenz bekommen hatten durch die globale Bedrohung für Umwelt und Klima - eben aufgrund der effizienten wirtschaftlichen Entwicklung des Nordens. Die Forderung nach „nachholender Entwicklung“ ist längst auskonkurriert von der Losung der „nachhaltigen Entwicklung“. Nicht-staatliche Akteure aller Art aus der sog. Zivilgesellschaft haben nennenswerten und manchmal entscheidenden Einfluss gewonnen; verschiedene Typen neuartiger Akteure sind als (internationale) Nichtregierungsorganisationen oder kurz (I)NGOs immer stärker in Erscheinung getreten - wobei ihre politische Einschätzung kontrovers bleibt (siehe 7.7). Zumal die großen thematischen „Weltkonferenzen“ der 1990er Jahre boten ihnen politische Bühne und sachliche Bedeutung besonders auf den Arbeitsfeldern Zusammenarbeit in wirtschaftlich-sozialen Fragen, Menschenrechtsschutz und Umwelt- / Klimagefahren. Ende der 1980er-Jahre kam dank des Kollapses des sowjetrussischen Imperiums weitere Bewegung in die Arbeit der UNO. Frohe Hoffnungen auf eine entscheidende Rolle der UNO in einer „neuen Weltordnung“ regten sich und Spekulationen über eine „Friedensdividende“ aus der Einsparung von Rüstungskosten zugunsten wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung kamen auf. Doch zeigten sich schnell und ernüchternd auch Probleme: Neue Mitgliedstaaten aus der Konkursmasse der Sowjetunion kamen zwar zur „Staatengemeinschaft“ dazu, aber scheinbar vergessene alte Konflikte brachen wieder aus (wie auf dem Balkan) und neuer Konfliktstoff entwickelte sich. Nicht immer gelang es den Mitgliedern des Sicherheitsrates, dessen Kompetenzen zur Friedenswahrung erfolgreich einzusetzen, auch spektakuläre Misserfolge (wie in Somalia) oder schlichtes Versagen (wie in Ruanda durch Nichtbehandlung) <?page no="56"?> 56 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ sind zu kritisieren. Die Friedensdividende fiel aus, aber Weltwirtschaft und Welthandel wuchsen und vernetzten - oder „globalisierten“ - sich rapide, was einige Länder der sich ausdifferenzierenden ehemaligen „Dritten Welt“ wirtschaftlich florieren, viele andere aber randständig bleiben ließ. Das alles provozierte seit den 1970er Jahren bei der westlichen Führungsmacht wachsende Frustrationen über den multilateralen Betrieb. Die Vereinten Nationen waren wieder einmal in Gefahr, vom Hoffnungsträger zum Sündenbock zu werden. Zwar begleiten Forderungen und Überlegungen zu nötigen Reformen die UNO seit ihren Anfängen, aber vor allem auf Druck der USA wird sei den 1990er Jahren eine andauernde Reformdebatte geführt, in der von Verwaltungseffizienz über „Blauhelm“-Einsätze bis zu einer Erweiterung des Sicherheitsrates alles Denkbare und auch viel Irrationales auftauchte. Im Kontext von Menschenrechtsschutz und der Legitimität „humanitärer Intervention“ wurde schon vor den Terror-Anschlägen vom 11.September 2001 eine interkulturelle Konfrontation zwischen den westlichen Staaten und vor allem der islamischen Welt („clash of civilizations“) diskutiert - oder auch inszeniert. Im „Krieg gegen den Terror“ seit 2001 wurde jedenfalls mehrfach Völkerrecht verletzt und die UNO beschädigt - eben von ihrem Gründungspaten, den USA. Die US-amerikanische Politik und Öffentlichkeit und deren jeweilige Haltung zu international-multilateraler Zusammenarbeit waren immer von grundlegender und entscheidender Bedeutung für die UNO. Ob idealistische Begeisterung („One World“) oder verschwörungstheoretische Ablehnung, war das Verhältnis meist prekär, denn es wird ▶ rational durch die klassische Dynamik der schwankenden Doktrinen der Außenpolitik der USA gesteuert, einem an der UNO desinteressiertem Isolationismus einerseits und andererseits einem sie offensiv instrumentalisierenden hegemonialen Interventionismus, ▶ kognitiv und emotional von meist schlicht bis schlecht informierenden Medien und von oft populistischen Politikern geprägt, was die öffentliche Meinung zwischen Liebe und Hoffnung einerseits und Frustration und Angst anderseits pendeln lässt. Das Interesse an internationaler Politik ist bei der US-amerikanischen Wahlbevölkerung traditionell recht gering und das Wissen darüber ist noch geringer; deswegen überwiegen die Vorbehalte gegen die UNO vor allem bezüglich ihrer Effizienz, aber auch irrationale Befürchtungen vor ihrem angeblichen Machtanspruch, die amerikanische Souveränität zu mindern. Auch deswegen war nie zu erwarten, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich in ihrer eigenen Politik substantiell von den Vereinten Nationen beeinflussen lassen würden, denn tatsächlich bietet ja asymmetrischer Unilateralismus einer Hegemonialmacht - zumindest auf kurze und mittlere Sicht - viel mehr Möglichkeiten als schwerfälliger Multilateralismus. Auch andere wichtige Mitgliedstaaten, allen voran die Sowjetunion/ Russische Föderation und die VR China, verhielten sich selten wie vorbildliche Multilateralisten, aber die USA haben einen speziellen Sonderweg zwischen Unilateralismus und Multilateralismus gefunden: Seit dem Versickern des Idealismus der Gründertage verfolgten sie meist einen instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus (siehe 2.2), der den Interessen der USA dienen, ihre Maßnahmen unterstützen und zumal ihre politischen Absichten legitimieren soll. Wenn internationale Kooperation in diesem Verständnis nicht funktionierte, versuchten alle US-Re- <?page no="57"?> 57 3.3 Entwicklung seit 1945 gierungen, ihre Ziele mit einer Koalition mit gleichgesinnten Regierungen („coalition of the willing“) oder im Alleingang zu erreichen. Die einzige verbliebene militärische Weltmacht kann unter den verschiedenen Angeboten je nach Bedarf das günstigste auswählen - solange China sich erst noch als Konkurrenz einübt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem daran angehängten „Krieg gegen den Terror“ ab 2003 sowie generell dank einer engen Sicherheits-Fixierung der Politik ist die UNO immer wieder in Gefahr, als multilaterales Instrument beschädigt zu werden und an Bedeutung zu verlieren. Wie in aller politischen Geschichte können auch in der Entwicklung der UNO schnelle und dichte Zeiten beobachtet werden, in denen rasch Vieles entschieden wird und Wichtiges passiert, und dann wieder Phasen der Konsolidierung oder gar des Stillstandes und scheinbaren Bedeutungsverlustes; die Qualitäten der Zeiten korrespondieren meist eng mit guten und schlechten Meinungskonjunkturen. Internationale Kooperation und Organisation seit 1945: Verträge, Gründungen, Erklärungen 1945 ▶ Welternährungsorganisation (FAO) wird Sonderorganisation der UNO ▶ 24. Oktober: Die Charta der Vereinten Nationen tritt mit der Hinterlegung der 51. Ratifikations-Urkunde in Kraft ⇒ „Tag der Vereinten Nationen“ ▶ UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) ▶ „Bretton Woods“-Abkommen in Kraft: Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD/ “Weltbank“) und Internationaler Währungsfonds (IMF/ IWF), beide Washington (USA) 1946 ▶ 10. Januar: Erste Sitzung der UN-Generalversammlung (GA) und Konstituierung des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) in London (GB), beide ab 1951 New York (USA) ▶ 17. Januar: Konstituierung des Sicherheitsrates (SC) in London (GB), ab 1951 New York (USA) ▶ Trygve Lie (Norwegen) Generalsekretär der VN ▶ UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) ▶ Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) von 1919 wird UN-Sonderorganisation ▶ Auflösung des Völkerbundes 1947 ▶ Unterzeichnung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) 1948 ▶ Weltgesundheitsorganisation (WHO) ▶ Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), wird später zur OECD ▶ Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) ▶ „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ durch die Generalversammlung der UNO 1949 ▶ Europarat (CE) ▶ Organisation des Nordatlantikvertrages (NATO) ⇒ „West-Block“ ▶ Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) ⇒ „Ost-Block“ 1950 ▶ Resolution „Uniting for Paece“ der UN-Generalversammlung ▶ Weltorganisation für Meteorologie (WMO) wird Sonderorganisation der UNO ▶ Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 1952 ▶ Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1953 ▶ Dag Hammerskjöld (Schweden) Generalsekretär der VN 1954 ▶ Friedens-Nobelpreis für das Amt des Hochkommissars der VN für Flüchtlinge (UNHCR) ▶ Westeuropäische Union (WEU) 1955 ▶ Warschauer Pakt ⇒ „Ost-Block“ 1956 ▶ Internationale Finanz-Korporation (IFC) 1957 ▶ Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) 1958 ▶ Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) <?page no="58"?> 58 3. Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ Internationale Kooperation und Organisation seit 1945: Verträge, Gründungen, Erklärungen 1960 ▶ Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) ▶ Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ▶ Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) 1961 ▶ Dag Hammerskjöld stirbt bei Flugzeugabsturz in Afrika; Sithu U Thant (Burma) Generalsekretär 1963 ▶ Erklärung der UN-Generalversammlung gegen alle Formen der Rassendiskriminierung ▶ Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1964 ▶ Erste Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD); Konstituierung der „Gruppe der 77“ 1965 ▶ Änderung der VN-Charta: Der Sicherheitsrat wird auf 15 Mitglieder erweitert, der ECOSOC auf 27 ▶ UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) ▶ Friedens-Nobelpreis für das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) 1966 ▶ Menschenrechts-Abkommen („Zivilpakt“, „Sozialpakt“) beschlossen, treten erst 1976 in Kraft 1967 ▶ Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO) ▶ UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) 1969 ▶ Friedens-Nobelpreis für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 1970 ▶ Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) ▶ Erklärung der UN-Generalversammlung zum Völkerrecht („Friendly Relations Declaration“) 1971 ▶ Die Volksrepublik China übernimmt Chinas Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ▶ Die Republik China (Taiwan) verliert die Anerkennung als Staat und die Mitgliedschaft in der UNO 1972 ▶ Kurt Waldheim (Österreich) Generalsekretär der VN ▶ UN-Umweltprogramm (UNEP), Nairobi (Kenia) 1973 ▶ Änderung der VN-Charta: Der ECOSOC wird auf 54 Mitglieder erweitert ▶ 18. November: Beide deutsche Staaten werden Vollmitglieder der UNO 1974 ▶ Internationale Energie-Agentur (IEA) ▶ Südafrika wird wegen seiner Rassenpolitik von der UN-Generalversammlung suspendiert (bis 1994) 1975 ▶ UN-Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) ▶ Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1977 ▶ Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) ▶ Die USA treten wegen deren „Politisierung“ aus der ILO aus (Wiedereintritt 1980) 1981 ▶ Friedens-Nobelpreis für das Amt des Hochkommissars der VN für Flüchtlinge (UNHCR) 1982 ▶ Javier Pérez de Cuéllar (Peru) Generalsekretär der VN ▶ Seerechtsübereinkommen der VN/ UN Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) (in Kraft 1994) 1984 ▶ Die USA treten wegen deren „Politisierung“ aus der UNESCO aus (Wiedereintritt 2003) 1985 ▶ Großbritannien tritt wegen deren „Politisierung“ aus der UNESCO aus (Wiedereintritt 1997) ▶ Die UNIDO wird zur Sonderorganisation der UNO 1987 ▶ Montreal-Protokoll/ Montreal Protocol zum Schutz der Ozonschicht 1988 ▶ Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) ▶ Friedens-Nobelpreis für die UN-Friedenstruppen 1990 ▶ Ende der UNO-Mitgliedschaft der DDR mit der Vereinigung beider deutscher Staaten ▶ Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE/ EBRD) 1991 ▶ Auflösung der UdSSR, Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ▶ Die Russische Föderation übernimmt in der UNO Mitgliedschaft und SR-Sitz der ehemaligen UdSSR ▶ Auflösung des Warschauer Paktes und des COMECON <?page no="59"?> 59 3.3 Entwicklung seit 1945 Internationale Kooperation und Organisation seit 1945: Verträge, Gründungen, Erklärungen 1992 ▶ Boutros Boutros-Ghali (Ägypten) Generalsekretär der VN ▶ Umwelt- und Klima-Abkommen auf der „Rio-Konferenz“ (UNCED) beschlossen 1993 ▶ Hochkommissar der VN für Menschenrechte/ UN High Commissioner for Human Rights (UNHCHR) 1994 ▶ Suspendierung des Treuhandrates der VN ▶ Internationaler Seegerichtshof/ International Tribunal for the Law of the Sea (ITLOS) 1995 ▶ Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) [bis 1994: Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen/ GATT] 1997 ▶ Kofi Annan (Ghana) Generalsekretär der VN; umfassendes Programm zur Reform der UNO ▶ „Kyoto-Protokoll“ zum Klima-Rahmenabkommen (UNFCCC) von den Vertragsstaaten beschlossen ▶ Büro des UNHCHR/ Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) ▶ Großbritannien tritt wieder der UNESCO bei (1985 ausgetreten) ▶ Organisation für das Verbot chemischer Waffen/ Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) ▶ Organisation des Nuklearversuch-Verbots-Vertrages/ Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization (CTBTO) 1998 ▶ „Römisches Statut“ zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (2002 in Kraft) 1999 ▶ Ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes treten der NATO bei (CZ, PL, H) 2000 ▶ Verabschiedung der Millennium-Entwicklungsziele/ „Millennium Development Goals“ 2001 ▶ Friedens-Nobelpreis für die UNO und ihren Generalsekretär Kofi Annan ▶ Anschläge vom 9. September 2001: UN-Sicherheitsrat beginnt Resolutions-Serie zum Terrorismus ▶ Anschläge vom 9. September 2001: Erstmals Bündnisfall auf Grundlage Art. 5 des NATO-Vertrages 2002 ▶ Internationaler Strafgerichtshof/ International Criminal Court (ICC) in Den Haag (Niederlande) 2003 ▶ Die USA treten wieder der UNESCO bei (1984 ausgetreten) 2005 ▶ „Kyoto-Protokoll“ zum Klima-Rahmenabkommens (UNFCCC) tritt in Kraft ▶ Friedens-Nobelpreis für die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) 2006 ▶ Menschenrechtsrat/ Human Rights Council (HRC) statt der diskreditierten Menschenrechtskommission 2007 ▶ Ban Ki Moon (Südkorea) Generalsekretär der VN ▶ Friedens-Nobelpreis für das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2017 ▶ António Guterres (Portugal) Generalsekretär der VN ⇒ für eine Liste von wichtigen Berichten/ reports der bzw. für die UNO siehe 7.3 ⇒ für eine Liste von wichtigen Konferenzen/ “Gipfeln“ der UNO siehe 7.3 ⇒ für eine Übersicht der Einsätze von UN-Friedenstruppen („Blauhelme“) siehe 8.1.2.2 Literaturverweis zu 3.3.: Entwicklung der UNO seit 1945 Luard 1982/ 1989; Volger 1995, 2008; Weiss/ Daws 2018; Yoder 1997 <?page no="61"?> 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Die Entstehung der UNO war belastet durch ein unaufgelöstes Gründungs-Dilemma (siehe 3.2), ihr Funktionieren ist geprägt von einem elementaren Gründungs-Widerspruch. Das Dilemma: ▶ Einerseits sollten alle Großmächte dauerhaft eingebunden sein, also an einer aktiven und möglichst konstruktiven Mitarbeit selbst interessiert sein: die internationale Kooperation sollte ihnen mehr Nutzen als Kosten bringen und insgesamt auch nützlicher sein als Nicht-Kooperation. Das macht eine Vorrangstellung der Großmächte mit eindeutigen Privilegien nötig. ▶ Andererseits sollte eine universale Organisation möglichst alle Staaten als aktive Mitglieder haben, die nicht nur mitlaufende Statisten oder gar passive Zuschauer sein sollten, sondern ungeachtet oder gar gegen die Machtposition und Interessen der Großen ihren Einfluss ausüben können. Eine Vorrangstellung der Großmächte ist dafür nicht dienlich. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Völkerbund und aus der Kriegssituation heraus wurde für die erste Option entschieden, also für Privilegien der Mächtigen (wie das sog. Veto-Recht) in einem vorrangigen Entscheidungsgremium. Der Widerspruch: ▶ Das Dogma der unantastbaren Souveränität jedes (Mitglieds-)Staates („keine Einmischung in innere Angelegenheiten! “) ist die Grundlage der inter-nationalen Zusammenarbeit. ▶ Der Anspruch auf ein Recht der Staatengemeinschaft auf Intervention in die politischen Verhältnisse eines Mitgliedstaates aus zwingendem Anlass ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche inter- und transnationale Zusammenarbeit. Das Konzept der Souveränität ist die Grundlage des modernen Staates und Staatensystems. Erstmals völkerrechtlich greifbar ist das im Vertrag zum Westfälischer Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete; seitdem ist der souveräne Nationalstaat der entscheidende Akteur der europäischen und der Weltpolitik. Im modernen internationalen System agieren nun von nach innen und nach außen unabhängige, souveräne und gleichberechtigte Staaten, deren Handlungsfreiheit von keiner übergeordneten Machtinstanz eingeschränkt werden darf (siehe 2.4). Dazu scheint in unversöhnlichen Gegensatz die Konsequenz aus dem Gedanken der internationalen Kooperation zu stehen, dass auch eine unerbetene Einmischung möglich sein muss; ein Anspruch darauf ist nicht erst im Falle von Krieg und Völkermord von Bedeutung, sondern wegen des grenzüberschreitenden Zusammenhangs von Ursache und Wirkung zunehmend auch bei wirtschaftlichen oder ökologischen Problemen. Also ist zu fragen: Was darf die UNO? Was soll die UNO? Was ist eigentlich ihr Auftrag? Ihr Auftrag ist durch ihr „Mandat“ festgelegt - „Mandat“ ist generell das Zauberwort in jeder internationalen Organisation: Nichts passiert in multilateralen Institutionen, ohne dass <?page no="62"?> 62 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben ein formelles und explizites „Mandat“ dafür vorliegt, nichts Kleines wie die Beschaffung von Büromaterial und schon gar nichts Großes wie ein Truppeneinsatz. Die „Mandate“ werden von einem für das Problem oder den Handlungsbedarf zuständigen Gremium beschlossen und vergeben, entsprechen also der Hierarchie der Instanzen in einer Organisation. Der Erfolg jeder Maßnahme der UNO hängt zuallererst davon ab, dass das Mandat eindeutig formuliert und in seinen Bestimmungen sachlich angemessen ist - was keineswegs immer der Fall sein kann, weil Unklarheit und Unbestimmtheit aus guten Gründen klassische diplomatische Mittel sind (siehe 7.1 und 7.5). Was die UNO darf, was sie soll, was ihr Auftrag ist, schreibt ihr als ihr Mandat die „Charta der Vereinten Nationen“ („United Nations Charter“) vor; sie ist der wichtigste und allen anderen vorrangige internationale Vertrag, der die Weltorganisation rechtlich gründet, ihre Prinzipien und Ziele vorgibt, ihre Regeln und Verfahrensweisen festlegt - und insbesondere die Rechte der Organisation gegenüber ihren eigenen Mitgliedern bestimmt. Ein Staat wird Mitglied der UNO, indem er dem Vertrag beitritt, also ihn unterzeichnet und ihn auch ratifiziert, d. h. ihn durch einen Akt der Gesetzgebung in sein eigenes Rechtsgefüge übernimmt. Charta der Vereinten Nationen / United Nations Charter ⇒ Fundstellen ⇒ www.unric.org/ de/ charta ⇒ www.un.org/ en/ charter-united-nations im Bundesgesetzblatt als „Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945“ / BGBl. 1973 II S. 431ff. Schon auf den ersten Blick auf die Kapitel-Struktur der Charta wird ihr Schwerpunkt klar: Die Friedensicherung auf der Basis eines um wirtschaftliche und soziale Aspekte erweiterten positiven Friedensbegriffes braucht mehrere „Kapitel“ („chapter“) und ihr dienen verschiedene Institutionen. Struktur, Mandat und Kompetenzen dieser „Organe“ („organs“) werden in einem allgemeinen und sechs speziellen Kapiteln geregelt, ihre Arbeitsbereiche in weiteren fünf thematischen Kapiteln - drei nur zur Bewältigung akuter Konflikte. Kapitel Artikel Charta der Vereinten Nationen Präambel I 1-2 Ziele und Grundsätze II 3-6 Mitgliedschaft III 7-8 Organe IV 9-22 D I E G E N E R A LV E R S A M M L U N G V 23-32 D E R S I CH E R H E I T S R AT VI 33-38 Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten VII 39-51 Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen VIII 52-54 Regionale Abmachungen <?page no="63"?> 63 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Kapitel Artikel Charta der Vereinten Nationen IX 55-60 Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet X 61-72 D E R W I R T S CH A F T S - U N D S OZ I A L R AT XI 73-74 Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung XII 75-85 Das internationale Treuhandsystem XIII 86-91 D E R T R E U H A N D R AT XIV 92-96 D E R I N T E R N AT I O N A L E G E R I CH T S H O F XV 97-101 D A S S E K R E TA R I AT XVI 102-105 Verschiedenes XVII 106-107 Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit XVIII 108-109 Änderungen XIX 110-111 Ratifizierung und Unterzeichnung Aber auch eine Lücke fällt auf: Der Schutz der Menschenrechte bekam weder ein eigenes Kapitel noch eine eigene Institution. Nach dem Dilemma und dem Widerspruch könnte das als drittes großes Problem im Entstehungsprozess der Charta gelten: Weder Zeit noch politische Energie reichten im Weltkrieg aus, die Menschenrechte klar zu fassen und im Programm der neuen Organisation politisch verbindlich zu machen; Stalins UdSSR und auch das Kaiserreich China sahen darin sicher keine Priorität - und die bürgerlichen Demokratien Großbritannien und Frankreich waren immerhin noch herrschende Kolonialmächte. Die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen werden in den folgenden Darstellungen über Aufbau und Arbeit der UNO immer wieder im Einzelnen die Grundlage für Darstellung und Diskussion sein, doch vorweg soll ein Überblick Orientierung und erste Einschätzungen geben: Dass der Charta ihre feierliche „Präambel“ vorangestellt wurde, kann als Zeugnis der Widersprüchlichkeit der UNO verstanden werden - ein „Gebet der Menschheit an sich selbst“ (O’Brien 1971, S. 18) als kontrafaktischer symbolischer Akt? Diese feierliche, ja sakral anmutende Hochsprache steht im harschen Kontrast zum folgenden nüchternen Vertragstext; die ersten Worte „Wir, die Völker …“ (englisch „We the peoples …“, was an das „We the people …“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung anklingt) sind im eigentlichen Vertrag so nicht mehr zu finden, denn der kennt nur „Nationen“, „Staaten“, „Regierungen“ bzw. schlicht „Mitglieder“. Die Präambel war eher nebenbei formuliert worden, ist nicht rechtsverbindlich aber „tonangebend“ für idealistische Expression und symbolische Beschwörung einer besseren Zeit - in Stein gemeißelte Sätze stehen als „ein erratischer Block neben der Charta“ (Eisele 2007, S. 138). <?page no="64"?> 64 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Präambel ▶ „WIR, DIE VÖLKER“ ▶ „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ ▶ „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“ ▶ „Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts“ ▶ „sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit“ ▶ „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander“ ▶ „unsere Kräfte zu vereinen […] Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse“ ▶ „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker“ Die verbindlichen „Ziele und Grundsätze“ (Kap. I Art. 1-2) der UNO sind zu Beginn des eigentlichen Vertragstextes aufgelistet; die Reihenfolge der Ziele ist so beabsichtigt, man kann sie also als Prioritätenliste lesen. I 1-2 Ziele und Grundsätze 1 ▶ Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ▶ „Wirksame Kollektivmaßnahmen“ gegen Bedrohungen des Friedens oder Angriffshandlungen und Friedensbrüche ▶ Beilegung internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel ▶ Freundschaftliche Beziehungen unter den Nationen aufgrund der „Achtung des Grundsatzes der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker“ ▶ Internationale Zusammenarbeit bei Problemen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art ▶ „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ ▶ Für das alles „ein Mittelpunkt zu sein“ 2 ▶ „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ ▶ Erfüllung aller Verpflichtungen aus der Charta ▶ Einsatz friedlicher Mittel im Streitfall ▶ Keine Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die „territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates“ ▶ Beistandsverpflichtung für alle Maßnahmen ▶ Kein Eingreifen in Angelegenheiten, die „zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ Neben der generellen Verpflichtung zu Friedlichkeit wird sogleich das Konzept der Kollektiven Sicherheit als Friedens(ver)sicherung auf Gegenseitigkeit (siehe 4 und 8.1) betont; die Formulierung „Selbstbestimmung der Völker“ hat sich als Problem erwiesen, da eigentlich kein Separatismus in den Mitgliedstaaten motiviert werden sollte; der wirtschaftlich und sozial erweiterte Friedensbegriff wird verankert und die Menschenrechte und Grundfreiheiten erfahren immerhin eine allgemeine Bekräftigung; der „Mittelpunkt“ kann als eine Generalklausel für die All-Zuständigkeit der UNO verstanden werden. Die oberste Maßgabe für das <?page no="65"?> 65 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Verhalten der Staaten untereinander ist nicht das Prinzip der Souveränität an sich, sondern die „souveräne Gleichheit“ aller Mitgliedstaaten; aber es gilt ein Nicht-Einmischungs-Gebot, das als ausdrückliches Interventionsverbot verstanden werden kann; wesentlich ist das generelle Gewaltverbot im Verbund mit der komplementären Beistandsverpflichtung für alle Maßnahmen gemäß der Charta. Die „Mitgliedschaft“ (Kap. II Art. 3-6) in der Organisation der Vereinten Nationen steht „alle[n] friedliebenden Staaten“ offen, „die fähig und willens sind, die Verpflichtungen laut Charta zu erfüllen“. Aufnahme und Ausschluss erfolgen nur „auf Empfehlung“ des Sicherheitsrates. Als „Organe“ (Kap. III Art. 7-8) hat die UNO sechs Hauptorgane (siehe 5.1) und unbestimmt viele Nebenorgane (siehe 5.2), die nach Bedarf eingerichtet werden können - Vorschriften über Struktur, Funktionen und Kompetenzen von subsidiären Organen aller Art sind allerdings nicht formuliert. Die Hauptorgane sind: ▷ Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA), ▷ Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC), ▷ Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC), ▷ Treuhandrat / Trusteeship Council, ▷ Internationaler Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ), ▷ Generalsekretär bzw. Sekretariat / Secretary General (SG). „Die Generalversammlung“ (Kap.IV Art. 9-22) ist formal und zahlenmäßig das gewichtigste Gremium der UNO, ▷ weil eben alle Mitgliedstaaten ungeachtet ihres politischen und ökonomischen Gewichts in der GV Sitz und eine Stimme bei Entscheidungen haben und ▷ weil sie prinzipiell zuständig für alles ist, was in der und durch die UNO passiert. Doch Art. 12 schränkt die Kompetenz der GV harsch ein, denn solange der Sicherheitsrat mit einer Angelegenheit befasst ist, darf die GV dazu keine Empfehlung abgeben, außer auf Ersuchen des SR. Das Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC ist programmiert; wiewohl die GV die Oberaufsicht über alle Organe der UNO hat, doch ihre einzige wichtige Kompetenz ist praktisch der Haushalt; sie kann Nebenorgane einsetzen und hat das ausgiebig genutzt. „Der Sicherheitsrat“ (Kap. V Art. 23-32) ist das politisch wichtigste Haupt-Organ (siehe 6.1.2 und 8.1.2). <?page no="66"?> 66 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben V 23-32 Der Sicherheitsrat 23 ▶ Fünfzehn Mitglieder ▶ Ständige Mitglieder sind „die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika“ ▶ Die GV wählt zehn weitere Mitglieder der UNO zu nichtständigen Mitgliedern; sie berücksichtigt „eine angemessene geographische Verteilung der Sitze“ ▶ Die nichtständigen Mitglieder sind für zwei Jahre gewählt [jedes Jahr je fünf]; ausscheidende Mitglieder können nicht gleich wiedergewählt werden 24 ▶ Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ▶ Der SR handelt bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung im Namen aller Mitglieder der UNO im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der VN ▶ aufgrund der ihm eingeräumten besonderen Befugnisse nach Kapitel VI, VII, VIII und XII 25 ▶ Die Mitglieder der UNO sollen die Beschlüsse des SR annehmen und durchführen 26 ▶ Der SR ist beauftragt, Pläne zu einem System der Rüstungsregelung auszuarbeiten 27 ▶ Jedes SR-Mitglied hat eine Stimme ▶ In Verfahrensfragen ist die Zustimmung von neun Mitgliedern nötig ▶ Beschlüsse über alle sonstigen Fragen „bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder“ ▶ Streitparteien sollen sich der Stimme enthalten 28 ▶ Der SR muss seine Aufgaben ständig wahrnehmen können; alle Mitglieder müssen jederzeit am Sitz der UNO vertreten sein ▶ Der SR tritt regelmäßig zu Sitzungen zusammen; er kann auch an anderen Orten als dem Sitz der UNO tagen Die Liste der ständigen Mitglieder wurde nie geändert, obwohl im Falle der Volksrepublik China (statt der Republik China [Taiwan]) oder der Russischen Föderation (statt der UdSSR) plötzlich andere Staaten auf dem ständigen Sitz saßen; die „angemessene geographische Verteilung“ gilt nur für die nicht-ständigen Sitze. Art. 24 sichert die exklusive Zuständigkeit des SR für Frieden und Sicherheit; zusammen mit der Beistandsverpflichtung (Art. 2 und 49) gibt Art. 25 dem SR ein internationales Gewaltmonopol; der Auftrag zur Rüstungsregelung ist nicht erfüllt. Das sog. „Veto“-Recht gibt den ständigen Mitgliedern einzeln eine unbedingte Verweigerungs-Macht und als Gruppe eine Vormachtstellung; sie müssen laut Charta zustimmen, doch als „Veto“ gilt in der Praxis nur eine explizite Ablehnung (Nein-Stimme), nicht schon eine Enthaltung oder gar ein Fernbleiben von der Sitzung; ein kollektives „6.“ Veto ist möglich durch sieben Neinstimmen nicht-ständiger Mitglieder. Die friedliche Sicherung des Friedens ist als „Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten“ (Kap. VI Art. 33-38) allen Mitgliedern vorgeschrieben (siehe 8.1.2). Von entscheidender Bedeutung ist Art. 34, der dem Sicherheitsrat die exklusive Definitionsmacht gibt, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist - ein Problem, das der Sicherheitsrat nicht sieht, ist nicht in der Welt; einzelne Mitgliedstaaten oder auch der Generalsekretär können die Befassung des SR mit einer Sache anregen, aber nicht erzwingen. Maßnahmen zum „peace-keeping“ durch „Friedenstruppen“ (sog.“Blauhelm“-Einsätze) sind in diesem Kapitel der Charta nicht vorgesehen. <?page no="67"?> 67 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Die unfriedliche Sicherung des Friedens ist unter den „Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“ (Kap. VII Art. 39-51) geregelt (siehe 8.1.2). Das Recht eines jeden Staates zur Selbstverteidigung bleibt weiterhin uneingeschränkt, wiewohl der Sicherheitsrat das internationale Gewaltmonopol erhält: Art. 39 gibt dem SR noch einmal auch für die höhere Eskalationsstufe die exklusive Definitionsmacht festzustellen, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist. Wenn Vermittlungsversuche erfolglos bleiben, hat der SR dann nach Art. 41 das Recht, Sanktionen aller Art ohne Waffengewalt zu verhängen; wenn auch dies nicht fruchtet, darf der SR dann laut Art. 42 militärische Zwangsmaßnahmen bis zum Krieg anordnen - die „Lizenz zum Töten“. Abgesichert ist dies in Art. 49 durch die Beistandsverpflichtung der Mitglieder; der vorgesehene „Generalstabsausschuss“ zur militärischen Führung wurde zwar nie aktiviert, aber auch Staaten-Allianzen oder Militärbündnisse können auf der Grundlage von Art. 42 beauftragt werden. Maßnahmen zum „peace-keeping“ (sog.“Blauhelm“-Einsätze) sind in diesem Kapitel der Charta also ebenfalls nicht vorgesehen. Die Sicherung des Friedens kann zusätzlich durch „Regionale Abmachungen“ (Kap. VIII Art. 52-54) unternommen werden: Der SR kann Aufgaben auf von ihm autorisierte internationale Regionalorganisationen (z. B. eines Kontinents) delegieren, behält aber dabei die übergeordnete Kompetenz. Die „Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet“ (Kap. IX Art. 55-60) und damit „Der Wirtschafts- und Sozialrat“ (Kap. X Art. 61-72d) haben in der Charta so große Bedeutung erhalten, weil zur Verhinderung von Krieg neben dem Konzept der kollektiven Sicherheit eben ein positiver Friedensbegriff zugrundegelegt wurde, der anders als das bloß negative Verständnis (= kein Krieg) anspruchsvoll auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von Frieden gerichtet ist. IX 55-60 Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet 55 ▶ Die UNO fördert Stabilität und Wohlfahrt, „damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen“ können ▶ Aufgabenbereiche sind: ▷ Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung, Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg ▷ Lösung internationaler wirtschaftlicher, sozialer und gesundheitlicher Probleme sowie internationale Zusammenarbeit in Kultur und Erziehung ▷ Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten 60 ▶ Verantwortlich sind „die GV und unter ihrer Autorität der ECOSOC“ Die eigentümliche Formulierung in Art. 60 lässt schon ahnen, dass es ein Problem der Kompetenz-Abgrenzung von GV und ECOSOC geben würde, zumal für die wichtigsten Arbeitsfelder auch sog. Sonderorganisationen zuständig sind, die als selbständige internationale Fachorganisationen zwar zum System der UNO zählen, aber nicht Teil von ihr sind (siehe 5.3). <?page no="68"?> 68 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben GV und ECOSOC haben zudem weidlich die Möglichkeit genutzt, in diesen Arbeitsbereichen Neben- und Unterorgane einzurichten (siehe 5.2). Die 54 Mitglieder des ECOSOC werden von der GV für drei Jahre gewählt, jährlich 18 neu. Die Probleme Umwelt und Klima gehören analog zu den Entwicklungsfragen auch zu seiner Kompetenz; er ist zuständig für die meisten der öffentlichkeitswirksamen „Welt-Konferenzen“ und „Gipfel“ (siehe 7.3); er verhandelt und regelt die Zusammenarbeit mit den selbständigen Sonderorganisationen; er verantwortet die Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs/ INGOs) zu Beobachtung, Anhörung und Mitarbeit in der UNO. Die „Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“ (Kap. XI Art. 73-74), „Das internationale Treuhandsystem“ (Kap. XII Art. 75-85) und „Der Treuhandrat“ (Kap. XIII Art. 86-91) sind historisch erledigt. Das Problem war noch nicht die Dekolonisierung als politische Emanzipation der „Dritten Welt“, sondern die Verwaltung der „herrenlos“ gewordenen Kolonien der Verlierer beider Weltkriege, aber in Kap. XI Art. 73 ist mit dem Prinzip der Selbstregierung und Entwicklung abhängiger Gebiete im Grundsatz die Dekolonisierung angeregt. „Der Internationale Gerichtshof“ (IGH) (Kap. XIV Art. 92-96) dient der Streitschlichtung und der Völkerrechts-Entwicklung. Alle Mitglieder der UNO sind zugleich Vertragsparteien des Statuts des IGH, müssen sich aber jeweils der Rechtsprechung freiwillig unterwerfen; zumindest prinzipiell gibt es eine Möglichkeit zur Durchsetzung von Urteilen durch den Sicherheitsrat. Die 15 Richter aus 15 verschiedenen Ländern sind nur dem Völkerrecht und nicht ihren Heimatstaaten verpflichtet. Organe und Sonderorganisationen können über Rechtsfragen Gutachten des IGH anfordern. „Das Sekretariat“ unter dem Generalsekretär (GS) (Kap. XV Art. 97-101) ist ein vollwertiges Hauptorgan, nicht etwa nur ein untergeordneter interner Dienstleistungs-Apparat. Der Generalsekretär hat auch genuin politische Aufgaben: Er berichtet jährlich der GV über die Tätigkeit der Organisation und setzt damit Akzente; er „kann die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist“, Frieden und Sicherheit zu bedrohen (Art. 99). Die Mitarbeiter des Sekretariats sind unmittelbar dem Generalsekretär unterstellt und nur der UNO verpflichtet, nicht einzelnen Mitgliedsländern; das Personal soll zudem „ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, fachlicher Eignung und Ehrenhaftigkeit“ aufweisen und „auf möglichst breiter geographischer Grundlage“ ausgewählt werden (Art. 101). Das Gebot der Unabhängigkeit ist für eine internationale Organisation essentiell, aber nicht ganz realistisch; zusammen mit der Forderung nach höchsten fachlichen und moralischen Qualitäten und nach geographischer Diversität ist das recht viel verlangt. Bezogen auf das angestellte Personal der UNO - also nicht die Staatenvertreter - gilt die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Kap. III Art. 8). <?page no="69"?> 69 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Unter dem bescheidenen „Verschiedenes“ (Kap. XVI Art. 102-105) sind eminent wichtige völkerrechtliche Bestimmungen für den Status und die Arbeitsfähigkeit der UNO zu finden: Verpflichtungen aus der Charta haben Vorrang vor Verpflichtungen aus allen anderen internationalen Verträgen, falls sie sich widersprechen; die Charta ist also völkerrechtlich der wichtigste und der im Zweifel ausschlaggebende Vertrag - das ist z. B. hinsichtlich des Gewaltmonopols des Sicherheitsrats wesentlich. Obwohl kein Staat, ist die UNO ein eigenständiges Völkerrechtssubjekt-mit Rechts- und Geschäftsfähigkeit im Hoheitsgebiet jedes Mitglieds. Die „Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit“ (Kap. XVII Art. 106-107) mit der „Feindstaatenklausel“ waren auf die Situation zu Ende des Weltkrieges gerichtet und sind ebenfalls historisch erledigt. Formelle „Änderungen“ (Kap. XVIII Art. 108-109) der Charta sind inzwischen fast unmöglich. Die politischen Anforderungen an das korrekte Verfahren für jede rechtswirksame Reformulierung der Charta sind sehr hoch und bilden nur schwer überwindbare Hemmnisse für alle Reformen, die einer solchen Änderung bedürfen. XVIII 108-109 Änderungen 108 ▶ Beschluss der GV mit Zwei-Drittel-Mehrheit und ▶ Ratifizierung „nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts“ durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten, inklusive aller ständigen Mitglieder des SR 109 ▶ Eine Konferenz der Mitglieder der VN zur Revision der Charta ist möglich auf Beschluss einer Zwei-Drittel-Mehrheit der GV und von neun Mitgliedern des SR ▶ Jedes Mitglied der VN hat auf dieser Konferenz eine Stimme ▶ Von der Konferenz mit Zwei-Drittel-Mehrheit empfohlene Charta-Änderungen treten in Kraft, wenn sie „von zwei Dritteln der Mitglieder der VN einschließlich aller ständigen Mitglieder des SR nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden“ sind Nötig wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Generalversammlung und Ratifizierung seitens der Gesetzgeber in zwei Dritteln der Mitgliedsländer inklusive aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats; das politische Problem sind nicht nur die nötigen Mehrheiten, auch jahrelange Verschleppung der Ratifizierung in den Staaten ist eine Gefahr. Eine Konferenz als weitere Möglichkeit zur Revision der Charta kam wegen derselben Hürden nie zustande. Das erklärt auch, warum so viele in Jahrzehnten obsolet gewordene Bestimmungen (wie die zum Treuhandsystem) nicht einfach gestrichen worden sind. Die Charta ist bisher nur zweimal vor Jahrzehnten geändert worden: 1963/ 1965 wurde die Zahl der Mitglieder des SR von 11 auf 15 erhöht, indem die Sitze der nichtständigen Mitglieder von 6 auf 10 vermehrt wurden; die Zahl der Mitglieder des ECOSOC wurde von 18 auf 27 erhöht; 1971/ 1973 wurde sie noch einmal von 27 auf 54 erhöht. Doch diese Änderungen waren politisch nicht umstritten und fanden leicht die Zustimmung der ständigen Mitglieder des SR; die UNO hatte auch noch nicht so viele Mitglieder, von denen zwei Drittel ratifizieren mussten. <?page no="70"?> 70 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben Am Ende des Vertragstextes ist unter „Ratifizierung und Unterzeichnung“ (Kap. XIX Art. 110-111) geregelt, wie er rechtlich verbindlich wurde: Die Charta trat in Kraft, als ihn „die Unterzeichnerstaaten nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts“ ratifiziert und alle ständigen Mitglieder des SR und die Mehrheit der anderen Unterzeichnerstaaten ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt hatten bei der Regierung der USA, die das protokollierte und notifizierte. Der verbindliche Text der Charta lag in Chinesisch/ Französisch/ Russisch/ Englisch/ Spanisch vor. „ZU URKUND DESSEN haben die Vertreter der Regierungen der Vereinten Nationen diese Charta unterzeichnet. GESCHEHEN in der Stadt San Franzisco am 26. Juni 1945.“ Die Charta der Vereinten Nationen ist also weder perfekt noch allen aktuellen Problemen angemessen - aber sie ist praktisch kaum mehr zu ändern. In ihr sind einige obsolete oder unzureichende Bestimmungen festgeschrieben: ▶ Einzelne Kapitel und Artikel des Vertrages sind von der historischen Entwicklung überholt und überflüssig gemacht worden, sei es, dass Bestimmungen gar nicht erst politisch umgesetzt werden konnten (wie der Generalstabsausschuss und Sonderabkommen zur Truppenstellung in Kap. VII), sei es, dass die Aufgabe erledigt wurde (wie der ganze Treuhand-Bereich, Kap. XI bis XIII). ▶ Vielfach entstanden Probleme durch unklare Kompetenz-Abgrenzung zwischen Generalversammlung und ECOSOC oder auch anderen Organen. ▶ Die Charta gibt keine Vorschriften über Struktur, Zusammensetzung, Funktionen und Kompetenzen von subsidiären (Neben-, Unter-, Spezial-)Organen aller Art, was organisatorischen Wildwuchs nährte: Viele Überschneidungen und Doppelungen sind uneffizient - aber politisch oft auch hilfreich und erwünscht (siehe 7.6). ▶ Schutz und Durchsetzung der Menschenrechte werden in den Artikeln 1, 13, 55, 62 und 68 unter verschiedenen Kapiteln der Charta nur sehr grundsätzlich beschworen oder beiläufig erwähnt, aber - aufgrund von deren Entstehungsbedingungen (siehe 3.2) - wurde dazu kein gesondertes Kapitel formuliert und auch kein spezielles Hauptorgan für Menschenrechtsarbeit vorgesehen. Die Autor/ inn/ en der Charta hatten aber auch viel Pech mit ihren Festlegungen für Struktur und Funktionsweise der UNO; kaum waren die Konsequenzen aus den gegebenen Rahmenbedingungen gezogen, änderten sich diese: ▶ statt konventionelle Kriege eindämmen zu können, wurde das Konzept der kollektiven Sicherheit überfordert von Atomwaffen und dem Kalten Krieg, ▶ statt eine stabile Nachkriegsordnung aufbauen zu können, waren die führenden Staaten mit ihrer Konkurrenz der Machtblöcke beschäftigt <?page no="71"?> 71 4. Das „Mandat“ der UNO: Ziele, Grundsätze und Aufgaben ▶ und wurden nebenzu noch herausgefordert durch die Emanzipation der Dritten Welt, die das internationale Staatensystem und seine Regeln veränderte, ▶ statt staatliche Konfliktparteien mit den Mitteln des Sicherheitsrates disziplinieren zu können, sah sich dieser bald mit ganz andersartigen innerstaatlichen Konflikten und Akteuren konfrontiert, ▶ statt Wirtschaft und Gesellschaft prosperierend und profitabel wieder auf- und ausbauen zu können, war auf die Bedürfnisse und Forderungen der neuen Entwicklungsländer einzugehen ▶ und später wurden dann auch noch zuerst die Umwelt schmutzig, dann die Natur notleidend, zuletzt sogar das Klima verrückt. Die Unveränderbarkeit der Charta hat also unter pragmatischen und kreativen Aspekten auch starke Vorteile, weil sie angesichts solcher unvorhergesehenen Herausforderungen zum inkrementellen Durchwursteln („muddling through“) im Geist der Charta (siehe 7.6) zwingt, was eben absurderweise - aber politisch durchaus logisch - neue Spielräume öffnen kann. Klassische Beispiele sind ▶ Aufbau und Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes laut des politischen Anspruchs der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die GV 1948 und später auf rechtlicher Grundlage der als eigenständige internationale Verträge verbindlichen Menschenrechts-Pakte (siehe 8.2.2) ▶ oder in der Friedenssicherung die Erfindung und Entwicklung eines virtuellen „Kapitel Sechseinhalb“ irgendwo zwischen Kap. VI und Kap. VII für den Einsatz der blaubehelmten „Friedenstruppen“ (siehe 8.1.2). <?page no="73"?> 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ Die Charta der Vereinten Nationen legt die Grundstruktur der Organisation fest: ▶ Die (sechs) Hauptorgane (principal organs) ▶ und deren (zahlreiche) untergeordnete Nebenorgane (subsidiary bodies) und Spezialorgane (programs and funds) ▶ zusammen mit den (fast zwei Dutzend) selbständigen Sonderorganisationen (specialized agencies) ▶ bilden das (kaum noch überschaubare) „System“ der UNO. 5.1 Die Hauptorgane … Der Gründungsvertrag richtet der UNO sechs Hauptorgane (principal organs) ein: ▶ Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA) ▶ Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC) ▶ Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC) ▶ Treuhandrat / Trusteeship Council ▶ Internationaler Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ) ▶ Sekretariat [bzw. Generalsekretär] / Secretariat [or Secretary General] (SG) Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Hauptorgane III 7 ▶ Sechs Hauptorgane: Generalversammlung, Sicherheitsrat, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandrat, Internationaler Gerichtshof, Sekretariat [Generalsekretär]) Der Sitz der Hauptorgane ist New York (USA), nur der IGH hat seinen Sitz in Den Haag (Niederlande). <?page no="74"?> 74 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ <?page no="75"?> 75 5.2 … und deren untergeordnete Neben- und Spezialorgane … 5.2 … und deren untergeordnete Neben- und Spezialorgane … Hauptorgane haben das Recht, sich als Untergliederungen Nebenorgane (subsidiary bodies) bzw. Spezialorgane (programs and funds) zu schaffen; die Hauptorgane können ihre Neben- oder Spezialorgane einsetzen zum einen als arbeitsteilig beratende Ausschüsse, zum anderen als spezifische Arbeitsprogramme oder Finanzierungsfonds. Generalversammlung sowie Wirtschafts- und Sozialrat haben sich großzügig mehrere Dutzend Nebenorgane und Spezialorgane eingerichtet, während der Sicherheitsrat bescheiden war. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Nebenorgane → Spezialorgane III 7 ▶ die Hauptorgane gründen Nebenorgane nach Bedarf keine Vorschriften über Struktur, Funktionen und Kompetenzen von subsidiären und speziellen Organen aller Art IV 22 ▶ die Generalversammlung kann Nebenorgane einsetzen, soweit sie dies für erforderlich hält V 29 ▶ der Sicherheitsrat kann Nebenorgane einsetzen, soweit er dies für erforderlich hält X 68 ▶ der ECOSOC setzt Kommissionen für wirtschaftliche und soziale Fragen und für die Förderung der Menschenrechte „sowie alle sonstigen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Kommissionen“ ein Eine Quelle häufiger Missverständnisse ist der nicht leicht verständliche Unterschied zwischen Neben- und Spezialorganen einerseits und Sonderorganisationen anderseits: erstere sind untergeordnete Teile der eigentlichen UNO, letztere sind eigenständige Internationale Organisationen im weiteren UN-System (siehe 5.3). Schon die Neben- und Spezialorgane zu überschauen ist nicht einfach, sie zu typologisieren ist verwirrend. Diese Gremien, Ausschüsse, Kommissionen aber auch operative Agenturen u. a. sind besetzt von Vertretern von Mitgliedstaaten der UNO oder beratenden Experten oder auch Mitarbeitern des Sekretariats (siehe 6.1.6). Die meisten Neben- und alle Spezialorgane sind auf Dauer eingerichtet, aber auch ad-hoc-Institutionen arbeiten zu einem begrenzten Zweck auf Zeit; Sonderfälle sind alle „Blauhelm“- und Militäreinsätze sowie die beiden Straftribunale des Sicherheitsrates. Die Spezialorgane oder Programme und Fonds (programs and funds) sind von einer speziellen Klasse. Rechtlich ähnlich gestellt wie die Nebenorgane erfüllen sie selbständig operative Aufgaben, sei es Entwicklungsfinanzierung, sei es die Umsetzung von problemfeldspezifischen Aktionsprogrammen aller Art oder konkrete humanitäre Hilfsmaßnahmen. Dafür haben sie keine eigenen Budgets, sondern nur die ihnen aus dem ordentlichen Haushalt zugewiesenen Mittel; aber finanzumsatzstarke Programme wie das Entwicklungsprogramm (UNDP) erhalten darüber hinaus gesonderte Beiträge der Mitgliedstaaten. Einzelne Spezialorgane haben nicht nur einen komplexen Aufbau und ein vielfältiges Arbeitsprogramm, sondern pflegen auch eigene Spendenquellen aus der Zivilgesellschaft; wenn dann wie beim Kinderhilfswerk UNICEF noch ein hoher öffentlicher Aufmerksamkeitswert wirkt, werden solche Organe gelegentlich irreführend als „quasi-autonom“ bezeichnet. Alle Spezialorgane <?page no="76"?> 76 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ sind der Generalversammlung gegenüber rechenschaftspflichtig; einige berichten ihr direkt, die meisten indirekt über den ECOSOC. Spezielle Institutionen eigener Art und nicht Teil der UNO im engeren Sinne als Unterorgan von einem Hauptorgan sind sog. Vertragsorgane (treaty bodies), die wie die Sonderorganisationen unmittelbar durch einen internationalen Vertrag begründet sind - etwa durch die Menschenrechtskonventionen (siehe 8.2.2). <?page no="77"?> 77 5.2 … und deren untergeordnete Neben- und Spezialorgane … <?page no="78"?> 78 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ 5.3 … zusammen mit den selbständigen Sonderorganisationen … Der oft missverstandene Unterschied zwischen Neben-/ Spezialorganen und Sonderorganisationen ist in manchen Fällen gar nicht einmal an der Aufgabenstellung und Tätigkeit zu erkennen, denn er ist hauptsächlich (völker-)rechtlicher Natur - und damit politisch wichtig: Sonderorganisationen sind rechtlich, politisch und finanziell selbständige Internationale Fach-Organisationen (specialized agencies), während die anderen untergeordnete Organe von Hauptorganen sind, also zur eigentlichen (Kern-)UNO gehören. Mit schon existenten oder durch einen eigenen internationalen Vertrag noch zu gründenden autonom-eigenständigen Internationalen Fach-Organisationen kann die UNO Kooperationen vereinbaren und sie so zu ihren Sonderorganisationen zählen. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Sonderorganisationen IX 57 ▶ Durch zwischenstaatliche Übereinkünfte errichtete „Sonderorganisationen“ werden mit den VN „in Beziehung gebracht“ (nach Art. 63). IX 58 ▶ Die VN geben Empfehlungen zur Koordination der Sonderorganisationen. IX 59 ▶ Die VN veranlassen gegebenenfalls Staaten zur Errichtung neuer Sonderorganisationen IX 60 ▶ Verantwortlich sind „die GV und unter ihrer Autorität der ECOSOC“ Problem der Kompetenz-Abgrenzung von GV und ECOSOC X 63 ▶ Der ECOSOC schließt Abkommen mit Sonderorganisationen zur Zusammenarbeit (nach Art. 57), von der GV zu genehmigen ▶ Der ECOSOC koordiniert die Tätigkeit der Sonderorganisationen durch Konsultationen und Empfehlungen der ECOSOC verhandelt und regelt die Zusammenarbeit mit den selbständigen Sonderorganisationen im System der VN X 64 ▶ Regelmäßige Berichte von den Sonderorganisationen an den ECOSOC ▶ der der GV seine Bemerkungen zu diesen Berichten mitteilen kann Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen Nebenorganen (subsidiary bodies) bzw. Spezialorganen (programs and funds) einerseits und andererseits den Sonderorganisationen (specialized agencies) sind ihr/ ihre ▶ Status: die einen sind nur ein weisungsgebundenes Unterorgan - die anderen sind eine selbständige Internationale Organisation; ▶ Rechtsgrundlage: die einen wurden alle durch die Hauptorgane gemäß der Charta der VN eingerichtet - die anderen gründen jeweils in einem eigenen internationalen Vertrag; ▶ Mitgliedschaft: die einen dienen den Mitgliedstaaten der UNO - die anderen haben eine von der UNO unabhängige Mitgliedschaft; ▶ Finanzierung: die einen bekommen Haushaltmittel aus UN-Mitgliedsbeiträgen/ -umlagen - die anderen nehmen eigene Mitgliedsbeiträge und Zuwendungen von ihren Mitgliedstaaten ein; <?page no="79"?> 79 5.3 … zusammen mit den selbständigen Sonderorganisationen … ▶ Struktur: die einen erhalten von ihrem Hauptorgan ein zweckangepasstes Instrumentarium und Personal - die anderen haben eigene Organe, eigenes Management, eigenes Personal und eigene Expertise; ▶ Aufgaben: die einen leisten Zuarbeiten, erfüllen bestimmte Aufträge oder beraten fachlich bzw. bearbeiten ein Arbeitsthema fachlich und/ oder operativ - die anderen sind für einen ganzen Arbeitsbereich thematisch und programmatisch zuständig mit unabhängiger operativer Durchführungskompetenz. Doch warum gibt es diesen Unterschied zwischen UNO-Untergliederungen und Institutionen mit Sonderstatus? Zunächst ist nicht zu vergessen, dass es einige der späteren „Sonderorganisationen“ schon vor der UNO oder sogar dem Völkerbund gab (wie die ITU seit 1865, die FAO seit 1905, die ILO seit 1919; siehe 3.1). Und es herrscht die Meinung vor, dass der Status einer eigenständigen internationalen Organisation einem Arbeitbereich politisch und operativ mehr Gewicht verschafft. Aber warum gibt es denn inzwischen so viele Neben- und Spezia1organe und daneben die vielen Sonderorganisationen, was ja insgesamt mehr Aufwand verlangt oder gar zu Konkurrenz untereinander verführen kann? Ein ausschlaggebender politischer Grund war zur Zeit der Entstehung der UNO, dass die wirtschaftlichen Schäden des Zweiten Weltkrieges möglichst rasch und angesichts des absehbaren kalten Krieges mit der Sowjetunion möglichst im westlichen Sinne geregelt werden sollten; also wurden ungeachtet des um die wirtschaftliche und soziale Dimension erweiterten positiven Friedensbegriffes in der entstehenden Charta der VN die drei internationalen Regelungssysteme für Währungsstabilität, Wiederaufbau/ Entwicklung und freien Welthandel nicht in die entstehende UNO integriert, sondern schon 1944 in den sog. „Bretton Woods“-Institutionen gesondert organisiert (IMF, IBRD und GATT/ WTO; siehe 8.3 und 8.4.2). Ein anderer politischer Hintergrund ist, dass die südliche Mehrheit in der Generalversammlung, die in den 1960/ 70er-Jahren mit den neuen Staaten der „Dritten Welt“ entstanden war, ihre Themen - vorrangig Entwicklung durch multilaterale Entwicklungszusammenarbeit und deren Finanzierung durch die reichen Länder - in angemessener Weise behandelt sehen wollte; für alle Beteiligten war es letztlich weniger aufwändig, zur Problembehandlung jeweils eine neue Institution einzurichten oder eine neue Organisation zu gründen als schwelende Konflikte direkt anzugehen. Der Zwischenformen ausschließende Gegensatz zwischen dem Status eines Spezialorgans und dem einer Sonderorganisation ist nur zu überwinden, indem ein Spezialorgan geschlossen und dann auf der Basis eines neuen internationalen Abkommens als Sonderorganisation neu gegründet wird. So wurde die 1966 als Spezialorgan entstandene UNIDO 1985 zur Sonderorganisation umgegründet. Schon häufig wurde vorgeschlagen, das Umweltprogramm (UN Environment Program/ UNEP) zu einer starken Sonderorganisation (UN Environment Organization/ UNEO ? ) umzubauen. Abzuwägen ist, welcher Status für einen Arbeitsbereich mehr Vorteile bietet: Eine Sonderorganisation kann leichter Aufmerksamkeit beanspruchen und selbstbestimmter und damit vielleicht näher an der Sache agieren, aber ein Spezialorgan ist verlässlicher finanziert und weniger erpreßbar, also auch geschützter gegen hegemoniale Akteure; die Erfahrungen der UNESCO mit der Kritik der USA und deren wiederholten <?page no="80"?> 80 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ Austritten mit ernsten finanziellen Folgen zeigen, dass eigenständige Sonderorganisationen leichter unter Druck zu setzen und zu isolieren sind als die UNO selbst. Und das Argument, dass wichtige „Querschnittsaufgaben“ besser auf verschiedenen politischen Ebenen und in allen fachlichen Dimensionen innerhalb einer komplexen Organisation erfüllt statt in eine isolierte Struktur aus- und abgelagert werden sollten, ist ja nicht abwegig, auch wenn es oft nur zum Abwiegeln dient. Die Sonderorganisationen im System der Vereinten Nationen Kürzel Bezeichnung Sitz Gründung Aufgaben Weltbank IBRD * Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung International Bank for Reconstruction and Development Washington 1945 „Bretton Woods“-Institutionen für Weltwirtschaft/ -handel, Währung und Entwicklung * = „Weltbank-Gruppe“ * IDA Internationale Entwicklungsorganisation International Development Association Washington 1960 * IFC Internationale Finanz-Korporation International Finance Corporation Washington 1956 * MIGA Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur Multilateral Investment Guarantee Agency Washington 1988 * ICSID Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten International Centre for Settlement of Investment Disputes Washington 1966 IMF Internationaler Währungsfonds International Monetary Fund Washington 1945 WTO Welthandelsorganisation [früher GATT (1947)] World Trade Organization Genf 1995 ILO Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization Genf (1919) 1946 Sonderorganisationen mit wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und entwicklungspolitischen Aufgaben FAO Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agriculture Organization Rom (1905) 1945 IFAD Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung International Fund for Agricultural Development Rom 1977 UNESCO Organisation der VN für Erziehung, Wissenschaft und Kultur UN Educational, Scientific and Cultural Organization Paris 1946 WHO Weltgesundheitsorganisation World Health Organization Genf 1948 UNIDO Organisation der VN für industrielle Entwicklung United Nations Industrial Development Organization New York 1967 IOM Internationale Organisation für Migration International Organization for Migration Genf (1989) 2016 <?page no="81"?> 81 5.4 … bilden das „System“ der UNO Die Sonderorganisationen im System der Vereinten Nationen Kürzel Bezeichnung Sitz Gründung Aufgaben WPV UPU Weltpostverein Universal Postal Union Bern (1874) 1948 Sonderorganisationen mit wissenschaftlichen, technischen und logistischen Aufgaben ITU Internationale Fernmeldeunion International Telecommunication Union Genf (1934) 1949 IMO Internationale Seeschiffahrtsorganisation International Maritime Organization London 1958 ICAO Internationale Zivilluftfahrt-Organisation International Civil Aviation Organization Montreal 1947 WMO Weltorganisation für Meteorologie World Meteorological Organization Genf (1873) 1950 WIPO Weltorganisation für geistiges Eigentum World Intellectual Property Organization Genf 1970 UNWTO Weltorganisation für Tourismus UN World Tourism Organization Madrid 1975 IAEO IAEA Internationale Atomenergie-Organisation International Atomic Energy Agency Wien 1957 Mit der UNO verbundene Organisationen mit wissenschaftlich-technischen Aufgaben, zumal zur Beobachtung und Überwachung OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen Organization for the Prohibition of Chemical Weapons Den Haag 1997 CTBTO Organisation des Nuklearversuchs-Verbots-Vertrages Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization Wien 1997 IMB ISA Internationale Meeresbodenbehörde International Seabed Authority Kingston 1994 IStGH ICC Internationaler Strafgerichtshof International Criminal Court Den Haag 2002 Gerichtshöfe ITLOS Internationaler Seegerichtshof International Tribunal for the Law of the Sea Hamburg 1994 5.4 … bilden das „System“ der UNO Für die Kooperation zwischen der eigentlichen UNO mit anderen internationalen Organisationen, insbesondere den UNO-blauen Sonderorganisationen, aber auch mit den eher Dollar-grünen „Bretton Woods“-Organisationen ist der ECOSOC zuständig; er arbeitet die entsprechenden Abkommen aus, die von der GV genehmigt werden müssen. Auch mit der sog. Zivilgesellschaft vertreten durch Internationale nichtstaatliche (oder Nichtregierungs-) Organisationen (International Non-Governmental Organisations/ INGOs) aller Art arbeitet die UNO offiziell zusammen, was meist in den Räumen und Veranstaltungen der UNO geschieht; zuständig für Zulassung und Koordination ist wieder der ECOSOC. In bald acht Jahrzehnten ist so um die „Kern-UNO“ herum eine Art „UN-System“ gewachsen - irritierend komplex. <?page no="82"?> 82 5. Struktur der UNO und des UN-„Systems“ Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Sonderorganisationen → nichtstaatliche Organisationen X 63 ▶ Der ECOSOC schließt Abkommen mit Sonderorganisationen zur Zusammenarbeit ▶ und koordiniert die Tätigkeit der Sonderorganisationen durch Konsultationen und Empfehlungen X 71 ▶ Der ECOSOC kann Konsultationen mit internationalen und nationalen nichtstaatlichen Organisationen abmachen, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs/ INGOs) zu Beobachtung, Anhörung und Mitarbeit in der UNO bzw. im System der VN Kritiker haben jedoch schon früh und anhaltend befürchtet (siehe 9.1), „die UNO“ sei kein durchdachtes oder gar planvoll entworfenes System, sondern ein wildwüchsiges Konglomerat von oft historisch kontingent, beiläufig oder gar zufällig aus einer akuten Situation heraus entstandenen und tradierten Einrichtungen. Der Verdacht liegt nahe, dass in diesem kaum durchschaubaren Gebilde zu viele Debatten fruchtlos geführt und wichtige Aufgaben zu wenig koordiniert uneffizient erfüllt sowie aufwändige Arbeiten überlappend oder gedoppelt geleistet würden: Manche Sonderorganisationen operieren in den gleichen Aufgabenfeldern wie manche Spezialorgane, was kaum immer ausreichend abzustimmen ist; schon die Hauptorgane kommen sich ins Gehege, wenn z. B. der zweite und dritte Hauptausschuss der GV sich mit den gleichen Fragen wie der ECOSOC befassen; für Probleme des Welthandels sind mindestens ein Dutzend Haupt- (wie der ECOSOC) und Nebenorgane (wie die UNCTAD) sowie gewichtige Sonderorganisationen (wie WTO) zuständig. Vielleicht verbirgt sich im vermeintlichen Chaos aber auch politisches Potential (siehe 7.6 und 9.2). In der Doppelung von Spezialorgan UNCTAD und Vertrag/ Sonderorganisation GATT/ WTO z. B. kann auch eine politisch sinnvolle Arbeitsteilung gesehen werden. Nach den Intentionen zur Zeit ihrer Gründungen sollten sie entgegengesetzte Positionen fokussieren: entwicklungs- und gerechtigkeitspolitisch motivierte Eingriffe in den Handel besonders von Rohstoffen versus radikale Durchsetzung des Freihandels. Beide Institutionen befriedigten durch ihr souveränes Aneinandervorbeifunktionieren die spezifischen Bedürfnisse ihrer jeweiligen Klientel und dienten insofern der Entschärfung des Nord-Süd-Konflikts. <?page no="83"?> 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Die Charta gibt den sechs Hauptorganen der UNO ihre Aufgaben und Funktionen; Arbeitsbereiche und Zuständigkeiten sind arbeitsteilig von einander abgegrenzt - wobei allerdings der Vorrang der Kompetenzen nicht immer eindeutig geklärt ist. Das gründet weniger in Schludrigkeit und Zeitdruck bei der Formulierung, sondern darin, dass damals häufig nur unzureichende Kompromisse politisch möglich waren (siehe 3.2) - und sich manche Probleme in der Sache oder der Verfahrensweise erst später in der multilateralen Praxis zeigten. Der ständige Machtkampf, der die Arbeit der UNO und in der UNO zwangsläufig prägt, ist ihr also schon in Struktur und Regelwerk eingebaut: Nicht nur Staaten und Staatengruppen konkurrieren, sondern auch die Organe und Unterorgane der Organisation, die dennoch internationale Kooperation ermöglichen soll - und kann. 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Den Hauptorganen (principal organs) sind die großen Arbeitfelder der UNO zugeordnet, soweit sie bis 1945 schon absehbar waren oder wie sie sich danach weiterentwickelt haben für neue Probleme wie dem der Umweltzerstörung. ▶ Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA): alle Arbeitbereiche, sofern nicht ein anderes Organ Vorrang hat; Schwerpunkte wurden Völkerrecht, Menschenrechte (human rights) und Entwicklung (development); Verwaltung und Haushalt der Kernorganisation der UNO. ▶ Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC): Frieden und Sicherheit (peace and security), in extremen Fällen auch Menschenrechte (human rights). ▶ Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC): Wirtschaft/ Handel (economy) und Gesellschaft sowie Kultur und Gesundheit, also inzwischen auch Entwicklung (development) und Umwelt/ Klima (environment). ▶ Treuhandrat / Trusteeship Council: Verwaltung herrschaftsloser abhängiger Gebiete; heute obsolet. ▶ Internationaler Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ): Konfliktschlichtung und Rechtsgutachten sowie dadurch Weiterentwicklung des Völkerrechts. ▶ Sekretariat [bzw. Generalsekretär] / Secretariat [or Secretary General] (SG): Koordination aller Arbeitbereiche, Verwaltung, Personal. Ein großer Teil der fachlichen und operativen Aufgaben wird von den selbständigen Sonderorganisationen (specialized agencies) ausgeführt (siehe 5.3), die den Hauptorganen der Kernorganisation UNO zugeordnet sind, meist der GA und/ oder dem ECOSOC. <?page no="84"?> 84 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO <?page no="85"?> 85 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane <?page no="86"?> 86 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO 6.1.1 Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA) Die Generalversammlung (GV) / General Assembly (GA) (siehe VN-Charta Art. 9-22) ist das zentrale Hauptorgan der Vereinten Nationen, denn in ihr sind alle Mitglieder der Organisation gleichberechtigt vertreten. Zwar ist sie das einzige Plenar-Organ der UNO, darf aber definitiv nicht als „Weltparlament“ missverstanden werden; stimmiger ist, in ihr die fast das ganze Jahr über tagende Mitgliederhauptversammlung eines weltweiten Vereins zu sehen, dessen Mitglieder ausschließlich Staaten sind. Fast alle Staaten der Erde genießen in der Generalversammlung als Mitglieder der UNO gemäß dem Prinzip der souveränen Gleichheit (VN-Charta Art. 2) formal die gleichen Rechte; ohne Rücksicht auf Größe, Bevölkerungszahl und wirtschaftliches Potential, auf politisches und militärisches Gewicht oder geostrategische Lage haben alle Staaten gleichermaßen eine Stimme („ein Staat - eine Stimme“) in Abstimmungen und Wahlen. Jeder Staat kann fünf natürliche Personen - in der Regel Berufs-Diplomaten, aber auch Experten oder verdiente Bürger - als Repräsentanten in die Generalversammlung entsenden; bislang haben immer alle Delegierten knapp Platz in der „Grand Hall“, dem Kuppelsaal der Generalversammlung gefunden, aber dafür müssen inzwischen Plätze auf der Besucher-Tribüne genutzt werden. Denn bis auf Einzelfälle sind alle Staaten Mitglieder (193 seit 2011); nur einen Beobachterstatus in der Generalversammlung haben Staaten wie der Heilige Stuhl/ Vatikan wegen seines komplizierten Doppelwesens und Palästina, weil es nicht von allen UN-Mitgliedern als souveräner Staat anerkannt wird; Beobachterstatus haben auch die Sonderorganisationen und andere eigenständige Internationale Organisationen wie die Europäische Union (EU); nationale Befreiungsbewegungen können Beobachterstatus erhalten. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Die Generalversammlung IV 9 ▶ Alle Mitgliedstaaten (maximal 5 Delegierte pro Staat) IV 10 ▶ Aufgaben und Befugnisse umfassen alle Bestimmungen und Organe der Charta ▶ Empfehlungen an Mitglieder und/ oder den SR - vorbehaltlich Art. 12 IV 11 ▶ Befassung mit den Grundsätzen der Zusammenarbeit zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie für die Abrüstung und Rüstungsregelung ▶ Erörterung aller die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Fragen auf Aufforderung eines Mitgliedes oder des SR; gegebenfalls Verweisung an den SR ▶ „[…] kann die Aufmerksamkeit des SR auf [friedens- oder sicherheitsbedrohende] Situationen lenken“ IV 12 ▶ Solange der SR mit einer Angelegenheit entsprechend der Charta befasst ist, darf die GV dazu keine Empfehlung abgeben, außer auf Ersuchen des SR ▶ Unterrichtung über die Arbeit des SR durch den GS IV 13 ▶ Untersuchungen und Empfehlungen zur internationalen politischen Zusammenarbeit und zur Entwicklung des Völkerrechts sowie seiner Kodifizierung ▶ Untersuchungen und Empfehlungen zur internationalen Zusammenarbeit in Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung und Gesundheit sowie zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ▷ Problem der Kompetenz-Abgrenzung zwischen GV und ECOSOC IV 14 ▶ Empfehlung von Maßnahmen zur friedlichen Bereinigung jeder Situation, die das allgemeine Wohl oder die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Nationen beeinträchtigen könnte oder in der die Bestimmungen über Ziele und Grundsätze der VN verletzt werden - vorbehaltlich des Artikels 12 <?page no="87"?> 87 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Die Generalversammlung IV 15 ▶ Die GV erhält und prüft Jahresberichte und Sonderberichte des SR ▶ Die GV erhält und prüft Berichte der anderen Organe der VN formal hat die GV die Oberaufsicht über alle VN-Organe IV 17 ▶ Genehmigung und Prüfung des Haushaltsplan der Organisation und aller Finanz- und Haushaltsabmachungen mit den Sonderorganisationen (nach Art. 57) ▶ Festsetzung des Verteilungsschlüssels für die Finanzierung der Ausgaben durch die Mitglieder IV 18 ▶ Jedes Mitglied der GV hat eine Stimme ▶ In wichtigen Fragen (Frieden und Sicherheit, Wahlen in SR und ECOSOC, Aufnahme von Mitgliedern, Entzug von Mitgliedsrechten, Haushalt) ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder nötig ▶ Andere Fragen (einschließlich der Bestimmung weiterer Fragen, über die mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu beschließen ist) bedürfen der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder Gleichheitsgrundsatz ungeachtet des politischen und/ oder ökonomischen Gewichts IV 19 ▶ Kein Stimmrecht, wenn ein Mitglied mit der Zahlung seiner Beiträge zwei Jahre oder mehr im Rückstand ist ▶ Ausübung des Stimmrechts kann aber gestattet werden, wenn der Zahlungsverzug auf Umständen beruht, die das Mitglied nicht zu vertreten hat IV 20 ▶ Die GV tritt zu ordentlichen Jahrestagungen und zu außerordentlichen Tagungen zusammen, wenn die Umstände dies erfordern ▶ Außerordentliche Tagungen hat der GS auf Antrag des SR oder der Mehrheit der Mitglieder der VN einzuberufen IV 21 ▶ Die GV gibt sich eine Geschäftsordnung ▶ Die GV wählt für jede Tagung einen Präsidenten IV 22 ▶ Die GV kann Nebenorgane einsetzen, soweit sie dies für erforderlich hält Was immer im weiten System der UNO auch nur von geringster Bedeutung ist, wird auch in der Generalversammlung vorgebracht und wenigstens prinzipiell und kursorisch besprochen - sie reagiert tatsächlich auf alle großen Probleme und auch eine Unzahl kleinerer. Neben den (Über-)Lebensfragen der Menschheit und ihrer gefährdeten/ gefährlichen Welt stehen auf der Tagungsordnung auch immer wieder Themen, die nur für den einen Staat bzw. dessen Führung wichtig sind, der sie vorbringt - in speziellen Fällen sogar Ufos und aliens. Vielzahl und Vielfalt der in den Debatten und Beschlüssen der Generalversammlung verarbeiteten Themen spiegeln die heterogenen Interessen ihrer Mitglieder wider. Internationale Probleme zu beraten, Staaten als Mitglieder in andere UN-Organe und Führungspersonal in Ämter zu wählen, die Erfüllung operativer Aktionsprogramme zu beobachten sowie die innere Verwaltung der Organisation zu kontrollieren sind die Aufgaben und das Recht der Generalversammlung. Ihre Beratungsfunktion kann die Generalversammlung zu allen von ihren Mitgliedern und anderen Hauptorganen vorgebrachten Fragen ausüben - mit der wesentlichen Einschränkung, dass im Bereich Frieden/ Sicherheit der Sicherheitsrat Vorrang hat; für innere Angelegenheiten der UNO hat sie eine umfassende, aber eben auch nicht exklusive Kompetenz: Bei der Auswahl des Generalsekretärs/ der Generalsekretärin oder bei Änderungen der Charta entscheidet maßgeblich der Sicherheitsrat mit. <?page no="88"?> 88 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Zwar ist die Generalversammlung zuständig für jede denkbare Streitfrage und kann dazu Beratungen ansetzen, Berichte beauftragen, Empfehlungen abgeben - aber sie muss sich zu Fragen von Frieden und Sicherheit zurückhalten. Sie darf sich nur mit den „Grundsätzen der Zusammenarbeit“ in diesem zentralen Arbeitsfeld befassen, kann jedoch auf Aufforderung eines Mitgliedes oder des Sicherheitsrats alle Fragen zu Frieden und Sicherheit „erörtern“ und nötigenfalls an den Sicherheitsrat verweisen sowie dessen Aufmerksamkeit auf bedrohliche Situationen lenken; aber die Generalversammlung darf keine Empfehlung in einer Sache abgeben, solange sich der Sicherheitsrat mit ihr befasst. Die Generalversammlung vollzieht Aufnahme und Ausschluss von vollberechtigten Mitgliedern - allerdings nur nach einer sie verpflichtenden „Empfehlung“ des Sicherheitsrats. Eine/ n neue/ n Generalsekretär/ in kann die Generalversammlung nicht wählen, sondern muss ihn/ sie auf Vorschlag des Sicherheitsrats „ernennen“. Die Richter/ innen am Internationalen Gerichtshof (IGH/ ICJ) wählt die Generalversammlung mit dem Sicherheitsrat zusammen, aber in getrennten Wahlgängen. Nur die zehn nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrats und alle 54 Mitglieder des ECOSOC darf die Generalversammlung ganz alleine wählen. Die Generalversammlung hat das für Struktur und Arbeitsweise der UNO folgenreiche Recht, als Unter-/ Nebenorgane neue UN-Institutionen/ -Gremien zu schaffen, aber dies dürfen und tun andere Hauptorgane auch, zumal der ECOSOC. Eine exklusive Kompetenz der Generalversammlung ist die Regelung der Beziehungen der UNO zu ihren Mitgliedstaaten, besonders hinsichtlich der diplomatischen Vorrechte und Immunitäten sowie weiterer administrativer Regelungen (z. B. mit „Sitzstaaten“, in denen UN-Institutionen ihren Sitz haben). Die wichtigste nur der Generalversammlung zustehende Kompetenz ist die Verwaltung der Finanzen der Organisation, also die politisch heikle Festlegung der Mitgliedsbeiträge und der Struktur der Ausgaben sowie Führung und Prüfung des Budgets der UNO; das gilt für Haushalt und Finanzierung der Kernorganisation, aber nicht aller Spezialorgane (zumal nicht der Fonds) und nicht der „Blauhelm“- und Militäreinsätze (siehe 8.1.2). Die Sonderorganisationen verantworten ihren Haushalt selbständig, doch für alle Finanz- und Haushaltsabmachungen zwischen ihnen und der UNO ist die Generalversammlung zuständig. Beschlussfassung über Haushaltsfragen braucht Zwei-Drittel-Mehrheit, ist also praktisch nur im Konsens möglich. Auch die Aufstellung der Grundsätze des Personalwesens ist Sache der Generalversammlung, wobei das UN-Personal dienstlich dem Generalsekretär als Vorgesetztem unterstellt ist. Dessen Arbeit und die seines Sekretariats zu überwachen, ist wiederum Aufgabe der Generalversammlung, die ja als formal vorrangiges Hauptorgan auch die politischen Rechenschaftsberichte aller UN-Organe „entgegennimmt“. Das alles wird gerne unterschieden in interne Kompetenzen (zu Struktur, Funktionieren, Finanzierung der Organisation) und externe Kompetenzen (zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufgabenfeldern); verbindliche Beschlüsse kann die Generalversammlung nur intern für die UNO selbst fassen, extern an die Staaten kann sie nur Empfehlungen richten, aber keine verbindlichen Weisungen abgeben oder Verbote aussprechen. Aufgrund der Charta lassen sich ergänzend drei Arten von Aufgaben und Rechten der Generalversammlung - und der anderen Hauptorgane - bestimmen: <?page no="89"?> 89 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane ▶ Sachpolitische Kompetenzen gegenüber den Staaten bzw. deren Regierungen zu allen möglichen Themen, Problemen und Konflikten; ▶ machtpolitische Kompetenzen gegenüber den Staaten bzw. deren Regierungen und der UNO und ihren Organen zu Angelegenheiten der Mitgliedschaft, der Sitz- und Ämterverteilung und des Mandats; ▶ administrative Kompetenzen gegenüber der UNO und ihren Organen zu Struktur, Regeln, Verwaltung, Finanzen, Personal, interne Kontrolle u.ä. Am dritten Dienstag (exakt: am Dienstag nach dem zweiten Montag) im September jeden Jahres tritt die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu ihrer ordentlichen Jahrestagung zusammen. Diese dauerte anfangs einige Wochen und endete spätestens vor Weihnachten. Eine Fortsetzung der Versammlung bis weit ins folgende Jahr hinein ist möglich, wurde aber lange vermieden; die steigende Mitgliederzahl und die anschwellende Agenda erzwangen seit den 1990er-Jahren, dass noch Sitzungen nach dem Jahreswechsel bis immer weiter ins neue Jahr hinein angesetzt wurden. Inzwischen wird die Versammlungsperiode offiziell beendet am Tag vor dem Tag der Eröffnung der neuen Periode. Die Generalversammlung gibt sich einen Präsidenten, 21 stellvertretende Vorsitzende sowie die Vorsitzenden ihrer Ausschüsse - nach einem bestimmten Regionalschlüssel. Üblich ist es, dass zur feierlichen Eröffnung der Generaldebatte die Staats- oder Regierungschefs, wenigstens die Außenminister der Mitgliedstaaten anreisen. Dabei geht für die Reihenfolge der Redner deren staatsrechtlicher Rang vor Größe und Macht ihres Landes: z. B. hat der deutsche Außenminister, sofern er zusätzlich Vize-Kanzler, also stellvertretender Regierungschef ist, Vorrang vor einem russischen, der bloß Minister ist; aber beide kommen erst nach Staatsoberhäuptern und Regierungschefs dran, egal wie unbedeutend der Staat ist, den sie präsidieren oder regieren. Die Generaldebatte kann ein politisches Großereignis sein oder eine Pflichtübung für Diplomaten - je nach Weltlage und der vorherrschenden Stimmung zur Bedeutung der UNO. Kompetenzen der Generalversammlung zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen Charta VN Art. Sachpolitisch alle Themen, Probleme, Konflikte ⇒ Staaten (Regierungen) Beratung von allen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen ⇔ Vorrang des SR bei Frieden/ Sicherheit ⇔ Abgrenzung zum ECOSOC? 10, 11 Abgabe von Empfehlungen zu allen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen ⇔ Vorrang des SR bei Frieden/ Sicherheit ⇔ Abgrenzung zum ECOSOC? 10, 12, 14 Entgegennahme und Prüfung von Berichten aus allen Arbeitsgebieten der UNO; Beauftragung von Berichten ⇔ Vorrang des SR bei Frieden/ Sicherheit ⇔ Abgrenzung zum ECOSOC? 13, 15 Fortentwicklung des Völkerrechts und seine Kodifizierung ⇔ Resolutionen des SR 13 Anrufung des IGH in jeder offenen Rechtsfrage 96 <?page no="90"?> 90 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Kompetenzen der Generalversammlung zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen Charta VN Art. Machtpolitisch Mitgliedschaft, Wahlen ⇒ Staaten (Regierungen) und ⇒ UNO/ ihre Organe Entgegennahme und Prüfung der Berichte aller Organe ⇔ Abgrenzung ECOSOC? 15 Aufnahme/ Ausschluß von Mitgliedern ⇔ nur auf Empfehlung des SR 4-6 Wahl der Mitglieds-Staaten in Hauptorgane und Gremien → SR, nicht-ständige Mitglieder ⇔ 5 ständige Mitglieder stehen fest 23 → ECOSOC, alle 54 Mitglieder 61 → Treuhandrat, nicht-ständige Mitglieder ⇔ 5 ständige Mitglieder stehen fest 86 → neu geschaffene UN-Gremien/ Institutionen ⇔ sofern der GV zugeordnet 22 Wahl von Amtsträgern → Ernennung des GS nach Nominierung durch SR ⇔ nur auf Empfehlung des SR 97 → Wahl der Richter des IGH ⇔ gleichberechtigt mit dem SR, separate Wahlgänge 92 und IGH-Statut 4-14 → Verantwortliche neuer Institutionen ⇔ sofern der GV zugeordnet 22 Änderung der VN-Charta mit 2/ 3-Mehrheit bzw. Einberufung einer Revisions-Konferenz ⇔ Ratifizierung (2/ 3 der Mitgliedstaaten incl. aller P5) 108, 109 Administrativ Struktur, Regeln, Verwaltung ⇒ intern UNO und ihre Organe Genehmigung der Abkommen mit Sonderorganisationen im UN-System ⇔ Verhandlungen durch den ECOSOC 63 Schaffung neuer UN-Nebenorgane (und anderer untergeordneter Gremien/ Institutionen) ⇔ SR und ECOSOC gründen eigene Untergliederungen 22 Regelung der Beziehungen der UNO zu ihren Mitgliedstaaten (Vorrechte und Immunitäten) 105 Finanzen der Organisation, bes. Beratung und Beschluß des Budgets und Festlegung der Höhe der Beiträge ⇔ Aushandlung mit Beitragszahlern 17 Kontrolle der Arbeit des Sekretariats 98 Personalwesen der Organisation (Einstellung und Führung nur nach den Maßstäben der UNO selbst) ⇔ (keine Beeinflussung durch die Staaten erlaubt, aber …) 100, 101 Während die eigentliche Generaldebatte vor allem politisch wichtige symbolische Funktionen - Repräsentation der eigenen Identität und Macht, Expression der eigenen Welt- und Problemsicht, ablenkende Beschönigung etc. - zu erfüllen hat, muss danach in wochenlangen Arbeitsphasen die Agenda eines riesigen Problem-Stoffes in einer Unzahl von Tagungsordnungspunkten abgearbeitet werden. Weil diese Bürde zu bewältigen im Plenum gar nicht machbar ist, werden die fachlichen Beratungen der meisten Themen und die Aushandlung von Beschlüssen ausgelagert in die sechs parallel tagenden thematisch spezialisierten Hauptausschüsse und auch noch in weitere Unterausschüsse; in den Hauptausschüssen sind zwar auch alle Mitglieds-Staaten vertreten, doch arbeiten sie - organisiert in ständigen oder flexiblen Staatengruppen (siehe 7.4) - weniger mit Formalia und Ritualen befrachtet. <?page no="91"?> 91 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Die sechs Hauptausschüsse der Generalversammlung … Ausschuss … Committee Themen bzw. Zuständigkeit / … Questions Probleme und Konfliktlinien Erster … First … Abrüstung und internationale Sicherheit Disarmament and International Security Questions Atomwaffenmächte vs. andere früher Ost vs. West Zweiter … Second … Wirtschafts- und Finanzfragen Economic and Financial Questions Nord vs. Süd Entwicklung vs. Umwelt/ Klima Überlastung Überschneidung mit ECOSOC Dritter … Third … Soziale, humanitäre und kulturelle Fragen Social, Humanitarian, and Cultural Questions Vierter … Fourth … Besondere polit. Fragen und Entkolonialisierung Special Political and Decolonization Questions Nahost-Konflikt Fünfter … Fifth … Verwaltungs- und Haushaltsfragen Administrative and Budgetary Questions Große Beitragszahler, bes. USA Nord vs. Süd Sechster … Sixth … Rechtsfragen Legal Questions [völkerrechtliche Ausarbeitung] Die Hauptausschüsse erfüllen die politisch wichtige weil vor-entscheidende Funktion, Probleme und Projekte zu sortieren und auszulesen; zwar reicht in ihnen formal eine einfache Mehrheit aus, um dem Plenum einen Beschlussantrag vorzulegen, aber es ist verpflichtende Übung geworden, nur solche Vorlagen zur Abstimmung zu stellen, die im Hauptausschuss schon eine Zwei-Drittel-Mehrheit haben. Dabei haben sich bestimmte Interessen- und Konfliktmuster herausgebildet: Im Ersten Ausschuss z. B. war früher der Ost-West-Gegensatz bestimmend, inzwischen ist es eher einer zwischen den Atomwaffenmächten, die eine nukleare Proliferation in weitere Länder verhindern wollen, und anderen, die auf eine bessere Kontrolle von Waffensystemen abzielen; den Fünften Ausschuss z. B. prägt der anhaltende Interessenkonflikt zwischen Entwicklungsländern, die sich mehr Mittel für die UNO und ihre Programme wünschen und den alten Industrieländern, die auf Effizienz und Sparen drängen. Dem Fünften Ausschuss arbeiten als ständige Ausschüsse zu Haushaltsfragen zu ▶ der Beratende Ausschuss für Verwaltungs- und Haushaltsfragen (Advisory Committee on Administrative and Budgetary Questions, ACABQ) mit 16 Experten, und ▶ der Beitragsausschuss (Committee on Contributions) mit 18 Experten, der bei der Aufstellung der Beitragsskala und zur Frage ausstehender Beitragszahlungen berät. In diesen beiden beratenden Ausschüssen sitzen also Fachleute als Personen, nicht als Staaten-Vertreter; allerdings ist auf eine ausgeglichene regionale Verteilung ihrer Herkunft zu achten. Im UN-System gibt es einige solcher Beratergremien oder Kommissionen, die den formell zuständigen Staatengremien zuarbeiten; einige sind recht einflussreich, eben weil in ihnen nicht unmittelbar einzelstaatliche Interessen vertreten werden, sondern sachliche Kriterien ausschlaggebend sein können - wie die den Sechsten Ausschuss beratende ▶ Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) mit 34 Rechtsexperten, die schon seit 1924 den Völkerbund beraten hatte und 1946 von der UNO als Nebenorgan übernommen wurde. <?page no="92"?> 92 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Für wichtige Verfahrensfragen hat die Generalversammlung zwei kleinere Ausschüsse. Damit ein multilaterales Gremium rechtlich begründet zusammentreten kann, müssen seine konkreten Delegierten erst einmal akkreditiert werden; das sichert ▶ der Vollmachtenprüfungsausschuss [so die amtliche deutsche Bezeichnung] (Credentials Committee) mit 9 Mitgliedern, der die Akkreditierung der Gesandten der Mitgliedstaaten zur Generalversammlung prüft, was politisch interessant werden kann bei Unklarheiten oder Streit über die Legitimität einer Regierung. Die prozedurale Steuerzentrale der Generalversammlung ist ▶ der Präsidialausschuss (General Committee oder Bureau) mit 28 Mitgliedern, der die Arbeit der Generalversammlung regelt u. a. durch Festlegung der Tagesordnung und der Sitzungsperiode; seine „geborenen“ Mitglieder sind der Präsident und die 21 Vizepräsidenten der Generalversammlung sowie die sechs Präsidenten der Hauptausschüsse. Neben den regulären Jahrestagungen sind auch Notstands-Sondertagungen möglich, die in Krisensituationen einberufen werden können; da die ordentliche Tagung inzwischen sowieso fast das ganze Jahr dauert, ist diese Option nicht mehr so spektakulär. Weiter kann die Generalversammlung für spezifische Themen zu Sondertagungen zusammentreten, was bisher zu Themen wie Abrüstung, der Neuen Weltwirtschaftsordnung, zur finanziellen Situation der Organisation und zum Thema Aids stattgefunden hat. Aber auch große medienorientierte „events“ wie der sog. „Millenniums-Gipfel“ im Jahr 2000 können einfach aus einem besonders hervorgehobenen Segment der ordentlichen Jahrestagung gezaubert werden, müssen formal also weder eine Sondertagung noch gar eine eigenständige Konferenz jenseits der Generalversammlung sein. Bei formellen Abstimmungen der Generalversammlung über die ihr vorgelegten Beschlussanträge gilt, dass ▶ jeder Mitgliedstaat nach dem Prinzip der „souveränen Gleichheit“ eine Stimme hat; ▶ Entscheidungen mit einfacher Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder getroffen werden; ▶ aber „wichtige Fragen“ (Frieden und Sicherheit, Wahlen in Sicherheitsrat und ECOSOC, Aufnahme von Mitgliedern, Entzug von Mitgliedsrechten sowie der Haushalt) mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder beschlossen werden müssen; ▶ allerdings Verfahrensfragen mit einfacher Mehrheit beschlossen werden, wobei auch die Frage, welche Fragen „wichtig“, sind, selbst mit einfacher Mehrheit zu entscheiden ist. Nicht in der VN-Charta oder der Geschäftsordnung der Generalversammlung vorgesehen ist das in der Alltagspraxis von Plenum und Ausschüssen üblich gewordene Konsensus-Verfahren: der Vorsitzende eines Gremiums stellt mündlich die Übereinstimmung der anwesenden Staaten fest und erklärt den entsprechenden Beschluss ohne förmliche Abstimmung als gefasst. Das funktioniert nur, wenn zuvor ein tragfähiger Konsens erarbeitet wurde - oder zumindest alle das so zu sehen bereit sind. Ergebnisoffene oder gar Kampfabstimmungen über <?page no="93"?> 93 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Resolutionen oder gar Deklarationen gibt es kaum noch; frühere Erfahrungen (z. B. mit der „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten“ von 1974) zeigten, dass mit knappen Mehrheiten gefasste Beschlüsse von vornherein politisch hinfällig sind, weil diejenigen Staaten, die zu ihrer Umsetzung gebraucht werden, klar dagegen sind - und bleiben. Breite und Dauer der Debatten und die meist vagen, im Konsens oder mit großer Mehrheit gefassten Beschlüsse bewirken, dass die konkreten Ergebnisse der Arbeit der Generalversammlung noch unverbindlicher sind als ihre fehlende völkerrechtliche Bindungskraft erwarten lässt. Ihre als „Resolutionen“ (siehe 7.2) ausgesprochenen Empfehlungen sind ja wirklich nur „Empfehlungen“ an souveräne Staaten und nicht völkerrechtlich bindende Vorschriften. Allerdings kann die Generalversammlung damit durchaus politisch wirksam Akzente setzen und Signale geben, in welche Richtung es denn nun gehen soll - oder gar normative Maßstäbe postulieren (wie 2005 zum Konzept der Schutzverantwortung; siehe 8.1.3). Resolutionen der Generalversammlung sind nicht alle sinnlos, denn sie ▶ formulieren - mehr oder weniger deutlich - die Ansichten und Positionen der Regierungen der Staaten der Welt ▶ und können damit eine gehobene moralisch-normative Autorität beanspruchen ▶ und zumindest öffentliche Aufmerksamkeit wecken und politischen Druck ausüben, ▶ insbesondere zur Weiterentwicklung politischer und völkerrechtlicher Standards. Beschlüsse der Generalversammlung entwickeln in ihrer Summe das Völkerrecht als Gewohnheitsrecht weiter, was allerdings viel Zeit und Mühe erfordern kann; immerhin ist der sechste Hauptausschuss mit der Ausarbeitung des Völkerrechtes befasst. Zweifellos ist die Generalversammlung als fast schon ständig tagende „Weltkonferenz“ ein unersetzliches politisches Kommunikations-Forum, besonders für kleinere Staaten, die sich keine eigenen diplomatischen Vertretungen in allen Ländern der Welt leisten. Jede Regierung kann mit jeder anderen Regierung ins diplomatische Gespräch kommen, auch über bilaterale Fragen - ohne Aufwand, form- und zwanglos, diskret. Nicht zuletzt bietet die Versammlung wichtige symbolpolitische Leistungen, indem sie es ermöglicht, dass ▶ auch kleinere oder randständige Staaten bzw. deren Regierungspersonal ihre eigene Würde erfahren und zelebrieren können, ▶ die fromme Fiktion von der souveränen Gleichheit aller Staaten beglaubigt wird, ▶ also die verletzende Wahrnehmung von Unterschieden in Status, Macht und Wohlstand zwischen Ländern/ Ländergruppen im diplomatischen Ritual der Multilateralität kompensiert werden kann. Dazu passt sehr schön der Ort, in dem zelebriert wird: Der große Kuppelsaal der Generalversammlung, die „grand hall“, hat die Anmutung eines Domes; der riesige Raum vermittelt eine ehrfurchtgebietende ernste, ja sakrale Atmosphäre und verspricht zugleich doch helle Freude; an ihrem einem Altar nachempfundenen erhabenem Tisch vollziehen die Vorsitzenden heilige Handlungen, während von der Rednerkanzel Predigtbotschaften an die Weltgemeinde ausgehen. <?page no="94"?> 94 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Die gängige Meinung, im Sicherheitsrat spiele die Musik während aus der Generalversammlung nur das Hintergrundrauschen endloser Reden zu hören sei, verkennt also zumindest die Arbeitsteilung zwischen den beiden Hauptorganen. Für die mächtigeren Mitgliedstaaten ist die Generalversammlung zweitrangig gegenüber dem Sicherheitsrat, während die große Zahl der minderbis ohnmächtigen Mitgliedstaaten die Generalversammlung als das wichtigste Organ ansieht und dort angemessen zu Wort und Gehör kommen will. Die ständige Konkurrenz zwischen den beiden wichtigsten Hauptorganen mit klaren politischen Vorteilen für den Sicherheitsrat wurde von den Urhebern der Charta ausdrücklich so gewollt (siehe 3.2 und 6.2). Gleichwohl ist ein Großteil der Kritik an der Qualität der Arbeit der Generalversammlung berechtigt: keine Konzentration auf Kern- oder Schlüssel-Themen; zu viele und meist bedeutungslose Tagesordnungspunkte; Behinderung der Debatten durch formale Rituale und endlose schlechte Reden; hemmungslose Produktion von Papieren, die kaum jemand liest; Resolutionen ohne politischen Biß und ohne konkrete Folgen. Auch die Konstruktion der Generalversammlung - und damit der UNO insgesamt (siehe 9.1) - kann bemängelt werden: keine klare Verteilung und Abgrenzung ihrer Kompetenzen gegenüber dem Sicherheitsrat und besonders dem ECOSOC; mangelnde rechtliche Bindekraft ihrer Beschlüsse, also nur ein irrelevanter politischer Debattierklub; fehlende demokratische Legitimation - eben auch der meisten in ihr vertretenen Regierungen. Der letzte Kritikpunkt ist zutreffend, aber die gerne damit verbundene Forderung nach einem echten „Weltparlament“ hilfsweise nach einer globalen Versammlung der Zivilgesellschaft wird dem nicht abhelfen können. Seit Jahrzehnten wird diskutiert und versucht, die Generalversammlung in die Lage zu versetzen, wenigstens die Rolle, die ihr die VN-Charta zuschreibt, ertragreicher ausfüllen zu können; dazu wären nach vorherrschender Meinung ihre Strukturen und vor allem ihre Arbeitsmethoden zu reformieren. Konkrete Vorschläge dazu wurden wenige umgesetzt, was zeigt, dass weniger einer Organisations- und Managementschwäche beizukommen, sondern ein politisches Problem auf der Seite der maßgeblichen Mitgliedstaaten zu lösen ist - auch das gilt für die ganze UNO (siehe 9.1). So bleibt immerhin die Hoffnung, dass zwar keine großen strukturellen Änderungen, wohl aber viele graduelle Anpassungen die Arbeit der Generalversammlung immer wieder revitalisieren. Literaturverweis zu 6.1.1: Generalversammlung (GV) Peterson 2006, 2018; Smouts 2000 6.1.2 Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC) Der Sicherheitsrat (SR) / Security Council (SC) (siehe VN-Charta Art. 23-32, vgl. Art. 33-54) ist als Kern des Systems der „kollektiven Sicherheit“ (siehe 8.1.2) das politisch wichtigste Gremium und das mächtigste Haupt-Organ der UNO (siehe 6.2). <?page no="95"?> 95 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Der Sicherheitsrat V 23 ▶ Fünfzehn Mitglieder ▶ Ständige Mitglieder sind „die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika“ ▶ Die GV wählt zehn weitere Mitglieder der VN zu nichtständigen Mitgliedern; sie berücksichtigt dabei den Beitrag zu Wahrung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit und zur Verwirklichung der anderen Ziele „sowie ferner eine angemessene geographische Verteilung der Sitze“ ▶ Die nichtständigen Mitglieder sind für zwei Jahre gewählt [jedes Jahr je fünf]; ausscheidende Mitglieder können nicht gleich wiedergewählt werden die Liste der ständigen Mitglieder wurde nie geändert (China, Russland) „angemessene geographische Verteilung“ nur bei den nicht-ständigen Sitzen V 24 ▶ Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ▶ Der SR handelt bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung im Namen aller Mitglieder ▶ im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der VN ▶ aufgrund der ihm eingeräumten besonderen Befugnisse nach Kapitel VI, VII, VIII und XII ▶ Der SR legt der GV Jahresberichte und Sonderberichte „zur Prüfung“ vor weitgehend exklusive Zuständigkeit des SR für Frieden und Sicherheit V 25 ▶ Die Mitglieder sollen die Beschlüsse des SR annehmen und durchführen internationales Monopol für Zwangsmaßnahmen des SR, vgl. die Beistandsverpflichtung [Art. 49] V 26 ▶ Der SR ist beauftragt, Pläne zu einem System der Rüstungsregelung auszuarbeiten, damit möglichst wenig Ressourcen für „Rüstungszwecke abgezweigt“ werden weitgehend nicht erfüllt V 27 ▶ Jedes SR-Mitglied hat eine Stimme ▶ In Verfahrensfragen ist die Zustimmung von neun Mitgliedern nötig ▶ Beschlüsse über alle sonstigen Fragen „bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtliche ständigen Mitglieder“ ▶ Streitparteien sollen sich der Stimme enthalten das sog. Veto-Recht gibt den ständigen Mitgliedern einzeln und zumal als Gruppe eine Vormachtstellung ein kollektives 6. Veto ist möglich durch sieben Neinstimmen nicht-ständiger Mitglieder V 28 ▶ Der SR muss seine Aufgaben ständig wahrnehmen können; alle Mitglieder müssen jederzeit am Sitz der UNO vertreten sein ▶ Der SR tritt regelmäßig zu Sitzungen zusammen ▶ Der SR kann auch an anderen Orten als dem Sitz der UNO tagen V 29 ▶ Der SR kann Nebenorgane einsetzen, soweit er dies für erforderlich hält V 31 ▶ Ein UN-Mitglied, das nicht Mitglied des SR ist, kann an einer Erörterung des SR ohne Stimmrecht teilnehmen, wenn dieser die Interessen des Mitglieds besonders betroffen sieht V 32 ▶ Staaten, die nicht Mitglieder des SR sind, werden eingeladen, an einer Erörterung des SR ohne Stimmrecht teilzunehmen, wenn sie Streitpartei sind VI 34 ▶ Der SR „kann jede Streitigkeit sowie jede Situation, die zu internationalen Reibungen führen oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte, untersuchen, um festzustellen, ob die Fortdauer der Streitigkeit oder der Situation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte“ der SR hat die Definitionsmacht darüber, was die Sicherheit gefährden könnte VII 39 ▶ Der SR „stellt fest, ob eine Bedrohung, ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“ der SR hat die Definitionsmacht, was „Bedrohung“ oder „Bruch“ des Friedens ist Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat fünfzehn Mitglieder. Ständige Mitglieder sind die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, die Russische Föderation (als politische Nachfolgerin der UdSSR), die Republik Frank- <?page no="96"?> 96 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO reich und China (bis 1971 durch die Republik China/ Taiwan, seither durch die Volksrepublik China ersetzt). Die Liste der ständigen Mitglieder im Text der VN-Charta wurde nie formell geändert, obwohl plötzlich andere Staaten auf demselben ständigen Sitz saßen. Neben den ständigen Fünf („permanent five“/ „P5“) sitzen weitere zehn (bis 1965 sechs) nichtständige Mitglieder für jeweils zwei Jahre im Rat; jedes Jahr werden fünf von der Generalversammlung nach einem regionalen Verteilungsschlüssel gewählt: je ein Mitglied für Afrika, Asien, Lateinamerika/ Karibik, Westeuropa/ Andere und Osteuropa; so ändert sich die Zusammensetzung des Sicherheitsrat immer wieder - aber das und die „angemessene geographische Verteilung“ gilt eben nur für die nicht-ständigen Sitze. Für die Regierungen ist die Mitgliedschaft aufwändig, bringt aber außer Prestige und mehr Einfluss insbesondere exklusive Informationen; deswegen bemühen sich Staaten, die um einen regionalen Vormacht- oder wenigstens Mitmacht-Status (z. B. Indien und Pakistan, Argentinien und Brasilien, Ägypten, Italien, Polen - und auch Deutschland) konkurrieren, häufig darum, auf einen nichtständigen Sitz gewählt zu werden, während etwa ein Drittel der Staaten noch nie dem Sicherheitsrat angehört hat. Die fünf ständigen Mitglieder dominieren den Sicherheitsrat - seine Funktionsweise und seine Entscheidungen. Die „Five to Rule Them All“ (Bosco 2009) sind immer dabei, beherrschen routiniert die Kommunikations- und Arbeitsabläufe und schöpfen aus den am klarsten sprudelnden Informationsquellen, womit Regierungen, die nur zwei Jahre im Rat sitzen, nicht mithalten können. Von im Wortsinn entscheidender Bedeutung ist zudem das berühmt-berüchtigte Vorrecht der permanent five (p5) zur „Veto“-Option, das den ständigen Mitgliedern einzeln eine unbedingte Verweigerungs-Macht und als Gruppe eine kaum angreifbare Vormachtstellung sichert; allerdings ist auch ein kollektives „6. Veto“ möglich durch sieben Neinstimmen nicht-ständiger Mitglieder. Die „p5“ verstehen sich als exklusiver Club, dem anzugehören im Zweifel trotz aller Differenzen untereinander klar Vorrang hat gegenüber anderen Bindungen und Verpflichtungen - wie zum Beispiel zur außenpolitischen Zusammenarbeit in der Europäischen Union (EU). Beschlüsse des Sicherheitsrates sind als „Resolutionen“ (siehe 7.2) verbindlich für alle Mitgliedstaaten der UNO. Resolutionstexte zu noch nicht definitiv erledigten Sicherheitsfragen enden immer mit dem formelhaften Satz, dass der Rat „decides to remain actively seized of the matter“ o. ä., weil die Generalversammlung keine Empfehlung in einer Sache abgeben darf, solange sich der Sicherheitsrat mit ihr befasst. Denn der Sicherheitsrat hat vorrangig die Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, um schnelles und wirksames Handeln der UN zu gewährleisten, während die Mitverantwortung der schwerfälligeren Generalversammlung stark eingeschränkt bleibt; für verbindliche und effektive Maßnahmen, besonders für Zwangsmaßnahmen wie wirtschaftliche Sanktionen und militärische Gewalt, hat der Rat international das Monopol, das an das innerstaatliche Gewaltmonopol erinnert, ihm aber nicht gleichzusetzen ist, weil die UNO ja kein (Über-) Staat ist. Jeder Entscheidung für Maßnahmen aller Art vorausgesetzt ist aber immer ein anderer Akt, den zu vollziehen der Sicherheitsrat das alleinige Recht hat: Nur er stellt fest, ob in einer gegebenen Situation überhaupt eine Sicherheits-Bedrohung oder ein Friedens-Bruch vorliegt <?page no="97"?> 97 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane - oder anders: Ein Problem, das der Rat nicht sieht, gibt es politisch nicht - auch wenn wie 1994 in Ruanda ein Völkermord geschieht. Einzelne Mitgliedstaaten oder der Generalsekretär können die Befassung des Sicherheitsrates mit einer Sache anregen, aber nicht erzwingen (siehe 8.1.2). Neben seinem zentralen sachpolitischen Zuständigkeitsbereich hat der Sicherheitsrat machtpolitische Kompetenzen bei der Aufnahme bzw. dem Ausschluss von Mitgliedern, der Auswahl des Generalsekretärs und bei Änderungen der Charta sowie administrative Aufgaben für seine Nebenorgane. Kompetenzen des Sicherheitsrates zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen → Vorrechte Charta VN Art. Sachpolitisch Themen, Probleme, Konflikte ⇒ Staaten (Regierungen) Recht zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit → Vorrang des SR bei Fragen von Frieden/ Sicherheit 24 Befugnisse gegenüber Mitgliedstaaten; diese müssen die Beschlüsse des SR annehmen und durchführen → Beistandsverpflichtung für alle UN-Mitglieder 25 Definitionsmacht zur Feststellung von Bruch des Friedens und/ oder Bedrohung der internationalen Sicherheit → Monopol auf Zwangsmaßnahmen 34, 39 Handeln im Namen aller Mitgliedstaaten nach Kap. VI-VIII → Monopol zum Handeln 24 ▶ Kap. VI: friedliche Beilegung von Streitigkeiten → Beistandsverpflichtung für alle UN-Mitglieder 33-38 25 ▶ Kap. VII: Zwangsmaßnahmen 39-51 wirtschaftliche Sanktionen 41 militärische Gewalt 42 mittels Mitgliedstaaten/ Bündnisse 48 kollektive Sicherheit 49 → Beistandsverpflichtung für alle UN-Mitglieder 25 ▶ Kap. VIII: Delegation von Maßnahmen an Regionalorganisationen 53 ▶ „Kap. VI ½“: Friedenseinsätze („Blauhelme“); peace-keeping, peace-bulding → flexible Regelungen nur durch Resolutionen des SR - - Nutzung eines Generalstabsausschusses ⇔ nicht erfolgt 47 Schaffung eines Systems der Rüstungsregelung ⇔ nicht erfolgt 26 Anrufung des IGH in jeder offenen Rechtsfrage 96 <?page no="98"?> 98 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Kompetenzen des Sicherheitsrates zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen → Vorrechte Charta VN Art. Machtpolitisch Mitgliedschaft, Wahlen ⇒ Staaten (Regierungen) und ⇒ UNO/ ihre Organe Aufnahme/ Ausschluss von Mitgliedern der UNO nur auf Empfehlung des SR → Vorrang des SR 4-6 Wahl der Mitglieds-Staaten in Hauptorgane und Gremien ▶ neu geschaffene Gremien/ Institutionen ⇔ sofern dem SR zugeordnet 29 Wahl von Amtsträgern ▶ Nominierung des GS, Ernennung durch GV → Vorrang des SR 97 ▶ Wahl der Richter des IGH ⇔ gleichberechtigt mit der GV, separate Wahlgänge 92 und IGH-Statut 4-14 ▶ Verantwortliche neuer Institutionen ⇔ sofern dem SR zugeordnet 29 Änderung der VN-Charta → Zustimmung und Ratifizierung durch alle P5 108, 109 Administrativ Struktur, Regeln, Verwaltung ⇒ intern UNO und ihre Organe Schaffung von eigenen Nebenorgen 29 Der Sicherheitsrat hat von der Charta weitere Aufgaben gestellt bekommen, die er aber nie ernsthaft erfüllt hat, weil seine Mitglieder das nicht wollten oder sich gegenseitig daran gehindert haben: ▶ Der Generalstabsausschuss aus hochrangigen Militärs der P5-Staaten hat nie seine eigentliche Arbeit aufgenommen, eigene Truppen der UNO bzw. ihr direkt unterstellte Truppen zu führen, denn die gab es nie. ▶ Mit Hilfe des Generalstabsausschusses sollten Pläne für ein allgemeines System zur Regelung der militärischen Rüstung ausgearbeitet werden, wozu es unter den Bedingungen des kalten Krieges ebenfalls nie kam. Andererseits hat der Rat sich schon früh Aufgaben selbst gegeben, die im Text der Charta gar nicht zu finden sind: Friedenssichernde Militäreinsätze („Blauhelme“) durch von Mitgliedstaaten gestellten Truppen, was man nur mit Phantasie im Niemandsland zwischen Kapitel VI und VII begründet sehen kann, da es um neuartige, meist nicht zwischen-staatliche Konfliktsituationen geht, an die Autoren der Charta noch nicht dachten (siehe 8.1.2). Während sich Generalversammlung und Wirtschafts- und Sozialrat geradezu verschwenderisch mehrere Dutzend Nebenorgane und Spezialorgane eingerichtet haben, blieb der Sicherheitsrat sehr bescheiden - vielleicht eben, weil er der wirkliche Ort der Macht ist. Zu seinen „Unterorganen“ zählen die ▶ Sanktionsausschüsse zu jedem Sanktionsregime und ▶ die „Blauhelm“-Militäreinsätze (siehe 8.1.2), ▶ ständigen Ausschüsse (Ausschuss für die Aufnahme neuer Mitglieder, Ausschuss für Sitzungen des Rats außerhalb des Amtssitzes, Sachverständigenausschuss für die Geschäftsordnung), ▶ Ad-Hoc-Ausschüsse und Sonderkommissionen (wie die Sanktionsausschüsse), ▶ die Ad-Hoc-Gerichtshöfe für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien. <?page no="99"?> 99 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Diese älteren Tribunale zur Aburteilung von Einzelpersonen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord in diesen beiden Konflikten dürfen nicht verwechselt werden mit dem generell dafür zuständigen Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court/ ICC), der 1998 als eigenständige internationale Institution gegründet wurde; allerdings ist eine Kooperation mit dem Sicherheitsrat vorgesehen, der dem unabhängigen Gericht z. B. Fälle überweisen kann. Die Charta gibt dem Sicherheitsrat (wie der Generalversammlung) ferner das politisch durchaus folgenreiche Recht, die eigene Arbeit im Einzelnen selbst zu regeln und zu organisieren. Nach erheblichem Streit gab sich der Rat 1946 eine „provisorische“ Geschäftsordnung (provisional rules of procedure), die seine Arbeitsweise verbindlich regelt - aber mit der Tendenz, Regeln und Methoden so wenig wie möglich festzuschreiben, um sich nicht damit zu binden. Ein ausgeprägtes Interesse, das lückenhafte „vorläufige“ Regelwerk pragmatisch und flexibel auszulegen, haben seine ständigen Mitglieder, weil das Ihren Spielraum weitestmöglich offenhält; im Interesse der breiten Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten wäre eher, ihr wichtigstes multilaterales Gremium transparenter und berechenbarer arbeiten zu sehen. Die knapp gehaltene Geschäftsordnung bestimmt Auswahl und Aufgaben der/ des Präsident/ en/ in - der Rat ernennt ihn/ sie monatlich rotierend aus dem Kreis seiner Mitglieder - des Weiteren die Einberufung von Sitzungen, die Einrichtung von Nebenorganen, die Beteiligung von nicht dem Sicherheitsrat angehörigen Mitgliedstaaten der UNO, die Organisation der Beratungen und das Abstimmungsverfahren im Einzelnen. Da diese Regelungen als nur provisorisch gelten, können sie in konkreten Fällen bei Bedarf informell abgewandelt oder gar ignoriert werden. Oft sind die weitreichenden Befugnisse des/ der Vorsitzenden für die konkrete Arbeit ausschlaggebend; da die Präsidentschaft ständig wechselt, muss sie kooperativ agieren. Meist wird die vorläufige Tagesordnung des Rats vom UN-Generalsekretär vorgeschlagen und vom/ von der Präsident/ en/ in gebilligt. Er/ sie entscheidet über Agenda und Terminstruktur aber nur in enger Abstimmung mit den Ratsmitgliedern. Schließlich informiert er/ sie die Mitgliedstaaten und die Öffentlichkeit über die Arbeit des Rates und deren Ergebnisse. Die provisorische Geschäftsordnung erwähnt die informellen Konsultationen nicht, die praktisch aus beiläufigen Kaffeerunden zum unverbindlichen Meinungsaustausch schnell zum regelmäßig genutzten wichtigsten Arbeitsinstrument wurden: Vor einer formellen Sitzung des Rates treffen sich Mitglieder des Rates in einem eigens dafür eingerichteten sehr kleinen Raum unter dem Sitzungssaal, um sich zu beraten und die späteren Entscheidungen auszuhandeln; diese werden dann in der eigentlichen offiziellen Sitzung, die allen UN-Mitglieder und auch der Öffentlichkeit zugänglich ist, meist nur noch begründet, formal beschlossen und verkündet - eine eher zeremonielle Handlung oder gar nur noch Inszenierung für die Medien. Die Intensität der informellen Konsultationen hat ständig zugenommen; man trifft sich fast täglich am Vormittag. Da diese Beratungen, ob kontrovers oder einvernehmlich, geheim gehalten und auch nicht protokolliert werden, ist die wirkliche Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht transparent; auch die Kriterien und Motive der entscheidenden Regierungen werden selten klar deutlich gemacht. Seine Empfehlungen beschließt der Rat <?page no="100"?> 100 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO ▶ in Form von verbindlichen Resolutionen, die einen festgelegten formalen Aufbau haben (Eröffnungssatz, einleitende Absätze, operative Absätze) (siehe 7.2), ▶ in den schwächeren Formen von förmlichen Erklärungen der/ des Präsident/ en/ in („Präsidentschaftserklärung“/ „Statement of the President of the Security Council“) mit einem konsensual ausgearbeiteten Text ▶ und für nicht-förmliche Verlautbarungen der/ des Präsident/ en/ in an die Medien, für deren Formulierung er nur Leitlinien erhält. Förmliche Abstimmungen verloren also an praktischer Bedeutung gegenüber einem Konsens-Verfahren, in dem sogar eine Resolution dadurch verabschiedet werden kann, dass der Präsident mündlich die Übereinstimmung der Mitglieder des Rates erklärt; diese Entwicklung entdramatisierte auch den Einsatz des Instruments des förmlichen Vetos. Nicht mehr alltäglich, aber immer wieder spannend ist die tatsächliche Ausübung des sog. Veto-Rechtes durch ein permanentes Mitglied oder durch mehrere. Explizite Vetos werden meist nur diskret angekündigt oder lautstark angedroht, was beides die politische Lage und Verhandlungen dazu vor einer formellen Abstimmung schon wirksam ändert. Nur selten kommt es noch zu Abstimmungsergebnissen, die eine Vorlage ‚mit vierzehn Ja-Stimmen und einer Nein-Stimme’ scheitern lassen. Laut Charta-Text müssen zwar für die Annahme einer Vorlage alle p5 explizit zustimmen, doch als „Veto“ gilt in der Praxis nur eine explizite Ablehnung (Nein-Stimme), nicht schon eine Enthaltung oder gar ein Fernbleiben von der Sitzung. Für Verfahrensfragen gelten die Veto-Regelungen nicht, die Zustimmung von neun Mitgliedern ist ausreichend; was Sachfrage („substantial“) oder was Verfahrensfrage („procedural“) ist, muss aber mit der Möglichkeit des Vetos geklärt werden. Mit einem ausgesprochenen „Veto“ will fast immer jemand der Welt oder dem eigenen Land etwas zeigen - wer Veto einlegt, die Unbeugsamkeit der eigenen Haltung, wer gegen ein Veto unterliegt, die bedauernswerte Unbelehrbarkeit oder Boshaftigkeit der verweigernden Regierung. Seit Ende der Ost-West-Konfrontation wird das Veto-Recht viel seltener eingesetzt; bis 2000 hatte sich China am meisten zurückgehalten (3 mal), Frankreich (16 mal) und Großbritannien (29 mal) waren bescheiden, die USA waren es nicht (68 mal), wurden aber von der alten Sowjetunion (92 mal) auskonkurriert; 2001-2017 legten nur noch die USA 11 mal, Russland 18 mal und die VR China 8 mal ein Veto ein. Das privilegierende Veto-Recht für bestimmte Staaten - schon unter den Gründerstaaten der UNO umstritten (siehe 3.2) - ist vom Beginn seines Wirkens an einer der beiden heiklen Ansatzpunkte der grundsätzlichen Kritik am Sicherheitsrat (siehe 9.1); der andere ist die strukturelle und regionale Zusammensetzung des Rates, die der weltpolitischen Situation von 1945 noch entsprochen haben mochte, im Verlauf eines weiteren dreiviertel Jahrhunderts aber immer weniger zu Problemen und Potentialen internationaler Zusammenarbeit mit globalem Anspruch passend erschien. Ferner werden gerne falsche Prioritäten und unterschiedliche Maßstäbe, intransparente Verfahrensweisen, fehlende demokratische Legitimation u.v.m. kritisiert. Die wiederkehrenden Reformdebatten mit vielen oft vielversprechenden Reformvorschlägen waren fast so zahlreich wie die Krisen, mit denen sich der Rat befasste (siehe 9.2). Doch sie blieben bislang folgenlos, jedenfalls hinsichtlich eines institutionellen Umbaus <?page no="101"?> 101 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane wie einer Erweiterung der Sitzanzahl oder gar wie Änderungen am Status der ständigen Mitglieder, was alles nur aufgrund einer extrem schwierigen Änderung der Charta möglich wäre (siehe 4). Vergessen sollte bei aller berechtigter Kritik und angesichts hoffnungsstarker Reformvorschläge nie, dass gegen das stillschweigende Einverständnis der p, ihre Privilegien weder schmälern zu lassen noch sie mit jemand zu teilen, kaum eine strukturelle Reform in einer chartagerechten Weise möglich ist. Dennoch - oder eben deswegen - hatten die Kritik an der Funktionsweise des Rates und die endlosen Reformdebatten durchaus Wirkungen, indem sich allmählich, aber nachhaltig die konkreten Arbeitsformen und -methoden ändern - nicht grundsätzlich als großer Wurf beschlossen und verkündet, sondern in der UNO-spezifischen evolutionär-informellen Weise durch unscheinbare kleine Schritte praktisch vollzogen (siehe 9.2); in pragmatischer Flexibilität gilt: Im Prinzip ändern wir gar nichts, aber wir machen fast alles ein wenig anders. So hat der Sicherheitsrat das Spektrum seiner Aktivitäten um neue Methoden und modifizierte Instrumente erweitert, z.B.: ▶ Konsensverfahren erübrigen oft formelle Abstimmungen (in weiter Auslegung von VN-Charta Art. 27). ▶ Ein abgestuftes System von Möglichkeiten (nach der sog. „Arria“-Formel und anderen Formaten) erlaubt es (in sehr weiter Auslegung von VN-Charta Art. 32 und 33), andere Mitgliedstaaten sowie aber auch Einzelpersonen und Gruppen zu Meinungsaustausch und Beratung einzuladen - außerhalb einer formellen Sitzung und der internen Konsultationen. ▶ In offenen thematischen Sitzungen (in der VN-Charta nicht vorgesehen) werden Themen von breiterem Interesse unabhängig von einer akuten Krise unter einem größeren Kreis daran interessierter Regierungen und INGOs diskutiert. ▶ Die diplomatische Energie einzelner wichtiger, aber mangels p5-Status nicht ganz wichtiger Staaten, kann in die Arbeit des Rates integriert werden, indem sie als Mitglied einer „Kontaktgruppe“ in einer Frage aktiv oder gar initiativ mitwirken (wie z. B. Deutschland beim Problem der nuklearen Option des Iran). ▶ Das Auswahlverfahren für den/ die neue Generalsekretär/ in - einst fast so diskret wie eine Papstwahl abgeschirmt - wurde 2017 erstmal ein wenig in die Öffentlichkeit gezogen: Bewerber/ innen mussten ein Bewerbungsschreiben mit Lebenslauf, Qualifikationen sowie ihren Ideen und Konzeptionen vorlegen; danach stellten sie sich in einer öffentlichen Anhörung vor. Rechtlich ist also weder die Kompetenz zur Auswahl noch das formale Verfahren geändert worden, aber wenigstens sind Schaulaufen und Vorstellung der Kandidat/ inn/ en transparenter gemacht und zumal die Kriterien für ihre Eignung in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert worden. Trotz der Abrüstung in den Arbeitsformen bleibt zu betonen: Das Recht, verbindliche Maßnahmen zu beschließen, bleibt beim Sicherheitsrat und seinen ordentlichen Mitgliedern - und die Macht über die Politik des Sicherheitsrates bleibt bei seinen ständigen Mitgliedern. Der besondere Status der ständigen Ratsmitglieder stellt diese faktisch außerhalb der Reichweite der Empfehlungen, Sanktionen und Zwangsmaßnahmen des Rates, zumal wenn ihre <?page no="102"?> 102 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO „inneren Angelegenheiten“ zur Debatte stünden: wenn z. B. Russland im Tschetschenien-Konflikt keine Friedensbedrohung sehen will, darf sich der Rat damit nicht befassen. Dies ist nach Meinung vieler Kritiker mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller UN-Mitglieder nicht vereinbar, womit wieder an das Dilemma bei Gründung der UNO (siehe 3.2) erinnert ist. Andererseits: Wenn die p in einer grundsätzlichen Frage konstruktiv und anhaltend einig wären, könnten sie die Welt aus den Angeln heben - oder sie gar unerwartet verbessern. Zwar ist und bleibt die schlampige Bezeichnung „Weltsicherheitsrat“ grundfalsch - er ist und bleibt der „Sicherheitsrat der Vereinten Nationen“ bzw. der „UN-Sicherheitsrat“, denn die UNO ist und bleibt nach ihrer Rechtsgrundlage und eigenem Verständnis eine zwischen-staatliche Organisation, aber keine „Welt“-Instanz über den Staaten. Allerdings ist der Sicherheitsrat tatsächlich die einzige internationale Institution, die in eng bestimmten Situationen das Recht hat, souveränen Staaten vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben (siehe 8.1.2). Daraus könnte sich der Rat zum ersten Kern einer globalen Zentralinstanz entwickeln, wenn der alte Grundwiderspruch der UNO zwischen Souveränität und Intervention mehr zugunsten von Einmischungsrecht oder gar Einmischungspflicht verstanden wird, wie es das noch neue Prinzip der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“) (siehe 8.1.2) verlangt - doch das wird dauern. Literaturverweis zu 6.1.2: Sicherheitsrat (SR) Bosco 2009; Einsiedel/ Malone 2018; Eisele 2000, 2007; Eisentraut 2017; Freuding 2005; Hulton 2004; Malone 2004; Prantl 2006, 2007; Schmitt 2013; Sidhu 2018; Thakur 2006; Volger 2016 6.1.3 Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC) Armut und soziale Probleme gefährden das Leben der meisten Menschen auf der Welt stärker als Kriege und gewaltsame Konflikte, die wiederum von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Motiven beeinflusst oder gar verursacht werden. Der VN-Charta war ein positiver Friedensbegriff zugrundegelegt und weit gefasst worden: Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen für ein Leben in Frieden und Sicherheit zu schaffen, ist ausdrücklich Mandat der UNO. Der Wirtschafts- und Sozialrat / Economic and Social Council (ECOSOC) (siehe VN-Charta Art. 61-72, vgl. Art. 55-60) koordiniert die Aktivitäten der UNO auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, allerdings unter der Oberaufsicht der Generalversammlung. <?page no="103"?> 103 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Der Wirtschafts- und Sozialrat X 61 ▶ 54 von der GV gewählte Mitglieder ▶ jährlich werden 18 Mitglieder des ECOSOCs für drei Jahre gewählt, wobei ein ausscheidendes Mitglied unmittelbar wiedergewählt werden kann X 62 ▶ Untersuchungen und Berichte über internationale Angelegenheiten zu Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit u.ä. ▶ Empfehlungen an die GV, die Mitglieder der VN und die Sonderorganisationen ▶ Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ▶ Entwurf von Übereinkommen zur Vorlage für die GV ▶ Einberufung internationaler Konferenzen zu diesen Fragen Problem der Kompetenz-Abgrenzung zur GV der neue Arbeitsbereich Umwelt gehört analog auch zur Kompetenz des ECOSOC Zuständigkeit für öffentlichkeitswirksame „Welt-Konferenzen“ und „Gipfel“ X 63 ▶ Abkommen mit Sonderorganisationen zur Zusammenarbeit (nach Art. 57), von der GV zu genehmigen ▶ Koordination der Tätigkeit der Sonderorganisationen durch Konsultationen mit ihnen und Empfehlungen an sie, die GV und die Mitglieder der VN der ECOSOC verhandelt und regelt die Zusammenarbeit mit den selbständigen Sonderorganisationen im System der VN X 64 ▶ Anspruch auf regelmäßige Berichte von den Sonderorganisationen ▶ Der ECOSOC „kann der GV seine Bemerkungen zu diesen Berichten mitteilen“ der ECOSOC teilt das Recht auf Berichterstattung mit der GV X 65 ▶ Auskünfte an den SR und Unterstützung für ihn „auf dessen Ersuchen“ X 66 ▶ Durchführung von Empfehlungen der GV ▶ Der ECOSOC leistet „mit Genehmigung der GV“ alle Dienste, um die Mitglieder der VN oder Sonderorganisationen ersuchen ▶ Der ECOSOC erfüllt alle Aufgaben nach der Charta oder im Auftrag der GV Problem der Kompetenz-Abgrenzung zur GV X 67 ▶ Jedes Mitglied im ECOSOC hat eine Stimme ▶ Beschlüsse bedürfen der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder X 68 ▶ �Der ECOSOC setzt Kommissionen für wirtschaftliche und soziale Fragen und für die Förderung der Menschenrechte „sowie alle sonstigen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Kommissionen“ ein das Recht zur Einsetzung von Kommissionen wurde ausgiebig genutzt X 71 ▶ Der ECOSOC kann Konsultationen mit internationalen und nationalen nichtstaatlichen Organisationen abhalten, die sich mit Angelegenheiten seiner Zuständigkeit befassen Zuständigkeit für die Zulassung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs/ INGOs) zu Beobachtung, Anhörung und Mitarbeit in der UNO bzw. im System der VN Dem ECOSOC gehören 54 gewählte Mitglieder mit je einem Delegierten an; jährlich werden nach einem Regionalschlüssel 18 neue Mitglieder für drei Jahre von der Generalversammlung gewählt; ein ausscheidendes Mitglied kann unmittelbar wiedergewählt werden. Viele und zumal die großen UN-Institutionen in den Arbeitsfeldern des Wirtschafts- und Sozialrates sind eigenständige Sonderorganisationen, mit denen vom ECOSOC ▶ Abkommen ausgehandelt und geschlossen, die Bereiche und Konditionen der Zusammenarbeit festlegen, und ▶ für die Praxis dann alle Aktivitäten abgestimmt und koordiniert werden müssen. <?page no="104"?> 104 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Der ECOSOC hat zudem noch die politisch immer wichtiger gewordene Kompetenz, die Anträge von Internationalen nichtstaatlichen (oder Nichtregierungs-) Organisationen (NGOs/ INGOs) auf Konsultativstatus bei der UNO zu prüfen, der in verschiedenen Graden verliehen werden kann und festlegt, welche Beteiligungs-Rechte ein INGO hat. Kompetenzen des ECOSOC zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen Charta VN Art. Sachpolitisch Themen, Probleme, Konflikte ⇒ Staaten (Regierungen) Untersuchung, Beratung und Empfehlungen zu allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen ⇔ Abgrenzung zur GV? 62 Abkommen mit Sonderorganisationen, die zu diesen Fragen mit Maßnahmen/ Programmen beauftragt werden ⇔ Genehmigung durch GV 63 Entgegennahme, Prüfung und Kommentierung von Berichten; Beauftragung von Berichten ⇔ Abgrenzung zur GV? 64 Anrufung des IGH in jeder offenen Rechtsfrage ⇔ mit Zustimmung der GV 96 Machtpolitisch Mitgliedschaft, Wahlen ⇒ Staaten (Regierungen) und UNO/ ihre Organe Anerkennung von INGOs; Zuteilung des Konsultativstatus 71 Administrativ Struktur, Regeln, Verwaltung ⇒ intern UNO und ihre Organe Verhandlung der Abkommen mit Sonderorganisationen im UN-System ⇔ Genehmigung durch GV 63 Schaffung neuer UN-Nebenorgane (und anderer untergeordneter Gremien/ Institutionen) ⇔ GV & SR gründen eigene Unter-/ Nebenorgane 68 Interne und externe administrative Regularien 72 Haushaltsplanung (Ausschuss für Programmplanung/ CPC) ⇔ von GV eingeräumt GV-Res. Der ECOSOC tagt in einer vierwöchigen Sitzungsperiode im Juli jährlich abwechselnd in New York und Genf. Zur Bewältigung seines riesigen Arbeitsgebietes hat er eine große Zahl von Nebenorganen eingerichtet: Zwei Sitzungsausschüsse (sessional committees) für Wirtschaft und Soziales und eine lange Reihe Ständiger Ausschüsse (standing committees): ▶ Funktionale Kommissionen: Die Menschenrechtskommission wurde 2006 durch den Menschenrechtsrat als Nebenorgan der GV ersetzt; noch gibt es die Statistische Kommission, die Bevölkerungskommission, die Kommission für gesellschaftliche Entwicklung, die Kommission für Nachhaltige Entwicklung, die Kommission für die Rechtsstellung der Frau und die Suchtstoffkommission. ▶ Fünf regionale Wirtschaftskommissionen für Europa, für Asien und den Pazifik, für Westasien, für Lateinamerika und die Karibik und für Afrika; sie sollen durch Beratung und Information den Entwicklungsprozess auf regionaler Ebene unterstützen. ▶ Der Ausschuss für Programmplanung (CPC), der für die Arbeitsplanung und Koordinierung im gesamten UN-System eine zentrale Rolle spielen sollte und dafür von der Generalversammlung auch Kompetenzen in der Haushaltsplanung bekommen hat. <?page no="105"?> 105 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane ▶ Der Verwaltungsausschuss für Koordinierung (ACC), in dem sich unter dem Vorsitz des Generalsekretärs die Leiter aller Spezialorgane und Sonderorganisationen im UN-System mit den Fragen der Koordinierung befassen. ▶ Der Ausschuss für Nichtstaatliche Organisationen. Zusätzlich gibt es noch beratende Expertengremien. Da die Aktivitäten auf den vielfältigen Arbeitsfeldern der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung rasch erweitert und stark differenziert worden sind, scheint der ECOSOC überfordert zu sein. Durch die lange Zeit ungehinderte institutionelle Evolution der UNO sind immer neue Gremien und Organe mit oftmals ähnlichen oder sich überschneidenden Aufgaben entstanden. Dem ECOSOC fehlen aber die Durchgriffsmöglichkeiten, um den institutionellen Wildwuchs zu lichten und eine wirksame Koordination zu leisten - zumal die Kompetenzabgrenzung zur Generalversammlung so vage geblieben ist, dass möglicherweise beide ihre Aufgaben nicht ausreichend im Griff haben. Literaturverweis zu 6.1.3: Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) Rosenthal 2007 6.1.4 Treuhandrat / Trusteeship Council Der Treuhandrat / Trusteeship Council (siehe VN-Charta Art. 86-91; vgl. Art. 73- 85) ist suspendiert, seine Arbeit wurde 1994 offiziell stillgelegt, sein Mandat ist hinfällig: er ist historisch obsolet geworden, eben weil er sein Mandat erfolgreich erledigt hat. Er war nicht etwa zuständig für die Dekolonisierung als politische Emanzipation der „Dritten Welt“, sondern für speziellere Kolonialfragen: Die Aufgabe des unter anderen mit den Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats besetzten Rates war es gewesen, die sog. Treuhandgebiete - „herrenlos“ gewordene Kolonien der Verlierer beider Weltkriege - verwalten zu lassen und sie in die Unabhängigkeit zu führen; es ging nur um die ehemaligen Kolonien Deutschlands und der Türkei, die als Gebiete des Mandatssystems der Vorgängerorganisation Völkerbund aus dem Ersten Weltkrieg übriggeblieben waren und als Erbmasse aus dem Zweiten Weltkrieg um die Kolonien Italiens und Japans. Pikant war dabei, dass ja mit Frankreich und Großbritannien zwei aktive Kolonialmächte als Ständige Mitglieder im Sicherheitswie im Treuhandrat saßen, die ihre eigenen Kolonien als zum Gebiet ihres souveränen Staates gehörig sahen; erst 1960 erklärte die Generalversammlung, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben und die Unterwerfung unter Fremdherrschaft völkerrechtswidrig ist. Nach seinem politischen Leben existiert der Treuhandrat nur noch formell als völkerrechtlicher Geist, weil die Hemmnisse für Änderungen der VN-Charta den Aufwand für die Streichung der entsprechenden Artikel zu hoch machen (siehe 4). Es gab u. a. den folgenlosen Vorschlag, ihn zu einem neuen Instrument als Umweltrat der Vereinten Nationen umzuwid- <?page no="106"?> 106 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO men, worin sich eine treuhandschaftliche Verpflichtung der UN-Mitgliedstaaten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ausdrücken würde. Literaturverweis zu 6.1.4.: Treuhandrat Wilde 2018 6.1.5 Internationaler Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ) Der Internationale Gerichtshof (IGH) / International Court of Justice (ICJ) (siehe VN-Charta Art. 92-96) - Hauptorgan der UNO und nicht zu verwechseln mit dem eigenständigen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH/ ICC) - dient der Streitschlichtung unter den UN-Mitgliedern und der Entwicklung des Völkerrechts. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sind auch Vertragsparteien des Statuts des Internationalen Gerichtshofs. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Der Internationale Gerichtshof XIV 92 ▶ Der IGH ist das Hauptrechtsprechungsorgan der VN ▶ Der IGH arbeitet nach Maßgabe seines Statuts, das Bestandteil dieser Charta ist XIV 93 ▶ Alle Mitglieder der VN sind Vertragsparteien des Statuts des IGH XIV 94 ▶ Jedes Mitglied der VN muss als Streitpartei die Entscheidung des IGH befolgen ▶ Tut dies eine Streitpartei nicht, kann sich die andere Partei an den SR wenden, der dann zur Durchsetzung des Urteils Empfehlungen geben oder Maßnahmen beschließen kann zumindest prinzipiell gibt es eine Möglichkeit zur Durchsetzung von Urteilen XIV 95 ▶ Aufgrund bestehender oder künftiger Abkommen können Mitglieder der VN die Beilegung ihrer Streitigkeiten auch anderen Gerichten zuweisen … oder auch anderen Streitschlichtungs-Mechanismen, wie z. B. in der WTO XIV 96 ▶ Die GV und der SR können über jede Rechtsfrage ein Gutachten des IGH anfordern ▶ Auch andere Organe der VN und Sonderorganisationen können mit Erlaubnis der GV Gutachten des IGH über Rechtsfragen aus ihrem Tätigkeitsbereich anfordern Rechtsgutachten sind in der Praxis bedeutender als streitentscheidende Urteile Der Gerichtshof ist besetzt mit 15 hochqualifizierten Richtern, die aus 15 verschiedenen Ländern stammen und alle Kulturen und Rechtssysteme repräsentieren sollen; sie sind nur dem Völkerrecht und nicht ihren Heimatstaaten verpflichtet. Sie werden von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat in separaten Wahlgängen gewählt für eine Amtszeit von neun Jahren; eine Wiederwahl ist möglich. Jede Entscheidung über eine internationale Streitigkeit rechtlicher oder politischer Art basiert auf dem Völkerrecht, das wiederum durch diese Entscheidung gegebenfalls auch weiterentwickelt wird. Entscheidungen des IGH sind verbindlich - allerdings ist dies durch zwei Einschränkungen in Frage gestellt: Erstens sind die Staaten nicht schon allein wegen ihrer Zustimmung zum Statut des IGH dessen Gerichtsbarkeit unterworfen, vielmehr müssen sie einem Verfahren vorher zustimmen. Sie können durch eine „Unterwerfungserklärung“ die obligatorische Gerichtsbarkeit des <?page no="107"?> 107 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane IGH generell anerkennen, aber dies haben nur wenige UN-Mitglieder (wie auch Deutschland) getan, die meisten erklären erst im konkreten Fall, ob sie ihre Sache dem IGH zur Entscheidung übergeben. Daher ist die Zahl der Streitfälle vor dem IGH gering geblieben. Zweitens fehlt ein automatisch greifender Mechanismus, der gefällte Urteile durchzusetzen und Nichtbeachtung zu sanktionieren ermöglicht. Die einzige Instanz, die das Recht hat, verpflichtend Durchsetzungsmaßnahmen anzuordnen, ist und bleibt der Sicherheitsrat; aber er muss das nicht unmittelbar auf ein Urteil des IGH hin tun, sondern behält sein Vorrecht, überhaupt erst einmal festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens durch die Nichtbeachtung des Urteils vorliegt, und er müsste, wenn er das so sieht, dann erst nach Kap. VI und VII der Charta vorgehen (siehe 6.1.2 und 8.1.2) - wenn sich in ihm eine Mehrheit dafür findet. Wegen dieser politischen Restriktion hat der IGH in seinem Zuständigkeitsbereich der Streitschlichtung weniger Bedeutung gewonnen als mit seiner Aufgabe, auf Anforderung des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung, gegebenenfalls auch von Unterorganen oder Sonderorganisationen, Rechtsgutachten zu erstellen; darin kann er nicht nur verbindlich zu einer Frage des Völkerrechts Stellung nehmen, sondern es mit solchen Gutachten auch weiterentwickeln. Literaturverweis zu 6.1.5.: Internationaler Gerichtshof (IGH) Crawford/ Grant 2007; Ku 2018 6.1.6 Sekretariat [bzw. Generalsekretär] / Secretariat [or Secretary General (SG)] Wenn die Generalversammlung kein Weltparlament ist und der Sicherheitsrat auch keine Weltregierung, dann ist das Sekretariat erst recht keine Weltregierungskanzlei. Aber das Sekretariat / Secretariat unter dem Generalsekretär / Secretary General (SG) (siehe VN-Charta Art. 97-101) ist die zentrale Verwaltung der UNO; sie ist aber weit über rein administrative und Service-Leistungen hinaus eines ihrer Hauptorgane von eigenem politischem Gewicht. Nicht immer ist gleich klar, von wem oder was die Rede ist - vom „Amt“ als politischer Aufgabe der als Generalsekretär/ in ernannten Person oder dem „Amt“ als Verwaltungsapparat der UNO? Im politischen Kontext ist meist der Generalsekretär gemeint (eine Generalsekretärin gab es bislang noch nicht), der mit seinen Mitarbeiter/ inne/ n zusammen das Sekretariat bildet. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Das Sekretariat XV 97 ▶ Der Generalsekretär (GS) als höchster Verwaltungsbeamter und die „sonstigen von der Organisation benötigten Bediensteten“ bilden das Sekretariat ▶ Der GS wird auf Empfehlung des SR von der GV ernannt das Sekretariat ist nicht nur ein Hilfsorgan, sondern vollwertiges Hauptorgan XV 98 ▶ Bei allen Sitzungen von GV, SR, ECOSOC und Treuhandrat ist der GS „tätig und nimmt alle sonstigen ihm von diesen Organen zugewiesenen Aufgaben wahr“ ▶ Der GS berichtet jährlich der GV über die Tätigkeit der Organisation <?page no="108"?> 108 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Das Sekretariat XV 99 ▶ Der GS „kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist“, Frieden und Sicherheit international zu bedrohen der GS hat also auch genuin politische Aufgaben XV 100 ▶ Der GS und die Bediensteten dürfen von keiner Regierung oder „Autorität außerhalb der Organisation“ Weisungen erfragen oder erhalten ▶ Sie dürfen nichts tun, was „ihrer Stellung als internationale, nur der Organisation verantwortliche Bedienstete abträglich sein könnte“ ▶ Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den „ausschließlich internationalen Charakter der Verantwortung“ des GSs und seiner Mitarbeiter „zu achten und nicht zu versuchen, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“ die Mitarbeiter des Sekretariats sind unmittelbar dem GS unterstellt und nur der UNO verpflichtet, nicht einzelnen Mitgliedsländern - dieses Gebot ist für eine Internationale Organisation essentiell, aber nicht immer realistisch XV 101 ▶ Der GS ernennt die Bediensteten nach den von der GV beschlossenen Regeln ▶ Sekretariatsangehörige werden dem ECOSOC und erforderlichenfalls anderen Organen als ständige Bedienstete zugeteilt ▶ Bei Einstellung und Dienstverhältnis ist „ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit, fachlicher Eignung und Ehrenhaftigkeit zu gewährleisten“ ▶ „Der Umstand, dass es wichtig ist, die Auswahl der Bediensteten auf möglichst breiter geographischer Grundlage vorzunehmen, ist gebührend zu berücksichtigen“ Spannung zwischen Unabhängigkeit/ Eignung und geographischem Proporz? Der/ die Generalsekretär/ in wird auf Empfehlung des Sicherheitsrat der Vereinten Nationen von der Generalversammlung ernannt für eine Amtsperiode von fünf Jahren; eine Wiederwahl ist möglich. Die Auswahl ist das politische Vorrecht des Sicherheitsrats; kein Vorschlag kann gegen den Willen auch nur eines Ständigen Mitglieds durchgesetzt werden. Die Amtsbezeichnung lädt zur Frage ein, ob der Chef des Hauptorgans eher Sekretär sein soll oder General? Er - oder irgendwann sie - kann eine prägende politische Rolle spielen, wenn er die Aufträge, die ihm die Charta prinzipiell aber unkonkret zuweist, auch als Rechte versteht und offensiv aufgreift, um seinen Spielraum zu erweitern. Im Sicherheitsrat hat er eine Art Initiativrecht, denn er darf dessen Aufmerksamkeit auf etwas lenken; zwar kann er eine Befassung des Rates nicht erzwingen, aber seine Mitglieder müssten schon intensiv weghören. Also verfügt auch der Generalsekretär über seinen Anteil an der entscheidenden politischen Deutungsmacht des Rates, festzustellen, was denn überhaupt ein Problem ist. Der Generalsekretär kann in allen Krisen und Katastrophen im Auftrag des Sicherheitsrates seine „guten Dienste“ als diplomatischer Vermittler oder Nothilfe-Organisator ausüben; oft muss er eine Situation aber mit „fact finding“-Missionen erst gründlich klären bzw. klären lassen. Dafür braucht er ein eigenes verlässliches Informationssystem; um seine vielfältigen Aufgaben insgesamt erfüllen zu können, braucht der Generalsekretär einen leistungsfähigen, differenzierten und spezialisierten Mitarbeiterstab - eben das Sekretariat in seinem viel zu klein gewordenen ‚Glaspalast am East River’. Das Personal des Sekretariats wird vom Generalsekretär ausgewählt und ernannt, wobei er nach einem Quotensystem sicherstellt, dass allen Staaten eine bestimmte Anzahl von Posten zukommt, obwohl das internationale Personal nur der UNO verpflichtet sein darf. Wie nicht anders zu erwarten, gibt es immer wieder Versuche der Staaten, zumal auf die Besetzung der höheren Ränge einzuwirken. <?page no="109"?> 109 6.1 Aufgaben und Arbeitsteilung der Hauptorgane Das Sekretariat hat mehr und bedeutendere Funktionen als die veraltete Bezeichnung „Sekretariat“ vermuten lässt; sie stammt aus der Zeit der ersten Ansätze zu Internationalen Organisationen mit nur einfachsten administrativen Mitteln. Die praktische Macht der Mitarbeiter des Sekretariats entsteht daraus, dass sie gegenüber den meisten Regierungsvertretern längerfristig in der Organisation und in ihrem Arbeitsfeld tätig bleiben, also mehr und kontinuierlichere Erfahrung haben, wie was warum funktioniert oder nicht. Die bürokratischen Strukturen von UN-Sekretariaten - des Hauptorganes wie der Sekretariate von Sonderorganisationen - garantieren Beständigkeit und die Pflege von Erfahrungswissen; dem können allenfalls die größeren Mitgliedstaaten mit ihren differenzierten Ständigen Vertretungen bei der UNO entsprechende Expertise entgegensetzen. Kompetenzen des Generalsekretärs bzw. des Sekretariats zu ⇒ gegenüber ⇔ Einschränkungen Charta VN Art. Sachpolitisch Themen, Probleme, Konflikte ⇒ Staaten (Regierungen) Initiativrecht: Der GS kann die Aufmerksamkeit des SR auf jede bedrohliche Situation lenken ⇔ Definitionsmacht des SR (Art. 34 u. 39) 99 Diplomatische Aktivität; Vermittlung 98, 99 Anrufung des IGH in jeder offenen Rechtsfrage ⇔ mit Zustimmung der GV 96 Machtpolitisch Mitgliedschaft, Wahlen ⇒ Staaten (Regierungen) und ⇒ UNO/ ihre Organe Sekretariat ist vollwertiges Hauptorgan 97 Zuarbeiten für alle Sitzungen der Hauptorgane (außer des IGH) ⇔ Die Hauptorgane beauftragen den GS 98 Berichtspflicht (und -Recht): Der GS berichtet jährlich an die GV über die Tätigkeit der Organisation 98 Verpflichtung auf die Organisation: Der GS darf keine Weisungen von Regierungen erfragen oder erhalten ⇔ (aber Druck wird gemacht …) 100 Administrativ Struktur, Regeln, Verwaltung ⇒ intern UNO und ihre Organe → Verwaltung Koordination und Management der UNO 97 GS: Leitung der Arbeit des Sekretariats 97 Personalwesen der Organisation (Einstellung und Führung nur nach den Maßstäben der UNO selbst ⇔ (keine Beeinflussung durch die Staaten erlaubt, aber …) 100, 101 Registrierung und Veröffentlichung internationaler Verträge 102 Das Sekretariat ist untergliedert in Hauptabteilungen (departments) und Ämter/ Büros (offices), nebst einigen eher organisatorisch/ technischen und dem Exekutivbüro des Generalsekretärs (EOSG) für ▶ Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (DESA), Abrüstungsangelegenheiten (ODA), ▶ Generalversammlung und Konferenzmanagement (DGACM), Rechtsfragen (OLA), interne Aufsichtsdienste (OIOS), Globale Kommunikation (DGC) [statt Presse und Information (DPI)], <?page no="110"?> 110 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO ▶ Politische Angelegenheiten und Peacebuilding (DPPA), Friedenseinsätze/ Peace Operations (DPO), Feldunterstützung/ Operational Support (DOS), ▶ die Sonderbeauftragten (special rapporteurs) des Generalsekretärs (SRSG/ …) sowie das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) (siehe 8.2.2). Unbeeinträchtigt von sich abwechselnden Managementreformen ist das Sekretariat hierarchisch auf den Generalsekretär als obersten Funktionsträger bezogen. Er ist als Person mit Zuständigkeiten und Weisungsbefugnissen versehen, aber unterliegt den Weisungen von Generalversammlung und Sicherheitsrat; die Mitglieds-Staaten haben ihm gegenüber keine unmittelbare Befugnis. Allerdings haben sie politische wie personalpolitische Interessen, über die sie den Generalsekretär und die Führungsebene des Sekretariats durchaus nicht im Unklaren lassen; mit dem Druck von Beeinflussungsversuchen angemessen umzugehen zu wissen, ist eine entscheidende Qualifikation des Generalsekretärs. Die Generalsekretäre der Vereinten Nationen 1 1946 - 1953 Trygve Lie Norwegen 2 1953 - 1961 Dag Hammarskjöld Schweden 3 1961 - 1971 Sithu U Thant Burma 4 1972 - 1981 Kurt Waldheim Österreich 5 1982 - 1991 Javier Pérez de Cuéllar Peru 6 1992 - 1996 Boutros Boutros-Ghali Ägypten 7 1997 - 2006 Kofi Annan Ghana 8 2007 - 2016 Ban Ki-moon Südkorea 9 seit 2017 António Guterres Portugal Der prägende Generalsekretär der UNO war der zweite Amtsträger Dag Hammarskjöld aus Schweden, weil er die Organisation unter immer widriger werdenden Umständen als eigenständigen Akteur zwischen den Staaten etablierte; er konnte wenigstens einen Teil der irrationalen Hoffnungen auf die neue „Weltorganisation“ überführen in die reale Chance, als normative und politische Instanz den Mächtigen der Welt entgegenzutreten; zusammen mit kreativen Mitstreitern entwickelte er aus der Not einer schwierigen Lage ein Konzept der friedenssichernden Operationen, wie es so in der Charta als Mandat nicht vorgesehen war (siehe 8.1.2) - und lehrte der UNO damit ihre später oft erfolgreiche Methode zur evolutionär-informellen Veränderung jenseits der formalen Festlegungen (siehe 7.6). Der siebte Generalsekretär Kofi Annan aus Ghana zeigte die Widersprüchlichkeit des Amtes und der UNO in eigener Person: Er kam aus dem Sekretariat, war grundsolide aber charismatisch, innovativ aber beharrlich; zwar wurde er als Kommunikator wie als Reformer überraschend erfolgreich, aber auch nicht so nachhaltend wie erhofft. Er erhielt als Person den Friedensnobelpreis und wurde oft gar nicht so ironisch „weltlicher Papst“ genannt - aber er hat sich zu seinem Abschied mit dem mythischen Helden Sisyphos verglichen, der jeden <?page no="111"?> 111 6.2 Machtverteilung in der UNO Tag wieder denselben Felsen denselben Berg hinauf schafft, nur um zu erleben, wie der nachts immer wieder herunter rollt. Literaturverweis zu 6.1.6.: Sekretariat bzw. Generalsekretär Jonah/ Hill 2018; Newman 2018; Chesterman 2007; Fröhlich/ Tröller 2017; Fröhlich 2002, 2007 6.2 Machtverteilung in der UNO Die Hauptorgane der UNO sind sehr unterschiedlich hinsichtlich Mandat, Aufgaben, Kompetenzen, operativen Instrumenten und finanziellen Mitteln; aber es ist nicht sinnvoll, ein Organ als bedeutender als andere auszuzeichnen, denn in einem systemischen Zusammenwirken ist auf keines zu verzichten (abgesehen vom obsolet gewordenen Treuhandrat). Doch weil die Organe unterschiedliche Funktionen erfüllen, kommen ihnen auch unterschiedliche Machtpotentiale zu. Aufgrund der Bestimmungen der Charta und angesichts der historisch-politischen Praxis ist unschwer festzustellen, wie die Macht in der UNO verteilt ist: Der Sicherheitsrat ist das bei weitem mächtigste Organ; der Einfluss von Generalsekretär und seinem Sekretariat wird unterschätzt; die Generalversammlung als das formal höchstrangige Organ kann weniger bewirken als von einem Gremium der Regierungen fast aller Staaten der Welt zu erwarten wäre. In den Übersichten zu den Kompetenzen der einzelnen Organe (siehe 6.1) waren bei allen Einschränkungen ihres Spielraumes zu vermerken, nur beim Sicherheitsrat auch exklusive Vorrechte - und diese sind essentiell und machen ihn zum eigentlichen Zentrum der Macht in der UNO: ▶ Er ist nicht ausschließlich, aber mit absolutem Vorrang zuständig für alle Fragen von Krieg und Frieden und zur Behandlung akuter Konflikte (VN-Charta Art. 24; vgl. Art.-12). ▶ Die Mitgliedstaaten der UNO sind verpflichtet, seine Beschlüsse umzusetzen (VN-Charta Art. 25), was ihm zusammen mit der generellen Beistandsverpflichtung (VN-Charta Art. 2 und 49) ein internationales Monopol für Zwangsmaßnahmen gibt. ▶ Nur er darf in Konflikte direkt operativ eingreifen - er ist der Kern des Systems der „kollektiven Sicherheit“ (VN-Charta Art. 1 und 49; siehe 8.1.2). ▶ Als Grundlage dafür hat er allein die Kompetenz festzustellen, ob es ein zu behandelndes Problem gibt oder nicht („Deutungshoheit“) (VN-Charta Art. 34 und 39). ▶ Alle Entscheidungen zur Mitgliedschaft von Staaten in der UNO oder zur Vergabe von wichtigen Ämtern (Generalsekretär, Richter am IGH) trifft er allein oder zumindest zusammen mit der Generalversammlung. Wenn also eine Instanz im System der UNO völkerrechtlich und politisch schon potent genug ist oder werden könnte, den Regierungen der souveränen Staaten normative Vorgaben zu geben, dann der Sicherheitsrat. <?page no="112"?> 112 6. Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO Die spezifische Macht des Generalsekretärs ist verglichen damit sehr gering, aber er kann sich durch Einsatz und Geschick hohen Einfluss verschaffen, indem er mit Anregungen und Empfehlungen die Arbeit der anderen Organe stimuliert; in Konflikten kann er als Vermittler Kommunikationswege oder gar Lösungsvorschläge anbieten; manchmal ist es ihm sogar möglich, auch in der sog. Weltöffentlichkeit Akzente zu setzen. Die spezifische Macht des Sekretariats entsteht aus seinen Funktionen, einerseits Information und Expertise zur Verfügung zu stellen, andererseits in den Fachabteilungen die Erfüllung aller Arbeitsaufträge an die UNO zu beobachten oder auch zu kontrollieren oder gar selbst zu organisieren. Die Schwäche der Generalversammlung im Vergleich mit dem Sicherheitsrat ist darin begründet, dass die am Konsens - also am kleinsten gemeinsamen Nenner - orientierten Ergebnisse ihrer Arbeit in der Sache vielleicht bedeutsam sein mögen, doch ihre entsprechenden Beschlüsse keine völkerrechtliche Bindungskraft haben, also politisch unverbindlich bleiben. Insbesondere ▶ darf sie sich mit sicherheitspolitischen Fragen allenfalls generell und abstrakt befassen, aber nicht mit akuten Konflikten solange der Sicherheitsrat sich darum kümmert; ▶ kann ihre Gestaltungsmacht in anderen Fragen durch Kompetenzkonkurrenz mit dem ECOSOC und Sonderorganisationen zumindest beeinträchtigt sein; ▶ hat sie allein in der Haushaltskompetenz eine exklusive Machtquelle, die aber durch Mitgliedstaaten getrübt werden kann, wenn sie als große Beitragszahler im eigenen Interesse Bedingungen stellen. Die Machtstruktur der UNO scheint auf den ersten Blick nicht überzeugend; zumal um die Konstruktion der Generalversammlung zu verstehen muss man sich an ihre Entstehungsgeschichte (siehe 3.2) erinnern: Die Kompetenz-Abgrenzung zwischen Bundesversammlung und Völkerbundsrat des früheren Völkerbundes war viel zu vage gewesen, weswegen sie für die UNO wesentlich klarer geregelt wurde zugunsten des Sicherheitsrates, der dadurch effektiver arbeiten kann. Damit wurde die faktische Vormachtstellung der mächtigsten Staaten rechtlich bestätigt - was sich aber dann in der Phase der Konfrontation von durch zwei Supermächte geführten Staatenblöcken auch als destruktiv erwies. Die USA verfolgten im Kalten Krieg gegen die Politik der Blockade des Sicherheitsrats seitens der Sowjetunion zunächst die Strategie, die Befugnisse der Generalversammlung gegenüber dem Sicherheitsrat zu erweitern; doch der Verlust der westlichen Mehrheit in der Generalversammlung, deren Mitgliederzahl dank der politischen Emanzipation der Dritten Welt rasch angewachsenen war, machte dies unattraktiv. Der einzige offene Machtkampf um die Vorrangstellung des Sicherheitsrates kumulierte 1950 in der umstrittenen „Uniting for Peace“-Resolution der Generalversammlung (A/ RES/ 377(V) im Sinne von VN-Charta Art. 11); sie erhob darin den Anspruch, dass sie eine Angelegenheit an sich ziehen kann, wenn der Sicherheitsrat nicht willig oder in der Lage ist, sie zu behandeln - also sein Mandat nicht erfüllt. Diese Argumentation gilt als anerkannt - sogar durch ein Gutachten des IGH von 1962 - aber führte seit der Suez-Krise 1956 zu keinem für eine Konfliktpartei zwingenden oder gar Zwangsmaßnahmen verhängenden Beschluss. So schließt sich der Kreis: der Sicherheitsrat hat im Zweifel das Sagen und was er sagt - oder nicht - bestimmen hauptsächlich seine fünf ständigen Mitglieder. <?page no="113"?> 7. Arbeitsweisen und Methoden Donald Trump hat in seinem Wahlkampf und in der Rolle des Präsidenten der USA die UNO kritisiert als bürokratisch-ineffektiven und Steuergelder verschwendenden Klub für Leute, die Spass haben wollen. Das erinnert an den Topos von der „Quatschbude“, womit sich als Tatmenschen gebende Populisten gerne gewählte Parlamente abwerten, aber auch Staatenorganisationen wie den Völkerbund und eben die UNO als irrelevant abtun (siehe 9.1). Nicht nur Trump, auch allerlei weniger prominente Weltpolitiker pflegen ihre Meinung über „die UNO“ aus selbstbewusster Unkenntnis, was da warum und wie vor sich geht, sondern leider auch viele Journalisten, wenn sie mal selten genug über Ereignisse wie einen sog. „Weltklimagipfel“ - so etwas gibt es nicht (siehe 8.5.4) - berichten. Zu oft wird in ungeeigneten Analogien zu bekannten Verfahren und Methoden nationaler Politik oder des bilateralen Umgangs unter Staaten gedacht, die den Bedingungen multilateraler Universalität nicht gerecht werden: Die UNO ist keine Regierung, die Generalversammlung kein Parlament, der Sicherheitsrat kein Innenministerium, der Menschenrechtsrat keine Staatsanwaltschaft. Diplomatische Arbeitsweisen und politische Methoden unter den politischen Bedingungen multilateraler Universalität ▶ mit fast zweihundert Mitspielern extrem unterschiedlicher Stärke und divergierenden Interessen und Absichten, ▶ nur mithilfe eines Völkerrechts ohne Sanktionsinstanz, also ohne nennenswerte effektive Handlungsmöglichkeiten, ▶ aber angesichts drängender globaler Probleme, die einzelstaatlich oder in einzelnen Weltregionen nicht bewältigt werden können, sind zwangsläufig schon ein wenig eigenartig - was bei genauerem Hinsehen verständlicher wird. Konstitutive Elemente der mulilateralen Arbeitspraxis sind ▶ Rhetorik und Verhandlung: Rhetorik und Argumentationskunst liefern der Diplomatie ihre klassischen Methoden; Reden - als formelle Ansprache wie im Gespräch - ist ihr genuines Arbeitsmedium und zielorientiertes Reden - argumentativ und/ oder manipulativ - ist in Verhandlungen ihr wichtigstes Arbeitsmittel; Verhandlungen können je nach Situation und Interessenlage sehr unterschiedlich geführt werden - geleitet von Absichten und Motiven, geprägt von Verhandlungsstilen und Methoden. ▶ Resolutionen und Verträge: Das Verhandlungsziel jeder Regierung eines Staates ist es, für ihre politische Position in einem zuständigen internationalen Gremium eine Mehrheit oder sogar die allgemeine Zustimmung zu gewinnen; diese Position wird mit Verhandlungspartnern formuliert in einer Beschlussvorlage, die dann zu einer förmlichen Resolution (oder der feierlicheren Variante einer Deklaration) werden kann; in seltenen Fällen führen komplexe Verhandlungsprozesse zur Ausarbeitung eines - recht- <?page no="114"?> 114 7. Arbeitsweisen und Methoden lich bindenden - internationalen Vertrages, der aber erst noch aufwändig in Kraft gesetzt werden muss. ▶ Berichte und Konferenzen: Die spezifischen Instrumente der Arbeit von internationalen Organisationen sind Berichte als Argumentationsgrundlage und Konferenzen als Verhandlungsforen; das von außen weniger beachtete multilaterale Berichtswesen ist sehr lebendig, neigt aber stark zu Übergewicht; Konferenzen aller Größe und Art finden zu jedem Thema auch der geringsten internationalen Bedeutung zu fast jeder Zeit statt, oft an den UN-Sitzen (New York, Genf, Wien, Nairobi), aber auch überall auf der Welt; große internationale Staatentreffen bis hin zu sog. „Welt-Gipfeln“ finden gelegentlich öffentliche Beachtung und dienen so zumindest der politischen Symbolik. ▶ Gruppenbildung: 193 Parteien können nicht alle direkt miteinander reden oder verhandeln, weswegen sich in der UNO zwangsläufig Staatengruppen nach den verschiedensten Interessen und Kriterien bilden; angeführt und den anderen Gruppen gegenüber informell vertreten wird jede Gruppe durch ein meist aber nicht notwendig mächtigeres und angeseheneres, jedenfalls führendes Land, oder auch von einigen solchen; das bringt allen Staaten diverse Vorteile, den wenigen mächtigen und auch den vielen schwächeren; problematisch für die UNO ist jede externe Gruppenbildung wie G7/ 8, G20. ▶ Konsens und Ritualität: Multilateralität mit knapp zwei Hundert souveränen Staaten als Mitspielern bedeutet für die konkrete Arbeit in komplexen Verhandlungen durchgängig einen brutalen Zwang zum effizienten aber meist gehaltlosen Konsens („kleinster gemeinsamer Nenner“); Konsenszwang verlangt und schafft Rituale als scheinbar tragende Auswege oder wenigstens als gefühlte Allheilmittel; sogar das gängige Kritisieren der UNO und Debattieren über ihre Reform sind auch als ableitende Rituale zu verstehen. ▶ Inkrementelles „Durchwursteln“: Die multilaterale Kooperation in der UNO zeigt von Anfang an - trotz oder eben wegen des Konsenszwangs - ein überraschendes Maß an unkonventioneller und kreativer Flexibilität, wenn es darum geht, unvorhersehbare Probleme anzugehen und starre Regeln passend umzuinterpretieren; zumal die faktische Unveränderlichkeit der Charta der Vereinten Nationen erzwingt in einer sich verändernden Welt das Finden von passablen Schlupflöchern; begünstigt wird dieses „muddling through“ durch die ständige Übung im Basteln von konsensorientierten Kompromissen; in solchen, oft auch fragwürdigen und intransparenten Methoden liegt gleichwohl das eigentliche Reformpotential der UNO. ▶ Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs: Internationale Kooperation darf nicht nur die Staatenwelt, sondern muss auch die Gesellschaftswelt angehen oder (wie beim Menschenrechtsschutz) sogar von ihr ausgehen - eine zustimmungspflichtige Einsicht, die so weitreichend ebenfalls nicht in der Charta zu finden war; zeitweise rief die Fokussierung auf die Rolle der (I)NGOs übertriebene Erwartungen und rituelle Ersatzhandlungen hervor, doch aus der Sicht einer Staatenorganisation muss die Einbeziehung der Zivilgesellschaft zugleich eine komplementäre Abgrenzung zu ihr sichern. ▶ Öffentlichkeitsarbeit: Das Bild der UNO in der öffentlichen Meinung wichtiger Mitgliedsländer ist verschwommen, ihre Wertschätzung schwankt zwischen hoffnungsfroher Erwartung und harscher Enttäuschung, die verbreiteten Kenntnisse über die <?page no="115"?> 115 7.1 Rhetorik und Verhandlung komplexen Probleme und Vorgänge in einer Internationalen Organisation sind gering, lückenhaft oder einfach falsch; damit die Arbeit der/ in der UNO besser verstanden und so wirksamer wird, muss diese selbst Information und Aufklärung verbreiten durch klassische Öffentlichkeitsarbeit und inzwischen vor allem durch eine zumindest in der Masse überwältigende Internet-Präsenz (siehe www.un.org). ▶ Finanzierung, Personal, Verwaltung: Große Organisationen müssen organisiert, also ausreichend finanziert, geführt, verwaltet und kontrolliert werden - die UNO und die Sonderorganisationen haben dabei besondere Probleme wegen der Zwischenstaatlichkeit der Entscheidungsprozesse und der proporzbestimmten Multikulturalität ihres Personals; anders als bei privatwirtschaftlichen transnationalen Unternehmen fehlt die Effizienz-Kontrolle durch Wettbewerb und die Verhaltens-Disziplinierung durch Profitinteresse; Kosten und Management der UNO sind denn auch beliebte Ansatzpunkte für Kritik. 7.1 Rhetorik und Verhandlung Die Kunst der politischen Rhetorik und die Technik der Verhandlung sind in der multilateralen Diplomatie eng verzahnt. Denn anders als bei ihrem Gebrauch in Alltag und innerstaatlicher Politik sind hier weder das Publikum des Redens launisches Stimmvolk, dessen massenweise Zustimmung gewonnen werden muss, noch sind die Adressaten der Verhandlungsargumentation zustimmungsabhängige Politiker oder Verbandsfunktionäre, sondern meist recht professionelle Vertreter der Regierungen von souveränen Staaten. Verhandlungen bei den Vereinten Nationen (Friederike Bauer, FAZ vom 19.06.2000) „Verhandlungen bei den Vereinten Nationen sind selten geeignet für zart besaitete Naturen. Meist dauern die Prozesse lange, oft bis spät in die Nacht oder sogar in die Morgenstunden, und nicht selten kreist der Streit um wenig mehr als scheinbar belanglose Einzelformulierungen. Da können Unterhändler stundenlang darüber debattieren, ob etwas nicht gelingt, weil es den Einzelstaaten am entsprechenden ‚Engagement’ mangelt, oder ob nicht vielmehr der ‚unzulängliche politische Wille’ dafür verantwortlich ist. Für Außenstehende sind solche Haarspaltereien kaum noch zu verstehen; und wenn selbst Diplomaten im Eifer der Debatten den Überblick verlieren, bleibt doch eines sicher: Wie klein der Unterschied einzelner sprachlicher Wendungen auch immer scheinen mag, die Beteiligten erkennen den entscheidenden Unterschied darin.“ Politische Rhetorik vor und bei den Vereinten Nationen hat einen doppelten Charakter, ▶ einen zeremoniellen für Reden an die „Weltgemeinschaft“, gehalten von Staatsmännern und Staatsfrauen vor der Generalversammlung bei der Eröffnung ihrer jährlichen Generaldebatte oder anlässlich einer großen Konferenz, und <?page no="116"?> 116 7. Arbeitsweisen und Methoden ▶ einen profanen für das alltägliche multilaterale Geschäft der Delegierten in Gesprächen und Verhandlungen. Der Inhalt der Staatsreden erreicht selten sonderliche Bedeutung; sie stimmen festlich und dienen dem eigenen Lob und dem aller, die wie man selbst guten Willens sind. Geboten werden nicht verbindliche Erklärungen, pathetische Beschwörungen des Banalen und Selbstverständlichen, Appelle an alle und also an niemanden, generelle und also vage Absichtserklärungen, zu nichts konkret verpflichtende Bereitschaftsversicherungen sowie am liebsten „Wir“=Weltgemeinschafts-Anrufungen. In manchen dieser Reden häufen sich Hochwertwörter und Edelfloskeln derart, dass sich die Assoziation sakraler Predigten aufdrängt. Die Bedeutung solcher Rituale staatlicher wie persönlicher Selbstdarstellung und der Beschwörung einer besseren gemeinsamen Zukunft ist unter den UN-Diplomaten wenig umstritten, die Ansprachen werden gleichwohl professionell erlitten. Ernsthaft und konkret an der Sache wird in der UNO wie überall in der Politik in kleinen Gruppen oder gar im Vier-Augen-Gespräch gearbeitet, dennoch werden auch in alltäglichen Arbeitssituationen vor Gremien („bodies“) offizielle Reden gehalten; zwar sind z. B. im Vergleich „westlicher“, zumal amerikanischer, und asiatischer Reden kulturspezifische Eigenarten festzustellen, aber meist werden bestimmte ungeschriebene Regeln befolgt, die zu verletzen wiederum eine Botschaft bedeuten kann: ▶ Zu Beginn ist die direkte persönliche Anrede an den/ die sitzungsleitende/ n Vorsitzende/ n üblich, etwa in Form von Glückwünschen zu seiner/ ihrer Wahl, ▶ dann folgt gerne die Bekräftigung von Notwendigkeit und Bedeutung der wertvollen Arbeit der Vereinten Nationen, generell und vor allem in eben diesem Gremium, ▶ worauf das Einstreuen von Beobachtungen und Betrachtungen zu regionalen und globalen Fragen die Ausrichtung der eigenen Position andeuten kann, ▶ bevor man je nach Situation und Verhandlungslage möglicherweise zur Sache Stellung nimmt. Alles ist in Gestik und Wortwahl respektvoll und höflich zu vollziehen - schließlich spricht man ja als souveräner Staat zu souveränen Staaten. Warum dieser formelle Redestil in der Regel penibel gepflegt wird und warum dies so wichtig ist, wird einsichtig, wenn er einmal bei stürmischen Auseinandersetzungen weniger eingehalten wird oder dann weniger wichtige Staaten die Macht eines wichtigen auch im Umgangston erfahren dürfen: Dann misslingt das diplomatische Ritual, ein möglicher Konsens wird zur Fiktion und die Unfähigkeit, das Problem zu lösen, tritt zutage. Diese Situation erklärt auch viele der Eigenheiten der in der UNO üblichen Sprache bzw. des Sprechverhaltens: ▶ Die Sprache der Diplomatie ist in der Formulierung geschmeidiger und im Ton verbindlicher als die nationalen Politikersprachen; ▶ als erstes ist im multilateralen Verkehr immer zu versuchen, eine gemeinsame Interessenlage und mögliche Übereinstimmungen auch sprachlich herauszuarbeiten; <?page no="117"?> 117 7.1 Rhetorik und Verhandlung ▶ wozu die feine Kunst der Nuancierung ein angepasstes und fein abgestuftes Instrumentarium von Begriffen bietet, das es erlaubt, die eigenen Interessen und Ziele darzulegen, ohne zugleich Interessen und Zielen anderer zu widersprechen; ▶ wobei sowohl die Option verbaler Eskalation als auch die des diskreten Rückzugs offenbleiben sollten, ▶ was alles nach einer äußerst flexiblen Sprech- und Ausdrucksweise verlangt, die aber wahrscheinlich selten sehr präzise sein wird. Die Absicht beim Reden muss es ja sein, sich seinen Spielraum zu erhalten oder gar zu erweitern, sich also nicht vorzeitig festzulegen oder zu viele Angriffsflächen zu bieten, aber dabei vor allem anderen doch das Gespräch aufrechtzuerhalten. Im vorwiegenden Interesse, sich politische Optionen offen zu halten und zu vermeiden, dass die Gesprächsfähigkeit unter Partnern - aber eben auch unter Gegnern - leidet, wird gern der Preis entrichtet, viel zu oft ärgerlichen Sprachmüll in die damit eh schon überfrachtete Weltkommunikation zu werfen: Euphemistische Scham- und Verhüllungsworte, um Hässliches schön zu reden („Frage des erzwungenen oder unfreiwilligen Verschwindens von Personen“); Übertreibungen, um Bedeutsamkeit und Wichtigkeit vorzutäuschen; Superlativismus, pleonastische Verstärkung oder Wiederholungen von Selbstverständlichem, um mit der so hervorgehobenen Dringlichkeit die eigentlich mangelnde Ernsthaftigkeit zu tarnen („Umfassende Überprüfung“ […] „unverzichtbarste Anliegen […] vorwärtsgerichteter Strategien […] in allen miteinander verbundenen Aspekten […] mit größter Dringlichkeit […] baldmöglichst“); usf. <?page no="118"?> 118 7. Arbeitsweisen und Methoden Amtssprachen und Arbeitssprache der Vereinten Nationen Die sechs „Amtssprachen“ der UNO sind Chinesisch, Französisch, Russisch, Englisch und Spanisch (VN-Charta Art. 111), später ergänzt um Arabisch. Diese offiziellen Amtssprachen wurden auch alle zu „Arbeitssprachen“ erklärt und von Übersetzungsdiensten u. ä. als solche behandelt, aber vom Völkerbund war übernommen worden, dass die wirklich verwendeten zwei Arbeitssprachen nur Französisch und Englisch waren. Nicht formell aber de facto gilt inzwischen jedoch unausweichlich die praktische Dominanz des - amerikanischen bzw. globalisierten - Englischen. Das beklagen die Franzosen ohne es ändern zu können; aber wie Frankreich mit der Gruppe der „Frankofonie“ mit 57 Mitgliedstaaten bilden Staaten mit gemeinsamer Sprache informelle Gruppen, um ihre Interessen und Potentiale zu bündeln (siehe 7.4), und sei es nur zur Sicherung eines Übersetzungsdienstes; die Deutschen (ja erst seit 1973 als Bundesrepublik und DDR in der UNO, Österreich seit 1955), deren Sprache nie von diplomatischer Bedeutung war, leisten sich auf eigene Kosten einen deutschen Übersetzungsdienst für die wichtigsten Dokumente. Scheinbar rein technische Hilfsmittel wie Übersetzungen und besonders das Dolmetschen können in der Diplomatie politische Bedeutung haben, denn sie bieten immer Interpretationsspielräume, die man bei Bedarf nutzen kann. Auch kann man aus den Nachteilen des Angewiesenseins auf das Englische bewusst einen Vorteil machen, indem man einen Dolmetscher einsetzt - selbst wenn das vielleicht gar nicht so nötig ist - denn es mag auch mal sinnvoll sein, wenn der Chef/ die Chefin nicht genau versteht oder verstehen muss, was die Gegenseite sagt, damit eine Gesprächssituation nicht entgleitet und jedenfalls offenbleibt. Selbst in Form solch stilistischer Verrenkungen dienen diplomatische Sprache und Rhetorik dem Erfolg bei Verhandlungen; Verhandlungen jeder Art zu jeder Zeit zwischen Staaten bzw. Staatengruppen sind alltägliche Praxis multilateraler Diplomatie. Während Argumentation auf rationale Konsequenz zielt und Rhetorik nach emotional-motivierender Wirkung trachtet, ringt Verhandlung um soziale und politische Verbindlichkeit. Die idealtypischen politischen Kommunikationsformen sind ▶ Streit: physische und/ oder verbale Gewalt wird ausgeübt ohne Argumentation; ▶ Verhandlung: die Beteiligten verfolgen zielorientiert einen Auftrag und haben bzw. sprechen für Instanzen mit Entscheidungs-Kompetenzen in kontrollierter Argumentation; ▶ Diskussion: freier bzw. handlungszweckfreier und insofern folgenloser Austausch von unverbindlicher Argumentation. Wenn gewaltförmiger Streit zwischen Staaten vermieden werden soll, reicht eine noch so gut gemeinte friedliche Diskussion nicht aus - man muss schon mit den entscheidenden Leuten mit triftigen Argumenten zu verhandeln bereit sein. <?page no="119"?> 119 7.1 Rhetorik und Verhandlung Seit Thukydides’ „Melierdialog“ sind die Methoden und Regeln internationaler Verhandlungen ein faszinierender Gegenstand für theoretische Überlegungen und empirische Forschung. Klassisch ist eine eher harte realistische Auffassung, die nur klar bestimmte Interessen und Verhandlungsziele, Kalkül und Taktik, Techniken und Tricks ernst nimmt; dagegen wurde zunehmend in einer eher weichen kognitiven bzw. interpretativen Perspektive untersucht, welche symbolische, rhetorische und kommunikative Elemente Verhandlungen gelingen lassen. Beide Perspektiven haben ihren spezifischen Sinn, jedoch neigen „weiche“ Zugänge zu oft zu idealisierender Naivität, während ein einseitig „harter“ Zugriff für multilaterale Verhandlungssituationen viel zu kurz greift, um die vielschichtigen Prozesse verstehen zu können. So bieten rationalistische Analysen kalkulierender Entscheidungs- und Konsensfindung („rational choice“) z. B. mit den beliebten spieltheoretischen Modellen hilfreiche logische Hilfsmittel, erfassen aber das Verhandlungsgeschehen nur insoweit als es überhaupt ausreichend formal beschreibbar ist; wenn solche Analysemodelle dann noch von abstrakten Annahmen ausgehen - etwa dass zwei in sich homogene „Seiten“ (meist „A“ und „B“) sich auf der überschaubaren Ebene eines Problem-„Felds“ und gar noch zu einem klar abgrenzbaren Streitthema einander als Wettbewerber gegenüber finden - kann das der multi-komplex-chaotischen Problemlage und der entsprechenden Arbeitsweise multilateraler Diplomatie kaum gerecht werden. An konkreten Verhandlungsprozessen lässt sich zeigen, dass die „weiche“ Konzeption vielleicht nicht in der Sicht der Dinge realistischer, aber praktisch wirksamer ist. Auch eine pragmatische Sichtweise, die verschiedene Ebenen und Phasen eines Verhandlungsgeschehens analysiert und sich an der sachlichen Qualität der Ergebnisse orientiert, kann zu unpolitisch sein: Nicht unterschätzt werden darf, dass es ja immer jenseits der jeweiligen Sache darum geht, eine Situation zu sichern, in der Verhandlungen möglich bleiben, selbst wenn momentan und konkret kein Fortschritt möglich ist - und/ oder die Gegenseite ohnehin eigentlich unerträglich ist. Der Grundgedanke des kooperationsorienterten Verhandelns unter multilateralen Bedingungen regt an, stets zu versuchen, eine intakte Arbeitsbeziehung (working-relationship) aufzubauen, die win-win-Situationen zu Gunsten aller Verhandler immer wieder ermöglicht; das Ziel sollte nicht sein, einen klapprigen Gebrauchtwagen einmal mit hohem Gewinn zu verkaufen, sondern sich eine dauerhafte Reputation als verlässlicher Händler zu erwerben. Verhandlungsstile Strategien und Taktiken contending Auskämpfen stur und hart durchsetzen, Stärke ausreizen, Schwächen verbergen ▶ Wettbewerb ▶ um Sieg und Niederlage problem solving Problemlösung Spielregeln prüfen und ggf. ändern ⇒ stimmt der Spieleinsatz? ⇒ gemeinsamen Erfolg durch Kooperation suchen ▶ Initiative ergreifen ▶ Hineinversetzen in Gegner ▶ Zeitmanagement ▶ inoffizielle Ebene/ Phasen yielding Nachgeben nachgiebig eigene Ziele zurücknehmen; sich unterwerfen ▶ Anpassung ▶ zumal unter Zeitdruck <?page no="120"?> 120 7. Arbeitsweisen und Methoden Wer die Welt immer als ein Nullsummenspiel sieht, in dem jeder Gewinn auf der Gegenseite einen entsprechender Verlust bedingt (siehe 2.1), wird nie auf die Idee kommen, dass beide oder alle Seiten gewinnen können, wenn es gelingt, durch kooperative Verhandlungen das erstrebte Gut zu vergrößern und/ oder zu verbessern - dazu muss man flexibel und kreativ sein im Kopf. Das klassische Gedankenexperiment mit der Orangenkiste verdeutlicht, wie wertvoll exploratives Denken für flexibles Verhandeln sein kann. Das unlösbare Problem mit der Orangenkiste und seine explorativ gefundene Lösung Kurz vor Geschäftsschluss stürmen zwei Stammkundinnen einen Obststand am Münchner Viktualienmarkt und verlangen beide dringlich eine Kiste Bio-Orangen; die Händlerin bedauert, es sei gerade noch eine da. Die naheliegenden Lösungen taugen nichts: Beide Kundinnen brauchen alle Orangen in der Kiste für ihre gewerblichen Zwecke, die Hälfte reicht nicht aus; eine Versteigerung der letzten Kiste würde die unterlegene Kundin dauerhaft vergraulen und auch die erfolgreiche wäre wegen des höheren Preises verärgert; eine Verlosung hätte ein ähnlich unbefriedigendes Ergebnis. In ihrer Not befreit sich die Händlerin von dem Denkzwang, dass alles so ist wie es uns scheint, und denkt neu nach, flexibel und kreativ - und fragt die insistierenden Kundinnen, wozu sie denn die Orangen brauchen? Und siehe da: die eine braucht den Saft als Getränk, die andere die Schalen zum Backen … Das Restproblem ist mit gutem Willen technisch lösbar. Die Kunst ist schlicht, die eingenommene, deutlich formulierte Position vom eigentlichen, möglicherweise noch gar nicht formulierten Interesse zu trennen, um beide gesondert zu behandeln; die Absicht ist dabei, das eigentliche Interesse zu befriedigen, sofern keine Kollision mit einem anderem Interesse das sachlich ausschließt, womit auch die Position ohne Gesichtverlust aufzugeben wäre. Das klassische Beispiel einer dank der Trennung von Positionen und Interessen erfolgreichen Verhandlung in einem internationalen Konflikt ist das Camp-David-Abkommen von 1978, das den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel ermöglichte. Aber guten Willens und dazu noch kreativ zu sein, reicht noch nicht aus: Über möglichst viel Wissen - politisch und sachlich relevantes - zu verfügen, ist Voraussetzung für Erfolg zumal in komplexen Sachverhandlungen; diese nicht überraschende aber zwingende Einsicht fordert mühsame Arbeit für rechtzeitige und hinreichende Vorbereitung, um das wichtige Wissen vom Informationsmüll scheiden zu können. Deswegen haben reiche Staaten mit großen diplomatischen Apparaten bzw. Staatengruppen in funktionierender Zusammenarbeit (siehe 7.4) meist einen entscheidenden Vorteil. Internationale Verhandlungen sind selbst auch immer Lernprozesse: Erfahrungen im Verlauf von wenigstens teilweise gelingenden Verhandlungen erschüttern das Nullsummenspiel-Denken, lassen die Ausgangspositionen - auch die eigenen - differenzierter und rationaler sehen und verhelfen vielleicht gar zu einem flexibleren und konstruktiveren Verständnis der Situation. <?page no="121"?> 121 7.1 Rhetorik und Verhandlung Ob eine Verhandlungspartei Lernfähigkeit zeigen kann, ist für andere Parteien wichtig zu wissen. Denn vom breiten Publikum oft übersehen, von jedem Verhandlungspraktiker aber als erstes beachtet, ist die schlichte Frage nach der inneren Struktur der Gegenseite: Wie ist der Verhandlungspartner/ -gegner denn aufgestellt, was weiß er, was kann er, was darf er, wem gegenüber muss er sein Verhalten rechtfertigen und ein mögliches Ergebnis als akzeptabel vermitteln. Die meisten internationalen Verhandlungen werden in mindestens zwei Richtungen geführt, gegenüber der anderen Seite aber - oft nicht minder wichtig - auch gegenüber der eigenen (Regierung, Parlament, Öffentlichkeit). Keine Regierungsdelegation wird letztlich einer Position oder Maßnahme zustimmen, deren Umsetzung ihr zuhause Probleme machen würde; demokratisch gewählte Regierungen sind empfindlich bei unpopulären Vorhaben, aber auch autoritäre Herrschaften haben Rücksichten zu nehmen. Dies bedeutet für Regierungen oft ein Dilemma, aber auch einen Schutz, weil sie sich auf der einen Ebene auf Zwänge auf der anderen berufen können; mancher Theaterdonner auf der Bühne UNO war an ein heimisches Publikum gerichtet. Eine Regierung kann ihre inneren Entscheidungsprozesse für taktische Manöver nach außen nutzen - z. B. als US-Regierung dem Kyoto-Protokoll zustimmen in der Gewißheit, dass es nie durch den Kongress kommen würde. US-Diplomaten können wegen der immer noch vormächtigen Bedeutung ihres Landes durchaus ruppiger auftreten als andere und tun das auch gelegentlich, meist aber nicht zum Vorteil ihrer Position; die Vertreter der VR China scheinen ihnen darin nachzueifern, während die Russian Federation immer noch angeschlagen wirkt. Doch die Ausbildung der US-Diplomaten lehrt, dass gerade der Vertreter einer dominanten oder gar hegemonialen Regierung den anderen und zumal denen von wesentlich kleineren und unwichtigeren Ländern signalisieren sollte, dass sie respektiert und ihre Positionen ernstgenommen werden. Denn erstens gibt es immer wieder Situationen, in denen der Abstimmungsmodus ein Land = eine Stimme politisch entscheidend wird und folglich jede einzelne zählt; zweitens will selbst die Regierung eines dominanten Staates in der multilateralen Welt möglichst viel Zustimmung für die eigene Linie mobilisieren. Staaten (-Vertreter) sind auch nur Menschen? (Michaelis 2003, S. 143) „Staaten sind nicht gern isoliert, sehen sich ungern in der argumentativen öffentlichen Defensive und schwenken in der Regel ein, wenn man einen ihre Interessen wahrenden Kompromiss anstrebt.“ Literaturverweis zu 7.1.: Rhetorik und Verhandlung Michaelis 2003; Hawden/ Kaufmann 1960; Kaufmann 1980, 1988; Kremenyuk 2002; Mautner-Markhof 1989; Mühlen 2005; Paqué 2000; Pfetsch 2006; Pruitt 1981; Reimer 2015; Spector/ Zartman 2003; Watkins/ Rosegrant 2001; Weiss 1986; Widmer 2014; Winkelmann 2005; Wiseman 2015; Zartman 1994, 2008 <?page no="122"?> 122 7. Arbeitsweisen und Methoden 7.2 Resolutionen und Verträge Texte sind das Ziel aller Verhandlungen: Resolutionen oder Verträge. Jede Regierung jedes Staates versucht, ihre politische Position - Einschätzung, Bewertung, Forderung, Vorschlag, Maßnahme oder was immer - in die Entwürfe für solche Texte hineinzuschreiben. Die langwierigen Kämpfe um die Formulierungen bilden die eigentlich entscheidende Arbeitsphase, damit eine Beschlussvorlage in einem zuständigen internationalen Gremium eine Mehrheit oder sogar die allgemeine Zustimmung finden und zu einer förmlichen Resolution oder einer Deklaration werden kann; die Entwürfe für Vertragstexte werden in ähnlicher, aber viel aufwändigerer Weise ausgearbeitet. Resolutionen sind das elementare Arbeitsinstrument der meisten Organe der UNO, völkerrechtlich bindend sind aber nur die des Sicherheitsrates, die der anderen, auch der Generalversammlung, haben nur den Charakter einer politisch mehr oder weniger relevanten Empfehlung und/ oder Absichtserklärung. Deklarationen sind Resolutionen mit Goldrand, ein Hilfsmittel, um z. B. einer Erklärung wichtiger Grundsätze durch feierliche Betonung mehr symbolische Bedeutung zu verleihen als sie durch Bindungskraft hat. Resolutionstexte haben eine wohlgeordnete Form: Sie beginnen mit der gewichtigen Nennung des beschließenden Organs („The General Assembly […]“, „The Security Council […]“), listen in einer Präambel frühere einschlägige Resolutionen und die ganze Vorgeschichte auf, erläutern dann in einzelnen sogenannten „Erwägungen“ die Hauptgründe für die Befassung mit dem Thema und für die Verabschiedung der Resolution, und sprechen dann im „operativen“ Teil die eigentlichen Erklärungen, Empfehlungen bzw. verpflichtenden Anordnungen aus. Der Text richtet sich an eine bestimmte Instanz mit dem Ziel, diese zu Entscheidungen und Verhalten zu veranlassen. Die verpflichtenden Anordnungen des Sicherheitsrats nennen normalerweise sehr konkret den oder die betroffenen Mitgliedstaat/ en der UNO; in den nicht rechtlich bindenden Resolutionen ist meist sehr vage definiert und/ oder behutsam angesprochen, wer gemeint ist - der Adressat kann auch die „Völkerfamilie“ oder die „Weltgemeinschaft“ sein. Wenn sich eine Resolution der Generalversammlung oder des ECOSOC nicht lediglich an ein untergeordnetes oder zugehöriges UNO-Organ richtet, um diesem einen bestimmten Auftrag zu erteilen, sondern an Mitgliedstaaten, kann von ihr bestenfalls nur die kognitive oder moralische Wirkung einer überzeugenden Argumentation erhofft werden. Wichtige Resolutionen und Deklarationen von Generalvesammlung (GV) und Sicherheitsrat (SR) Jahr von Bezeichnung * „Titel“ / Thema Gegenstand / Bedeutung 1948 GV UN-Doc. 217/ A/ III „Universal Declaration of Human Rights“ (UDHR)/ „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) Rechtlich nicht bindender Katalog der Menschenrechte 1950 SR S/ RES/ 85 (1950) Korea-Krieg: militärischer Beistand für Südkorea Erster legitimierter Kriegseinsatz 1950 GV A/ RES/ 377(V) „Uniting for Peace“ Machtkampf mit dem SR 1956 GV A/ RES/ 1000 (ES-I) (1956) A/ RES/ 1001 (ES-I) (1956) Suez-Konflikt: Friedenstruppen („Blauhelme“) erstmals eingesetzt durch Notstandssitzung der GV (UNEF) Neuerung über die Charta hinaus <?page no="123"?> 123 7.2 Resolutionen und Verträge Wichtige Resolutionen und Deklarationen von Generalvesammlung (GV) und Sicherheitsrat (SR) Jahr von Bezeichnung * „Titel“ / Thema Gegenstand / Bedeutung 1960 SR S/ RES/ 143 (1960) Kongo-Krise: Friedenstruppen („Blauhelme“) erstmals eingesetzt durch den SR (ONUC) Neuerung über die Charta hinaus bestätigt 1963 EC E/ RES/ 1235 (XLII) Menschenrechtsverletzungen „Verfahren nach 1235“ 1970 EC E/ RES/ 1503 (XLVIII) Menschenrechtsverletzungen „Verfahren nach 1503“ 1974 GV A/ RES/ 3281 (XXIX) „Charter of Economic Rights and Duties of States“/ „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten“ Rechtlich nicht bindende Verhaltens-Grundsätze 1990 SR S/ RES/ 678 (1990) militärische Befreiung Kuwaits vom Irak mit Bodentruppen Irak-Krieg legitimiert 1993 SR S/ RES/ 827 (1993) Jugoslawien: Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunals Strafverfahren gegen Einzelpersonen 2001 SR S/ RES/ 1373 (2001) Terrorismusbekämpfung: verpflichtet alle Staaten auf einen umfassenden Katalog weitreichender Maßnahmen (erstmals Formulierung abstrakter, nicht nur fallbezogener Normen) 2005 GV A/ RES/ 60/ 1 Ergebnis des Weltgipfels 2005 „responsibility to protect“/ Schutzverantwortung 2006 GV A/ RES/ 60/ 251 Schaffung des Menschenrechtsrats Menschenrechtsschutz 2006 SR S/ RES/ 1674 (2006) Prinzip der Schutzverantwortung anerkannt „responsibility to protect“/ Schutzverantwortung 2011 SR S/ RES/ 1973 (2011) Libyen: erstmals Prinzip der Schutzverantwortung angewandt Libyen, Luftangriffe/ Schutzverantwortung * z.B. ▶ A/ RES/ 60/ 251 = Generalversammlung/ Resolution/ 60.Jahrestagung/ laufende Nummer ▶ S/ RES/ 1973 (2011) = Sicherheitsrat/ Resolution/ ewig fortlaufende Nummer (Jahr) ▶ E/ RES/ 1503 (XLVIII) Wirtschafts- und Sozialrat/ Resolution/ ewig fortlaufende Nummer/ Tagung Resolutionen, vor allem solche des Sicherheitsrats zu komplexen und andauernden Konflikten, werden jeweils als einzelne beschlossen, um einen bestimmten Schritt in einer offenen Abfolge zu vollziehen, so dass es über Wochen und Monate zu einer Kaskade von Resolutionen zum selben Problem kommen kann. Die andere Textsorte der internationalen Verträge wird weit seltener produziert, denn sie hat ja auch anders als reine Sprachhandlungen grundsatzsetzende Bedeutung. Nur gültige zwischenstaatliche Verträge sind rechtlich ohne Zweifel bindend, d. h. sie verpflichten die Vertragsparteien zwingend zum Tun oder Unterlassen; bei Unklarheiten der Auslegung muss ggf. darüber der IGH entscheiden (siehe 6.1.5). Die Terminologie zu „internationaler Vertrag“ ist nicht eindeutig; Variationen wie Abkommen, Konvention, Pakt, Protokoll, Übereinkunft usf. sind nicht sauber abzugrenzen, auch nicht die englischen Bezeichnungen (agreement, convention, covenant, protocol, treaty). Doch die Bezeichnung eines Vertragswerkes bedeutet wenig für seine Wirksamkeit, wohl aber seine Struktur; das Verfahren hat sich bewährt, zuerst eine sog. Rahmenkonvention abzuschließen, <?page no="124"?> 124 7. Arbeitsweisen und Methoden die dann im Lauf der Zeit im Lichte der weiteren Entwicklungen durch sog. Protokolle oder Fakultativprotokolle fortgeschrieben, also konkretisiert, spezifiziert, modifiziert etc. werden kann, wann immer Bedarf besteht und eine politische Chance dazu sich auftut; das berühmte Kyoto-Protokoll von 1997 ist nichts anderes als eine solche Ergänzung oder Auffüllung der Klimaschutzrahmenkonvention (UNFCCC) von 1992 (siehe 8.5.4). Ausarbeitung, Abschluss und Inkrafttreten von internationalen Verträgen erfordern einen hohen Aufwand: ▶ Verhandeln und Formulieren unter den Staaten innerhalb oder auch außerhalb der Strukturen der UNO; ▶ Paraphieren, also Abzeichnen des fixierten Textes durch die Verhandlungsdelegationen; ▶ Unterzeichnen des Vertrages als politische Willenserklärung durch die Regierungen; ▶ Ratifizieren als entscheidender Akt der Inkraftsetzung: die gesetzgebenden Instanzen (meist ein Parlament) der einzelnen Staaten müssen entsprechend ▶ ihrer Verfassungsbestimmungen die Vertragsinhalte als eigenes Recht übernehmen (Ratifikation); ▶ Hinterlegen der Ratifikationsurkunde bei einer federführenden Regierung oder im Sekretariat der UNO; ▶ Inkrafttreten des Vertrages erst dann, wenn eine bestimmte Anzahl von Staaten ratifiziert haben (Quote). Wichtige internationale Verträge Jahr Vertrag Treaty Vertrags- Organ Gegenstand/ Problem 1945 Charta der Vereinten Nationen Charter of the United Nations [GA, ICJ] Gründung und Regelwerk der UNO; Grundlage des Völkerrechts international law 1947 Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) WTO Freihandel, Zollabbau 1948 Völkermord-Konvention Convention an the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (CPPCG) [SC] Völkermord 1966 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte („Zivil-Pakt“) International Covenant on Civil and Political Rights (CCPR) Human Rights Committee (HRC) Menschenrechtsschutz 1966 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („Sozial-Pakt“) International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR) Committee on ESCR Menschenrechtsschutz von 1965 bis 2006 Sieben spezifische internationale Verträge bzw. „Menschenrechts-Konventionen“ (CERD, CEDAW, CAT, CRC, CMW, CRPD, ICAPED) (siehe 8.2) Committee on … Menschenrechtsschutz in speziellen Bereichen 1967 Weltraumvertrag Outer Space Treaty COPUOS keine Massenvernichtungswaffen im Weltraum <?page no="125"?> 125 7.2 Resolutionen und Verträge Wichtige internationale Verträge Jahr Vertrag Treaty Vertrags- Organ Gegenstand/ Problem 1968 Atomwaffensperrvertrag Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT) IAEA Nichtverbreitung von Atomwaffen aber friedliche Nutzung der Kernernergie 1972 B-Waffen-Konvention Biological Weapons Convention (BWC) [UNODA] Verbot biologischer Waffen 1985 1987 Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht Vienna Convention for the Protection of the Ozone Layer → Montreal-Protokoll/ Montreal Protocol [UNEP] Schutz der Ozonschicht 1992 1997 Klimaschutz-Rahmenkonvention United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) → z.B. Kyoto-Protokoll/ Kyoto Protocol Conference of Parties (CoP) Klimaschutz 1993 Chemie-Waffen-Konvention Chemical Weapons Convention (CWC) OPCW Verbot chemischer Waffen 1997 Konvention zum Verbot von Anti-Personen- Minen (Ottawa-Konvention) Convention on the Prohibition … of Anti-Personnel Mines … (Mine Ban Treaty) [SG] Verbot von Landminen 1998 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs Rome Statute of the International Criminal Court [ICC] Internationale Strafverfahren gegen Einzelpersonen (Menschenrechtsverletzungen, Völkermord) Mit dem Inkrafttreten ist aber der politische Erfolg eines Vertrages noch nicht gesichert; den zeigt dann erst der Grad der tatsächlichen Einhaltung bzw. Umsetzung; Hinweise dazu geben die Ratifikationen durch die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats - wer ist dabei, wer fehlt? Die p zeigen z. B. bei Verträgen gegen bestimmte Waffen und/ oder deren Handel meist ein ernüchterndes Verhalten als Waffenexporteure. Verträge zur Bewältigung konkreter Probleme haben fast alle eigene Mechanismen zur Überwachung der Umsetzung festgelegt: ▶ Viele sind mit sog. Vertragsorganen (treaty bodies) ausgestattet, meist Expertengremien (zum Menschenrechtsschutz z. B. siehe 8.2.2), oder sogar mit gesonderten internationalen Organisationen für wissenschaftlich-technische Beobachtungsaufgaben (z. B. die IAEA für Atomenergie und die OPCW für Chemiewaffen) (siehe 5.3). ▶ Die meisten Verträge nutzen die klassischen Methoden Berichte (von den Vertragsstaaten selbst und von UN-Institutionen oder auch von NGOs) und Überprüfungs-Konferenzen (siehe 7.3). Literaturverweis zu 7.2.: Resolutionen und Verträge Dörr 2016: Thiel/ Thome 1987 <?page no="126"?> 126 7. Arbeitsweisen und Methoden 7.3 Berichte und Konferenzen Die meistgenutzten Instrumente zur Bewältigung der Rede- und Verhandlungsarbeit in internationalen Organisationen sind Berichte und Konferenzen: Die einen liefern Information und Argumentation, die anderen bieten das Forum für deren Austausch und Meinungsbildung; beide Arbeitsformen bilden die Grundlage für Entscheidungen - falls es soweit kommt; beide dienen neben ihrem offiziellen Sachauftrag meist noch anderen politischen Zwecken - und sei es nur, den Betrieb am Laufen zu halten. Die Hauptorgane, die meisten Nebenorgane und alle Sonderorganisationen der UNO legen regelmäßig (meist jährlich) einen Bericht über ihre Arbeit sowie Probleme und Entwicklungen in ihrem Arbeitsfeld vor - eine schwer vorstellbare Menge Text, meist auch mit umfangreichen Datensammlungen. Kaum bemerkt entstehen neben solchen Jahresberichten im dichten Geflecht der Institutionen und Gremien weitere ungezählte regelmäßige wie gelegentliche Berichte zu speziellen Fragen, denn worüber auch immer irgendwo in der UNO geredet und gearbeitet wird, darüber gibt es auch mindestens ein Berichtsdokument. Einige der größeren periodischen Berichte finden wegen ihrer fachlichen und politischen Bedeutung große Beachtung - meist in einer über den Kreis der damit befassten Diplomaten, Experten und NGOs hinaus an die Öffentlichkeit gerichteten Fassung („flagship reports“), manche sogar als eigenständige Publikation; sie können auch neben der eigentlichen Berichterstattung jeweils einen besonderen thematischen Schwerpunkt haben. Periodische (meist jährliche) Berichte von UN-Institutionen bzw. „flagship reports“ Bezeichnung (Institution) Arbeitsfeld/ Thema Weltentwicklungsbericht/ World Development Report (Weltbank/ IBRD) [seit 1978] wirtschaftliche Entwicklung Bericht über die menschliche Entwicklung / Human Development Report (Entwicklungsprogramm/ UNDP) [seit 1990] soziale und menschliche Entwicklung Weltbevölkerungsbericht/ State of the World Population (UNFPA) [seit 1969] Bevölkerungswachstum Welternährungsbericht/ World Food Report (FAO) [seit 1969] inzwischen The State of Food and Agriculture, (FAO) inzwischen The State of Food Security and Nutrition in the World (UNICEF/ WHO/ FAO/ IFAD/ WFP) Hunger und Ernährung Landwirtschaft Ernährungssicherheit Welthandelsbericht/ World Trade Report (WTO) Welthandel Handels- und Entwicklungsbericht/ Trade and Development Report (UNCTAD) Handel und Entwicklung World Economic Outlook (IMF) weltwirtschaftliche Lage World Economic Situation and Prospects (DESA) weltwirtschaftliche Lage World Economic and Social Survey (DESA) weltwirtschaftliche/ soziale Lage Combating Poverty and Inequality (UNRISD) soziale Entwicklung World Investment Report (UNCTAD) Investitionen Industrial Development Report (UNIDO) industrielle Entwicklung World of Work (ILO) Arbeit <?page no="127"?> 127 7.3 Berichte und Konferenzen Periodische (meist jährliche) Berichte von UN-Institutionen bzw. „flagship reports“ Bezeichnung (Institution) Arbeitsfeld/ Thema World Health Report (WHO) [seit 1995] Gesundheit Global Environment Outlook (UNEP) Umwelt Weltwasserentwicklungsbericht/ World Water Development Report (UNESCO/ diverse) Wasserknappheit Progress of the World’s Women (UN Women) Lage der Frauen State of the World’s Children (UNICEF) Situation der Kinder World Cities Report (UN-Habitat) Urbanisierung, Wohnen World Drug Report (UN Office on Drugs and Crime) Drogen World Happiness Report (SDSN) Glück Zu den Berichten der internationalen Institutionen komplementär und politisch oft interessant bis heikel sind die Berichte der Staaten, die diese sich in großer Zahl an diverse UN-Gremien zu liefern verbindlich verpflichtet haben - prinzipiell durch die Charta, konkretisiert in einzelnen Abkommen. Diese Berichtspflicht beschäftigt nicht nur unzählige Mitarbeiter in Regierungsbehörden, sondern kann in politisch sensiblen Bereichen hochbrisant sein; oft ist sie das einzige und manchmal überraschend wirksame Instrument zur Beeinflussung des Verhaltens von Regierungen, z. B. beim Menschenrechtsschutz. Eine dritte Art sind bzw. waren thematisch auf ein bestimmtes Problem und/ oder konkreten Handlungs- oder Reform-Bedarf gerichtete große Sonder-Berichte, die manchmal eine Ära politisch oder zumindest rhetorisch geprägt haben; sie sollen sowohl die Situation analytisch klären und zugleich programmatische Konsequenzen zeigen - damit zwangsläufig häufig normativ Ziele und Standards vorgeben. Wenn der Generalsekretär hinsichtlich der zu behandelnden Frage persönlich wie politisch in einer starken Position ist, kann er selbst Verfasser eines solchen Berichtes sein bzw. auch seinen Jahresbericht entsprechend thematisch fokussieren und dies hervorheben. Wirkungsvoller kann es sein, wenn eine Kommission aus hochrangigen/ hochangesehenen Staatsmännern/ -frauen oder auch ein Expertengremium unter Federführung eines/ einer oder zweier solcher Staatsmänner/ -frauen oder eines/ einer international renommierten Experten/ in („high level group“) den Bericht vorlegt. In bewegten Zeiten mit erwachendem Bewusstsein für Probleme und/ oder Reformoptimismus werden mehr Sonder-Berichte vorgelegt, in stagnativen Phasen von defensiver Stimmung weniger oder gar keine; Generalsekretär Kofi Annan hatte das Instrument noch sehr intensiv eingesetzt. Inzwischen gibt es kaum noch einzelne Berichte, die ein ganzes Themenfeld öffnen, sondern eben die kontinuierliche Information und Diskussion in den regelmäßigen Publikationen der Fachinstitutionen des UN-Systems. <?page no="128"?> 128 7. Arbeitsweisen und Methoden Bedeutende Sonder-Berichte der bzw. für die UNO Jahr Bericht, Kommission (Vorsitz) bzw. UN-Organ Themen 1969 Pearson-Bericht: „Partners in Development“ Commission on International Development (Lester B. Pearson) Entwicklungspolitik 1980 Brandt-Bericht: „North - South: A Programme for Survival“ Report of the Independent Commission on International Development Issues [„North-South Commission“] (Willy Brandt) Nord-Süd-Gegensatz Weltwirtschaft Entwicklungspolitik 1982 Palme-Bericht: „Common Security: A Blueprint for Survival“ Report of the Independent Commission on Disarmament and Security Issues (Olof Palme) Abrüstung und Sicherheitspolitik 1987 Brundtland-Bericht: „Our Common Future“ Report of the World Commission on Environment and Development (Gro Harlem Brundtland) Umweltgefährdung und Umweltschutz 1992 Agenda für den Frieden: „An Agenda for Peace - Preventive diplomacy, peace-making and peace-keeping“ Report des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali Friedens-Erhaltung UN-Friedenseinsätze 1994 Agenda für Entwicklung: „An Agenda for Development“ Report des Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali Entwicklungspolitik 1995 „Our Global Neighborhood: The Report of the Commission on Global Governance“, Report of the CGG (Ingvar Carlsson/ Shridath Ramphal) „Global Governance“ 1995 „The United Nations in its Second Half-Century: A Report of the Independent Working Group on the Future of the United Nations“(Moeen Qureshi/ Richard von Weizäcker) Reformen der/ in der UNO 1997 UN-Reform: „Renewing the United Nations: A Programme for Reform“, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Reformen der/ in der UNO 2000 Brahimi-Bericht: „Report of the Panel on United Nations Peace Operations. A far-reaching report by an independent panel“ Panel on United Nations Peace Operations (Lakhdar Brahimi) Reformen der UN-Friedenseinsätze 2001 „Report of the High Panel on Financing for Development“ High Level Panel on Financing for Development (Ernesto Zedillo) Entwicklungsfinanzierung 2001 „Responsibility to Protect“: Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty (Gareth Evans/ Mohamed Sahnoun) Intervention und Souveränität 2002 „Strengthening of the United Nations: An agenda for Further Change“, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Reformen der/ in der UNO 2004 Cardoso-Bericht: „We the peoples: civil society, the United Nations and Global Governance“, Report of the Panel of Eminent Persons on United Nations-Civil Society Relations („Hochrangige Gruppe“) (Fernando Henrique Cardoso) Civil Society/ INGOs in der UNO 2004 „A more secure world. Our shared Responsibility“, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change (Anand Panyarachun) Gefahren und Krisen 2005 Sachs-Bericht: „Investing in Development. A practical Plan to achieve the Millennium Development Goals“ (Jeffrey Sachs) Entwicklungspolitik/ Millenniums-Entwicklungsziele <?page no="129"?> 129 7.3 Berichte und Konferenzen Bedeutende Sonder-Berichte der bzw. für die UNO Jahr Bericht, Kommission (Vorsitz) bzw. UN-Organ Themen 2005 „In larger Freedom. Towards Development, Security and Human Rights for all“, Report des Generalsekretärs Kofi Annan Menschliche Entwicklung 2005 „Migration in an interconnected world: New directions for action“, Report of the global commission on international migration Migration Berichte können vielerlei leisten oder bewirken: ▶ Die jährlichen Arbeits- und Rechenschaftsberichte bieten Information, sachliche Klärung und fachliche Debatte zu den anstehenden Problemen, Rechenschaft über die geleistete Arbeit und dienen so der Erfolgskontrolle. ▶ Staatenberichte dienen im besten Fall der Verhaltenskontrolle, denn für von den Regeln abweichende Regierungen kann der Zwang zum Zurechtbiegen oder gar Lügen schon unangenehm sein, wenn ein peinlicher „Gesichtsverlust“ wegen lückenhafter oder falscher Angaben droht: Fragwürdige Berichte liefern die Grundlage für kritische Stellungnahmen anderer Regierungen, der Zivilgesellschaft oder gar der „Weltöffentlichkeit“ - statt Intervention von außen wird so wenigstens eine Strategie des „blaming and shaming“ möglich. ▶ Besondere Berichte bieten neben sachlicher Klärung und fachlicher Debatte auch kritisches Aufklären bis hin zu normativen Vorschlägen; politisch können sie im besten Fall aufrütteln und Probleme auf die Agenda bringen und als Thema etablieren. Gelegentlich haben Sonder-Berichte große internationale Konferenzen zum Thema angeregt oder dienten der Vorbereitung solcher Konferenzen; der Brundtland-Bericht von 1987 zur Umweltgefährdung wurde z. B. die Grundlage für die epochale „Rio“-Konferenz von 1992. Internationale Konferenzen sind das oft wirksamste aber immer aufwändigste Arbeitsmittel multilateraler Diplomatie; sie werden zu Hunderten in vielfältigen Arten und Formen mit unterschiedlichsten Aufgaben und Kompetenzen abgehalten, manche haben hohe politische Bedeutung, die meisten sind Arbeitskonferenzen mit eher fachlichem und/ oder technischem Charakter, wenige gelten der Medienöffentlichkeit als wichtig, manche sind es; der Status einer Konferenz ist also nicht unbedingt an der Wichtigkeit seiner Teilnehmer zu erkennen; zumal hochgejubelte „Welt-Gipfel“ mit Teilnahme von Staats- und Regierungs-Chefs wurden zu Recht meist schnell vergessen. Zu unterscheiden sind: ▶ Regelmäßige Arbeitskonferenzen von Organen und Gremien im UN-System, die bei Bedarf aufgewertet werden können, indem man sie oder ein Segment von ihnen zum hochrangigen Gipfel-Treffen erklärt, wie eben jener „Millenniums-Gipfel“ im Jahr 2000, zu dem ein Teil der planmäßigen Sitzung der Generalversammlung umgewidmet wurde; die jährliche Tagung der Generalversammlung ist ja selbst die größte und zeitaufwändigste aller Staaten-Konferenzen. ▶ Thematische Konferenzen zu allen denkbaren Fragen, die im UN-System bearbeitet werden, finden jedes Jahr zu Hunderten statt, die großen gerne als „Weltkonferenzen“; <?page no="130"?> 130 7. Arbeitsweisen und Methoden teilweise sind auch sie formal nur die turnusgemäßen Vollversammlungen eines UN-Organs oder einer Sonderorganisation, die aus gegebenem Anlass zu einer „Weltkonferenz“ aufgewertet werden, z. B. eine Jahrkonferenz der FAO als „Welternährungskonferenz“. ▶ Regelmäßig abgehaltene thematische Konferenzen können sich als eine feste Institution etablieren; die Konferenzserie zu Handel und Entwicklung (UNCTAD) mit 14 Konferenzen von 1964 (Genf/ Schweiz) bis 2016 (Narobi/ Kenia) ist ein Nebenorgan der Generalversammlung mit eigenen Organisationsstrukturen. ▶ Schließlich gibt es noch Konferenzserien, die unmittelbar aufgrund internationaler Verträge zu politikfeldspezifischen Abkommen abgehalten werden als regelmäßig vorgesehene Konferenzen der Staaten, die diese Verträge unterzeichnet haben; die sog. „Weltklima-Konferenzen“ oder „Klimagipfel“, die Medien und Öffentlichkeit aus gutem Grund so bewegen, sind nichts anderes als solche „Vertragstaatenkonferenzen“ (Conference of Parties/ CoP) der auf dem „Rio“-Umwelt-„Gipfel“ (1992) zustandegekommenen Klimaschutz-Rahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change/ UNFCCC) - das „Kyoto-Protokoll“ (1997) und das „Pariser Klimaabkommen“ (2015), die diese Konvention weiterentwickeln, waren wiederum Ergebnisse solcher Konferenzen (siehe 8.5.4). ▶ Fachkonferenzen werden auch gerne als Fortsetzungen (z. B. „Habitat II/ III“ usf. oder als „Rio plus 5/ 10/ 20“) wiederholt zur evaluierenden Bestandsaufnahme und/ oder Motivation zum Weitermachen oder Wiederaufgreifen. Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ der UNO/ im UN-System Jahr Ort Konferenz Abk. Probleme / Themen 1972 Stockholm Schweden Erste Umwelt-Konferenz UN Conference on the Human Environment UNCHE Umweltgefährdung und Umweltschutz 1974 Rom Italien Welternährungskonferenz World Food Conference WFC Hunger und Welternährung 1979 Rom Italien Agrarreform-Konferenz World Conference on Agrarian Reform and Rural Development WCARRD Agrarreform und ländliche Entwicklung 1990 New York UNO Kinder-Gipfel World Summit for Children WSC Erziehung, Gesundheit, Ernährung, Wasser 1992 Rio de Janeiro Brasilien „Erdgipfel“bzw. „Rio“-Umweltkonferenz United Nations Conference on Environment and Development UNCED Umwelt & (nachhaltige) Entwicklung/ environment and sustainable development 1993 Wien UNO Menschenrechtskonferenz World Conference on Human Rights WCHR Menschenrechtsschutz 1994 Kairo Ägypten Weltbevölkerungskonferenz International Conference on Population and Development ICPD Bevölkerungswachstum und -planung <?page no="131"?> 131 7.3 Berichte und Konferenzen Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ der UNO/ im UN-System 1995 Kopenhagen Dänemark Weltsozialgipfel World Summit for Social Development WSSD Soziale Entwicklung, Armut und Arbeitslosigkeit, soziale Integration Peking VR China Weltfrauenkonferenz Fourth World Conference on Women Frauenrechte und -partizipation, Gewalt gegen Frauen 2000 New York UNO „Millenniums-Gipfel“ Millennium Assembly [Segment der 55.Generalversammlung] Rolle und Aufgaben der UNO im 21. Jahrhundert; Millennium Development Goals/ MDGs 2001 Durban Südafrika Rassismus-Konferenz World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance WCAR Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz New York UNO Konferenz über den unerlaubten Handel mit Kleinwaffen und leichten Waffen UN Conference on Illicit Trade in Small Arms and Light Weapons Kleinwaffen-Handel 2002 Johannesburg Südafrika Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung („Weltumweltgipfel“) World Summit on Sustainable Development „RIO+10“ WSSD nachhaltige Entwicklung Monterrey Mexiko Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung International Conference on Financing for Development Entwicklungs-Finanzierung, „Monterrey Consensus“ 2003 Genf Schweiz Weltgipfel über die Informationsgesellschaft / World Summit on the Information Society [Teil 1] WSIS Information und Kommunikation 2005 Tunis Tunesien Weltgipfel über die Informationsgesellschaft / World Summit on the Information Society [Teil 2] WSIS Information und Kommunikation Kobe Japan Weltkonferenz für Katastrophenvorbeugung World Conference on Disaster Reduction WCDR Reduzierung der Folgen von Katastrophen 2006 Rom Italien Weltkongress über Kommunikation und Entwicklung World Congress on Communication for Development WCCD Kommunikation im Entwicklungsprozess 2007 Brüssel Belgien Globales Forum über Migration und Entwicklung Global Forum on Migration and Development GFMD Zusammenhang von Migration und Entwicklung 2009 Rom Italien Weltgipfel für Ernährungssicherheit World Summit on Food Security Welternährung 2012 Rio de Janeiro Brasilien Konferenz über nachhaltige Entwicklung UN Conference on Sustainable Development „RIO+20“ UNCSD nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs 2013 Abu Dhabi VAE Internationaler Wasser-Gipfel International Water Summit IWS Wasser, Wassertechnologie 2014 New York UNO Weltkonferenz über indigene Völker World Conference on Indigenous Peoples Situation und Rechte indigener Völker <?page no="132"?> 132 7. Arbeitsweisen und Methoden Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ der UNO/ im UN-System 2015 New York UNO Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung UN Sustainable Development Summit [Segment der 70.Generalversammlung] nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs Addis Abeba Äthopien Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung International Conference on Financing for Development Entwicklungs-Finanzierung, SDGs 2016 Istanbul Türkei Weltgipfel für humanitäre Hilfe World Humanitarian Summit WHS humanitäre Not- und Katastrophenhilfe 2018 Marakesch Marokko Intergovernmental Conference to Adopt the Global Compact for […] Migration Migration Wiederholungen von großen thematischen Weltkonferenzen (oft im Rahmen der GV) , z.B.: Rio + 10, + 20, … Weltkonferenz/ “Weltgipfel“ für nachhaltige Entwicklung Beijing +10, … Tagung der Kommission für die Rechtsstellung der Frau Mehr oder weniger regelmäßige Konferenzen (Auswahl) allgemein Konferenz der Vereinten Nationen zur Standardisierung geographischer Namen Entwicklung Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung/ United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD I - XIV …) Konferenz der Vereinten Nationen über Entwicklungsfinanzierung Konferenz der Vereinten Nationen über Wohn- und Siedlungswesen/ United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development (UN-Habitat) Umwelt/ Klima Weltkonferenz über die Verringerung des Katastrophenrisikos/ UN World Conference on Disaster Risk Reduction (WCDRR) als „Gipfel“-Segment der tagenden Generalversammlung/ Summit on Climate Change Regelmäßige Vertragsstaaten-Konferenzen (conference of parties)/ Überprüfungskonferenzen z.B zu: Frieden: Abrüstung Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen Übereinkommen über das Verbot bestimmter konventioneller Waffen Übereinkommen über die biologische Vielfalt Vertrag über den Waffenhandel (ATT) Aktionsprogramm zu Klein- und Leichtwaffen Menschenrechte Überprüfungskonferenzen für neun Menschenrechtsverträge Entwicklung Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption Umwelt/ Klima Klimarahmenkonvention (UNFCCC), bisher CoP 1 - CoP 25 … Montreal-Protokoll <?page no="133"?> 133 7.4 Gruppenbildung Thematische Konferenzen können die multilaterale Bearbeitung eines Problems voranbringen, indem sie es ermöglichen, ▶ Sichtweisen, Informationen und Expertise auszutauschen und zu diskutieren, ▶ Handlungsbedarf gemeinsam festzustellen, ▶ Konsens über Werte und Normen für Lösungsstrategien herzustellen, ▶ Lösungsstrategien zu formulieren und dafür Handlungsempfehlungen zu geben oder gar zu verpflichtenden Entscheidungen zu kommen, ▶ ein völkerrechtliches Vertragswerk dazu zu verhandeln und auszuarbeiten, ▶ finanzielle und andere Mittel zu mobilisieren, ▶ öffentliche Aufmerksamkeit und Problembewusstsein in den Gesellschaften der Teilnehmerstaaten zu wecken. Eine gelingende Konferenz kann den Entwurf eines internationalen Vertrages beraten und empfehlen, der bindende Verpflichtungen schafft, wenn die Regierungen der Empfehlung folgen und ihn in Kraft setzen. Nicht gelingende Konferenzen bieten immerhin motivierende Reden und Apelle; oft verabschieden sie auch einen Aktionsplan (plan of action), dessen Umsetzung sich dann gut auf einer Folgekonferenz auswerten und diskutieren lässt, um einen modifizierten Plan auszuarbeiten und der Welt vorzulegen. Weltkonferenzen“ und „Weltgipfel“ sind immer auch als politische Inszenierungen zu verstehen, die der Sache durchaus abträglich sein können: durch den medial vermittelten ordentlichen Vollzug von politischen Ritualen kann die Lage beschönigt, vom Kern des Problems abgelenkt und schlechtes Gewissen beruhigt werden, indem vorgeführt wird, es werde ja hier und jetzt etwas getan (siehe 7.5). Literaturverweis zu 7.3.: Berichte und Konferenzen Einsiedel/ Pichler Fong 2017; Fomerand 1999; Kaufmann 1988; Messner/ Nuscheler 1996; Schechter 2001; Wesel 2004 <?page no="134"?> 134 7. Arbeitsweisen und Methoden 7.4 Gruppenbildung Die bis dahin bedeutendste und wohl auch größte internationale Konferenz der Geschichte war die Gründungs-Konferenz der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco, die deren Charta fertig aushandelte und beschloss (siehe 3.2). Obwohl nur 50 Delegationen teilnahmen, war es nicht mehr möglich, dass alle mit allen reden konnten. Die Kommunikation untereinander musste nach gründlicher Vorarbeit kanalisiert werden: Eine schon weit ausgearbeitete Vorlage bot die Grundlage; die nicht überschaubare Verhandlungsmaterie wurde auf Ausschüsse und Unterausschüsse verteilt; deren Arbeit sollte ein Lenkungsgremium aus allen Delegationsleitern steuern, das aber um der Effizienz willen die Vor-Entscheidung über die wichtigsten Fragen wiederum an einen kleineren Rat delegierte - in diesem waren natürlich die wichtigsten Mächte alle vertreten. Wie von selbst bildeten sich dabei Ländergruppen oder zumindest feste Gesprächskreise, die den einzelstaatlichen Interessen gemäß nach politischen Motiven und aus sachlichen Gründen gegeneinander abgegrenzt waren; ein Staat konnte bei unterschiedlichen Fragen auch in verschiedenen Gruppen mitarbeiten. Diese Arbeitsweise charakterisiert die UNO seit ihrer Gründung: Die Bildung von Gruppen von Staaten ist für die multilaterale Diplomatie wegen der Vielzahl der agierenden und verhandelnden Staaten als Komplexitäts-Management nötig, um die Kooperation zu strukturieren und organisieren. Aber es gibt auch politische Gründe dafür, die eigenen Positionen und Aktivitäten abzustimmen und zusammenzuführen in Gruppen gleichgesinnter („like-minded“) Regierungen: Ländergruppen verschaffen den schwächeren Akteuren mehr Einfluss und den stärkeren mehr Legitimität. Auch innerhalb der UNO gilt, dass Interessen durch Bündelung hörbarer artikuliert und durch koordiniert ausgeübten politischen Druck wirksamer durchgesetzt werden können. Die Bildung informeller Gruppen ist offiziell weder in der VN-Charta noch in den Geschäftsordnungen („rules of procedure“) von Generalversammlung und ECOSOC oder Sicherheitsrat vorgesehen, wurde aber in der Praxis zum alltäglichen Arbeitsinstrument von größtem Wert. Weil die Gruppen zumindest am Anfang der Zusammenarbeit über keinen eigenständigen organisatorischen Apparat verfügen, stellen die Regierungen einzelner die Gruppe anführender Staaten nötige administrative, infrastrukturelle und kommunikative Mittel, aber sie werden auch durch Kommunikationskanäle und mit Serviceleistungen der UNO unterstützt; so konnte die Gruppe der 77 (G77) die Strukturen der UNCTAD nutzen, ihrer Untergruppe G24 wird sogar vom IMF-Sekretariat geholfen. Sollte sich die Arbeit einer Gruppe auf Dauer bewähren, können eigene Arbeitsstrukturen wie kleinere Verbindungsbüros oder Sekretariate eingerichtet werden; selten entwickeln sich interessendefinierte Ländergruppen zu einer formellen Internationalen Organisation wie z. B. die Organisation der erdölexportierenden Staaten (OPEC) schon in den 1960er-Jahren. Über Jahrzehnte entstanden und verschwanden Dutzende Gesprächskreise und „Freundeskreise“ von „gleichgesinnten Staaten“ („group of like-minded states“), Ad-hoc-Gruppen, Arbeits- und Kontaktgruppen, regelmäßig tagende Gruppen oder gar „Koalitionen“ („coalition of the willing“) usf. Der Anlass zur Bildung einer Gruppe ist häufig eine internationale Konferenz, vor oder auf der sich die Staatenvertreter möglicherweise erst einmal pragmatisch <?page no="135"?> 135 7.4 Gruppenbildung sortieren müssen, um wirksam verhandeln zu können; also kommt es auch zu eher spontanen Allianzen, die dauerhaft werden können, wenn sie sich bewähren. Manche „Group of “-Auftritte sind nur kurzfristig oder in sehr speziellem Kontext zu sehen und kommen kaum über das Benanntwerden hinaus. Andere werden über lange Zeit hin zu festen Institutionen. Gruppen können je nach ihrer Zielsetzung und der politischen Situation aus eher gleichartigen oder auch aus sehr verschiedenen Staaten zusammengesetzt sein. Die Motive für das Entstehen und Bestehen einer Gruppe sind so vielfältig wie die in der UNO behandelten Themen und verfolgten Interessen. Staaten finden sich zu Gruppen entlang von Konfliktlinien aufgrund ihrer gleichgerichteten Absichten, ▶ etwas zu fordern oder zu erreichen, ▶ etwas zu verweigern oder zu verhindern ▶ oder schlicht konkurrierende Staaten zu behindern. Sachliche Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe können machtpolitischer oder geopolitischer, politisch-thematischer und vor allem wirtschaftlicher Art sein; Gefährdung kann ein entscheidender Grund sein - durch militärische Bedrohung und zunehmend durch Umweltprobleme, zumal durch den Klimawandel. Nach welchen Merkmalen und Kriterien auch immer sich Staaten in Gruppen sortieren, ihre Anführer können darauf beschränkt für die anderen sprechen und so das Geschehen überschaubarer machen. Ein systematischer Überblick über die Vielfalt der kurzlebigen oder dauerhaften Staatengruppen ist schwierig, aber eine grobe Typologie zeigt: ▶ Die Zusammenarbeit in einer Gruppe kann in erster Linie (macht)politisch motiviert sein, wie z. B. die „Blockfreienbewegung“ zur Zeit der Ost-West-Konfrontation oder der Versuch der „G4“, gemeinsam auf eine Reform des Sicherheitsrats zugunsten ihrer eigenen politischen Aufwertung hinzuarbeiten. ▶ Die meisten Gruppen bilden sich jedoch - nicht weniger selbstsüchtig - aus wirtschaftlichen Motiven, oft einfach entlang des Interessengegensatzes „arm“ (G77/ „group of “) gegen „reich“/ neureich (G7/ G8, G20); die „globalisierten“ Konfliktstoffe sind Freihandel, Entwicklungspolitik und Währungsstabilität, weltregionale Dominanz und Konkurrenz. ▶ Auch ihre ähnliche geographische oder geopolitische Lage kann die unterschiedlichsten Länder gemeinsame Interessen verfolgen lassen, so z. B. die große Gruppe der kleinen Länder, die Gruppe der vom Zugang zu einem Seehafen ausgeschlossenen („landlocked countries“) oder umgekehrt die der vom Meer umschlossenen Inselstaaten. ▶ Letzere bilden notgedrungen den Kern der Gruppen der Länder, die ein besonderes Problembewusstsein hinsichtlich des Klimawandels und der Umweltzerstörung verbindet. ▶ Eine eher spezielle Motivation ist die Reaktion auf die Aktivität einer anderen Gruppe, was manchmal lächerlich wirkt, aber immer ernst gemeint ist (wie die „Coffee group“ zur Verhinderung der Ziele der G4), wobei es aber auch gute machtstrukturelle Gründe für eine negative/ abgrenzende Identität geben kann (wie bei „JACKSNNZ“ aus Industrieländern, die nicht Teil der EU sind - und ohne die USA), oder was zumindest der <?page no="136"?> 136 7. Arbeitsweisen und Methoden Versuch sein kann, andere politische Optionen zu verfolgen als die vorherrschenden (wie die G3G gegen die G20). ▶ Die EU als Gruppe hat an Gewicht gewonnen, was an ihrer gewachsenen Mitgliederzahl, aber auch an ihrer überraschend gut funktionierenden und eng abgestimmten Zusammenarbeit liegt: die nun 28 (nach dem „Brexit“ 27) Regierungen der Europäischen Union (EU) sprechen i. S. der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) zumindest in den meisten der Gremien der UNO inzwischen mit einer Stimme - der des Vertreters des Landes, das den EU-Vorsitz innehat, denn die EU hat als supranationale Organisation in der UNO zwar Beobachterstatus ohne Stimmrecht, kann aber mangels eigener Staatlichkeit nicht Voll-Mitglied sein; allerdings hat(te) für die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien ihr ständiger Sitz im Sicherheitsrates im Zweifelsfall eindeutig den politischen Vorrang vor den Interessen und Beschlüssen der EU. ▶ Denn die bei weitem wichtigste und gewissermassen mit der Konstruktion des Sicherheitsrates in der Charta der UN geborene Gruppe ist der definitiv im Wortsinn exklusive Club der „p“, also der „permanent five“, der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich). ▶ Diese Gruppe bleibt in den entscheidenden Momenten zwar gerne unter sich, aber der Pragmatismus multilateraler Diplomatie ermöglicht es, flexibel und informell spezielle Gruppierungen zu einem speziellen Problem oder Vorhaben zu bilden (z. B. als Kontaktgruppe zum Problem der atomaren Rüstung Irans die „G5+1“ aus den p und Deutschland); gelegentlich bilden sich auch Gruppen als „Freunde des Generalsekretärs“ auf dessen Initiative oder in Absprache mit ihm für besondere Vorhaben, z. B. einzelne Reformversuche. ▶ Natürlich finden sich in großen Gruppen wiederum Untergruppierungen (wie die „G24“ als finanz- und währungspolitische Teilgruppe der klassischen „G77“ oder innerhalb der politisch rasch aufgewerteten „G20“ die alten Industrieländer von „G7“ und die BRIC“/ “BRICS“-Gruppe der aufstrebenden Ökonomien). <?page no="137"?> 137 7.4 Gruppenbildung Staaten-Gruppen in der UNO bzw. in der internationalen Politik Abk./ Name/ seit Art der Länder/ des Interesses Mitglieder/ Teilnehmer ⇒ politisch vorrangig „p5“ 1945 Permanent Five Die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der UNO USA, RF, VRCh, F, GB (macht)politisch G4 2004/ 2005 Bewerber um neue ständige Sitze für eine (nicht realisierte) Erweiterung des Sicherheitsrats Brasilien, Deutschland, Indien, Japan „Coffee group“ oder „Uniting for Consensus group“ 1995/ 2005 Gegner der Erweiterung des Sicherheitsrats aus politischen Gründen, aber 2005 auch aus Konkurrenz mit den scheinbar aussichtsreichen Kandidaten unter Führung Italiens Ägypten, Mexiko, Pakistan, später Argentinien, Türkei u.v.m. L.69 Group of Developing Countries 2007 Umfassende Reform des Sicherheitsrats Indien und über 40 Entwicklungsländer JACKSNNZ [nach den Ländernamen] 2006 Schutz der politischen und wirtschaftlichen Interessen von Industrieländern, die nicht Mitlglieder der EU sind, unter Ausschluss der USA Japan, Australia, Canada, South Korea, Switzerland, Norway and New Zealand wirtschaftliche und soziale Entwicklung G77 Gruppe der 77 Group of 77 1964 → siehe G24 Versuch der Zusammenarbeit der Entwicklungsländer, um entwicklungspolitsche, wirtschaftliche und finanzielle Interessen des Südens zu bündeln, zu artikulieren und politisch zu vertreten durch ihre koordinierte Verhandlungsmacht und ihr gemeinsames Stimmpotential, zudem auch um die Süd-Süd-Zusammenarbeit zu stärken anfangs 77 in der UNO vertretene Staaten der sog. Dritten Welt, inzwischen 134 LDCs Last Developed Countries 1971 Am wenigsten entwickelte Länder [eher eine Klassifikation als eine aktive Ländergruppe] 47 ärmere Entwicklungsländer LMDC Like Minded Group of Developing Countries 2005 Organisierter Block, z. B. in Handels- (WTO) und Klima-Verhandlungen (UNFCCC) Über 20 größere Entwicklungsländer, auch die VR China finanz-/ währungspolitisch G5 ab 1973 Treffen der Finanzminister und der Zentralbankchefs der weltwirtschaftlich stärksten und führenden Länder bzw. der weltpolitisch wichtigsten Staaten des Westblocks Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan, USA G24 1971 → siehe G77 Untergruppe der G77, koordiniert und verhandelt die Positionen der Entwicklungsländer zu Währungsfragen und Entwicklungsfinanzierung in Zusammenarbeit mit IMF und IBRD 24 Entwicklungsländer, alle anderen 110 Länder der G77 nur Gäste <?page no="138"?> 138 7. Arbeitsweisen und Methoden Staaten-Gruppen in der UNO bzw. in der internationalen Politik Abk./ Name/ seit Art der Länder/ des Interesses Mitglieder/ Teilnehmer weltwirtschaftlich/ weltwirtschaftspolitisch (und mehr …) G7 ab 1975/ 1976 Erst „Kamingespräch“, dann regelmäßig organisierte „Gipfel“-Treffen der Regierungschefs der weltwirtschaftlich stärksten/ führenden Länder für Konsultation, Kooperation und Abstimmung besonders aber nicht ausschließlich ihres wirtschaftspolitischen Handelns Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, USA, seit 1976 auch Kanada G8 ab 1998 wie G7, aber die sich erholende Großmacht einbeziehend G7 plus Russland G8+5 2007 wie G8, aber erweitert um fünf Schwellenländer/ neue Industrieländer G8 plus Brasilien, China, Indien, Mexiko, Südafrika G20 seit 1999, aufgewertet ab 2008 Regelmäßige Arbeits- oder „Gipfel“-Treffen der Finanzminister/ Zentralbankchefs oder auch der Regierungschefs der weltwirtschaftlich stärksten/ führenden alten Industrie-Länder zusammen mit den wichtigsten Schwellenländern/ neuen Industrieländern vor allem des Südens (19 Staaten und die EU) zum Zweck der Konsultation, Kooperation und Abstimmung besonders aber nicht ausschließlich ihres wirtschafts- und finanzpolitischen Handelns G8 plus Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei plus Europäische Union [obwohl kein Staat] Global Governance Group (3G) 2010 Versuch mittlerer und kleiner Staaten, die nicht in der G20 sind, Einfluss zu nehmen auf den G20-Prozess 30 Länder, auf Initiative von Singapur umwelt-/ klimapolitisch AOSIS Alliance of Small Island States 1990 Notgemeinschaft der von Anstieg des Meeresspiegels aufgrund der Klimaerwärmung - z.T. in ihrer Existenz - bedrohten niedrig gelegenen Küsten- und kleinen Inselstaaten; aktiv als Verhandlungsgruppe besonders bei den Klimakonferenzen zur Weiterentwicklung der UNFCCC 44 Staaten, z. B. Bahamas, Dominikanische Republik, Fidschi, Haiti, Jamaika, Kiribati, Kuba, Osttimor, Singapur, Tonga, Tuvalu, Vanuatu Coalition for Rainforest Nations Vereinbarkeit von Forstwirtschaft und Schutz der Regenwälder; nachhaltige Nutzung tropische Länder mit Regenwald CVF Climate Vulnerable Forum 2009 Von den Folgen der Klima-Erwärmung besonders betroffene Länder Malediven und 10 andere Gründungsmitglieder, über 30 weitere Staaten JUSCAN(N)Z [nach den Ländernamen der Gründer] oder Umbrella Group seit ca. 1996 Als Verhandlungsgruppe westlicher Industrieländer ohne die EU-Staaten aktiv im Menschenrechtsrat und anderen Gremien; tritt auf den Klimakonferenzen zur Weiterentwicklung der UNFCCC einflussreich als Umbrella Group auf Andorra, Australia, Canada, Iceland, Israel, Japan, Liechtenstein, Monaco, New Zealand, Norway, Switzerland, USA <?page no="139"?> 139 7.4 Gruppenbildung Staaten-Gruppen in der UNO bzw. in der internationalen Politik Abk./ Name/ seit Art der Länder/ des Interesses Mitglieder/ Teilnehmer Abrüstung GIS Group of Interested States in Practical Disarmament Measures; Kleinwaffenaktionsprogramm Offenes Forum auf Initiative Deutschlands NAC New Agenda Coalition 1998 Mittelgroße Mächte versuchen Konsens für nukleare Abrüstung aufzubauen Brasilien, Ägypten, Irland, Mexiko, Neuseeland, Südafrika NPDI Non-Proliferation and Disarmament Initiative 2010 Arbeitsgruppe zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Atomwaffensperrvertrags (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons/ NPT) Australien, Kanada, Chile, Deutschland, Japan, Mexiko, Niederlande, Nigeria, Philippinen, Polen, Turkei, VAE regional EU [ → GASP] Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) die 28 (27) EU-Staaten → geographischer Proporz Fünf regionale Blocks: Afrika / / Asien/ Pazifik / / Osteuropa / / Lateinamerika/ Karibik / / Westeuropa und andere Die Arbeit der UNO wird in allen Bereichen auf allen Ebenen wesentlich bestimmt durch eine Form der Kooperation in festen Gruppen, die schon durch die Charta als Proporzregel vorgegeben ist: Geographisch definierte regionale und sub-regionale Ländergruppen vertreten nicht nur die regionsspezifischen politischen und wirtschaftlichen Interessen (z. B. in den regionalen Wirtschaftskommissionen des ECOSOC), sondern organisieren vor allem die Kandidaturen einzelner Länder für die Wahlen in einzelnen Organe (z. B. den Sicherheitsrat und den ECOSOC), Nebenorgane (wie den Menschenrechtsrat/ HRC) oder auch einzelne Ämter (wie das des Generalsekretärs); dabei sind formal oder wenigstens informell bestimmte Verteilungsschlüssel nach Weltregionen vorgesehen: Für den Sicherheitsrat „eine angemessene geographische Verteilung der Sitze“ (VN-Charta Art. 23), was nicht die ständigen Sitze betrifft, deren Inhaber ja gesondert benannt sind; für das Sekretariat eine „Auswahl der Bediensteten auf möglichst breiter geographischer Grundlage“ (VN Charta Art. 101). Auf der politischen Weltkarte der UNO sind derzeit verzeichnet: Afrika/ African Group, Asien-Pazifik/ Asia-Pacific Group, Osteuropa/ Eastern European Group, Lateinamerika und Karibik/ Latin American and Caribbean Group, Westeuropa und andere/ Western European and Others Group. Für wichtige Ämter gelten weiter einige ungeschriebene Regeln: Die Weltregionen, aus denen der/ die Generalsekretär/ in stammt, sollen ausgewogen einander folgen - nach drei „afrikanischen“ Amtsperioden durch Boutros-Ghali und Annan wieder zwei „asiatische“ mit Ban Ki-Moon, aber nun überraschend mit Guterres schon wieder eine westeuropäische statt der angesagten osteuropäischen. Aus dem Kontext des Kalten Krieges stammt die Weisheit, dass der Generalsekretär kein US-Amerikaner oder (Sowjet-)Russe sein dürfe; dagegen ist der/ die Weltbank-Chef/ in traditionell US-amerikanisch, der/ die IMF-Chef/ in europäisch - solange noch die BRICS-Staaten mitmachen. Die Eignung von Frauen für die Spitzenäm- <?page no="140"?> 140 7. Arbeitsweisen und Methoden ter - wie die von Männern - dürfte weiterhin vorrangig durch ihre geopolitische Herkunft definiert werden, dann erst durch ihr Geschlecht oder ihre Kompetenz. Ohne die Organisation des politischen Willens, Redens und Handelns in und durch Staatengruppen wäre international-multilaterale Kooperation nicht arbeitsfähig - aber jede externe Gruppenbildung, also außerhalb und unabhängig von der schwerfälligen UNO, könnte für den universalen Multilateralimus problematisch werden (siehe 2.2). Die G20 sind eine coalition der alten G7/ 8-Industrieländer mit aufgestiegenen Entwicklungsländern, also der wirtschaftlich relevanten Staaten mit dem Großteil der Weltbevölkerung und des Weltsozialproduktes, die - wenn like-minded - dem Rest der Welt - quasi einer nicht organisierten Staatengruppe „G173“ - ihre Absichten zu verfolgen aufgeben könnten. Literaturverweis zu 7.4.: Gruppenbildung Freuding 2005; Herz 2018; Prantl 2006; Schorlemer 2005; Smith 2006 7.5 Konsens und Ritualität Damit die fragile universale Multilateralität nicht in Einzel- oder Gruppenaktionen zerbricht, ist ein hoher Aufwand zur gleichsam sozialen und symbolischen Integration der Staaten notwendig, der das ganze Unterfangen durchaus absurd erscheinen lassen könnte - wenn die Alternativen nicht unerfreulicher wären. Weil Machtressourcen und Spielräume unter den Staaten ungleich verteilt sind, aber fast alle Regierungen bereit sind, ihre Interessen hart durchzusetzen, ermöglichen nur zwei Prinzipien die multilaterale Sisyphos-Arbeit, ▶ die Maxime, dass kein Mitspieler „sein Gesicht verlieren“ oder von anderen in seinem Selbstwert erschüttert werden darf, und ▶ das Konsensprinzip, also meist die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Unter knapp zwei Hundert oder gut sechzehn Dutzend souveränen Staaten, deren Kultur und Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft, politisches System und außenpolitische Interessenlage unterschiedlich strukturiert und orientiert sind, ist Einigkeit in der Sache und zumal im politischen Wollen nicht zu erwarten. Das kaum lösbare Problem bleibt, eine möglichst große Mehrheit der Regierungen wenigstens grob in eine Richtung auf die Vereinbarkeit ihrer Positionen und zur Wahrscheinlichkeit gemeinsamen Handelns zu bewegen - was ja schon mit nur fünfzehn Staaten im Sicherheitsrat oft erfolglos bleibt. Wenn viele und verschiedenartige Delegationen in vielschichtigen Verhandlungen zusammenarbeiten, sind Ergebnisse nur in zeitraubenden kleinen Schritten mittels komplexer Kompromisse zu erreichen, mit denen sich die meisten oder gar alle schließlich einverstanden erklären können. Das Ziel der multilateralen Diplomatie sind folglich nicht tatsächliche Übereinstimmung der Absichten oder gar widerspruchsfreie Abstimmung des Handelns, sondern Konsens über Formulierungen. Sicherlich ist ein Kompromiss im allgemeinen Konsens nicht immer das oberste und wichtigste Ziel jeder verhandelnden Delegation, aber Konsens ist das, <?page no="141"?> 141 7.5 Konsens und Ritualität was zumindest als Mindesterfolg erreicht werden muss, denn meist stellt sich nur die Alternative: lautstark scheitern oder leise weitermachen. Der immanente Zwang zum Konsens lässt die multilaterale Arbeit häufig unsinnig erscheinen - macht sie aber auch erst möglich. Abstimmungen über Resolutionen im Sicherheitsrat sind auch mir knappster Mehrheit erfolgreich und potentiell folgenreich; alle anderen Beschlüsse anderer Organe durch Mehrheitsentscheidungen nach Kampfabstimmungen nach streitiger Debatte sind politisch völlig wert- und folgenlos, eben weil keine weltstaatliche Instanz jenseits der Souveränität der Staaten ihre Umsetzung auslösen, erzwingen, überwachen könnte. Aber auch wenn es keine konkreten Konsequenzen hat, lassen sich die Regierungen souveräner Staaten auf Dauer ungern überstimmen. Wenn die mächtigsten Mitgliedsländer und wichtigsten Beitragszahler häufig in der überstimmten Minderheit wären, würde eine solche Missachtung der realen Machtverhältnisse die UNO beschädigen - wie beim Völkerbund gingen wichtige Staaten einfach nicht mehr hin. Das erklärt auch das Bemühen, Abstimmungen tunlichst zu vermeiden und Beschlüsse per Akklamation anzunehmen, sogar wenn Gegenstimmen zu erwarten wären, womit keine Regierung des lieben Friedens willen zustimmen muss, ihre Ablehnung aber nicht so auffällt; auch diese paradoxe Konsens-Pflege ist sinnvoll, damit der Arbeitsprozess vorankommen oder zumindest weitergehen kann. Damit Regierungen bereit werden, wenigstens ein wenig ihrer Souveränität an zwischenstaatliche Instanzen oder dereinst an globale Regelungssysteme abzugeben, müssen sie dem jeweiligen Vorhaben zumindest einmal prinzipiell und möglichst noch mehrfach routinemäßig zugestimmt haben. Wenn dann ein von der eigenen Zivilgesellschaft, anderen Regierungen oder internationalen Organisationen ausgeübter normativer Druck ausreichend stark und lange anhält, kann auch eine anfangs widerwillige gegebene Zustimmung oder nur vorgetäuschte Unterstützung eine Eigendynamik auslösen; so kann aus einem nur symbolisch-rhetorischen Konsens tatsächliche Aktivität erwachsen - muss aber nicht. Die Option, als Alternative die umständlichen und wenig produktiven multilateralen Spielregeln mit ihrem Konsenszwang nicht zu beachten, sondern als einzelner Staat oder als Gruppe voranzugehen und andere zum Nachziehen zu zwingen, kann in bestimmten Situationen erfolgreich sein, aber nur, ▶ wenn Staaten aus hoher Machtposition das tun und/ oder ▶ wenn das Problem nicht globaler Art ist, sondern räumlich und zeitlich unterschiedlich behandelbar. Es reicht anderseits nicht aus, nur die mächtigen Regierungen zu verpflichten, wenn bei globalen Vorhaben wie dem Umweltschutz auch möglichst viele schwächere Staaten mitmachen sollen. Zwar klingt es zynisch, doch das Ringen um Konsens oder wenigstens widerwillige Zustimmung kann gerade dann ausschlaggebend sein, wenn es wie z. B. bei der Bestandsaufnahme von Menschenrechtsverletzungen wesentlich darauf ankommt, dass auch die Vertreter von denjenigen Regierungen, in deren Verantwortungsbereich diese Verletzungen geschehen, das Ergebnis absegnen können. Wenn ein innerstaatlicher politischer Gegner seine Haltung partout nicht aufgeben will, ist immer noch zu hoffen, dass er bald einmal abgewählt oder <?page no="142"?> 142 7. Arbeitsweisen und Methoden abgelöst wird, während sich außenpolitische Interessenlagen und Positionen selten abrupt ändern - also irgendwie eingebunden werden müssen. Konsens ist das leitende Prinzip der multilateralen Arbeitsweise und Ritualität ihr probates Allheilmittel. Zwang und Drang zum Konsens erfordern eine Reihe von rituellen Handlungen, durch die Konsens hergestellt, bestätigt und fortwirkend gesichert werden kann - auch und gerade dann, wenn in der Sache eigentlich eine Einigung nicht oder noch nicht möglich ist.UNO-typische Rituale zeigen sich ▶ im unaufhörlichen Reden, ▶ in der schier grenzenlosen Produktion von Texten in Schriftform, ▶ zumal in nicht verbindlichen Resolutionen, ▶ in institutioneller Auslagerung von Problemen, ▶ in Ersatzhandlungen durch Inszenierungen wie „Weltgipfel“. Alle diese Aktivitäten haben schon ihren rationalen sachlichen Zweck - aber sie sind auch oder gerade eben in der symbolischen Dimension wirksam. Auch außerhalb internationaler Organisationen wohlbekannt, wird die Methode der rituellen Problemverschiebung durch Auslagerung in neu zu gründende Institutionen in der UNO erratisch genutzt: Sei es nur ein Fachausschuss oder eine kleine Kommission, sei es eine ganze Sonderorganisation - das neue Instrument hat sich dann um den störenden Ärger zu kümmern oder ihn wenigstens dauerhaft zwischenzulagern. Der Sinn von Resolutionen (Thiel/ Thome 1987, S. 29; Hervorhebungen R.W.) [Der Sinn von Resolutionen ist es,] „den Interessen einer Mehrheit von Staaten Geltung vor der Weltöffentlichkeit zu verschaffen und dadurch demjenigen Adressaten, der mit Berufung auf seine eigenen Interessen die Akzeptierung und/ oder Erfüllung des Anspruchs verweigert, moralisch an den Pranger zu stellen und offenkundig werden zu lassen, dass er allgemein anerkannte Normen und Werte, auf denen die Forderung beruht, missachtet. So betrachtet, sind Resolutionen wirksam, auch wenn sie unerfüllt bleiben, und die Verabschiedung einer Resolution hat ihren vollen Sinn auch dann noch, wenn von vorneherein klar ist, dass der Adressat sie nicht erfüllen wird.“ Wenn man auch Resolutionen als rituelle Handlungen versteht, nicht nur als Sprachhandlungen in politischem Kontext, wird erklärlich, warum es so viele Resolutionen geben muss, obwohl sie keine unmittelbare Wirkung zeigen: Ihr Sinn ist es, vollzogen zu werden - mit Hintersinn, selbst wenn dieser unbewusst bleibt. Eine schöne „Weltkonferenz“ oder ein auffälliger „Gipfel“ mit internationalem Spitzenpersonal kann ähnliche Dienste leisten, als Spektakel sogar sichtbarer; wenn wir in der Problemlösung oder auch schon in der Definition des Problems nicht so recht weiterkommen, zeigen wir wenigstens: Wir tun was. <?page no="143"?> 143 7.5 Konsens und Ritualität Sogar das ihre Arbeit stets begleitende Kritisieren der UNO und die an- und abschwellenden Debatten zu ihrer Reform sind als ableitende Rituale zu verstehen. Zwar sind es die internationale Welt und die meisten Staaten, die ganz und gar nicht in Ordnung sind - wie und wieso sollte dann „die UNO“ in Ordnung sein können? Aber ein guter Sündenbock ist auch hilfreich. „Die UNO“ als Ritual (O’Brien 1971, S. 11 und 18 f.; Hervorhebungen R.W.) […] „der für eine Untersuchung der Vereinten Nationen notwendige Zynismus muss an einigen Stellen der Reverenz an eine Institution weichen, die ein Gebet der Menschheit an sich selbst und um Schutz vor sich selbst darstellt. Dieses Gebet ist oft ein absurdes und sogar unehrenhaftes Schauspiel: der Zuschauer muss sich vor Augen halten, dass hinter all dem Unsinn die Dimension des Sakralen bestehen bleibt. Wie die Liturgie nach den Worten Guardinis ist auch das UN-Schauspiel ‚zwecklos, aber doch sinnvoll‘.“ [Dieser Sinn entsteht im Ritual. Die Zufriedenheit, die durch die Phrasen der UN-Rhetorik hervorgerufen werden könne, entspricht] „tatsächlich der Zufriedenheit von Gläubigen im Gebet: das Empfinden einer gemeinsamen Sehnsucht, der Appell an eine höhere Gewalt, symbolisiert in diesem Fall durch den Sicherheitsrat und die Vollversammlung. Damit verbindet sich das Versprechen, sich immer wieder zum gemeinsamen Glaubenszeremoniell zu versammeln, ferner das Gefühl, das Befürchtete könne abgewendet werden und das erhoffte Ziel durch die feierliche und gemeinsame Wahl passender Worte erreicht werden. Dieses Gebet konzentriert sich immer dann auf die Vereinten Nationen - wie auf eine heilige Stätte -, wenn […] wieder einmal die Geißel des Krieges droht. Erst das Gebet macht das Drama sakral.“ Politische Rituale als Arbeitsmittel der Multilateralität ▶ vermeiden chancenlose Anstrengungen in unproduktivem Streit und ▶ bieten einen Ausweg aus blockierten Situationen, wenn in der Sache sich nichts bewegen lässt. Ob solche rituellen Heilungsversuche ▶ sich als sinnvoll erweisen, weil sie es erlauben, eine Situation offen zu halten, bis sich neue Möglichkeiten entwickeln können, oder ▶ sie ein Problem nur verschleiern und damit eine echte Lösung behindern, und/ oder ▶ uns allenfalls ablenken und unterhalten werden, bis es ohnehin zu spät ist, kann nur am konkreten Problem beurteilt werden. Literaturverweis zu 7.5.: Konsens und Ritualität Becker 2014; Boyd 1967; Dudley 1994; O’Brien 1968/ 1971; Smith 2006; Wesel 2004 <?page no="144"?> 144 7. Arbeitsweisen und Methoden 7.6 Inkrementelles „Durchwursteln“ Die ständige Übung im Basteln von konsensorientierten Kompromissen trug wahrscheinlich wesentlich bei zur Entwicklung einer für die UNO typischen Fähigkeit, dem inkrementellen „Durchwursteln“ („muddling through“); das Attribut „inkrementell“ soll bedeuten, dass nicht eine große sichtbare Veränderung im Ganzen planvoll und konsequent in einem Zug bis zum definierten Zielzustand durchgeführt wird, sondern viele kleine Veränderungen diskontinuierlich Schritt für Schritt und vielleicht erst mal versuchsweise angestoßen werden und sich dann stufenweise aufeinander aufbauend zu Zuwachs und Korrektur einer komplexen Struktur entwickeln. Statt eines absichtsvoll ausgearbeiteten Plans und einer logischen Folge formeller Akte braucht es dafür nur einen - möglicherweise stillschweigend, aber jedenfalls inoffiziell gewachsenen - Konsens, wo denn die Probleme liegen und in welche Richtung die Lage zu verbessern wäre. Eine solche pragmatisch-evolutionäre Methode vermeidet institutionelle Widerstände, um festgegründete, aber auch festgefahrene multilateral-universale Institutionen flexibel nutzen zu können. Wenn formell vollzogene Änderungen der Charta der Vereinten Nationen kaum mehr machbar sind, bleibt in einer sich verändernden Welt ohnehin kein anderer Weg als passable Schlupflöcher zu finden. In der UNO zeigt sich denn auch von Anfang an ein überraschendes Maß an unkonventioneller und kreativer Flexibilität, wenn es darum geht, unvorhersehbare Probleme anzugehen und starre Regeln passend umzuinterpretieren; lehrreiche Beispiele dafür sind unter vielen anderen: ▶ Die Bildung von informellen Gruppen von Staaten, die aufgrund ihrer gleichartigen Interessen und/ oder entlang bestimmter Konfliktlinien und Problemstellungen zusammenarbeiten (siehe 7.4). ▶ Die Zurückhaltung des Sicherheitsrats bei der Ausarbeitung einer Geschäftsordnung, um sich möglichst wenig zu binden, sondern den Spielraum weit zu halten (siehe 6.1.2). ▶ Die Erfindung und Weiterenwicklung von „Kapitel 6½“ für in der VN-Charta nicht vorausgesehene Friedensbedrohungen durch nicht-staatliche Konfliktparteien (siehe 8.1.2). ▶ Die geräuschlose Umbesetzung der Sicherheitsratssitze Chinas und der Sowjetunion nach Regimewechsel (siehe 6.1.2). ▶ Die Masse der von der VN-Charta nur sehr pauschal legitimierten Neugründungen von Institutionen - auch zu Auslagerungen von Problemstoffen, auch mit politisch motivierten Überschneidungen/ Doppelungen von Kompetenzen. ▶ Die Fortentwicklung der Arbeitsweise des Sicherheitsrats als Reaktion auf Kritik ohne formelle Änderung der Regeln (siehe 6.1.2). ▶ Die Neuerungen (Nuancen in Usancen) beim Wahlverfahren für den Generalsekretär (siehe 6.1.6). ▶ Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs über deren in der VN-Charta vorgesehenen Rolle in einer zwischenstaatlichen Organisation hinaus (siehe 7.7) In allen Fällen hat informell-innovative Flexibilität die Arbeits- und Handlungsfähigkeit gewahrt oder verbessert, selten aber den nötigen Aufwand verringert, jedoch oft die Effizienz <?page no="145"?> 145 7.7 Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs erhöht. Wenn allerdings Institutionen und Verfahren der UNO ohne breiten Konsens flexibel genutzt, pragmatisch manipuliert oder einfach übergangen werden, um partiale Interessen zu verfolgen, könnte das die multilateral-universale Kooperation nicht nur ändern, sondern gefährden. Die zweifellos oft fragwürdigen und meist intransparenten Methoden des „Durchwurstelns“ bieten gleichwohl die besten Chancen zur Reform der UNO (siehe 9.2); wahrscheinlich liegt in der kreativen Fähigkeit zu unkonventionellen Verfahren das entscheidende Potential von internationaler Kooperation. Literaturverweis zu 7.6.: Inkrementelles „Durchwursteln“ Daase 2009; Hulton 2004; Prantl 2006, 2007; Goede 2014; Gordenker/ Jönsson 2018; Weinlich 2015 7.7 Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs Internationale Kooperation darf nicht nur die Staatenwelt, sondern muss auch die Gesellschaftswelt angehen oder sogar von ihr ausgehen. Neuere Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Instanzen und zivilgesellschaftlichen Akteuren haben auf der international-multilateralen Politikebene konstitutive Bedeutung: Die (I)NGOs (siehe 2.3) artikulieren Bedürfnisse, Interessen und normative Maßstäbe für die Formulierung von aufzugreifenden Themen und bringen spezifisches Wissen sowie zivilgesellschaftliche Präsenz in Versuche zur Problemlösung ein. Die Arbeit der UNO ist auf die Mitarbeit der (I)NGOs inzwischen vielfach angewiesen, besonders bei Menschenrechtsschutz (siehe 8.2.2), Entwicklungszusammenarbeit (siehe 8.4.2) und Umweltschutz (siehe 8.5.2); ohne die konkreten Informationen über die Situation vor Ort könnten manche internationale Überwachungsmechanismen und viele Projekte nicht funktionieren. Im Arbeitsbereich des ECOSOC (also entwicklungs-, gesundheits-, sozialpolitische und humanitäre Programme und Fonds) dienen nichtstaatliche Organisationen schon lange als konkrete Träger der Durchführung von Projektarbeit vor Ort, die ohne Kapazitäten und Erfahrungen der NGOs meist gar nicht möglich wäre. Zivilgesellschaftliche Akteure - Verbände, Organisationen, Gruppen und auch Einzelpersonen - wurden darüber hinaus immer stärker für Informationsgewinnung, in konzeptionelle Überlegungen und auch einzelne konkrete Verhandlungen einbezogen. Deswegen sind viele von ihnen als Vertreter gesellschaftlicher Interessen mit Konsultativ-Status und begrenzten Partizipationsmöglichkeiten anerkannt - wofür der ECOSOC ohnehin zuständig ist (siehe 6.1.3). Vertreter der Zivilgesellschaft können von jeher an Sitzungen und Konferenzen der Vereinten Nationen teilnehmen - wenn eine nationale Delegation sie als offizielle Regierungsdelegierte aufnimmt; dieses Huckepackverfahren erlaubt natürlich keine unabhängige Vertretung der Zivilgesellschaft. Die UNO, wiewohl strikt eine zwischen-staatliche Organisation, hat eine bis in ihre Gründungsphase zurückreichende Tradition des freundlichen Umgangs <?page no="146"?> 146 7. Arbeitsweisen und Methoden mit nichtstaatlichen Organisationen; seit den 1990er-Jahren wurde ihnen im Rahmen der durch die VN-Charta gesetzten Grenzen für Einzelfälle wie Konferenzen oder in spezifischen Arbeitszusammenhängen größere Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte eingeräumt; 1996 wurde ihr Status in der UNO generell und formell neu geregelt: NGOs können einen erweiterten Konsultativstatus erhalten, haben aber weiterhin kein formelles Rederecht, dürfen keine Textentwürfe als offizielle Dokumente im Arbeitsprozess präsentieren und keine offizielle Rolle im Verhandlungsprozess spielen sowie selbstverständlich auch nicht mit abstimmen. Grundsätzlich haben inter- oder transnational operierende NGOs nicht die Stellung in internationalen Organisationen wie sie Vertreter einer aktiven Zivilgesellschaft in nationalen Kontexten haben können: In den entscheidenden Phasen müssen sie draußen bleiben. Zu großen Konferenzen werden gerne gesonderte „NGO-Foren“ veranstaltet, die in ihrer Buntheit das Ereignis schmücken, allerdings den entscheidenden Unterschied zwischen den stimmberechtigten Staaten-Delegierten und freischwebenden Aktivisten erst recht deutlich machen. Da ja die Wirtschaft in nennenswerten Maß zur Zivilgesellschaft zählt, wird seitens der UNO immer wieder versucht, auch Wirtschaftsunternehmen mit speziellen Instrumenten einzubinden, z, B. mit kontrollierten Selbstverpflichtungen menschenrechtliche, soziale und ökologische Standards durchzusetzen oder durch sog. „private public partnerships“ (PPPs) die Zusammenarbeit privater Wirtschaftssubjekte und (zwischen-)staatlicher Stellen anzuregen. Aus der Sicht einer Staatenorganisation muss die Einbeziehung der Zivilgesellschaft zugleich eine komplementäre Abgrenzung zu ihr sichern. Zudem kooperieren die meisten Staaten bzw. ihre Regierungen nur soweit, wie unbedingt nötig; sie nehmen gerne und teilweise sehr intensiv nichtstaatliche Expertise auf und schätzen mobilisierende Unterstützung, versuchen aber ansonsten die NGOs möglichst draußen zu halten. Die Entdeckung der Zivilgesellschaft samt den zustimmungspflichtigen Einsichten in ihre zukunftsträchtige Bedeutung haben wieder übertriebene Erwartungen hervorgerufen wie die wirre Idee, die transnationale Zivilgesellschaft vertreten durch NGOs würde demnächst qua „global governance“ die Weltprobleme regeln (siehe 2.2). Abgesehen von der Beharrungskraft von Staaten stellen sich dem noch andere Hemmnisse entgegen, etwa das schwierige Problem der Legitimität von (I)NGOs - wer oder was berechtigt wen für wen über was wie zu sprechen? Schließlich haben und führen auch zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen untereinander Interessenkonflikte, zumal entlang der Konfliktlinie Nord/ Süd, wie auf jedem internationalen „NGO-Forum“ zu beobachten ist. Die manchmal sehr medienwirksam vollzogene „Einbeziehung“ der NGOs in das multilaterale Geschehen, besonders große Weltkonferenzen und „Gipfel“, kann an rituelle Ersatzhandlungen nach Art der Verabreichung von Placebos an unruhige Patienten erinnern. Allerdings ist der mediale Bedarf an NGOs und umgekehrt ihre Beachtung in den und ihre Wirksamkeit durch die Medien ihre größte Stärke: Junge indisch-globalisierte Menschenrechtsaktivistin kommt besser rüber als alter schwarzafrikanisch-provinzieller Innenminister. So ist wohl der wichtigste Vorteil der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft für eine Internationale Organisation, dass „die NGOs“ die knappste Ressource von Regierungen mobilisieren können: Politischen Willen. In der von Problemen motivierten und an Werten orientierten Meinungsstärke von NGOs einerseits und anderseits in ihrer medial vermittelten <?page no="147"?> 147 7.8 Öffentlichkeitsarbeit Wirkung auf die Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten ist das Interesse des Sekretariats der UNO begründet, die Beteiligung der Zivilgesellschaft in der für sie strukturell unwirtlichen Staatenorganisation zu verbessern. Das unterstützt zumindest die eigene Öffentlichkeitsarbeit. Literaturverweis zu 7.7.: Einbeziehung der Zivilgesellschaft/ NGOs Anheier 2017; Brühl 2003; Fries-Gaier/ Fritze 2018; Murphy 2018; Wapner 2007; Schroeder/ Wapner 2018; Schwenger 2013 7.8 Öffentlichkeitsarbeit Bei der Öffentlichkeitsarbeit kann „die UNO“ Unterstützung brauchen, denn ihre Wertschätzung schwankt seit bald acht Jahrzehnten zwischen hoffnungsfroher Erwartung und harscher Enttäuschung; die verbreiteten Kenntnisse über die kontroversen Probleme und komplizierten Vorgänge in einer Internationalen Organisation sind gering oder lückenhaft, oft einfach falsch. Art und Ausmaß des Einflusses der Massenmedien auf politische, insbesondere außenpolitische Entscheidungen sind umstritten, doch bestimmt jedenfalls auch die medial versorgte öffentliche Meinung die motivierenden Bedingungen und die denkbaren Optionen für das Verhalten der Regierungen der Mitgliedstaaten. Massenmedien und soziale Medien haben dafür sicherlich weiter wachsende Bedeutung - und sei es nur wegen ihrer Mängel. Zumal die visuellen Medien haben typische Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster „der UNO“ entwickelt: Oberflächliche „Schlachtberichterstattung“ betont Konflikt und Dissens; gern gezeigt werden Reisediplomatie des Generalsekretärs oder auch anderer UN-Spitzen und „Blauhelm“-Soldaten irgendwo ohne nachvollziehbares Tun sowie formelle Phasen von Gremiensitzungen, meist nur die Abstimmungen; regelmäßig berichtet wird nur aus dem Sicherheitsrat (oft magisch als „Weltsicherheitsrat“ beschworen), andere UN-Gremien kommen kaum vor - auch von sog. „Weltgipfeln“ sind nur die „Highlights“ wie die Eröffnung durch Staatsoberhäupter oder allenfalls mal eine quälende Nachtsitzung vom Rande her zu sehen. Aktivitäten der bzw. in der UNO sind schwer zu vermitteln, weil dort in befremdlicher Weise und Situation viel geredet wird, worüber vorher noch mehr geredet, geschrieben und verhandelt wurde; statisch wirkende diplomatische Verhandlungen sind schwer zu erklären und ihr Gehalt kaum mit Kameras zu erfassen, während scheinbar tatkräftiges Handeln wie militärische und logistische Aktionen aller Art sich gut „rüberbringen“ lassen. Der private amerikanische TV-Sender CNN wurde in den 1990-Jahren für amerikanisch geführte und von der UNO legitimierte Militäreinsätze zum Problem, als er live und in Echtzeit aller Welt Eröffnung und Verlauf von Kampfhandlungen zeigte und damit die öffentliche Meinung der USA angeblich so stark beeinflusste, dass nicht nur wissenschaftlich über einen „CNN-Effekt“ spekuliert wurde, sondern auch das Bonmot aufkam, der UN-Sicherheitsrat habe im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht 15, sondern 16 Mitglieder, denn das 16. - bzw. sechste Mitglied mit Vetorecht -sei eben der Sender CNN. Auch in ihrer öffentlichen Meinung zeigen die USA gegenüber den Vereinten Nationen - ihrem „prächtigsten Geschenk an die Welt“ (Schlesinger 2003, S. 279) - wieder den Doppel- <?page no="148"?> 148 7. Arbeitsweisen und Methoden charakter als engagierter Freund und konstruktiver Förderer einerseits, als desinteressierter Kritiker und destruktiver Gegner andererseits. Die Bürger der USA kümmern sich um äußere Angelegenheiten traditionell wenig und sind um so leichter von Bildern und Stimmungen zu beeinflussen; analog zur wechselhaften Dynamik der außenpolitischen Doktrinen (Isolationismus vs. hegemonialer Interventionismus) dominiert idealistische Zustimmung („One World“) für die oder verschwörungstheoretische Ablehnung gegen die Vereinten Nationen. Für die lautstarke neokonservative bzw. fundamentalistische Rechte ist die UNO gar Feind amerikanischer Interessen, weil sie die „Dritte Welt“ als Koalition von anti-westlichen Nationen geschaffen habe. Wohlfeile Kritik an Ineffizienz und Verschwendung kommt mit populistischer Verve meist aus dem US-Kongress, während die davon angesprochene amerikanische Öffentlichkeit differenzierter zu denken scheint. Die Befürchtung, Multilateralismus könnte die amerikanische Souveränität beschneiden, ist zwar weit verbreitet, aber dennoch dürfte die amerikanische Öffentlichkeit positiver über die UNO denken, als die amerikanischen Politiker glauben. Somit war und bleibt die wichtigste Zielgruppe für die Öffentlichkeitsarbeit der UNO die Bevölkerung der USA, die als ihr mächtigstes Mitglied auf die UNO am ehesten verzichten zu können glauben. In den anderen politisch und finanziell gewichtigen Ländern überwiegt trotz vieler Vorbehalte und populistisch-nationalistscher Tendenzen die rationale Einsicht in Notwendigkeit und Mehrwert von internationaler Kooperation - was Öffentlichkeitsarbeit andersartig herausfordert. Damit die Arbeit der/ in den Vereinten Nationen in der Öffentlichkeit bekannt und so wirksamer wird, müssen zunächst ihre Dokumente und Berichte zugänglich sein über das hinaus, was Regierungen als ihre Sicht verlautbaren oder Nachrichtenagenturen und Medien im täglichen Geschäft in nach medialer Logik redigierter Form vermitteln. Von der UNO über die UNO gab es früher viel zu wenig Informationen. Noch bis in die Zeit der großen „Weltkonferenzen“ der 90er-Jahre war es schwierig, in Deutschland an UN-Dokumente zu kommen, zumal wenn es sich nicht um Resolutionen des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung oder Stellungnahmen des Generalsekretärs handelte, sondern um Papiere und Materialien aus den Arbeitsbereichen der UNO. Hilfreich war direkter Kontakt zur zuständigen Stelle in der UNO oder ihren Mitarbeitern, die so nett waren, das Gewünschte zu schicken. Von der UNO über die UNO gibt es heute viel zu viel zu wenig strukturierte Informationen. Denn das Problem hat sich mit dem Internet und seiner offensiven Nutzung durch die UNO radikal gewandelt und fast schon ins Gegenteil verkehrt: Nun findet man nicht mehr kaum etwas, sondern meist viel zu viel, in Teilbereichen sogar alles, was als „blaues“ Dokument mal in die Welt gesetzt wurde. Wer heute Stunde um Stunde sich durch die immer bunteren Seiten hinter der UNO-homepage (http: / / www.un.org/ ) klickt, erfährt die chaotische Komplexität internationaler Organisation. Doch nicht nur der kybernetische Wandel hat den Auftritt der UNO in der Weltöffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten technisch verändert, sondern auch politisch ist das Mandat zur Öffentlichkeitsarbeit erweitert worden. <?page no="149"?> 149 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung ▶ Mit dem Entstehen einer medial-visuell vermittelten Event-Kultur auch in der internationalen Politik und dem sicht- und hörbaren Auftritt der zivilgesellschaftlichen NGOs auf den Bühnen der Staatenorganisation, z. B. den Weltkonferenzen, wuchs der Druck auf die UNO, sich auch selber besser zu inszenieren. ▶ Die wachsende Zahl der Einsätze der blaubehelmten Friedenstruppen und einige andere Militäreinsätze regten auch in der politischen Öffentlichkeit vieler Mitgliedsländer Debatten an, die umso kontroverser wurden je unbefriedigender einzelne Einsätze im ehemaligen Jugoslawien und besonders in Somalia und Ruanda verliefen; Fehler waren gemacht worden, aber eher von beteiligten Regierungen als von den zuständigen Stellen im Sekretariat - doch Sündenböcke machen für sich keine Pressarbeit. ▶ Die sich wie auch immer entwickelnden Formen von „public diplomacy“ - Diplomatie in den und durch die Medien und auch schon mit zivilgesellschaftlichen Mitspielern - stellen eine klassische international-multilaterale Staaten-Organisation jedenfalls vor Probleme. Unter Generalsekretär Kofi Annan wurde spät versucht, die zuständige Sekretariatsabteilung (Department of Public Information/ DPI) von einer betulichen Dokumentenverteilstelle in eine offensive Medienagentur umzurüsten, die eigenständige politische Linien der Organisation wenigstens zeichnen kann, auch wenn sie in der Konkurrenz mit den Staaten nicht zu deutlich verfolgt werden dürfen. Inzwischen wurde DPI der internetionalen Globalisierung gemäß zur Hauptabteilung Globale Kommunikation (Department of Global Communcations/ DGC) weiterentwickelt - zumindest in der Benennung. Das DGC macht in eigenen Studios für die UNO und auf ihrem Gelände exklusiv Radio und Fernsehen, produziert ständig Pressemitteilungen, mästet das Internet und organisiert jede Form der Mediennutzung - soweit seine Finanzmittel (gut 90 Millionen US- pro Jahr) es zulassen. Aufgabenbereiche sind die Ausarbeitung von Kommunikationsstrategien und Kampagnen, die Zusammenarbeit mit den Medien, Ausbildung sowie klassische Öffentlichkeitsarbeit in 63 regionalen Informationszentren und -büros (UNRIC) - für Westeuropa in Brüssel, für Deutschland in Bonn (www.unric.org/ de/ ). Ziel ist es, in der ganzen Welt Ideale und Arbeit der Vereinten Nationen zu kommunizieren sowie Unterstützung für Frieden, Entwicklung und Menschenrechte zu mobilisieren - oder kurz: „Inform. Engage. Act.“ (frei nach dem „Yes. We. Can“ von Obama). Literaturverweis zu 7.8.: Öffentlichkeitsarbeit Crosette 2018; Dudley 1994; Lehmann 2003, 2006; Michaelis 2003; Wesel 2017; Williams 2014 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung Im Auftrag der Generalversammlung wird die UNO mit ihren Hauptsowie Nebenbzw. Spezialorganen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen bzw. vom ihm unterstehenden Sekretariat (siehe 6.1.6) verwaltet. Aber: die Sonderorganisationen im „UN-System“ werden <?page no="150"?> 150 7. Arbeitsweisen und Methoden autonom verwaltet, meist aber in ähnlicher Weise; übergreifende Zusammenarbeit z. B. beim Personal- und Immobilienmanagement ist möglich. Große Organisationen müssen organisiert, also ausreichend geführt, verwaltet, finanziert und kontrolliert werden; die UNO und die Sonderorganisationen sind darin eigentümlich, ▶ dass die Entscheidungen auf der politischen Ebene immer schwerfällig und oft mühsam sind, weil sie nicht einfach hierarchisch oben gefällt und nach unten durchgegeben werden können, sondern erst multilateral-zwischenstaatlich durch Kompromiss und Konsens (siehe 7.5) ausgehandelt werden müssen, ▶ dass anders als bei privatwirtschaftlichen transnationalen Unternehmen Effizienz-Kontrolle durch Wettbewerb und Verhaltens-Disziplinierung durch Profitinteresse fehlen, ▶ dass sich aus der Heterogenität des aus allen Nationen und Kulturen stammenden Personals große Chancen aber auch Probleme ergeben. „Die UNO“: Unternehmensbeschreibung (fiktiv) Ein als diversifizierter Mischkonzern unordentlich strukturiertes transnationales Unternehmen mit diffuser Angebotspalette für extrem volatile Nachfrage, dessen leitende Angestellte stets auf 193 unterschiedliche und vielfach zerstrittene Eigentümer und deren Sendboten Rücksicht nehmen müssen und in einer changierenden Unternehmenskultur mit einer zusammengewürfelten Belegschaft mit dennoch überraschend konstruktiver corporat(iv)e identity arbeiten. Management und Kosten „der UNO“ sind denn auch beliebte Ansatzpunkte für Kritik: Je nach Wissenshorizont und Stimmungskonjunktur ist es populär, die UNO zu schelten als eine viel zu groß gewordene unkontrollierbare Bürokratie, die sich zwar in alles einmischt, aber dabei nicht effízient arbeitet oder angeblich gar riesige Finanzmittel (z. B. für Personal) und Ressourcen (z. B. für Papierausstoß) verschwendet. Dagegen wird von Freunden der Multilateralität gerne polemisiert mit griffigen Vergleichen zwischen den Kosten der UNO und z. B. den britischen Ausgaben für Alkohol, deutschen Steuereinnahmen auf das klassische Kolonialprodukt Kaffee oder US-amerikanische Kosten und Folgekosten des privaten Waffenbesitzes; beliebt sind auch erhellende Gegenüberstellungen zu Budgets (New Yorker Feuerwehr und Polizei, eine deutsche Universität), Personalaufwand (europäische Stadtverwaltungen) oder Papierverbrauch (eine Sonntagsausgabe der New York Times braucht mehr als die UNO jährlich). Sinnvoller sind Vergleiche mit Ausgaben, die mit dem Mandat der Internationalen Organisation konkurrieren, wie vor allem die weltweiten Militärausgaben, die zusammen mit weiteren Kosten für internationalen Sicherheitsaufwand inzwischen mehr als das Hundertfache von den Kosten der UNO ausmachen dürften. <?page no="151"?> 151 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung Größenordnungen im Kontrast: Die Finanzen der UNO und anderer Haushalt Zeitraum Summe Doppelhaushalt der UNO (Kernhaushalt) 2018-2019 5,4 Milliarden US-$ also jährlich ca. 2,7 Milliarden US-$ pro Kopf der Weltbevölkerung jährlich ca. 1/ 3 US-$ Haushalt der Bundesrepublik Deutschland 2017 ca. 330 Milliarden � Haushalt des Bundeslandes Sachsen-Anhalt 2017 ca. 11,2 Milliarden � Haushalt der Landeshauptstadt München 2017 ca. 7,3 Milliarden � Kosten für das UN peacekeeping 2017 ca. 6,8 Milliarden US-$ pro Kopf der Weltbevölkerung unter 1 US-$ Militärausgaben weltweit 2016 ca. 1,7 Billionen = 1700 Milliarden US-$ pro Kopf der Weltbevölkerung ca. 220 US-$ UN-System insgesamt pro Kopf der Weltbevölkerung bisher immer unter 2 US-$ = weniger als 1 % der Militärausgaben Hilfreich zum Verständnis der Arbeitssituation in den „Vereinten Nationen“ sind auch Beschreibungen, wie und auf welch schmaler materieller Basis „die UNO“ arbeitet: ▶ Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen steht kein eigenes Flugzeug zur Verfügung, sondern er nutzt normale Linienflüge; wenn ihn nicht ein Staats- oder Regierungschef oder gar nur ein Außenminister in sein Flugzeug zum Mitfliegen einlädt, ist er wie alle anderen hochrangigen Amtsträger der UNO dem Flugplan der Verkehrsmaschinen unterworfen; eine Auslandsreise des US-Präsidenten kostet inklusive Flugzeuge, mitgebrachten Autos und Entourage zig Millionen US-, eine des Generalsekretärs ein paar Zehntausende. ▶ Weltweit werden weit über 5000 Sprachen gesprochen, doch die UNO beschränkt ihren offiziellen Sprachendienst (für Dolmetschen und Übersetzungen der Dokumente) auf ihre sechs Amtssprachen; die EU-Institutionen Kommission und Parlament können einen unvergleichlich größeren Aufwand treiben und allen ihren Sprachen gerecht werden. Im Budget der UNO fehlt wie in den meisten Staatshaushalten immer dort das Geld, wo höhere Ausgaben zum Erfüllen wesentlicher Ziele dringlich wären. Oft genug war schon hinsichtlich der laufenden Kosten die Finanzlage der Organisation äußerst prekär, was an den über Jahrzehnte vernachlässigten Gebäuden des architektonisch einmaligen Hauptquartiers in New York bis zur 2015 abgeschlossenen Renovierung nicht zu übersehen war. Wenn es ums Geld geht, zeigt sich, wer wirklich das Sagen hat. Formal hat das exklusiv die Generalversammlung mit ihrer Stimmenmehrheit von Ländern aus dem globalen Süden, real haben es die größten Beitragszahler aus der Minderheit der reichsten Staaten (USA, Japan, VR China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien …). Weil es politisch nicht möglich ist, einen souveränen Staat per Mehrheitsentscheidung zu Zahlungen zu verpflichten, die er nicht leisten will, wird die Höhe der Mitgliedsbeiträge zwar formell mit Zwei-Drittel-Mehrheit <?page no="152"?> 152 7. Arbeitsweisen und Methoden von der Generalversammlung beschlossen - aber praktisch eben im Konsens zumindest mit den finanziell und/ oder politisch wichtigen Zahlern festgelegt. Deren Machtposition auf der Einnahmenseite wirkt sich natürlich auch aus auf die Ausgabenseite des Haushalts, allerdings viel indirekter. Die Generalversammlung ist allerdings unmittelbar nur zuständig für den ordentlichen Haushalt der Kernorganisation, also der Hauptsowie Neben- und Spezialorgane - aber unter diesen nicht für die Finanzierung aller großen Programme und Fonds (siehe 5.2). Auch die teuren „Blauhelm“- und Militäreinsätze werden (bis auf kleine historische Ausnahmen) gesondert vom ordentlichen Haushalt geführt - dafür gibt es einen eigenen Finanzierungsmechanismus. Für das Budget der eigenständig finanzierten Sonderorganisationen sind diese selbst verantwortlich. Das Finanzwesen der UN-Systems scheint komplex und schwer nachvollziehbar, wird aber eigentlich ganz logisch in verschiedenartigen Haushalten verbucht und aus unterschiedlichen Quellen gespeist. Haushalte der UNO/ des UN-Systems Ausgaben von/ für Finanzierung durch 1 Ordentlicher Haushalt der UNO Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten nach Beitragsschlüssel 2 Friedens-Missionen („Blauhelme“) Pflichtumlagen nach modifiziertem Beitragsschlüssel 3 Spezialorgane (Programme/ Fonds) freiwillige Beiträge → pledging conferences 4 Sonderorganisationen eigenständige Finanzierung durch Pflichtbeiträge u.a. 1. Umfang und Zusammensetzung des aus Pflichtbeiträgen aufgebrachten „ordentlichen Haushalts“ (regular budget) werden in einem komplexen, mehrstufigen und langwierigen Verfahren erarbeitet und schließlich von der Generalversammlung für ein Doppeljahr auf US-$-Basis beschlossen: 1998+1999 ca. 2,5 Mrd. US-$, 2008+2009 ca. 4,2 Mrd. US-$ und 2018+2019 ca. 5,4 Mrd. US-$. Ab 2020 soll der Haushalt wie bis 1973 wieder für einzelne Jahre aufgestellt und genehmigt werden. Die Höhe der Mitgliedsbeiträge ergibt sich nach einem aufgrund Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße aber auch politischer Kriterien ausgehandelten Beitragsschlüssel (scale of assessments). Die zehn stärksten Beitragszahler sind (2018/ 2019) die USA mit 22 %, Japan (9,68 %), VR China (7,921 %), Deutschland (6,389 %), Frankreich (4,859 %), Großbritannien (4,463 %), Brasilien (3,823 %), Italien (3,748 %), Russische Föderation (3,088 %) und Kanada (2,921 %), die zusammen also fast 69 % aufbringen. 2. Friedensoperationen (siehe 8.1.2) werden mit wenigen Ausnahmen gesondert aus Pflichtumlagen je nach Einsatzbedarf finanziert, die sich wiederum nach dem Beitragsschlüssel bemessen, der allerdings zugunsten ärmerer Länder und zu Lasten der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats modifiziert ist: 2017 zahlten die p5 fast 55 % (statt ihrer ordentlichen 42,3 %). Den Staaten, die Truppen und Gerät für „Blauhelm“-Einsätze stellen, werden zumindest ein Teil der Kosten dafür nach festen Sätzen erstattet. Die enormen Kosten für die großen Kriege (z. B. pro Tag 1,5 Milliarden US-$ für die Operation „Wüstensturm“ gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits 1991) und kleinere <?page no="153"?> 153 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung Militäreinsätze mit Legitimation des Sicherheitsrats trugen die kriegführenden Staaten der jeweiligen coalition of the willing selbst. 3. Programme und Fonds, zumal solche mit humanitären und entwicklungspolitischen Aufgaben, können unabhängig vom ordentlichen Haushalt weitere Mittel zur Verfügung haben, die zusammen die Hälfte dessen erreichen können; das Entwicklungsprogramm (UNDP), das Welternährungsprogramm (WFP), die Flüchtlingshilfe (UNHCR) und natürlich das Kinderhilfswerk (UNICEF) erhalten das meiste Geld. Das kann in nennenswertem Umfang aus privaten Spenden stammen, doch der größte Teil geht als freiwillige Beiträge der UN-Mitgliedstaaten ein; damit sichern sie sich Einfluss auf die Schwerpunkte der Arbeit der Spezialorgane, aber sie können diese durch unkalkulierbare Schwankungen der Höhe der Beiträge auch gefährden. Oft werden Zuwendungen auf sog. Vergabe- oder Geberkonferenzen (pledging conferences) regelrecht ausgehandelt, wobei die freigiebigsten Geberländer eher kleiner und nordeuropäischer sind, während die führenden EU-Länder, auch Deutschland auf den hinteren Plätzen zu finden sind; die USA liegen deutlich hinter Kanada oder sogar Australien. 4. Die Sonderorganisationen haben jeweils eigene Haushalte und Finanzierungsmechanismen, meist denen der UNO ähnlich: Pflichtbeiträge (z.T. nach der UN-Beitragstabelle) dienen als Grundlage, aber auch freiwillige Mittel können in bedeutendem Umfang eingehen. Die großen thematischen Organisationen wie UNESCO, FAO oder WHO haben die größten Budgets von einer halben bis einer Milliarde US-$, während eng spezialisierte bzw. technische Organisationen wie IMO, UPU oder WMO mit einem Bruchteil davon auskommen. Sonderfälle sind die Währungs- und Finanzorganisationen (Weltbank-Gruppe und der Internationale Währungsfond), die aus den Einlagen ihrer Mitglieder und auf dieser Basis aus der eigenen Geschäftstätigkeit finanziert werden. Unterschiedliche Interessen und Prioritäten der Staaten machen alle Verhandlungen zur Finanzierung der UNO immer schwierig. Die Charta der Vereinten Nationen legt zwar fest, dass die Mitgliedstaaten die Finanzierung der Ausgaben der Organisation nach einem von der Generalversammlung festzusetzenden Beitragsschlüssel leisten müssen (VN Charta Art. 17), gibt aber keine Kriterien dafür vor. So kommt es manchmal zum Streit über die klassischen Finanzfragen, wer wieviel zahlen muss und wofür das Geld ausgegeben werden soll; auch die Frage, wer wann was mit welcher Verzögerung tatsächlich überweist, kann heikel werden - bis hin zu politischen Erpressungsversuchen seitens großer Zahler. Allgemein ist die Zahlungsmoral der UN-Mitgliedstaaten gering; viele, gerne die USA, aber auch Deutschland, waren oder sind mit ihren Zahlungen gelegentlich oder ständig im Verzug; schlimmstenfalls droht säumigen Zahlern nur der Verlust ihres Stimmrechtes in der Generalversammlung. Weise hat die Generalversammlung im Jahr 2000 beschlossen, dass es nicht gut sei, wenn die Organisation abhängig würde von Mitgliedern, die ein Viertel beitragen, und eine Obergrenze von 22 % eingeführt - seitdem zahlen die USA nicht mehr 25 % sondern 22 %. Der Mindestsatz für die ärmsten Mitgliedsländer - ungefähr jedes vierte - beträgt 0,001 % (= ca. 27.000 US-). <?page no="154"?> 154 7. Arbeitsweisen und Methoden Häufig wurde über alternative Finanzierungsmöglichkeiten für die UNO nachgedacht, über Abgaben auf Finanztransfers (nach der Idee der „Tobin-Steuer“), auf den Flugverkehr oder auf Waffenexporte, aber auch über eine intensivere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Doch bleiben die meisten Staaten skeptisch, denn mit eigenen Finanzierungsquellen oder gar Finanz-Autonomie wäre die UNO nicht mehr eine rein zwischenstaatliche Organisation. Ein ganz großer Posten in den Haushalten der meisten internationalen Organisationen ist das Personal. Für das Sekretariat - also für die Kernorganisation UNO, nicht für die eigenständigen Sonderorganisationen - arbeiten weltweit ca. 44.000 Menschen im einfachen Dienst bis auf die Führungsebene, davon 60 % „im [Arbeits-]Feld“, also außerhalb der UN-Hauptstandorte (New York, Genf, Wien, Nairobi) an mehreren Hundert Dienstorten in Neben- und Spezialorganen bzw. deren Projekten; ihre Einkommen sind gut, aber machen nicht reich - die EU zahlt wesentlich besser. Diese Menschen aus allen Ländern und Kulturen sollen auf das Gemeinwohl aller Völker gerichtete Aufgaben erfüllen, also keinen wirtschaftlichen Gewinn schaffen und nicht die Interessen eines einzelnen Staates, auch nicht ihres Herkunftslandes, bevorzugt verfolgen. Sie sind zur Loyalität gegenüber ihrer Organisation verpflichtet und dürfen nicht von einer nationalen Regierung Weisungen entgegennehmen. Dieses Gebot ist für eine internationale Organisation zwar essentiell, aber nicht immer und überall realistisch: Regierungen nehmen Einfluss und achten zumindest darauf, dass eine ausreichende Anzahl von Stellen mit ihren Bürgern besetzt wird; der Konflikt zwischen dem „geographischen Prinzip“ und dem Leistungs- und Eignungsprinzip ist ein bleibendes Problem für den internationalen Dienst. Zur Leistung des internationalen öffentlichen Dienstes des UN-Systems (Göthel 2007, S. 464) „Trotz der widrigen Rahmenbedingungen - wie unklare Weisungen der Aufsichtsorgane, mangelnde Ressourcen, fehlende Verwaltungstradition, mangelnde Homogenität des Personals und Defizite im Management - wird der internationale öffentliche Dienst des UN-Systems seinen Aufgaben gerecht. Davon zeugen die weltweiten Einsätze unter Zeitdruck und in Gefahrensituationen zur Friedenssicherung und humanitären Hilfe sowie die kontinuierliche Fortentwicklung rechtlicher und technischer Normen auf den verschiedensten Gebieten, die besonders in einer interdependenten Welt von Wichtigkeit sind. Oft wird der internationale öffentliche Dienst zum Prügelknaben der Politik und Medien, die ihm die Versäumnisse der Mitgliedstaaten anlasten. Doch selbst unter den schwierigsten Umständen haben die Mitarbeiter der Vereinten Nationen ihre internationale Loyalität bewahrt.“ Doch insgesamt scheint über die Jahrzehnte eine gute international-multikulturelle Unternehmenskultur entstanden zu sein. Der verbindliche Verhaltenskodex der UNO, der den internationalen Bediensteten detaillierte Richtlinien für ihr Verhalten in dienstpraktischen <?page no="155"?> 155 7.9 Finanzierung, Personal, Verwaltung und lebensnahen Situationen gibt, u. a. wie mit Regierungsvertretern, Journalisten und der Öffentlichkeit umzugehen ist, war wohl wirksam. Mitarbeiter von internationalen Organisationen dürfen ihre Privilegien, die sonst nur nationalstaatlichen Diplomaten zukommen, nicht eigennützig einsetzen, müssen aber selbst oft genug darauf vertrauen, dass Regierungen und andere Akteure ihren internationalen Status respektieren, wenn sie in Krisengebieten persönliches Risiko eingehen. In Hauptquartieren sind sie den Gefahren von regelmäßig anbrandenden Reform-Wellen und wechselhafter Management-Moden ausgesetzt. Sprachliche und kulturelle Hürden müssen sie laufend überwinden, was aber ihre Arbeit interessant macht; sie müssen nicht nur fremdsprachensicher sein, sondern von ihnen wird wirklich und ernsthaft „interkulturelle Kompetenz“ gefordert. ▶ Wie in nationalen Behörden stellt sich in internationalen Organisation immer die Frage, in welchen Maß sie gefährdet sind, von ihren eigenen Mitarbeitern ausgenutzt zu werden; Inkompetenz und Unfähigkeit, Mittelmissbrauch und Verschwendung, Machtmissbrauch oder gar Korruption drohen immer und müssen präventiv wie gegebenfalls akut bekämpft werden. Vertrauen in einen klaren Verhaltenskodex und eine gute Organisationskultur ist gut, aber besser ist die Gewährleistung von Kontrolle, zumal wenn es um die Verfügung über materielle Werte geht. Die Verwaltung der UNO muss sich einer doppelten Kontrolle unterziehen, der externen durch die Mitgliedstaaten und der internen durch eigene Überwachungs-Mechanismen: ▶ Extern wird kontrolliert durch den Fünften Hauptausschuss der Generalversammlung, einem Experten-Ausschuss (ACABQ) und einem „Board of Auditors“ aus drei Chefs nationaler Rechnungskontrollbehörden; zusätzlich prüft eine elf-köpfige Inspektionsgruppe (Joint Inspection Unit/ JIU) die Effizienz des Managements und berät die Dienststellen. ▶ Intern wird kontrolliert vom „Amt für interne Aufsichtsdienste“ (Office of Internal Oversight Services/ OIOS), das 1994 als innovative Abteilung zur Innenrevision im Sekretariat eingerichtet wurde; wegen seiner Struktur und seines Mandats (Audit, Monitoring und Inspektion, Programmevaluierung, Disziplinar-Untersuchungen) kann es unabhängig und ohne Zwang zu Rücksichtnahme arbeiten. <?page no="156"?> 156 7. Arbeitsweisen und Methoden Multilaterale Bürokratie Karl Theodor Paschke, Under Secretary General 1994-1999), OIOS (Paschke 2007, S. 472f) „Bürokratien im allgemeinen und multilaterale, multikulturelle Bürokratien im besonderen zeigen eben eine gewisse Resistenz, sich zu verändern, so lange auf sie nicht ein entsprechender Druck ausgeübt wird. Die Mitgliedstaaten haben weder den langen Atem noch die gemeinsame politische Überzeugung, immer wieder für solchen Druck zu sorgen. […] Die über 190 Mitgliedstaaten haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was die UNO ist und was sie leisten kann und soll. In den seltensten Fällen schaffen es die Vereinten Nationen, alle ihre Mitglieder zufrieden zu stellen. Die häufig bemühte Sentenz, dass ‚die UNO nur so gut sein kann, wie es die Mitgliedstaaten wollen bzw. zulassen’, ist zweifellos richtig. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, dass die Staaten an die Organisation immer wieder hohe, manchmal zu hohe Anforderungen stellen, ihr aber die dafür erforderlichen Machtmittel und Ressourcen allzu oft verweigern.“ Literaturverweis zu 7.9.: Finanzierung, Personal, Verwaltung Göthel 2007; Hüfner 2007; Kane 2016; Laurenti 2018; Paschke 2007 <?page no="157"?> 8. Arbeitsbereiche der UNO Vor einzelnen Überblicks-Darstellungen der Aufgaben- und Arbeitsgebiete der UNO müssen die Kriterien ausgewiesen werden, nach denen dieser riesige Stoff eingeteilt werden kann. Eine sachlogisch immer noch sinnvolle Ordnung ist dem historisch begründetem Aufbau der VN-Charta (siehe 4) zu entnehmen: security, economy und in Ansätzen development unter wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Aspekt; die zunächst politisch in den Hintergrund gedrängten, aber rasch nachbearbeiteten human rights werden hier an die zweite Stelle gesetzt, zumal sie oft eng verbunden sind mit Konflikten und Sicherheitsfragen; das mit Fragen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung zusammenhängende Problem environment kam dann später als weitere apokalyptische Bedrohung dazu. Inzwischen haben sich noch speziellere thematische Bereiche als eigenständige internationale Kooperation ausdifferenziert wie Not- und Katastrophenhilfe, Gesundheitsschutz/ Seuchenabwehr, Internet oder Sport. Die Arbeitsfelder könnten auch losgelöst von der Institution der UNO im Sinne des Begriffs des „internationalen Regimes“ (siehe 2.3) als thematisch umfassende und global wirksame multilaterale Regelungssysteme verstanden werden; doch um eine gute darstellerische Systematik zu erlauben, sind Regime zu unterschiedlich strukturiert und erfolgreich (z. B. Klima vs. Artenschutz), thematisch zu spezialisiert (Ozon, Strafrecht) oder zu breit aber differenziert (Rüstungskontrolle). In den folgenden Überblicken über die klassischen Arbeitsbereiche der UNO bzw. des UN-Systems wird jeweils versucht, ▶ die grundsätzlichen Probleme und die ihre Lösung hemmenden Dilemmata sowie die denkbaren Optionen für politisches Handeln zu skizzieren, ▶ leitende Ziele/ Prinzipien/ Normen/ Regeln zu nennen und ▶ auf geltende völkerbzw. vertragsrechtliche Rechtsgrundlagen zu verweisen, ▶ funktionierende bzw. wenigstens existierende Kooperations- und Regelungsformen darzustellen und ▶ deren Institutionen (Organisationen, Programme und Mechanismen) zu beschreiben sowie ▶ praktische Abläufe und Prozesse (sowie auch die Rolle von Zivilgesellschaft/ NGOs) zu charakterisieren. 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Die Logik des klassischen Sicherheitsdilemmas verlangt (siehe 2.1) militärische Aufrüstung und Kampfbereitschaft zu dem Zweck, notfalls die stärkere Gewalt gegen jeden möglichen Feind ausüben zu können; dem wäre mit dem - multilateralen - Konzept der „Kollektiven Sicherheit“ als eine Friedens(ver)sicherung auf Gegenseitigkeit zu entgehen, aber nur dann, wenn die dazu nötige Kooperation von notfalls in gemeinsamer Aktion zusammenwirkenden <?page no="158"?> 158 8. Arbeitsbereiche der UNO Staaten politisch gelingt. Der klassische Arbeitsbereich für internationale Kooperation ist dann auch Krieg und Frieden, Abrüstung und Sicherheit; auf diesem auch politisch verminten Gebiet wurden die ersten Erfahrungen in Multilateralität gemacht und daraus praktische Konzepte, wissenschaftliche Theorien und empirische Analysen entwickelt. Drei Optionen multilateraler Sicherheitspolitik sind in akuten Krisen oder im Kriegsfall gegeben: ▶ die kollektive Verteidigung aufgrund des Rechts eines jeden Staates auf Selbstverteidigung durch freiwillige militärische Allianzen wie die NATO, ▶ die kollektive Sicherheit dank gegenseitiger Beistandsverpflichtung möglichst vieler oder gar aller wie bei Völkerbund und UNO, und ▶ die kooperative Sicherheit als Ergebnis von nachhaltiger Vertrauensbildung und routinierter Zusammenarbeit, teilweise durch die OSZE, aber in Ansätzen auch in der UNO. Kollektive Verteidigung ist neben der individuellen Verteidigung der historische Normalfall: ein angegriffener Staat versucht mit Hilfe von Alliierten, Widerstand zu leisten oder einen Gegenangriff zu führen. Kollektive Sicherheit ist ein komplexer Sonderfall: alle helfen einem angegriffenen Staat gegen den Aggressor; wenn das verlässlich ist, muss kein einzelner Staat sich eine ausreichende Selbstverteidigungskapazität leisten. Das viel weiter greifende Konzept der kooperativen Sicherheit will eine ganz andere Situation erreichen, in der aus aufgeklärter Einsicht in die eigentlichen eigenen Interessen die Staaten so kooperationsbereit geworden sind, dass kriegerische Gewalt durch Prävention und Deeskalation von Konflikten verhindert werden kann. Die Sicherheitsarchitektur der UNO gründet auf der Idee der kollektiven Sicherheit; ihre tragenden Säulen sind ▶ das Gewaltverbot, ▶ ein Instrumentarium zur friedlichen Streitbeilegung ▶ und ein realistischer Mechanismus der kollektiven Verteidigung, falls gegen das Gewaltverbot verstoßen wird und eine Streitbeilegung nicht möglich ist, ▶ sowie als nur durch Praxis zu befestigendes Fundament die dauerhafte gegenseitige Vertrauensbildung unter Regierungen mit divergierenden Interessen. Die Stabilität eines Systems der kollektiven Sicherheit ist in jedem Fall heikel oder gar einsturzgefährdet. Die erste Bruchstelle liegt in der Bedrohungsperzeption: Nur wenn die Problemwahrnehmung der Akteure übereinstimmt, ist gemeinsames Handeln denkbar; der politische Wille dazu ist die nächste Bruchstelle, der zumal für kollektive Zwangsmaßnahmen nötige Aufwand eine weitere. Die noch utopische Vorstellung der kooperativen Sicherheit ist vereinbar mit den Strukturen der UNO und könnte realistisch werden, wenn es - mit der kollektiven Sicherheit als Schutzwall für den Notfall - über längere Zeit gelingt, möglichst auf gewaltsame Maßnahmen zu verzichten, dafür die präventiven Elemente der friedlichen Streitbeilegung kooperationstheoretisch untermauert auszubauen, doch durchaus auch Elemente des Zwangs einzuplanen. <?page no="159"?> 159 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Diese skizzierten Optionen sind zu beziehen auf zwei Typen von komplexen Gefährdungen der internationalen Sicherheit: (1) Anhaltend-strukturelle Probleme in einer waffenbezogenen Dimension: die von den vorhandenen militärischen Potentialen ausgehende ständige Bedrohung muss durch Rüstungskontrolle und Abrüstung entgegen der Logik des Sicherheitsdilemmas verringert werden. (2) Spezifisch-aktuelle Probleme in einer konfliktbezogenen Dimension: in konkreten Krisensituationen gewaltsam ausgetragene Konflikte müssen durch Maßnahmen der Konfliktkontrolle und Friedenssicherung verhindert oder wenigstens gelindert werden. Für Rüstungskontrolle und Abrüstung (siehe 8.1.1) vereinbaren die Staaten in bi- und multilateralen Abkommen bestimmte Verhaltensregeln, um Waffensysteme quantitativ und/ oder qualitativ zu begrenzen, bestimmte Waffen bzw. möglicherweise schon ihre Entwicklung zu verbieten, als Bedrohung verstehbare militärische Aktionen (wie Manöver oder Waffentests) zu unterbinden oder wenigstens zu überwachen, generell durch Transparenz und gegenseitige Information Vertrauen zu schaffen. Für Konfliktbewältigung und Friedenssicherung (siehe 8.1.2) wird versucht, vor einem Ernstfall mit Konflikt- und Krisenprävention zu deeskalieren, im Ernstfall Konfliktmanagement und Konfliktbeilegung zu organisieren, im Notfall dann den Frieden auch militärisch zu sichern und wiederherzustellen, danach konfliktnachsorgend aufzuräumen durch Maßnahmen der Friedenskonsolidierung oder gar einen systematischen Neuaufbau staatlicher Strukturen. Das politische Problem bei militärischen Maßnahmen, die sich zwangsläufig in die inneren Angelegenheiten eines souveränes Staates einmischen, ist immer deren Rechtfertigung als dennoch legitime Mittel, z. B. als „humanitäre Intervention“; das potentialreiche Argument der „Schutzverantwortung“ könnte hilfreich sein, den Gegensatz zwischen Souveränitätsdogma und Interventionsanspruch zu untergraben (siehe 8.1.3). Die zu lösenden Fragen in beiden Dimensionen sind natürlich nur analytisch zu trennen, sie sind im konkreten Gefährdungsfall tatsächlich eng verwoben - so wäre natürlich eine substantielle Abrüstung von Angriffswaffen oft die beste Konfliktprävention gewesen. Zwei mörderische Weltkriege prägten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, seine zweite Hälfte zeigte - vielleicht auch dank der präventiven Wirkung der UNO - echte Fortschritte, war aber durchsetzt von über zweihundert kleineren Kriegen und Fällen kriegerischer Gewalt - trotz der UNO. Immerhin kamen die Großmächte ohne den Einsatz ihrer in absurder Menge produzierten Massenvernichtungswaffen aus; aber an der Menge der vorhandenen Waffen und deren ständiger Weiterentwicklung gemessen, hat Abrüstung tatsächlich wenig Erfolg gehabt. Dennoch ist bei aller begründeten Skepsis der historische Fortschritt nicht zu unterschätzen, der nicht zuletzt dank der ständigen politischen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit und Praxis internationaler Abrüstung und multilateraler Friedenswahrung im Zeitalter der Atombombe errungen wurde. Denn die Einstellung der meisten Gesellschaften und vieler Regierungen hat sich gewandelt: Krieg gilt seltener als nachhaltig brauchbares Mittel der Politik, die Einsicht in den Nutzen vernünftig geregelter internationaler und globaler Beziehungen wächst - trotz populistischer Rückschläge. <?page no="160"?> 160 8. Arbeitsbereiche der UNO In ihrem Kernarbeitsbereich ist das Mandat der UNO so umfangreich wie vielfältig, so anspruchsvoll wie riskant; einige der Aufträge der VN-Charta mussten denn auch modifiziert oder schlichtweg vergessen werden. Der größte Teil des Vertrages behandelt Frieden und internationale Sicherheit (über fünf Kapitel und 34 Artikel). Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit I 1-2 Ziele und Grundsätze V 23-32 Der Sicherheitsrat und seine Kompetenzen VI 33-38 Friedliche Beilegung von Streitigkeiten „nach Kapitel sechs“ VII 39-51 Zwangs-Maßnahmen „nach Kapitel sieben“ VIII 52-54 Regionale Abmachungen Die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit haben oberste Priorität; sie soll mit wirksame Kollektivmaßnahmen durchgesetzt werden, wenn internationale Streitigkeiten nicht zuvor durch friedliche Mittel erledigt werden können. Aber sogleich der Widerspruch: ein Eingreifen in innere Angelegenheiten eines Staates ist nicht gerechtfertigt. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. I: Ziele und Grundsätze Präa. ▶ „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ ▶ „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander“ ▶ „unsere Kräfte zu vereinen […] Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse“ I 1 ▶ Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ▶ „Wirksame Kollektivmaßnahmen“ gegen Bedrohungen des Friedens oder Angriffshandlungen und Friedensbrüche ▶ Beilegung internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel I 2 ▶ Einsatz friedlicher Mittel im Streitfall ▶ Keine Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die „territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates“ ▶ Beistandsverpflichtung für alle Maßnahmen ▶ Kein Eingreifen in Angelegenheiten, die „zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ Das zuständige Hauptorgan ist der Sicherheitsrat, dem alle anderen Organe in Sicherheitsfragen bei Bedarf zuarbeiten. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. V: Sicherheitsrat V 24 ▶ Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beim Sicherheitsrat V 25 ▶ Die Mitglieder der UNO sollen die Beschlüsse des Sicherheitsrats annehmen und durchführen V 26 ▶ Der Sicherheitsrat ist beauftragt, Pläne zu einem System der Rüstungsregelung auszuarbeiten V 27 ▶ Beschlüsse „bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständigen Mitglieder“ <?page no="161"?> 161 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) 8.1.1 Rüstungskontrolle und Abrüstung Seit den ersten Gedanken zur Schaffung von Frieden, zur Zeit des Völkerbundes und noch bei der Gründung der UNO galt als politische Hauptaufgabe einer universalen Staaten-Organisation jede Art der Abrüstung - eine der klassischen Sisyphos-Arbeiten der Menschheit. Aber schon bei der Ausarbeitung der VN-Charta kam das Kernthema recht kurz. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. IV: Generalversammlung IV 11 ▶ Befassung mit den Grundsätzen der Zusammenarbeit zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie für die Abrüstung und Rüstungsregelung Obwohl ihre Kompetenz zu Frieden/ Sicherheit/ Abrüstung definitiv gegenüber der des Sicherheitsrates nachrangig ist (siehe 6.2), soll sich die Generalversammlung damit befassen - grundsätzlich, nicht operativ; sie tut dies regelmäßig im Ersten ihrer Hauptausschüsse (siehe 6.1.1). Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. V und Kap. VII V 26 ▶ Der Sicherheitsrat ist beauftragt, Pläne zu einem System der Rüstungsregelung auszuarbeiten VII 47 ▶ Ein Generalstabsausschuss, zusammengesetzt aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder, soll den Sicherheitsrat in allen militärischen Fragen (auch Rüstungsregelung und Abrüstung) beraten und unterstützen Der Sicherheitsrat soll zwar Rüstungsregelung systematisch planen, aber sonst wird sie und Abrüstung in der VN-Charta nur erwähnt als Thema und Aufgabe des vorgesehenen Generalstabsausschusses, der aber nie ordentlich etabliert und zum Arbeiten gebracht werden konnte - ein frühes Opfer der Dominanz der Ost/ West-Konfrontation zuungunsten der Strategie der kollektiven Sicherheit. Im kalten Krieg zwischen zwei monolithischen Blöcken unter straffer Führung der Hegemonialmächte gingen Fragen der Rüstung und Waffenkontrolle ohnehin nur die USA und UdSSR als Herren über die größten Atomwaffenarsenale und die dafür nötigen Trägersysteme bilateral an; die multilaterale Ebene war nachrangig und meist auf die Abstimmung innerhalb der Militärallianzen NATO und Warschauer Pakt beschränkt; auch die kleineren Atom-Mächte waren keine entscheidenden Akteure im Spiel der Supermächte. Die vielen Staaten in der UNO spielten keine Rolle, denn die wirklich ernsten Dinge wie Kernfragen der Beschränkung bzw. Reduzierung der Atomwaffenarsenale wurden und werden in Interaktion der Regierungen der beiden Supermächte verhandelt und entschieden - außerhalb der UNO und ohne multilaterale Kulisse; überlebenswichtige Verträge wurden exklusiv abgeschlossen. Nicht nur Atomwaffen, sondern auch biologische „B-Waffen“ und chemische „C-Waffen“ haben das Potential zur Zerstörung allen menschlichen Lebens auf der Erde. Doch im größten Umfang wird ständig mit konventionellen Waffen Leben zerstört und Leid zugefügt, weil sie einfach und billig, also sehr verbreitet sind - simple Handfeuerwaffen oder perfide Tötungsinstrumente wie Landminen und Streumunition, die oft die Zivilbevölkerung stärker schädi- <?page no="162"?> 162 8. Arbeitsbereiche der UNO gen als Kampftruppen, möglichweise noch Jahre nach dem Ende eines Krieges. Jede Waffenart bedeutet eine spezifische Herausforderung für ihre Kontrolle oder gar Abschaffung. Weder Sicherheitsrat noch Generalversammlung waren bisher imstande, wenigstens eine formale Grundstruktur zur multilateralen Rüstungsbegrenzung zu schaffen. Die auffällige Sterilität des Sicherheitsrates in Fragen der Abrüstung ist wieder mit den Vorrechten seiner ständigen Mitglieder zu erklären: Gerade als ohnehin schon am stärksten bewaffnete Mächte haben diese vordergründig das geringste Interesse an Abrüstung, eher schon an der Nichtweiterverbreitung von Waffen - sofern dem nicht ihre wirtschaftlichen Interessen als größte Exporteure von Waffen aller Art widersprechen. Auf einen in die Staats-Geheimnisse von Gewaltmonopol nach innen und Souveränität nach außen nicht eingeweihten außerirdischen Beobachter hätte „die UNO“ oft eher wie ein Dachverband von bis an die Zähne bewaffneten kriminellen Vereinigungen und Räuberbanden wirken müssen als eine Friedensorganisation. Nennenswerte Aktivitäten gab es allenfalls auf der „Genfer Abrüstungskonferenz“, dem einzigen speziell für Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung zuständigen multilateralen Forum; doch ungeachtet seiner Bezeichnung UN Conference on Disarmament (UNCD) und der engen Zusammenarbeit mit den zuständigen Abteilungen des UN-Sekretariats ist die Abrüstungskonferenz kein ordentliches Nebenorgan oder formelles UN-Gremium, sondern sie hat sich in Genf aus der Praxis von Abrüstungsgesprächen aller Art über verschiedene speziellere und kleinere Gremien entwickelt; Mitglieder der Abrüstungskonferenz und Teilnehmer an ihren jährlichen Sitzungsperioden sind immer noch nur weniger als die Hälfte der UN-Mitgliedstaaten. Ihre Themen sind alle denkbaren Aspekte vom Umgang mit bestimmten Waffen über die Reduzierung von Militärhaushalten bis hin zum Zusammenhang von Rüstung und Entwicklung. Ergebnisse bleiben überschaubar, das Fortschreiten eher gemächlich - entsprechend dem konkreten politischen Willen der meisten Staaten, wirklich abzurüsten. Aber auf dieser Abrüstungskonferenz wurden für die A-Waffen der Kernwaffenteststoppvertrag und für die B- und C-Waffen die Verbots-Konventionen ausgearbeitet und verhandelt, bevor sie die Generalversammlung übernommen hat. UNCD und andere multilaterale Verhandlungs-Mechanismen wie regelmäßige Vertragsstaaten-Konferenzen für die Weiterentwicklung einzelner schon gültiger Abrüstungs-Abkommen bieten einen Rahmen für die stetigen Bemühungen einer politischen Minderheit von Regierungen, Abrüstungsregelungen zu schaffen und umzusetzen. Abgesehen von den großen bilateralen Verhandlungsprozessen zwischen den Supermächten waren erfolgreiche Abrüstungsbzw. Rüstungskontrollverhandlungen bisher denn auch meist durch kleinere Gruppen interessierter Staaten organisiert, wie die „Ottawa-Konvention“ gegen Landminen. Zwar fehlt das von der VN-Charta vorgesehene universale System der Rüstungsregelung, aber einige multilaterale Abkommen von substantieller Bedeutung kamen zustande. <?page no="163"?> 163 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Wichtige Internationale Verträge zu Rüstungskontrolle/ Abrüstung/ Nichtverbreitung Zweck Abkommen/ Konvention [Jahr] = in Kraft seit Mitgliedschaft → Atom-/ Kern-Waffen (A-Waffen) Kontrolle/ Begrenzung INF-Vertrag zur Eliminierung von Kurz- und Mittelstrecken Raketen (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty/ INF) von 1987 [1988], 2001 erfüllt , 2019 auf Initiative der USA gekündigt bilateral (USA und UdSSR) Vertrag zur Eindämmung strategischer Waffen (Strategic Arms Reduction Treaty/ START), seit 1982 verhandelt, in Kraft 1994 und gültig bis 2009 und seine Nachfolgeabkommen START II, 1993 ausgehandelt, nie in Kraft getreten aber de facto wirksam und New START von 2010 bilateral (USA und UdSSR/ Russische Föderation) Vertrag zum Verzicht auf Verteidigungssysteme zur Abwehr von ballistischen Raketen (Anti-Ballistic Missile Treaty/ ABM) von 1972, durch die USA 2001 gekündigt, aber de facto noch wirkend bilateral (USA und UdSSR/ Russische Föderation) Tests Atomteststoppabkommen oder Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Treaty Banning Nuclear Weapon Tests in the Atmosphere, in Outer Space and Under Water - oder Nuclear Test Ban Treaty/ NTBT) von 1963 [1963] universal (Atomwaffen-Staaten, nun fast alle, nicht: VR China, Frankreich, Nordkorea) Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen oder Kernwaffenteststopp-Vertrag (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty/ CTBT) von 1996, bisher noch nicht in Kraft mangels Ratifizierung durch Staaten mit Kern-Reaktoren, u. a. die USA, Überwachung durch die Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization (CTBO) universal (fast alle unterschrieben, aber einige noch nicht ratifiziert) Nichtverbreitung Nichtverbreitungs-Vertrag oderVertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Non-Proliferation Treaty/ NPT) von 1968 [1970], zu Nichtweitergabe von Atomwaffen, zu Abrüstung von Atomwaffen und zu Zusammenarbeit zur friedlichen Nutzung von Atomenergie Überwachung durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO; International Atomic Energy Agency/ IAEA) universal (fast alle Staaten, auch alle ständigen Mitglieder des SR, nicht aber Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) atomwaffenfreie Zonen Antarktis-Vertragssystem (Antarctic Treaty System/ ATS) von 1959 von 12 Signatarstaaten begründet [1961]; verbietet die Militarisierung der Region südlich des 60. Breitengrades und regelt deren friedliche Nutzung universal mit Einschränkungen (48 Staaten, nur z.T. stimmberechtigt) Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) oder Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper von 1967 [1967]; verbietet die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im Weltraum, auch auf dem Mond universal (Mehrheit der Staaten, nicht nur die Weltraumfahrt betreibenden) Meeresboden-Vertrag oder Vertrag über das Verbot der Anbringung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden (Seabed Arms Control Treaty) von 1971 [1972] universal (gut zwei Drittel der Staaten) Lateinamerika (Vertrag von Tlatelolco [1968]), Südpazifik (Rarotonga [1986]), Südostasien (Bangkok [1997]), Afrika (Pelindaba [2002]), Zentralasien (Semei [2009]) regional <?page no="164"?> 164 8. Arbeitsbereiche der UNO Wichtige Internationale Verträge zu Rüstungskontrolle/ Abrüstung/ Nichtverbreitung Zweck Abkommen/ Konvention [Jahr] = in Kraft seit Mitgliedschaft → B-Waffen (biologische) und C-Waffen (chemische) Verbot B-Waffen-Konvention oder Vertrag über das Verbot biologischer Waffen (Biological Weapons Convention/ BWC oder Convention on the Prohibition of the Development, Production and Stockpiling of Bacteriological (Biological) and Toxin Weapons and on their Destruction) von 1972 [1975] universal (über 160 Staaten) Chemie-Waffen-Konvention oder Vertrag über das Verbot chemischer Waffen (Chemical Weapons Convention/ CWC oder Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and on their Destruction) von 1993 [1997] Überwachung durch die Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) universal (fast alle Staaten) → konventionelle Waffen besonders inhumane Waffen Waffenübereinkommen (Convention on Certain Conventional Weapons/ CCW oder Convention on Prohibitions or Restrictions on the Use of Certain Conventional Weapons Which May Be Deemed to Be Excessively Injurious or to Have Indiscriminate Effects) von 1980 [1983]; besteht aus fünf Protokollen zu spezifischen Problembereichen universal (fast 120 Staaten, z.T. aber nicht alle Protokolle) ▶ Landminen Vertrag zum Verbot von Anti-Personen-Minen oder Ottawa-Konvention (Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on Their Destruction oder kurz Mine Ban Treaty) von 1997 [1999] - kein Teilabkommen des CCW, was weiterhin verhandelt wird - universal (drei Viertel der Staaten, nicht aber VR China, Russische Föderation, USA) ▶ Streumunition Vertrag über Streumunition (Convention on Cluster Munitions/ CCM) von 2008 [2011], auch als Oslo-Prozess bekannt - kein Teilabkommen des CCW - universal (über 100, nicht VR China Russland, USA) ▶ Waffen-Handel Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty/ ATT) von 2013 [2014] zur Regelung des legalen internationalen Handels konventioneller Waffen aller Art und Größe - indirekt zur Kontrolle des illegalen Waffenhandels universal (fast 100 Staaten, (nicht u. a. die VR China Russland, USA) Bilaterale Übereinkommen zwischen den USA und der UdSSR über Atomwaffen regeln die vollständige Abrüstung von Kurz- und Mittelstrecken-Raketen (INF 1987), die Reduzierung strategischer Atom-Sprengköpfe bzw. ihrer Trägersysteme wie Interkontinentalraketen und strategische Bomber (START I 1991, START II 1993, New START 2011), sowie den Verzicht auf großräumige, insbesondere satellitengestütze Raketenabwehrsysteme (ABM 1972); trotz Abmachungen wie der Reduzierung der Sprengköpfe von 2200 auf 1550 bzw. der Trägersysteme von 1600 auf 800 auf jeder Seite bleiben den Supermächten ausreichend nukleares Potential, die Welt zu zerstören. Andere Vertragswerke zur Kontrolle und Reduzierung der Entwicklung und Verbreitung von nuklearen Waffensystemen sind multilateral offen für die Teilnahme aller Staaten - für solche, die offiziell über Atomwaffen verfügen (USA, UdSSR/ Russische Föderation, VR China, Großbritannien, Frankreich), für solche, die sich nicht so offiziell zu ihren Atomwaffen <?page no="165"?> 165 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) bekannten (Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea), und durchaus auch für solche, die keine Atomwaffen haben oder auch gar nicht haben wollen, aber mit ihrem Vertragsbeitritt eine Selbstverpflichtung eingehen und zugleich einen appellativen Akt gegen die Besitzer von Atomwaffen richten. Mit dem ‚Atomteststoppabkommen‘ (NTBT/ PTBT, 1963) war es gelungen, Kernwaffenversuche nur noch unterirdisch zuzulassen, um weitere Freisetzung nuklearer Strahlung zu verhindern; der ‚Kernwaffenteststopp-Vertrag‘ (CTBT, 1996), von der Generalversammlung angenommen, aber wegen fehlender Ratifikationen nicht in Kraft (vgl. 7.2), verhängt ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen, das überwacht werden soll durch eine eigens dafür eingerichtete internationale Organisation (CTBO); der ‚Nichtverbreitungsvertrag‘ (NPT, 1968) versucht, die Weiterverbreitung von nuklearen Waffen zu verhindern, indem sich die Vertragsstaaten verpflichten, nukleare Waffen und Waffentechnologien nicht an andere Staaten weiterzugeben, damit diese nicht als konkurrierende Atommächte auftreten können, was überwacht wird durch die internationale Atomenergiebehörde (IAEA); ein daran anschließender Vertrag zum Verbot der Herstellung spaltbaren Materials (‚Fissile Material Cut-off Treaty‘/ FMCT), der die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung und Produktion von Kernwaffen eleminieren soll, wird seit 1995 auf der Genfer Abrüstungskonferenz (UNCD) verhandelt, aber ein Ergebnis ist dabei nicht abzusehen. Internationale Abkommen gegen Atomwaffen setzen nicht nur an den Waffensystemen an, sondern versuchen schon, einzelne Weltgegenden und -räume gar nicht erst zur Waffenbasis oder zum möglichen Schlachtfeld werden zu lassen: Der ‚Antarktis-Vertrag‘ (ATS, 1961) hält die Region südlich des 60. Breitengrades von Militarisierung jeder Art frei, damit sie ausschließlich friedlich genutzt wird, insbesondere durch wissenschaftliche Forschung; der ‚Meeresboden-Vertrag‘ (1972) verbietet die „Anbringung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden und im Meeresuntergrund“; der ‚Weltraumvertrag‘ (1967) ist als „Outer Space Treaty“ nicht sience fiction, sondern regelt sehr ernsthaft die „Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper“ und verbietet dort die Stationierung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen. Zusätzlich hat sich über dem Meeresspiegel und nördlich der Antarktis fast die ganze südliche Hemisphäre der Erde in regionalen Verträgen zu „atomwaffenfreien Zonen“ erklärt. Nicht so apokalyptisch bedrohlich wie die Atomwaffen, aber auch fähig, menschliches Leben auf der Erde auszulöschen oder dauerhaft zu schädigen, sind biologische „B-Waffen“ und chemische „C-Waffen“: Die auf dem ‚Genfer Protokoll‘ (1925) aufbauende ‚Biowaffenkonvention‘ (BWC, 1971) soll Herstellung und Verbreitung von biologischen Waffen verhindern, indem sie die Vertragsstaaten verpflichtet, sie nicht zu entwickeln, herzustellen oder vorzuhalten bzw. vorhandene Bestände zu zerstören sowie keinesfalls an andere Staaten in irgendeiner Form weiterzugeben, wobei allerdings mangels konkreter Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle die Überwachung schwierig ist; die ebenfalls auf dem ‚Genfer Protokoll‘ (1925) aufbauende ‚Chemiewaffenkonvention‘ (CWC, 1993) verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen und legt dafür umfassende und <?page no="166"?> 166 8. Arbeitsbereiche der UNO konkrete Abrüstungsschritte fest, was zu überwachen ist durch eine eigens dafür eingerichtete internationale Organisationen (OPCW). Trotz der unvorstellbaren Tötungskapazität der A-, B- und C-Waffen sterben Menschen in gewaltsamen Konflikten fast immer durch konventionelle Waffen, die wegen ihrer komplexen Vielfalt und der grenzenlos weiten Verbreitung besonders der simpleren Typen am schwersten einzuschränken oder abzurüsten sind. Gegen einige der schlimmsten dieser Waffen richtet sich der Versuch, das aus einer kurzen Grundvereinbarung und bisher fünf gesonderten Vereinbarungen („Protokollen“; vgl. 7.2) zu spezifischen Waffenarten und Problemen zusammengesetzte ‚Waffenübereinkommen‘ (Convention on Certain Conventional Weapons/ CCW, 1980) zu etablieren und weiter auszuarbeiten. So bot das CCW zwar eine Grundlage, bestimmte Waffen international zu bannen, zeigte aber besonders in der Frage der Landminen auch die Ineffizienz von multilateralen Abrüstungsbemühungen. Manchmal werden politische Fortschritte erst möglich, wenn die vorgegebenen Routinen des multilateralen Geschäftes - wenigstens zeitweise - außer Acht gelassen werden, damit sich Initiativen außerhalb von UN-Gremien mit Hilfe von öffentlichem bzw. zivilgesellschaftlichem Druck politisch durchsetzen können. So entstanden neben dem CCW zwei Abkommen gegen die heimtückischen Waffenarten Landminen und Streumunition, indem einzelne Regierungen die träge Abrüstungsdiplomatie überrumpelt haben: Die sog. ‚Ottawa-Konvention‘ zum Verbot von Anti-Personen-Minen/ Landminen (Mine Ban Treaty, 1997) initiierte Kanada durch eine Konferenz 1997 zum Bann dieser Waffen, die zu überraschendem Erfolg führte dank der Unterstützung von internationalen Organisationen (wie Rotes Kreuz/ Halbmond und UNICEF) und vor allem dank des Engagements nichtstaatlicher Aktionsgruppen, den nötigen politischen Willen zu erzeugen, koordiniert in der International Campaign to Ban Landmines (ICBL); das Übereinkommen über Streumunition (Convention on Cluster Munitions/ CCM, 2011) entstand in ähnlicher Weise parallel zu den festgefahrenen Verhandlungen im CCW als sog. „Oslo-Prozess“ auf Initiative Norwegens und weniger gleichgesinnter Staaten. Ein größeres und schwerer zu bewältigendes Problem sind kleine und leichte Waffen („small arms and light weapons“), besonders die herkömmlichen Handfeuerwaffen, zu deren Kontrolle seit längerer Zeit in der UNO versucht wurde, Regeln durchzusetzen, was schließlich grundsätzlich mit dem Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty/ ATT, 2013) zur Regelung des legalen internationalen Handel konventioneller Waffen aller Art und Größe - potentiell auch zur Kontrolle des illegalen Waffenhandels - gelang, der aber wie alle Rüstungskontrollverträge in der Praxis erst noch umgesetzt werden muss - und gegebenfalls werden in den Vertragsstaatenkonferenzen Nachbesserungen zu verhandeln sein. Immer sind einige Staaten - und manche Staaten fast immer - nicht für klare Bestimmungen gegen Produktion und Handel von Waffen. Bei allen Abrüstungs-Verträgen ist es aufschlussreich, die Listen der (noch) nicht beigetretenen Staaten anzusehen, die gar nicht erst unterzeichnet oder zwar unterzeichnet aber nicht ratifiziert haben - und so in vielen Fällen das In-Kraft-Treten eines Abkommens blockieren. Ob ABC-Waffen oder konventionelle: oft sperren sich gerade die Großmächte USA, Russische Föderation und VR China und in militärischer Rüstung ebenfalls sehr aktive Staaten wie Pakistan, Nordkorea, Iran und Israel; aber <?page no="167"?> 167 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) auch Deutschland verhält sich zwiespältig, wenn es einerseits Abkommen gegen besonders perfide Waffen oder gegen illegalen Waffenhandel konstruktiv verhandelt, andererseits als Produzent konventioneller Waffen den legalen Export von Rüstungsgütern erträgt. Gerade für Regierungen, die multilateral kooperieren sollen, gilt, dass Vertrauen gut ist - eben weil der dauerhafte Aufbau von gegenseitigem Vertrauen elementare Bedingung für den Erfolg der Kooperation ist; aber wenn es um das Funktionieren der wichtigsten Instrumente des Multilateralismus geht - von verbindlichen Verträgen über einzuhaltende Regeln - dann ist Kontrolle besser. Allein schon die Verpflichtung der Vertragsstaaten, regelmäßig Berichte über den Stand der Vertragserfüllung einzureichen, kann die Disziplin zur Regeleinhaltung fördern; darum sehen Abrüstungsabkommen als spezielle Instrumente zur Überwachung und Verifikation (monitoring/ verification) bereits existierende internationale Organisationen oder eigens zu gründende vor: Den Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT) überwacht die CTBO (Comprehensiave Nuclear-Test-Ban Treaty Organization) in Wien mithilfe eines technischen Systems, das ständig weltweit seismische Phänomene registriert und auswertet, ob sie auf eine Kernwaffenexplosion hinweisen; die Internationale Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency/ IAEA, dt. auch IAEO) in Wien überwacht nicht nur die Einhaltung der Atomwaffen beschränkenden Abkommen (insbesondere den Nichtverbreitungsvertrag/ NPT), sondern begutachtet auch in politisch heiklen Streitfällen, ob und inwieweit ein Staat Atomwaffen entwickelt; die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (Organization for the Prohibition of Chemical Weapons/ OPCW) in Den Haag soll die Erfüllung der im Anhang der Chemiewaffenkonvention (CWC) aufgelisteten Kriterien und Maßnahmen verifizieren. Literaturverweis zu 8.1.1.: Rüstungskontrolle und Abrüstung Horn 2005; Krause 2007, 2018; Thränert 2018 8.1.2 Konfliktbewältigung und Friedenssicherung Der Versuch, Konflikte zu bewältigen um Frieden zu sichern, prägt die Arbeit in der UNO mehr als Abrüstung; gewaltsame Streitigkeiten zwischen Staaten zu verhindern oder wenigstens zu lindern, sie zu kontrollieren oder gar aufzulösen, ist der wesentliche Teil des Mandates der UNO; die VN-Charta regelt dazu die Pflichten der Staaten und die Rechte der Organe der Organisation - aufgeteilt unter den Aspekten Streitschlichtung (nach Kapitel VI) und Friedenserzwingung (nach Kapitel VII). <?page no="168"?> 168 8. Arbeitsbereiche der UNO Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. VI: friedliche Streitbeilegung VI 33 ▶ Streitparteien „bemühen sich zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl“ ▶ Der Sicherheitsrat fordert die Parteien dazu auf, „wenn er dies für notwendig hält“ VI 34 ▶ Der Sicherheitsrat „kann jede Streitigkeit sowie jede Situation, die zu internationalen Reibungen führen oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte, untersuchen, um festzustellen, ob die Fortdauer der Streitigkeit oder der Situation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte“ er hat die Definitionsmacht, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist VI 35 ▶ Jedes VN-Mitglied „kann die Aufmerksamkeit“ des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung (nur im Rahmen von Art. 11 und 12) auf jede Streitigkeit bzw. auf jede Situation nach Art. 34 „lenken“ einzelne Mitgliedstaaten können eine Befassung anregen, aber nicht erzwingen VI 36 ▶ Der Sicherheitsrat kann in jedem Stadium einer Streitigkeit Empfehlungen geben und soll alle Verfahren in Betracht ziehen ▶ Rechtsstreitigkeiten sollen von den Parteien dem IGH unterbreitet werden VI 37 ▶ Können die Parteien eine Streitigkeit nach Art. 33 diese nicht mit den dort angegebenen Mitteln beilegen, legen sie die Streitigkeit dem Sicherheitsrat vor ▶ Wenn der Sicherheitsrat durch die Fortdauer der Streitigkeit eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit befürchtet, kann er nach Art. 36 tätig werden oder ihm angemessen erscheinenden Empfehlungen für eine Beilegung abgeben keine Maßnahmen zum „peace-keeping“ (sog.„Blauhelm“-Einsätze) vorgesehen VI 38 ▶ Wenn alle Parteien einer Streitigkeit dies beantragen, kann der Sicherheitsrat Empfehlungen zur friedlichen Beilegung an diese richten (unbeschadet der Art. 33 bis 37) Ansatzpunkt für das in der Charta nicht vorgesehene „peace-keeping“ (sog. „Blauhelm“-Einsätze) mit Zustimmung der Konfliktparteien Art. 34 gibt dem Sicherheitsrat die exklusive Definitionsmacht festzustellen, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist - ob und wann also der Rat sich damit befassen und gegebenenfalls eine Resolution beschließen muss, die verpflichtend für alle Mitgliedstaaten Maßnahmen vorschreibt. Der Gedanke, Soldaten aus am Streit nicht beteiligten Staaten als nicht-kämpfende neutrale Dritte - die späteren „Blauhelme“ - schlichtend und/ oder präventiv einzusetzen, ist nicht erkennbar, allenfalls Ansatzpunkte dafür. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. VII: Friedens-Erzwingung VII 39 ▶ Der Sicherheitsrat „stellt fest, ob eine Bedrohung, ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“ ▶ Der Sicherheitsrat gibt Empfehlungen ab oder beschließt Maßnahmen nach Art. 41/ 42 zur Wahrung oder Wiederherstellung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit der Sicherheitsrat hat die Definitionsmacht, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist VII 40 ▶ Der Sicherheitsrat kann die Konfliktparteien zu vorläufigen Maßnahmen auffordern, die die Rechte der Parteien nicht berühren, um einer Verschärfung der Lage vorzubeugen ▶ „Wird den vorläufigen Maßnahmen nicht Folge geleistet, so trägt der Sicherheitsrat diesem Versagen gebührend Rechnung“ VII 41 ▶ Der Sicherheitsrat kann zur Durchsetzung seiner Beschlüsse die Mitglieder der VN auffordern, Maßnahmen „unter Ausschluss von Waffengewalt“ durchzuführen (Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen, Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen, Abbruch der diplomatischen Beziehungen) der Sicherheitsrat hat das Recht, Sanktionen zu verhängen keine Maßnahmen zum „peace-keeping“ (sog. „Blauhelm“-Einsätze) vorgesehen <?page no="169"?> 169 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. VII: Friedens-Erzwingung VII 42 ▶ Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, dass Maßnahmen nach Art. 41 nicht ausreichen, „so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen“, durch „Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der VN“ der Sicherheitsrat hat das Recht zu militärischen Zwangsmaßnahmen VII 43 ▶ Alle Mitglieder der VN verpflichten sich, dafür „dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen, Beistand leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts gewähren“ ▶ und zwar „nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen“ (über Zahl und Art der Streitkräfte usf.), die baldmöglichst zwischen dem Sicherheitsrat und Einzelmitgliedern oder Mitgliedergruppen ausgehandelt und beschlossen werden Solche Sonderabkommen i.e.S. kamen nie zustande, allenfalls freiwillige Zusagen VII 44 ▶ Teilnahme eines im Sicherheitsrat nicht vertretenen Mitgliedes, das nach Art. 43 zur Stellung von Streitkräften aufgefordert wird, an Beschlüssen über deren Einsatz VII 45 ▶ Die Mitglieder der VN halten Kontingente ihrer Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz bereit gemäß der Sonderabkommen nach Art. 43 VII 46 ▶ Bei der Anwendung von Waffengewalt unterstützt der Generalstabsausschuss den Sicherheitsrat VII 47 ▶ Ein Generalstabsausschuss, zusammengesetzt aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder, soll den Sicherheitsrat in allen militärischen Fragen (auch Rüstungsregelung und Abrüstung) beraten und unterstützen ▶ Der Generalstabsausschuss soll unter der Autorität des Sicherheitsrats die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte haben der Generalstabsausschuss wurde nie ernsthaft aktiviert VII 48 ▶ Maßnahmen [nach Art. 42] „werden je nach dem Ermessen des Sicherheitsrats von allen oder von einigen Mitgliedern“ durchgeführt, ▶ unmittelbar oder „in den geeigneten internationalen Einrichtungen“, in denen sie Mitglieder sind somit können auch Militärbündnisse wie die NATO beauftragt werden VII 49 ▶ „Bei der Durchführung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Maßnahmen leisten die Mitglieder der VN einander gemeinsam handelnd Beistand“ Beistandsverpflichtung für die „kollektive Sicherheit“ VII 50 ▶ Jeder andere Staat, der wegen Vorbeugungs- oder Zwangsmaßnahmen wirtschaftliche Probleme bekommt, kann zu deren Lösung den Sicherheitsrat konsultieren VII 51 ▶ Im Falle eines bewaffneten Angriffs ist „keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ beeinträchtigt, solange „bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen […] getroffen hat“ ▶ Maßnahmen in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie beschränken nicht seine Befugnis und Pflicht zur Friedenswahrung das Monopol für Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats ist nicht eingeschränkt Das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 beschneidet nicht die Kompetenzen des Sicherheitsrats. Art. 39 gibt ihm noch einmal für die höhere Eskalationsstufe die exklusive Definitionsmacht festzustellen, was „Bedrohung“ oder gar „Bruch“ des Friedens ist. Bleiben Vermittlungsversuche erfolglos, kann der Sicherheitsrat per Resolution nach Art. 41 Sanktionen aller Art ohne Waffengewalt verhängen oder nach Art. 42 militärische Zwangsmaßnahmen bis zum Krieg anordnen. Art. 49 garantiert dies durch die Beistandsverpflichtung der Mitglieder. Maßnahmen i.S. des späteren „peace-keeping“ (sog. „Blauhelm“-Einsätze) sind nicht explizit vorgesehen. <?page no="170"?> 170 8. Arbeitsbereiche der UNO Der vorgesehene „Generalstabsausschuss“ zur militärischen Führung bei Zwangsmaßnahmen wurde nie aktiviert, weil UN-kontrolliertes Militär politisch nicht wirklich erwünscht war; doch auch Staaten-Allianzen oder Militärbündnisse (wie die NATO) können auf der Grundlage von Art. 42 beauftragt werden. Der Sicherheitsrat kann zudem Aufgaben zur Sicherung des Friedens auch auf von ihm autorisierte internationale Regionalorganisationen (z. B. eines Kontinents wie die Afrikanische Union / AU oder die Europäische Union/ EU) übertragen Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Frieden und Sicherheit → Kap. VIII: Regionale Abmachungen VIII 52 ▶ „Regionale Abmachungen oder Einrichtungen“, die mit Zielen und Grundsätzen der VN vereinbar sind, können zur Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit geeignete Maßnahmen regionaler Art ausführen ▶ Durch solche Abmachungen oder Einrichtungen sollen Mitglieder der VN örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen versuchen, bevor sie den Sicherheitsrat einschalten ▶ Der Sicherheitsrat fördert dies auf Veranlassung der beteiligten Staaten oder durch Überweisung seinerseits ▶ Art. 34/ 35 werden dadurch nicht beeinträchtigt VIII 53 ▶ Der Sicherheitsrat kann regionale Abmachungen/ Einrichtungen bei Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität einsetzen ▶ Ohne seine Ermächtigung sind Zwangsmaßnahmen auf Grund regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen nicht erlaubt der Sicherheitsrat kann Aufgaben auf Regionalorganisationen delegieren, behält aber die übergeordnete Kompetenz Die operative Aufgabe, Konflikte zu bewältigen um Frieden zu sichern, kommt nur dem Sicherheitsrat zu: Das generelle Gewaltverbot (Art. 2), die Verpflichtung der Mitgliedstaaten der UNO, die Beschlüsse des Rates umzusetzen (Art. 25), und die Deutungshoheit festzustellen, ob es ein zu behandelndes Problem gibt oder nicht (Art. 34 und 39) geben zusammenwirkend dem Sicherheitsrat das internationale Monopol für Zwangsmaßnahmen - er ist der Kern des Systems der „kollektiven Sicherheit“ (Art. 1 und 49). Die Dominanz der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat ist gewaltig: Sie können eine ihnen unerwünschte Befassung des Rates mit einem Problem schlicht verhindern, indem sie der Feststellung der Bedrohung nicht zustimmen; doch mit dem Willen der ständigen Mitglieder kann eine Mehrheit des Sicherheitsrats sehr wohl auch Situationen als bedrohlich erkennen und feststellen, die beteiligte Staaten gerne ungestört als innere Angelegenheiten behandeln würden. Stets bemühen sich besonders die ständigen Mitglieder, den Spielraum des Sicherheitsrates möglichst offen zu halten und ihn durch seine eigenen Entscheidungen möglichst nicht dauerhaft festzulegen; auch das erklärt das oft beklagte Zaudern des mächtigsten UN-Gremiums. Das gilt umso mehr für jede Art des Eingreifens in die Souveränität eines Staates, weil diese ihnen allen als Prinzip heilig ist. Der erste harte Test des neuen Systems der kollektiven Sicherheit war der Koreakrieg (1950-53), den eine von den USA geführte Militärallianz unter der blauen Flagge der Vereinten Nationen führte: Nordkoreanische Truppen waren in Südkorea einmarschiert; weil die Sowjetunion längere Zeit den Sicherheitsrat mit ihrer „Politik des leeren Stuhles“ boykottierte, konnten (unter pragmatischer Auslegung von VN-Charta Art. 27) Resolutionen beschlossen <?page no="171"?> 171 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) werden, die diese Invasion verurteilten und alle Mitgliedstaaten ermächtigten, sie zurückzuschlagen; China wurde damals noch durch das pro-westliche Taiwan vertreten. Gravierende Schwächen der kollektiven Friedenssicherung waren so deutlich geworden: ▶ Der Beschluss zur Verteidigung Südkoreas konnte nur wegen des Fehlens der Delegation einer Veto-Macht unter Dehnung der Charta gefasst werden; ▶ die von der Charta vorgesehenen Truppen der UNO konnten nicht eingesetzt werden, weil es sie nicht gab - und nie geben sollte; ▶ die ersatzweise beauftragte Militärallianz verfolgte ihre eigene Kriegspolitik, die von der UNO wenig zu beeinflussen war. Noch im Jahr 1950 versuchten die USA mit der Mehrheit der westlichen Länder, die Bestimmungen der Charta mittels einer Resolution der Generalversammlung zu modifizieren - eine Charta-Änderung wäre zu umständlich (siehe 4) und wegen des Widerstandes der Sowjetunion unmöglich gewesen. Die „Uniting for Peace“-Resolution (A/ RES/ 377(V)) beanspruchte, dass die Generalversammlung - gegebenenfalls in einer Notstandssitzung - eine Angelegenheit an sich ziehen und darüber beschließen kann, wenn der Sicherheitsrat seine unbestrittene Hauptverantwortung nicht wahrnimmt, z. B. weil er durch das Verhalten eines ständiges Mitglieds blockiert ist. In der Charta finden sich Ansatzpunkte für diese Sichtweise (VN-Charta Art. 11 und Art. 20) und auch der Internationale Gerichtshof (IGH/ ICJ) stärkte sie (beiläufig in Urteilen von 1962 und 1970), aber die Resolution bleibt umstritten, insofern sie ein aktives Eingreifen auch dann legitimieren könnte, wenn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats sich nicht einig sind - was eben gerade mit der Veto-Regelung ausgeschlossen sein sollte: Damit wäre die politische Logik i.S. des Dilemmas bei Gründung der UNO (siehe 3.2) unterlaufen, verhindern zu müssen, dass eine Großmacht sich nicht mehr an der Arbeit der Organisation beteiligt und sie so irrelevant macht. Immerhin ist „Uniting for Peace“ ein frühes Beispiel für die Fähigkeit der UNO, sich bei ernsthaftem Bedarf in genuin politischer Weise zu ändern - also informell, pragmatisch und flexibel (siehe 7.6). Als Handlungsoption wurde die problematische Resolution ausgemustert, als die USA und die westlichen Länder ihre Mehrheit in der Generalversammlung an die neuen Staaten des Südens verloren, es also nicht mehr opportun war, diesem Hauptorgan mehr Macht zuzubilligen. 8.1.2.1 Streitbeilegung nach Kapitel VI und Friedens-Erzwingung nach Kapitel VII Von der VN-Charta ist klar vorgegeben, wie der Sicherheitsrat vorgehen kann im typischen Ablauf eines Konfliktfalles: 1. Staaten haben oder machen sich ein Problem miteinander, einseitig oder gegenseitig. 2. Der Generalsekretär, die Generalversammlung oder Mitgliedstaaten können den Sicherheitsrat auf das Problem aufmerksam machen. 3. Der Sicherheitsrat stellt fest, ob es ein Problem gibt und untersucht es, falls er feststellt, dass eine Bedrohung des Friedens oder der internationalen Sicherheit vorliegt. <?page no="172"?> 172 8. Arbeitsbereiche der UNO 4a. Der Sicherheitsrat fordert die Streitbeteiligten zu Verhandlungen und/ oder zu einem bestimmten Verhalten auf und empfiehlt weitere Maßnahmen zur friedlichen Lösung des Problems nach Kapitel VI der VN-Charta, oder 4b. Der Sicherheitsrat beschließt Maßnahmen zur Erzwingung einer Lösung des Problems, zu deren Durchführung alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind nach Kapitel VII der VN-Charta. Unter Kapitel VI zur friedliche Streitbeilegung (peacemaking) sind alle Maßnahmen möglich, die in jeder denkbaren Weise einen akuten Konflikt zu entschärfen oder gar zu lösen geeignet sind, von der vermittelnden Mediation über die klassische diplomatische Verhandlung bis zum streitigen Gerichtsentscheid oder auch dem „Druck der Weltöffentlichkeit“; oft war schon die Organisation von Gesprächen zwischen Konfliktbeteiligten ein erster Fortschritt; als hilfreich hat sich erwiesen, dass der Generalsekretär selbst oder ein vom ihm persönlich Beauftragter rasch in „stiller Diplomatie“ vermittelnd eingreift. Unter Kapitel VII zur unfriedlichen Erzwingung des Friedens (peace enforcement) ist der Einsatz gewaltsamer Methoden möglich, die einen oder mehrere Konfliktbeteiligte zum Einlenken oder zur Aufgabe nötigen können; friedenserzwingende Maßnahmen sind zum einen die Verhängung von Sanktionen meist wirtschaftlicher Art, zum anderen Drohung mit und Ausführung von militärischen Gewaltmaßnahmen - bis zum „Krieg“. <?page no="173"?> 173 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) <?page no="174"?> 174 8. Arbeitsbereiche der UNO <?page no="175"?> 175 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Sanktionen gehören zu den Zwangsmitteln zur Erzwingung eines bestimmten Verhaltens, bleiben jedoch unterhalb der Schwelle gewaltsamer militärischer Maßnahmen, müssen aber teilweise mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden, z. B. Blockaden von Verkehrswegen durch Seestreitkräfte. Sanktionen können in vielerlei Formen wirksam werden; die wichtigsten sind ▶ diplomatisch: abgestufte Druckausübung bis hin zur völligen Isolierung; ▶ militärisch: Waffen-Embargo, Seeblockaden, Flugverbotszonen; ▶ wirtschaftlich: Unterbrechung der Luft- und Seeverbindungen, Öl-Embargo, Handelsbeschränkungen wie Import-/ Export-Verbote, Restriktionen im Finanzwesen; ▶ auf konkrete Personen bezogen: Reisebeschränkungen für Regierungsmitglieder o. ä., Beschlagnahme von Konten und Geldern, individuelle Strafverfolgung. Die Verhängung von Sanktionen greift schon weit ein in die Souveränität eines Staates. Für gemäß der VN-Charta durch mindestens eine Resolution des Sicherheitsrats legitimierte Sanktionen wird ein sog. Sanktions-Regime eingerichtet, das mittels eines jeweils gesonderteren Sanktions-Ausschusses (sanctions committee) geregelt und kontrolliert wird. In der langen Zeit der Ost-West-Konfrontation konnte sich der Sicherheitsrat nur in zwei Fällen auf ein Sanktions-Regime einigen: 1966-1979 gegen Südrhodesien (heute Simbabwe) und 1977-1994 gegen Südafrika, beide wegen ihrer Rassenpolitik. Seit den 1990er-Jahren wurden Sanktionen häufiger verhängt: u. a. gegen Afghanistan (Al Qaida/ Taliban), Irak, Iran, Libanon, Libyen, das ehemalige Jugoslawien, Haiti sowie Elfenbeinküste, Republik Kongo und Volksrepublik Kongo, Liberia, Ruanda, Sierra Leone, Somalia und Sudan. Alle sanktionierten Staaten unterliegen militärischen Einschränkungen (z. B. keine Waffenlieferungen, Seeblockaden, Flugverbote); die meisten müssen Einschränkungen ihres Handels hinnehmen; fast immer wurden Reisebeschränkungen und Finanzsanktionen für aufgelistete Einzelpersonen und Institutionen ausgesprochen. Die bisher häufigsten Begründungen für Sanktionen sind der Schutz der Bevölkerung insgesamt oder von Minderheiten in Bürgerkriegen sowie Terrorismusabwehr. Sanktionen im Sinne der VN-Charta können nur vom Sicherheitsrat mandatiert werden; die Mitglieder der UNO sind verpflichtet, sie einzuhalten. Nicht für alle verpflichtende Sanktionen können auch einzelne Staaten oder Regionalorganisationen wie die EU verhängen, sofern sie nicht Gewaltmaßnahmen im Sinne von Kapitel VII der VN-Charta umfassen; ein Embargo kann z. B. bedeuten, dass ein Staat gegenüber dem sanktionierten Staat die Lieferung von Waffen und/ oder jede technische Unterstützung für frühere Lieferungen einstellt. Um Regierungen von Fehlverhalten abzubringen, scheinen Sanktionen gut brauchbar, insofern sie formal einfach zu verhängen, direkt umzusetzen und potentiell sehr wirkungsvoll sind. Allerdings treffen wirksame wirtschaftliche Sanktionen meist die breite Bevölkerung viel härter als die herrschenden Eliten und das Regierungspersonal; Staatsfunktionäre profitieren möglicherweise sogar von Sanktionsmaßnahmen. Wenn nicht nur die Lebensbedingungen der Bevölkerung eines sanktionierten Landes verschlechtert, sondern auch ihr Selbstwertgefühl dauerhaft verletzt werden, schwindet rasch das Vertrauen in internationale Institutionen; der Druck von außen kann sogar die Zustimmung zur eigenen Regierung stärken. <?page no="176"?> 176 8. Arbeitsbereiche der UNO Zu vage definierten Sanktionen können auch Nachbarländer schädigen oder dort Profit mit der Umgehung von Sanktionen ermöglichen. Wenn die Verhängung von Sanktionen im Sinne der erklärten Absichten wirkungsvoll sein soll und nicht nur ein - womöglich für die sanktionierenden Regierungen selbst bedeutsamer - symbolischer Akt einer Ersatzhandlung, müssen die Maßnahmen zielgenau gewählt, passend kombiniert und vor allem konsequent überwacht werden. Als „smart sanctions“ wurden differenzierte und treffgenaue Maßnahmen gesucht; das Mandat des UN-Sicherheitsrats zu Sierra Leone (S/ RES/ 1306 (2000)) sollte erstmals „intelligente“ Sanktionen verhängen, durch die am Konflikt interessierte Profiteure getroffen werden. Ein entscheidendes Instrument, Sanktionen glaubwürdig zu verstärken und zu ergänzen, kann die internationale Strafgerichtsbarkeit werden (siehe 8.2.3), denn sie zielt direkt auf verantwortliche Staats-Funktionäre und trifft nicht die breite Bevölkerung. Wenn Sanktionen nicht die nötige Wirkung zeigen, bleiben noch die härteren militärischen Optionen von punktuellen Luftangriffen zur Ausschaltung spezieller Ziele über die systematische Kontrolle des Luftraums zur Durchsetzung einer Flugverbotszone oder die Bombardierung von Raketenstellungen bis zum breiten Kampfeinsatz von Bodentruppen. Das Konzept der kollektiven Sicherheit erfordert nicht, dass die UNO eigene Truppen in rechtlicher und faktischer Verfügung hat; sie hat nie welche erhalten, auch weder Ausrüstung und Waffen noch die nötigen Kommando- und Kommunikationsstrukturen. Zwar sehen die Bestimmungen der Charta (Art. 43-47) eigenständige militärische Strukturen der UNO vor, was aber alles nicht realisiert werden konnte; insbesondere der „Generalstabsausschuss“ zur militärischen Führung von Zwangsmaßnahmen wurde nie aktiviert. Zunächst lag dies am eskalierenden Ost-West-Gegensatz, doch grundsätzlich ist kein Staat bereit, zwar Truppen zu stellen oder gar „UNO-Truppen“ zu finanzieren, aber die Befehlsgewalt über sie abzugeben; gerade die mächtigsten wollen möglichst viel Militär unter ihrer Kontrolle halten. Militäreinsätze nach Kapitel VII der VN-Charta bestreiten also nationale Truppen souveräner Staaten, die auch nicht von UN-Instanzen kommandiert werden. Denn zur Durchführung seiner Mandate hat der Sicherheitsrates nur zwei Möglichkeiten: Er kann eine Gruppe von Staaten beauftragen, die dazu von sich aus bereit sind („coalition of the willing“), oder auch eine Regionalorganisation wie die Europäische Union (EU), die Afrikanische Union (AU) oder ein Militärbündnis wie derzeit nur die NATO. Die Truppen bleiben unter dem Kommando des truppenstellenden Staates, das sich allenfalls dem Kommando des die Koalition anführenden Staates unterstellt. Kriegs-Einsätze aufgrund eines eindeutigen Mandats nach Kapitel VII gab es wenige, nur ▶ den Krieg in Korea 1950-53 und ▶ den Einmarsch in den Irak nach dessen Aggression gegen Kuweit 1991. Andere Einsätze sind in ihrer Rechtmäßigkeit zumindest umstritten oder klar als Völkerrechtverstösse anzusehen: ▶ Der Luftkrieg von NATO-Flugzeugen gegen Jugoslawien 1999 war als „humanitäre Intervention“ in massiven Menschenrechtsverletzungen an der albanischen Bevölkerung im <?page no="177"?> 177 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Kosovo begründet, aber nicht rechtzeitig vom Sicherheitsrat legitimiert worden; wegen prinzipieller Bedenken der Russischen Föderation und der VR China war kein Mandat für militärisches Eingreifen zu erreichen. Nachträglich wurde versucht, die Rechtsverletzung mit einem ergänzenden Beschluss des Sicherheitsrats zu heilen. ▶ Die seit 2001 anhaltende Intervention in Afghanistan ist ein andersartiger Fall, weil sie nicht gegen den Staat gerichtet war, sondern gegen eine mit den Terroranschlägen in den USA in Verbindung gebrachte Machtgruppe in einer Bürgerkriegs-Situation; der Militäreinsatz durch eine Koalition unter Führung der USA beseitigte die Regierung der sog. Taliban; der Sicherheitsrat autorisierte die ISAF-Schutztruppe (International Security Assistance Force) als Sicherheits- und Aufbaumission. Seitdem wird unter NATO-Führung und mit aktiver Beteiligung der deutschen Bundeswehr und in Zusammenarbeit mit seiner anerkannten Regierung versucht, Afghanistan zu stabilisieren. Die komplementäre UN-Mission in Afghanistan (UNAMA/ United Nations Assistance Mission in Afghanistan) soll seit 2002 humanitäre Hilfe, sozioökonomische Entwicklung und den Aufbau politischer Strukturen unterstützen. ▶ Für den Krieg gegen den Irak 2003 hatten die USA vergeblich versucht, ein legitimierendes Mandat des UN-Sicherheitsrats zu erhalten. ▶ Im Falle Libyens wurde 2011 auf einen Militäreinsatz verzichtet, der Sicherheitsrat hat nur eine Flugverbotszone angeordnet; die Erfahrungen in Afghanistan und im Irak waren nicht recht motivierend für einen weiteren Versuch massiver Befriedung. Die politische, rechtliche und moralische Zwangslage beim Kosovo-Problem hat die internationale Debatte um die Notwendigkeit humanitärer Intervention (humanitarian intervention) oder später um das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) motiviert und beschleunigt (siehe 8.1.3). Auch wenn das Afghanistan-Mandat rechtlich mit Kapitel VII begründet wurde, handelt es sich nicht um ein klassisches Mandat zur Friedenserzwingung, sondern um eine eigene Form des Eingreifens, die auf Konzepten und praktischen Erfahrungen der Friedenswahrung (peace keeping) aufbauen (siehe 8.1.2.2). Der Bürgerbzw. Stellvertreterkrieg in Syrien seit 2011 stellte die kollektive Sicherheitspolitik vor ihr schlimmstes Problem: Wenn die Großmächte (Russland, USA) und die ihnen verbundenen Regionalmächte (Iran, Saudiarabien) sowie andere Akteure mit spezifischen Absichten (Israel, Türkei) sich nicht wenigstens auf minimale Ziele zum Schutz der Bevölkerung einigen, kommt kein Mandat zustande; zudem passt der Konflikt zu keiner bisher erprobten Lösungsstrategie. 8.1.2.2 Friedens-Wahrung / „peace keeping“ (nach „Kapitel Sechseinhalb“) Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es über zweihundert kriegerische Konflikte: Nur ein knappes Fünftel davon waren klassische zwischen-staatliche Kriege (z. B. wegen Grenzstreitigkeiten), viele waren Entkolonialisierungs-Kriege, doch die meisten waren/ sind innerstaatliche „Bürgerkriege“, die religiös, ethnisch und/ oder sezessionistisch, sozialrevolutionär oder schlicht <?page no="178"?> 178 8. Arbeitsbereiche der UNO als Machtkampf unter rivalisierenden Gruppen herrschender Eliten motiviert sind. In Europa außer auf dem Balkan und auch in Lateinamerika fanden kaum noch Kriege statt, einige im Nahen Osten, viele in Afrika und auch in Asien. Innerstaatliche Kriege Kofi Annan, 1997-2006 Generalsekretär der UNO (Bericht des GS; Doc. A/ 54/ 2000, 27. März 2000; 194) „Once synonymous with the defence of territory from external attack, the requirements of security today have come to embrace the protection of communities and individuals from internal violence.“ Für diese neue Art kriegerischer Konflikte bieten das klassische Konzept der kollektiven Sicherheit und somit die Charta der Vereinten Nationen kaum Regeln und Instrumente. Die Gründungsphase der UNO war zugleich die entscheidenden Phase des bis dahin schlimmsten und größten konventionellen Krieges zwischen vielen Staaten; das 19. Jahrhundert war von Konflikten zwischen den europäischen Nationalstaaten durchzogen, das 20. Jahrhundert begann mit dem Ersten Weltkrieg: Kaum jemand dachte 1945 an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von gewaltsam und mit militärischen Waffen ausgetragenen Konflikten von internationaler Bedeutung, die nicht oder nicht nur zwischen Staaten geführt werden. Doch schon bald entbrannten gewaltsame Konflikte zunächst zur Abschüttelung überkommener kolonialer Herrschaft (z. B. in Indien), danach die aus der Dekolonisation resultierenden Konflikte zur Machtabgrenzung und -konsolidierung nach innen und außen (Indien/ Pakistan/ Bangladesh und die vielen Streitigkeiten in Afrika) oder bis heute die aus anderen Motiven gespeisten Bürgerkriege/ „neuen Kriege“/ „asymmetrischen Kriege“, die alle nicht mehr in das alte Schema des internationalen Krieges passen. Die andauernde Schwächung oder das völlige Versagen eines Staates, dessen Funktionen von konfliktbeteiligten Gruppen privatisiert werden (z. B. Somalia, Afghanistan), macht zudem andere Sicherheitsprobleme als z. B. eine Besetzung eines konventionell besiegten Staates. Ganz andere Herausforderungen liefern transnational operierende Terroristen, die im Extremfall Kriege auslösen können, aber mit Krieg nicht erfolgreich zu bekämpfen sind. Die Charta der Vereinten Nationen gründet auf der alten Vorstellung des Konfliktes bzw. des Krieges zwischen souveränen Staaten; sie bietet vermittelnde „weiche“ Maßnahmen zur friedlichen Streitbeilegung „nach Kapitel VI“ einerseits, andererseits „nach Kapitel VII“ abgestufte „harte“ und auch gewaltsame Maßnahmen zur Erzwingung des Friedens im Sinne des Gedankens der kollektiven Sicherheit - aber alles ausgerichtet auf streitende Staaten als Entscheidungs- und Handlungsträger. Für komplexere Situationen fehlen flexibel gemischte Optionen, wie im Sicherheitsrat schon bald deutlich werden sollte. Zunächst zeigten sich in eher noch herkömmlichen Konflikten zwischen zwei klar abgegrenzten Streitparteien die Lücken im System der kollektiven Sicherheit: in der Suez-Krise <?page no="179"?> 179 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) von 1956 und im Zypern-Konflikt seit 1964; aber schon 1960 war im Kongo die neuartige Konfliktlage eines postkolonialen Bürgerkrieges zu bewältigen. Die Suez-Krise von 1956 war für den Weltfrieden gefährlich, denn neben den unmittelbaren Kontrahenten Ägypten und Israel waren die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien, - beide ja auch Atommächte und ständige Mitglieder des Sicherheitsrates - mit eigenen Truppen engagiert; die Sowjetunion deutet sogar einen Einsatz von Atomwaffen als denkbar an. Der kanadische UN-Delegierte Lester Pearson griff einen von den Briten nebenbei vorgebrachten Vorschlag auf, dass UN-Truppen statt der britischen und französischen die israelischen und ägyptischen Truppen trennen könnten, und arbeitete diese Idee mit dem UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld aus; die Initiative hatte durchschlagenden Erfolg: Die Notstandsitzung der Generalversammlung beauftragte Hammarskjöld, schleunigst ein Konzept vorzulegen und stimmte der Idee (A/ RES/ 1000 (ES-I), 1956) und dem Konzept (A/ RES/ 1001 (ES-I), 1956) ohne Gegenstimmen zu, allerdings unter Enthaltung der Sowjetunion. Bedeutsam für die weitere Entwicklung war weniger, dass der Beschluss als einer der seltenen Anwendungsfälle von „Uniting for Peace“ (siehe 6.2) am durch Frankreich und Großbritannien blockierten Sicherheitsrat vorbei erfolgte, sondern dass die Generalversammlung eine neuartige, in der Charta nicht vorgesehene Maßnahme beschlossen hat - den ersten Einsatz von „Blauhelmen“ („blue helmets“): Mandat der UNEF-Mission war es, mit Zustimmung der Konfliktparteien den Waffenstillstand zu sichern, die Ordnung aufrechtzuerhalten und eine friedliche Streitbeilegung zu fördern, nicht aber politische oder administrative Funktionen auszuüben; diese erste internationale Noteinsatz-Truppe wurde von Staaten gestellt, die nicht Mitglieder des Sicherheitsrats waren; die truppenstellenden Staaten sollten Ausrüstung und Sold übernehmen, die übrigen Kosten waren außerhalb des regulären Haushalts der UNO gesondert von den UN-Mitgliedern zu tragen. Zum ersten Mandat von „Blauhelmen“ durch den Sicherheitsrat selbst kam es vier Jahre später im Kongo (ONUC); in Zypern wurde zu Konfliktschlichtung und Invasionsschutz eine Friedenstruppe (UNFICYP) eingesetzt: 1964 - und es gibt sie heute noch. Das Konzept des Einsatzes von Soldaten nicht zum Kämpfen, sondern zum Verhindern des Kämpfens war neu; seither versteht man unter UN-Friedenstruppen oder „Blauhelmen“ militärische Formationen aus multinational zusammengesetzten Truppenkontingenten, die mit Zustimmung der am Konflikt direkt beteiligten Staaten in einem Krisengebiet stationiert werden, um dort kurzfristig einen Waffenstillstand zu sichern oder den Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern („peace-keeping“). Der Aufgabenkatalog wurde fast mit jedem neuen Mandat erweitert vom passiven Dazwischenstellen bis zur aktiven Gewährleistung der Bedingungen für den Einsatz weiterer multinationaler Instrumente zur Wiederherstellung des Friedens und für Wiederaufbau („peace-building“). Als völkerrechtliche Grundlage für das „peace-keeping“-Konzept wurde ein fiktives „Kapitel Sechseinhalb“ genannt, das sachlogisch zwischen Kapitel VI und VII hängend Elemente aus beiden kombiniert, dadurch aber ein eigenständiges Instrumentarium begründet. Ungeachtet dieser von Generalsekretär Dag Hammarskjöld selbst geprägten Redeweise vom dazwischen-gedachten „Kapitel Sechseinhalb“ müssen sich die Resolutionen des Sicherheitsrates an die niedergeschriebenen Artikel der geltenden Kapitel VI und VII halten. <?page no="180"?> 180 8. Arbeitsbereiche der UNO Heikel war immer die Frage, welche Rechte die Truppe haben sollte, das zu tun was Militär können sollte: kontrolliert Gewalt auszuüben; die Antwort war jahrzehntelang: eigentlich gar keine. Im Geist von Kapitel VI darf die UNO in einem Krisengebiet nur dann unter strikter Einhaltung von Unparteilichkeit militärisch aktiv werden, wenn die über das Gebiet die Souveränität ausübenden Staaten dem zugestimmt haben. Die klassischen „Blauhelme“ mussten ihren Auftrag ungeschützt gegen Feindseligkeiten irgendeiner Konfliktpartei erfüllen, nur leicht bewaffnet und mit ungepanzerten Fahrzeugen unterwegs; Gewalt durften sie nur als letztes Mittel zur Selbstverteidigung anwenden - für den aktiven Schutz Dritter wäre ein Beschluss des Sicherheitsrats auf der Grundlage von Kapitel VII nötig gewesen. Das ungeschriebene „Kapitel Sechseinhalb“ konnte nur evolutionär mittels weiterer Resolutionen des Sicherheitsrats zu noch aktuellen oder neuen Konfliktfällen weiterentwickelt werden. Das geschah allerdings keineswegs zielstrebig aufgrund eines kohärent geplanten Konzeptes, sondern meistens wurde in einer akuten Situation unter Druck ein Kompromiss ausgehandelt, oft auch aus politischen Interessenlagen und Machtkonstellationen heraus, die nicht einmal mit dem zu lösenden Problem zu tun haben mussten. Zaghaftigkeit des Sicherheitsrats Manfred Eisele, beigeordneter UN-Generalsekretär (Peace-Keeping Operations) 1994-1998 (Eisele 2007, S. 141) „Der Sicherheitsrat beweist seine generelle Scheu, auf militärische Mittel zur Friedenssicherung zurückzugreifen häufig, indem er zu Beginn eines Engagements zumeist nur wenige ‚Blauhelme‘ in das jeweilige Krisengebiet entsendet. Erst unter dem Druck der Verhältnisse, wenn sich klar abzeichnet, dass eine lediglich symbolische Präsenz der UN keine Wirkung im Sinne einer Eindämmung des Konfliktes oder einer Deeskalation der Krise bewirken kann, bemüht sich der Rat zögerlich um quantitative Nachbesserung.“ „Die Annahme des Sicherheitsrates, man könne im Falle einer krisenhaften Entwicklung der Lage im Einsatzgebiet nachträglich den Schutz der ‚Blauhelme‘ verstärken und ihnen außerdem mit gleicher Verspätung die Befugnis erteilen, ihre leichten Waffen zur Durchsetzung ihres Auftrages zu verwenden, hat sich in allen Krisengebieten als unhaltbar erwiesen. Auch die Zuführung schwerer Waffen, um im Nachhinein die Erfolgsaussichten der Friedensmission zu verbessern, schlug fast immer fehl. Die unverzichtbare vorherige Ausbildung der jeweiligen ‚Blauhelm‘-Kontingente an solchen Waffen konnte im Einsatz nicht geleistet werden. Das Versagen der UN in Ruanda und Srebrenica stehen als traurigste Beispiele für solche schwerwiegenden Fehler des Sicherheitsrates.“ Vorsichtig und oft zögerlich tastet sich der Sicherheitsrat an problematische Situationen heran, was aus militärischer Perspektive die Missionen schwieriger machte oder sogar deren Erfolg und das eingesetzte Personal gefährden konnte. Zu oft wurde der politische Auftrag und der militärische Aufwand stückchenweise erweitert, wo von Anfang an ein entschiedeneres und kraftvolleres Mandat nötig war; zum Beispiel begann die UN-Mission in Sierra Leone 1999 mit 210 Militärbeobachtern (UNOMSIL), wuchs im selben Jahr auf 6000 überforderte <?page no="181"?> 181 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Blauhelm-Soldaten (UNAMSIL) und bis 2001 auf endlich ausreichende 17500. Nachträgliche Verstärkungen einer Einsatztruppe können noch wirksam werden, aber politisch-inhaltliche Nachbesserungen des Mandates sind schwierig. Die Fehler und Schwächen von Friedensmissionen sind fast immer auf politische Gründe und auf das Verhalten der einflussreichen Mitglieder des Sicherheitsrates zurückzuführen; die für die Organisation und Durchführung von „Blauhelm“-Einsätzen Verantwortlichen in der zuständigen Abteilung DPKO (inzwischen DPO) im UN-Sekretariat beobachteten die (Fehl-)Entwicklungen genau und warnten vor Gefahren - meist erfolglos (wie im Falle Somalias). Nach problematischen und sogar traumatischen Erfahrungen (im ehemaligen Jugoslawien und in Afrika) erschien im Jahr 2000 der „Brahimi-Bericht“ (Report of the Panel on United Nations Peace Operations, UN Doc. A/ 55/ 305-S/ 2000/ 809) zur überfälligen Reform der Blauhelmeinsätze. Seine weitreichenden und zugleich detaillierten Empfehlungen orientieren sich an den Grundsätzen: ▶ Mandate für Friedensmissionen sollen sich auf mit den der UNO zur Verfügung stehenden Mitteln auch erreichbare Ziele konzentrieren und diese operativ eindeutig formulieren. ▶ Jeder Versuch zur Friedenssicherung muss angesichts der Problemstruktur des Konflikts eine realistische Möglichkeit mit konkreten Erfolgschancen sein. ▶ Alle wichtigen am Konflikt - auch indirekt - beteiligten Parteien müssen den Auftrag an die UNO politisch akzeptieren. ▶ Der Sicherheitsrat muss für die Durchführung des Mandats ausreichende Mittel (Truppen, Gerät, Logistik und Transport) genehmigen; Ausbildungstand und persönliche Ausrüstung des Personals müssen der Aufgabe angemessen sein. ▶ All das muss für eine ausreichend lange Zeit gegeben sein. Die Empfehlungen des Brahimi-Berichts sind verglichen mit denen anderer hochrangiger Berichte (siehe 7.3) gut umgesetzt oder wenigstens als Kriterien für Korrekturen der Praxis genutzt worden; der Sicherheitsrat zeigt seitdem zumindest eine strengere Disziplin bei der Ausgabe und Bestimmung von Mandaten im Sinne des durch den Bericht verbesserten „Kapitels Sechseinhalb“. Wie schon bei dessen Erfindung ist für seine Weiterentwicklung manchmal eine unkonventionelle oder gar regelverletzende Entscheidung nötig: 1994 setzte Dänemark in Bosnien-Herzegowina gegen die UN-Richtlinien Kampfpanzer zum Schutz seines Kontingentes ein, was der Mission entscheidend zum Erfolg verhalf; dieser Alleingang wurde zwar vielfach heftigst gescholten, markiert aber den Übergang zu Friedensmissionen mit „robusten“ Mandaten, die nur mehr mit Berufung auf Kapitel VII vergeben werden konnten: Den „Blauhelmen“ wurde nun erlaubt, sich selbst und auch gefährdete Dritte mit wirksamen Waffen zu verteidigen, notfalls auch offensiv. Somit war nach langer politscher Schamfrist akzeptiert, dass UN-Friedenstruppen in gefährlichen Situationen nicht nur neutral Kämpfe abpuffern, sondern auch aktiv eingreifen dürfen. Das damit verbundene Risiko, dass „Blauhelme“ entgegen ihrem eigentlichen Auftrag der schlichtenden Friedenssicherung zur Konflikt- und Kriegspartei werden oder <?page no="182"?> 182 8. Arbeitsbereiche der UNO sogar Souveränitätsrechte verletzen, gleicht wirksame Abschreckung mehr als aus; die Truppen der ersten „robusten“ Friedensmission (UNTAES, 1996-1998) gaben keinen einzigen Schuss ab, um von Serben besetzte Gebiete friedlich in den Staatsverband Kroatiens zurückzuführen. Der Einsatz ziviler Polizeikräfte ist ein weiteres in der Charta nicht vorgesehenes Instrument der aktiven Friedenssicherung, das die Fähigkeit zur Gewährleistung öffentlicher Sicherheit wesentlich erhöht: Zivile Polizei soll in enger Zusammenarbeit mit den militärischen „Blauhelmen“ Ruhe und Ordnung wiederherstellen, Hilfe leisten oder vermitteln, frühere Kämpfer entwaffnen und wieder in das zivile Leben integrieren, Flüchtlinge und Vertriebene zurückführen, die Räumung von Minen organisieren, auch über die polizeiliche Arbeit hinausgehend rechtsstaatliche Grundsätze vor Ort einführen und durchsetzen, freie Wahlen vorbereiten und ihre korrekte Abhaltung überwachen, Wiederaufbauprogramme sichern u.v.m.; erstmals waren fast 200 zivile Polizeibeamte 1964 auf Zypern (UNFICYP) stationiert worden; in Bosnien-Herzegowina (UNMIBH) verfügte die International Police Task Force (IPTF) von 1995-2002 über mehr als 2000 unbewaffnete Zivilpolizisten. Die präventive Stationierung von Friedenstruppen in einem oder um ein Krisengebiet herum ist ein weiteres innovatives aber aufwändiges Instrument zur Verhinderung eines offensiven Gebrauchs von Gewalt, das bisher einmal eingesetzt werden konnte: 1995-1999 verhinderte die Anwesenheit von ca. 1500 „Blauhelmen“ in Mazedonien serbische Übergriffe (UNPREDEP) - bis die VR China eine Verlängerung des Mandates ablehnte, weil die mazedonische Regierung diplomatische Beziehungen zur Republik China (Taiwan) aufgenommen hatte, die aus Pekinger Sicht nur eine abtrünnige Provinz ist. Ein präventives Mandat setzt den eindeutigen und einvernehmlichen politischen Willen des Sicherheitsrats voraus, schon vor einem erwarteten manifesten Bruch des Friedens zu handeln. Grundsätzlich führt die präventive Strategie, mit Methoden des peace-keeping vor der Ausbreitung einer Konflikt- und Gewaltdynamik diese zu verhindern, langfristig zur besten Lösung, deren schonender Nutzen aber in einer Zukunft liegt, die zu antizipieren im kurzfristigen Geschäft der Gegenwart selten gelingt. Scheitern der Somalia-Mission Manfred Eisele, beigeordneter UN-Generalsekretär (Peace-Keeping Operations) 1994-1998 (Eisele 2007, S. 140f) „Während die militärisch organisierte Verteilung der Nothilfe tatsächlich ein Ende der Hungersnot herbeiführte, weshalb UNOSOM I als voller Erfolg anzusehen ist, scheiterte der weitergehende Versuch, aus Somalia einen demokratischen Rechtsstaat zu machen so total, dass der Sicherheitsrat sein eigenes Engagement schließlich abbrach und die Mission UNOSOM II beendete. Die Ursache des Versagens dieser Friedensoperation lag weitgehend bei mächtigen Mitgliedstaaten. Statt sich aber zu ihren eigenen offensichtlichen Fehlern zu bekennen, beschuldigen sie seither zumeist die UN, gescheitert zu sein und versagt zu haben. Dieser Vorwurf des Scheiterns belastet seither das Bemühen der UN um erfolgversprechende Friedenssicherung.“ <?page no="183"?> 183 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Die Anstrengungen der UNO zur „Friedenswahrung“ waren immer problematisch, aber selten sind ihre Einsatzkräfte oder deren Fähigkeiten und Arbeitsweisen das Problem gewesen, sondern die Regierungspolitik ihrer - zumal der wichtigsten - Mitgliedstaaten. Peace-keeping-Einsätze konnten die hohen Erwartungen, die in sie und somit in „die UNO“ gesetzt worden waren, oft nicht erfüllen - wegen unzureichender Beurteilung, Konsensfindung und Handlungsbereitschaft des Sicherheitsrates und seiner Mitglieder: Ein „Blauhelm“-Einsatz kann nur so erfolgreich sein, wie sein Mandat und seine Ausstattung erlauben. Vorläufer der blaubehelmten Einsatztruppen waren Beobachtungs-Missionen durch „Blaumützen“ („blue berets“), die noch gut in die herkömmliche Kriegsvorstellung der VN-Charta passen: Einige wenige sachkundige Offiziere beobachten die militärische Lage und berichten dem Sicherheitsrat. Die ersten dieser friedensschützenden Aktivitäten im Namen der UNO nach Kapitel VI waren 1948 UNTSO zwischen Israel und Nachbarstaaten sowie 1949 UNMOGIP zwischen Indien und Pakistan; beide Missionen erfüllen ihre Aufgaben stetig und offenbar durch ihre bloße Existenz, denn sie tun das bis heute.“Blauhelm“-Missionen sind seit jenem ersten Einsatz in 1956 (UNEF) zu Dutzenden mehr oder weniger erfolgreich mandatiert und ausgeführt worden: Knapp zwanzig in den vier Jahrzehnten bis zum Ende der Ost-West-Konfrontation, seitdem fast sechzig weitere, insgesamt (bis 2019) 77 Missionen, davon 61 erledigt. Von den abgeschlossenen „Blauhelm“-Einsätzen haben die meisten ihr Mandat erfüllt, wenn auch nicht immer die mit ihnen verbundenen Erwartungen; einige wie der in Namibia (UNTAG, 1989/ 1990) waren vorbildlich erfolgreich, sehr wenige wie der zweite in Somalia von 1992 (UNOSOM II) sind katastrophal gescheitert. Wenige Einsätze dauern sehr lange, aber dann richtig: Jene ersten Missionen UNTSO von 1948 und UNMOGIP von 1949 beobachten mit nur ca. 150 bzw. ca. 40 „Blaumützen“ immer noch; UNDOF kontrolliert die Lage auf dUen Golanhöhen (Syrien/ Israel) seit 1974 mit über tausend Soldaten unter blauem Helm; von nahezu folkloristischer Dauerhaftigkeit ist auch UNFICYP auf Zypern, das seit 1964 mit knapp 900 Soldaten und Beobachtern die türkische und griechische Bevölkerung an einer „grünen Linie“ durch die Hauptstadt Nikosia trennt. Missionen zum peace-keeping [2019] (UNO, peacekeeping.un.org/ en) Region Land/ Gebiet seit Mission Personal (Beobachter / Truppen / Polizei / andere) [Verluste] Mio. $ / Jahr Naher Osten Israel/ Nachbarn 1948 UNTSO 366 (144 / - / - / 222) [52] 34,5 Syrien/ Israel 1974 UNDOF 1112 ( - / 987 / - / 125 - ) [52] 28,8 Libanon 1978 UNIFIL 11309 ( - / 10479 / - / 830) [313] 483,0 Europa Zypern 1964 UNFICYP 1020 ( - / 802 / 67 / 151 ) [183] 57,6 Kosovo 1999 UNMIK 351 (8 / - / 10 / 333) [55] 37,9 <?page no="184"?> 184 8. Arbeitsbereiche der UNO Missionen zum peace-keeping [2019] (UNO, peacekeeping.un.org/ en) Region Land/ Gebiet seit Mission Personal (Beobachter / Truppen / Polizei / andere) [Verluste] Mio. $ / Jahr Afrika westl. Sahara 1991 MINURSO 463 (193 / 25 / 1 / 244) [16] 52,5 Sudan (Darfur) 2007 UNAMID 12922 (85 / 7757 / 2344 / 2736) [269] 486,0 DR Kongo 2010 MONUSCO 20608 (248/ 15629/ 1364/ 3367) [166] 1142,0 Sudan (Abyei) 2011 UNISFA 4831 (133 / 4407 / 41 / 250) [31] 266,7 Südsudan 2011 UNMISS 19135 (217/ 14414/ 1823/ 2681) [62] 1071,0 Mali 2013 MINUSMA 15450 (38/ 12078/ 1767/ 1567) [177] 1048,0 Zentralafr. Rep. 2014 MINUSCA 14632 (153 / 11060 / 2050 / 1369) [80] 882,8 Asien/ Pazifik Indien/ Pakistan 1949 UNMOGIP 113 (42 / - / - / 71) [11] 11,6 Amerika/ Karibik Haiti 2017 MINUJUSTH 1571 ( - / - / 1241 / 330) [1] [25,0] Der nötige Personaleinsatz für die „Blauhelm“-Einsätze ist hoch: ▶ Unter der blauen Flagge dienten bisher mehr als eine Million Männer und Frauen; ▶ seit 1948 verloren mehr als 3500 Menschen im Dienst von UN-Missionen ihr Leben, darunter fast tausend gewaltsam; ▶ mehr als 100000 Soldaten, Polizisten und Zivilisten sind aktuell im Einsatz. Anders als bei Kampfeinsätzen zum peace enforcement nach Kapitel VII hat für die „Blauhelm“-Missionen der UN-Generalsekretär formal den Befehl über die ihm für den jeweiligen Einsatz unterstellten nationalen Kontingente: Die „UN Peacekeeping Missions“ werden administrativ vom UN-Sekretariats geführt (früher vom Department of Peacekeeping Operations/ DPKO, nun vom Department of Peace Operations/ DPO), militärisch aber bleiben sie letztlich unter dem Kommando der truppenstellenden Staaten. Deren Regierungen behalten sich die höchste Befehlsgewalt über ihre Soldaten vor, die ein eigener Befehlshaber im Einsatzland wahrnimmt - der im Zweifel erst zuhause nachfragen muss, was die Führung des Einsatzes nicht erleichtert. Denn alle UN-Einsatzkräfte - die Beobachter, die „Blauhelm“-Truppen und die Polizisten - sind an „die UNO“ gleichsam nur ausgeliehen. Zwar hat die UNO also auch für „Blauhelm“-Missionen keine eigenen militärischen Ressourcen; aber wenigstens gibt es seit 1994 als pragmatische Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit zwischen dem Sekretariat (DPO) und vielen Mitgliedstaaten Abmachungen, dass militärische aber auch zivilpolizeiliche Kontingente in Bereitschaft für einen Blauhelm-Einsatz gehalten werden („stand-by forces“ im UN Stand-By Arrangements System/ UNSAS); diese Truppen könnte die UNO zwar nicht von sich aus abrufen, sondern deren Einsatz würde immer erst im Einzelfall vom bereitstellenden Staat beschlossen - aber die Truppen sind abrufbar, ausgerüstet und ausgebildet, so dass die Planer im Sekretariat wenigstens wissen, mit welchen Kräften sie gegebenenfalls rechnen könnten. <?page no="185"?> 185 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Truppenstellende Staaten [2019] (UNO, peacekeeping.un.org/ en) ▶ 124 Staaten stellen militärisches Personal und Polizei; ▶ Äthiopien, Bangladesh, Indien, Ruanda, Pakistan und Nepal stellen die größten Kontingente mit jeweils 5000 bis 8000 Mann/ Frau, ▶ Italien ist als einziges altes Industrieland und EU-Mitglied mit 1100 gerade noch unter den ersten Zwanzig, während die p5 Frankreich und Großbritannien wie Deutschland mit jeweils unter 1000 im vorderen Mittelfeld stehen, ▶ aber immer noch weit vor Russland und den USA mit unter 100; ▶ die VR China erreicht mit 2600 den 12.Rang. → Dieses „blaue“ Personal ist unabhängig zu sehen von den Truppen, die Staaten für die militärischen Friedenserzwingung und -stabilisierung einsetzen. Finanziert werden die Friedenseinsätze aus zusätzlichen Pflichtbeiträgen je nach Einsatzbedarf; der übliche Beitragsschlüssel wird dabei zu Lasten der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats verändert (siehe 7.9). Die Kosten werden den truppenstellenden Staaten nach festen, aber geringen Sätzen erstattet, weswegen die meisten „Blauhelme“ aus armen Ländern mit dennoch gut organisiertem Militär kommen. Die „Blauhelme“ erhielten als Institution 1988 den Friedensnobelpreis; doch sobald die große Begeisterung für die neuen Chancen der internationalen Kooperation wegen des Endes der Ost-West-Konfrontation verebbt war und nach ernüchternden Erfahrungen mit einigen Missionen in den frühen 1990er-Jahren ließ die Bereitschaft der reicheren Länder nach, Militär und Polizei zu stellen. Weil die Mandate der Missionen vielfältig und anspruchsvoll, auch widersprüchlich geworden waren, wurde befürchtet und gewarnt, die UNO würde überfordert, wenn ihr über die eigentliche Friedenswahrung hinaus immer mehr Aufgaben gestellt würden. 8.1.2.3 Exkurs: Terrorismusbekämpfung Doch dann wurden nach den Terroranschlägen von 2001 in den USA militärische Verwicklungen ganz anderer Art eingegangen, was auch die Bedingungen für das peace-keeping gründlich ändern sollte. Terroristische Aktivitäten und deren Bekämpfung passen noch weniger in das klassische System der kollektiven Sicherheit als interne Konflikte und Bürgerkriege: Terroristen sind nicht-staatliche Akteure, selbst wenn sie manchmal von bestimmten Regierungen unterstützt werden, aber sie bedeuten keine Sicherheitsbedrohung wie sie vom Militärpotential von Staaten ausgehen kann. Die von den USA zur Terrorismusbekämpfung vorangetriebenen Invasionen in den Staaten Afghanistan und im Irak muteten insofern auch wie der Versuch an, wieder einen bekämpfbaren Gegner zu finden. <?page no="186"?> 186 8. Arbeitsbereiche der UNO Bei konkreter Terrorgefahr kann der Sicherheitsrat diese als Bedrohung von Frieden und internationaler Sicherheit feststellen, um zur Abwehr auch Gewaltmaßnahmen nach Kapitel VII zu legitimieren; zur dauerhaften Bekämpfung des Terrorismus können Sanktionen gegen unterstützende Staaten verhängt werden. Die Resolution 1373 (S/ RES/ 1373 (2001)) verpflichtet alle Staaten auf einen umfassenden Katalog weitreichender Maßnahmen, die u. a. sich gegen Finanzierungsquellen, Informations- und Kommunikationswege oder Bewegungsspielräume von Terroristen richten. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel bleibt grundsätzlich umstritten: Kann ein noch so schlimmer Anschlag mit tausenden Toten und schwerem Sachschaden wirklich den Bruch des Gewaltverbotes in dem Ausmaß rechtfertigen, dass ganze Länder mit Krieg überzogen werden? Für Afghanistan hat der Sicherheitsrat im Namen der kollektiven Sicherheit mit der Einsetzung der International Security Assistance Force/ ISAF) auch Gewaltmaßnahmen legitimiert (S/ RES/ 1386 (2001), aber gegen den Irak haben die USA und ihre „Koalition der Willigen“ 2003 kein Mandat auf der Basis der Terrorismusabwehr erhalten; es blieb ihnen also nur noch der Alleingang unter dem Vorwurf des manifesten Bruchs des Völkerrechts. 8.1.2.4 Friedens-Aufbau Die Lage im jugoslawischen Kosovo 1999 und die problematischen Entwicklungen im Irak und in Afghanistan bis heute ließen ein heikles Problem deutlich werden, dass jeden gewaltsamen Eingriff von außen viel stärker behindern dürfte als völkerrechtliche Bedenken: Was passiert nach der Intervention? Schon vor den Verwerfungen der internationalen Lage durch die Terroranschläge und die Reaktion darauf hatte die Dynamik des Gegensatzes zwischen Souveränität und Einmischungsanspruch zu einer Vertiefung der Zielsetzung von Friedensmissionen geführt: Sie sollten nicht nur gewaltsamen Konfliktaustrag verhindern oder beenden und unmittelbare Kriegsfolgen lindern, sondern in bestimmten Fällen den Wiederaufbau im Krisengebiet als Grundlage für einen anhaltenden Frieden anregen oder gar organisieren - politisch, rechtlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Wo ein zerfallender Staat seine Grundfunktionen nicht mehr erfüllen kann, wäre eine militärisch erfolgreiche Mission in der Pflicht und der Lage, dies für die Zeit des Wiederaufbaus zu übernehmen - so die Hoffnung: Nach der rein militärischen Phase folgt die entscheidende Phase des politischen „peace-building“ durch innere Befriedung, Sicherung der Geltung des Rechts, Wiederaufbau staatlicher Strukturen sowie Schaffung und Sicherung von Anreizen für Wirtschaft und Gesellschaft. Der erste komplexe Fall ist auch nach über zwei Jahrzehnten noch nicht gelöst: Nach den NATO-Luftangriffen auf Serbien zum Schutz der Albaner im Kosovo, beide damals noch Teile der Bundesrepublik Jugoslawien, stellte sich 1999 die Frage, wie das Gebiet weiterhin politisch beherrscht und verwaltet werden würde; die Antwort des Sicherheitsrates war, eine Art Protektorat der UNO einzurichten (S/ RES/ 1244 (1999)). Durch deren Sekretariat war eine Übergangsverwaltung für eine Übergangszeit zu errichten, die Institutionen demokratischer Selbstverwaltung schaffen und überwachen sollte, bis für alle Einwohner friedliches Leben gesichert wäre. Weil die UNO weder personell noch materiell für diese Aufgabe genügend vorbereitet <?page no="187"?> 187 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) und ausgestattet war, mussten andere internationale Organisationen wie die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und die EU (Europäische Union) sowie Sonderorganisationen und UN-Programme aushelfen; die von der UN-Mission formal sauber getrennte militärische Komponente KFOR (Kosovo Force) der NATO diente als Sicherheitsgarant. Diese UN Mission in Kosovo (UNMIK) bedeutete eine substantielle Neuerung für das „peace-keeping“, das dadurch zu etwas anderem werden sollte, eben zum „peace-building“. Das andere große Problem Afghanistan ist noch viel weiter von einer Erledigung entfernt: Komplementär zum militärischen Einsatz ISAF - vom Sicherheitsrat 2001 als peace enforcement beauftragt sollte die NATO die Taliban und vermutete Terroristen-Lager bekämpfen - war 2002 die politische Aufbaumission UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan; S/ RES/ 1401 (2002)) mandatiert worden und arbeitet in Absprache mit der afghanischen Regierung. Die Mission zählte anfangs noch zu den peace-keeping-Einsätzen, aber als Prototyp der neuen Art von Maßnahmen zur Friedenswahrung, die über das klassische gewordene peace-keeping im Sinne von „Kapitel Sechseinhalb“ hinausgeht, wurde sie vom früheren DPKO (nun DPO) ins für die „UN Political and Peacebuilding Missions“ zuständige DPPA im UN-Sekretariats überführt. Missionen zum peace-building [2019] (UNO, peacekeeping.un.org/ en) Region Land/ Gebiet seit Mission Personal Naher Osten Naher Osten 1999 UNSCO 65 Libanon 2007 UNSCOL 82 Afrika West Afrika/ Sahel 2002 UNOWAS 63 African Union 2010 UNOAU 45 Guinea-Bissau 2010 UNIOGBIS 136 Libya 2011 UNSMIL 318 Zentralafrikanische Republik 2011 UNOCA 41 Somalia 2013 UNSOM 325 Asien Afghanistan 2002 UNAMA 1211 Irak 2003 UNAMI 806 Zentralasien 2007 UNRCCA 30 8.1.2.5 Synopse: Optionen und Methoden Die Entwicklung der multilateralen Friedenswahrung unter dem Widerspruch von Souveränität und Einmischung ist auch an der Terminologie abzulesen, die sich für die wandelnden Typen und Formen von Friedensmissionen eingebürgert hat. Der Begriff des peace-keeping setzte sich erst durch, als die Praxis von „Blauhelm“-Einsätzen längst begonnen hatte; als kohärente Doktrin sind das Konzept des peace-keeping und seine Varianten nirgendwo systematisch formuliert oder gar rechtsverbindlich niedergelegt. Einige UN-Dokumente bieten wenigstens authentische Sprachregelungen, die allerdings auch nicht eindeutig und schon veraltet sind. <?page no="188"?> 188 8. Arbeitsbereiche der UNO Die VN-Charta kennt friedenssichernde Maßnahmen auf zwei verschiedenen Ebenen, Vermittlung/ Schlichtung und Erzwingung; in und aus der Praxis entwickelten sich Zwischenformen und neue Methoden: Noch im Rahmen von Kapitel VI bleiben ▶ die preventive diplomacy zur Vermeidung eines drohenden Konflikts durch Prävention z. B. mittels schlichtender Vermittlung vor einer Eskalation, ▶ das peacemaking zur Einstellung von gewaltsamen Feindseligkeiten z. B. mittels Aushandlung eines Waffenstillstands, und ▶ observer missions zur Beobachtung und Verifikation militärischer Vorgänge. Formen der Friedenssicherung durch die UNO Bezeichnungen/ Begriffe Rechtsgrundlage/ Charta Mittel/ Maßnahmen Durchgeführt von ⇒ Bei Gründung der UNO explizit vorgesehen Vermittlung, Schlichtung Kapitel VI Reden: Verhandlungen, Schiedsgericht Diplomaten Friedenserzwingung Kapitel VII Zwang: Sanktionen, militärische Gewalt, Krieg Kampftruppen ⇒ in und aus der Praxis evolutionär entwickelt preventive diplomacy Kapitel VI Reden: Verhandlungen, Abschreckung & Einsicht Diplomaten peacemaking Kapitel VI Reden: Verhandlungen, Friedens-Abkommen Diplomaten observer missions Kapitel VI Beobachtung militärischer Aktivitäten beider Seiten „Blaumützen“/ „blue berets“ peace-keeping „Kapitel Sechseinhalb“ Waffenstillstand, Trennung der Konfliktparteien „Blauhelme“/ „blue helmets“ robust peace-keeping „Kapitel Sechseinhalb“ plus Kapitel VII + Selbstverteidigung und Schutz Dritter mit Waffen „Blauhelme“ multidimensional peace-keeping ⇓ „Kapitel Sechseinhalb“ ++ Verwaltung, Ordnung Wiederaufbau, Wahlen „Blauhelme“ Polizisten peace-building ⇑ „Kapitel Sechseinhalb“ Wirtschaftsentwicklung, Demokratisierung u.v.m. „Blauhelme“/ Polizisten UN-Fachorgane peace enforcement [wie Friedenserzwingung] Kapitel VII militärische Gewalt Kampftruppen post-conflict peace-building „Kapitel Sechseinhalb“ {„… Siebenplus“? } Aufbau staatlicher Strukturen, Entwicklung, Truppen/ „Blauhelme“/ Polizisten, UN-Fachorgane UN-Dokumente zum Konzept des peace-keeping ▶ „Agenda für den Frieden“ (An Agenda for Peace - Preventive diplomacy, peacemaking and peacekeeping, Report des Generalsekretärs, UN Doc. A/ 47/ 277-S/ 24111 (1992)) ▶ „Brahimi-Bericht“ (Report of the Panel on United Nations Peace Operations, UN Doc. A/ 55/ 305-S/ 2000/ 809 (2000)) ▶ Bericht des Generalsekretärs (UN Doc. A/ 55/ 502 (2000)) ▶ Report of the Secretary General: Implementation of the recommendations of the Special Committee on Peacekeeping Operations (UN Doc. A/ 64/ 573 (2009)) ▶ Report of the Independent High-level Panel on Peace Operations 2015 (UN Doc. A70/ 95-S2015/ 446 (2015)) ▶ Improving Security of UN Peacekeepers (Independent Report), 2018 <?page no="189"?> 189 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) Das fiktive „Kapitel Sechseinhalb“ muss jedoch bemüht werden für ▶ das klassische peace-keeping zur dauerhaften Beendigung eines Konfliktes mittels ausreichender und längerfristiger Präsenz von militärischen, polizeilichen oder zivilen Einsatzkräften im Konfliktfeld unter Zustimmung der Konfliktparteien und abgesehen von sehr eng definierter Selbstverteidigung der „Blauhelme“ ohne Waffengewalt, ▶ das robust peace-keeping mit Ausweitung der bloßen Selbstverteidigung um militärisch angemessene aktive Abwehr von Angriffen auf Blauhelme wie auf Zivilbevölkerung, was im Mandat notwendigerweise mit Kapitel VII gerechtfertigt werden muss, ▶ das „multidimensionale“ oder „multifunktionale“ peace-keeping, das im Sinne des Brahimi-Berichtes aktiv versuchen soll, neben der militärischen Sicherung fehlende staatlichen Leistungen einstweilen zu übernehmen, ▶ das daran anschließende peace-building oder post-conflict peace-building zum nachhaltigen politischen und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbau als strukturelle Voraussetzung des Friedens. Auch der als humanitäre Intervention gerechtfertigte Einsatz von Zwangsmaßnahmen bis zur militärischen Invasion, ▶ das peace enforcement zur gewaltsamen Erzwingung von Frieden, das als letzte und weitestreichende Option nur aufgrund von Kapitel VII mandatiert werden kann, macht ebenfalls politische und gesellschaftliche Nachsorge im Sinne des „Kapitel Sechseinhalb“ nötig, also wieder ▶ das peace-building oder post-conflict peace-building Eine komplexe Intervention, sei sie humanitär begründet oder als Terrorismusbekämpfung, ist eine Kombination von ▶ einem Mandat des Sicherheitsrats zum peace-keeping an „Blauhelme“ oder ▶ einem Mandat des Sicherheitsrats zum peace enforcement an Staatenkoalitionen oder Regionalorganisationen und ▶ einem Mandat des Sicherheitsrats an eine Mission aus „Blauhelmen“ und internationalen Organisationen, neben den Funktionen des klassischen peace-keeping vor allem solche des peace-building zu übernehmen. Von den akuten Fällen kommt Afghanistan dem nahe, für Irak fehlt die Legitimation des Krieges, die Einmischung in Libyen erfolgte nur aus der Luft - und in Syrien ist jegliche Intervention „der UNO“ unmöglich, weil im Sicherheitsrat politisch blockiert. <?page no="190"?> 190 8. Arbeitsbereiche der UNO Literaturverweis zu 8.1.2.: Konfliktbewältigung und Friedenssicherung Boulden 2007, 2018; Cortright/ Lopez/ Gerber-Stellingwerf 2007; Doyle/ Sambanis 2007; Eisele 2000, Eisele 2007; Goldstone 2007; Gowan 2018; Horn 2005; Kaim 2011; Kello 2018; Koops 2015; Kühne 2003; Lohmann 2018; Lopez 2018; Mani 2007, 2018; Paris 2007, 2018; Pugh 2007; Schaller 2003; Sidhu 2007, 2018; Sponeck 2005 8.1.3 „Humanitäre Intervention“ und „Schutzverantwortung“ Die meisten der vom Sicherheitsrat der UNO mandatierten Friedens-Missionen reagierten nicht auf zwischenstaatliche Streitigkeiten, sondern auf Konflikte innerhalb von souveränen Staaten, was von der Charta gar nicht vorbedacht war; jeder der häufiger werdenden peace-keeping-Einsätze relativierte de facto den Anspruch der Staaten auf unbeschränkte Souveränität zugunsten des Anspruchs auf internationale Einmischung. Die Geschichte der internationalen Kooperation unterliegt Konjunkturen: Mal entwickeln sich die Probleme und die Methoden schnell, mal scheint sich lange Zeit weniger zu tun. Zumal Friedensmissionen sind nicht nur von Zahl, Art und Ausmaß der Konflikte bestimmt, sondern nicht weniger von den Kriterien für deren Wahrnehmung in den Hauptstädten der wichtigen Staaten. So waren die vom Sicherheitsrat vergebenen Mandate mal offensiver und anspruchsvoll, mal defensiver und zurückhaltend. Weil die Staaten in immer noch sehr geringem Ausmaß einer verbindlichen Rechtsordnung und globalen Steuerungsmechanismen unterworfen sind, muss sich das Instrumentarium der internationalen Kooperation eher den Sichtweisen und Wünschen seiner Nutzer anpassen als die Staaten ihre Politik den Möglichkeiten und Kapazitäten des Instrumentariums - geschweige denn einem objektivierbaren Handlungsbedarf, nicht einmal bei Völkermord und Klimawandel. Internationale Regelungssysteme und Organisationen müssen deswegen imstande sein, sich und ihre Arbeitsweise rasch, unaufwändig und am besten auch unauffällig zu verändern. Die gern als starr und schwerfällig gescholtene, an ihre kaum noch änderbare Charta gebundene UNO zeigt auffällig diese Fähigkeit, sich bei ernsthaftem Bedarf politisch, also flexibel-pragmatisch und auch informell zu wandeln (siehe 7.6). Das hat wenigstens die Vorteile, dass ▶ man sich einen langwierigen, umständlichen und immer gefährdeten Prozess einer formellen Reform, also mit Vertragsänderung und Ratifikationen, ersparen kann (siehe 4 und 9.1) und ▶ die Handlungsoptionen zumal der mächtigen Staaten so offen wie möglich bleiben - was in einer Zeit internationaler Machtverschiebungen aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen hilfreich sein kann. Die Ausarbeitung des ungeschriebenen „Kapitels Sechseinhalb“ war ein evolutionärer Prozess stetiger Improvisation und inkrementeller Ausgestaltung, der Neuerungen auf der Grundlage bestehender Regelungen und Strukturen Stück für Stück ein- und ausbaute, aber insgesamt doch eindeutig in eine Richtung führte (siehe 7.6). Viele einzelne konkrete Schritte <?page no="191"?> 191 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) und Fortschritte - wie Straftribunale, die Verbrechern in Staats- und Regierungsämtern die Sicherheit ihrer persönlichen Unantastbarkeit nehmen - erschüttern allmählich die Bastion der souveränen Staatlichkeit. Solche Veränderungsprozesse haben immer mehrere Urheber; einzelne Staaten, der Generalsekretär, auch die Zivilgesellschaft und die Meinung der „Weltöffentlichkeit“ können viel bewirken; aber rechtsverbindlich festmachen kann die einzelnen Veränderungen nur der Sicherheitsrat durch seine Beschlüsse und Resolutionen. Evolution der Friedensmissionen: Wichtige Resolutionen des UN-Sicherheitsrates UN Doc. (Jahr) Staat/ Ort Maßnahme/ Zweck; Bedeutung S/ RES/ 15 (1946) Griechenland Zivile Untersuchungskommission; erste UN-Friedensmission? S/ RES/ 48 (1948) Israel u.a. Überwachung des Waffenstillstandes mit den arabischen Nachbarstaaten S/ RES/ 85 (1950) Korea Militärischer Beistand für Südkorea; erster legitimierter Kriegseinsatz Generalversammlung/ Notstandssitzung: A/ RES/ 1000 (ES-I) (1956) und A/ RES/ 1001 (ES-I) (1956) Im Suez-Konflikt wurde das Instrument der Friedenstruppen („Blauhelme“) über die Charta hinaus entwickelt: Sicherung von Waffenstillstand und friedlicher Streitbeilegung mit beidseitiger Zustimmung (UNEF) S/ RES/ 143 (1960) Kongo Neuartige Konfliktlage eines postkolonialen Bürgerkrieges: Erster Einsatz von Friedenstruppen („Blauhelmen“) durch den Sicherheitsrat (ONUC) S/ RES/ 186 (1964) Zypern Konfliktschlichtung und Invasionsschutz durch Friedenstruppe UNFICYP → diverse in den 1970/ 80er-Jahren In Afghanistan, Indien, Pakistan, Libanon, Syrien, Angola, Namibia, West-Sahara, Mittelamerika u. a. wurden Beobachter- oder Friedensmissionen flexibel eingesetzt S/ RES/ 668 (1990) Kambodscha Umfassendes und aufwendiges Aufbau-Programm (UNTAC/ UNAMIC) S/ RES/ 678 (1990) Irak Befreiung Kuweits; umfassende militärische Aktionen, Bodentruppen S/ RES/ 688 (1991) Irak Nach Giftgaseinatz erstmals eine „humanitäre Intervention“ autorisiert S/ RES/ 733 (1992) S/ RES/ 794 (1992) Somalia Bei Feststellung der Bedrohung von Frieden und Sicherheit hat sich damit grundsätzlich eine Relativierung der inneren Souveränität durchgesetzt; Mandat für UNITAF als erste rein humanitär begründete Intervention S/ RES/ 827 (1993) Jugoslawien Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunals ermöglicht, einzelne Personen für schwere Verletzungen des internationalen Rechts anzuklagen S/ RES/ 864 (1993) Angola Mandat erstmals ausschließlich mit der Situation im Land begründet S/ RES/ 955 (1994) Ruanda Wieder Einsetzung eines Kriegsverbrechertribunals S/ RES/ 1244 (1999) Serbien (Kosovo) Nachträglich die „humanitäre Intervention“ der NATO zum Schutz des Kosovo zwar nicht de jure, so doch de facto gebilligt S/ RES/ 1373 (2001) alle Staaten Terrorismusbekämpfung (nach den Anschlägen von „9/ 11“); erstmals verbindliche Formulierung abstrakter, nicht nur fallbezogener Normen S/ RES/ 1386 (2001) Afghanistan ISAF; Versuch der Terrorismusbekämpfung S/ RES/ 1493 (2003) Kongo Erstmals ausdrücklicher Auftrag, Zivilpersonen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu schützen S/ RES/ 1674 (2006) alle Staaten Prinzip der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“) erstmals vom Sicherheitsrat anerkannt S/ RES/ 1973 (2011) Libyen Flugverbotszone; nur Luftangriffe, keine Bodentruppen; erstmals wurde das Prinzip der „Schutzverantwortung“ in ein Mandat umgesetzt <?page no="192"?> 192 8. Arbeitsbereiche der UNO Das Konzept der „humanitären Intervention“ entwickelte sich aufgrund der Erfahrungen aus den „Blauhelm“-Einsätzen. Weil der Sicherheitsrat dafür die Kriterien für die Bedrohungs-Feststellung wie für die Ausgestaltung der Mandate Schritt für Schritt geändert und erweitert hatte, war es in den 1990er-Jahren dann möglich, dass in einzelnen und spezifischen Fällen ▶ auch rein interne Konflikte in einem Staat ohne unmittelbare internationale Auswirkungen als ausreichend angesehen werden, ▶ um wegen fortgesetzter schwerer Menschenrechts-Verletzungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ▶ nötigenfalls eine „humanitäre Intervention“ (humanitarian intervention) zu veranlassen, ▶ also auch die Souveränität eines Landes anzutasten. Das Konzept der „humanitären Intervention“ wurde sogleich und zu Recht auch verdächtigt, als imperiales Kampfmittel missbrauchbar zu sein; umso attraktiver war der Gedanke, dass eine humanitäre Intervention als Herausforderung des Souveränitätsdenkens weniger von ihren - ehrlichen oder vorgeschobenen - Motiven her, sondern nach ihren Folgen gerechtfertigt werden kann: Nicht die eigene Motivation, nur eine nachhaltig bessere humanitäre Situation als Ergebnis gibt Rechtfertigungsgründe. Somalia 1992 war der erste große Fall einer humanitären Intervention, die der Sicherheitsrat mandatiert hatte; die Mission ist kläglich gescheitert. Kosovo wurde 1999 zum ersten großen Fall einer humanitären Intervention, die der Sicherheitsrat nicht mandatiert hatte, also unter Bruch des Völkerrechtes durchgezogen wurde; der Militäreinsatz erreichte seine Ziele. Angesichts einer schlimmen Hungersnot im Bürgerkrieg in Somalia hatte der Sicherheitsrat 1992 die Verletzung von Menschenrechten dort als internationale Bedrohung von Frieden und Sicherheit eingestuft und daraufhin erstmals beschlossen, ein Mandat für einen robusten Blauhelm-Einsatz als einer humanitär begründeten Intervention zu geben (S/ RES/ 794 (1992); UNITAF). Damit hatte der Sicherheitsrat mit seiner politischen Definitionsmacht die Legitimität von humanitären Interventionen faktisch durchgesetzt gegen völkerrechtliche Bedenken, ob innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen überhaupt ein internationales Problem sein dürften. Allerdings wurde die folgende Mission (UNOSOM II) - weil ungeachtet der Warnungen von UN-Experten zu forsch angegangen - zu einem Desaster, was wiederum zu nachhaltiger Desillusionierung hinsichtlich der praktischen Möglichkeiten von humanitären Interventionen führte, die nun wieder als militärisch schwierig, politisch problematisch und weiterhin als völkerrechtlich fragwürdig kritisiert wurden. Den Preis für diese Enttäuschung bezahlten dann die Menschen in Ruanda, wo 1994 ein Völkermord vom Sicherheitsrat nicht bzw. viel zu spät wahrgenommen wurde. Diese unterlassene Intervention diskreditierte die Motive der Verfechter von Interventionen noch mehr, weil ihnen vorgeworfen werden konnte, vergleichbare Situationen von Menschenrechtsverletzungen und Not mit unterschiedlichen Maßstäben zu beurteilen und Probleme, die aus ihrer Interessenlage gesehen von geringerer Bedeutung sind, zu ignorieren. Die politisch stark umstrittene NATO-Operation mittels Luftangriffen auf Serbien zum Schutz der albanischen Bevölkerung in der damals noch serbischen Provinz Kosovo stellte <?page no="193"?> 193 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) die Legitimität von humanitären Interventionen weniger grundsätzlich in Frage, sondern zeigte ein politisches Dilemma zwischen moralischem Anspruch und verfahrensrechtlicher Notwendigkeit: Die dramatische Zwangslage war, dass man sich entscheiden musste, mangels eines - politisch blockierten - Mandats des Sicherheitsrat eine massiv bedrohte Bevölkerungsgruppe nicht zu schützen oder eine völkerrechtswidrige Militäraktion zu verantworten. Diese Erfahrung hat die Debatte um Notwendigkeit und Rechtfertigung von Interventionen motiviert und beschleunigt. Der Anspruch auf „humanitäre Intervention“ bekam mit dem Argument der „Schutzverantwortung“ anfangs des neuen Jahrtausends nachhaltige Unterstützung. Das Prinzip der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“) bedeutet: Jede Regierung ist verpflichtet, ihre Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen, „ethnischen Säuberungen“, Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen; will oder kann sie das nicht tun, sind die Mitgliedstaaten der UNO in der Pflicht, durch den Sicherheitsrat ihre Schutzverantwortung wahrzunehmen. Der Gedanke einer solchen Verpflichtung der Staaten - einzeln wie kollektiv - war nicht neu, aber doch geschickt modifiziert: Die Fähigkeit zum Schutz wird nicht als Forderung gegen die Souveränitätslehre vorgebracht, sondern zum konstitutiven Merkmal intakter Souveränität erklärt - ein Staat, der seine Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will, ist nicht mehr souverän. Das Konzept wird unterschiedlich beurteilt: Einerseits verspricht es ein großer Fortschritt zu sein im Sinne einer wirklich verantwortungsfähigen „global governance“ - andererseits kann es als Vorwand dienen für hegemoniales oder gar imperialistisches Handeln. Die politische Karriere des Konzepts der Schutzverantwortung ist typisch für Veränderungsprozesse der UNO: Auf Initiative der kanadischen Regierung erarbeitete eine unabhängige „Internationale Kommission über Intervention und Staatensouveränität“ (International Commission on Intervention and State Sovereignty/ ICISS) 2001 einen Bericht mit dem programmatischen Titel „Responsibility to Protect“: Während bisher vom altbekannten Spannungsverhältnis zwischen meist humanitär begründeter Einmischung von außen und der unantastbaren Staatensouveränität ausgehend diese beide Ansprüche gegeneinander in Stellung gebracht wurden, um einen unversöhnlichen Widerspruch zu konstatieren, stellte die neue Argumentationsstrategie nun klar heraus, welche Verantwortung den Staaten eben aus ihrer Souveränität erwächst: Um diese als legitim zu wahren, müssen Staaten ihrer klassischen Pflicht zum Schutz ihrer Bürger nachkommen. Also ist eine denkbare Einmischung von außen vom Schutzbedürfnis dieser Bürger her zu begründen und nicht von irgendeinem Recht auf Intervention; denn die internationale Gemeinschaft hat dann - aber eben nur dann und nur deswegen - ihrerseits eine Schutzverantwortung, wenn ein verantwortlicher Staat nicht willens oder in der Lage ist, seiner Schutzverpflichtung für seine Bürger wahrzunehmen. Von der „hochrangigen Gruppe“ zur Reform der UNO wurden diese Gedanken dann für ihren Bericht (High-level Panel on Threats, Challenges and Change: „A More Secure World: Our Shared Responsibility“, UN-Doc. A/ 59/ 565 von 2004, S. 201ff) aufgegriffen, um damit das Instrumentarium der kollektiven Sicherheit (nach VN-Charta Kap. VII) auszubauen. Generalsekretär Kofi Annan hat daraufhin das neue Konzept stärker politisch gefasst eingearbeitet, indem er mehr den kooperativen Aspekt der „Herrschaft des Rechts“ als den militärischen <?page no="194"?> 194 8. Arbeitsbereiche der UNO Sicherheits-Aspekt betonte („In Larger Freedom“, UN-Doc. A/ 59/ 2005 von 2005, §. 135). Ihm gelang, das Prinzip der responsibility to protect auf einem „Weltgipfel“ beschließen zu lassen, also zu einer Position der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu machen (A/ 60/ 1 von 2005); der Sicherheitsrat hat den Gedanken der Schutzverantwortung dann zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten bestärkt (S/ RES/ 1674 (2006)). Massive Vorbehalte äußern viele Staaten (darunter gegenüber der Möglichkeit von Einmischungen von außen recht sensible wie Iran, Kuba, Pakistan, auch die VR China): das Konzept sei viel zu vage und lade geradezu zu missbräuchlichen Interventionen ein; das Argument der Schutzverantwortung verlange gar nicht nach neuen Regelungen, da die Autorität des Sicherheitsrats und seine Möglichkeiten nach Kapitel VII der VN-Charta ohnehin für entsprechende Situationen ausreichend seien. Andere Staaten (wie die USA) wollen den großen Bewertungs- und Handlungsspielraum des Sicherheitsrat wahren, ihn also rechtlich und politisch möglichst wenig binden; zumal seine ständigen Mitglieder misstrauen der Festlegung von Kriterien, sofern sie die in erster Linie politische und immer interessengeprägte Entscheidungsfindung im Rat irgendwie voraus festlegen könnten - Schutzverantwortung sei eher ein Gebot der politischen Ethik als eine Norm des Völkerrechts. Der Gedanke der Schutzverantwortung muss weiter in das System der multilateralen kollektiven Sicherheit der UNO integriert werden; wenn sich keine völkerrechtliche Norm entwickeln sollte, die Staaten erlaubte, im Falle extremer humanitärer Probleme zu intervenieren, könnten selbsternannte „Weltpolizisten“ ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat für - ihre - Ordnung sorgen. Jedenfalls sind völkerrechtliche Präzisierungen für klare Regeln zu erarbeiten, um aus dem Argument der Schutzverantwortung ein operatives Instrument zu machen. Im pragmatischen Stil des inkrementell-evolutionären Durchwurstelns wird sich wohl mit der Zeit eine Sicht- und Arbeitsweise herausbilden, die zwar die geheiligte Staatensouveränität weiterhin respektiert, aber trotz des Unbehagens der meisten Staaten stärker relativiert. Die Entwicklung zum multidimensionalen peace-keeping und peace-building - von Konfliktvorsorge/ Streitschlichtung über Konflikteindämmung/ Friedenserzwingung zu Konfliktnachsorge/ (Wieder-)Aufbau - könnte vertieft werden, indem auch Mandate aufgrund der responsibility to protect unter präventiven, reaktiven und (re)konstruktiven Aspekten vergeben werden. Die größte Gefahr ist weniger, dass die Schutzverantwortung als Herrschaftsinstrument missbraucht, sondern dass die Verpflichtung zum Schutz nur selektiv erfüllt werden könnte, also ▶ die Souveränitätsrechte eines Staates in schwacher Außenseiterposition rasch übergangen werden, ▶ oder - wahrscheinlicher - eine als begründet und notwendig zu erachtende Intervention unterbleibt, weil es aufgrund der Interessenlagen im Sicherheitsrat politisch nicht genehm oder möglich ist, sich auf ein Eingreifen zu einigen. Weiterhelfen können nur klare Kriterien für die Feststellung, dass und wie eine Schutzverantwortung zu übernehmen ist. Der Bericht der ICISS hatte vorgeschlagen: Die Bedrohung durch schwere Menschenrechtsverletzungen müsse extrem sein; eine Intervention müsse vorrangig <?page no="195"?> 195 8.1 Frieden und Sicherheit (peace and security) darauf gerichtet sein, das menschliche Leiden zu beenden; Gewalt dürfe nur die letzte Option sein; die Maßnahmen müssen auf ein Minimum begrenzt bleiben; die Mission müsse Aussicht auf Erfolg haben bzw, das Eingreifen dürfe die Situation nicht schlimmer machen als sie ohne Intervention wäre. Für den - in Syrien seit 2011 als möglich erfahrenen - Fall, dass der Sicherheitsrat politisch blockiert ist, eine notwendige Entscheidung zu treffen, wurde die Verantwortung der Generalversammlung (vgl. 6.2 zur „Uniting for Peace“-Resolution) oder das Eingreifen von Regionalorganisationen in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich diskutiert. Wie schon für das klassische peace-keeping sollte für die Übernahme einer responsibility to protect gelten, dass ▶ ein eindeutiges Mandat klare politische Ziele vorgibt bzw. den Einsatz auf solche einschränkt, ▶ die Ziele des militärischen Einsatzes möglichst klar definiert und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln auch tatsächlich erreichbar sind, ▶ ein Eingreifen als Mittel verhältnismäßig und dessen Folgen abgewogen sind ▶ und möglichst andere Staaten in der betroffenen Region den Einsatz politisch unterstützen, bestenfalls durch eine Regionalorganisation. Mit der allmählichen Etablierung der Schutzverantwortung ist der prägende Widerspruch zwischen dem Souveränitätsprinzip, das Einmischung verpönt, und dem Recht oder gar einer Pflicht zur Intervention, die gegen massive Friedens- und Rechtsbrüche vorgehen soll, nicht gelöst - aber doch wandelt sich die politische Praxis wie die völkerrechtliche Diskussion zugunsten des Interventions-Prinzips. Unterstützt wird dies durch eine meist in ihrer Bedeutung in dieser Hinsicht unterschätzten Resolution (S/ RES/ 1373 (2001)) des Sicherheitsrats, in der er die Mitgliedstaaten der UNO darauf verpflichtet, die Finanzierung und jede sonstige Form der Unterstützung terroristischer Aktivität zu verhindern; er hat das entsprechend gebotene Verhalten als generell und dauerhaft bindende Regeln formuliert, nicht als Maßnahmen für einen spezifischen Fall - also erstmals nicht nur fallbezogene, sondern abstrakte Normen verbindlich beschlossen. Alle Mandate zum peace-keeping vom passiven Puffern bis hin zum aktiven Einmischen waren jeweils strikt an den als Bedrohung des Friedens festgestellten Einzelfall gebunden, so dass also daraus nicht schon ein allgemeines Recht auf Intervention abgeleitet werden konnte. Wenn möglich geworden war, dass der Sicherheitsrat - sofern er sich einigen kann - über den Einzelfall hinaus geltende Regelungen anordnet, schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich durchringen würde, ein bestimmtes Verhalten von Regierungen auch in deren staatlichen Souveränitätsbereich grundsätzlich einzuschränken oder zu verordnen. Dass seit der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre die Neigung zu Interventionen deutlich nachgelassen hat, ist wohl in den zwiespältigen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan motiviert, während aber der Geist der Schutzverantwortung aktiv blieb: Die Einrichtung einer Flugverbotszone in Libyen durch den Sicherheitsrat kann als erster Anwendungsfall der responsibility to protect gesehen werden; entscheidend für den Beschluss (S/ RES/ 1973 (2011)) war die Forderung der Arabischen Liga als zuständiger Regionalorganisation, zum Schutz der Aufständigen einzugreifen. <?page no="196"?> 196 8. Arbeitsbereiche der UNO Das Problem des Bürgerkriegs in Syrien zeigt, wie im schlimmsten Fall multilaterale Friedenswahrung nicht funktioniert: Ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats schützt die kriegführende Regierung und hält so den Sicherheitsrat handlungsunfähig, dessen Optionen auch ohne ein russisches Veto nicht aussichtsreich wären; kein ausreichend starker Staat wäre bereit, jetzt noch Sanktionen durchzusetzen oder militärisch einzugreifen, was auch den denkbaren Weg versperrt, dass sich die Generalversammlung gemäß der „Uniting for Peace“-Resolution (vgl. 6.2) einmischt. Die erweiterten Möglichkeiten von Erzwingung und Sicherung von Frieden durch die UNO Kapitel VI (VN-Charta VI, 33-38) „Kapitel Sechseinhalb“ Kapitel VII (VN-Charta VII, 39-51) {„Kapitel Siebenplus“ ? } 33, 34 → 36, 37/ 38 Streitbeilegung Resolutionen von SR, GV Friedenssicherung (peace-keeping) 39 → 40 → 41 → 42 Friedenserzwingung (peace enforcement) Resolutionen von SR, GV Wiederaufbau (peace-building) Konflikte zwischen Staaten Bürgerkriege, „neue Kriege“, Völkermord Konflikte zwischen Staaten „neue Kriege“, „failed states“, Terrorismus Art. 33: Verpflichtung zu friedlichen Mitteln Anspruch auf Interventionen aus humanitären Gründen Schutzverantwortung Art. 39: Feststellung des Bruchs des Friedens Anspruch auf Interventionen aus humanitären Gründen Schutzverantwortung (responsibility to protect) Art. 34: Feststellung des Bruchs des Friedens Art. 40: Aufforderungen an die Konfliktparteien Art. 36: Verfahren, u.a. Einschaltung des IGH Art. 41: Sanktionen, u. a. wirtschaftliche Art. 37/ 38: Empfehlungen zur Streitbeilegung Art. 42: militärische Zwangsmaßnahmen Literaturverweis zu 8.1.3.: „Humanitäre Intervention“ und „Schutzverantwortung“ Aghayev 2007; Bellers/ Porsche-Ludwig 2010 Debiel/ Nuscheler 1996; Evans 2009; Evans/ Thakur/ Pape 2013; ICISS 2001; Isensee 1995; Loges 2013; Rudolf 2013, 2016; Schaller 2008; Thakur 2006, 2007, 2018; Verlage 2009 8.2 Menschenrechte (human rights) Krieg verletzt immer die elementaren Rechte von Menschen; wenn Krieg zu Völkermord führt oder zum Völkermord Krieg geführt wird, blickt die Zivilisation in einen Abgrund. Doch zum aktiven Schutz der Menschenrechte ergibt das Kosten/ Nutzen-Kalkül: Kein Staat hat unmittelbar einen Vorteil oder einen Nachteil davon, wenn ein anderer Staat Menschenrechte respektiert oder verletzt, sofern daraus nicht eine friedensbedrohende oder handelshemmende Situation entsteht; unfriedliche Situationen können gerade dann entstehen, wenn ein Staat den Umgang eines anderen souveränen Staates mit Menschenrechten kritisiert oder sich gar einmischt. Die politische Moral einer Zivilgesellschaft kann mangelndes Interesse ihrer <?page no="197"?> 197 8.2 Menschenrechte (human rights) Regierung an Bürger- und Menschenrechten ausgleichen und sie zum Reden und Handeln drängen; aber zu vermerken ist auch, wenn Menschenrechte und ihre Auslegung als vorgeschobene Argumente für machtpolitische und andere Zwecke instrumentalisiert werden. Nach den verstörenden Erfahrungen von Weltkrieg und Völkermord war zu erwarten, dass neben der Friedenswahrung der Schutz der Menschenrechte als klare Priorität bestimmt werden würde für die neue Internationale Organisation, zumal deren Charta ja im erweiterten Friedensverständnis gründet. Dennoch bekam der Schutz der Menschenrechte bei der Aushandlung der VN-Charta kein eigenes Kapitel und kein eigenes Hauptorgan (siehe 4.); einige verstreute kurze Passagen machen zwar Menschenrechte und Grundfreiheiten als Mandat zum vollwertigen Arbeitsbereich der UNO, aber in der organisatorisch-politischen Praxis musste sich der Menschenrechtsschutz erst mühsam durchsetzen. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Menschenrechte Präa. ▶ „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“ I 1 ▶ „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ IV 13 ▶ Kompetenz der GV zu Untersuchungen und Empfehlungen zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten IX 55 ▶ Aufgabe der internationalen Zusammenarbeit ist die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten IX 56 ▶ Verpflichtung aller Mitgliedstaaten der UNO zur Zusammenarbeit für dieses Ziel X 62 ▶ Kompetenz des ECOSOC zu Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle X 68 ▶ Kompetenz des ECOSOC zur Einsetzung von Kommissionen für die Förderung der Menschenrechte Das Konfliktpotential zwischen Staaten in Menschenrechtsfragen überrascht, insofern sich hier keine strategischen oder materiellen Interessen widerstreiten wie bei sicherheits- oder wirtschaftspolitischen Problemen; letztlich scheint es „nur“ um ethische oder gar symbolische Fragen zu gehen, weswegen auch demokratisch-menschenfreundliche Regierungen sich im Engagement gerne zurückhalten. Der Widerwille vieler Regierungen, die Menschenrechte zu achten und zu schützen, hat dagegen oft handfeste Gründe wie eine Bedrohung der Legitimität oder Funktionsfähigkeit der eigenen Herrschaft (z. B. durch Minderheiten) oder die Sicherung billiger Arbeitskraft (z. B. als Kinderarbeit). Drei weltpolitische Konfliktlinien rahmten den Spielraum zum Aufbau eines wirksamen internationalen Menschenrechtsschutzes: neben der Ost-West-Konfrontation sehr bald der Interessenkampf zwischen Nord und Süd und dann immer mehr der Gegensatz zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“, beides fragwürdige Konstrukte, aber wirksam. Dahinter zeigen sich zwei wesentlich fundamentalere Gegensätze: <?page no="198"?> 198 8. Arbeitsbereiche der UNO ▶ Der Streit um den normativen Status der Menschenrechte zwischen Universalismus - sie gelten absolut immer und überall - versus (Kultur-)Relativismus - sie sind bezogen auf ein gesellschaftlich, geschichtlich und kulturell bestimmtes Menschenbild ▶ - und wieder - das Ringen um den Vorrang von Souveränitätsprinzip oder eines Rechts auf Einmischung durch humanitäre Intervention bzw. im Sinne der Schutzverantwortung (siehe 8.1.3). Für beide Konflikte gibt es keine richtigen Lösungen auf der Basis wahrer Einsichten; beide hemmen die Praxis der internationalen Menschenrechtsarbeit, weil die Staaten rechtliche und politische Instrumente gemäß der eigenen Position interpretieren und im gegebenen Spielraum unterschiedlich einsetzen. In einer internationalen Umwelt ohne zentrale Instanz zur effektiven Ahndung von Menschenrechtsvergehen bleibt nur, sich in fortdauerndem multilateralem Verhandeln um jedes positive Ergebnis zu bemühen, mag es auch ungenügend sein. Entscheidende Schritte zu mehr globaler (Menschen-)Rechtssicherheit waren immerhin die Gründungen von Strafgerichtshöfen zur Ahndung individuell zurechenbarer Menschenrechtsverletzungen. Der multilaterale Menschenrechtsschutz ist zudem ein strukturell wie politisch besonderer Arbeitsbereich, weil die geltenden Regelungen eben nicht auf den unzureichenden Bestimmungen der Charta und auch nicht auf der vielbeschworenen aber nicht bindenden „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ gründen, sondern auf eigenständigem Vertragsrecht, das im Rahmen der UNO erarbeitet und umgesetzt wird. Struktur des internationalen Menschenrechtsschutzes Prinzipien Universelle Menschenrechte versus Souveränität Normen Menschenrechtsverständnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen Regeln Völkervertragsrecht ( → Pakte und Konventionen) Völkergewohnheitsrecht Verfahren Vertragsgestützter Menschenrechtsschutz durch spezielle Vertragsgremien: Staatenberichte, Individualbeschwerden, Staatenbeschwerden, eigenständige Untersuchung Chartagestützter Menschenrechtsschutz durch zuständige UN-Organe: Öffentliche und vertrauliche Prüfung von Mitteilungen (1235-/ 1503-Verfahren), Arbeitsgruppen, Sonderberichterstatter, Technische Hilfe 8.2.1 Anspruch der Menschenrechte Der Schutz der Menschenrechte gründet nicht in einem Kreuzzug für die Wahrheit, sondern in einem Geltungsanspruch, der auch bei uns erst mühsam errungen und durchgesetzt werden musste. Nicht vergessen werden darf, dass in anderen Teilen der Welt ein anderes Menschen- und Gesellschaftsbild vorherrscht als unseres, wie es sich in den nordwestlichen Ländern in harten Auseinandersetzungen über Jahrhunderte entwickelt hat und vielfach weiter umstritten bleibt. Nicht jeder Hinweis auf andere gesellschaftliche Wertsetzungen ist eine manipulative Ablenkung von berechtigter Einforderung der Menschenrechte. Aus den <?page no="199"?> 199 8.2 Menschenrechte (human rights) Kulturen und Religionen des mittleren und fernen Ostens, aber auch aus Afrika und Asien, kam Kritik an der Verwendung der Menschenrechte als politischen Kampfmitteln in der Tradition imperialistischer Bevormundung. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (UN Doc. A/ RES/ 217/ (III)) formuliert unseren modernen Glauben an die Gültigkeit fundamentaler Menschenrechte, mit denen „alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ seien - aber dieser Satz gilt nicht von vorne herein und ohne weitere Gründe zwingend für alle Zeiten und für alle Kulturen. Man kann die universelle Gültigkeit der Menschenrechte, wie sie in Europa erkämpft worden sind, gerade wegen ihrer Geschichtlichkeit mit Blick auf andersartige historische, kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen relativieren - damit aber nicht den mit ihnen verbunden humanistischen oder emanzipatorischen Anspruch aufgeben, sondern ihn im Gegenteil glaubwürdiger machen. Der philosophisch wie politisch brisanten Kontroverse zwischen Universalismus und Kultur-Relativismus ist nicht auszuweichen: ▶ In kultur-relativistischer Perspektive sind moralische Prinzipien nur in einem kulturellen Bezugsystem zu verstehen und als verpflichtend zu begründen: Kulturen haben nicht nur eigene Prinzipien, sondern auch ihre Weise der Sozialisation in Verhaltensnormen; Unterschiedliche Grundhaltungen zeigen sich darin, ob das Individuum oder eine Gruppe bzw. ein größeres Kollektiv die Bezugsgröße für Rechte und Pflichten ist; entscheidend scheint zu sein, ob religiöse Glaubensätze, etwa zum Verhältnis von Mann und Frau, Vorrang haben vor dem menschenrechtlichen Gleichheitsideal. ▶ Die universalistische Position beharrt auf der kulturübergreifenden natürlichen, also vor-kulturellen und vor-staatlichen Gültigkeit der Menschenrechte für jeden Menschen überall auf der Welt, die also auch nicht zur Disposition der Politik stehen dürfen. Dem Relativismus kann leicht politischer Opportunismus vorgeworfen werden, aber dem Universalismus bleibt das Problem, woher denn eine unbestreitbare „Letztbegründung“ für die Gültigkeit der Menschenrechte zu nehmen sei, wenn nicht aus philosophischen und gesellschaftstheoretischen Argumenten, die wiederum in einer kulturell und historisch spezifischen Entwicklung stehen. Nicht durcheinandergebracht werden darf der anthropologisch/ sozialphilosophisch begründete theoretische Geltungsanspruch einerseits und andererseits dessen historische und gesellschaftliche Bedingtheit, die ihn hervorgebracht und entwickelt hat. Unsere Menschenrechte sind das historische Produkt Jahrhunderte langer geistiger und politischer Kämpfe mit gewaltigen menschlichen und materiellen Kosten, die aus Ideen institutionalisierte wirksame Normen machten. Der mit diesen Erfahrungen erworbene universale Geltungsanspruch kann nur erhoben werden, ohne seine faktische Durchsetzung unvermittelt zu fordern oder gar zu erzwingen, denn: Aus Respekt vor der - auch menschenrechtlich zu schützenden - Würde anderer Kulturen und Menschenbilder dürfen die eigenen Erfahrungen nur als Angebot weitergegeben, aber nicht als Wahrheit missioniert werden. Menschenrechte kosten, sie müssen und können sich in einer Gesellschaft nur von innen her durchsetzen. <?page no="200"?> 200 8. Arbeitsbereiche der UNO Schon die Redeweise von verschiedenen „Generationen“ von Menschenrechten zeigt, dass sie historische Errungenschaften sind; die damit ausgedrückte zeitliche Abfolge darf allerdings nicht als Rangordnung verstanden werden. Verbreitet ist die Einteilung in (1) die bürgerlichen und politischen Rechte, also die liberalen Schutz- oder Abwehrrechte und die Mitwirkungsrechte, (2) die gesellschaftlichen Anspruchsrechte auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe, die entsprechende Leistungen verlangen, und (3) so etwas wie globale Solidaritätsrechte. Kategorien von Menschenrechten „Generationen“ Bezeichnungen / Schlagworte Rechte auf: (Beispiele) Anspruch auf: gerichtet gegen: erhoben von: „erste“ Abwehr-Rechte → civil and political rights Leben Unversehrtheit Freiheit/ Freizügigkeit Gerichtsverfahren fair Schutz vor Gewalt und Willkür „Obrigkeit“ Staat Individuen Freiheits-Rechte „rights to do“ → civil and political rights Meinungsfreiheit Versammlungsfreiheit Vereinigungsfreiheit Wahlfreiheit politische Freiheiten Staat Individuen Gruppen Parteien „zweite“ Anspruchs-Rechte „rights to claim“ → social, economic and cultural rights Arbeit soziale Absicherung Gesundheitsschutz Bildung und Kultur wirtschaftliche und soziale Teilhabe Wirtschaft Gesellschaft (Staat) Individuen Gruppen Schichten Klassen „dritte“ Solidaritäts-Rechte → group and collective rights Selbstbestimmung Entwicklung Intakte Umwelt Zugang zu Wasser globale öffentliche Güter → internationale Gemeinschaft? „Völker“ Kollektive Gesellschaft Menschenrechte wurden häufig als rhetorische Waffen eingesetzt, im Ost-West-Konflikt von beiden Seiten: Die „erste Generation“ der liberalen Schutz- und Freiheitsrechte waren naturgemäß das Anliegen des freien Westens, während der kommunistische Osten beanspruchte, die „zweite Generation“ der sozialen Rechte nicht nur im eigenen System verwirklicht zu haben, sondern im internationalen Klassenkampf weltweit durchsetzen zu wollen; die neuen Länder aus der „Dritten Welt“ sollten von beiden Lagern mit ihren Errungenschaften beglückt werden, forderten aber dann ihrerseits seit Mitte der 1960er-Jahre mit dem „Recht auf Entwicklung“ erstmals ein Menschenrecht der „dritten Generation“. Zur Begründung einzelner Rechte sind jeweils die Fragen schwierig, an wen sie sich denn genau richten und wie sie konkret verwirklicht und durchgesetzt werden sollen. Für klassische bürgerliche und politische Schutzbzw. Freiheitsrechte ist das einfach: Adressat ist der Staat, der als Obrigkeit bestimmte Akte nicht mehr vollziehen (wie Folter und willkürliche Hinrichtung) bzw. als Gewaltmonopolist nicht mehr dulden (wie Versklavung und Verfolgung) darf. Soziale Anspruchsrechte richten sich an Gesellschaft und Wirtschaft, die allenfalls wiederum vom Staat zu entsprechenden Leistungen verpflichtet werden könnten, was den Konflikt von freier Marktwirtschaft gegenüber staatlicher Lenkung antriebe. Hilflos vage müssen die Ansprüche kollektiver Solidarität wie das „Recht auf Entwicklung“ bleiben, weil nicht nur ihr Urheber praktisch schwer zu bestimmen ist, sondern vor allem weil ihr Adressat „inter- <?page no="201"?> 201 8.2 Menschenrechte (human rights) nationale Gemeinschaft“ mangels Weltregierung allenfalls indirekt über die UNO der Staaten zu erreichen ist; für die Stärkung multilateraler Kooperation können jene Kollektivrechte auf globale öffentliche Güter wie Luft und Wasser allerdings Argumente sein. Literaturverweis zu 8.2.1: Anspruch der Menschenrechte Buergenthal/ Thürer 2010; Eckel 2014; Fassbender 2008; Grovogui 2016; Hamm 1996; Haratsch 2010; Höffe 1992; Kühnhardt 1991; Nuscheler 2003 8.2.2 Abkommen und Mechanismen Menschenrechtsschutz ist denn auch international auf die bürgerlichen und politischen Schutzbzw. Freiheitsrechte focussiert; soziale Anspruchsrechte werden in Regelungen (oft unter Federführung der Internationalen Arbeitsorganisation/ ILO) zum spezifischen Schutz bestimmter sozialer Gruppen (Frauen, Kinder, Wanderarbeiter, Behinderte) zur Aufgabe; für die Kollektivrechte gibt es kaum spezielle Bemühungen außerhalb der Arbeitsbereiche Entwicklung und Umwelt/ Klima. Abkommen zum Schutz der Menschenrechte sind inzwischen recht umfassend und ihre Mechanismen zu Durchsetzung funktionieren auf verschiedenen Ebenen. Um Menschenrechte kümmern sich auch regionale internationale Organisationen in Europa (Europarat, OSZE), in Amerika (OAS) und Afrika (OAU/ AU), der ehemaligen Sowjetunion (GUS) und in der islamischen Welt (Arabische Liga, OIC); als Grundlage haben sie regionale bzw. regionalspezifische Erklärungen der Menschenrechte und als Instrumente z.T. sogar eigene Menschenrechts-Gerichtshöfe. Global leisten allenfalls die Institutionen und Aktivitäten der universalen UNO ein noch geringes Maß an Schutz und Ahndung. In der VN-Charta werden die Grundfreiheiten und Menschenrechte prinzipiell und nachdrücklich bekräftigt, aber weder ausformuliert noch konkrete Bestimmungen ausgeführt; Kompetenzen zu ihrem Schutz und ihrer Weiterentwicklung haben vorrangig die Generalversammlung und nachrangig der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), im Fall eines gewaltsam ausgetragenen Konflikts der Sicherheitsrat - und für Streitschlichtung und Rechtsfragen der Internationale Gerichtshof (IGH). Keine Anleitung gibt die VN-Charta zur Auflösung der Spannung des Menschenrechts-Anspruchs zum Interventionsverbot. Bis zur Gründung der UNO 1945 konnten die offenen Fragen der Menschenrechte und ihres internationalen Schutzes nicht fertig verhandelt werden; die massiven Differenzen zwischen den Positionen der Sowjetunion unter Stalin und den USA waren frühe Momente des damals schon geführten Kalten Krieges. Die schlimmsten Lücken in der VN-Charta wurden aber dann rasch durch eine gesonderte Menschenrechts-„Erklärung“ („declaration“) geschlossen, die zwar 1948 von der Generalversammlung als „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR / Universal Declaration of Human Rights/ UDHR; UN Doc. A/ RES/ 217/ (III); oft auch unkorrekt „UN-Menschenrechtscharta“ genannt) feierlich beschlossen wurde - aber eben kein verbindlicher Vertrag ist. Die Erklärung nennt ausführlich die unterschied- <?page no="202"?> 202 8. Arbeitsbereiche der UNO lichen Arten von Rechten, kann diese aber nicht integrieren, sondern listet sie auf, um den Wünschen aller Seiten nachzukommen. Der Ost-West-Gegensatz verminderte sich während der Ausarbeitung der „Allgemeinen Erklärung“ nicht, so dass die Hoffnung auf einen völkerrechtlich bindenden internationalen Menschenrechts-Vertrag mit umfassenden Rechtekatalog sowie Mandat und Kompetenzen zu seiner Umsetzung enttäuscht wurde. Den Protagonisten eines verbindlichen internationalen Menschenrechtsschutzes blieb also nur der andere Weg nach einer ohnehin UNO-typischen Methode (siehe 7.6): In kleineren Schritten und jeweils begrenzt auf einen Bereich von Menschenrechten, wo ein besonderer Bedarf oder die aktuelle Gelegenheit zu Fortschritten zu sehen war, wurden einzelne Vertragsentwürfe verhandelt und formuliert - und dann sogar als verbindliche Abkommen abgeschlossen. Die geltenden Rechtsgrundlagen des Menschenrechtsschutzes sind also weder konkret in der VN-Charta noch verbindlich in der „Allgemeinen Erklärung“ niedergelegt, sondern in einer differenzierten Folge von bisher neun internationalen Verträgen- meist „Pakte“ („covenant“) und „Konventionen“ („convention“) genannt. Diese Abkommen sehen meist bestimmte Verfahren und Mechanismen zur Überwachung ihrer Einhaltung vor, womit auch im Menschenrechts-Bereich eine reiche Vielfalt von Institutionen und Gremien zu finden ist. Internationaler Menschenrechtsschutz: Normative und völkerrechtliche Grundlagen Charta der Vereinten Nationen (UN Charter), 1945 → Kein gesondertes Kapitel zu Menschenrechten, auch keine Bestimmungen zu Organen und Verfahren eines aktiven Menschenrechtsschutzes → Aber: Nichteinmischungsgebot, das eine Durchsetzung von Menschenrechten in souveränen Staaten von außen prinzipiell ausschließt (Art. 2) Präambel „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“/ „sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit“ Art. 1 Ein Ziel der UNO ist die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion Art. 13 Kompetenz der GV zu Untersuchungen und Empfehlungen zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten Art. 55 Aufgabe der internationalen Zusammenarbeit ist die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten Art. 56 Verpflichtung aller Mitgliedstaaten der UNO zur Zusammenarbeit für dieses Ziel Art. 62 Kompetenz des ECOSOC zu Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Art. 68 Kompetenz des ECOSOC zur Einsetzung von Kommissionen für die Förderung der Menschenrechte [ → 1946 Menschenrechtskommission (CHR)/ 2006 Menschenrechtsrat (HRC)] <?page no="203"?> 203 8.2 Menschenrechte (human rights) Internationaler Menschenrechtsschutz: Normative und völkerrechtliche Grundlagen Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, AEMR (Universal Declaration of Human Rights/ UDHR), 1948 → Kein rechtlich bindender internationaler Vertrag, sondern nur eine Resolution, beschlossen ohne Gegenstimmen von der Generalversammlung der UNO am 10. Dezember 1948 (UN-Doc. 217/ A/ III) nach Ausarbeitung durch die Menschenrechtskommission (HRC) als Fachkommission des ECOSOC Art. 1 „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ Art. 2 Diskriminierungsverbot Art. 3-20 Bürgerliche Freiheitsrechte (u. a. auf Leben und Freiheit, Verbot von Sklaverei und Folter, Rechtsstaatlichkeit, Freizügigkeit und Asyl, Staatsangehörigkeit, Ehe und Familie, Eigentumsgarantie, Gedanken-/ Gewissens-/ Religionsfreiheit, Meinungs-/ Informationsfreiheit, Versammlungs-/ Vereinigungsfreiheit) Art. 21 Recht auf politische Betätigung und Teilhabe Art. 22-28 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (u. a. auf soziale Sicherheit, Arbeit und gleichen Lohn, Koalitionsfreiheit, Erholung und Freizeit, angemessenen Lebensstandard, Bildung, Erziehungsziele, Elternrecht, freies Kulturleben, angemessene Sozialordnung, angemessene internationale Ordnung) Art. 29 Einschränkung dieser Rechte, Grundpflichten Art. 30 Auslegungsvorschrift zur Begrenzung dieser Einschränkung Internationaler Pakt (I) über bürgerliche und politische Rechte → „Zivil-Pakt“ (International Covenant on Civil and Political Rights), CCPR, 1966 → „erste Generation“ der Menschenrechte: Freiheitsrechte („rights to do“) Art. 6-8 Schutz der individuellen Freiheit (protection of individual liberty) Art. 21-22 Schutz des Menschen in der Gesellschaft (protection of the human being in the society) Art. 25 Schutz der politischen Rechte (protection of political rights) Art. 27 Schutz der Rechte sozialer Gruppen (protection of rights of social groups) → Überwachung der Umsetzung durch das Vertragsorgan (treaty body) Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) aus achtzehn unabhängigen Experten Internationaler Pakt (II) über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte → „Sozial-Pakt“ (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), CESCR, 1966 → „zweite Generation“ der Menschenrechte: Anspruchsrechte („rights to claim“) Art. 6-8 Wirtschaftliche Rechte (economic rights) Art. 9-12 Soziale Rechte (social rights) Art. 13-15 Kulturelle Rechte (cultural rights) → Überwachung der Umsetzung durch das Vertragsorgan (treaty body) CESCR (Committee on Economic, Social and Cultural Rights) aus achtzehn unabhängigen Experten ⇒ die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ und die beiden Menschenrechtspakte (sowie zwei Fakultativ-Protokolle zum CCPR) zusammen gelten auch als „International Bill of (Human) Rights“ <?page no="204"?> 204 8. Arbeitsbereiche der UNO Internationaler Menschenrechtsschutz: Normative und völkerrechtliche Grundlagen Weitere internationale Verträge bzw. „Menschenrechts-Konventionen“ zu speziellen Bereichen CERD (1965) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination) CEDAW (1979/ 1999) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women) CAT (1984) Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe/ „Anti-Folterkonvention“ (Convention against Torture and other Cruel, Inhuman and Degrading Treatment or Punishment) CRC (1989/ 2000) Übereinkommen über die Rechte des Kindes/ „Kinderrechtskonvention“ (Convention on the Rights of the Child) CMW (1990) Internationales Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (International Convention on the Protection of the Rights of all Migrant Workers and Members of their Families) CRPD (2006) Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen/ „Behindertenrechtskonvention“ (Convention on the Rights of Persons with Disabilities) ICAPED (2010) Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance) → zu einigen Konventionen gibt es ein oder mehrere Fakultativprotokolle → Überwachung der Umsetzung durch einzelne „Vertragsorgane“ (treaty bodies) Verwandte Konventionen mit hoher Bedeutung für den Menschenrechtsschutz CPPCG Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), CPPCG, 1948 [1951] Genfer Flüchtlingskonvention Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, auch „Genfer Flüchtlingskonvention“ (United Nations Convention Relating to the Status of Refugees), 1951 → begründet den UNHCR als Organ zur Überwachung- und Umsetzung Rom-Statut Vertrag zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs (Rome Statute of the International Criminal Court [ICC]), 1998 [2002] (UN Doc. A/ CONF.183/ 9) Regionale Erklärungen der Menschenrechte als Ergänzung oder Kontrastierung zur AEMR (UDHR) Europa Europäische Menschenrechtskonvention bzw. Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), 1950 [1953] Amerika American Convention on Human Rights, 1969 [1978] Afrika African Charter on Human and Peoples’ Rights, 1981 [1986] Islam ‚Arabien‘ Kairoer Erklärung der Menschenrechte durch die Islamische Konferenz (OIC), 1990 Arabische Charta der Menschenrechte, 2004 [2008] Asien Eine asiatische Menschenrechtscharta wird zumindest diskutiert <?page no="205"?> 205 8.2 Menschenrechte (human rights) Internationaler Menschenrechtsschutz: Normative und völkerrechtliche Grundlagen → Einzelne Resolutionen von GV, SR und ECOSOC oder auch Schlussdokumente von (Welt-)Konferenzen entwickelten die Rechtsgrundlagen für den internationalen Menschenrechtsschutz z.T. substantiell weiter z.B. 1963 die GV gegen Rassismus mit der „Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung „(A/ RES/ 1904 (XVIII), 1963) z.B. 1963/ 1970 der ECOSOC die Charta-basierten „Verfahren nach 1235“ mit E/ RES/ 1235 (XLII), 1967, und Verfahren nach 1503“ mit E/ RES/ 1503 (XLVIII), 1970 z.B. 2005/ 2006 die GV mit A/ RES/ 60/ 1, 2005, und der SR mit S/ RES/ 1674 (2006) das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) → Weiter gibt es meist aus dem UN-System eine Vielzahl speziellerer Resolutionen, Deklarationen und offizielle Kataloge mit Prinzipien, Standards und Regeln zu Menschenrechtsfragen (siehe z. B. unter „international law“ auf der Internet-Seite des OHCHR) z.B. 2018 der rechtlich nicht bindende „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ („Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“/ GCM“) Eine formale und organisatorische Unterscheidung ist beim Menschenrechtsschutz stets zu treffen, sowohl hinsichtlich der Rechtsgrundlagen und der Institutionen/ Gremien, auch derer Arbeitsweisen; es gibt ▶ die charta-basierten Organe wie den Menschenrechtsrat und das Hochkommissariat für Menschenrechte ▶ und die vertrags-basierten Organe, die einzelnen „Vertragsorgane“. Das ist leider sprachlich nicht ganz logisch, denn die VN-Charta ist ja auch nur ein internationaler Vertrag, allerdings einmalig und fundamental; „vertrags-basiert“ meint also: basierend auf einem anderen Vertrag als der VN-Charta, von ihr gesondert und selbständig. Die auf der VN-Charta gründenden Organe, Räte und Kommissionen gehören zur UNO und sind für den Menschenrechtsschutz aller Vertragsstaaten der VN-Charta - also aller Mitgliedstaaten der UNO - zuständig; analog dienen die durch einzelne selbständige internationale Verträge gegründeten Ausschüsse der Beobachtung der Umsetzung der zugrundeliegenden Konventionen durch diejenigen Staaten, die den jeweiligen internationalen Vertrag unterzeichnet und auch ratifiziert haben, was jeder Staat jeweils für jeden einzelnen Vertrag tun müsste, aber nicht alle UNO-Mitglieder vollzogen haben. Natürlich wurden diese anderen Verträge in „der UNO“ ausgehandelt und ihre Organe arbeiten in deren Räumen und mit deren organisatorischen Mitteln, aber ihr eigenständiger Status kann völkerrechtlich und politisch bedeutsam sein. Der Unterschied ist gut an den internationalen Strafgerichtshöfen (siehe 8.2.3) zu sehen: Die sog. ad-hoc-Tribunale sind Gerichte, die vom Sicherheitsrat aufgrund seiner ihm von der VN-Charta verliehenen Kompetenzen für bestimmte Fälle eingerichtet werden als seine Unterorgane; der unabhängige Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court/ ICC) in Rom gründet auf einem eigenständigen internationalem Vertrag („Rom-Statut“). <?page no="206"?> 206 8. Arbeitsbereiche der UNO <?page no="207"?> 207 8.2 Menschenrechte (human rights) Die Menschenrechtskommission (Human Rights Commission) war seit 1946 als funktionale Fachkommission des ECOSOC für den charta-basierten Menschenrechtsschutz zuständig gewesen. Zuletzt hatte sie als nach dem üblichen Proporz auf Zeit gewählte Mitglieder 53 Staaten, deren eigene Menschenrechtspolitik nicht vorbildlich sein musste oder gar verbrecherisch sein konnte; so verlor sie ihre Glaubwürdigkeit, zumal die von ihr untersuchten Probleme immer einseitiger ausgewählt und meist zum Kampfmittel im Nahost-Konflikt umfunktioniert wurden. Das Ärgernis erzwang einen einmaligen Vorgang: die Menschenrechtskommission wurde 2006 auf Vorschlag des Generalsekretärs von der Generalversammlung aufgelöst und durch den anders konstruierten und zusammengesetzten Menschenrechtsrat (Human Rights Council/ HRC; A/ RES/ 60/ 251) als einem Nebenorgan der Generalversammlung ersetzt. Die Kritiker der alten Menschenrechtskommission, vor allem die USA, hatten eine härtere Regelung für den Zugang zu dem neuen Gremium gefordert als schließlich erreichbar war; iimmerhin müssen die Kandidaten für den Menschenrechtsrat die Zustimmung der Hälfte der Mitglieder in der Generalversammlung finden, was eine Kandidatur z. B. Syriens oder Libyens verhindern mag, aber nicht eine Wahl Russlands oder der VR China. Der neue Menschenrechtsrat bekam ein ähnliches Mandat wie die frühere Kommission, soll aber seine Aufgaben transparenter und effizienter erfüllen; dabei konnte er die im Rahmen des Möglichen bewährten Verfahrensweisen und Instrumente des multilateralen Menschenrechtsschutzes übernehmen, aber sollte sie kritisch überprüfen und verbessern. Neu war das Instrument der „allgemeinen regelmäßigen Überprüfung“ (universal periodic review) aller Staaten daraufhin, ob sie ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen erfüllen; dieser Kontrolle müssen sich alle Ratsmitglieder während ihrer Mitgliedschaft stellen. Schließlich bekam der Rat ein neues Gremium unabhängiger Berater (HRC Advisory Committee). Der Menschenrechtsrat (HRC) - gegründet 2006 mit GV-Resolution A/ RES/ 60/ 251 Mitgliedschaft 47 auf drei Jahre von der GV mit einfacher Mehrheit gewählte Mitglieder: 13 afrikanische, 13 asiatische, 6 osteuropäische, 8 lateinamerikanische/ karibische, 7 westeuropäischen/ andere Staaten; eine einmalige Wiederwahl ist möglich; die Mitgliedschaft kann mit Zwei-Drittel-Mehrheit von der Generalversammlung suspendiert werden; der Beitrag der Kandidaten zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte soll bei der Auswahl bedacht werden Verpflichtungen Die Mitglieder sollen den höchsten Ansprüchen bei Förderung und Schutz der Menschenrechte gerecht werden; sie sollen mit dem Rat zusammenzuarbeiten und dazu weitere freiwillige Verpflichtungen zusagen; auch sie müssen sich einer allgemeinen regelmäßigen Überprüfung (universal periodic review/ UPR) ihrer Menschenrechtsbilanz unterziehen Aufgaben Förderung der allgemeinen Achtung und des Schutzes aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen; Überprüfung zur Verbesserung und insbesondere Straffung der Arbeitsweise des Menschenrechtsschutzes der UNO; Koordinierung und Integration der Menschenrechtsarbeit im ganzen System der UNO; Beobachtung und Prüfung von groben und systematischen Verletzungen der Menschenrechte und die Empfehlungen dagegen Sitzungen in Genf Mindestens drei Sitzungsperioden im Jahr, eine als Haupttagung von mindestens zehn Wochen; Sondersitzungen sind möglich <?page no="208"?> 208 8. Arbeitsbereiche der UNO Der Menschenrechtsrat (HRC) - gegründet 2006 mit GV-Resolution A/ RES/ 60/ 251 Verfahren und Instrumente ▶ Bestandsaufnahmen der Menschrechtssituation weltweit und in einzelnen Ländern ▶ UPR-Verfahren zur turnusmäßigen Überprüfung der Menschenrechtspolitik in allen UN-Mitgliedstaaten anhand der eingegangenen Verpflichtungen (Charta, Verträge) und einzelnen Zusagen auf der Grundlage einer Zusammenstellung menschenrechtsrelevanter Informationen aus allen verfügbaren Quellen; mit dem Ergebnis können Empfehlungen ausgesprochen werden, die allerdings nicht rechtlich verpflichtend sind ▶ Resolutionen und Stellungnahmen zu konkreten Menschenrechtsverletzungen ▶ Einsatz von unabhängigen Experten/ -gruppen als „Sonderberichterstatter“ in „Sonderverfahren“ (special procedures) mit dem Mandat, entweder die Lage in bestimmten Staaten (country rnandates) oder eine bestimmte Art von Menschenrechtsverletzungen (thematic mandates, z. B. zu Folter, Kinderhandel, willkürlichen Hinrichtungen) weltweit zu beobachten und zu untersuchen, durch Länderbesuche und die Nutzung aller verfügbaren Quellen, insbesondere mit Hilfe von NGOs ▶ Verfahren der alten Menschenrechtskommission zu Individual- und Gruppenbeschwerden über schwere Menschenrechtsverletzungen waren auf der Grundlage von Resolutionen des ECOSOC „nach 1235“ und „nach 1503“; der HRC hat seit 2007 ein modifiziertes Beschwerde-Verfahren (complaint procedure), das auf substantielle „Mitteilungen“ (communications) reagiert, wenn die entprechenden innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sind ▶ Beratergremium aus 18 als Person gewählten Experten (HRC Advisory Committee) zur Ausarbeitung von Studien und Entwicklung von fachlichen Empfehlungen Nicht erst konkrete Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz, schon Beobachtung und Erhebung von Informationen über Rechtsverletzungen können auf massive Widerstände von kritisierten Staaten stoßen, z. B. dass unabhängige Länderbeobachter nicht zugelassen werden; dann sind auch Umgehungsmanöver nötig wie die Methode, in „besonderen Verfahren“ thematische Schwerpunkte „weltweit“ zu untersuchen. Eine Überprüfung der Menschenrechtspolitik der Mitglieder des Rates nach dem UPR-Verfahren droht etwa alle vier Jahre: Die Staaten selbst müssen berichten, beigezogen werden Informationen und Dokumente weiterer UN-Instanzen wie dem Hochkommissar für Menschenrechte (HCHR) - und eben auch aus der Zivilgesellschaft (Menschrechtsorganisationen, Forschungsinstitute, Journalismus). Immer bedeutsam und oft ausschlaggebend sind hier wie generell für die Menschenrechtsarbeit die von NGOs besorgten und verbreiteten Informationen, obwohl - oder eben, weil - sie keinen offiziellen Charakter haben. Der wesentlich besser konstruierte und funktionierende Menschenrechtsrat (HRC) hat aber im Grunde ähnliche Probleme wie sein Vorgängergremium: Seine Mitglieder sind auch nur Staaten, von denen die meisten Menschenrechte nicht als Priorität erachten; aktiv daran desinteressiert, funktionalisieren sie aber Menschenrechtsverletzungen bei Gelegenheit für andere politische Fragen - wie den Konflikt mit Israel - gerne im eigenen Interesse. Somit kann die Arbeit das HRC gar nicht neutral den Menschenrechten dienen, sondern bleibt politisch selektiv, wird also dem Handlungsbedarf nicht gerecht. Kein Staatengremium, sondern im Sekretariat eingebunden ist die andere charta-basierte Institution des Menschenrechtsschutzes, der „Hohe Kommissar für Menschenrechte“ (HCHR), der inzwischen mehrfach eine Kommissarin war; das Amt wurde 1993 durch eine Resolution der Generalversammlung (A/ RES/ 48/ 141) errichtet, sein Büro ist das OHCHR. Als ein/ e Untergeneralsekretär/ in (under secretary general) unmittelbar nur der Weisung des Generalsekretärs unterworfen, kann sich der/ die HCHR Handlungsspielräume erarbeiten; <?page no="209"?> 209 8.2 Menschenrechte (human rights) die Zuständigkeiten des Amtes sind weit gefasst: Menschenrechte soll er/ sie nicht nur fördern und schützen, sondern dazu auch internationale Kooperation auf Ebene der UNO wie zwischen einzelnen Staaten verstärken, das System und die Mechanismen des Menschenrechtsschutzes der UNO koordinieren und verbessern sowie Hemmnisse für die Durchsetzung von Menschenrechten mindern und deren Verletzung verhindern. Das OHCHR ist damit berechtigt, Menschenrechte nicht nur als grundsätzliche Normen zu pflegen, sondern den Menschenrechtsschutz in „Feldmissionen“ aktiv und präventiv zu propagieren - als technische Dienstleistungsagentur für Staaten (z. B. für die Ausbildung von Polizisten), aber auch als Gegenspieler von Regierungen. Das Amt des Hochkommissars für Flüchtlinge (UN High Commissioner for Refugees/ UNHCR; der spätere UN-Generalsekretär António Guterres war 2005-2015 Amtsträger) ist eng mit dem Schutz der Rechte gefährdeter Menschen verbunden; als Spezialorgan der Generalversammlung verfolgt er schon seit 1951 auf der Rechtsgrundlage der „Genfer Flüchtlingskonvention“ mit unzureichenden Mitteln ausgestattet sein Mandat, Schutz und Hilfe für Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen zu sichern; die Überlebensgrundlage der meisten von ihnen sichert das Menschenrecht auf Asyl. Charta-basiert waren auch die Weltkonferenzen (1968 Teheran, 1993 Wien, 2001 Durban), die den Menschenrechtsschutz insofern voranbrachten, als sie Diskussion wie Wertschätzung der Menschenrechte in Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft anregten (siehe 7.7): die Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte/ World Conference on Human Rights von 1993 hat die Universalität der Menschenrechte, die Gleichwertigkeit und Unteilbarkeit aller Arten von Menschenrechten sowie die Einsicht, Frauenrechte seien Menschenrechte, bekräftigt. Der vertrags-basierte Menschenrechtsschutz funktioniert nicht außerhalb der UNO in einer anderen Welt, aber auf eigenständigen Verträgen als Rechtsgrundlage in seinen eigenen Strukturen und mit seinen eigenen Instrumenten: Die „Vertragsorgane“ sind Ausschüsse, wie sie durch den jeweiligen Vertrag eingerichtet worden sind; jeder Ausschuss überwacht die Einhaltung seines Vertrages und beobachtet die praktische Umsetzung von dessen Zielen durch dessen Mitgliedstaaten - und bewertet damit auch deren Vertragstreue. Die Vertragsorgane der Menschenrechts-Pakte und -Konventionen CCPR Ausschuss für Menschenrechte [„Menschenrechtsausschuss“] (Human Rights Committee) → Dieser Ausschuss darf nicht verwechselt werden mit dem Menschenrechtsrat (Human Rights Council/ HRC) oder gar dem Dritten Haupt-Ausschuss für soziale, humanitäre und kulturelle Fragen der Generalversammlung CESCR Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte [„Sozialausschuss“] (Committee on Economic, Social and Cultural Rights) CERD Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination) CEDAW Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (Committee on the Elimination of Discrimination Against Women) CAT Ausschuss gegen Folter (Committee against Torture) CRC Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) CMW Ausschuss für die Rechte von Arbeitsmigranten (Committee on Migrant Workers) <?page no="210"?> 210 8. Arbeitsbereiche der UNO Die Vertragsorgane der Menschenrechts-Pakte und -Konventionen CRPD Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities) CED Ausschuss über das Verschwindenlassen (Committee on Enforced Disappearances) Die praktische Verwirklichung der völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte hängt von der Bereitschaft der Staaten ab, zuallererst eigene Verpflichtungen zu achten, aber dann auch Rechtsverletzungen anderer zur Kenntnis zu nehmen und zu ahnden - in multilateraler Kooperation; seit 1948 werden dafür die verschiedene Verfahren und Mechanismen entwickelt, um diese Bereitschaft nennenswert zu erhöhen - auch ohne die utopischen Durchgriffsmöglichkeiten einer Weltregierung. Naheliegend und wenig Aufwand fordernd sind Versuche, mit Argumentation und Rhetorik oder moralischem Druck Regierungen zu Wohlverhalten zu bringen, z. B. durch die Vermittlung der klassischen Einsicht, konstruktive Zusammenarbeit lohne sich mehr als Konfrontation. Dies mag als „stille Menschenrechtsarbeit“ bei Staatsbesuchen im Einzelfall gelingen und solche Überzeugungsarbeit ist auch eine wichtige Aufgabe für den Generalsekretär der UNO. Vermittelt durch Öffentlichkeit und Zivigesellschaft kann die UNO Einfluss auf Regierungen ausüben, was in Kofi Annans Amtszeit vermehrt und in verschiedenen Formen versucht wurde; der umstrittene „global compact“ z. B. sollte große Wirtschaftsunternehmen zur Einhaltung menschen- und arbeitsrechtlicher Normen auch ohne oder sogar gegen staatlich Vorgaben animieren. Doch verlässliche und im Erfolg nachvollziehbare Methoden konnten so nicht gefunden werden. Die extreme Alternative zur Überredung ist vom Sicherheitsrat ausgeübter gewaltgestützter Zwang durch Sanktionen oder humanitäre Interventionen (siehe 8.1.2), was aber nur selten und keinesfalls immer mit Erfolg eingesetzt werden kann. Dazwischen bleibt nur die UNO-typische Methode, Berichte zur Menschenrechtslage zu produzieren und in Gremien auszuwerten - in der hoffnungsfrohen Erwartung, dies allein könnte schon viel bewirken: Tatsächlich kann so erstens Transparenz und Publizität hergestellt werden, zweitens kann die drohende Gefahr von Anklagen und Gesichtsverlust Verhaltensänderungen attraktiver machen, selbst wenn ohne sie keine weiteren politischen und materiellen Kosten zu befürchten sind. Zwar ist nicht unwahrscheinlich, dass das oft funktioniert, doch ist dieser oft beschworene Effekt des Beschuldigens und Beschämens („blaming and shaming“) schwer verifizierbar. Jedenfalls kann für eine Regierung schon recht ärgerlich werden, dass sie Probleme mit den Bürger- und Menschenrechten nun nicht mehr einfach „souverän“ ignorieren darf, sondern eigene Informationen dazu aufbereiten muss, um diese dann in einen geschönten Bericht hinein schreiben oder schicklich darin verbergen zu müssen, wohl wissend, dass das berichtsprüfende UNO-Gremium auch dank der Hilfe von NGOs kritische Informationen und Bewertungen oder gar einen Gegenbericht vorlegen könnte, die wiederum in die Prüfung des eigenen Berichts eingehen, und schließlich ohne all das der eigenen Bevölkerung auf Dauer vorenthalten zu können. Systematisch nutzen die Vertragsorgane ihre Aufgabe, die von ihren Mitgliedern vorzulegenden Staaten-Berichte über die Erfüllung der Pakte und Konventionen zu prüfen und ggf. Beurteilungen und Empfehlungen abzugeben. <?page no="211"?> 211 8.2 Menschenrechte (human rights) Instrumente des Menschenrechtsschutzes chartabasiert Generalversammlung Resolutionen zur Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten und zu Menschenrechten und deren Schutz allgemein, z. B. Grundsatzkataloge ECOSOC Empfehlungen zur Förderung der Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundrechte; Einsetzung von Sonderberichterstattern; Resolutionen zur Festlegung von Untersuchungsverfahren durch, z. B. „nach 1503“ von 1970 (Verfahren für die Behandlung von Mitteilungen über Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten) Menschenrechtsrat Resolutionen zum Menschenrechtsschutz; Überprüfung der Menschenrechtspolitik aller UN-Mitgliedstaaten; Beschwerdeverfahren bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen; Berufung von Arbeitsgruppen und Ernennung von Sachverständigen, z. B. Einsatz von Sonderberichterstattern Sicherheitsrat Feststellung von menschenrechtsrelevanter Friedensbedrohung/ -bruch oder Aggression; Beschluss über Maßnahmen dazu, z. B. die Schaffung internationaler Straftribunale oder Ermächtigung zur Gewaltanwendung zur Schaffung eines sicheren Umfeldes für humanitäre Hilfeleistung vertragsbasiert Vertragsorgane: Unabhängige Ausschüsse aus Fachleuten zu den einzelnen Pakten bzw. Konventionen Berichterstattung: - das wichtigste Instrument - Periodische Prüfung und Auswertung der von den Mitgliedstaaten vorgelegten Berichte → „blaming and shaming“ Staatenbeschwerde: - kaum genutzt - Prüfung der Klagen eines Staates, dass ein anderer Vertragsstaat seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt Individualbeschwerde: - nur in drei Ausschüssen - Prüfung auch von anklagenden Mitteilungen von Privatpersonen, sofern der betreffende Vertragsstaat die Kompetenz des Vertragsorgans dazu anerkennt Im Katalog des Menschenrechtsschutzes fehlt noch die Dimension der Zukunft, in der politische und kriegerische Konflikte, natürliche und/ oder anthropogene ökologische Katastrophen und materielle Not noch stärker als jemals gedacht das Leben und die Rechte von Milliarden Menschen zu beeinträchtigen drohen, nicht zuletzt als Auslöser von Flucht und Migration. Warnungen vor den bevorstehenden Gefahren für die Menschenrechte - rapide sich steigernd durch Digitalisierung und Internet - gibt es genug, nicht zuletzt aus dem Sekretariat und Expertengremien der UNO, aber vor allem aus der Zivilgesellschaft. Also wäre über den präventiven Schutz der Menschenrechte nachzudenken (zur Schutzverantwortung vgl. 8.1.3), wofür allerdings von Regierungsapparaten wegen ihrer reaktiven Grundgestimmtheit wenig zu erwarten ist. Immer schon waren zivilgesellschaftliche Elemente treibende Kräfte der internationalen Menschenrechtsarbeit; in Gremien der UNO wurden sie nach 1945 zunächst rein informell immer enger eingebunden, worauf sich rasch eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Staaten und nicht-staatlichen Organisationen etablierte. Seit den 1960er-Jahren formierten sich die großen internationalen Nichtregierungs-Organisationen (INGOs) und verwandelten sich von Störfaktoren zun anerkannten Akteuren als substantielle Informationsquellen und öffentlichkeitsgestützte Lobbyisten - wenn auch ihr politischer Status und ihre konkreten Rechte in den einzelnen Gremien und Verfahren gegenüber den Staatenvertretern meist <?page no="212"?> 212 8. Arbeitsbereiche der UNO gering und grundsätzlich weiterhin umstritten bleiben; formal akkreditiert sie jeweils der ECOSOC (siehe 7.7). Die globalen NGOs wie amnesty international oder Human Rights Watch, aber auch nationale/ regionale Menschenrechts-Organisationen für ein Land oder eine Weltregion, leisten bedeutende Arbeit wie sonst kaum in einem anderen internationalen Arbeitsbereich: Information und Dokumentation über Gewährung oder Verletzung von Menschenrechten in einzelnen Ländern und Situationen; „anwaltschaftliche“ Vertretung von bedrohten oder in ihren Rechten verletzten Personen, Gruppen und Völkern; Herstellung von Öffentlichkeit und Mobilisierung der öffentlichen Meinung zur Ausübung von politischem Druck; Anregung und Weiterentwicklung der menschenrechtlichen Diskussion; Menschenrechtserziehung/ -bildung. Einige NGOs spezialisieren sich auf bestimmte Gruppen, deren Menschenrechte in besonderer Weise in hohem Maß missachtet werden: Minderheiten aller Art, wie indigene Völker, oder Menschen auf der Flucht; verfolgte Minderheiten werden oft zu Flüchtlingen und Migranten - Flüchtlinge und Migranten werden leicht zu verfolgten Minderheiten. Angesichts der Vielfalt der multilateralen Instrumente und zumal der zivilgesellschaftlichen Initiativen ist dennoch vor Illusionen zu warnen: Das politische Engagement für Menschenrechte, von der akademischen Diskussion bis zur Nothilfe für Flüchtlinge, ist eine von politischen Interessen und Positionen motivierte und durchdrungene Aktivität, die sich im engen Markt der öffentlichen Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung erst einmal durchsetzen muss; dies gilt selbst im Sicherheitsrat der UNO, der ja vor jeder Aktion erst seine Deutungsmacht ausüben muss. Bedeutung, Zuwendung, alle daraus folgende Maßnahmen etc. werden nach politischen Kriterien selektiv zugemessen; gerechte bzw. objektiv gültige Standards dafür sind nicht zu sehen - und schon gar nicht in der vom Willen der Mitgliedstaaten bestimmten Praxis der UNO. So gibt es auch unterschiedlich wichtige oder erwünschte Flüchtlinge und somit unterschiedlichen Aufwand für sie; z. B. hat der UNHCR für die von ihm mehr oder weniger betreuten 20 Millionen internationalen Flüchtlinge weltweit etwa 11.500 Mitarbeiter in 128 Ländern, während das UN-Hilfswerk für Palästina (UNRWA) über 30.000 Mitarbeiter für gut 5 Millionen Flüchtlinge einsetzen kann. Die fünf großen Arbeitsbereiche der UNO - Friedenssicherung (siehe 8.1), Menschenrechtsschutz, sozioökonomische Entwicklung (siehe 8.3 und 8.4) und Umwelt-/ Klimaschutz (siehe 8.5) - überschneiden sich im Problemkomplex von Flucht und Migration; das Menschenrecht auf Asyl wird eingeschränkt oder bedroht - gerade in den reichen Ländern wie denen der EU oder dem Einwanderungsland USA, während die Hauptlast ärmere Gesellschaften tragen. <?page no="213"?> 213 8.2 Menschenrechte (human rights) Menschen auf der Flucht (UNHCR für 2017/ 18) Flüchtlinge (refugees) insgesamt weltweit (forcibly displaced) 68,5 Millionen im eigenen Land (internal displaced) 40,0 Millionen internationale (external displaced) 25,4 Millionen Palestina 5,0 Millionen Asyl-Suchende 3,1 Millionen Staatenlose 10,0 Millionen ⇒ täglich werden gewaltsam durch Konflikt und Verfolgung zur Flucht gezwungen ⇒ 44.400 Menschen Aufnahme-Länder Entwicklungsländer 85 % aller weltweit Türkei (3,5 Mio), Uganda (1,4 Mio), Pakistan (1,4 Mio), Libanon (1,0 Mio), Iran (1,0 Mio) 6,5 von 25,4 Millionen in fünf Ländern (= 26,5 %) Deutschland 0,5 Millionen Der von der Generalversammlung ausgearbeitete und 2018 auf einer („intergovernmental“) Konferenz in Marakesch (Marokko) verabschiedete „Migrationspakt“ oder „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ („Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ [„Global Compact for Migration“]/ GCM“) bietet eine Zusammenstellung von Empfehlungen für Ziele und Regeln des Umgangs mit Migration auf den Ebenen ▶ präventive Verminderung der Ursachen von Vertreibung und Flucht, ▶ Unterbindung von „irregulärer Migration“ durch kooperative Grenzsicherung besonders gegen Schleuser u. ä., ▶ Anspruch auf bestimmte grundlegende Rechte und Versorgungsleistungen im Aufnahmeland, auch auf Schutz vor Diskriminierung und auf Integration für dauerhafte Immigranten. Der „Migrationspakt“ ist damit kein deutscher „Pakt“ oder Vertrag im juristischen Verständnis; im englischen Original heißt er ebenfalls zweideutig „compact“, was aber im Sinne einer informellen Übereinkunft gemeint ist. Denn wie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ist der Text kein verbindlich rechtsetzender Vertrag - wie die Genfer Flüchtlingskonvention einer ist und als völkerrechtliche Grundlage des Umgangs mit Vertreibung und Flucht dient - sondern eine politische Absichtserklärung, mit der Staaten sich rhetorisch selbst verpflichten, durch die sie aber zu nichts gezwungen sind; das souveräne Recht jeden Staates, seine Migrationspolitik im Rahmen des geltenden Völkerrechts selbst zu bestimmen, wird im Text ausdrücklich betont. Deswegen dürfte die harsche Kritik einiger rechtspopulistisch gestimmter Regierungen im Duktus ihrer generellen Ablehnung internationaler Kooperation auf die eigene Öffentlichkeit gerichtet gewesen sein. Operativ wichtiger als der Erklärungs-Akt dürfte das parallel dazu vom UNHCR entwickelte Aktionsprogramm „Globaler Pakt für Flüchtlinge“ („Global Compact on Refugees“) zur konkreten Unterstützung von Menschen und Aufnahmeländern werden. <?page no="214"?> 214 8. Arbeitsbereiche der UNO Gegen politische Unterdrückung, Gewalt und Krieg als den wichtigsten Fluchtursachen neben purer materieller Not und Umweltkatastrophen wäre die beste Prävention ein wirksamer Schutz der Menschenrechte; auch wenn sich Konflikte nicht so einfach verhindern lassen, wären doch die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen wenigstens zu vermindern, wenn die Täter verfolgt und bestraft werden könnten. Literaturverweis zu 8.2.2: Menschenrechte: Abkommen und Mechanismen Beigbeder 2007; Birkenkötter 2016; Bunch 2018; Bungarten 1994; Cremer 2016; Gatrell 2016; Heinz 2006, 2016; Knight 2018; Kurtz/ Rotmann 2016; Lange 2008; Liese 2006; Ramcharan 2007; Riedel 2006; Rödiger 2017; Rudolf 2016; Samarasinghe 2018; Schrijver 2016; Stuby 1998; Wagner 2016 8.2.3 Internationale Strafgerichtsbarkeit Verbrechen werden tatsächlich immer von bestimmten Menschen begangen, nicht von politischen Ideologien, Institutionen oder Systemen; ohne letztere mag es unmöglich sein, dass ein geistig gesunder Mensch verbrecherische Taten wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen könnte, aber doch sind jeweils konkrete Täter nötig. Schuldige Individuen ohne Ansehen der Person vor Gericht zu stellen und zu verurteilen, dient nicht nur der Ahndung, Sühne oder Rache, sondern politisch ist darin die Chance zu sehen, dass die Möglichkeit eines Strafverfahrens potentielle Täter abschreckt - und zwar eben solche Täter, die meinen, als Funktionäre der Regierung eines souveränen Staates immun zu sein gegen strafrechtliche Ahndung, also im eigenen Land unangefochten leben und mit Diplomatenpass international reisen zu können. Als ab 1945 mit den „Nürnberger Prozessen“ gegen das nationalsozialistische Führungspersonal versucht wurde, individuelle Schuld für schwere Verbrechen gegen das jüdische Volk und Andere festzustellen und zu bestrafen, wurden Bedenken vorgebracht, ein solches Verfahren sei problematisch, weil es ohne verlässliche Rechtsgrundlagen außerhalb eines geltenden rechtstaatlichen Bezugsrahmens auskommen müsse; selbst der Vorwurf der „Siegerjustiz“ über die Besiegten mit einseitigen politischen Vorgaben wurde erhoben. Logisch gilt das für alle Straftribunale, die ad hoc für einen konkreten Einzelfall von einer faktisch dazu bemächtigten Instanz zur Aburteilung einzelner Angeklagter eingesetzt werden; das Problem ist hinfällig, wenn nicht Tribunale ad hoc berufen werden, sondern ein ordentlicher und ständiger internationaler Gerichtshof auf klarer völkerrechtlicher Vertrags-Grundlage zuständig ist. Seit 1948 war es nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (CPPCG) möglich gewesen, ein internationales Strafgericht zu schaffen, um gegen einzelne Personen individuell zu verhandeln; erst 1993 setzte der Sicherheitsrat auf der Basis der VN-Charta (Kap. VII Art. 41) ein Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und ein Jahr darauf ein anderes für Ruanda (ICTR) sowie noch drei weitere fallspezifische ad-hoc-Tribunale als Sonderorgane ein. Die konstruktiven Erfahrungen mit deren <?page no="215"?> 215 8.2 Menschenrechte (human rights) Arbeit ermöglichten, dass es 1998 gelang, den „Internationalen Strafgerichtshof ’ (International Criminal Court/ ICC) zu gründen - als eigenständiges internationales Gericht durch einen eigenen internationalen Vertrag („Rom-Statut“, Rome Statute of the International Criminal Court, UN Doc. A/ CONF.183/ 9). Den Gerichtshof besetzen 18 Richter/ innen, die für maximal neun Jahre von der Vertragsstaaten-Versammlung gewählt werden; wichtig ist das Amt des/ der Anklägers/ -in (prosecutor), der oder die - ähnlich wie ein Staatsanwalt - dafür verantwortlich ist, dass es zu einer aussichtsreichen Anklage für eine Strafverfolgung kommt. Dieser Internationale Strafgerichtshof (ICC ) mit Sitz in Den Haag (Niederlande) darf nicht verwechselt werden mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH bzw. ICJ) am gleichen Ort, der keine eigenständige Institution ist, sondern ein Hauptorgan der UNO (siehe 6.1.5). Falsch wäre es auch, den ICC „UNO-Gerichtshof “ zu nennen, denn er ist ja eben nicht Teil der UNO, sondern eine eigenständige internationale Institution, zwischen der und der UNO und speziell dem Sicherheitsrat es allerdings Abmachungen zur Zusammenarbeit gibt. Das Mandat des ICC fordert, er möge das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten zum Schutz der Opfer wahren, die in bewaffneten Auseinandersetzungen Verantwortlichen für (Kriegs-)Verbrechen zur Verantwortung ziehen, die Verursacher von bewaffneten Konflikten identifizieren und nötigenfalls anklagen, somit die Herrschaft des Rechts gegen die Willkür von Machthabern und die Bereitschaft zu Gewalt weltweit durchsetzen. Vertragsparteien des Rom-Statuts sind über 150 Staaten. Die USA sind u. a. nicht Mitglied des Abkommens geworden, weil sie es strikt ablehnen, dass Angehörige ihrer Streitkräfte vor ein internationales Gericht gestellt werden. Das verwundert, denn wenn ein Mitgliedstaat des ICC erhobene Anschuldigungen selbst verfolgen und nötigenfalls vor einem eigenen Gericht anklagen würde, dann hätte der ICC keine Handhabe mehr; nach dem Komplementaritätsprinzip wird er nämlich nur dann zuständig, wenn ein Mitgliedstaat, dessen Strafverfolgung den Vorrang behält, nicht aktiv wurde. Die Bedeutung des ICC als zivilisierte Ergänzung der zwangsweisen Verhängung von Sanktionsregimen oder gar einer gewaltsamen humanitären Intervention ist immens: Wenn es möglich und üblich ist, Einzelpersonen international zu verfolgen und zu verurteilen, verliert jeder Verbrecher im Staatsdienst die Gewißheit, dass er und sein Vermögen auf Dauer geschützt seien durch den eigenen Status als Staatschef, Regierungsmitglied oder Militärführer in seinem souveränen Land. Der ICC kann durch konsequente gerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einem wirksamen präventiven Instrument werden. Literaturverweis zu 8.2.3.: Internationale Strafgerichtsbarkeit Fassbender 2002; Goldstone 2007; Romaniuk 2018 <?page no="216"?> 216 8. Arbeitsbereiche der UNO 8.3 Weltwirtschaft (world economy) Wirtschaft bestimmt unser Leben: Erst kommt das Fressen, dann die Moral, so Bert Brecht. Der Kapitalismus ist sowohl nach Karl Marx wie nach Max Weber unser Schicksal. Die „Globalisierung“ ist auch nicht so neu, sondern als im 16. Jahrhundert begonnene Expansion des modernen westlichen Wirtschaftssystems so alt wie der Kapitalismus. Neu war aber Mitte des letzten Jahrhunderts bei der Gründung der UNO die politische Umsetzung der Einsicht, dass Frieden und Sicherheit auch in den internationalen Beziehungen wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen haben. Denn wirtschaftliche Krisen und materielle Versorgungsprobleme beeinträchtigen und bedrohen das Leben fast aller Menschen, das der Armen wie das der relativ Reichen - ob sie verstehen, was vorgeht, oder nicht. Ähnlich wie in der internationalen Sicherheitspolitik (siehe 8.1.) stellt sich auch in den außenwirtschaftlichen Beziehungen das Dilemma, dass jeder Staat für sich den maximalen Anteil auf Kosten anderer herausholen will, aber durch ein nur auf die vermeintlich eigenen wirtschaftlichen Interessen bezogenes Verhalten allen anderen und auch sich selbst schadet, weil der zu teilende Kuchen kleiner statt größer wird; dass alle Staaten insgesamt miteinander einen besseren Effekt erreichen können, lehrt sowohl das liberale Konzept des Freihandels als auch der Gedanke der produktiven Kooperation durch gemeinsame Institutionen. Im Mandat der mitten im Zweiten Weltkrieges konzipierten UNO wirkte sich deutlich aus, dass im Bedingungsgeflecht der Ursachen des Krieges die Weltwirtschaftskrise der 1920/ 30er Jahre ein massiver Strang gewesen war; im Sinne des erweiterten Friedensbegriffs musste eine zumindest erträgliche wirtschaftliche Situation als eine grundlegende Voraussetzung für Friedfertigkeit Ziel und Aufgabe der neuen Organisation werden. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Weltwirtschaft Präambel ▶ „ s ozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit“ ▶ „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker“ I 1 ▶ Internationale Zusammenarbeit bei Problemen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art ▶ Für das alles „ein Mittelpunkt zu sein“ IV 13 Generalversammlung: ▶ Untersuchungen und Empfehlungen zur internationalen Zusammenarbeit in Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung und Gesundheit sowie zur Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten IX 55 ▶ Förderung von Stabilität und Wohlfahrt, „damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen“ können ▶ Verbesserung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung, Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg ▶ Lösung internationaler wirtschaftlicher, sozialer und gesundheitlicher Probleme sowie internationale Zusammenarbeit in Kultur und Erziehung IX 56 ▶ Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit dafür IX 57 ▶ Durch zwischenstaatliche Übereinkünfte errichtete „Sonderorganisationen“ werden mit den VN „in Beziehung gebracht“ (nach Art. 63) <?page no="217"?> 217 8.3 Weltwirtschaft (world economy) Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Weltwirtschaft X 62 ECOSOC: ▶ Untersuchungen und Berichte über internationale Angelegenheiten zu Wirtschaft, Sozialwesen, Kultur, Erziehung, Gesundheit u. ä. ▶ Empfehlungen an die GV, die Mitglieder der VN und die Sonderorganisationen ▶ Entwurf von Übereinkommen zur Vorlage für die GV ▶ Einberufung internationaler Konferenzen zu diesen Fragen X 63 ECOSOC: ▶ Abkommen mit Sonderorganisationen zur Zusammenarbeit, von der GV zu genehmigen ▶ Koordination der Tätigkeit der Sonderorganisationen durch Konsultationen mit ihnen und Empfehlungen an sie, die GV und die Mitglieder der VN X 68 ECOSOC: ▶ setzt Kommissionen für wirtschaftliche und soziale Fragen und für die Förderung der Menschenrechte „sowie alle sonstigen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlichen Kommissionen“ ein Allerdings hatten die westlichen Alliierten ohne die sozialistische Sowjetunion neben den Verhandlungen zur Gründung der UNO schon im Weltkrieg vorbereitet, wie nach Kriegsende die Wirtschaft in den einzelnen Ländern wieder in Gang gebracht und der weltwirtschaftliche Austausch geregelt werden könnten. Auf der epochemachenden Konferenz von „Bretton Woods“ bei Washington 1944 war der leitende Gedanke, drei komplementäre weltwirtschaftliche Regime zu schaffen, die eine liberale, also durch den ungehinderten Wettbewerb in freien Märkten funktionierenden Weltwirtschaft kooperativ neu ordnen und absichern sowie Mechanismen zur Regelung dabei zu erwartender Konflikte entwickeln sollten: ▶ Ein Weltwährungsregime unter Hegemonie der USA als Hauptgläubiger, institutionalisiert durch einen Internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund/ IMF); ▶ ein internationales (Frei-)Handelsregime zum Abbau von Handelshemmnissen und zur Schaffung fairer Marktbedingungen, das nach dem Scheitern der Pläne für eine Internationale Handelsorganisation (ITO) bis zur Gründung der Welthandelsorganisation (World Trade Organization/ WTO, 1995) nur durch ein - weiterhin gültiges - Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Trade and Tariffs/ GATT) geregelt wurde; ▶ ein Regime für wirtschaftliche Entwicklung, das durch die Kredite und die Expertise der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung [„Weltbank“] (International Bank for Reconstruction and Development [„Worldbank“]/ IBRD) getragen werden sollte (siehe 8.4.2). Die für diese drei Aufgabenbereiche geschaffenen Trägerstrukturen „Weltwährungsfond“ (IMF) und „Weltbank“ (IBRD) sowie das später mit der Welthandelsorganisation komplettierte Handelsabkommen bilden als „Bretton Woods“-Institutionen eine besondere Art wegen eines entscheidenden Unterschieds zu klassischen multilateralen Organisationen: In ihnen gilt nicht für alle Staaten das gleiche Recht im Sinne des Prinzips „Ein Staat = eine Stimme“, sondern die Mitgliedstaaten haben - wie in einer Aktiengesellschaft - so viele Stimmanteile wie sie Anteile am Organisationskapital eingezahlt haben bzw. garantieren. <?page no="218"?> 218 8. Arbeitsbereiche der UNO Die „Schwesterorganisationen“ IMF und IBRD - ein Staat muss IMF-Mitglied sein, um Mitglied der Weltbank zu werden - arbeiten auf ihren unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern eng zusammen; ihre organisatorische Grundstruktur ist ähnlich: Eine Mitgliederversammlung (Board of Governors) entscheidet als oberstes Organ gemäß der besonderen Stimmrechtsverteilung, ein Exekutivrat (Executiv Board/ Boards of Executive Directors) setzt dies zusammen mit einem Direktor/ Präsidenten (Managing Director/ President) und seinem Sekretariat in Regelungen und Programme um; das gilt auch für neuere Ausgründungen („Weltbankgruppe“, siehe 8.4.2), denen ein Staat nur als Weltbank- und IMF-Mitglied beitreten kann. In der ähnlich aufgebauten Welthandelsorganisation (WTO) sind anders als in den beiden geldnahen Organisationen alle Staaten gleichberechtigt, doch de facto gilt das Prinzip der Konsensentscheidung. Die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung war gedacht als Kompensation für die schlechteren Chancen von wirtschaftlich und politisch schwächeren Länder; weder sollten deren Regierungen sich mit Protektionismus einem offenen Welthandel verweigern noch deren Bevölkerungen politischen Extremisten folgen - Italien z.B. war vor dem Kommunismus zu retten. Internationale Organisationen / Institutionen im Arbeitsfeld „Weltwirtschaft“ Organisation ⚫ Status → berichtet an Zuständigkeit Mittel und Verfahren politische Vorgaben (Prinzipien/ Normen/ Regeln) und Koordination Generalversammlung/ GV (2. Ausschuss) General Assembly/ GA (2nd Comm.) ⚫ Hauptorgan Generelle Zuständigkeit für Wirtschaft Grundsatzfragen Resolutionen und Deklarationen Wirtschafts- und Sozialrat Economic and Social Council/ ECOSOC ⚫ Hauptorgan → GV Spezifische Zuständigkeit für Wirtschaft: Koordination und Auswertung: Resolutionen und Deklarationen, Fach-Konferenzen ECA, ECE, ECLAC, ESCAP, ESCWA ⚫ Regionalkommissionen → ECOSOC Wirtschaftliche Entwicklung in der Welt-Region: Abstimmung und Koordination, Beratung und Expertise Währungsstabilität Internationaler Währungsfond/ IWF International Monetary Fund/ IMF ⚫ Selbständige internationale Organisation (‚Bretton Woods‘-Institution) Währungsstabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht: (Not-)Kredite an Staaten, meist mit Auflagen (Ausgabenkürzung, Liberalisierung u. ä.), „Strukturanpassungsprogramme“; Aufbauhilfe unter der Bedingung der „good governance“ Handel UN Handels- und Entwicklungskonferenz UN Conference on Trade and Development/ UNCTAD ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Welthandel und Entwicklung: politisches Diskussionsforum, unverbindliche Resolutionen; Organisation von Fachwissen/ Expertise, Beratung: technische Hilfe zur Handelsentwicklung Allgemeines Welthandelsabkommen/ GATT General Agreement on Trade and Tariffs Freihandel, Zollabbau - 1995 durch die WTO ergänzt - Welthandelsorganisation - seit 1995 - World Trade Organization/ WTO � selbständige Internationale Organisation Regelung des Welthandels als Freihandel: Internationale Abkommen; Streitschlichtungs-Verfahren <?page no="219"?> 219 8.3 Weltwirtschaft (world economy) Internationale Organisationen / Institutionen im Arbeitsfeld „Weltwirtschaft“ Organisation ⚫ Status → berichtet an Zuständigkeit Mittel und Verfahren wirtschaftliche Entwicklung { → vielerlei Neben-/ Spezialorgane wie} UN-Entwicklungsprogramm UN Development Programme/ UNDP {siehe die Übersicht in 8.4} Langfristige Entwicklungsfinanzierung und -planung: multilaterale Entwicklungszusammenarbeit, -programme { → Sonderorganisationen wie} Organisation für industrielle Entwicklung / UN Industrial Development Organisation/ UNIDO {siehe die Übersicht in 8.4} Industrielle Entwicklung: Förderung von Investitionen und Technologietransfer Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung [„Weltbank“] International Bank for Reconstruction and Development [„Worldbank“]/ IBRD ⚫ Selbständige internationale Organisation (‚Bretton Woods‘-Institution) Langfristige Entwicklungsfinanzierung und -planung: Vergabe von vergünstigten Krediten, Länderprogramme; Konzipierung entwicklungspolitischer Programme; Technische Zusammenarbeit, Projekte; ⇒ jährlicher „Weltentwicklungsbericht“ Landwirtschaft Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agricultural Organization/ FAO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Landwirtschaft, Fischerei: Daten-Erhebung/ Analyse, Krisenwarnung; Produktionssteigerung, Ernährungssicherung; Fachwissen/ Expertise; Lebensmittelsicherheit Arbeit Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization/ ILO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Arbeitsbeziehungen/ Arbeitsrechte: Normen/ Standards, Staatenberichte; Technische Hilfe (Recht/ berufliche Bildung/ sozialer Schutz/ Arbeitssicherheit); Arbeitsmigration 1944 war nur die Lage in den souveränen Staaten nach dem Krieg im Blick; wohl niemand dachte an die große Herausforderung der sozio-ökonomischen Entwicklung in den damals noch abhängigen Kolonialgebieten und bald neuen Staaten der „Dritten Welt“ (siehe 8.4). Noch weniger wurde damals schon ein epochaler Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz (siehe 8.5) erahnt. Diese Problemkomplexe kamen erst in den 1950/ 60er bzw. seit den 1970er Jahren ins öffentliche Bewusstsein. Nach damals wie heute vorherrschender Meinung ist die effektivste und produktivste Voraussetzung zur weltweiten Förderung von Wachstum und Wohlstand die Sicherung eines freien und ungehinderten Handels, der nicht durch Wertabschöpfungen vermindert noch eingeschränkt wird durch administrativ-bürokratische Eingriffe. Freier Handel und seine Folgeeffekte setzen aber wiederum voraus, dass das Geldwesen funktioniert bzw. international der Austausch der Währungen gewährleistet ist, wofür zum Rahmen- und Durchsetzen definitiv der Staat bzw. internationale Regime nötig sind. Dafür aber schließlich müssen die Finanzen der Staaten ausreichend und verlässlich sein. Auf allen Ebenen müssen wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden, die immer weniger eine innere Angelegenheit souveräner Staaten bleiben können. Dies gilt nicht nur für die großen wirtschafts-, handels- und finanzpolitischen Entscheidungen, sondern mehr noch für organisatorisch-technische Regelungen, weil sie unmittelbar wirken. Eine Vielzahl multilateraler Institutionen kümmern sich mit spezifischen Abstimmungs- und Koordinierungsmechanismen um wirtschaftliche oder wirtschaftlich relevante <?page no="220"?> 220 8. Arbeitsbereiche der UNO Fragen der Energieversorgung, der Infrastruktur, des Verkehrs, der Kommunikation, der Industrienormen, der Arbeitsmärkte, des Tourismus u.v.m. Neben den zuständigen Neben- und Unterorganen der UNO wie den regionalen Wirtschaftskommissionen des ECOSOC gibt es zu vielen dieser Aufgabenbereiche auch spezialisierte Internationale Organisationen (siehe 5.2/ 5.3). 8.3.1 Stabilität der Währungen Alle Länder hatten im Zweiten Weltkrieg verloren, Menschenleben und materielle Güter. Die schon aus dem Ersten Weltkrieg entstandene wirtschaftliche Vormachtstellung der USA war gegenüber Europa stark gewachsen; die westlichen Alliierten waren bei den USA hochverschuldet, die Kriegsverlierer auf ihre Hilfe (wie den „Marshall-Plan“) angewiesen. Das System von Bretton Woods war folglich orientiert am US-Dollar als Leitwährung, an die alle anderen Währungen in einem System fester Wechselkurse gebunden waren; der Wert der Währungen basierte darauf, dass sie garantiert in Gold umtauschbar waren. Der sog. Goldstandard und die unflexible Kursbindung funktionierten bis Anfang der 1970er-Jahre, als die weltwirtschaftliche Entwicklung und die Verzerrungen durch die Kosten des Vietnam-Krieges das antiquierte System sprengten. Es wurde ersetzt durch eine Mischung aus flexiblen und fixen Wechselkursen; zwar konnten sich nun die Kurse aller Währungen im freien Spiel der Märkte bilden, aber schnell wurden einzelne regionale Wechselkursregime geschaffen wie seit 1972 in Europa. Der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund/ IMF) hatte für das alte System das Verhalten der Regierungen abgestimmt; seine Funktionen änderten sich mit der Freigabe der Wechselkurse, aber seine Bedeutung ist mit jeder Verschuldungs- und Finanzkrise gewachsen. Wenn die Finanzmärkte das Vertrauen in die Leistungskraft der Wirtschaft und/ oder die Finanzstabilität eines überschuldeten Staates verlieren, kann seine Währung gefährliche Kursverluste erleiden; um das Vertrauen der Märkte zu bewahren oder möglichst schnell wieder aufzubauen, unterstützt der IMF die notleidende Regierung als Krisenintervention mit Krediten und Garantien. Auch das Währungs-Regime ist eine Art Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, weil die meisten Staaten Mitglied des IMF sind. Die Hilfe wird aber nicht bedingungslos, sondern unter manchmal harten Auflagen gegeben, wobei die ökonomische Konditionierung zunehmend politisch z. B. mit dem Kriterium reeller Regierungsführung („good governance“) akzentuiert wurde; kreditabhängigen Staaten können radikale Sparmaßnahmen und sogenannte Strukturanpassungsprogramme verordnet werden, die tief in deren Wirtschafts- und Sozialpolitik eingreifen - und oft die breite Masse der Bevölkerung schwer treffen. Selbst wenn die Auflagen z. B. zur Haushaltskonsolidierung auf längere Sicht zielführend sein können, sind sie politisch riskant und umstritten, sofern sie Wirtschaftswachstum vermindern und hohe soziale Kosten bringen. Das Mandat des IMF umfasst neben dem finanziellen Beistandssystem für Staaten in Zahlungsbilanzschwierigkeiten auch die multilaterale Zusammenarbeit in der Währungspolitik, Abbau von Zahlungsbilanzungleichgewichten, Ausweitung des Welthandels, Stabilisierung <?page no="221"?> 221 8.3 Weltwirtschaft (world economy) internationaler Finanzmärkte, Sicherung des internationalen Zahlungsverkehrs und Technische (Entwicklungs-)Hilfe in der Finanzverwaltung. Das finanztechnische Instrumentarium des IMF (Quoten, Sonderziehungsrechte, Kreditfazilitäten u.v.m.) ist kompliziert (www.imf.org). Seine Geldquellen sind hauptsächlich die Quoteneinlagen der Mitgliedstaaten; er hat ohne Reserven und Rückstellungen eine Größenordnung von 700 Milliarden an „Sonderziehungsrechten“ (special drawing right/ SDR) zur Verfügung, was etwa einer Billion (= 1000 Milliarden) US-Dollar entspricht (Stand 2018). Dieser beeindruckenden Kapazität stehen in wesentlich geringerem Maß Ausleihungen an etwa drei Dutzend Staaten als ausbezahlte Kredite oder zugesagte Kreditrahmen gegenüber; deren wechselhafte Anzahl und Höhe hängen von der weltwirtschaftlichen Lage und der finanziellen Situation der Staaten ab. Der IMF hat 189 Mitgliedstaaten, deren Stimmengewicht ihrem Anteil am Kapital des Fonds, den sog. Quoten, entspricht; die größten Anteile haben (Stand 2019) die USA mit 17,46 %, Japan mit 6,48 %, die VR China mit 6,41 %, Deutschland mit 5,60 %, Frankreich mit 4,24 % und Großbritannien mit 4,24 %. Sowohl die USA als einziger Staat allein als auch die EU-Staaten zusammen haben mit mehr als 16 % eine Sperrminorität in wichtigen Fragen, die nach IMF-Satzung (Articles of Agreement) mit einer 85 %-Mehrheit entschieden werden müssen. Die Quoten sind nicht nur entscheidend in Abstimmungen, sondern bestimmen auch die Höhe der einzuzahlenden Summen und der „Ziehungsrechte“ im Falle der Kreditaufnahme. Weil die weltwirtschaftlichen Schwerpunkte sich verschoben haben, wurden seit 2009 Machtverschiebungen durch Änderungen der Quoten zugunsten von VR China, Indien und anderer Schwellenländer beschlossen; weitere Reformen werden diskutiert. Grundsätzliche Kritik an der wirtschafts- und besonders der entwicklungspolitischen Ausrichtung des IMF aus der Perspektive der reichen Industrieländer im Geiste der „neoliberalen“ Liberalisierung kommt nicht nur erwartungsgemäß von sog. „Globalisierungsgegnern“, sondern auch von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern. 8.3.2 Freiheit und Regelung des internationalen Handels Vielkritisiert und hochumstritten ist auch das wichtigste Prinzip der Weltwirtschaftsordnung: Freihandel. Populärer sind an von Euro-Zweifeln gebeutelten deutschen Stammtischen und an amerikanischen Wahlurnen die Vorstellungen des frühmodernen Merkantilismus: Man muss unbedingt eine aktive Handelsbilanz durch Exportüberschuss haben (als „Exportweltmeister“), dafür niedrige Ausfuhrzölle, aber hohe Einfuhrzölle ansetzen, um abgesehen von nicht heimischen Rohstoffen die Produkte der Ausländer zugleich draußen zu halten und denen die eigenen (ohnehin die weltbesten) zu verkaufen („America first! “), notfalls muss man die anderen auch erobern und kolonisieren, um Rohstoffeinfuhr und Absatzmärkte zu sichern (wie einst das britische Empire). Die Grundidee dieses Weltbildes ist purer selbstbezogener Protektionismus: Schutz des eigenen Marktes nach außen, zugleich Öffnung aller anderen Märkte. Diese Haltung widerspricht nicht nur allen Grundsätzen friedlicher internationaler Kooperation (siehe 2.2), sondern hätte auch die Entwicklung einer funktionierenden Weltwirtschaft gehemmt. Produktiver für die führenden Wirtschaftsmächte wie England und dann <?page no="222"?> 222 8. Arbeitsbereiche der UNO die USA und nicht zuletzt auch Deutschland wirkte freier, ungehemmter und rücksichtsloser Handelsverkehr. Gemäß der klassischen Freihandels-Theorie muss eine Spezialisierung von einzelnen Volkswirtschaften auf den Export von Gütern, zu deren Produktion sie natürliche Kostenvorteile haben, allen am Welthandel Beteiligten insgesamt Vorteile bringen. Skeptisch zu fragen bleibt, ob die Annahmen des Theorems der komparativen Vorteile und Nutzen immer und überall zutreffen oder ob notwendige Bedingungen jeweils erfüllt sind, z,B. wenn Märkte nicht frei, sondern politisch vermachtet sind, oder wenn Einsatz und Mobilität der Faktoren Kapital und Arbeit wegen des technischen Forschritts und dank globaler Kommunikation immer flexibler werden. Fragwürdig ist zumal die Anwendbarkeit des Freihandels-Modells auf den dauerhaften Handel mit unvergleichbaren Arten von Gütern zwischen Handelspartnern mit sehr unterschiedlichen Strukturen: Über längere Zeit regen Exporte von anspruchsvollen Produkten eigene Entwicklungsfortschritte an, während die Ausfuhr unveredelter Rohstoffe nur Löcher im Boden hinterlässt, was wenig stimulierende Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft armer Länder und Menschen hat. Schafft unbeschränkter Handel mit allem unter allen letztlich für alle Wohlstand - oder nutzt er nur den schon leistungsfähigeren besser Gestellten, während die anderen abrutschen? Diese komplexe, aber entscheidende Frage erinnert an binnenwirtschaftliche Zielkonflikte zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Der großen globalen Mehrheit der Wirtschaftsexperten und der Regierenden gilt jedenfalls unbehinderter Handel mit Gütern und Dienstleistungen (auch Finanzdienstleistungen) - also konsequente Liberalisierung des Weltmarktes - als erstrebenswerter Zustand. Der Grundsatzstreit ist allerdings dank der „Globalisierung“ als weltweiter Durchsetzung der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise ohnehin historisch hinfällig, woran auch populistische Gegenreaktionen von links wie rechts nichts ändern werden. Aber es geht noch um die kontroversen Fragen, welcher Handel mit welchen Gütern zu welchen Bedingungen wie ungehemmt frei und wie ungeregelt sein darf - ohne die sozialen und ökologischen Folgen zu beachten. Umstritten bleibt, ob und inwieweit internationale wie supranationale staatliche Instanzen in den freien Welthandel eingreifen dürfen und/ oder müssen, um nicht nur sein Funktionieren, sondern übergeordnete kollektive Güter wie Klimaschutz oder Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Bisher dient die multilaterale Kooperation vor allem der Durchsetzung von Freihandel im Sinne der exportstarken Industrieländer; sie könnte aber auch - aber eben nur von ihren Mitgliedstaaten - stärker gefordert werden zur Regelung des Handels unter sozialen und ökologischen Aspekten. Für den Freihandel, also für Marktöffnung und gegen Protektionismus in Form von Zöllen oder nichttarifären Handelshemmnissen arbeitet die Welthandelsorganisation (World Trade Organization/ WTO) (www.wto.org). Die Rechtsgrundlagen der drei wichtigsten Arbeitsbereiche sind für ▶ den Warenhandel das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), ▶ den Handel mit Dienstleistungen das General Agreement on Trade in Services (GATS), ▶ die geistigen Eigentumsrechte das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS). <?page no="223"?> 223 8.3 Weltwirtschaft (world economy) Die Welthandelsorganisation / World Trade Organization (WTO) Prinzipien der Abkommen (GATT, GATS, TRIPS) Abbau von Zöllen und Barrieren Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen (wie Quoten, Kontingente, technischer Standards) zur marktöffnenden Liberalisierung Nichtdiskriminierung Kein Handelspartner darf im Vergleich irgendwie benachteiligt werden ▷ Meistbegünstigung Alle Vorteile und Begünstigungen, die ein Staat einem anderen einräumt, sollen uneingeschränkt auch für alle anderen gelten; Ausnahme: gilt nicht innerhalb einer Freihandelszone/ Zollunion (wie der EU) ▷ Inländergleichbehandlung Ausländische Produkte/ Dienstleistungen dürfen gegenüber inländischen nicht benachteiligt werden; Ausnahmeregelung für Entwicklungsländer Reziprozität Einräumen gleichwertiger Zugeständnisse auf Gegenseitigkeit ist die generelle Grundlage aller Verhandlungen unter den Mitlgiedstaaten Multilateralismus statt plurilateraler regionaler Freihandelsabkommen Transparenz für Vorhersehbarkeit und Rechtsicherheit, gegen Willkür Aufgaben der WTO Verhandlungen zur Regelung des internationalen Handels (gemäß der Prinzipien) Beobachtung und Prüfung der Erfüllung vertraglicher Pflichten seitens der Mitglieder Streitschlichtung in Handelskonflikten unter Mitgliedern durch spezielle Schiedsverfahren Entwicklungszusammenarbeit durch mehr Handelsbeziehungen und -kapazitäten, Sonderregelungen Öffentlichkeitsarbeit Information und Lobbyismus gegenüber Politik und Zivilgesellschaft Die WTO hat 164 Mitgliedstaaten, darunter inzwischen auch die VR China und die Russische Föderation. Als Versammlung aller Mitgliedstaaten hat die Ministerkonferenz (Ministerial Conference) die Entscheidungsgewalt; ein Allgemeiner Rat (General Council) dient als Exekutivorgan auch zur Streitbeilegung; die laufenden Geschäfte führt ein Sekretariat unter dem von der Ministerkonferenz gewählten Generaldirektor (Director-General). Beschlüsse können in der Ministerkonferenz bei einer Stimme für jeden Mitgliedstaat mit einfacher Mehrheit gefasst werden, doch über Grundsatzfragen wird im Konsens und also meist mittels Kompromisses entschieden. Wenn es um den eigenen materiellen Vor- oder Nachteil geht und zugleich um den anderer, wären streitige Mehrheitsabstimmungen zur Erzwingung wirkungslos: Nur eine wenigstens teilweise ernsthafte Einigung kann kooperatives Verhalten aller Marktteilnehmer motivieren. Auch dafür attraktiv ist die wichtige Funktion der WTO als Schiedsgericht: Handelskonflikte zwischen Mitgliedern können in einem zweistufigen Schlichtungsverfahren verhandelt werden. In oft mehrjährigen Verhandlungs-„Runden“ (z. B. die „Tokyo-Runde“ 1973-1979, die „Uruguay-Runde“ 1986-1994 und seit 2001 die „Doha-Runde“) werden zu verschiedenen Schwerpunkten mit wechselndem Erfolg handelspolitische Themen abgearbeitet und verbindlich geregelt; die immer noch aktuelle „Doha-Runde“ soll zusätzlich zu ihren gut 20 Verhandlungsgegenständen auch Probleme der Entwicklungsländer behandeln. Fragen des Schutzes der geistigen Eigentumsrechte (intellectual property rights) werden wichtiger, weil immaterielles Eigentum wie Patente oder Urheberrechte vom globalisierten <?page no="224"?> 224 8. Arbeitsbereiche der UNO Handel täglich mehr beeinträchtigt wird, sein Schutz aber auch nicht zur Handelsbarriere werden soll. Die Lage ist oft widersprüchlich: der Patentschutz oder ein Handelsverbot für geschützte Medikamente kann für die öffentliche Gesundheit in ärmeren Ländern lebensgefährlich sein, aber Entwicklungs- und Produktionskosten wollen verdient sein; die biologische Vielfalt und das traditionelle Wissen darüber sind unerschöpfte Potentiale nachhaltiger Entwicklung, können aber trotz ihres kollektiven Charakters auch patent- und handelsrechtliche Fragen aufwerfen. Die Grundregel bleibt: Jede Diskriminierung von Waren und Dienstleistungen ist zu unterlassen, auch ihre Herkunft und ihre Produktionsmethode dürfen keine Handelshemmnisse sein; ausgenommen sind bisher nur in Zwangsarbeit hergestellte Produkte und für die Gesundheit von Menschen und anderen Lebewesen akut gefährliche Waren, was allerdings konkret und in jedem Fall nachgewiesen sein muss. Die Probleme bleiben auch: Massive Zielkonflikte zwischen Menschenrechts- oder Umweltschutz und dem freien Handel sind vorherzusehen. 8.3.3 Globale Finanz- und Wirtschaftspolitik? Seit den 1980er-Jahren traten wieder häufiger internationale Verschuldungs- oder Finanzkrisen auf - meist Kater-Phasen nach geplatzten Spekulations-Blasen - was die Forderung nach einer- globalen Finanz- und Wirtschaftspolitik oder wenigstens einer verlässlicheren Abstimmung der einzelstaatlichen Politik plausibel klingen lässt. Aber wie und mit welchem Instrumentarium soll das von wem weltweit für fast 200 Länder geleistet werden, wenn doch noch nicht einmal die schon ein bißchen supranationale Europäische Union (EU) mit unter 30 relativ homogenen Mitgliedstaaten in der Lage ist, entsprechende Regelungen einer noch nicht einmal virtuellen europäischen „Wirtschaftsregierung“ zu schaffen und durchzusetzen? Eine unbestrittene wirtschaftliche Vormacht wie die USA der Bretton Woods-Konferenz gibt es nicht mehr; spätestens mit dem Aufstieg der VR China mit ihren anders gelagerten Interessen braucht eine multipolare Wirtschaftswelt multilaterale Kooperation - die Frage wird sein, ob selektiv oder universal. Rufe nach krisenheilender globaler Finanzmarktgestaltung hören sich gut an, harmonieren aber nicht mit der begründeten Skepsis, auf der Ebene internationaler Wirtschaftspolitik mehr Rationalität und Handlungskompetenz zu erwarten als auf binnenpolitischer Ebene. Immerhin verschob sich die Diskussion nach Jahrzehnten unbeschränkter „neoliberaler“ Parties ein wenig in die Richtung der Einsicht, dass freie Märkte wie freie Autobahnen von Rahmenbedingungen als Leitplanken und Verkehrsregeln in Ordnung gehalten und von Aufsichts-Instanzen als Verkehrspolizei überwacht werden müssen, damit sie ihren Zweck erfüllen und nicht so oft Hochgeschwindigkeits-„Crashs“ passieren. Ein kluger Vorschlag ist, weltweit eine Art von „Finanztransaktions-Steuer“ (auch „Tobin-Steuer“ genannt) auf den Handels-Umsatz von Finanzprodukten aller Art zu erheben, egal ob die einzelne Transaktion spekulativ oder investiv, ob sie nur für Minuten oder auf Jahre angelegt ist, ob sie von internationalen Investmentbanken und Fonds oder ob sie von privaten „Klein-Anlegern“ beauftragt ist. Selbst bei geringsten Steuersätzen würden damit <?page no="225"?> 225 8.3 Weltwirtschaft (world economy) einerseits Hemmnisse gegen heißlaufende Spekulation und „Blasenbildung“ aufgebaut, anderseits nennenswerte Mittel eingenommen, mit denen andere multilaterale Aufgaben zu finanzieren wären. Nur ein traumhaft starker Akt multilateraler Kooperation könnte eine solche von einer großen Zahl von Profiteuren des Finanzhandels unerwünschte Maßnahme weltweit einführen. Während diese und ähnliche Ideen noch als utopisch gelten und realistische Initiativen dazu nicht in Sicht kommen, sind zwei Prozesse absehbar: ▶ Die Wachstums-Ökonomien des globalen Südens werden informell wie auch formal durch die Modifizierung von Stimmrechten stärkeren Einfluss in den internationalen Institutionen zu Wirtschaft und Finanzen bekommen. ▶ Alternative informelle „Formate“ wie die „G7/ 8“- und „G20“-Treffen einer Minderheit von wirtschaftlich starken Staaten werden für Kommunikation, Abstimmung und konkrete Kooperation ausschlaggebend werden, was der Effizienz der Entscheidungen dient, ihre Legitimation aber fragwürdig macht. Die Etablierung von Arbeitsformen selektiver Multilateralität neben den universalen Gremien oder gar an ihnen vorbei ist so interessant wie riskant. Für die Verbesserung der Arbeit in der UNO wurde u. a. ein neu zu gründender weltwirtschaftlicher „Sicherheitsrat“ analog zum mächtigen Krieg- und Frieden-Sicherheitsrat gefordert (siehe 9.2); behutsamere Vorschläge auf der Basis der Kenntnis der VN-Charta zielten auf eine Reaktivierung des Treuhandrates für wirtschaftliche Problemfälle oder naheliegenderweise auf eine kraftvolle Reform des ohnehin zuständigen ECOSOC. Aber die Schwerfälligkeit des multilateral-universalen Politikbetriebes und insbesondere das Faktum, dass die VN-Charta kaum noch ernsthaft und in absehbarem Zeitraum zu ändern ist (siehe 9.1), hemmen dies alles. Wegen der starken Beharrungskraft der formalen Strukturen liegt es nahe, wieder einmal informell einfach das zu tun, was Fortschritt und Lösungen verspricht (siehe 7.6) - unter Nutzung des Instruments der Gruppenbildung, aber diesmal außerhalb der UNO (siehe 7.4). Aus halbprivaten „Kamingesprächen“ unter Regierungschefs wurden beiläufige Gesprächsforen, von denen aber so starke Impulse ausgingen, dass sie sich als G7/ 8- oder G20-Konferenzen zu den denkbar wichtigsten und teilweise absurd aufwändigen Treffen hochrangigster Entscheidungsträger/ innen auswuchsen. Ist lediglich eine erhöhte internationale Kommunikationsaktivität aus gegebenen Anlässen in flexibler Form zu vermerken oder entsteht eine informell-evolutionär herausgearbeitete Weltordnungs-Instanz? Als mit den alten multilateralen Organisationen konkurrierendes globales Leitungsgremium wären G7/ 8 oder G20 nur durch die faktische wirtschaftliche Macht ihrer Teilnehmer keinesfalls genügend legitimiert. Doch der IMF z. B. agiert ohnehin von UN-Gremien weitgehend unabhängig, während die Abstimmung mit der G20 deutlich zugenommen hat; allerdings ist das insofern selbstverständlich, als zur G20 diesselben Staaten gehören, die den IMF regieren. Die immer häufiger und dann regelmäßig gewordenen Treffen der Staats- und Regierungschefs (gegebenenfalls auch mit zuständigen Ministern) erweiterten stetig das Spektrum der behandelten Themen, doch bleiben sie bislang im Rahmen wirtschaftlicher Probleme - beanspruchen aber für Entscheidungen dazu eine politische Führungsrolle. <?page no="226"?> 226 8. Arbeitsbereiche der UNO Zu beobachten bleibt, ob und wie die G20 oder eine modifizierte Form von ihnen sich in welchem Maße weiter institutionalisieren oder gar formalisieren wird - und wie das ausreichend legitimiert mit den herkömmlichen Strukturen kompatibel gemacht werden kann. Das politische Problem würde dabei - wie beim Sicherheitsrat der UNO - die dauerhafte Zusammensetzung der G20 sein: Wer muss Mitglied einer zweitrangigen „G173“ bleiben? Als pragmatische Lösung ist eine friedliche Koexistenz von formellen und informellen Strukturen wahrscheinlich, wenn die Regierungen es schaffen, die Balance zu halten. Literaturverweis zu 8.3: Wirtschaft und Währung Conrady 2006; Daase 2009; Dasgupta 2009; Fomerand/ Dijkzeul 2007; Jokela 2011; Gronau 2015; Heinbecker 2015; Rowohl 2007; Schmieg 2019; Sidhu 2007; Stiglitz 2004, 2011; Tietje 2005; Wilkinson 2018; Woods 2007, 2018 8.4 Entwicklung (development) Zu wirtschaften gehört zum menschlichen Leben wie die Butter zum Brot, aber die Fähigkeit und die Werkzeuge zum Backen und Buttern mussten erst entwickelt werden. Für wirtschaftliche Entwicklung scheint Wachstum der Zweck und seine Förderung zugleich das politische Mittel für allgemeine Entwicklung zu sein. Da die Welt sozio-ökonomisch recht heterogen ist und ihre Länder ungleich mit Ressourcen ausgestattet und strukturell unterschiedlich entwickelt sind, prägen Interessen- und Zielkonflikte das sich immer weiter globalisierende Wirtschaften, vor allem der alte Gegensatz und Verteilungskampf zwischen Nord versus Süd und der fatale Widerspruch zwischen Entwicklung durch Wachstum und der Überlebensnotwendigkeit von Umwelt-/ Klima-Schutz. Zu erwarten wäre, dass in einer materiell immer reicheren Welt endlich Hunger und absolute Armut durch wirtschaftliche, soziale und menschliche Entwicklung überwunden werden konnte; das ist nicht so. „Entwicklung“ scheint eine Aufgabe wie die Quadratur des Kreises zu sein und „die UNO“ müsste eine eierlegende Wollmilchmuttersau sein, um sie zu erfüllen. Nach den neuartigen Konfliktformen, die zur Erfindung der „Blauhelme“ führten, war „Entwicklung“ die zweite große unerwartete Herausforderung für die UNO, die in der VN-Charta nur implizit als Teil ihres Mandats erwähnt ist - der große Problemkomplex musste als expliziter Aufgabenbereich selber erst entwickelt werden. Im Zuge der politischen Befreiung der Kolonien zu unabhängigen Staaten gebot sich das rasch und nachdrücklich, weil diese alle in die UNO drängten und bald in der Generalversammlung eine Stimmenmehrheit des globalen Südens bildeten - und ihre Anliegen und Probleme vorrangig auf alle Tagungsordnungen im ganzen UN-System setzten. Als blockfreie „Dritte Welt“ wurden die neuen Staaten zudem von der ersten (Westen) und der zweiten (Ostblock) dränglich als politische Freunde umworben. <?page no="227"?> 227 8.4 Entwicklung (development) Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Entwicklung Präambel ▶ „sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit“ ▶ „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker“ I 1 ▶ Internationale Zusammenarbeit bei Problemen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art ▶ Für das alles „ein Mittelpunkt zu sein“ … ⇒ siehe 8.3 zu Weltwirtschaft Die impliziten Bestimmungen des Mandats an die UNO zu Entwicklungsfragen wurden denen zur Weltwirtschaft analog nachempfunden; zur Präambel und zu Kap. I Art. 1 ist das Stichwort „Entwicklung“ einfach ergänzend dazu zu denken; Generalversammlung und ECOSOC haben das Recht zu Neugründungen auch für diese Aufgabe und nutzen es ungehemmt; auch die Zusammenarbeit mit Sonderorganisationen ist erwünscht. Das dritte der drei komplementären weltwirtschaftlichen Regime von „Bretton Woods“ sollte für wirtschaftliche Entwicklung sorgen, um den Vorsprung der starken Ökonomien nachholend auszugleichen. Doch „Entwicklung“ erwies sich bald als viel komplizierter als es wirtschaftswissenschaftliche Modelle sehen ließen. In den ökonomisch abhängigen und deformierten ehemaligen Kolonien ging es eben nicht wie in den vom Krieg zerstörten Ländern Europas nur um Wiederaufbau und Modernisierung von Infrastruktur und Produktionsapparat, sondern um viel grundsätzlichere sozio-ökonomische Prozesse. Entwicklungspolitik, die bilaterale wie erst recht die multilaterale, ist kompliziert und kaum noch überschaubar geworden; der gestaffelte Komplex der internationalen Entwicklungs-Agenturen geht weit über die Institutionen des „Bretton Woods“-Regimes hinaus, dessen Elemente sind aber im Kern geblieben. ▶ Ein ökonomisches und ein ethisches Prinzip: Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften beeinträchtigen das Funktionieren eines offenen Weltwirtschaftssystems, weswegen ihnen in internationaler Kooperation entgegengewirkt werden muss; lebensbedrohliche Armut und menschenunwürdige Lebensbedingungen sind in einer funktionierenden Weltwirtschaft nicht zu verantworten. ▶ Normen: Die wirtschaftlich starken Staaten verpflichten sich zur Vergabe von Finanzmitteln ohne direkte Gegenleistung, aber die empfangenden Staaten müssen bei der Verwendung dieser Mittel auf ihre Souveränität de facto zum Teil verzichten, also Vorgaben akzeptieren und Kontrolle erdulden - das nennt sich dann „Entwicklungszusammenarbeit“. ▶ Regeln: Kredite werden zu Zinsen unter den Sätzen auf dem freien Markt und meist langfristig vergeben, sind aber an Konditionen bzw. an Entwicklungsprojekte gebunden, die einverständlich ausgehandelt werden; die konkreten Maßnahmen sind möglichst im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit durchzuführen, bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wäre damit zumindest abzustimmen; ähnliches gilt für die technische Hilfe wie Ausbildung und Technologietransfer. <?page no="228"?> 228 8. Arbeitsbereiche der UNO ▶ Verfahren: Die konkreten Instrumente/ Mechanismen/ Arbeitswesen der multilateralen Entwicklungspolitik sind vielfältig und sehr differenziert - fast alles ist denkbar. Die Entscheidungsprozeduren sind zweiartig: Die Organisationen der Weltbankgruppe und den IMF regiert die Mehrheit des eingezahlten Kapitals, bei den Institutionen der UNO und den anderen Sonderorganisationen entscheidet die Mehrheit der Staaten bzw. in der Praxis meist ein Konsens - eine als Konkurrenz brisante, aber als pragmatische Methode bewährte Arbeitsteilung zwischen wirtschaftlicher Macht und politischem Anspruch. Internationale Kooperation unterliegt wie alle öffentliche Politik dem Zeitgeist und seinen Moden - angesagte Themen und Schlagworte infizieren rapide alle Sachbereiche: Auf diversen Internetseiten des UN-Systems ist viel über „Nachhaltigkeit“ oder „gender mainstreaming“ oder sonstige zivilgesellschaftliche Favoriten zu lesen, bevor überhaupt deutlich wird, für welches Problem oder welchen Arbeitsbereich die angeklickte Institution zuständig ist. Besonders die Entwicklungspolitik scheint für thematische Konjunkturen und sinnstiftende Rituale sehr anfällig zu sein. Über Komplexität und Widersprüchlichkeit ihres Auftrages hilft ein reger Wechsel entwicklungspolitischer Moden hinweg oder auch gerne mal wieder das Erfinden des Rades - zumal im von politischen Zielkonflikten geprägten UN-System auch einander widersprechende Konzepte und Praxen koexistieren können sollten. Seit der Etablierung des Aufgabenbereichs werden symbolische Beschwörungen des zu Erreichenden geboten, sei es die Ausrufung von „Entwicklungsdekaden“ (erstmals 1961-1970), sei es die Verkündung von „Entwicklungszielen“ wie der „Millennium Development Goals“ (MDGs) für 2000 bis 2015 und nun der „Sustainable Development Goals“ (SDGs) bis 2030. Nicht immer, aber zu oft mussten Ziele wie der „Sieg über den Hunger“ in die nächste Periode fortgeschrieben werden Besondere Vorsicht verdienen die jeweils zeitweise angesagten wirtschafts- und entwicklungspolitischen Losungen. Die ihnen zugrundeliegenden wirtschaftstheoretischen Weisheiten sind selten unangreifbare wissenschaftliche Wahrheiten, sondern immer auch interessengebundene oder gar ideologische Positionen. Das Instrument der „public-private partnerships“ z. B. bietet sich an, wo der Staat schwach und das lokale Kapital für Infrastruktur gering ist, aber viele europäische Kommunen haben gut Gründe, ihre privatisierten Wasserwerke wieder haben zu wollen. Gegen allzu idealistische Erwartungen muss eingeräumt werden, dass „Entwicklung“ über die Jahrzehnte zu einem eigenen internationalen Arbeitsbereich und Wirtschaftszweig geworden ist, der nicht nur Institutionen - IGOs wie INGOs - Existenzberechtigung und Bedeutung liefert, sondern als Geschäfts-Branche vielen Firmen Gewinne und noch mehr Personen Einkommen sichert; die „internationals“ in der Entwicklungs- oder auch in der Nothilfe sind Profis, keine Engel. Weil es nicht mehr lange möglich sein wird, den grenzenlosen Verbrauch natürlicher Ressourcen weiterhin zur Basis der wirtschaftlichen Entwicklung zu machen, muss die Bewirtschaftung globaler öffentlicher Güter (Klima, Wasser u. ä.) multilateral-universal geregelt werden - wenn das einmal möglich sein wird. Eine klare Abgrenzung des Arbeitsbereichs „Entwicklung“ zu dem zur Wirtschaft und zu dem Arbeitsbereich, der zu langsam, aber <?page no="229"?> 229 8.4 Entwicklung (development) immerhin zu den ökologischen Gefährdungen Regelungen herausbildet, ist schwierig; Überlappungen oder auch Konkurrenzen sind eher die Regel. 8.4.1 Wirtschaftliche, soziale und „menschliche“ Entwicklung Früheren Generationen war unser technisches und wirtschaftliches Niveau unvorstellbar. Schon längst wäre möglich gewesen, dass kein Mensch auf der Welt mehr materielle Not erleiden müsste. Aber die Mehrheit der Menschen hat mindestens ein wirtschaftliches oder soziales Problem, das ihr Wohlergehen beeinträchtigt oder gar ihr Leben bedroht. Eine Milliarde Menschen leben dauerhaft in einer soziostrukturell bedingten entwürdigenden Situation der Armut, die ungeachtet eigener Anstrengungen nicht einmal die gesicherte Befriedigung der elementarsten Lebensbedürfnisse zulässt. Berechnungen der „absoluten Armut“ (IBRD, Weltentwicklungsberichte 2001, 2008, 2018) Die Weltbank (IBRD) hat zur Jahrtausendwende festgestellt, dass von den über 6 Milliarden damals lebenden Menschen 2,8 Milliarden, also fast die Hälfte, weniger als den Gegenwert von zwei US-$ tägliches Einkommen hatten, ein Fünftel der Menschheit (1,2 Milliarden) sogar weniger als einen US-$; über drei Viertel der Ärmsten leben nicht etwa in Groß- und Megastädten, sondern in ländlichen Gebieten. Das Einkommen der 20 reichsten Länder war fast 40mal so hoch wie das der ärmsten 20 Länder; trotz Entwicklungszusammenarbeit hatte sich in vierzig Jahren diese Lücke zwischen den beiden Ländergruppen verdoppelt. Die Armut war und ist regional ungleich verteilt, am schlimmsten ist sie in Afrika südlich der Sahara, am geringsten in Ostasien; auch innerhalb der Länder ist die Verteilung des verfügbaren Einkommens ungleich, oft extrem (Einkommen des reichsten Fünftels der Bevölkerung zwischen 5 und 10 mal, oft auch über 20 mal höher als das des ärmsten Fünftels der Bevölkerung). Eine Revision dieser Daten ergab, dass im Jahr 2005 nach der neu berechneten „poverty line“ von 1,25 US-$/ Tag noch 1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut lebten; das war über ein Viertel der Menschen in den Entwicklungsregionen. Verglichen mit den für 1990 rückberechneten 42 % ergab sich immerhin eine jährliche globale Verbesserung von durchschnittlich fast 1 % - aber: Die Ungleichverteilungen zwischen und innerhalb der Länder haben sich differenziert und verstärkt. Die Weltbank definiert Menschen inzwischen als extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar in lokale Kaufkraft umgerechnet pro Tag zur Verfügung haben. Demnach lebten im Jahr 2015 noch 736 Millionen Menschen in Armut, also weniger als zehn Prozent. Der einstige Optimismus über die Machbarkeit von „Entwicklung“ ist enttäuscht: Armut und Hunger, Kriege und soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Gewalt, Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung, Verschuldung und Abhängigkeit nach außen und Dutzende speziellerer Probleme wie AIDS relativeren in vielen, nicht in allen Ländern die Fortschritte; <?page no="230"?> 230 8. Arbeitsbereiche der UNO beeindruckende Erfolge beim wirtschaftlichen Wachstum waren regional, sektoral und besonders sozial unterschiedlich verteilt. Entwicklungspolitik hat viele oft miteinander eng verflochtene Probleme zu lösen: Armut und soziale Entwicklung, Bevölkerungsentwicklung und Ernährungssicherheit, wirtschaftliche Produktion und Produktivität; dazu kommen aber auch spezifische Fragen wie die Stellung der Frau oder die Situation der Kinder und spezielle Aspekte wie Wasserversorgung, Verstädterung, Gesundheit oder medizinische Versorgung. Immer ist dabei die wirtschaftliche Entwicklung ein Grundproblem, aber selten ist wirtschaftliches Wachstum allein die Lösung: Machtfragen müssten meist gestellt werden, um die gesellschaftliche Situation realistisch einzuschätzen, und die entsprechenden Einsichten sollten sich in der praktischen „Umsetzung“ wirklich auswirken - sofern politisch gewollt. Die Entwicklung des Entwicklungsdenkens selbst ist eine Art dialektischer Prozess, zu dessen Beginn - unter der antagonistischen Konkurrenz von Gesellschaftssystemen im Kalten Krieg - keineswegs selbstverständlich war, was Entwicklung sein und wohin sie führen sollte oder welche Maßnahmen sie dauerhaft in Gang setzen würden: ▶ Schien es zunächst nur um möglichst rasche „nachholende“ Entwicklung zu gehen, zeigte sich bald, dass das koloniale Erbe der meisten neuen Staaten eine einseitige Abhängigkeit von Produktion und Handel von Rohstoffen war, das sie gegenüber den Fertigwaren und know-how exportierenden Industrieländern schwer benachteiligte. Folglich forderte eine Mehrheit der Staaten der Dritten Welt in den 1970er Jahren massiv eine gerechtere „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (New International Economic Order, NIEO), um die in der Generalversammlung, im ECOSOC und in der 1964 für den Zusammenhang von Handel und Entwicklung eingerichteten UNCTAD rhetorisch gefochten wurde; der Süden schlug eine durch Rohstoff-Abkommen geregelte Stabilisierung des Welthandels und der Handelserlöse vor, was die Industrieländer als dirigistisch, marktfremd und zu teuer kritisierten und in hinhaltendem Widerstand abwehrten. ▶ In den 1980er Jahren wurde dieser Gegensatz vom immer drückender gewordenen Problem der Überschuldung sehr vieler Entwicklungsländer überformt; zwangsweise stellte sich nicht mehr die Frage nach grundlegenden Reformen der Weltwirtschaft, sondern nun war Konsolidierung nach Maßgabe der marktwirtschaftlich und an Budgeteinsparungen orientierten Strukturanpassungsprogramme des IMF zu leisten. ▶ Schon seit den 1970er Jahren ist mit der erwachenden Einsicht in die ökologischen „Grenzen des Wachstums“ die Fragen nach dem richtigen Entwicklungspfad nicht mehr einfach mit der Förderung von materiellem Wachstums zu beantworten; auch in sozialer und kultureller Hinsicht hatte sich diese Antwort als nicht so triftig erwiesen, wie sie auf den ersten Blick erschien, weil positive Folgen wirtschaftlichen Wachstums nicht bei der breiten Bevölkerung unten ankamen oder die Situation der Armen sogar verschlimmerten. Die Maxime der „nachholenden Entwicklung“ unter den Bedingungen der Konkurrenz zwischen den Staaten wurde - zumindest in der „global governance“-Rhetorik - verdrängt von der Losung einer sozial verträglichen „nachhaltigen Entwicklung“, die <?page no="231"?> 231 8.4 Entwicklung (development) unter den Bedingungen der Globalisierung den Zielkonflikt zwischen wachsender Wirtschaftsleistung und dem nicht weniger überlebenswichtigen Umweltschutz lösen soll. ▶ Zum Ende der 1980er Jahren brach vorübergehend weltpolitische Hochstimmung durch: Das friedliche Ende des Ost-West-Konfliktes ließ auf ein konstruktiveres Zeitalter hoffen, in dem die hohen Militärausgaben umgemünzt würden in eine „Friedensdividende“, die zumal zur Entwicklung armer Länder und Menschen zu nutzen wäre - die UNO galt wieder als Hoffnungsträger dafür. ▶ Auch diese Hoffnungen sind zerstoben; eine Friedensdividende zur Entwicklung wurde nicht erwirtschaftet bzw. nicht ausbezahlt - im Gegenteil: die Länder des Südens haben zuerst Konkurrenz aus dem sich politisch und wirtschaftlich rasch transformierenden Osten und dann aus den eigenen Reihen bekommen. Die sog. BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) hatten nun die wachstumsstärksten und rohstoffhungrigsten Ökonomien. Sowohl die entwicklungstheoretische Diskussion als auch die praktische Entwicklungspolitik stecken in einer Art struktureller Dauer-„Krise“, doch grundsätzlich gelten immer noch zwei alte Sichtweisen und eine neuere idealtypische als orientierende Paradigmen: ▶ Nachholende Entwicklung durch Modernisierung und wirtschaftliches Wachstum; ▶ Eigenständige Entwicklung zur Überwindung von Abhängigkeit; ▶ „Nachhaltige Entwicklung“ (sustainable development) zur Balance von Ökonomie und Ökologie. Paradigmatische Sichtweisen auf „Entwicklung“ Nachholende Entwicklung Eigenständige Entwicklung „Nachhaltige Entwicklung“ Problem Unterentwicklung Fehlentwicklung, Ausbeutung Umweltzerstörung Erklärung Unterentwicklung ist nur eine vormoderne Stufe der allgemeinen Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte Unterentwicklung ist Folge der Abhängigkeit der Kolonialzeit bzw. der weltwirtschaftlichen Dominanz der Industrieländer Die herkömmliche wirtschaftliche Entwicklung verbraucht und zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen Lösung Transformation der Elemente und Strukturen der traditionellen Gesellschaften in die der modernen westlichen Industriegesellschaften Nicht zu geringe, sondern zu einseitige bzw. fehlerhafte Integration in die von den Industrieländern beherrschte Weltwirtschaft ist zu überwinden Komplementarität von ressourcenschonenden sozio-ökonomischen Entwicklungsmaßnahmen mit Maßnahmen zur Erhaltung der natürlichen Umwelt Ziel wirtschaftliches Wachstum Überwindung von Abhängigkeit Balance Ökonomie/ Ökologie Methoden Instrumente Modernisierung durch Kapital- und Technologietransfer; Strukturanpassung; „good governance“ Unabhängigkeit vom Weltmarkt oder Gerechtigkeit im Welthandel Nachhaltigkeit, selektives Wachstum, regenerative Energien u.v.m.; „Rio-Prozess“, Agenda 21 Vorbild Entwickelte Industrieländer USA → „Abschottungs“-Szenarien → Forderung nach NIEO → Süd-Süd-Kooperation ? (deutsche Forstwirtschaft) Beispiele? Republik China (Taiwan) Volksrepublik China? Kuba? ? ? <?page no="232"?> 232 8. Arbeitsbereiche der UNO Für die klassische Entwicklungszusammenarbeit ist die Forderung nach „good governance“ so naheliegend wie problematisch: Wieso sollte ein Staat einen anderen finanziell und materiell unterstützen, der „schlecht“ (z. B. korrupt und uneffizient) regiert wird, statt auf der Erfüllung von Mindeststandards als Vergabekondition zu bestehen? Eine Konditionierung, damit der Empfänger geeignete Rahmenbedingungen und Verfahrensweisen gewährleistet oder zumindest die schlimmsten Hemmnisse beseitigt, kann aber auch als anmaßende Einflussnahme oder gar als Souveränitätsverletzung durch den Geber verstanden werden, insbesondere wenn unterschiedliche Standards an verschiedene Staaten angelegt werden. Grundidee der unterschiedlichen Ansätze zu einer eigenständigen Entwicklung war es, dass jede Gesellschaft sich ihre Souveränität im weitesten Sinne über die eigene Entwicklung erhalten oder sie wiedererlangen soll. Durch ökonomische Selbstbestimmung motiviertes Denken ist naturgemäß weniger geeignet, praktische Entwicklungszusammenarbeit anzuleiten, wohl aber sie kritisch zu fordern - es sei denn, eine alles verschlingende Globalisierung macht alternative Bemühungen ohnehin hinfällig. „Nachhaltige Entwicklung“ als ein Versuch, die Folgen der Globalisierung zu überleben, ist nicht leicht zu definieren: Substantiell ist die komplementäre Verzahnung von wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsmaßnahmen mit Maßnahmen zur Erhaltung der natürlichen Umwelt durch Umstellung auf schonende Produktionsmethoden und Verkehrsmittel; entscheidend ist dabei die Maßgabe, dass im Interesse künftiger Generationen keine dieser Aktivitäten zu dauerhafter und irreversibler Schädigung oder Vernichtung von Elementen der Umwelt führen darf. Das Abholzen der Tropenwälder ist falsch, richtig ist die nachhaltige deutsche Forstwirtschaft; die Nutzung von Sonnenenergie und von natürlich nachwachsenden Rohstoffen ist nachhaltig, das Verbrennen von Erdöl und seine Verarbeitung zu Kunststoffen gar nicht. Zielkonflikte sind unvermeidbar, aber in der Idee der nachhaltigen Entwicklung ist der wesentliche Aspekt enthalten, dass Umweltschutz ohne soziale Entwicklung chancenlos ist. Zudem wird der Nord-Süd-Konflikt wieder aktuell in der Frage, wieso nur der Norden für seine Entwicklung die Umwelt un-nachhaltig ausbeuten durfte? Das „Recht auf Entwicklung“ wird seit den 1960er Jahre als ein kollektives Menschenrecht der „dritten Generation“ diskutiert (siehe 8.2.1); unter Berufung auf Art. 28 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ wurde es mehrfach in der UNO gefordert, proklamiert, deklariert und ausdrücklich von der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 anerkannt, was weit über die geltenden Bestimmungen der VN-Charta hinausweist, aber keine rechtlichen Verpflichtungen schuf. Das eigentliche Problem ist die Struktur des „kollektiven“ Rechtsanspruches: An wen richtet er sich, wer ist verantwortlich zu machen oder mit konkreten Forderungen zu konfrontieren? Dass reichere Gesellschaften zur Entwicklung der ärmeren materiell beitragen sollen, ist grundsätzlich nicht umstritten, aber welche praktischen Folgerungen sich daraus ergeben, ist offen - oder Gegenstand des Aushandelns in internationalen Organisationen. Literaturverweis zu 8.4.1.: Wirtschaftliche, soziale und „menschliche“ Entwicklung Faust/ Neubert 2010; Hampson/ Penny 2007; Jolly 2007, 2018; Knight 2007; König/ Thema 2011; Menzel/ Nuscheler/ Stockmann 2010; Nuscheler 2012; Penny 2018; Wesel 2002 <?page no="233"?> 233 8.4 Entwicklung (development) 8.4.2 Agenturen und Methoden multilateraler Entwicklungspolitik Die meisten der nordwestlichen Industrieländer hatten vor Jahrzehnten die Verpflichtung akzeptiert, einen Anteil von 0,7 % an ihrem Bruttosozialprodukt für „Entwicklungshilfe“ zu verwenden; tatsächlich erreicht wurden insgesamt knapp 0,3%, die größtenteils bilateral direkt vergeben wurde, nicht im Rahmen multilateraler Kooperation. Bilaterale Entwicklungspolitik gilt aus multilateralistischer Sicht als eher eigennützige Interessenpolitik des Geberlandes bzw. seiner Wirtschaft; sie ist zwangsläufig staatsnah, weil Regierungsvertreter untereinander Programme und Projekte aushandeln, um sie dann oft von Nichtregierungsorganisationen umsetzen zu lassen. Die Geberregierungen behalten die politische Kontrolle über die Vergabe und damit ein potentielles Druckmittel. Fast alle Geberländer ziehen die bilaterale Vergabeform für Entwicklungshilfe der multilateralen vor; Deutschland z.B. vergibt nur etwa ein Drittel seines Entwicklungsetats multilateral. Über multilaterale Entwicklungspolitik verfügen nicht einzelne Regierungen, sondern sie kann in einem breiten politischen Einigungsprozess und somit nach eher fachlichen Kriterien entworfen sein, also auch weniger als Machtinstrument einsetzbar; multilaterale Maßnahmen können zudem effizienter sein als bilaterale, weil internationale Entwicklungsagenturen ohnehin in jedem Land vor Ort präsent sind und so Überschneidungen vermieden würden. Interessenkonflikte zwischen Gebern und Nehmern aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsstands zeigen sich weniger in der „Entwicklungszusammenarbeit“ selbst, sondern in allen wirtschaftlichen Aktivitäten sowie zunehmend bei Nutzung oder Schutz globaler öffentlicher Güter. Eine abgrenzbare „Dritte Welt“ der „Entwicklungsländer“ gibt es schon lange nicht mehr - sie war ohnehin eher eine alternative rhetorische Option im Kalten Krieg als eine große Gruppe von Ländern mit ähnlichen Bedürfnissen und gleichgerichteten Absichten. Die Länder des globalen Südens haben aufgrund ihrer Kulturen und Strukturen unterschiedliche Probleme und Chancen, so dass ihre wirtschaftlichen Interessen auch untereinander selbst innerhalb derselben Region stark divergieren können. Die internationalen Entwicklungsagenturen - spezialisierte Unterorgane oder Sonderorganisationen - versuchen die spezifischen Probleme von Ländergruppen mit sozioökonomischen Kategorien auszudrücken: Neben der Einstufung als „Entwicklungsland“ gibt es z. B. „hochverschuldete arme Länder“ und „Länder mit Wirtschaften im Übergang“ (ehemalige Staatswirtschaften), Länder ohne Zugang zu einem Meerhafen und vom Anstieg des Meeresspiegels bedrohte Länder usf. Wichtig für den Zugang zu Entwicklungshilfe und Handelsbegünstigungen ist der Status als eines der fast 50 „am wenigsten entwickelten Länder“ (least developed countries/ LDCs), der definiert ist u. a. durch weniger als knapp 1000 US- Bruttosozialprodukt pro Kopf im Jahr bei einer Bevölkerung von unter 75 Mio. Für Entwicklungsmaßnahmen aller Art dient als Trägerstruktur das UN-System oder besser UN-Konglomerat, weil es nie logisch aufgebaut und kohärent organisiert wurde (siehe 5.4); von all den Organen, Gremien, Ausschüssen, Programmen, Fonds und Sonderorganisationen haben direkt etwa zwei Drittel und indirekt fast alle mit Entwicklungs-Fragen zu tun. Im Gewirr ist zwar eine prinzipiell einfache Grundstruktur mit nachvollziehbarer Aufgabenverteilung zu erkennen, aber in der Praxis wurde dies stets verkompliziert mit der Zumessung unterschiedlicher rechtlicher, politischer und finanzieller Handlungsspielräume, mit Kompetenzüber- <?page no="234"?> 234 8. Arbeitsbereiche der UNO schneidungen und mit unterschiedlichen, auch einander widersprechenden Konzepten. Die Bretton-Woods-Institutionen IMF und Weltbank bewahrten konstant ihre Eigenständigkeit. Internationale Organisationen / Institutionen im Arbeitsfeld „Entwicklung“ Organisation ⚫ Status → berichtet an Zuständigkeit Mittel und Verfahren politische Vorgaben (Prinzipien/ Normen/ Regeln) Generalversammlung/ GV (2./ 3.Ausschuss) General Assembly/ GA (2nd/ 3rd Comm.) ⚫ Hauptorgan Generelle Zuständigkeit für Entwicklungsfragen: Zielformulierung, Schwerpunktsetzung, Finanzierung; Resolutionen und Deklarationen, (Welt-)Konferenzen Wirtschafts- und Sozialrat Economic and Social Council/ ECOSOC ⚫ Hauptorgan → GV Spezifische Zuständigkeit für Entwicklungsfragen: Konzeption, Koordination und Auswertung: Resolutionen und Deklarationen, Fach-Konferenzen ECA, ECE, ECLAC, ESCAP, ESCWA ⚫ Regionalkommissionen → ECOSOC Wirtschaftliche Entwicklung in der Welt-Region: Abstimmung und Koordination, Beratung und Expertise Generalsekretär/ Sekretariat Department of Economic and Social Affairs/ DESA Office for the Coordination of Humanitarian Affairs/ OCHA Koordination Planung Konzeption Entwicklung allgemein und Entwicklungs-Finanzierung Entwicklungsprogramm der UN UN Development Fund/ UNDP ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Konzipierung, Finanzierung, technische Zusammenarbeit: Strategien/ Konzepte, Koordination, Evaluation; Mittel-Vergabe (Zuschüsse) für Programme/ Projekte in allen Bereichen, oft über andere UN-Organisationen Kapitalentwicklungsfond UN Capital Development Fond/ UNCDF ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Lokale Entwicklungsprogramme und Mikro-Finanzierung für am wenigsten entwickelte Länder (LDCs): Kreditvergabe-Programme (Klein- und Kleinstkredite) Freiwilligenprogramm UN Volunteers/ UNV ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Förderung des Einsatzes von freiwilligen/ ehrenamtlichen Fach-/ Kräften zur Nutzung von Engagement und Expertise der Zivilgesellschaft Organisation für industrielle Entwicklung UN Industrial Development Organisation/ UNIDO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Industrielle Entwicklung: Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Privatwirtschaft und Handel durch Investitionen und Technologie, auch Agro-Industrie sowie nachhaltige Energiewirtschaft und Umweltmanagement Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung [„Weltbank“] International Bank for Reconstruction and Development [„Worldbank“]/ IBRD ⚫ Selbständige internationale Organisation (‚Bretton Woods‘-Institution) Langfristige Entwicklungsfinanzierung und -planung: Vergabe von vergünstigten Krediten, Länderprogramme; Konzipierung entwicklungspolitischer Programme; Technische Zusammenarbeit, Projekte; ⇒ jährlicher „Weltentwicklungsbericht“ Internationale Entwicklungsorganisation International Development Association/ IDA ⚫ Sonderorganisation → IBRD Langfristige Entwicklungsfinanzierung für ärmere Länder: Stärker verbilligte Kredite; Länderprogramme; enge Kooperation mit IBRD Internationale Finanz-Corporation International Finance Cooperation/ IFC ⚫ Sonderorganisation → IBRD Förderung von Privatinvestitionen in Entwicklungsländern: Kredite und Absicherung von Investitionen; enge Kooperation mit IBRD Regionale Entwicklungsbanken regionalspezifische Entwicklungsfinanzierung Internationaler Währungsfond/ IWF International Monetary Fund/ IMF ⚫ Selbständige internationale Organisation (‚Bretton Woods‘-Institution) Währungsstabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht: (Not-) Kredite an Staaten, meist mit Auflagen (Ausgabenkürzung, Liberalisierung u. ä.), „Strukturanpassungsprogramme“; Aufbauhilfe unter der Bedingung der „good governance“ <?page no="235"?> 235 8.4 Entwicklung (development) Internationale Organisationen / Institutionen im Arbeitsfeld „Entwicklung“ Organisation ⚫ Status → berichtet an Zuständigkeit Mittel und Verfahren Handel und Entwicklung UN Handels- und Entwicklungskonferenz UN Conference on Trade and Development/ UNCTAD ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Welthandel und Entwicklung: politisches Diskussionsforum, unverbindliche Resolutionen; Organisation von Fachwissen/ Expertise, Beratung: technische Hilfe zur Handelsentwicklung AllgemeinesWelthandelsabkommen/ GATT General Agreement on Trade and Tariffs Freihandel, Zollabbau - 1995 durch die WTO ergänzt - Welthandelsorganisation - seit 1995 - World Trade Organization/ WTO X selbständige Internationale Organisation Regelung des Welthandels: Internationale Abkommen; Streitschlichtungs-Verfahren Internationales Handelszentrum International Trade Center/ ITC ⚫ Spezialorgan der UNO → UNCTAD/ WTO Handelsförderung: Kooperation UNCTAD/ (GATT)WTO; Technische Zusammenarbeit Ernährung und Landwirtschaft Welternährungsrat World Food Council/ WFC ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Welternährungsprobleme: Koordination - seit 1995 suspendiert - Welternährungsprogramm World Food Program/ WFP ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Nahrungsmittelhilfe/ Ernährungssicherung: Versorgung mit Nahrungsmitteln in Krisenfällen und in dauerhaften Hunger-Situationen; Organisation von Nothilfe, Schulspeisungs-Programme, „food-for-work“-Projekte Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation Food and Agricultural Organization/ FAO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung, Fischerei: Daten-Erhebung/ Analyse, Krisenwarnung; Produktionssteigerung, Sicherung der Ernährungsbasis; Organisation von Fachwissen/ Expertise; Standards für Lebensmittelsicherheit Internationaler Fond für landwirtschaftliche Entwicklung International Fund for Agricultural Development/ IFAD ⚫ Selbständige Sonderorganisation Ländliche Entwicklung: Produktivitätsorientierte Unterstützung von Kleinbauern und landlosen Landarbeitern für mehr Nahrung und mehr Einkommen; langfristige Kredite zu stark vergünstigten Bedingungen Soziale Entwicklung Internationale Arbeitsorganisation International Labour Organization/ ILO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Arbeitsbeziehungen/ Arbeitsrechte: Formulierung/ Verbreitung von Normen/ Standards, Staatenberichte; Technische Hilfe (Recht/ berufliche Bildung/ sozialer Schutz/ Arbeitssicherheit); Arbeitsmigration Entwicklungsprogramm für Frauen UN Development Fund für Women/ UNIFEM ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen: Programme der finanziellen und technischen Hilfe; Politisch-ökonomische Integration, „Gender“-Perspektive Kinderhilfswerk der UN UN Children’s Fund/ UNICEF ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Schutz und Förderung von Kindern und Müttern: Gesundheit, Familienplanung, Hygiene, Ernährung, Bildung; humanitäre Nothilfe und Lobbyarbeit, z. B. zu Kindersoldaten Bevölkerungsfonds der UN UN Fonds for Population Activities/ UNFPA ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Bevölkerungsentwicklung: Familienplanung (früher: „Geburtenkontrolle“), sexuelle und reproduktive Gesundheit; Information und Aufklärung; Länderprogramme <?page no="236"?> 236 8. Arbeitsbereiche der UNO Internationale Organisationen / Institutionen im Arbeitsfeld „Entwicklung“ Organisation ⚫ Status → berichtet an Zuständigkeit Mittel und Verfahren Erziehung/ Bildung, Wissenschaft, Kultur Organisation der UN für Erziehung, Wissenschaft und Kultur UN Educational, Scientific and Cultural Organization/ UNESCO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Erziehung und Wissenschaft, Kultur und Bildung: Förderung von Ausbildung/ Bildung, lebenslanges Lernen; interkultureller Informationsaustausch und Dialog: Kommunikation und Medien; als Nebeneffekt Großverlag Umwelt, Nachhaltigkeit, Klima Umweltprogramm der UN UN Environment Programme/ UNEP ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Globaler Umwelt-/ Klima-/ Artenschutz: Umweltdaten auswerten zu Klima, Verschmutzung/ Abfall, Beschädigungen, Artensterben; Empfehlungen zu Gegenmaßnahmen [HABITAT] Wohn- und Siedlungswesen UN Centre for Human Settlements/ UNCHS ⚫ Spezialorgan der UNO → ECOSOC → GV Verstädterung und Wohnen: Nachhaltige städtische Entwicklung; Wohnraum für alle Menschen Gesundheit Weltgesundheitsorganisation World Health Organization/ WHO ⚫ Selbständige Sonderorganisation Gesundheit für alle: Daten-Erhebung und Analyse; Programme (Impfungen, Kampagnen), z. B. zu Epi-/ Pandemien (Infektionskrankheiten), Aufbau von Gesundheitssystemen; Entwicklung und Durchsetzung von Methoden und Standards Das Zusammenwirken von Generalversammlung (siehe 6.1.1) und dem Wirtschafts- und Sozialrat/ ECOSOC (siehe 6.1.3) ist nicht einfach: Beide sind Hauptorgane der UNO, zu deren Verhältnis untereinander die VN-Charta keine Rangordnung und zu vage Kompetenzabgrenzungen vorgibt. Beiden ist erlaubt, Unter- und Nebenorgane einzusetzen, was der ECOSOC im Entwicklungs-Bereich intensiv nutzte. Beide befassen sich nicht operativ mit den konkreten Maßnahmen - sie diskutieren Probleme, fassen Grundsatzbeschlüsse und formulieren generelle Absichtserklärungen, initiieren Konferenzen und segnen Vertragsentwürfe ab. Zuständig für die konkrete Umsetzung dieser politischen Vorgaben sind dann eine kaum noch überschaubare Vielfalt UN-eigener Neben- oder Spezialorgane (wie das Entwicklungsprogramm UNDP) und die Sonderorganisationen (wie die UNIDO), mit denen auf Initiative des ECOSOC ein von der Generalversammlung zu billigender Vertrag zur Zusammenarbeit und Kompetenzabgrenzung geschlossen wird. Der ECOSOC sollte die vielfältigen Aktivitäten in allen Arbeitbereichen der UNO außer dem zu Frieden/ Sicherheit koordinieren und deren Ergebnisse überschauen, insbesondere im Bereich Entwicklung Doppelarbeit vermeiden, doch auch politische Akzente vorgeben; damit ist er aber inzwischen überfordert, zumal die Bretton-Woods-Institutionen und andere Sonderorganisationen im Zweifel sich nicht als ihm untergeordnet verstehen. Seit 1966 soll das Spezialorgan UNDP (Entwicklungsprogramm der UN/ UN Development Fund) auf der Ebene der operativen Aufgaben bzw. der sog. Technischen Entwicklungszusammenarbeit die entscheidende Rolle bei der Finanzierung, Steuerung und Koordinierung übernehmen; das UNDP muss als wichtigste Entwicklungsagentur parallel zu IMF/ IBRD und immer in Abstimmung mit den Fachorganisationen wie FAO, UNESCO und UNFPA <?page no="237"?> 237 8.4 Entwicklung (development) arbeiten. Zur Koordination dienen Ausschüsse oder Arbeitsgruppen, in denen die beteiligten Organisationen vertreten sind, eine übergreifende Kommandostruktur gibt es jedoch nicht. Aus den ordentlichen Budgets der UNO bzw. der zuständigen Organisationen werden nur operative Aktivitäten wie fachliche Expertise, Koordination und Überwachung bezahlt. Entwicklungs-Maßnahmen werden finanziert von den dafür spezialisierten Fonds (UNDP, IFAD, UNFPA u. a.) oder Kreditprogrammen (z. B. der Weltbank-Gruppe oder den verschiedenen regionalen Entwicklungsbanken) oder oft auch von an einzelnen Maßnahmen besonders interessierten Geberländern. In akuten Fällen werden auf „pledging-“ oder Geber-Konferenzen nach der umgekehrten Logik einer Auktion von den Staaten Gelder eingetrieben. Eine Summe der Aufwendungen für die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit insgesamt oder im Rahmen der UNO anzugeben, ist schwierig, aber Größenordnungen können angedeutet werden, die nach einem vergleichenden Blick z. B. auf den Haushalt einer deutschen Großstadt recht bescheiden aussehen: Der Haushalt der Landeshauptstadt München betrug 2017 ca. 7,3 Milliarden - UNDP hatte 2017 ca. 5 Milliarden US- reguläres Budget ohne gesonderte Programme. Für die meisten multilateralen Entwicklungsprogramme/ -projekte dient das UNDP als eine Art Umverteilungsagentur, in die neben den Mitgliedsländern auch andere UN-Fonds einzahlen und von der die Fachorganisationen von FAO bis WHO in der Regel ihre Mittel beziehen. Das UNDP (www.undp.org) verfügte Anfang der 90er-Jahre über einen Kernhaushalt von über einer Milliarde US-, der bis zur Jahrtausendwende um ein Drittel auf gut 700 Millionen US- gesunken war und seither wieder stark anstieg; diese Mittel kommen als freiwillige Beiträge von den reicheren nordwestlichen Mitgliedsländern, aber auch einzelne Länder des Südens beteiligen sich. Daneben verwaltet das UNDP Mittel aus verschiedenen anderen Finanzierungsmechanismen wie der Globalen Umweltfazilität (GEF, siehe 8.5.2). Die Aufgabe der Weltbank (IBRD; www.worldbank.org) ist die langfristige Entwicklungsfinanzierung, doch vergibt sie auch Mittel für die Technische Zusammenarbeit; 2016 vergab die Weltbankgruppe 64 Milliarden US- für Entwicklungsprogramme in Form von Krediten zu günstigen oder ohne Zinsen und von anderen Hilfsinstrumenten. Finanziert wird dies aus ihrem von den 189 Mitgliedsländern gestellten Grundvermögen und Rückflüssen aus der Kreditvergabe; generell stammt inzwischen ein großer Teil der Mittel der Entwicklungsfinanzierung aus Rückflüssen. Für die gern als „Wildwuchs“ beklagte komplizierte Ausdifferenzierung der zuständigen Institutionen gab es fachliche, aber auch politische Motive. Für Ernährung und Landwirtschaft bzw. Ländliche Entwicklung zum Beispiel sind mindestens ein Spezialorgan (WFP) und zwei Sonderorganisationen (FAO, IFAD) zuständig sowie eine Vielzahl spezieller Gremien, Agenturen und Programme; große Weltkonferenzen (z. B. 1974, 1979, 1996, 2009) wurden abgehalten. Doch auch die übergreifend zuständigen Institutionen wie der ECOSOC und UNDP sowie die Weltbank/ IBRD behandeln die Agrarentwicklung; weiter befassen sich auch thematisch benachbarte Institutionen wie UNFPA und UNEP sowie auf Frauen, Kinder oder Wanderarbeiter o. ä. spezialisierte Organisationen mit dem ländlichen Raum; insofern der Welthandel auf die Landwirtschaft ausschlaggebenden Einfluss hat, sind auch UNCTAD und WTO mit im Spiel. <?page no="238"?> 238 8. Arbeitsbereiche der UNO Letztere scheinen das Paradebeispiel für uneffiziente Doppel- und Mehrfachkompetenzen zu sein: Beide sind zuständig für den Welthandel im engen Zusammenhang von Handel und Entwicklung - aber in Struktur und Funktion und vor allem in ihrer praktischen Bedeutung sind sie so unterschiedlich, dass sie eigentlich schon komplementär sind. Die UNCTAD als UN-Nebenorgan entscheidet nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten per Mehrheitsabstimmung wie in der heißen Phase des Nord-Süd-Konflikts oft als Kampfabstimmung zelebriert, doch die rechtliche Bindung ihrer Resolutionen fehlt - sie haben wie die 1974 auf Vorschlag der UNCTAD von der Generalversammlung erklärte „Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten“ (A/ RES/ 3281 (XXIX)) nur appellativen Charakter. In der WTO werden dagegen verbindliche Regelungen auf vertraglicher Grundlage getroffen; sie klärt über die Regelungen der geltenden internationalen Handelsverträge hinausreichende Fragen; sie entscheidet zugunsten eines kooperativen Verhaltens prinzipiell im Konsens, obwohl Mehrheitsabstimmungen möglich wären. WTO und UNCTAD können sich in der Sache widersprechen, doch in politischer Arbeitsteilung die spezifischen Bedürfnisse ihrer Klientel bedienen: Hier werden auf der Basis ökonomischer und politischer Potentiale geschäftsmäßig Interessen und Positionen verhandelt und ausgeregelt - dort können Nord-Süd-Konflikte rhetorisch ausgetragen, risikolos Gerechtigkeit und erfolglos mehr Mittel für Entwicklung gefordert werden; UNCTAD war in Gefahr, dem Zerrbild einer skurrilen „Quatschbude“ nahe zu kommen, und verliert an Bedeutung. Solche scheinbaren Widersprüche im UN-System sind häufig als sich gegenseitig nach poltischer Logik ergänzende Leistungen zu verstehen, womit komplexe und eben auch widersprüchliche Anforderungen an „die UNO“ befriedigt werden. Speziell für Entwicklungsfragen sind das ▶ die politische Funktion als globales Forum zur Auseinandersetzung über Interessen und Positionen zum richtigen Entwicklungsweg - mal eher rhetorisch, mal eher sachlich klärend - und ▶ die fachliche Funktion, eine auch von nationalen Behörden nicht mehr überblickbare Menge von Information und Wissen hervorzubringen und entsprechende Expertise bereitzustellen. Arbeits-Instrumente und operative Maßnahmen der multilateralen Kooperation sind der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ähnlich: Arten der Vergabe sind die Finanzhilfe, die zu investierendes Kapital möglichst zweckbestimmt vergibt, und die operative oder Technische Zusammenarbeit, die Fertigkeiten und Technologien transferieren soll. Beide können durch zurückzahlbare Kredite finanziert sein, deren Zinssätze unter Markniveau von den Gebern subventioniert werden, oder sie können als nichtrückzahlbare Zuschüsse vergeben werden, also als „Entwicklungshilfe“ im engeren Sinne. Die Nehmerseite (eine Regierung oder eine untergeordnete staatliche Instanz oder auch eine NGO) beantragt eine Maßnahme, eine Fach-Administration (meist der UNO oder von ihr beauftragt) prüft und stimmt zu; die Geberseite (vertreten durch eine UN-Institution, meist das UNDP) bezahlt die Maßnahme, eine oder mehrere Träger (UN-Fachorganisationen und/ oder NGOs) wickeln sie ab. <?page no="239"?> 239 8.4 Entwicklung (development) Die Auswahl aus der denkbaren Vielfalt der Maßnahmen und ihrer Methodik hängt ab von der Einschätzung der Problemsituation und der entsprechenden Entwicklungsplanung, die ihrerseits beide von der politisch geltenden Entwicklungskonzeption abhängen. „Maßnahmen“ reichen vom kleinen Einzelprojekt in einem Dorf bis zu ganze Länder umfassenden komplexen Programmen. Ihre Größenordnung und Organisationstiefe hängen von Problem und Ziel ab: ▶ Ein lokales Projekt zur sozialen Emanzipation einer Minderheit ist sozio-politisch anspruchsvoller und zugleich organisatorisch einfacher als ein landesweites Impfprogramm; ▶ eine schlichte Vergabe zweckgebundener vergünstigter Kredite verlangt weniger Aufwand als die komplizierte Übertragung technischer Anlagen und der dazugehörigen Expertise ▶ oder gar die provisorische Übernahme von Regierungs- und Verwaltungsfunktionen, wenn eine staatliche Ordnung nicht mehr ausreichend funktioniert; ▶ die Regel sind langfristige Entwicklungs-Programme (z. B. für Ausbildung oder Brunnenbau), aber auch kurzfristige Hilfseinsätze in akuten Katastrophenfällen können jederzeit gebraucht werden. Entwicklungsmaßnahmen, die sich direkt an arme Menschen und Dörfer richten, machen das Problem, dass sie einzeln und vor Ort schlicht zu billig und zu kleinteilig sind, als dass sie von einer Entwicklungshilfe-Administration überhaupt in großer Zahl durchgeführt werden könnten; zwischenstaatliche Entwicklungspolitik neigt daher zu Mittelvergabe für teuere und großgeschnittene Maßnahmen - mit Vorliebe für deutlich sichtbare Großprojekte; weil es auf der Empfängerseite womöglich auch noch an „good governance“ mangelt, erreichen die Wohltaten die zu entwickelnden Armen vor Ort oft nicht so recht. Eine alternative Möglichkeit sind Maßnahmen über internationale NGOs (wie kirchliche Entwicklungsdienste) mit lokalen Kooperationspartnern (wie Kirchengemeinden) durchzuführen oder gleich mit lokalen NGOs (wie lokalen Selbsthilfegruppen) zu arbeiten. Bank für Arme: „micro-financing“ Das „micro-financing“ ist ein eher seltenes Beispiel für eine innovative Art von Maßnahmen, die nicht dem vorherrschenden Modernisierungs- und Transformations-Denken entstammt, sondern am klassischen Raiffeisen-Konzept orientiert von einem Wissenschaftler aus Bangladesch entwickelt wurde: Muhammad Yunus hat zusammen mit der seit 1983 arbeitenden „Grameen-Bank“ („Dorf-Bank“) den Friedensnobelpreis 2006 erhalten. Mikrofinanz-Kredite geringer Höhe werden ohne ordentliche Sicherheiten, sondern im Rahmen der Kontrolle einer überschaubaren sozialen Gruppe an arme Menschen vergeben, die damit in ihre eigene Existenzsicherung investieren. Das Konzept stieß auf Begeisterung, aber auch auf Kritik - es sei letztlich doch wieder wachstumsorientiert und erreiche nicht wirklich nachhaltig die Armen, sondern eher die ländliche Mittelklasse usf.; Mikrofinanz-Projekte haben jedenfalls Rückzahlungsraten, mit denen westliche Geschäftsbanken sehr zufrieden sein könnten. <?page no="240"?> 240 8. Arbeitsbereiche der UNO Auf der obersten politischen Ebene der multilateralen Zusammenarbeit dienen periodische und spezielle Berichte sowie große internationale Konferenzen (siehe 7.3) der Situationsanalyse und Konzeptionsentwicklung oder dazu, ein spezielles Thema voranzubringen. Jahresberichte sind einzigartige Datenquellen und Zusammenstellungen wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Analysen sowie auch Diskussions-Foren, damit auch Indikatoren für die angesagten Schwerpunktsetzungen bzw. Moden der Entwicklungspolitik; die beiden Klassiker, der „Weltentwicklungsbericht“/ „World Development Report“ der Weltbank/ IBRD (seit 1978) und der „Bericht zur menschlichen Entwicklung“/ „Human Development Report“ des UNDP (seit 1990) bieten durchaus konkurrierende Prioritätensetzungen und Deutungen der klassischen ökonomischen und einer sozio-politischen akzentuierten Sichtweise. Multilateralismus bedeutet im Wesenskern wie im Alltag, auf und durch Konferenzen zu leben und zu wirken. Dennoch kritisch zu sehen sind große und aufwändige, wenn auch öffentlichkeitswirksame „Weltkonferenzen“ und „Weltgipfel“ wie die Serie von acht großen, teilweise spektakulär inszenierten und mit viel Zivilgesellschaft garnierten „events“ der 1990er-Jahre (Kinder, Umwelt und Entwicklung, Menschenrechte, Bevölkerungsentwicklung, soziale Entwicklung, Frauen, Verstädterung, Ernährung) mit gelegentlichen „+10“- oder „+20“-Nachfolgekonferenzen; wenige bewegten etwas, einige wirkten ambivalent, die meisten waren überbewertet (siehe 7.3). Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ im Bereiche Entwicklung Jahr Ort Konferenz 1974 Rom Italien Welternährungskonferenz World Food Conference WFC Hunger und Welternährung 1979 Rom Italien Agrarreform-Konferenz World Conference on Agrarian Reform and Rural Development WCARRD Agrarreform und ländliche Entwicklung 1992 Rio de Janeiro Brasilien „Erdgipfel“ bzw. „Rio“-Umweltkonferenz United Nations Conference on Environment and Development UNCED Umwelt & (nachhaltige) Entwicklung/ environment and sustainable development 2000 New York UNO „Millenniums-Gipfel“ Millennium Assembly [Segment der 55.Generalversammlung] Rolle und Aufgaben der UNO im 21. Jahrhundert; Millennium Development Goals/ MDGs 2002 Johannesburg Südafrika Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung („Weltumweltgipfel“) World Summit on Sustainable Development „RIO+10“ WSSD nachhaltige Entwicklung Monterrey Mexiko Konferenz über Entwicklungsfinanzierung International Conference on Financing for Development Entwicklungs- Finanzierung, „Monterrey Consensus“ 2006 Rom Italien Weltkongress über Kommunikation und Entwicklung World Congress on Communication for Development WCCD Kommunikation im Entwicklungsprozess <?page no="241"?> 241 8.4 Entwicklung (development) Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ im Bereiche Entwicklung Jahr Ort Konferenz 2007 Brüssel Belgien Globales Forum über Migration und Entwicklung Global Forum on Migration and Development GFMD Zusammenhang von Migration und Entwicklung 2012 Rio de Janeiro Brasilien Konferenz über nachhaltige Entwicklung UN Conference on Sustainable Development „RIO+20“ UNCSD nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs 2015 New York UNO Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung UN Sustainable Development Summit [Segment der 70.Generalversammlung] nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs 2015 Addis Abeba Äthopien Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung International Conference on Financing for Development Entwicklungs- Finanzierung, SDGs Die internationale Entwicklungszusammenarbeit liefert der Weltöffentlichkeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts alle Jahrzehnte für die kommende „Entwicklungsdekade“ Wunschkataloge mit zu erreichenden Zielvorgaben, die sich meist recht ähneln; neuerdings produzierten Konferenzen gar für 15 Jahre: ▶ Der „Millenniums“-Gipfel von 2000 sollte im letzten Jahr des alten Jahrtausends die Perspektiven für das neue klären und Aktivitäten anspornen - wieder einmal waren menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Menschen zu schaffen, wie es niedergelegt wurde in den „Millenniums-Entwicklungszielen“ (Millennium Development Goals/ MDGs), zu erreichen bis 2015. ▶ Die „Rio plus 20“-Nachfolgekonferenz UNCSD 2012 und der „Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung“ (UN Sustainable Development Summit) im Rahmen der 70. Generalversammlung der UNO 2015 schufen als „Agenda “ die „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals/ SDG), zu erreichen bis 2030. Zunächst sollten im neuen Jahrtausend zwischen 2001 und 2015 acht Millenniumsziele erreicht werden. Ein Fortschritt war, dass diesmal nicht nur Zielsetzungen beschlossen und verkündet wurden, sondern ein komplexes System von detaillierten Entwicklungsindikatoren und Methoden zur Erhebung und Aufbereitung entsprechender Daten zur Messung der Zielerreichung eingerichtet wurde, was Fortschritte und Defizite transparenter machte. Die Ziele waren (1) die Halbierung der Zahl der von extremer Armut und Hunger betroffener Menschen, (2) allgemeine Grundschulausbildung, (3) Gleichstellung und größeren Einfluss der Frau, (4) Senkung der Kindersterblichkeit, (5) Müttergesundheit, (6) Bekämpfung von Krankheiten wie AIDS/ HIV oder Malaria, (7) nachhaltige Umwelt, (8) globale Partnerschaft im Handels- und Finanzsystem. Sich ausformulierte Ziele zu setzen ist auch in der UNO ein beliebtes und manchmal hilfreiches Ritual (siehe 7.5), das sich angesichts eines unüberwindlichen Problemberges als erster <?page no="242"?> 242 8. Arbeitsbereiche der UNO Schritt anbietet: selbst wenn die Erfolgaussichten zweifelhaft sein mögen - es wird jedenfalls etwas getan. Doch es reicht nicht, zu anspruchsvolle Ziele zu formulieren, es sollte auch jeweils gut zu begründen sein, warum sie nicht erreicht werden konnten. Die Millenniumsziele wurden bis 2015 insgesamt nicht erreicht, was nicht überraschte; die bemüht positive offizielle Bilanz löste Diskussionen aus um die Methoden der Erhebung und die Interpretation der Daten. Teilerfolge gab es durchaus, aber selbst solche Ziele, bei denen die Daten auf die globale Ebene berechnet gut aussehen, sind in vielen Teilen und Ländern der Welt bzw. für große Teile der Bevölkerungen nicht erfüllt oder weit verfehlt worden. Das erste und wichtigste Ziel, den Anteil der Menschen an der Weltbevölkerung zu halbieren, die unter extremer Armut und Hunger leiden, konnte demnach pauschal knapp erreicht werden (von 23,3% der Bevölkerung 1990 auf 12,9%) - aber in absoluter Zahl bleibt dann wie seit Jahrzehnten immer noch bis zu einer Milliarde Menschen in Not, deren wirtschaftliche Chancen, sich ausreichend zu ernähren, nicht gewachsen sind. Die Berechnungsgrundlage der Armutsgrenze von 1,25 US- am Tag pro Kopf war allerdings seit 25 Jahren ungeachtet der Preisentwicklung nicht angehoben worden; allein das und einige andere methodische Probleme lassen vermuten, dass schlechtere Zahlen nicht weniger glaubwürdig wären. Trotz - oder gerade wegen - der umstrittenen, keinesfalls ausreichenden Erreichung der acht Ziele wurden rechtzeitig 17 neue Ziele mit bunteren Logos nachgereicht: noch anspruchsvoller und umfassender - zumal politisch neu aufgeladen, denn die katastrophenmotivierte Nachhaltigkeit hat das klassische Thema der wegzuentwickelnden Armut überformt - Umwelt- und Klima-Probleme interessieren die Öffentlichkeit in den reicheren Regionen der Erde. Die soll in 15 Jahren ein nachhaltig besserer Ort werden. Die 2030-Agenda: Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) 1 Armut in jeder Form und überall beenden 2 Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern 3 Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern 4 Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern 5 Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen 6 Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten 7 Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern 8 Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern 9 Eine belastbare Infrastruktur aufbauen, inklusive und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen 10 Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten verringern 11 Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen 12 Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen 13 Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen <?page no="243"?> 243 8.4 Entwicklung (development) Die 2030-Agenda: Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) 14 Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen 15 Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodenverschlechterung stoppen und umkehren und den Biodiversitätsverlust stoppen 16 Friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen 17 Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben Die Prioritäten werden unterschiedlich gesehen, z. B. Ziel 16 als wichtigste Voraussetzung aller andern oder Ziel 13 als Überlebensfrage; interessant ist die gesonderte Formulierung von Ziel 17 als den Katalog abschließende Beschwörung - das lässt angesichts der langen Geschichte von baldigst zu erreichenden „Entwicklungszielen“ erahnen, wie es diesmal ausgehen könnte. Literaturverweis zu 8.4.2: Agenturen und Methoden multilateraler Entwicklungspolitik Crisp 2018; Faust/ Neubert 2010; Fomerand/ Dijkzeul 2007, 2018; Hampson/ Penny 2007; IBRD 2018; Jolly 2007, 2018; Kevenhörster/ van den Boom 2009; Klawatsch-Treitl 2011; König/ Thema 2011; Menzel/ Nuscheler/ Stockmann 2010; Nuscheler 2012; Penny 2018; Sangmeister/ Schönstedt 2010; Seitz 2011; Vereinte Nationen 2015; Woods 2007, 2018; Yunus 1998 8.4.3 (Welt-)Ernährung Seitdem „Entwicklung“ Aufgabengebiet der UNO ist, wird regelmäßig festgestellt, dass Menschen hungern und auch verhungern. In den 1970/ 80er-Jahre wurde geschätzt, dass mehr als eine halbe Milliarde Menschen Ernährungsdefizite hatten; als 2007 Hunger und Ernährungssicherung wieder zum Thema wurden, weil massive Preissteigerungen für Nahrungsmittel in vielen Ländern zu Protesten und Unruhen führten, waren weltweit 850 Millionen Menschen oder 13 % der Weltbevölkerung unterernährt. Für 2017 meldet die FAO (in ihrem Bericht zu „Food Security and Nutrition“ von 2018): ▶ Weltweit hungern 821 Millionen Menschen (= einer von neun); ▶ 150 Mio. Kinder sind durch Unter-/ Fehlernährung in ihrer Entwicklung behindert; ▶ vor allem in Südamerika und den meisten Teilen Afrikas hat sich die Lage verschlimmert; ▶ die Erreichung des zweiten Sustainable Development Goals wird unwahrscheinlich. ▶ Die Deutsche Welthungerhilfe bestätigt (im Welthunger-Index von 2018): ▶ Allmähliche Fortschritte bei der Reduzierung des Hungers sind geographisch und sozial sehr ungleich verteilt; ▶ weltweit bleibt die Lage sehr ernst: ca. 50 Länder werden das Entwicklungsziel (SDG 2), den Hunger zu beenden, bis 2030 nicht erreichen. <?page no="244"?> 244 8. Arbeitsbereiche der UNO Während immer mehr Menschen in den Industrieländern, aber auch in sich entwickelnden Ländern, zu fett wurden, blieb beständig eine halbe bis fast ganze Milliarde Menschen vom Hunger bedroht. Menschen hungern, weil sie nichts zu essen haben. Sie haben nichts zu essen, ▶ weil sie kein eigenes Land haben, um sich etwas zum Essen anzubauen, und ▶ weil sie zu arm sind, um sich mit Geld etwas zum Essen zu kaufen. Ein Mangel an Ackerland verbunden mit dem Wachstum der Bevölkerung werden gerne als wichtigste Gründe dafür genannt, dass manche Länder sich aus eigener Kraft nicht mehr ernähren könnten - jedoch: Genug Nahrung ist pro Kopf verfügbar, so dass eigentlich niemand hungern oder an Mangelernährung leiden müsste, denn das Wachstum der globalen Nahrungsmittelproduktion ist - noch - größer als das Wachstum der Weltbevölkerung. Die heutige Weltbevölkerung von 7 Milliarden Menschen könnte mit der derzeitigen Agrarproduktion ernährt werden; für die mehr als 9 Milliarden Menschen in 2050 sind entsprechende Zuwächse nötig. Mit den verfügbaren Ressourcen und mit optimierten Produktionsmethoden wäre das Ernährungsproblem zu bewältigen - die Hemmnisse sind sozialer und politischer Art, nicht naturbedingt. Hunger ist kein Schicksal: er ist nicht oder nur selten ein Problem zu wenig fruchtbarer Böden oder ungünstiger klimatischer Bedingungen, er ist auch nicht allein das Ergebnis rückständiger und uneffizienter bzw. ökologisch zerstörerischer Produktionsmethoden, er ist meist nicht einmal die unmittelbare Folge von Konflikten und Kriegen. Hunger ist die härteste Erscheinungsform der Armut von Menschen: Ein zu geringes Angebot an Grundnahrungsmitteln ist sozioökonomisch als Folge fehlender Kaufkraft der Armen zu erklären - wer nicht zahlen kann, für den wird nicht produziert. Produziert wird für kaufkräftige Nachfrage, die sich fast immer auf dem Weltagrarmarkt finden lässt; dort steigen auch die Preise für Grundnahrungsmittel, wenn mehr Rohstoffe nachgefragt werden. Nachfragedruck machen ▶ die Exporte in die alten Industrieländer von klassischen „Kolonial“-Produkten wie Kaffee, Tee, Kakao, Gewürzen, exotischen Früchten usw. sowie vor allem von agrarindustriellen Vorprodukten wie Pflanzenfetten oder Futtermitteln für unsere tierische Produktion, ▶ das rasch steigende Konsumniveau reicher werdender Bevölkerungsschichten in den Ländern des globalen Südens selbst, insbesondere deren wachsender, nach Futterenergie und Wasser verlangender Fleischkonsum, ▶ und neuerdings auch der weltweite Bedarf an nachwachsenden Energie-Rohstoffen. Ungehemmter freier Welthandel kann in der Ernährungssicherung zur Überlebensfrage für Millionen Menschen werden. Exportorientierung landwirtschaftlicher Produktion ist meist betriebswie volkswirtschaftlich erfolgreich, kann aber die gesicherte Fähigkeit zur Selbstversorgung mit einfachen Nahrungsmitteln untergraben. Die bloße Tatsache, dass auf vielen Feldern „cash crops“ für den Export wachsen und nicht billige Nahrungsmittel für den heimischen Bedarf, ist nicht die unmittelbare Ursache für Mangel. Aber eine erfolgreiche Konzentration der wirtschaftlichen Aktivität auf den Weltmarkt-Export kann knappe ökonomische <?page no="245"?> 245 8.4 Entwicklung (development) und zumal politische Ressourcen binden, die langfristig profitabel eingesetzt werden könnten zur Entwicklung eines - „nachhaltigen“ - Binnenmarktes für einfache Nahrungsmittel. Agrarentwicklungspolitik hat ambivalente Strukturen eher vertieft als überwunden, indem sie der ländlichen Entwicklung zwar viel Rhetorik, aber wenig politische Zuwendung gewidmet hat. Auch die Problematik der multilateralen Kooperation für Ernährung ist in historischer Perspektive besser zu verstehen: Noch während des Zweiten Weltkrieges entwarfen die westlichen Alliierten eine umfassende Welternährungspolitik für die Nachkriegsordnung, deren Elemente die internationale Kooperation bis heute prägen: eine der Forderungen der Antlantik-Charta von 1941 (siehe 3.2) war die Freiheit von Not („freedom from want“); das individuelle Recht auf eine gesicherte Lebensgrundlage wurde mit dem freien Zugang zu Märkten und Ressourcen verknüpft, womit sowohl die Forderung eines Menschenrechts auf Nahrung als auch die Freihandelsdoktrin begründet werden kann - mögliche Widersprüche wurden darin nicht gesehen. Seitdem wird oft ein Menschenrecht auf Nahrung postuliert; der Menschenrechtsrat (HRC) hat 2008 wegen der steigenden Lebensmittelpreise sogar eine Sondersitzung dazu abgehalten. Aber wie bei anderen Anspruchsrechten auch (siehe 8.2.1) bleibt ungeklärt, wen man denn wie zur Verwirklichung verpflichten kann. Multilaterale Agrarentwicklungspolitik Rahmenbedingungen Entwicklungen und Probleme zuständige IO Welthandel und Selbstversorgung Handel und transnationale Verflechtung der Agrarmärkte wachsen Nahrungsmittel-Selbstversorgung bleibt in den meisten Industrieländern hoch Nahrungsmittel-Selbstversorgung sinkt in den meisten Entwicklungsländern FAO WEP Freihandel versus Agrar-Protektionismus Entstehung nationaler und regionaler Marktordnungen mit Freihandel nach innen und Einfuhrschutz nach außen Extremfall EWG/ EG/ EU-Agrarordnung GATT/ WTO UNCTAD Armut und Hunger global wachsende wirtschaftliche Ungleichheit von Ländern und Menschen Hungersituationen erfordern weltweite Kooperation für Hilfsprogramme WEP <?page no="246"?> 246 8. Arbeitsbereiche der UNO Multilaterale Agrarentwicklungspolitik Strategien Absichten, Aufgaben und Methoden Problematik zuständige IO Nahrungsmittelhilfe Versorgung in Krisengebieten durch international koordinierte Nahrungsmittellieferungen aus Überschussregionen Abhängigkeit von dauerhafter Hilfe? FAO WEP NGOs Steigerung der Produktivität - Wachstum durch Modernisierung Agrartechnologische Modernisierung in vom Hunger bedrohten Ländern durch Transfer von Technologie, Kapital und Institutionen zum Wachstum der Produktion („Grüne Revolution“). Überforderung und Abhängigkeit der Kleinbauern FAO IFAD Weltmarkt-Integration durch Freihandel Errichtung eines Handelssystems zum Abbau des Protektionismus auf den Weltagrarmärkten und Anregung der Agrarproduktion Gewinner vs. Verlierer? Selbstversorgung? GATT WTO Weltmarkt-Integration mit preisregulierenden Eingriffen aber ergänzt durch erlösstabilisierende Mechanismen zugunsten der Agrarrohstoffe exportierenden Entwicklungsländer Handelshemmnis; Preissteigerungen; Aufwand/ Bürokratie UNCTAD Binnenmarkt-Entwicklung durch politische Vorgaben Vorrangig/ gegengewichtig zum Außenhandel eigenständige/ r Produktion/ Binnenhandel durch Integration/ Inwertsetzung der Bevölkerung „politischer Wille“? FAO IBRD Kontrolle des Wachstums der Bevölkerungen Begrenzung des Bevölkerungsanstiegs durch Bevölkerungskontrollpolitik, um den Anstieg der Nachfrage nach Nahrung zu verringern Sinn umstritten; fragwürdige Methoden UNFPA Statt mühsam nachhaltige politische Lösungsoptionen zu suchen und zu verfolgen, neigen Regierungen zu bürokratischen und/ oder technokratischen Strategien. Am Anfang des vielbeschworenen Kampfes gegen den Hunger schien auf den ersten Blick die Forderung nach Geburtenkontrolle vernünftig, ist aber rasch zu einer missionarischen Ideologie verkommen - wie sich sprachlich in den Schlagwörtern der „Bevölkerungsexplosion“ oder gar der tickenden „Bevölkerungsbombe“ zeigte - und hat äußerst fragwürdige Programme angeregt. Der beeindruckende Erfolg der rigorosen Bevölkerungspolitik der VR China forderte hohe menschliche und soziale Kosten. Die Zusammenhänge zwischen Fruchtbarkeit und sozialer Sicherheit und Entwicklung sind komplex, wie auch die Veralterungsprozesse in den reichen Ländern zeigen - jedenfalls sollten Menschen auch ökonomisch eher als Ressource denn als Belastung gesehen werden. Unangefochten galt als vorrangiges Ziel eine freie und stabile Handelsordnung, doch das internationale Freihandelssystem sorgte nicht ausreichend für eine kontinuierliche Versorgung der Weltbevölkerung. Im landwirtschaftlichen Sektor kam die Freihandelsdoktrin ohnehin rasch an ihre Grenzen, weil sie vom faktischen Protektionismus der meisten Industrieländer (zumal der entstehenden europäischen EWG/ EG/ EU) konterkariert wurde, indem diese unbekümmert ihre Produzenten - traditionelle Bauern wie Agrarfabriken - vor billigerer ausländischer Konkurrenz schützen. Damit werden jedenfalls Exportmöglichkeiten <?page no="247"?> 247 8.4 Entwicklung (development) ärmerer Agrarexportländer behindert - ob dies nun der Sicherung der Ernährung von armen Menschen eher förderlich oder schädlich ist, bleibt umstritten. Viele Entwicklungsländer hatten auch durch „Entwicklungszusammenarbeit“ angeregt ihre Landwirtschaft vernachlässigt; die Investitionen in die Landwirtschaft sanken und der Rest ging meist in den exportorientierten Bereich. Nahrungsmittel waren dank der subventionierten Überschüsse einiger hochproduktiver Produzenten (bes. USA und EU) auf dem Weltmarkt jahrzehntelang billig gewesen, was den wirtschaftlichen Anreiz zur lokalen Nahrungsproduktion in hungergefährdeten Ländern verringerte. Die Strukturanpassungsprogramme des IMF (siehe 8.3.1) hatten viele verschuldete Länder gedrängt, sich im Sinne der Freihandels-Doktrin für Nahrungsmittelimporte zu öffnen und damit lokale, meist kleinbäuerliche und also zahlreiche Produzenten vom eigenen Markt zu verdrängen. Die Menschen, die heute in Großstädten in Armut leben, sind oft ehemalige Kleinbauern, deren Existenz durch den weltweiten Agrarhandel und eine fragwürdige Landwirtschaftspolitik zerstört wurden. Entwicklungspolitik war immer durchdrungen von der magischen Idee des (agrar-)technischen Fortschritts; die Losung der „Grüne Revolution“ (statt einer politischen roten) versprach die Lösung aller Probleme, doch die Intensivlandwirtschaft mit hybriden, kapital- und chemie-intensiven Hochertragssorten (Weizen, Mais, Reis) zeigte ambivalente Ergebnisse. Als radikale Wachstumsstrategie war sie in der Produktionssteigerung erfolgreich, hatte aber wie jede einseitige technische Innovation ohne flankierende ausgleichende Maßnahmen nachteilige ökonomische, soziale und ökologische Folgen: Die neuen Anbaumethoden waren nicht den Bedürfnissen der Masse der Kleinbauern angepasst, sondern machten sie abhängig von teuren Produktionsmitteln (Saatgut, Düngemittel, Pestizide) - viele gerieten in Schulden, verloren ihr Land und flüchteten in die städtischen Slums; dass so auch das traditionelle Saatgut von den hybriden Sorten verdrängt wird, bedeutet zudem einen gefährlichen Verlust von Arten- und Sortenvielfalt. Viele Länder haben sich durch die Ausrichtung ihrer landwirtschaftlichen Produktion auf die Weltmarktnachfrage abhängig gemacht von Nahrungsmittelimporten aus einer sehr kleinen Zahl von Exportländern (Weizen aus Russland, den USA und Kanada; Mais aus den USA, Argentinien und Brasilien; Reis aus Thailand, Indien, Vietnam, Pakistan und den USA). Wetterbedingte Ernteausfälle oder auch spekulative Einflüsse können als Preissteigerungen sehr schnell globale Auswirkungen haben; vier multinationale Firmen kontrollieren drei Viertel des Weltgetreidemarktes. Wenige Exportländer und Händler versorgen von Nahrungsmittelimporten abhängige Länder, die früher einmal Netto-Nahrungsmittel-Exporteure waren - und also einmal eine eigenständige Ernährungsbasis für ihre Bevölkerung gehabt hatten. In den meisten der ärmeren Länder muss Massenarmut überwunden werden, damit sich Binnenmärkte als Gegengewicht zum Weltmarkt entwickeln können. Im Prinzip sollte Freihandel dazu sogar beitragen, das Dilemma zwischen Exporterfolg und Ernährungssicherung zu lockern. Faktisch waren und sind aber in vielen Ländern die sozialen Macht- und Verteilungsstrukturen derart, dass die meisten Menschen von Vorteilen des Freihandels nicht erreicht wurden oder sogar unter ihnen litten. Gesellschaftspolitisch motivierte Kreditmaßnahmen zugunsten von Kleinbauern und ländlichen Kleinunternehmen können sowohl die Produktion steigern als auch Kaufkraft im Land schaffen, während allein auf die Steigerung <?page no="248"?> 248 8. Arbeitsbereiche der UNO der agrartechnischen Produktivität und der Weltmarktfähigkeit ausgerichtete klassische Agrarkredite in dieser Hinsicht kontraproduktiv sein können - multilaterale Entwicklungszusammenarbeit dient aber beidem. Die komplexen Faktoren, die unzureichende Nahrungsproduktion verursachen, könnten nur mit einer multidimensionalen und/ oder auf allen Handlungsebenen integrativen entwicklungspolitischen Strategie verändert werden, die zugleich sowohl lokale bzw. nationale Agrarstrukturen angreift als auch im Welthandel eingreift - angetrieben von einem klaren politischen Willen zu wirksamer Bekämpfung der Armut. Zu erkennen ist aber bislang allenfalls der multilaterale Wille, wenigstens einen verlässlichen Mechanismus für Nothilfe gegen den Hunger einzurichten. In akuten kriegerischen Konflikten (z. B. Syrien oder Yemen) hat auch Nothilfe selten Chancen, gefährdet aber die Helfer; sogar wenn nicht geschossen wird, kann die Hilfe zum Problem werden. Nahrungsmittelhilfe als scheinbar rein humanitäre Unterstützung kann als süßes Gift die einheimische Nahrungsmittelproduktion behindern oder gar zerstören, wenn Nahrung nicht nur als reine Nothilfe in akuten Krisensituationen, sondern auf Dauer vergeben wird. In einem Land Nahrungsmittel für die eigene Bevölklerung anzubauen rechnet sich nicht mehr, wenn über längere Zeit Nahrungsmittel von außen unter dem Preis erhältlich sind, den ein einheimischer Produzent verlangen muss, um selbst zu überleben - also geht die Fähigkeit verloren, sich selbst zu ernähren. Sinnvoller als längerfristige Hilfsimporte vom Weltmarkt wäre in einer Dreieckskooperation mit multilateralen Hilfs-Geldern Nahrungsmittel in der benachbarten Region oder gar im Land selbst zu kaufen - und damit die Produktion dort anzuregen. Diese aufwändigere aber zweifellos rationalere Methode hat für die Geberländer allerdings den Nachteil, dass sie Geld geben müssen statt die eigenen teuer subventionierten Agrarüberschüsse elegant für einen guten und möglicherweise politisch nutzbaren Zweck loszuwerden. Das Welternährungsprogramm versucht im „purchase for progress“-Programm und in anderen integrativen Ansätzen (Schulspeisungs-Programme, „food-for-work“-Projekte) Ernährungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu verbinden. Für internationale Koordination der Nothilfe und Kooperation in der landwirtschaftlichen bzw. ländlichen Entwicklungsarbeit arbeiten u.a.: ▶ Die FAO (Food and Agriculture Organization/ Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation) in Rom (Italien) hat als selbständige Sonderorganisation die breitesten Kompetenzen für alle Fragen von Nahrungsproduktion und Agrarentwicklung. ▶ Der Internationale Fond für landwirtschaftliche Entwicklung (International Fund for Agricultural Development/ IFAD) in Rom soll als selbständige Sonderorganisation vor allem die ländliche Entwicklung zugunsten von Kleinbauern und landlosen Landarbeitern fördern. ▶ Das Welternährungsprogramm (World Food Programme/ WFP) ebenfalls mit Sitz in Rom koordiniert und organisiert als untergeordnetes Spezialorgan der UNO in Krisenfällen und in dauerhaften Hunger-Situationen die internationale Nahrungsmittelhilfe, die aus eigenen Nahrungsmittelreserven und kurzfristigen Spendenlieferungen von Staaten oder auch über NGOs (wie OXFAM oder der Deutschen Welthungerhilfe) gespeist wird. <?page no="249"?> 249 8.5 Umwelt und Klima (environment) Das System der internationalen Katastrophenhilfe reagiert manchmal zu spät oder zu wenig, doch dann ist immer wieder nicht die Nahrung die fehlende Ressource, sondern politische Beachtung; Die internationalen Institutionen - FAO/ WFP und viele NGOs - melden regelmäßig, wie hoch die Zahl der Hungernden bzw. Unter- und Mangelernährten weltweit ist, welche akuten Mangelkrisen wo und wann zu erwarten sind, ob gar Katastrophenalarm zu geben ist - die Weltöffentlichkeit nimmt das beständig wenig interessiert zur Kenntnis bis es gelegentlich für einige Zeit zum Thema wird, wenn wieder eindrucksvolle Bilder von hungernden Kindern durch die Medien ziehen. Literaturverweis zu 8.4.3 : (Welt-)Ernährung Deutsche Welthungerhilfe 2018; FAO 2011, 2018; Herren 2009; Moseley 2019; Nützenadel 2009; Wesel 1993; Wiggerthale 2009 8.5 Umwelt und Klima (environment) Wir leben und wirtschaften weiterhin im Geist der Devise Nach mir die Sintflut … Die geniale Einsicht Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen gilt ja nur für Leute, die nichts zu tun haben als anderen Leuten, deren Arbeit die Welt in Gang hält, besserwisserische Vorschriften zu machen. Widersprüchliche Problemwahrnehmung und unlösbare Zielkonflikte hemmen alle Bemühung zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen: Umweltschutz, Artenschutz, Klimaschutz richten sich gegen Gefährdungen, die vom Menschen verursacht werden - aber geht es um den Schutz der Menschen oder um den Schutz der Natur? Die drohenden vom Klimawandel ausgelösten Katastrophen wird auch im schlimmsten Fall die Natur so oder so überleben, der Mensch oder zumindest seine Zivilisation wohl kaum. Im multilateralen Arbeitsfeld Umwelt- und Klimaschutz stecken die Staaten in einem ähnlichen Dilemma wie bei der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik: Jeder Staat, sofern seine Regierenden Umweltprobleme überhaupt wahr- und ernstnehmen, will seine Umwelt schützen und seinen Nutzen aus globalen Umweltgütern sichern ohne seinen Teil der Kosten dafür zu übernehmen - also schiebt er seine Verantwortung auf andere Staaten/ -gruppen und versucht, seinen Beitrag zu den ohnehin meist unzureichenden kollektiven Anstrengungen möglichst gering zu halten. Das mindert die Chance auf effektive internationale Zusammenarbeit in geregelter Lastenverteilung und schädigt auf lange Sicht alle Staaten, die kooperationswilligen wie die unwilligen. Für Probleme wie den Klimawandel oder die Verbreitung giftiger Chemikalien reicht selektive multilaterale Kooperation nicht aus, sondern sie sollte universal werden, indem möglichst alle Staaten mitmachen. Sogar noch mehr als in den Arbeitsfeldern Sicherheit und Wirtschaft trifft im Umwelt- und Klimaschutz das interdependenztheoretische Argument zu: Wenn in einer anarchisch-nationalstaatlich organisierten Welt die schlimmsten Probleme grenzenlos transnationaler oder eben globaler Natur sind, bietet nur internationale Kooperation und <?page no="250"?> 250 8. Arbeitsbereiche der UNO deren ständige Verdichtung die einzige Chance, wenigstens teilweise ein rationales Verhalten der Staaten zu fördern und zu regeln - bevor das Artensterben auch den Menschen erwischt. Diese dritte große unerwartete Herausforderung für die UNO ist in der VN-Charta gar nicht als Teil ihres Mandats erwähnt, denn 1945 sah man mit der Nutzung natürlicher Ressourcen wirtschaftliche und politische Probleme verbunden, aber noch keinerlei ökologische. Implizite Ansätze zu Fragen des Umweltschutzes sind aus dem Vertragstext allenfalls retrospektiv zu erahnen; also musste der zum Bereich Entwicklung komplementäre Problemkomplex ebenfalls als expliziter Aufgabenbereich erst entwickelt werden. Kap. Art. aus der Charta der Vereinten Nationen → Umwelt und Klima Präambel ▶ „sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit“ ▶ „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker“ I 1 ▶ Internationale Zusammenarbeit bei Problemen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art ▶ Für das alles „ein Mittelpunkt zu sein“ … ⇒ siehe 8.3 zu Weltwirtschaft Die fiktiven Bestimmungen des Mandats an die UNO zu Umweltproblemen wurden denen zur Weltwirtschaft analog nachempfunden; zur Präambel und zu Kap. I Art. 1 ist das Stichwort „Umwelt“ einfach ergänzend dazu zu denken; Generalversammlung und ECOSOC haben das Recht zu Neugründungen auch für diese Aufgabe; die Zusammenarbeit mit Sonderorganisationen ist erwünscht. Auch für diesen neuen Aufgabenbereich wurde nicht versucht, die VN-Charta zu erweitern, sondern wieder wurde die Praxis der UNO informell ausgedehnt. Der Sicherheitsrat hat 2011 anlässlich einer Hungersnot in Somalia in einer „Präsidentschaftserklärung“ („Statement of the President of the Security Council“) (siehe 6.1.2) den Klimawandel als Bedrohung für den Weltfrieden erkannt (S/ PRST/ 2011/ 15) und damit als wesentliche Aufgabe der UNO: Wenn sich durch steigende Temperaturen Trockenperioden häufen und zugleich das Meer küstennahe Gebiete und flache Inseln überschwemmt, sind immer mehr Menschen zur Migration gezwungen und Verteilungskämpfe um Land, Wasser und Nahrungsmittel werden zu einem gewaltigen Konfliktpotential. 8.5.1 Probleme und Konflikte Industrielle Entwicklung geschieht im Norden der Erde seit Jahrhunderten, auf fast der ganzen Welt seit dem letzten Jahrhundert und derzeit in einigen Ländern des globalen Südens sehr rasch; ungeachtet aller digitalen Fortschritte zeigt sie sich als Steigerung von Produktion, Transport und Verbrauch von materiellen Gütern - also eine Art Stoffwechsel: ▶ Der Verbrauch von Stoffen - von auszugrabenden oder nachwachsenden Rohstoffen, aber auch von scheinbar kostenlosen öffentlichen Gütern wie Luft, Wasser und Wetter - führt unter Energieaufwand zur <?page no="251"?> 251 8.5 Umwelt und Klima (environment) ▶ Emission von Stoffen - neben den erwünschten Produkten von unerwünschten wie Müll, Gasen, Abwärme in Wasser oder Luft, Giften u.v.m. - mit der Folge, dass sich ▶ stoffliche sowie strukturelle und/ oder funktionale Veränderungen oder Zerstörungen von Orten, Räumen und Situationen in der natürlichen, aber auch unserer kulturell geschaffenen Umwelt ereignen, die den ▶ Verlust von Lebensqualität oder gar der Lebensfähigkeit biologischer Lebensformen bedeuten können - zumal auch der eigenen. Umwelt-Gefahren Schäden Probleme kurzfristige/ behebbare Schäden dauerhafte/ irreversible Schäden ⇒ aktuelle und potentielle Folgen (unter anderen) Luft/ Atmosphäre Verschmutzung Vergiftung Gesundheitsschäden, Verlust an Lebensqualität ▶ Ozon-Schicht ▶ Abbau ▶ Zerstörung ▶ Verbrennungen, Hautkrebs Klima Temperaturanstieg Erderwärmung Meeresspiegelanstieg, Naturkatastrophen u.v.m. Meere/ hohe See Verschmutzung Veränderung Artenverlust, kein Fischfang, Kontamination Binnen-Gewässer Verschmutzung Zerstörung Naturzerstörung, Verlust an Lebensqualität ▶ (Trink-)Wasser ▶ Vergiftung ▶ Verlust ▶ Mangel, Verteilungs-Konflikte Landschaft/ “Natur“ Verschmutzung Veränderung Naturzerstörung, Verlust an Lebensqualität ▶ Wälder ▶ Raubbau ▶ Verlust ▶ Luftregeneration eingeschränkt, Artenverlust (Acker-)Boden Vergiftung Verlust/ Zerstörung Hungersnot, soziale und politische Konflikte ▶ Desertifikation ▶ Erosion ▶ Wüstenbildung ▶ Mangel an Acker- und Weideland, Migration Artenvielfalt Veränderung Verlust/ Zerstörung genetische Verarmung/ Verlust an Biodiversität ▶ Fischbestand ▶ Verminderung ▶ Verlust ▶ Nahrungseinschränkung, Artenverlust ▶ Saatgut ▶ Sortenreduktion ▶ Verlust ▶ Hungersnot, soziale und politische Konflikte Ressourcen Knappheit Verlust wirtschaftliche Verluste, Verteilungs-Konflikte Mensch Lebensqualität Aussterben Gefährdung der „menschlichen Entwicklung“ Ungewißheit über Ursachen und Kausalketten/ -netze, Wirkungen und Folgen von Umweltgefahren erschweren die Problembestimmung und unterwerfen sie politischen Einschätzungen, die nie interessenfrei sind. Das gibt wissenschaftlicher Forschung und Expertise grundlegende, aber nicht entscheidende Bedeutung, macht sie selbst jedoch zugleich zum Streitgegenstand - oder gar zur Streitpartei in der Fülle des Konfliktstoffs. Lähmend bleibt der UN-typische Widerspruch zwischen dem Beharren auf dem Gebot der Nichteinmischung in die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik von souveränen Staaten und dem Anspruch auf internationale Kooperation mit dem Ziel, Standards für nicht umweltschädliche Formen von Produktion, Konsum und Verkehr zu setzen und durchzusetzen; dieser Anspruch ist sachlich zwingend begründet eben in der globalen Natur der schlimmsten Umweltprobleme. Die vielschichtigen Konflikte werden sowohl innerstaatlich als auch transnational ausgetragen, <?page no="252"?> 252 8. Arbeitsbereiche der UNO ▶ zwischen ökologisch kritischen Gruppen der Zivilgesellschaft einerseits und privaten (und staatlichen) Wirtschaftsinteressen und sie vertretenden Regierungen anderseits, ▶ aber auch zwischen Wirtschaftsinteressen und Regierungen, ▶ zwischen I/ NGOs und Staaten, ▶ zwischen von Umweltgefahren bedrohten Staaten und Staaten, für die ihre wachsende Wirtschaft relative oder gar absolute Priorität hat und so weiter. Sogenannte „epistemische Gemeinschaften“, z. B. Netzwerke von Wissenschaftlern und Experten, aber auch von Internationalen (staatlichen) Organisationen haben eine schwierige Vermittlerfunktion, in der sie es meist niemandem recht machen können. Besonders in der Frage der Reduktion von agrarischen/ industriellen/ verkehrlichen Emissionen für den Klimaschutz stellte sich ein harter Interessengegensatz zwischen den alten und den werdenden Industrieländern oder solchen Ländern, die sich dereinst noch zu modernen Ökonomien entwickeln wollen, verkürzt zwischen armen und reichen Staaten, noch verkürzter zwischen Nord und Süd: Die Nachzügler wollten auch noch von der Nutzung der globalen öffentlichen Güter profitieren, nachdem die alten Industrieländer das für ihre Entwicklung jahrhundertelang ohne Rücksicht getan haben. Wieso sollten die anderen nun für die Sünden der einen büßen? Diese berechtigte Frage motiviert die Betonung einer notwendig engen Verbindung zwischen Umweltschutz und „nachhaltiger“ Entwicklung. Konfliktentschärfende Begriffspolitik wirkt auch in einer heillosen Problemkonstellation keine Wunder, ist aber als Beschwörung von Hoffnung auf eine Lösung hilfreich. Die Zauberformel vom „sustainable development“ („nachhaltige Entwicklung“; siehe 8.4.1) ist in der Sache schwer zu definieren, scheint aber in ihrer inneren Logik selbstevident: Die Verheißung verspricht, dass Entwicklung - also auch modifiziertes wirtschaftliches Wachstum - möglich ist, ohne dass die Erde dafür zu ruinieren wäre, dass also die noch Armen sich nicht für die schon Reichen opfern müssen, damit nicht alle verlieren. Das Schlagwort passt nahtlos zu dem anderen, das sich in gestaltungspolitischer Not bewährt hat: Nachhaltige Entwicklung ist natürlich zwangsläufig eine „Querschnittsaufgabe“. Sofern diese Floskel nicht nur der freundlichen Abwehr ökologischer Ansinnen dient, ist das richtig: Umweltschutz ist eng mit Fragen der Weltwirtschaft, des Handels und der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung verwoben, also müssen alle Maßnahmen für Nachhaltigkeit damit verknüpft werden. Literaturverweis zu 8.5.1.: Umwelt und Klima: Probleme und Konflikte Breitmeier 1996; Ekardt 2008; Fukuda-Parr 2018; Gehring/ Oberthür 1997; König/ Thema 2011; Schrijver 2007, 2018; Weltkommission 1987 8.5.2 Institutionen und Verfahren Mangels klarer Vorgaben im Mandat der UNO waren es die wachsende Wahrnehmung von Umweltschäden seit den 1950er Jahren und deren Verarbeitung in Berichten und auf internationalen Konferenzen, die dann in den 1970/ 80er Jahren rasch zur Bildung von Internationalen Institutionen im Arbeitsbereich Umwelt führten; deren Aufgaben erweiterten und <?page no="253"?> 253 8.5 Umwelt und Klima (environment) differenzierten sich seitdem, weil neue Probleme hinzukommen und/ oder zunehmend als Querschnittsaufgaben auch für nicht-„grüne“ Institutionen definiert werden. Abgesehen von der Diskussion um ein Menschenrecht auf gesunde Umwelt (siehe oben 5.2.1) hat grenzübergreifender Umweltschutz als Rechtsgrundlagen nur die meist auf Konferenzen ausgearbeiteten internationalen Verträge - zu speziellen Fragen wie das Artenschutzabkommen (CITES) oder zu ganzen Problemfeldern wie die Klima-Rahmenkonvention mit dem Folgeprozess zu ihrer Ausgestaltung (UNFCCC). Die wegweisenden Konferenzen zu Umweltthemen waren ▶ als erste die Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen (United Nations Conference on the Human Environment/ UNCHE) 1972 in Stockholm (Schweden) mit schon 113 Staaten, ▶ und die Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development/ UNCED), auch „Rio-Konferenz“ oder „Erdgipfel“ genannt, 1992 in Rio de Janeiro (Brasilien) mit 172 Staaten und zusätzlich 650 NGOs ohne Stimmrechte. Den zähen Folgeprozess von UNCED betrieben ▶ der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (World Summit on Sustainable Development/ WSSD) 2002 in Johannesburg (Südafrika), der mit ca. 22.000 Regierungsdelegierten, NGO-Aktivisten und Journalisten bis dahin der größte Welt-Event war, ▶ sowie wieder in Rio de Janeiro 2012 die „Rio plus 20“-Nachfolgekonferenz (UN Conference on Sustainable Development/ UNCSD) ▶ und 2015 als Segment der laufenden 70. Generalversammlung der „Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung“ (UN Sustainable Development Summit). Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ im Bereich Umwelt/ Klima Jahr Ort Konferenz 1972 Stockholm Schweden Erste Umwelt-Konferenz UN Conference on the Human Environment UNCHE Umweltgefährdung und Umweltschutz 1992 Rio de Janeiro Brasilien „Erdgipfel“ bzw. „Rio“-Umweltkonferenz United Nations Conference on Environment and Development UNCED Umwelt & (nachhaltige) Entwicklung, environment and sustainable development 2000 New York UNO „Millenniums-Gipfel“ Millennium Assembly [Segment der 55.Generalversammlung] Rolle und Aufgaben der UNO im 21. Jahrhundert; Millennium Development Goals/ MDGs 2002 Johannesburg Südafrika Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung („Weltumweltgipfel“) World Summit on Sustainable Development „RIO+10“ WSSD nachhaltige Entwicklung 2012 Rio de Janeiro Brasilien Konferenz über nachhaltige Entwicklung UN Conference on Sustainable Development „RIO+20“ UNCSD nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs <?page no="254"?> 254 8. Arbeitsbereiche der UNO Thematische Konferenzen bzw. „Gipfel“ im Bereich Umwelt/ Klima Jahr Ort Konferenz 2015 New York UNO Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung UN Sustainable Development Summit [Segment der 70.Generalversammlung] nachhaltige Entwicklung, Sustainable Development Goals/ SDGs 2015 Addis Abeba Äthopien Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung International Conference on Financing for Development Entwicklungs-Finanzierung für SDGs jährlich weltweit rotierend Vertragsstaatenkonferenz Conference of Parties CoP xy Klimarahmenkonvention UNFCCC Die internationale Kooperation zum Umweltschutz begann spät, aber vielversprechend, hatte gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Stimmungshoch, aber bleibt im 2. Jahrtausend zumal beim Klimaschutz bisher bei weitem zu kraftlos. ▶ In Stockholm erklärten sich 1972 die Staaten erstmals zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Umwelt- und Naturschutzfragen bereit, diskutierten deren Prinzipien und Methoden unter dem Aspekt der unterschiedlichen Interessen, formulierten einen Aktionsplan und entschieden sich für die Gründung eines UN-Umweltprogramms (UNEP), das den neuen Arbeitsbereich organisieren und weitere Konferenzen vorbereiten sollte; als Folge der UNCHE wurden schon einige wichtige Umwelt-Abkommen verhandelt und den Staaten zum Vertragsschluss empfohlen, manche aber dann erst durch UNCED. ▶ Zwischen UNCHE und UNCED hat die 1983 von der Generalversammlung berufene sog. Brundtland-Kommission (World Commission on Environment and Development/ WCED) 1987 ihren bahnbrechenden Report („Our Common Future“) über den Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung, Armut, Frieden und Sicherheit vorgelegt und darin den Begriff des „sustainable development“ eingeführt. ▶ Die Weltkonferenz von 1992 in Rio war im Geiste dieser Hoffnung auf eine Zielkonflikte lösende „nachhaltigen Entwicklung“ ein optimistisch stimmender bunter Event mit dennoch reellen Ergebnissen: Als Dokumente wurden die Agenda , die Rio Declaration on Environment and Development und das Statement of the Forest Principles vorgelegt; als internationale Verträge wurden die Biodiversitätskonvention (CBD) und die Klima-Rahmenkonvention (UNFCCC) vorgeschlagen; zur Gründung empfohlen wurden u. a. die Commission on Sustainable Development (CSD) sowie das Inter-Agency Committee on Sustainable Development (IACSD). Eine große Zahl der am Rande teilnehmenden NGOs konnte als international aktive Zivilgesellschaft auftreten, was vor allem der öffentlichen Wirkung der Konferenz und ihrer Themen zugutekam. ▶ Der WSSD hat 2002 in Johannesburg als „Rio plus 10“-Nachfolgekonferenz die Umsetzung der hochgesteckten Ziele von UNCED wesentlich nüchterner bilanziert - mit ambivalentem Ergebnis: die Einschätzung von Umsetzungserfolgen und Effektivität der internationalen Umweltpolitik fiel für fast alle Probleme eher dürftig aus, doch wurden <?page no="255"?> 255 8.5 Umwelt und Klima (environment) umweltpolitische Forderungen und Initiativen als sachlich dringlich bestätigt und so immerhin gegen eine große Koalition der Unwilligen gestärkt. ▶ Die „Rio plus 20“-Nachfolgekonferenz UNCSD 2012 beriet die sich als unzureichend abzeichnende Erreichung der Millenniumsziele, aber bot die Verkündung der neuesten Kollektion von zu erreichenden „Entwicklungszielen“ - diesmal „nachhaltige“. ▶ Die „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals/ SDG) oder auch „Agenda “ (siehe 8.4.2) wurden 2015 durch den „Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung“ (UN Sustainable Development Summit) im Rahmen der Generalversammlung der UNO bekräftigt und beschlossen, ergänzt durch eine Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba (Äthopien). Doch es reicht nicht, anspruchsvolle Ziele zu formulieren, es sollte versucht werden, sie zu erreichen. Dafür war rasch nach Art der UNO ein zergliedertes Gefüge von Institutionen und Gremien entstanden, die sich den Arbeitsbereich Umwelt/ Klima teilen; die wichtigsten sind das UNEP, das IPCC, die GEF und die CSD: UNEP, das Umweltprogramm der UNO (UN Environment Programm), wurde 1972 auf Empfehlung der ersten UN-Umweltkonferenz (UNCHE) durch die Generalversammlung als Nebenorgan gegründet (A/ RES/ 27/ 2997) mit dem Mandat, die Regierungen zum Schutz von Umwelt, Natur und Klima anzuregen, zu informieren und zu unterstützen - vom ersten afrikanischen UN-Sitz in Nairobi (Kenia) aus, aber mit zusätzlichen Regionalbüros auf den anderen Kontinenten. UNEP soll ▶ nationale, regionale und globale Umweltdaten sammeln und auswerten, um rechtzeitig vor bedrohlichen Trends zu warnen, ▶ Expertise und Technologie für nachhaltige Entwicklung an Regierungen vermitteln, ▶ als Querschnittsaufgabe alle internationalen Institutionen zu Umweltschutz anregen, dabei unterstützen und deren Aktivitäten koordinieren, ▶ selbst spezielle Programme durchführen oder koordinieren, die finanziert werden von der Globalen Umweltfazilität (Global Environment Facility/ GEF), ▶ das Umweltvölkerrecht weiter ausarbeiten, ▶ mit der Zivilgesellschaft - Umweltgruppen und private Unternehmen - zusammenarbeiten ▶ sowie Kommunikation über internationale Umweltpolitik herstellen und Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Häufig wurde vorgeschlagen, UNEP zu einer starken Sonderorganisation (UN oder World Environment Organization/ UNEO oder WEO) umzubauen, damit sie mit völkerrechtlich eigenständigen Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen die Umweltpolitik unabhängiger und effizienter vorantreiben kann; die Vielfalt von Zuständigkeiten und Aktivitäten sollte konzentriert werden. Neben dem nötigen prozeduralen Aufwand bleibt abzuwägen, welcher Status für diesen Arbeitsbereich mehr Vorteile bietet: Eine Sonderorganisation kann mehr Bedeutung beanspruchen und autonomer agieren, aber ein Spezialorgan ist verlässlicher finanziert und weniger erpreßbar, also auch geschützter gegen hegemoniale Akteure (siehe <?page no="256"?> 256 8. Arbeitsbereiche der UNO 5.2/ 5.3); schließlich gilt noch das altbekannte Argument, dass „Querschnittsaufgaben“ besser auf verschiedenen Ebenen und in allen Dimensionen erfüllt werden und nicht in eine isolierte Struktur abgelagert werden sollten. IPCC, der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change), wurde 1988 vom Umweltprogramm (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eingerichtet. Das - auch fragwürdig „Weltklimarat“ genannte - Experten-Gremium soll zum einen Tendenzen und Risiken der globalen Erwärmung aufgrund der wissenschaftlichen Diskussion feststellen und beurteilen, zum anderen Vorschläge zur Verminderung des Klimawandels und zur Anpassung an seine Folgen zusammenstellen und bewerten. Der Ausschuss wird oft für seine Aussagen und Prognosen kritisiert - obwohl er ja nicht „objektiver“ sein kann als die einschlägigen Wissenschaften; seine Berichte bleiben die verlässlichste Informationsquelle für den Stand der klimawissenschaftlichen Diskussion. GEF, die Globale Umweltfazilität (Global Environment Facility), ist eine selbständige internationale Finanzorganisation zum Zweck der Förderung von Umweltschutzprojekten in Entwicklungs- und Transitionsländern. Die Weltbank/ IBRD hatte sie 1991 als eigenes Programm eingerichtet und nach UNCED ausgegründet mit Sitz ebenfalls in Washington (USA). Für ihre 183 Mitgliedstaaten verwaltet die GEF ein Volumen von gut 20 Mrd. US- von 39 Geberländern. Sie führt nicht selbst Maßnahmen durch, sondern finanziert Programme und Projekte, die andere Organisationen umsetzen; sie dient insbesondere als Finanzierungsmechanismus für Umwelt-Abkommen wie der Biodiversitäts-Konvention (CBD), der Klimarahmenkonvention (UNFCCC), der Schadstoffkonvention (POPs) oder auch der Wüstenkonvention (UNCCD). CSD, die Kommission der UNO für Nachhaltige Entwicklung (UN Commission on Sustainable Development) wurde von der „Rio-Konferenz“ UNCED empfohlen und 1992 von der Generalversammlung als eine funktionelle Kommission des ECOSOC gegründet (A/ RES/ 47/ 191). Sie soll das allumfassende Konzept der „Nachhaltigkeit“ klar und umsetzbar fassen sowie den Folgeprozess der UNCED auch des WSSD auswertend verfolgen, unterstützende Aktivitäten initiieren und die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft bzw. der NGO-Szene pflegen. Literaturverweis zu 8.5.2.: Umwelt und Klima: Institutionen und Verfahren Fukud-Parr 2018; Meyer/ Frank/ Hironaka/ Schofer/ Tuma 2005; Gehring/ Oberthür 2000; Schrijver 2007, 2018; Simonis 2017 8.5.3 Umwelt-, Natur-, Arten- und Ressourcenschutz Inzwischen gelten im Arbeitsbereich Umwelt/ Klima mehrere Hundert internationale Abkommen; die meisten regeln sehr spezielle Fragen, einige wenige sind für die Menschheit zukunftsentscheidend. Besonders für komplexeren Regelungsbedarf wie bei Atmosphäre/ Klima hat es sich bewährt, <?page no="257"?> 257 8.5 Umwelt und Klima (environment) ▶ zunächst eine sogenannte Rahmenkonventionen zu verhandeln und in Kraft zu setzen und die so beschlossenen generellen Zielvorgaben und Prinzipien ▶ danach erst in einem regimebildenden Folgeprozess durch Vertragsstaatenkonferenzen - also mit allen Mitgliedern der Rahmenkonventionen - konkret auszuarbeiten und in einzelnen „Protokollen“ verbindlich festzulegen, die von den Staaten gesondert unterzeichnet und ratifiziert werden müssen. Multilateraler Umwelt-Schutz Bereich Problem Vertragswerk ⇒ Weiterentwicklung von Luft Verschmutzung „saurer Regen“ Luftreinhaltekonvention: Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung (Convention on Long-range Transboundary Air Pollution) [Rahmenkonvention ⇒ ] 1979 ⇒ acht Protokolle (Messungs-/ Bewertungs-Programm, Schwefelemissionen, Stickstoffoxidemissionen, Emission flüchtiger organischer Verbindungen, Schwermetalle, persistente organische Schadstoffe, Versauerung/ Eutrophierung/ Boden-Ozon) 1984 - 1999 Ozonschicht Abbau Zerstörung Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (Vienna Convention for the Protection of the Ozone Layer) [Rahmenkonvention ⇒ ] 1985 ⇒ Montrealer Protokoll mit verpflichtenden Regelungen 1987 → Zusätze und Korrekturen 1990 ff Klima globale Erwärmung Klimarahmenkonvention: Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UN Framework Convention on Climate Change / UNFCCC) [Rahmenkonvention ⇒ ] 1992 ⇒ Kyoto-Protokoll [CoP 3] 1997 ⇒ „Pariser Klimaabkommen“ (Protokoll) [CoP 21] 2015 → fortlaufender Verhandlungsprozess [CoP 1 bis CoP xy …] Meere/ hohe See Verschmutzung durch Öl Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Verschmutzung der See durch Öl (International Convention for the Prevention of Pollution of the Sea by Oil), auch „OILPOL“ 1954 Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (International Convention for the Prevention of Pollution From Ships), auch „MARPOL 73/ 78“ 1973 1978 Verschmutzung durch Abfälle London-Konvention: Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen (Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter) 1972 Land/ Böden/ Wälder Erosion Desertifikation Übereinkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UN Convention to Combat Desertification/ UNCCD) 1994 Wald-Schutz UNCED: Statement of the Forest Principles 1992 <?page no="258"?> 258 8. Arbeitsbereiche der UNO Multilateraler Umwelt-Schutz Bereich Problem Vertragswerk ⇒ Weiterentwicklung von Artenschutz Walfang Internationales Übereinkommen zur Regelung des Walfangs (International Convention for the Regulation of Whaling/ ICRW) 1946 gefährdete Arten Washingtoner Artenschutzabkommen: Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora/ CITES) 1973 Fischfang Seerechtskonvention: Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UN Convention on the Law of the Sea/ UNCLOS) 1982 FAO-Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Fischerei Internationaler Aktionsplan der FAO zum Management der Fischereikapazitäten 1995 → regionale Fischereiabkommen Vielfalt Biodiversitätskonvention: Übereinkommen der VN über die biologische Vielfalt (UN Convention on Biological Diversity/ CBD) 1992 Gefahr-Stoffe „Giftmüll“ Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (Basel Convention on the Control of Transboundary Movements of Hazardous Wastes and Their Disposal) 1989 toxische Chemikalien Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pestizide im internationalen Handel (Rotterdam Convention on the Prior Informed Consent Procedure for Certain Hazardous Chemicals and Pesticides in International Trade), auch PIC-Convention 1998 Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe (Stockholm Convention on Persistent Organic Pollutants), auch PoPs-Convention 2001 bereichs- und problemübergreifend z.B. → Fluss-Regime (z. B. Rhein) (1815) → Antarktis-Vertragssystem (Antarctic Treaty System/ ATS) 1959 → Nordseekommission (North Sea Commission) 1989 Erfolg und Wirksamkeit dieser Abkommen variieren stark: Das Ozon-Regime scheint sich seit dem Inkrafttreten der verbindlichen Reduktionsziele des Montrealer Protokolls gut zu bewähren, während sich Umsetzung und Fortentwicklung des Artenschutzabkommens ständig an speziellen und oft stärkeren Wirtschaftsinteressen abarbeiten muss; die Ergebnisse beim Schutz der Wälder sind zwiespältig und geben noch wenig Anlass zu Hoffnung. Die Sicherung von sauberem Trinkwasser für alle Menschen scheint als Problem und Konfliktpotential in seiner Bedeutung noch nicht so recht erkannt worden zu sein; immerhin gab es 2013 dank der UNO einen Internationalen Wasser-Gipfel (International Water Summit/ IWS). Literaturverweis zu 8.5.3.: Umwelt-, Natur-, Arten- und Ressourcenschutz Fukuda-Parr 2018; Schrijver 2007, 2018; Simonis 2017 <?page no="259"?> 259 8.5 Umwelt und Klima (environment) 8.5.4 Klima-Erwärmung Klimaschutz ist als Problemwie als Arbeitsfeld von eigener Art: Gefährdungsszenarien reichen von Belästigung durch Wetterkapriolen über Zerstörung der Lebensgrundlagen ganzer Bevölkerungen (Naturkatastrophen, Anstieg des Meeresspiegels, Versteppung) bis zu apokalyptischer Bedrohung der menschlichen Existenz. Entsprechend politisch umstritten sind sowohl Problemwahrnehmung wie zu ziehende Konsequenzen für internationale Klimaschutzpolitik; selbst in Fragen, über die Einigkeit erreicht wurde, ist die praktische Umsetzung bisher bei weitem nicht ausreichend: Die erreichten Fortschritte stehen in absurdem Missverhältnis zum von Experten erkannten Handlungsbedarf. Um anthropogenen Klimawandel zu vermeiden, dürften dauerhaft nicht mehr klimaschädliche Gase ausgestoßen als der Atmosphäre durch sog. Senken (z. B. Wälder) entzogen werden; eine solche „Treibhausgas-Neutralität“ kann nur erreicht werden, wenn weltweit Wirtschaft, Verkehr und menschlicher Konsum deutlich weniger Kohlenstoff umsetzen als bisher, sich also „dekarbonisieren“ - also nicht oder weniger Kohle und Öl für Energie verbrennen, Obst und Gemüse oder Touristen um die halbe Welt fliegen, maßlos Fleisch essen etc. Den Klimaschutz prägen aufgrund seiner zu regelnden Aufgabe und seiner Konfliktlinien drei spezifische Besonderheiten: ▶ Das Souveränitätsproblem stellt sich verschärft, weil alle Staaten, auch solche mit noch relativ geringen Emissionen, mitmachen müssen - das Boot muss schneller gerudert werden, und zwar in die gleiche Richtung, damit es nicht sinkt. ▶ Regelungen müssen rechtzeitig verabredet und umgesetzt werden, selbst wenn fachliche Unsicherheiten in der realistischen Einschätzung der Problemlage und der Prognosen noch nicht definitiv auszuräumen sind - hinhaltendes Bedenkentragen könnte gefährlich sein. ▶ Aufgaben und Lasten müssen differenziert verteilt werden, damit die weitestgehenden Regelungen nur für die Profiteure des wirtschaftlichen Wachstums seit der Industrialisierung gelten, während Entwicklungsländern Sonderrechte zuzugestehen sind - die alten Klimasünder müssen nachzahlen. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufstiegs vieler Länder des globalen Südens - allem voran die ehemalige Führungsmacht der Entwicklungsländer VR China - wurde dies inzwischen so differenziert, dass alle Staaten verpflichtet werden, aber nach unterschiedlich angepassten Maßstäben. In den 1980er Jahren stimulierte die Vertiefung und öffentliche Verbreitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes die Entstehung der internationalen Kooperation zum Klimaschutz. Der IPCC (siehe 8.5.2) hat die Aufgabe, das fachliche Wissen zu sammeln, auszuwerten und praktische Konsequenzen zu formulieren - was schon meist umstritten war oder gar bestritten wurde. Sein erster Bericht 1990 führte zur Forderung nach einem Rahmenvertrag gegen den Klimawandel, sein zweiter Bericht 1995 bereitete das Kyoto-Protokoll vor; seitdem sind keine substantiellen Durchbrüche zu verzeichnen, auch nicht im vielgelobten sog. „Pariser Klimaabkommen“ von 2015, das allerdings die politische Methode modifiziert hat. Die Experten schätzen die Erfolgsaussichten, die Klimaerwärmung selbst bei wirksamer <?page no="260"?> 260 8. Arbeitsbereiche der UNO Begrenzung der Emissionen zu verhindern oder wenigstens zu mindern, eher skeptisch ein (vgl. IPCC 2018). Der multilaterale Klimaschutz ist ein inhaltlich wie strukturell schwer zu überschauendes Dickicht aus widersprüchlichen Absichten und komplizierten Detailfragen geworden. Seine wichtigsten Rechtsgrundlagen sind ▶ die Klimaschutz-Rahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change/ UNFCCC), beschlossen 1992 auf UNCED („Rio-Konferenz“), in Kraft seit 1994, und ▶ das Kyoto-Protokoll (Kyoto Protocol), beschlossen 1997 auf der dritten Vertragsstaatenkonferenz (CoP 3, Kyoto/ Japan), in Kraft seit 2005 bis 2012 bzw. verlängert bis 2020, und ▶ als Folgeregelung ab 2020 bis 2050 das sog. „Pariser Klimaabkommen“, beschlossen 2015 auf der 21. Vertragsstaatenkonferenz (CoP 21, Paris/ Frankreich), in Kraft seit 2016, ergänzt durch ein „Regelbuch“ zu den konkreten Verfahren (2018 durch CoP 24, Kattowitz/ Polen). Die Aufgliederung der Klimaverhandlungen auf jährliche Arbeitskonferenzen der Mitglieder des grundlegenden Vertrages zu dessen Fortschreibung verschafft den Staaten und ihren wechselnden Regierungen Spielraum; so sind die USA z. B. Vertragsstaat der Rahmenkonvention, haben aber das Kyoto-Protokoll nie ratifiziert, verhandelten aber als Mitgliedstaat der Rahmenkonvention auf den weiteren Vertragsstaatenkonferenzen mit. Insbesondere ermöglicht ein solcher flexibler Prozess auf historischen Wandel zu reagieren, wie er seit den 1990er Jahren Struktur und Dynamik der Weltwirtschaft veränderte. Die Klimarahmenkonvention und das Kyoto-Protokoll waren noch geprägt vom Interessengegensatz zwischen wirtschaftsstarken und somit klimabelastenden Industrieländern und weniger entwickelten Ländern, die erst mal in die Lage kommen wollten, zum menschengemachtem Klimawandel beizutragen. Dem entsprechend hatte das Kyoto-Protokoll Verfahren und „flexible Mechanismen“ festgelegt, die Interessenkonflikte zwischen Staaten und Staatengruppen beim Klimaschutz mildern, indem sie den entwickelten Ländern ermöglichen, ihre Verpflichtungen kosteneffizient zu erfüllen: Emissionen können rechnerisch außerhalb des eigenen Staatsgebietes eingespart werden, wo das unter den geringsten ökonomischen Kosten und politischen Belastungen möglich ist, in Entwicklungsländern bzw. Ländern im Übergang zur Marktwirtschaft; ökologisch ist es ohnehin sinnvoller, gleich irgendwo eine neue Anlage auf dem umwelttechnisch neuesten Stand zu errichten als eine alte mühsam nachzurüsten. ▶ Lastenteilung (Burden Sharing oder auch „bubbling“) erlaubt Staaten-Gruppen, ihre Verpflichtungen gemeinsam zu erfüllen, also ihre Lasten und Vorteile untereinander umzuverteilen und so Differenzen synergetisch zu nutzen; die Europäische Union (EU) organisiert einen solchen Mechanismus, der die unterschiedlichen wirtschaftlichen Niveaus und Klimabilanzen der Mitgliedstaaten rechnerisch ausgleicht. ▶ In gemeinsamer Umsetzung (Joint Implementation/ JI) finanzieren Industrieländer Projekte in anderen Staaten, meist in ehemaligen Ostblock-Ländern, zur Emissionsreduktion oder Senkenerweiterung (z. B. Waldpflanzung), was dem Investor gutgeschrieben wird. <?page no="261"?> 261 8.5 Umwelt und Klima (environment) ▶ Im kontrollierten Emissionshandel (Emissions Trading) können sich Staaten von anderen Vertragsstaaten gegen Bezahlung zusätzliche ungenutzte Emissionserlaubnisse übertragen lassen, die dann von deren Kontingenten abgezogen werden - und auch durch die gemeinsame Umsetzung erworbene Reduktionseinheiten verrechnen; dieser ökologische Ablasshandel mit Verschmutzungsrechten wurde zwar heftig kritisiert, weil reiche Staaten sich so von ihren Verpflichtungen im Sinne der Rahmenkonvention teilweise freikaufen könnten, ermöglicht aber immerhin einen finanziellen Ausgleich zwischen Industrieländern und industriell weniger entwickelten. ▶ Ein „Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung“ (Clean Development Mechanism/ CDM) soll meist durch private Investoren unternommene Maßnahmen zur Emissionsreduktion in Entwicklungsländern fördern, wobei das Empfängerland vom Finanz- und Technologietransfer, das Geberland von kosteneffizienter Erfüllung seiner Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung profitiert; dabei drohen aber Mitnahmeeffekte, weil die Emissionsmengen der Entwicklungsländer ja nicht kontingentiert sind, da sie keiner Reduktionsverpflichtung unterliegen. Doch diese Mechanismen reichen nicht aus; zumal der Fokus auf einen Nord-Süd-Ausgleich ist politisch veraltet: Zur Zeit von „Rio“ produzierten die alten Industrieländer fast zwei Drittel der globalen Emissionen, heute nur noch ca. ein Drittel; 2030 werden die anderen Länder rund drei Viertel ausstoßen. Darauf reagierten die Vertragsstaatenkonferenzen mit einem mühsam ausgehandelten neuen Ansatz: Durch das Kyoto-Protokoll waren nur einige Industriestaaten dazu verpflichtet, Emissionen zu senken, aber mit dem nachfolgenden Protokoll von Paris verpflichten sich alle ratifizierenden Staaten, ihre Emissionen zu vermindern - wobei ärmere Länder finanziell und technologisch unterstützt werden; die eigenen Klimaschutzziele werden von den Staaten selbst bestimmt, die Maßnahmen und Ergebnisse müssen aber transparent gemacht werden: ▶ Ein „Klimaziel“ wurde von den Staaten als Selbstverpflichtung erklärt, aber nicht verbindlich vorgeschrieben: Begrenzung der Erderwärmung um höchstens 2 ℃ oder besser nicht mehr als 1,5 ℃ über dem vorindustriellen Niveau bis 2050. Damit ist erstmals in einem internationalen Vertrag eine globale Obergrenze verankert. Ferner wurde für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts das Ziel postuliert, Treibhausemissionen global auf netto Null zu reduzieren. ▶ Erreicht werden soll das ambitionierte Ziel bis 2050 nicht mehr mittels praktisch ohnehin nicht kontrollierbarer Verpflichtungen für Staatengruppen, sondern durch eigenständig formulierte Angebote der einzelnen Staaten von Zielen, was individuelle Umstände differenziert zu berücksichtigen erlaubt. ▶ Das völkerrechtlich bindende Protokoll nimmt alle Staaten in die Pflicht, einen nationalen Klimaschutzbeitrag („intended nationally determined contribution“/ INDC) zu erarbeiten und mit konkreten Maßnahmen umzusetzen; alle fünf Jahre müssen sie ihre Klimaschutzziele progressiv fortschreiben, also anheben. ▶ Jede Regierung muss einen nationalen Maßnahmenplan vorlegen und regelmäßig über dessen Durchführung und die Erreichung ihrer Ziele berichten, damit ihre Fortschritte <?page no="262"?> 262 8. Arbeitsbereiche der UNO transparent werden. Die Zusammenschau dieser Angaben erlaubt regelmäßig einzuschätzen, ob die Ziele des Abkommens insgesamt erreicht werden. ▶ Ärmere Länder werden finanziell und technologisch bei ihren Maßnahmen zum Klimaschutz unterstützt, u. a. mit zunächst jährlich ca. 100 Milliarden US- zur Finanzierung von Klimaschutz und -anpassung, später mit mehr Mitteln durch einen zu gründenden Klimafonds. ▶ Neben allen Bemühungen zur Erreichung des beschworenen „Klimaziels“ sollen aber zugleich zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels Fähigkeiten zur Klimaresistenz entwickelt werden, z. B. durch Wasserrückhaltesysteme wie Deiche; besonders betroffene Staaten sind dabei zu unterstützen - solange es sie noch gibt … Damit die Nahrungsmittelproduktion nicht gefährdet wird, muss sich die Landwirtschaft an die Verschiebung von Klimazonen anpassen. ▶ Finanzinvestitionen sind vereinbar zu halten mit klimaresistenter wirtschaftlicher Entwicklung bei niedrigeren Treibhausgasemissionen („Dekarbonisierung“). Damit versucht der multilaterale Klimaschutz politisch einen gemischten Ansatz zwischen einem auf verpflichtetenden allgemeinen Regeln basiertem System („top down“) und einer Kultur freiwilliger autonomer Zusagen („bottom up“): Jeder ratifizierende Staat ist in der Pflicht, sein Klimaziel zu definieren und einen Klimaplan vorzulegen, doch deren Inhalte sind nicht verpflichtend. Ohne „Weltregierung“ über den Staaten ist das wohl der einzige Weg der aufgeklärten Vernunft - aber kann sich die durchsetzen? Die Hindernisse für wirksamen Klimaschutz erweisen sich als schwer überwindbar - jedenfalls steigt die globale Erwärmung weiter an, während die diskutierten Maßnahmen in keinem vernünftigen Verhältnis dazu stehen. Abgesehen von technisch/ organisatorischen Problemen (bei Überwachungssystemen u. ä.) sind die schlimmsten Hemmnisse die weiter wirksamen Interessengegensätze zwischen Staatengruppen und der mangelnde politische Wille in Staaten mit den höchsten Emissionen, wie klassisch die USA und nun auch die VR China. Aber auch die EU und Deutschland sind vielleicht auf Konferenzen diplomatische Vorreiter, nicht aber in der eigenen Praxis: Dass angesichts der bedrohlichen Prognosen in einem der noch reichsten Länder der Welt mit großem Energiesparpotential weiterhin Braunkohle verbrannt werden muss, ist nichts als absurd. Multilaterale Kooperation fängt zuhause an; hier wie in „der UNO“ bleibt sie ein äußerst mühsames Geschäft, das selten unmittelbar greifbaren Ertrag bringt. <?page no="263"?> 263 8.5 Umwelt und Klima (environment) Multilateraler Klima-Schutz Staatengruppen (nach UNFCC) Staaten nach Annex I Entwickelte Länder und Länder in Transformation (ehem. Ostblock) Staaten nach Annex II Entwickelte Länder (alte Industrieländer) Non-Annex-Staaten Entwicklungsländer, besonders. betroffene Küsten-/ Inselstaaten nicht gesondert gelistet weit fortgeschrittene Entwicklungsländer („Schwellenländer“), neue Industrieländer Prinzipien Klima-Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Klimawandel ist ein gemeinsames und grenzenloses Problem der gesamten Menschheit ▶ Begrenzung der Souveränität ▶ Gemeinsame, aber zur Wahrung der Gerechtigkeit differenzierte Verantwortlichkeit ▷ Hauptlast und Führung für die entwickelten Staaten ▷ zunächst Sonderrechte und minimale Verpflichtungen für die Entwicklungsländer „Pariser Klimaabkommen“ ▶ „Klimaziel“ bis 2050: Begrenzung der Erderwärmung um höchstens 2 ℃ oder besser nicht mehr als 1,5 ℃ über dem vorindustriellen Niveau bis 2050 ▶ „Klimaziel“ bis 2100: Reduzierung von Treibhausemissionen global auf netto Null ▶ Alle Staaten werden zu Reduktion ihrer klimaschädlichen Emissionen verpflichtet, aber differenziert ▶ Keine unterschiedlichen Anforderungen an Staatengruppen ▶ Verpflichtung („top down“) zu selbstbestimmten Maßnahmen („bottom up“) ▶ Verzicht auf politisch nicht kontrollierbare formale Vorgaben ▶ Hoffung auf rationale Einsicht und ausreichend politischen Willen ▶ Transparenz der Maßnahmen und Zielerreichung ▶ Anpassung an die schädlichen Folgen der Klimaerwärmung Normen Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Ziel: Stabilisierung der anthropogenen Konzentration von Treibhausgasen (bes. CO2) in der Atmosphäre auf einem Niveau, auf dem eine gefährliche Störung des Klimasystems verhindert wird ▶ Gebot der internationalen Kooperation, auch unter Souveränitäts-Einschränkung ▶ Recht auf nachhaltige Entwicklung: Ressourcennutzung muss unter Beachtung der Pflicht zu nachhaltiger Sorgfalt möglich bleiben ▶ Vorsorge trotz/ unter Unsicherheit, aber mit Kosteneffektivität <?page no="264"?> 264 8. Arbeitsbereiche der UNO Multilateraler Klima-Schutz Regeln Rahmenkonvention (UNFCCC) gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Bestandsaufnahme der eigenen Klimabelastung (Quellen, aber auch „Senken“) ▶ Zusammenarbeit in Wissenschaft, Forschung, Technologietransfer ▶ Ausarbeitung nationaler/ regionaler Programme zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen ▶ Klimaschutz als Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche ▶ Förderung nachhaltiger Wirtschaftsformen ▶ Zusammenarbeit bei der Anpassung an Klimaänderungen ▶ Information/ Bildung/ Aufklärung des öffentlichen Bewusstseins gilt für Annex I ▶ Aktive Politik zur Verringerung klimaschädlicher Emissionen ▶ Regelmäßige Berichtspflicht gilt für Annex II ▶ Zusätzliche Mittel für finanzielle Hilfe an Entwicklungsländer ▶ Technologietransfer an Entwicklungsländer Kyoto-Protokoll 1997 gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Staaten können ihre Verpflichtungen gemeinsam erfüllen („bubbling“), um deren Wirkung synergetisch zu steigern ▶ Kooperation bei Technologie- und Ressourcentransfer gilt für Annex I ▶ Entwicklung/ Durchführung von konkreten Maßnahmen und Programmen ▶ Verbindliche und quantifizierte Senkung klimaschädlicher Emissionen bis 2012 auf das Niveau von 1990, also verpflichtende Reduktions-Ziele ▶ Nutzung flexibler Mechanismen (Emissionshandel, Joint Implementation, Clean Development Mechanism/ CDM) ▶ Berichterstattung über Erfüllung dieser Verpflichtungen „Pariser Klimaabkommen“ gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Die Regierungen müssen ihre konkreten Klimaschutz-Ziele erklären ▶ Die Regierungen müssen einen nationalen Klimaschutz-Plan („intended nationally determined contribution“/ INDC) erarbeiten ▶ Die Regierungen müssen darüber Berichte vorlegen ▶ Unterstützung/ Finanztransfer für ärmere Länder ▶ Orientierung von finanziellen Investitionen an nachhaltiger Klimaneutralität ▶ Enwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Anpassung die Klimaerwärmung bzw. von Fähigkeiten zur „Klimaresistenz“, dafür auch Unterstützung/ Finanztransfer Verfahren Rahmenkonvention (UNFCCC) Rio 1992 gilt für alle Vertrags- Staaten ▶ Die regelmäßig abzuhaltende Konferenz der Vertrags-Staaten (Conference of Parties/ CoP) ist das Entscheidungsgremium ▶ Einrichtung organisatorischer Strukturen (Sekretariat, wissenschaftliche/ technologische Beratung, Durchführung/ Überwachung, Finanzierungsmechanismus) ▶ Prozedurale Bestimmungen (Streitbeilegung, Vertragsänderung, Verabschiedung von Protokollen, Stimmrecht u. a.) Kyoto 1997 (CoP 3) ▶ Flexible Mechanismen zur Erreichung der Reduktionsziele ▶ Konkrete und technische Bestimmungen Paris 2015 (CoP 21) plus Kattowitz 2018 (CoP 24) ▶ Kriterien für Berichterstattung ▶ Vorlage des nationalen Berichts alle fünf Jahre ▶ Komitee zur Prüfung und Auswertung der Berichte ▶ Regelmäßige globale Bestandsaufnahme („global stocktake“) ▶ Fond zur Unterstützung ▶ → detailliertes „Regelbuch“ <?page no="265"?> 265 8.6 diverse spezielle Aufgaben und Arbeitsbereiche … Literaturverweis zu 8.5.4.: Klima-Erwärmung Bauer/ Pegels 2016; Edenhofer/ Jakob 2018, 2019; Hickmann/ Prem 2018; Ivanova 2010; Maier 2015; Reimer 2015; Simonis 2017 8.6 diverse spezielle Aufgaben und Arbeitsbereiche … Aus den großen fünf Arbeitsfeldern der UNO (siehe 8.1 bis 8.5) lassen sich weitere Aufgabenbereiche herausgreifen, deren internationale Bedeutung und damit auch Kooperationsdichte zunimmt: Vieles ist möglich - zum Beispiel: ▶ Die Not- und Katastrophenhilfe kann den Bereichen Friedenssicherung und Entwicklung zugerechnet werden, oder aber auch als eigenständige Problematik aufgewertet werden; ▶ bei Gesundheit als Problem internationaler Zusammenarbeit war das eigentlich immer schon so zu sehen; ▶ das Internet konnte man lange Zeit unter den Aspekten Koordination und Kontrolle in der Tradition der ältesten technisch motivierten internationalen Organisationen der Wirtschaft oder allenfalls der Sicherheit zubuchen, was sich als fataler Irrtum erweist; ▶ weniger überzeugen kann Sport als Feld multilateraler Zusammenarbeit, aber er hat bemerkenswerte soziale Funktionen und damit politische Aspekte. Not- und Katastrophenhilfe: Die Abteilung zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN Office for Humanitarian Affairs/ OCHA) im Sekretariat (siehe 6.1.6) ▶ mobilisiert und organisiert die internationale Not- und Katastrophenhilfe innerhalb des UN-Systems und ▶ koordiniert und integriert die Nothilfeleistungen, die ihr von Staaten und nationalen Hilfsorganisationen angeboten wird, damit Einsatzkräfte und Material auch unter chaotischen Bedingungen bestmöglich genutzt werden. Koodinationsinstrument ist das Inter-Agency Standing Committee (IASC) mit allen relevanten UN-Institutionen, internationalen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz (Red Cross) und den einschlägigen (I)NGOs. Ergänzende Aufgaben des Büros unter Leitung eines/ r eigenen Untergeneralsekretärs/ -in (Under-Secretary-General for Humanitarian Affairs) sind ▶ Analysen von akuten und potentiellen Notsituationen und ▶ Auswertung gemachter Erfahrungen und der Folgerungen ▶ für die präventive Ausarbeitung von Aktionsplänen. Die Finanzierung der dringlichsten Maßnahmen ermöglicht ein spezieller Fond (Central Emergency Revolving Fund/ CERF). <?page no="266"?> 266 8. Arbeitsbereiche der UNO Auch große Konferenzen wurden organisiert: ▶ 2005 in Kobe (Japan) die Weltkonferenz für Katastrophenvorbeugung (World Conference on Disaster Reduction/ WCDR) zur Reduzierung der Folgen von Katastrophen, ▶ 2016 in Istanbul (Türkei) der Weltgipfel für humanitäre Hilfe (World Humanitarian Summit/ WHS) zur humanitären Not- und Katastrophenhilfe. Gesundheit: Gesundheitsschutz und insbesondere Seuchenabwehr sind riesige Aufgaben geworden, nicht nur von existenzieller Bedeutung für alle „menschliche Entwicklung“, sondern auch wirtschaftlich immer wichtiger. Der Zugang zu Ärzten und Medikamenten und dessen Finanzierung sind das Hauptproblem, oft verschärft durch soziale Defizite und schlechte Arbeitsbedingungen sowie unzureichende Ernährung. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization/ WHO) in Genf ist seit 1948 eine der größten und aufgabenreichsten Sonderorganisationen der UNO mit mehr als 7000 Mitarbeitern aus und in mehr als 150 Ländern; ihr Mandat: ▶ Weltweite Förderung der Gesundheit, Sicherheit gegen Epidemien und Hilfe für Kranke - also gesundheitlicher Schutz und medizinische Versorgung für Milliarden Menschen. ▶ Bei Epidemien Notfallversorgung und Eindämmung; Prävention in riskanten Situationen; Eliminierung der Erreger. ▶ Bei Bedarf Beratung der jeweiligen nationalen Gesundheitspolitik, was politisch schwierig sein kann. ▶ Erhebung und Auswertung von gesundheitlichen Daten aller Art zu Prognose und Vorsorge. ▶ Abstimmung von internationalen Standards zur Einordnung und Beurteilung von Krankheitsbildern, z. B. die Festlegung von Grenzwerten. ▶ Größte Sorge: Resistenz gegen Antibiotika. Internet Das Internet ist im Prinizip anarchisch und dezentral an keine Standorte gebunden - also von Staaten auf Dauer weder verläßlich zu regulieren noch gar zu kontrollieren, auch nicht zwischenstaatlich-multilateral. Staaten sind als Inseln im Ozean des Internets nicht nur beschränkt in ihren faktischen Handlungsmöglichkeiten; schon grundlegende rechtliche Prinzipien sind selbst erosionsgefährdet durch die digitalen Stürme, weil es z. B. sehr schwierig ist, klare Kriterien für Fehlverhalten im Netz zu formulieren oder gar durchzusetzen. Staaten stellen als öffentliche Hand die technische Infrastruktur bereit, versuchen als Zensoren politisch unerwünschte Inhalte zu unterdrücken, bemühen sich als Kontrolleure um Schutz vor kriminellen Angeboten und finanzieren als Entwicklungshelfer die Schließung der Kluft („digital divide“) zwischen armen und reichen Ländern. Staaten wollten oder konnten bisher keine internationale Kontrollinstanz etablieren, doch das Internet wird nicht mehr nur als Spielwiese und Hoffnungsträger wertgeschätzt, sondern <?page no="267"?> 267 8.6 diverse spezielle Aufgaben und Arbeitsbereiche … auch schwerwiegende Probleme von genuin inter-/ transnationalem Charakter zeigen sich, u.a.: ▶ technisch-organisatorische Regelung und Koordination, ▶ Schutz des intellektuellen Eigentums, ▶ Einzug von Abgaben, Steuern und Zöllen, ▶ Kriminalitätsbekämpfung (Betrug, Geldwäsche, …), ▶ sicherheitspolitische Bedrohungen („Cyber“-Kriegsführung, Terrorismus), ▶ Gefahren der politischen Kommunikation (Manipulation, Fälschung, Haßpropaganda, Populismus, …). Neben der GV und dem SR sind zuständige UN-Institutionen die UNESCO, die WIPO und die WTO sowie die International Telecommunication Union (ITU) und dank ihr seit 2006 speziell das Internet Governance Forum (IGF). Die ITU hatte eine zweiteilige Fachkonferenz, den ▶ Weltgipfel über die Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society/ WSIS), 2003 in Genf (Schweiz), Teil 1, und 2005 in Tunis (Tunesien), Teil 2, organisiert, auf dessen Empfehlung das IGF 2006 in Genf als Diskussionsplattform eingerichtet wurde. Mit regelmäßigen Tagungen soll es Beratungen unter Staaten, internationalen Organisationen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft ermöglichen und Empfehlungen erarbeiten, kann aber keine bindenden Entscheidungen treffen. Sport Der Sport ist international in oft mächtigen, reichen und meist kommerziell orientierten Verbänden (für Fußball, Autorennen, Rad, Ski u.v.m.) auch ohne die UNO gut organisiert; das gilt auch für das Internationale Olympische Komitee (IOC), das dankenswerterweise weniger populären und umsatzstarken Sportarten Nischen bietet - und mit dem „olympischen Frieden“ während der Wettkämpfe ein klassisches Symbol besitzt. Die Eignung des Sports, Menschen zu motivieren, macht ihn nutzbar z. B. zur Integration von Menschenmassen in ein politisches System; weniger an Machtsicherung interessiert, sondern an Frieden und Entwicklung, hat die UNO den Sport seit langem als Instrument für soziale und wirtschaftliche Entwicklung, aber auch zur Friedenskonsolidierung nach oder schon in Konflikten gesehen und gebraucht. Neuerdings wurde er wiederentdeckt, diesmal für die Nachhaltigkeit (siehe 8.4.1); insbesondere zur Erreichung der Entwicklungsziele (SDGs, siehe 8.4.2) sei das Potential des Sports als Kraftquelle für die Mobilisierung von gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen zu nutzen. In der GV wurde unter dem Slogan „Sport for development and peace“ (z. B. A/ RES/ 72/ 6 von 2017 oder A/ 73/ L.36 von 2018) beschworen, Sport befördere Toleranz und Respekt, Frauen und junge Menschen, soziale Gemeinschaften, Gesundheit und Erziehung, Inklusion und Gleichstellung - nachhaltigen Frieden eben. Literaturverweis zu 8.6.: diverse Burci 2018; Esch 2018 <?page no="269"?> 9. Der Wert der Vereinten Nationen Überforderte UNO? (Weiss 2016, S. 19) „Many of the most intractable problems (ranging from pandemics to the proliferation of weapons of mass destruction) are transnational in scope; and addressing them successfully requires action that is not only multilateral (involving more than two states) but also global. The policy authority and resource capacity necessary for tackling such problems, however, remains vested in individual states rather than in the collective United Nations. Established in 1945 by sovereign states seeking to protect themselves against external aggression, the UN was not built to confront today’s numerous challenges.“ Der Wert der Vereinten Nationen ist schwer zu bestimmen, denn niemand kann wissen, wie die Welt nach 1945 ohne die UNO aussähe. Es gibt gute Gründe zu vermuten, ▶ dass wir die internationale Kooperation und ihre uns vielleicht zu selbstverständlich gewordenen Vorteile vermissen würden, ▶ dass eine ganz andersartige Weltorganisation nicht möglich gewesen wäre, ▶ dass die existierende UNO aber auch unter den gegebenen Bedingungen wirksamer sein könnte. Kritik an den Vereinten Nationen ▶ ist älter als diese selbst: Schon bei der Ausarbeitung der ersten Pläne für eine neue Weltorganisation während des Zweiten Weltkrieges wurde über ihre grundsätzliche Konzeption, ihre Struktur, ihre Aufgaben, ihre Handlungsmöglichkeiten gerungen zwischen Großbritannien und den USA, dann auch mit der Sowjetunion (siehe 3.2), wobei jeder mühselige Kompromiss aus guten Gründen sogleich und auf Dauer kritisiert werden konnte; ▶ wird konjunkturwellenförmig vorgetragen: Die meiste Zeit wird die UNO wenig beachtet, gelegentlich missachtet, doch immer wieder kommt es zu Phasen der öffentlichen Kritik und des Reformeifers, die nach gebührendem Diskurs fast immer wieder auslaufen ohne einschneidende Veränderungen (wie als eine der wenigen Ausnahmen die Ersetzung der Menschenrechtskommission durch den Menschenrechtsrat, siehe 8.2.2); ▶ ist sachlich oft berechtigt und die aus ihr erarbeiteten Reformvorschläge sind meist wohlbegründet zum Wohle der Menschheit, aber Kritik wie Forderungen sind selten frei von der motivierenden Rückbindung an die Interessen derer, die sie äußern, was besonders in den Auseinandersetzungen um eine Erweiterung des Sicherheitsrats mit neuen ständigen Sitzen zeigt; <?page no="270"?> 270 9. Der Wert der Vereinten Nationen ▶ unterschätzt gern die strukturkonservativen Beharrungskräfte im UN-System, die in multilateraler Politik besonders stark wirken, weil deren komplexe Arbeitsverfahren so mühsam erarbeitet werden müssen und sich bei fast jeder Änderung die Machtfrage stellt. Jede Kritik und jeder Reformvorschlag müssen folglich sogleich immer daraufhin geprüft werden, ▶ an wen oder was sie sich denn eigentlich richten, ▶ ob und wie der/ die Adressat/ en denn darauf reagieren könnte/ n ▶ und vor allem ob unter der angegebenen Adresse genügend politischer Wille zu mobilisieren ist ▶ oder wo auch immer sonst diese knappste aller Ressourcen zu finden wäre. In den Debatten darüber stehen durchsetzungsstarken machtpolitischen und materiellen Interessen meinungsstarke Visionen der friedlicheren und gerechteren „Einen Welt“ kritisch gegenüber, doch hinter der alten Schlachtordnung realistisch versus idealistisch zeigen sich differenziertere Situationen und Positionen. Kritik an der UNO wird am häufigsten und am schärfsten im reichen Nordwesten der Welt vorgebracht, wo man auf sie zumindest materiell am wenigsten angewiesen ist; die Bevölkerungen ärmerer Länder bzw. die Regierungen schwächerer Staaten schätzen den Wert der UNO höher ein - was nicht heißt, dass sie in Menschenrechts- oder Klimafragen wesentlich kooperativer sind. Zu oft sind die Grundlagen der gängigen Kritik an „der UNO“ schlichtes Unwissen über deren Spielregeln und Fehleinschätzungen ihrer Spielräume: Entstehungsbedingungen und Funktionslogiken internationaler Kooperation werden borniert ignoriert, Durchgriffsmöglichkeiten und Machtmittel gnadenlos überschätzt - und am schlimmsten - „die UNO“ wird für das Verhalten ihrer Mitgliedsregierungen verantwortlich gemacht, auch wenn eben diese ihr darauf keinen oder nur geringen Einfluss zugestehen. Das unverstandene Dilemma ist: Auf der Ebene der sachlichen Probleme zeigt sich Multilateralismus als überlebensnotwendig - aber politisch wird er nur freiwillig aufgrund von Einsicht in seine Vorteile verfolgt (siehe 2.2). Ein ärgerlicher Fall des Missbrauchs „der UNO“ als Sündenbock aus Gedankenlosigkeit und/ oder zur Ablenkung ist immer wieder zu beobachten, wenn schreckliche Bilder aus kriegerischen Konflikten öffentlich erregen (wie Somalia 1992, Bosnien 1994, Ruanda 1994, Libyen 2011 oder Syrien seit 2011): Das Instrument Sicherheitsrat wird dafür geschmäht, dass seine zugelassenen Benutzer es unzureichend oder falsch einsetzen (vgl. z. B. „Krieg in Syrien - Vereinte Nationen versagen brutal“, SZ vom 22.02.2018): Es versagt immer „die UNO“ wenn „der Sicherheitsrat“ es verfehlt, seine Pflicht und Schuldigkeit für den Frieden zu tun - nicht die USA, Russland, China und schon gar nicht Deutschland. Durchaus berechtigte Kritik an „der UNO“ und Forderungen nach ihrer Reform sind so - auch - zu politischen Ritualen geworden, die der problemverschiebenden Ablenkung, der eigene Untätigkeit tarnenden Ersatzhandlung und nicht zuletzt der Unkenntnis verschleiernden Wichtigtuerei dienen. <?page no="271"?> 271 9.1 Kritik und Reform: Optionen 9.1 Kritik und Reform: Optionen Eine umfassende Auflistung der vorgebrachten Kritik wie der vorgeschlagenen Reformen wäre sehr lang und auch verwirrend, denn die meisten Argumente sind nur in einem Bezugsrahmen von Annahmen darüber zu verstehen, wie die Situation denn wirklich ist und welche Lösungen möglich sind. Grundsätzliche Optionen wären die Sichtweisen, dass ▶ Ansatz und System der Weltorganisation falsch oder zumindest hinter der Entwicklung der Probleme zurückgeblieben sind, also von Grund auf zu erneuern oder zu ersetzen wären, wozu auch die VN-Charta in ihrer Substanz neu formuliert und beschlossen werden müsste; ▶ Institutionen der UNO und/ oder deren Arbeitsweise an vielen Stellen reformiert werden müssen, also einzelne begrenzte Strukturveränderungen sowie konkrete Korrekturen von Verfahren und Maßnahmen nötig sind, wozu auch Änderungen der VN-Charta erforderlich sein können; ▶ die UNO nur so gut sein kann wie ihre Mitgliedstaaten bzw. deren Regierungen zulassen, also die VN-Charta konsequent als systematischen Katalog von Verpflichtungen zu verstehen wäre, aufgrund dessen die meisten Regierungen erst einmal ihre eigenen Positionen und Verhaltensweisen zu reformieren hätten. Synopse Kritik & Reform Kritik Reform-Vorschläge Problematik ✖ der ganze Ansatz/ das ganze System ist falsch ➔ große anspruchsvolle Strukturveränderung ⇒ Änderungen der VN-Charta politisch sehr schwer möglich „realistische“ Position: multilateral-universale Kooperation kann (und soll? ) gar nicht funktionieren UNO ist verzichtbar ⇒ Scheitern internationaler Kooperation ⇒ Koalitionen der Mächtigen „idealistische“ Hoffnung: die UNO ist zu wenig repräsentativ und legitimiert, also sollen die National-Staaten sich einer zivilgesellschaftlich geführten „global governance“ unterordnen Änderung/ Erneuerung der VN-Charta zu wesentlichen Regeln/ Institutionen zwecks Neustrukturierung der internationalen Kooperation für andere politische Schwerpunkte ⇒ großenteils bislang chancenlos ⇒ Änderung der VN-Charta politisch extrem schwierig ⇒ Gefährdung der Bereitschaft zu internationaler Kooperation ✖ Institutionen und/ oder deren Arbeitsweise müssen an vielen einzelnen Stellen reformiert werden ➔ einzelne begrenzte Strukturveränderungen ➔ konkrete Korrekturen von Verfahren und Maßnahmen ⇒ weiterer Wildwuchs ⇒ orientierungslose Kompromisse ⇒ keine großen Durchbrüche institutioneller Ansatz: ordentliche rechtliche Regelung und Realisierung von besseren Verfahren und Instrumenten gezielte formale Änderung einzelner spezifischer Regeln/ Institutionen, auch Neugründungen u.ä. ⇒ sind formelle Änderungen der VN-Charta nötig? pragmatischer Ansatz: notfalls auch nur informell-faktische Realisierung von besseren Verfahren und Instrumenten … und dazu immer wieder inkrementelles „Durchwursteln“ („muddling through“) ⇒ realisierbar - de facto - durch flexibel-kreative Auslegungen der VN-Charta mittels Resolutionen? <?page no="272"?> 272 9. Der Wert der Vereinten Nationen Synopse Kritik & Reform Kritik Reform-Vorschläge Problematik ✖ die UNO ist nur so gut wie ihre Mitgliedstaaten bzw. deren Regierungen zulassen ➔ die VN-Charta konsequent als Katalog von Verpflichtungen verstehen ⇒ beeindruckt das die gemeinten Regierungen wirklich? ⇒ ändert das ihr Verhalten? Kritik des kritischen Reformismus: die eigentlichen Adressaten der Kritik sollten in die Pflicht genommen werden, nicht ihre Sündenböcke ständige zielgerichtete und konstruktive Kritik an Positionen und Aktionen der Staaten nach Maßgabe des politisch Möglichen ⇒ politische Legitimation? ⇒ sachliche Beurteilung? ⇒ ohne Sanktionsmacht ausreichend wirksam? Die erste radikalkritische Option profiliert sich in zwei gegenläufigen Varianten, einerseits eine „realistische“ Skepsis gegenüber allen internationalen/ multilateralen/ globalen Strategien, die an deren Stelle auf die Stärke des eigenen Landes setzt und auf die machtlose UNO zu verzichten bereit wäre, andererseits eine „idealistische“ Hoffnung auf die Lernfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit der Zivilgesellschaft zur Schaffung einer vernünftigeren Welt mittels einer allseits zu ertüchtigenden UNO als wirklicher Weltorganisation. Die Einschätzung dieser Positionen hängt davon ab, welche künftige Rolle man dem souveränen Staat zutraut (siehe 2.1): bleiben die Staaten die entscheidenden Akteure ohne übergeordnete Instanz - wie es strukturell den Vereinten Nationen von 1945 zugrunde liegt - oder werden die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren - dann bräuchte es eine ganz anders strukturierte UNO plus. Die zweite Option für institutionellen Wandel von bescheidenerer Reichweite verweist als Alternative auch auf eine unterschätzte Dimension politischen Handelns: das nicht zufällige, sondern durchaus wohlüberlegte pragmatische „Durchwursteln“ („muddling through“), das sich in der wirklichen multilateralen Welt als Strategie oft am besten bewährt hat, während weit ausholende Reformdebatten verkümmerten und fein ausgearbeitete Maßnahmenkataloge verstaubten; in der kreativen Fähigkeit zu dieser flexiblen Methode liegt womöglich das entscheidende Potential von internationaler Kooperation (siehe 7.6). Die dritte staatenkritische Option ist offen für Kritik und Reformideen aller Art, will diese aber immer zuerst an die Adresse der Regierungen der Mitgliedstaaten gerichtet sehen, zumal an die der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Das Problem aller Bestrebungen zur Reform der UNO liegt nicht darin, ob sie sachlich vernünftig sind, sondern ob sie politisch möglich werden können. Substantielle Änderungen setzen unbedingt formelle Änderungen des zugrundeliegenden Vertrages voraus - nur ist die VN-Charta inzwischen praktisch fast unänderbar: Von den Mitgliedern zu beschließende Änderungen des Vertragstextes (Kap. XVIII Art. 108-109) sind nicht unmöglich, aber sehr schwierig, denn die politischen Anforderungen an das korrekte Verfahren für jede rechtswirksame Reformulierung bilden sehr große Hemmnisse: Damit eine ausverhandelte Vertragsänderung auch in Kraft treten könnte, wäre nötig 1. eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Generalversammlung und 2. Ratifizierung seitens der Gesetzgeber in zwei Dritteln der Mitgliedsländer 3. inklusive aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. <?page no="273"?> 273 9.1 Kritik und Reform: Optionen Das politische Problem wären die nötigen Mehrheiten unter und in den Mitgliedstaaten, aber auch jahrlange Verschleppung der Ratifizierung böte eine reale Möglichkeit, eine Charta-Änderung zu behindern; und wieder hätten die ständigen Mitglieder uneingeschränkte Verweigerungsmacht. Die VN-Charta scheint also tatsächlich das Monument eines historischen Moments der Weltgeschichte zu sein, eine „gefrorene Entscheidung“ (siehe 2.3). Zwar ist die Charta bisher zweimal geändert worden (1963/ 1965 und 1971/ 1973), aber beide Änderungen waren politisch nicht umstritten; einerseits hatte die UNO noch weniger Mitglieder, andererseits machte der rasche Anstieg der Zahl der UN-Mitglieder die Vergrößerung von Gremien notwendig. Doch eine streitige Entscheidung zugunsten einer Charta-Änderung per Mehrheit ist einfach nicht vorstellbar; also bliebe nur ein breiter Konsens über den kleinsten gemeinsamen Reformwillen - nicht recht erfolgversprechend. Eine eigenartige aber wirksame Methode für eine Änderung ohne Veränderung der VN-Charta ist es, diese Änderung gar nicht erst als Abweichung vom verbindlichen Text der VN-Charta zur Kenntnis und somit stillschweigend hin zu nehmen (z. B. der Konsens, dass als „Veto“ nur eine explizite Nein-Stimme gilt, oder dass ein Sicherheitsratsmitglied zwar ausgetauscht wird, aber doch dasselbe bleibt) - die fünf ständigen Mitglieder müssen sich und gemeinsam bereit sein für derartig pragmatisches Vorgehen; zudem kann auch das nur gut gehen für eher formale Aspekte eigentlich unbestrittener Sachverhalte. Ein großer Teil der Kritik an der UNO richtet sich auf ihre komplexe und uneffiziente Struktur; den beklagten „Wildwuchs“ zu zähmen wäre für die Regierungen vergleichsweise einfach gewesen, aber meist ist es politisch opportuner oder jedenfalls bequemer, eine Neuerung unterhalb der Schwelle einer Charta-Änderung durchgehen zu lassen als sich dagegen zu stemmen. Internationale Organisationen nutzen für neuartige Problemen drei klassische - aus Innenpolitik und Alltagsleben wohlbekannte - Strategien: ▶ Bessere Koordination der bestehenden Institutionen, Gremien und ihrer Mitarbeiter Aktivitäten; ▶ Ausweitung des Aufgabenbereiches von vorhandenen Institutionen, Gremien und Mitarbeitern; ▶ Gründung neuer Institutionen, Gremien und die Einstellung neuer Mitarbeiter. Die einfachste Methode, die Arbeit von internationalen Organisationen neuen oder veränderten Aufgaben anzupassen, bleibt die unterschätzte aber vielgenutzte pragmatische Koordination: Durch gezielten Informationsaustausch, abgestimmte Maßnahmen oder integrierte Programme sind bestehende Aktivitäten wirksamer zu machen und die Leistungsfähigkeit der gegebenen Strukturen zu erhöhen, um nötigenfalls neue Aufgaben zu bedienen; darauf zielt auch die vor Neugründungen warnende Losung, das anzupackende Problem sei eine „Querschnittsaufgabe“ für alle etablierten Bereiche. Neue Arbeitsbereiche zu den bestehenden in einer Organisation hinzuzufügen ist nicht immer erfolgreich. Ob altgediente wirtschaftsund/ oder entwicklungspolitische Agenturen (wie z. B. die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation/ FAO) auch ökologische Probleme <?page no="274"?> 274 9. Der Wert der Vereinten Nationen aufgreifen und angemessen verarbeiten konnten, ist umstritten; sie stellten sich zwar den neuen Fragen und Anforderungen, wurden aber kaum zu Agenten umwälzender Innovationen. Dagegen erlaubt das Neu- oder Ausgründen von Institutionen, neue Instrumente mit einem klaren Mandat und vielleicht sogar mit den nötigen Mitteln zu versehen, um das neue Thema zu etablieren, die zu erfüllenden Aufgaben politisch aufzuwerten, neue Methoden einzuführen und frisches Personal einzusetzen. Während bei einer billiger und schneller umzusetzende Ausweitung von Aufgaben und Kompetenzen sich das Neue gegenüber dem Alten womöglich nicht recht durchsetzen kann, verschafft eine teurere und oft zeitraubende Neugründung dem Neuen einen eigenständigen Bereich, der aber dann durchaus randständig bleiben kann. Das Gründen neuer Ausschüsse/ Kommittees/ Organisationen usf. hat jedenfalls politisch den Charme eines bewährten Rituals zur Entschärfung oder Verschiebung von akuten Problemen; die Methode „Gründen wir einen Ausschuss, der sich in Ruhe drum kümmern kann …“ hält jedenfalls Situationen und mögliche Auswege offen. 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge Kritik und Verbesserungsvorschläge an Struktur und Funktionsweisen beleben immerhin die Wahrnehmung der UNO und die Diskussion um ihre Aufgaben, selten heben sie ihre Wertschätzung. Jedenfalls scheint das Verfallsdatum konstruktiver Vorschläge immer früher einzutreten; die Reformdebatten wirken schwerfällig und umständlich, während die Umstände und Themenkonjunkturen sich oft rasch wandeln - ein weiterer Grund, warum eine Sichtweise, die eher auf informelle und inkrementelle Veränderungsprozesse achtet, den realen Entwicklungen angemessener sein dürfte. Reformvorschläge kommen aus der politischen Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, aus Publizistik und Wissenschaft, selten direkt von Mitgliedsregierungen; die interessantesten Beiträge stammen oft aus dem UN-Apparat selbst, wie der Brahimi-Bericht zur Reform der Blauhelm-Einsätze von 2000 (siehe 8.1.2) oder 2004 die Empfehlungen zur UN-Reform des von Generalsekretär Kofi Annan angeregten „High-Level-Panel on Threats, Challenges and Change“, die dann in den Bericht des Generalsekretärs von 2005 („In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für alle“; A/ 59/ 2005) als offizielle Reform-Agenda eingingen, u. a. detaillierte Vorschläge zur Erweiterung des Sicherheitsrats. Viele der Empfehlungen wurden in die Praxis der UNO eingearbeitet, aber zu einer großen strukturellen Reform reichte es nicht; die meisten Empfehlungen geben wenigstens Stoff für die fortwährende Reformdebatte; diese Initiative des 2018 verstorbenen Kofi Annan war der vorerst letzte ernstgemeinte Anlauf. Die meistverbreiteten Themen von Kritik und Reformdiskussion betreffen ▶ Kompetenzen und Legitimität, politische Wirksamkeit und praktische Effizienz sowie Reformfähigkeit der UNO generell, im Einzelnen ▶ Bedeutung und Leistung der Generalversammlung, ▶ mangelnde Repräsentativität des Sicherheitsrats wegen seiner Zusammensetzung und des Vetorechts sowie seine politischen Prioritäten und Entscheidungsmaßstäbe, <?page no="275"?> 275 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge ▶ politische und administrative Überforderung des ECOSOC wegen unklarer Kompetenzabgrenzungen und des unkontrollierten Wildwuchses des sog. UN-Systems ▶ und schließlich die politische Rolle des Generalsekretärs und die Effizienz des Sekretariats. In der Übersicht sind die kritischen Argumente ( ➔ ) genannt und kurz analysiert, Reformvorschläge ( ) dazu und die wichtigsten Probleme ( ✗ ) dabei aufgelistet sowie einschätzende Kommentare (⇒) angeboten. Übersicht: Kritikpunkte und Reformvorschläge Analyse Vorschläge ✗ Probleme ⇒ Kommentar → UNO generell ➔ Die UNO hat zu geringe Kompetenzen Die Institutionen der UNO müssen mit den eng begrenzten Befugnissen arbeiten, die ihnen die Charta der Vereinten Nationen als Mandat gegeben hat; dies war und ist offenbar noch der völkerrechtlich fixierte politische Wille der Mitgliedstaaten, für die im Zweifel das Prinzip der souveränen Gleichheit absoluten Vorrang hat vor internationaler Kooperation oder Intervention Übertragung politischer Kompetenzen von den Staaten auf die UNO - d. h. kaum widerrufliche Abgabe von Souveränität und Macht ✗ Für die Reform der UNO zu einer politisch eigenständig handlungsfähigen Welt-Organisation wäre dies in einem Ausmaß nötig, zu dem bisher kein Staat auf Kosten seiner Souveränität bereit ist ⇒ Mit kreativ-flexibler Auslegung der VN-Charta an kritischen Stellen in drängenden Situationen waren für unvorhergesehene Probleme aber oft praktikable Maßnahmen zu finden ⇒ - keine großen Lösungen, aber wegweisende Musterfälle einer inkrementellen „Reform“ in kleinen Schritten (siehe 7.6) ➔ Ihre Mitgliedstaaten fordern und fördern die UNO zu wenig; sowohl der Wille zu Reformen sowie ausreichende Unterstützung für die wachsenden Aufgaben fehlen Das ist beides richtig - aber welche Mitgliedstaaten: alle oder fünf, die reichen oder die armen, die vielen kleinen oder die wenigen großen? Gegen die Mehrheit der Staaten und speziell gegen den Willen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (p5) geht gar nichts, ohne deren politischen Willen nur wenig Politischen Willen mobilisieren für Multilateralismus - leider eine sehr knappe Ressource ✗ Populistisch verstärkt ist der Vorrang der nationalen Interessen wirksamer - in demokratisch regierten Rechtsstaaten meist nicht weniger als in andern ⇒ Pauschale Kritik an der UNO ist ein westliches Phänomen, aber kein Thema in Ländern, in denen die Regierung und zumal viele Menschen multilaterale Maßnahmen und Hilfen brauchen ⇒ Radikale Kritik am Multilateralismus verkennt die faktische Notwendigkeit internationaler Kooperation ➔ Der UNO fehlt demokratische Legitimation Die UNO ist eine internationale Regierungsorganisation und gründet also auf dem zwischen den souveränen Staaten geltenden Völkerrecht auf der Basis von zwischen diesen Staaten geschlossenen Verträgen - unabhängig von der Regierungsform der Staaten und deren demokratischer Qualität; demokratische Legitimation kann es in einem multilateralen System allenfalls partiell und indirekt geben, insoweit einzelne Regierungen teilnehmender Staaten tatsächlich demokratisch verfasst sind - was nur für eine Minderheit gilt Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen aus demokratisch gewählten Volksvertretern ✗ Kein „Weltparlament“ - das ist nicht möglich mangels Weltstaat oder vergleichbarem institutionellen Rahmen ✗ Die Volksvertreter in der existierenden „Interparlamentarischen Union“ sind nicht direkt gewählt, sondern von den nationalen Parlamenten delegiert; sie hat keine politischen Kompetenzen ⇒ Grundlegendes Prinzip der Zusammenarbeit der Staaten in der UNO ist die „souveräne Gleichheit“ aller Mitgliedstaaten (VN-Charta Art. 1, 2; siehe 4), also „ein Land = eine Stimme“) ⇒ - dies steht in Widerspruch zum demokratischen Prinzip „eine Person = eine Stimme“ ⇒ Denkbar wäre ein Zweikammersystem (Abgeordnetenhaus vs. Staatenkammer) mit austarierten Kompetenzen, was aber die Macht der Generalversammlung weiter schwächen und so dem Interesse der meisten Regierungen zuwiderlaufen würde <?page no="276"?> 276 9. Der Wert der Vereinten Nationen Übersicht: Kritikpunkte und Reformvorschläge Analyse Vorschläge ✗ Probleme ⇒ Kommentar ➔ Mangelhafte Kompetenzabgrenzungen unter zu vielen Neben-/ Unterorganen und Büros führen zu Überlappungen/ Doppelungen der Arbeit der UNO und behindern ihre Effizienz durch Zeit- und Ressourcenverschwendung Das ist zu oft richtig - im politischen Management wie in Feldeinsätzen; z. B. wer ist wie und womit jeweils zuständig für akute kurzfristige Katastrophen-/ Nothilfe und wer für mittelfristige Wiederaufbauhilfe und langfristige Entwicklungshilfe? Mandate der zuständigen und aller beteiligten Institutionen eindeutig formulieren und konsequent mit den nötigen Ressourcen unterlegen ✗ Politisch ist das aber Sache der Mitgliedstaaten ⇒ Da die Sonderorganisationen weitgehend autonom sind, können mehrschichtige Entscheidungs- und Lenkungsprozesse nicht vermieden werden ⇒ Unklare Kompetenzen können politisch durchaus auch nützlich sein ➔ Die UNO wird nur in Konflikten aktiv, die viel Beachtung in den Medien finden und vernachlässigt andere (wie 1994 in Ruanda) Allein der Sicherheitsrat entscheidet mit Mehrheit, ob es eine zu behandelnde Bedrohung für Frieden und Sicherheit überhaupt gibt (siehe 4); die ständigen Mitglieder können das für jedes Problem verhindern Reform der Arbeitsweise des Sicherheitsrates …? Objektive und verbindlich Kriterien, gleiche Maßstäbe ✗ Desinteresse der politischen Öffentlichkeit in wichtigen Staaten ⇒ „Wenden Sie sich an Ihren nationalen Außenminister“ ⇒ „Wenden Sie sich an die Medien Ihres Landes“ ⇒ - oder gar an deren Publikum? ➔ Gremien der UNO, bes. der Menschenrechtsrat (HRC), werden zu sehr mit der Verurteilung Israels beschäftigt Mit den Stimmen der arabischen und deren befreundeten Staaten ist das im Rahmen der VN-Charta und der jeweiligen Geschäftsordnungen möglich Bessere Bearbeitung des Nahostkonfliktes ✗ Friedliche Lösung nicht absehbar ⇒ Das ist ein politisches Problem ⇒ - also keine Frage der auch immer einseitig ausnutzbaren Verfahrensweisen der UNO ➔ Reformen gelingen nicht oder viel zu langsam und unzureichend So pauschal ist das nicht richtig; unterhalb der Schwelle der Änderung der VN-Charta ändern sich Institutionen und Verfahren angesichts neuer bzw. veränderter Themen und Aufgaben häufig - aber eben im Rahmen der Regeln der multilateralen Diplomatie und des internationalen Rechtes Neben dem Warten auf eine neue grundlegende Reform historischen Ausmaßes ✗ - die unwahrscheinlich ist - bleibt nur die Methode der unspektakulären kleinen Schritte im Sinne einer ständigen inkrementellen „Reform“ („muddling through“; siehe 7.6) ⇒ Ihre eigene Grundstruktur und ihr Mandat kann „die UNO“ allerdings nicht selbst ändern - das müssten ihre Mitgliedstaaten schaffen … ⇒ Die Methoden des „Durchwurstelns“ folgen keinem rationalen Plan, sondern entwickeln die UNO nur „gelegentlich“ fort → Sicherheitsrat ➔ Die Zusammensetzung des Rates entspricht in der Gewichtung der nicht-ständigen und besonders der ständigen Mitglieder (p5) nicht mehr den realen Verhältnissen und deren Entwicklung Die Weltregionen sind ungleich vertreten, geographisch wie sozioökonomisch - aber: angemessene Kriterien und konkrete Maßstäbe für die Gewichtung bleiben umstritten Erweiterung ✗ - Ineffizienz? Weitere ständige Sitze ✗ - Vetorecht? ⇒ Ein zu großer Rat würde nicht effizient funktionieren ⇒ Wer soll neue ständige Sitze erhalten - und wer nicht? ⇒ Sitze welcher Art, mit oder ohne Vetorecht? <?page no="277"?> 277 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge Übersicht: Kritikpunkte und Reformvorschläge Analyse Vorschläge ✗ Probleme ⇒ Kommentar ➔ Das Vetorecht der Ständigen Mitglieder (p5) ist nicht mehr zu rechtfertigen und wirkt destruktiv Privilegien für real vor-mächtige Staaten sind normativ leicht zu kritisieren, was aber wenig am Faktum einer Vormachtstellung - von USA, RF und VRCh - ändert: Das Vetorecht ist für andere Staaten ein hoher, aber wenigstens transparenter Preis für mulilaterale Mitarbeit der Regierungen der p5, die gern zu glauben neigen, ohne auszukommen Vetorecht abschaffen Vetorecht einschränken ✗ nicht möglich gegen die p5 freiwilliger Verzicht auf die Ausübung des Vetorechts wenigstens bei Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Begründung der Ausübung des Vetorechts danach in der Generalversammlung ⇒ Substantielle Änderung der VN-Charta wäre nötig ⇒ Vorrechte der mächtigsten Staaten sind ärgerlich, aber politisch wichtig, damit sie zu kooperieren bereit sind ⇒ Verzicht ist eben nicht verpflichtend ⇒ Wenigstens müsste vor der „Weltgemeinschaft“ explizit argumentiert werden ➔ Der Rat setzt oft nicht die angemessenen Prioritäten und fokussiert zu stark auf wenige Themen Heikle Themen werden gegen den Willen eines oder mehrerer ständiger Mitglieder nicht behandelt; sachlich wichtige Themen ohne Aufmerksamkeit erzwingenden akuten Konflikt oder ohne mediale Beachtung werden vernachlässigt Stärkung der Rolle des Generalsekretärs? Mehr Anregungen aus dem UN-System? mehr öffentlicher Druck? ✗ Desinteresse von Medien und Öffentlichkeit ⇒ Das Problem bleibt, dass es keine Instanz in der Welt gibt, die imstande wäre, die Agenda des Rates zu bestimmen ⇒ außer seinen Mitgliedern selbst und also den diese lenkenden politischen Kräften ➔ Unterschiedliche Kriterien bei der Beurteilung von Situationen ➔ Unterschiedliche Maßstäbe für die Mandatierung von Maßnahmen wie Sanktionen Das ist oft zutreffend, entsteht aber weniger aus Struktur und Verfahren des Rates, sondern jeweils aus der Wahrnehmung der spezifischen Situation und politischen Interessenlagen „Gerechte“ Anwendung gleicher Kriterien „Gerechte“ Anwendung gleicher Maßstäbe ✗ Unpolitische Festlegung von Kriterien und Maßstäben? ⇒ „Gleichbehandlung“ von Fällen ist allenfalls von einem Gericht zu erwarten, ⇒ aber nicht im hot spot des mächtigsten Gremiums der internationalen Politik → Generalversammlung ➔ Das größte und formal oberste Organ der UNO bleibt ein „zahnloser Tiger“ ohne Kompetenz zu verbindlichen Entscheidungen und ohne irgendwelche Durchgriffsrechte Hinter zu viel Unwesentlichem sind ihre Debatten in der Sache oft hochwertig, aber politisch selten folgenreich; manche ihrer Beschlüsse sind symbolpolitisch gewichtig, aber operativ sind sie alle unverbindlich - verpflichten niemanden zu nichts, können aber Themen setzen und die Richtung von Verhandlungen weisen; somit können sie indirekt die Weiterentwicklung des internationalen Rechts stimulieren, z. B. durch Interpretation geltender oder Empfehlung neuer Verträge Echte Entscheidungs- und wirksame Handlungskompetenzen ✗ Aufgrund von Mehrheitsentscheidungen! ? Thematische Konzentration ✗ Wer darf das moderieren? Entschiedeneres Auftreten ✗ Stärke zeigt sich im multilateralen Geschäft nicht im Auftrumpfen, sondern im Gewinnen von Einfluss ⇒ politisch nicht durchsetzbar ⇒ Mehrheitsentscheidungen gegen den Willen mächtiger Staaten würde deren Kooperationsbereitschaft beenden ⇒ Die Generalversammlung ist gar nicht konzipiert als entscheidungskräftiges Organ, sondern tatsächlich als „Debattierclub“ - sie hat die Aufgabe, die widersprüchliche Welt auf deren größter Bühne zu spiegeln <?page no="278"?> 278 9. Der Wert der Vereinten Nationen Übersicht: Kritikpunkte und Reformvorschläge Analyse Vorschläge ✗ Probleme ⇒ Kommentar ➔ Die meisten Debatten sind unproduktiv oder irrelevant - oder bloß rituell Das hängt ab von der Bedeutung der symbol-/ politischen Funktion - z. B. der Ritualität Filterung der Tagesordnung Straffung der Debatten ✗ Sachliche Vorgaben? ⇒ Jede Regierung hat das volle Recht, sich zu äußern, wozu und wie sie es will ➔ Die Zivilgesellschaft ist ausgeschlossen, nur Staatenvertreter können reden und verhandeln Das liegt in Natur und Logik einer zwischenstaatlichen Regierungsorganisation: Nur die Staaten vertreten durch ihre Regierungen haben das Sagen Wirksame Mitwirkungsrechte für (I)NGOs Ergänzen um direkt gewählte und die Völker vertretende „Weltversammlung“ ⇒ Die meisten Regierungen schätzen ambitionierte Konkurrenten nicht ⇒ Kein „Weltstaat“, zumal kein demokratischer, als Rahmen → Wirtschafts- und Sozialrat/ ECOSOC ➔ Die Kompetenzabgrenzungen zur Generalversammlung und anderen Institutionen sind nicht eindeutig Die Bestimmungen der VN-Charta für den Wirtschafts- und Sozialbereich sind unpräzise; zumal die Kompetenzabgrenzung zwischen ECOSOC und Generalversammlung ist viel zu vage geblieben Änderung der VN-Charta; Reformulierung der Mandate bezüglich der Verteilung der Aufgaben und Mittel Reorganisation und bessere Koordination auf Arbeitsebene; kreatives „Durchwursteln“ ⇒ Schwierigkeit einer Änderung der VN-Charta ⇒ Der politische Wille vieler Staaten ist je nach ihrer Interessenlage fragwürdig ⇒ Gefahr, dass beide Organe ihre Aufgaben nicht ausreichend im Griff haben ➔ Mandat und Zuschnitt des ECOSOC entsprechen nicht mehr den veränderten bzw. neuen Problemen (bes. Umwelt/ Klima) Zwar wurden neuartige Herausforderungen irgendwie in seinen Betrieb integriert, doch der ECOSOC scheint dauerhaft überfordert zu sein durch die wachsenden globale Probleme zum einen, zum anderen mit dem Management der lange Zeit ungehinderten institutionellen Evolution der UNO als - auch hilfloser ritueller - Reaktion darauf Mandat erweitern Stimmengewichtung nach Bevölkerungszahl versus Stimmengewichtung nach Wirtschafskraft? ✗ Bleibt Fehlkonstruktion Ersetzen durch einen kleinen „ESEC“ („Ecomic, Social, and Environmental Council“) mit effektiven Kompetenzen ✗ Zusammensetzung schwierig ⇒ Der Aufgabenbereich wurde schon im Geist der VN-Charta ausgeweitet/ ergänzt ⇒ Damit wurde eine Änderung der VN-Charta umgangen ⇒ Stimmengewichtung wäre politisch nicht durchsetzbar bzw. konterproduktiv ⇒ Substantielle Änderung der VN-Charta für „ESEC“ nötig ⇒ Südliche Mehrheit der UNO ➔ Die Koordination des „UN-Systems“, insbesondere der Sonderorganisationen, ist unzureichend: der Wildwuchs von Neben-/ Unter-/ Spezial-Organen, Ausschüssen und anderen Institutionen ist unkontrollierbar geworden Die Bestimmungen der VN-Charta zur Organisation des gesamten sog. UN-Systems sind ebenfalls vage, dem ECOSOC geben sie dazu eher formale als politische Funktionen; über Jahrzehnte haben besonders GV und ECOSOC immer neue Gremien und Organe mit oftmals ähnlichen oder sich überdeckenden Aufgaben eingerichtet - aber es fehlen Durchgriffsmöglichkeiten, den institutionellen Wildwuchs zu lichten und eine wirksame Koordination zu leisten Straffung des institutionellen Gefüges, auch durch Zusammenlegung und Schließung einzelner subsidiärer Organe, Abteilungen, Kommissionen Effiziente Koordination Funktionierende Organisationsmethoden Bei allen Neugründungen Einbau eines zeitgesteuerten Selbstzerstörungs-Mechanismus, also eines eindeutig befristeten Mandats ⇒ Eine straffe politische und administrative Führung liefe der Logik multilateraler Zusammenarbeit zuwider ⇒ Also gibt es keine effektive übergreifende Instanz zur Koordination „der UNO“ ⇒ - wohl aber einige Mechanismen und Gremien zur Abstimmung der Arbeit, die sich aus der Praxis heraus entwickelt haben ⇒ Effektive Befristungen würden die Effizienzverluste durch die Ewigkeitsgarantie verhindern <?page no="279"?> 279 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge Übersicht: Kritikpunkte und Reformvorschläge Analyse Vorschläge ✗ Probleme ⇒ Kommentar ➔ Seit Jahrzehnten werden immer wieder „Entwicklungsziele“ rituell verkündet - aber nie erreicht Wegen der steigenden Migration wird gerne gefordert, auch wirtschaftliche „Fluchtursachen“ seien nun dringend zu „bekämpfen“ - wo doch schon seit den 1960er-Jahren in der UNO Hunger, Armut und soziale Missstände rhetorisch hart bekämpft werden mittels hoffnungsträchtiger „Entwicklungsdekaden“ und definitiv demnächst zu erreichender „Entwicklungsziele“ (wie die jüngst verfehlten MDGs oder die aktuell angesagten SDGs; siehe 8.4.2) Überprüfung der „Entwicklungshilfe/ -zusammenarbeit“, die zu oft mehr politisch als fachlich bestimmt ist Ehrlichere Problemsicht Mobilisierung politischen Willens ✗ Desinteresse der wahlberechtigten Bevölkerung in den reichen nordwestlichen Ländern ✗ Priorität des wirtschaftlichen Wachstums dominiert auch im globalen Süden politisch ⇒ Der „Kampf gegen die Armut“ bleibt zu oft nur symbolische Politik mit Schlagworten und Etiketten ⇒ Angesichts der schlimmen Lebensbedingungen von über einer Milliarde Menschen ist dies skandalös, angesichts der vielen ungenützten Möglichkeiten durch multilaterale Zusammenarbeit zynisch ⇒ Auch Klimawandel und Umweltzerstörung könnten nachhaltiger bleiben als unser Handeln dagegen → Sekretariat/ Generalsekretär ➔ Zu geringe Bedeutung des Amtes des Generalsekretärs Immer war unklar, ob der Generalsekretär eher „General“ oder „Sekretär“ sein soll - oder ohnehin nur Sündenbock (SG = scape goat); die entscheidenden ständigen Mitglieder tendieren klar zur dienenden Rolle Mehr eigenständige Befugnisse und Mittel ✗ - woher kommen die? Wahl starker Persönlichkeiten ✗ - die aber nicht stören sollen ⇒ Letztlich stellen die ständigen Mitglieder gemäß ihren Anforderungen die Kandidat/ inn/ en auf ⇒ - und küren auch mal einen schwachen Generalsekretär als Kompromiss ➔ Wahl des/ der GS intransparent Fast alle Mitgliedsländer haben dabei letztlich wenig zu sagen, die ständigen Mitglieder müssen sich auf eine Person einigen und der Generalversammlung zur rein formalen Zustimmung vorschlagen Festlegung von Auswahlkriterien Öffentliche Vorstellung der Kandidat/ inn/ en Transparentere Entscheidungsfindung? ⇒ Erschwert wird die Auswahl durch das ungeschriebene Gesetz, dass der Posten den regionalen Ländergruppen (siehe 7.4) in einer bestimmten Abfolge zusteht ➔ Ineffizienz der internationalen Bürokratie des Sekretariats und seines Personals Das Sekretariat scheint zu aufwendig, aber zu wenig effektiv zu arbeiten; statt klarer Führung bzw. Koordination des UN-Systems oft Doppelungen Management verbessern Straffen des Apparates, auch Personalabbau Kosten verringern → … vgl. das weltweit populäre Gemecker über eine unfähige und verschwenderische, aber übermächtige Bürokratie „da oben“ … Viele in der Sache vernünftige Vorschläge würden eine Änderung der Charta erfordern, die sich aber als „Geschichte verschlüsselt in Regeln“ (siehe 2.3) nach einem dreiviertel Jahrhundert gegen jede Neuerung sperrt, die nicht auf breitem Konsens gründet; das historisch begründete Regelwerk ist politisch immun, solange die Mehrheit der Staaten und darunter alle mächtigen es nicht in die gleiche Richtung umformulieren wollen. Aus der Nachkriegssituation einer teilweise zerstörten Welt verständlich ist die praktische Trennung der weltwirtschaftsbezogenen Bretton-Woods-Institutionen (Weltwährungsfond/ IWF und Weltbank/ IBRD; siehe 5.3) vom System der vorrangig mit Sicherheitsfragen beschäftigten politischen Organisation (siehe 3.2): Der wirtschaftliche Wiederaufbau war drin- <?page no="280"?> 280 9. Der Wert der Vereinten Nationen gend und aussichtsreich, während und weil die Politik schon in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges zwischen Ost und West zu erstarren begonnen hatte. Zwar sind - aufgrund der Einsicht in die vielfältigen und engen Wechselwirkungen von Wirtschaft und Gesellschaft einerseits und den Ursachen von Krieg und den Chancen für Frieden andererseits - in der VN-Charta ehrgeizige Formulierungen zur Gründung eines Wirtschafts- und Sozialrates zu finden, aber dessen Instrumentarium hat sich zwar im Umfang stark, in seiner politischen Bedeutung aber schwach entwickelt. Dass damit keine abgestimmte multilaterale Wirtschafts- und Handelspolitik erarbeitet werden konnte, ist eines der vielen Probleme der UNO, die auf ihre Gründungsgeschichte zurückgehen. Wegen seiner politischen und administrativen Überforderung, seiner unklaren Kompetenzen und des unkontrollierten Wildwuchses in seinem Bereich ist der Vorschlag naheliegend, den ECOSOC durch einen kleineren und deswegen effektiver arbeitenden ESEC („Ecomic, Social, and Environmental Council“) zu ersetzen, der nach dem Muster des Sicherheitsrats für Krieg und Frieden ein weitreichendes Mandat mit entsprechenden Kompetenzen für Wirtschaft, Soziales und Umwelt haben müsste. Weil es um Überlebensfragen großer Teile der Menschheit geht, wäre das in der Sache höchst wünschenswert, aber weil dazu auch die Verteilung von sehr viel Geld und Ressourcen gehört, wäre angesichts des globalen Nord/ Süd-Gegensatzes eine problemgerechte Konstruktion politisch äußerst schwierig. Zumal jene autonomen besonderen Sonderorganisationen Internationaler Währungsfond (IMF), Weltbank (IBRD) und Welthandelsorganisation (WTO) würden sich einem ESEC sicherlich nicht so einfach unterordnen - auch wenn alle dieselben Mitglieder hätten. Und: eine tiefgreifende Änderung der VN-Charta wäre nötig. Keine Änderung der VN-Charta war nötig, als 2006 ein Nebenorgan des ECOSOC nach langem Streit abgeschafft und von der Generalversammlung eine Neugründung beschlossen wurde: der Menschenrechtsrat (Human Rights Council/ HRC) ersetzte die gescheiterte Menschenrechtskommission (CHR; siehe 8.2.2); wohlweislich hatte die weiterreichende Reformidee, einen Menschenrechtsrat als siebtes Hauptorgan der UNO zu etablieren, keine Chance. Die respektable, aber schwerfällige Generalversammlung wird weniger harsch kritisiert, doch ihre politische Bedeutung und Leistung ist leicht zu bemängeln, gerne das in ihr gebotene plan-, end- und folgenlose Gerede; einerseits wird die fehlende oder geringe rechtliche Bindekraft ihrer Beschlüsse beklagt, andererseits ihr fragwürdige demokratische Legitimation vorgeworfen (siehe 6.1.1). Ein dem abhelfender struktureller Umbau und ein politischeres Mandat würde nicht nur die UNO fundamental verändern, sondern bei der Generalversammlung mehr Machtkompetenzen anlagern als ihr ihre Mitgliedstaaten bei und seit der Gründung zuzugestehen bereit waren. Stattdessen wurde stetig diskutiert und versucht, die Generalversammlung in die Lage zu versetzen, wenigstens die ihr von der VN-Charta zugeschriebene Rolle ertragreicher auszufüllen; dazu wären vor allem ihre Arbeitsmethoden zu reformieren. Konkrete Vorschläge wurden kaum umgesetzt, was wiederum vermuten lässt, dass weniger einer Organisations- und Managementschwäche der UNO abzuhelfen ist als ein politisches Problem auf der Seite der maßgeblichen Mitgliedstaaten zu lösen wäre. Doch bleibt immerhin die Hoffnung, dass zwar keine großen strukturellen Änderungen, <?page no="281"?> 281 9.2 Synopse kritischer Vorwürfe und beliebter Reform-Vorschläge wohl aber viele graduelle Anpassungen die Arbeit der Generalversammlung immer wieder revitalisieren. Auf den Sicherheitsrat konzentrieren sich Kritik und Reformdiskussion; oft wird gemahnt, das mächtigste Organ der UNO funktioniere gemessen an seinem Mandat und seinen außerordentlichen Kompetenzrechten am schlechtesten, denn ▶ wegen seiner Zusammensetzung und wegen des Vetorechts repräsentiere er nicht mehr die Welt, ▶ wegen der politischen Prioritäten und Entscheidungsmaßstäbe seiner - zumal seiner ständigen - Mitglieder vernachlässige er seine Aufgaben oder erfülle sie nur einseitig. Die nun auch schon in die Jahren gekommenen Vorschläge zu einer Erweiterung des Sicherheitsrats für eine global gerechtere Sitzverteilung werden von der Mehrheit der Mitglieder keineswegs positiv eingeschätzt - zumal die etablierten Inhaber der mit dem Veto-Recht bewehrten ständigen Sitze die Idee, so ihre Vormacht zu mindern, gleichermaßen skeptisch sehen; ermunternde Äusserungen von ständigen Mitgliedern, den Wunsch des einen oder anderen nicht-ständigen Mitgliedes (z. B. Deutschlands), ein ständiges zu werden, gutzuheißen, sind völlig wertlos, da sich mit Sicherheit ein anderes ständiges Mitglied finden wird, das dies ganz anders sieht. Zu groß und damit ineffektiv dürfte der Rat nicht werden, womit eine einvernehmliche Auswahl neuer ständiger Mitglieder unter gleichwertigen regionalen Konkurrenten nötig aber kaum zu treffen wäre; umstritten ist die Frage, ob die Neuen das Vetorecht erhalten oder zweitklassig bleiben müssten. Die Idee, Europas zwei ständige Sitze auf einen für die Europäische Union zu reduzieren ist irreführend, weil die EU kein Staat und also kein Vollmitglied der UNO ist - und Frankreich und zumal nach seinem Exit Großbritannien nicht zustimmen würden. Jenes fortwirkende Gründungs-Dilemma der UNO, dass nur Privilegien einer kleinen Zahl mächtiger und reicher Staaten deren Kooperation motivieren (siehe 3.2), bleibt ein ernstzunehmender Grund für die starre Bewahrung der Struktur des Sicherheitsrats; insofern ist es ein Glücksfall, dass die heutige VR China 1945 schon als Kaiserreich einen ständigen Sitz bekam, weil es als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges die Aufgaben einer regionalen Vormacht übernehmen sollte. Während eine große Strukturreform des Sicherheitsrats nie ernsthaft angegangen wurde, sind pragmatische Reformen seiner Arbeitsmethoden in kleinen Schritten aber insgesamt doch beachtlich vorangekommen; als flexible Reaktion auf Probleme und Kritik nutzte der Rat im Geiste der informellen und evolutionären bzw. inkrementellen Veränderungsstrategie modifizierte oder neue Vorgehensweisen versuchsweise und manche auch auf Dauer. ▶ Schon vor Jahrzehnten übernahm der Rat das aus Passagen von Kapitel VI und VII der VN-Charta kompilierte virtuelle „Kapitel Sechseinhalb“ (siehe 8.1.2). ▶ Eine weitere sicherheitspolitisch extrem heikle Option wie das Prinzip der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“; siehe 8.1.3) konnte seit 2005 nur schleichend ins Arsenal des Sicherheitsrats eingeschmuggelt werden als Variante der Interpretation der Passagen zu Souveränität und Einmischung in der VN-Charta. <?page no="282"?> 282 9. Der Wert der Vereinten Nationen ▶ Den Bedürfnissen von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft nach mehr Transparenz und Partizipation wurde seit der Jahrtausendwende mit einem abgestuften System von Möglichkeiten begegnet, Gruppen und Personen sowie weitere Mitgliedstaaten zu Meinungsaustausch und Konsultation einzuladen - wenigstens außerhalb der formellen Sitzungen und interner Beratungen des Rates. So können in offenen thematischen Sitzungen eine breite Vielzahl von Problemen diskutiert werden, was in der komplementären Zusammenarbeit an einer Lösung interessierter Regierungen mit dafür engagierten (I)NGOs wirksam werden kann (wie in der Frage der Antipersonenminen; siehe 8.1.1). ▶ Einzelne wichtige, aber mangels Status eines ständigen Sitzes nicht ganz wichtige Staaten, können intensiv in die Arbeit des Rates als Mitglied einer „Kontaktgruppe“ integriert werden (wie z. B. Deutschland für den Balkan oder die nukleare Option des Iran). ▶ Gerungen wird um den Vorschlag des freiwilligen Verzichts der ständigen Mitglieder auf den Gebrauch des Vetorechtes in Fragen massiver Verbrechen gegen die Menschlichkeit und bei Völkermord, wenn nicht die eigene Sicherheit betroffen ist; das bietet zwar bequeme Auswege, könnte aber auf lange Sicht einen unbequemen normativen Druck aufbauen, der wiederum zwar weder die rechtliche Lage noch die Machtverhältnisse direkt, aber vielleicht deren Wahrnehmung ändern würde. Eine vom ehemaligen deutschen Außenminister Fischer vorgeschlagene Verpflichtung, das Einlegen eines Vetos danach in der Generalversammlung zu begründen, könnte dies unterstützen. ▶ Konkreter zeigt sich allmählicher Wandel beim Auswahlprozess des UN-Generalsekretärs, bei der sich inzwischen neue Elemente zugunsten einer transparenteren Entscheidungsfindung eingeschlichen haben, etwa die Diskussion von Auswahlkriterien und die öffentliche Vorstellung und Befragung der Kandidat/ inn/ en; auch das ändert noch nicht viel an den Machtverhältnissen, die das Verfahren bestimmen, macht es aber informativer und jedenfalls unterhaltsamer. Die politische Bedeutung des Amtes des Generalsekretärs hängt davon ab, welchen Spielraum ihm der Sicherheitsrat gibt; persönliche Qualitäten sind wichtig, aber es muss politisch auch gewollt sein, dass die Funktionen des Sekretariats nachdrücklich erfüllt werden - die zurückhaltenderen Generalsekretäre wurden vom einen oder anderen ständigen Mitglied des Sicherheitsrats mehr geschätzt. So wäre es zu erwägen, die Amtszeit des Generalsekretärs von fünf auf sieben Jahre zu verlängern, aber keine Wiederwahl zuzulassen, damit keine Rücksicht darauf genommen werden muss; dazu wäre keine Charta-Änderung nötig. Auch das in der Charta nicht enthaltene „ungeschriebene Gesetz“, wonach das Amt des Generalsekretärs abwechselnd den regionalen Ländergruppen zusteht, sollte (wie schon 2016 bei der Wahl eines Portugiesen statt einer Osteuropäerin) nicht so streng beachtet werden. Das Sekretariat wie andere Hauptorgane der UNO haben durchaus immer wieder ihre Reformfähigkeit gezeigt, zwar nicht für große und klar konzipierte Umbauten nach einem alternativen Bauplan, doch ständig für fällige Reparaturen am Bestand, notfalls mit windigen Basteleien. Durch flexible und kreative Auslegung der VN-Charta gelang es, an kritischen Stellen in drängenden Situationen für unvorhergesehene Probleme praktikable Maßnahmen zu finden - keine großen Lösungen, aber immerhin oft wegweisende Musterfälle. Selten gibt <?page no="283"?> 283 9.3 Erwartungen und Hoffnungen es dauerhafte Verbesserungen, die Vernunft und Moral gleichermaßen befriedigen könnten, aber stetig konnte der Betrieb am Laufen gehalten werden - wenigstens die großen und gefährlichen globalen Mitspieler haben geredet statt geschossen. Die Bedenken, der UNO fehle demokratische Legitimation und ihre Entscheidungen fielen zu intransparent, sind berechtigt, aber irrelevant. Als internationale Regierungsorganisation muss sie gemäß des zwischen souveränen Staaten geltenden Völkerrechtes auf der Grundlage von zwischen diesen Staaten geschlossenen Verträgen arbeiten, egal von welcher demokratischer Qualität deren Regierungsform ist; der Ruf nach demokratischer Legitimation und Transparenz bleibt kontrafaktisch, solange nur eine Minderheit der am multilateralem System teilnehmenden Staaten tatsächlich demokratisch funktioniert. 9.3 Erwartungen und Hoffnungen Errungenschaften der UNO (Emmerij/ Jolly/ Weiss 2005, S. 232) „Um die gesamte Bandbreite der Errungenschaften der Vereinten Nationen besser einschätzen zu können, müssen diese im Zusammenhang gesehen werden. Nach den Greueln und dem Elend des Zweiten Weltkriegs standen bei den Gründern der UN der Wunsch und die Vision im Mittelpunkt, ein nochmaliges Versagen, wie das der ersten Generation der Weltorganisation - des Völkerbunds -, eine weitere Weitwirtschaftskrise wie 1929 sowie vor allem zukünftige Weltkriege zu vermeiden. Auf dieser Vision aufbauend wurden die Strukturen der UN bereits während des Zweiten Weltkriegs entwickelt und im Laufe der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Krieg ausgebaut. Was jedoch die Vereinten Nationen so einzigartig machte, waren ihre ehrgeizigen Ziele - Menschenrechte, Souveränität, Freiheit und Demokratie sowie eine Verbesserung des Lebensstandards in allen Teilen der Welt. Nicht weniger erstaunlich ist, dass, obwohl diese anspruchsvollen Ziele seinerzeit als schierer Humbug abgetan wurden, ein Großteil dieser frühen Vision mittlerweile Wirklichkeit geworden ist.“ Im Rahmen des UN-Systems wurde mehr geleistet oder möglich gemacht, als die meisten Menschen wahrnehmen: Viele Erfolge z. B. in der Friedensicherung oder bei der Abwehr von Pandemien sind unspektakulär - Misserfolge dagegen fallen auf. Mehr Erfolge wären mit manchmal überraschend geringem Aufwand wie simplen Impfkampagnen zu erreichen - wenn das Problem denn jeweils politisch ernstgenommen und seine Lösung gewollt würde; zum Klimaschutz den Regenwald nicht abzuholzen oder keine Braunkohle mehr zu verbrennen, wäre recht einfach - wenn nicht starke wirtschaftliche Interessen das politisch Verantwortliche anders sehen ließen. Jedenfalls gab es in den letzten Jahrzehnten kein international bedeutsames Problem - keinen gewaltsamen Konflikt, keine Hungersnot, keine Seuchengefahr, kein Grad Erderwärmung, keinen Verlust von Pflanzen- und Tierarten - vor dem nicht frühzeitig in und aus der <?page no="284"?> 284 9. Der Wert der Vereinten Nationen UNO heraus deutlich gewarnt worden wäre; aber dies politisch als Bedrohung verarbeiten und ihr gegensteuern müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten. Denen dient das Regelwerk und der Apparat der UNO dann bei der Umsetzung von praktischen Maßnahmen aller Art zur Problemlösung, aber auch mit symbolischen Krisenmechanismen zur Verdrängung oder rituellen Heilung des Problems (siehe 7.5). Wegen ihrer Bedeutung als politischer Seismograph für den Zustand der Welt ist eine Prognose wohl richtig: die UNO wird auf deren Entwicklung reagieren müssen, aber sie nicht gestalten können. Ein konkreter „Ausblick“ wäre riskant, aber vier Optionen sind denkbar, eher unwahrscheinliche - das völlige „Scheitern“ der UNO oder ihre Überwindung durch eine Art „Weltregierung“ - oder eher wahrscheinliche: ▶ Stagnation mit schleichendem Bedeutungsverlust, wenn ohne politische Vision einfach weiter so gemacht wird; ▶ Flexible Anpassung an widrige Gegebenheiten bei günstigen Gelegenheiten, die mit multilateralistischen Hintergedanken durch informelle und inkrementelle Methoden kreativ genutzt werden. Optionen: Entwicklung der UNO … es tut sich nichts … es tut sich was unwahrscheinlich Scheitern der UNO ⇒ auch bei globalen Problemen kaum noch multilaterale Zusammenarbeit möglich „Weltregierung“ bzw. wenigstens „global governance“ ⇒ utopisch - und überhaupt wünschenswert? wahrscheinlich „weiter-so-wursteln“ ohne Plan ⇒ Stagnation mit schleichendem Bedeutungsverlust der UNO/ internationaler Organisationen „durchwursteln“ mit Absichten ⇒ flexible Anpassung an widrige Gegebenheiten bei günstigen Gelegenheiten Die kaum überwindbaren Hürden, die VN-Charta und damit die Grundordnung der UNO substantiell zu ändern, sind natürlich verankert in der steinharten Grundlage des historischen Gegensatzes zwischen einzelstaatlicher Souveränität und multilateraler Intervention (siehe 2.4). Das schützende Prinzip und der kritische Anspruch reiben sich stetig wie Findlinge im Strom der Geschichte oder stoßen auch mal hart zusammen; die beiden lassen zwar kaum Platz zwischen sich, aber gelegentlich lässt sich aus abbrechenden Stückchen etwas Drittes zusammenfügen - und auf lange Sicht verändern die Blöcke hoffentlich ihre Form und Struktur. Das Ordnungsprinzip der Staatensouveränität wird nicht in absehbarer Zeit und nicht ohne katastrophale Brüche zu ersetzen sein durch ein den globalen Problemen angemesseneres weltpolitisches Ordnungsmodell - geschweige denn durch ein wie auch immer demokratischeres oder sonstig besser legitimiertes; die einzige Chance mit der Staatensouveränität global zu arbeiten, liegt in einer kritischen Diskussion von „nationalem Interesse“ im Sinne des <?page no="285"?> 285 9.3 Erwartungen und Hoffnungen aufgeklärten Eigeninteresses auf lange Sicht - und das kann nur internationale Kooperation in Multilateralität bedeuten (siehe 2.1./ 2.2). Merke: „Die UNO“ kann nur so gut sein, wie ihre … Literaturverweis zu 9.: Der Wert der Vereinten Nationen Brock 2016; Brühl 2019; Czempiel 1994; Emmerij/ Jolly/ Weiss; 2005 Franda 2006; Freiesleben/ Swart/ Martinetti 2008; Hüfner 2012; Hulton 2004; Müller 2006; Krasno 2004; Prantl 2006, 2007; Rotmann 2018; Varwick 2014; Varwick/ Zimmermann 2006; Volger 2007, 2016; Weinlich 2015; Weiss 2016; Zumach 2015 <?page no="287"?> 10. Literatur Acharya, Amitav (2018): Multilateralism and the Changing World Order, in: Weiss, Thomas G./ Daws, Sam (Hrsg.): The Oxford Handbook on the United Nations, Oxford, S. 781-796 Aghayev, Nasimi (2007): Humanitäre Intervention und Völkerrecht: Der NATO-Einsatz im Kosovo, Berlin Alvarez, José E. (2018): Legal Perspectives, in: Weiss, Thomas G./ Daws, Sam (Hrsg.): The Oxford Handbook on the United Nations, Oxford, S. 79-103 Anheier, Helmut K. 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Zürich: Rotpunktverlag <?page no="300"?> P OLIT IK- UND SOZIALWISSE NSCH AF T Philipp Adorf Die Republikanische Partei in den USA utb S 2019, 267 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-5238-0 eISBN 978-3-8385-5238-5 Tiefe Gräben durchziehen die politische Landschaft der USA. Die beiden großen Parteien des Landes sind in ideologischen Fragen gespaltener denn je und ihre Anhänger betrachten sich ebenfalls mit Misstrauen, wenn nicht gar Antipathie. In Deutschland wird vielfach Donald Trump eine entscheidende Verantwortung für diese Polarisierung zugewiesen, doch in Wahrheit liegt sie hauptsächlich bei der Republikanischen Partei, die sich seit den späten 1960er Jahren kontinuierlich radikalisiert hat. Trump hat deshalb die Partei nicht übernommen, wie in der deutschen Berichterstattung vielfach argumentiert wird, sondern der Weg der Republikaner führte in den letzten fünf Jahrzehnten auf Trump zu. Will man also verstehen, was heute in den USA auf politischer und gesellschaftlicher Ebene abläuft, muss man sich mit der Grand Old Party beschäftigen, die seit 1994 (mit Ausnahme von vier Jahren) den Kongress dominiert und seit der Wahl Richard Nixons 1978 achtmal das Präsidentenamt gewinnen konnte (Demokraten: fünfmal). Das Buch gliedert sich in drei Hauptkapitel: - Die Republikaner: Von der Partei der Sklavenbefreiung zur Bewegung der „angry white men“ - Die Republikanischen Partei heute - Ausblick: Machterhalt und die Herausforderung des demographischen Wandels in den USA UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (07071) 9797-0 Fax +49 (07071) 97 97-11 \ shop@narr.de \ www.narr.de <?page no="301"?> Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen Die UNO Wesel Die Kooperation der Staaten bei transnationalen und globalen Problemen - Frieden/ Sicherheit, Menschenrechte, Weltwirtschaft, Entwicklung, Umwelt/ Klima - ist orientiert am Mandat der UNO: Die „Charta der Vereinten Nationen“ legt als Kernstück des Völkerrechts seit 1945 nahezu unverändert die Pflichten und Rechte der Organisation und ihrer nun 193 sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten fest, bestimmt also Arbeitsteilung und Machtverteilung in der UNO und regelt ihre Funktionsweise. Über 75 Jahre haben sich jedoch die Arbeitsweisen und Methoden der multilateralen Diplomatie ausdifferenziert. Das Handbuch ● erklärt in überblickenden und zugleich gewichtenden Darstellungen die Grundlagen und oft schwer durchschaubaren Regelungen internationaler Zusammenarbeit in der und durch die UNO, ● veranschaulicht das nötige Informationswissen mittels zahlreicher Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/ Contra-Listen, ● gibt strukturierende Orientierung, wo und wie die Phänomene und Probleme, Institutionen und Prozesse eingeordnet werden können ● und bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung an. Politikwissenschaft ,! 7ID8C5-cfcjcc! ISBN 978-3-8252-5292-2 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52922 Wesel_L-5292.indd 1 28.10.19 13: 57