Einführung in die Homiletik
0309
2020
978-3-8385-5293-4
978-3-8252-5293-9
UTB
Wilfried Engemann
Dieses Standardwerk entwickelt im Dialog mit den theologischen Disziplinen sowie den benach-barten Human- und Geisteswissenschaften Kriterien für eine zeitgenössische Predigtkultur. Die Argumente, Methoden und Perspektiven der Homiletik - einschließlich verschiedener Formen der Predigtanalyse - werden unter Einbeziehung von praktischen Anleitungen und Abbildungen gut verständlich präsentiert. Das Buch wurde für die dritte Auflage unter ausführlicher Einbe-ziehung auch fremdsprachiger Literatur durchgehend neu bearbeitet, aktualisiert und erweitert. Auch homiletisch relevante kirchliche Reformen wie die erneuerte Perikopenordnung von 2018 wurden berücksichtigt. Das interdisziplinär weitgespannte und didaktisch ausgereifte Format sowie das theologisch kohärente Profil dieser Einführung machen sie zu einem begleitenden Studienbuch, einem zuverlässigen Nachschlagewerk und einer anregenden Arbeitshilfe in ei-nem.
"... ein Werk, das den Studierenden eine zuverlässige Einführung und den mit der Diskussion Vertrauten reichen Stoff zur Auseinandersetzung bietet."
Theologische Literaturzeitung
"Das Buch hat alles, was von einer echten Einführung in die Homiletik verlangt werden kann."
Dansk Teologisk Tidsskrift
"... ein Grundlagenwerk mit vielen Anregungen für den homiletischen Arbeitsprozess!"
Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt
"Engemanns Predigtlehre ist ein Standardwerk für das Studium und ein Nachschlagewerk für alle,
die mit der Aufgabe der Predigt befasst sind."
Zeitschrift für Liturgie und Kultur
"... eine Fülle wichtiger Einsichten und eleganter Problemlösungen."
Zeitschrift für Praktische Theologie
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfcjdj! ISBN 978-3-8252-5293-9 Wilfried Engemann Einführung in die Homiletik 3. Auflage Dieses Standardwerk entwickelt im Dialog mit den Human- und Geisteswissenschaften Kriterien für eine zeitgenössische Predigtkultur. Argumente, Methoden und Perspektiven der Homiletik werden anschaulich präsentiert und unter kommunikationstheoretischen, anthropologischen, psychologischen u. a. Gesichtspunkten in einer eigenen Theologie der Predigt vertieft. Im Horizont internationaler Diskurse wurde das Buch durchgehend neu bearbeitet. Ihr didaktisch ausgereiftes Format macht diese Einführung zu einem wertvollen Begleiter für Studium und Praxis. „Das Buch hat alles, was von einer echten Einführung in die Homiletik verlangt werden kann.“ Dansk Teologisk Tidsskrift „... eine Fülle wichtiger Einsichten und eleganter Problemlösungen.“ Zeitschrift für Praktische Theologie „... ein Grundlagenwerk mit vielen Anregungen für den homiletischen Arbeitsprozess! “ Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt Fachbereich Einführung in die Homiletik 3. A. Engemann Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 52939 Engemann_M-geb-2128.indd 1 52939 Engemann_M-geb-2128.indd 1 17.02.20 10: 48 17.02.20 10: 48 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 0000 utb 2 1 2 8 <?page no="2"?> Wilfried Engemann ist Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. <?page no="3"?> Wilfried Engemann Einführung in die Homiletik 3., durchgehend neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Basilique du Sacré-Cœur 08. Foto: Godoy, https: / / stock.adobe.com, Image-ID 276659634 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 3., durchgehend neu bearb., aktualis. u. erw. Aufl. 2020 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2011 1. Aufl. 2002 © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr.: 2128 ISBN 978-3-8252-5293-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5293-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5293-9 (ePub) <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 3. Auflage 17 Teil I: Das Predigtgeschehen. Seine Elemente und Perspektiven, Phasen und Situationen 1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess. Ein Überblick 25 Vorbemerkungen 25 1.1 Die Phase der Überlieferung: Vom Ereignis zum Bibeltext 26 1.2 Die Phase der Vorbereitung: Vom Bibeltext zum Predigtmanuskript 29 1.3 Die Phase der Versprachlichung: Vom Predigtmanuskript zur Kanzelrede 32 1.4 Die Phase der Realisierung: Von der Predigt zum Verstehen des Hörers 33 2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt 37 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 38 2.1.1 Unreflektierte Subjektivität 39 2.1.2 Die Wir-alle-Syntax 44 2.1.3 Jargon, Ironie und Sarkasmus 46 2.1.4 Abdriften ins theologische System 50 2.1.5 Verhebungen im Blick auf das Predigtziel 51 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 55 2.2.1 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielle Chance 55 2.2.2 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielle Aufgabe 59 2.2.3 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielles Hindernis 61 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 65 2.3.1 Personale Kompetenz als homiletische Kategorie 65 2.3.2 Personale Kompetenz und die Selbstwahrnehmung des Predigers 70 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis a) Die Struktur der Persönlichkeit. Zur homiletischen Rezeption der Impulse Sigmund Freuds 70 b) Das Selbst und die Ganzheitlichkeit der Person. Zur homiletischen Rezeption der Impulse Carl Gustav Jungs 72 c) Die Ichzustände und die integrierte Persönlichkeit. Zur homiletischen Rezeption Eric Bernes 77 2.3.3 Personale Kompetenz und die Funktionen der Predigt 85 a) Konzeptionelle Aspekte 86 b) Analytische Aspekte 88 2.3.4 Kommunikative Kompetenz und die Verständlichkeit des Predigers 91 2.3.4.1 Grundmuster der Predigtkommunikation. Zwei Modelle ihrer Analyse 91 2.3.4.2 Die Bedeutung der Lebenseinstellung des Predigers für die Plausibilität seiner Rede 94 a) Distanzschaffendes Predigen und die Unverständlichkeit der Liebe 94 b) Umarmendes Predigen und die Unverständlichkeit des Konflikts 97 c) Zwanghaftes Predigen und die Unverständlichkeit der Freiheit 99 d) Schrankenloses Predigen und die Unverständlichkeit von Grenzen 101 2.3.5 Konfessorische Kompetenz und die Glaubwürdigkeit des Predigers 105 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt 115 2.4.1 Zum Problem der Definition „persönlicher Predigt“ 115 2.4.2 Voraussetzungen „persönlicher Predigt“ 117 a) Selbstwahrnehmung als Basis innerer Kongruenz 117 b) Individualität als Basis von Originalität 118 c) Erfahrungsbezug als Basis von Authentizität 119 3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt 122 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 123 3.1.1 Exegese ohne Fokus 123 <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis 3.1.2 Exegese auf der Kanzel 124 3.1.3 Missverstandene Textpredigt 126 3.1.4 Minimierung der Botschaft 128 3.1.5 Pragmatische Hermeneutik 129 3.1.6 Text- und Begriffsfetischismus 132 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 134 3.2.1 Zur Schriftbindung textfreier und textbezogener Predigt 135 3.2.2 Traditionelle Argumente für den Textbezug 140 a) Der Text als Argument der Wahrheit 141 b) Der Text als Argument der Verbindlichkeit 146 c) Der Text als Argument der Verlässlichkeit 148 3.2.3 Hermeneutische Probleme des Textbezugs 150 a) Unmittelbare Auslegung und die Bedingungen von Literatur 151 b) Historische Auslegung und das Problem des historischen Autors 154 c) Das Kerygma-Modell und die Vieldeutigkeit der Texte 158 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 162 3.3.1 Das Kooperationsmodell 163 a) Das Modell der Textwelten und Autorbzw. Leserinstanzen 163 b) Beispiel zur Erläuterung der Textwelten sowie der Autorbzw. Leserinstanzen 167 c) Folgerungen 169 3.3.2 Das Analogie-Modell 174 3.3.3 Funktionen des Textes im Predigtprozess 180 a) Die konfrontierende Funktion des Textes 180 b) Die kreatorische Funktion des Textes 181 c) Die konfirmierende Funktion des Textes 182 d) Zur Frage der Einbringung des Textes in die Predigt 183 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt 184 3.4.1 Voraussetzungen biblischer Predigt 184 3.4.2 Die Autorität der Schrift - eine hermeneutische Kategorie 187 a) Beobachtungen zur Erfahrung von Autorität 187 b) Schriftautorität als Kommunikationsbegriff und hermeneutische Kategorie 189 <?page no="8"?> 8 3.4.3 Mit dem Alten Testament christlich predigen - Normalfall und Sonderfall 193 a) Das retrospektivische Modell 194 b) Das Oppositionsmodell 196 c) Das dynamische Modell 197 d) Das Analogiemodell 198 . Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt 202 Vorbemerkungen 202 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 204 4.1.1 Zerfallende Argumentation 204 4.1.2 Das Problem der Scheinprobleme 207 4.1.3 Scheindialoge 209 4.1.4 Unspezifische Beispiele 211 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 214 4.2.1 Zum Streit um die rhetorische Tradition. Zur Umstrukturierung der Genera in Sprachfunktionen 215 4.2.2 Zur Korrespondenz von Inhalt und Form 223 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 228 Vorbemerkungen 228 4.3.1 Die lernpsychologische Perspektive: Predigt als Lernprozess 230 4.3.2 Die narratologische Perspektive: Predigt als involvierende Erzählung 236 4.3.3 Die dialogische Perspektive: Predigt als Gespräch 243 a) Prämissen einer dialogischen Rede- und Gesprächskultur 243 b) Dialogpredigt mit und vor der Gemeinde 245 c) Vom Polylog zum Bibliolog 249 4.3.4 Die semiotische Perspektive: Predigt als „offenes Kunstwerk“ 254 4.3.4.1 Die Inanspruchnahme der Hörer 254 4.3.4.2 Dialektische Betrachtungsweisen 258 Exkurs: Die virtuelle Perspektive: Predigt als Konstruktion der Welt 263 4.4 Zur Kategorie zeichenhafter Predigt 266 Inhaltsverzeichnis <?page no="9"?> 9 . Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt 270 Vorbemerkungen 270 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 272 5.1.1 Theologische Stilistik 272 5.1.2 Dysfunktionale Sprechakte 273 5.1.3 Der homiletische Lassiv 276 5.1.4 Geschenk-Metaphorik 279 5.1.5 Gestörte Narrativität 281 5.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 283 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 287 5.3.1 Predigen und Handeln 287 a) Die Grundthese und ihre Begriffe 287 b) Zur Einteilung und homiletischen Relevanz der Sprechakte 292 c) Zur Frage nach dem Gelingen von Sprechakten 298 d) Zur Wirkung homiletischer Handlungsmuster 301 5.3.2 Argumentieren und Antizipieren 305 a) Voraussetzungen argumentationsbezogener Predigtsprache 305 b) Phantasie für die Wirklichkeit 309 Exkurs: Hörakte der Predigt. Zur auditiven Dimension des Mediums Sprache 313 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen 314 5.4.1 Predigt als latente Konversation 314 5.4.2 Sprachliche Kooperation mit dem Hörer 317 5.4.3 Konsequenzen für kooperatives Handeln in der Predigt 321 . Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug der Predigt 323 Vorbemerkungen 323 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 326 6.1.1 Ausblenden lebensweltlicher Realität 326 6.1.2 Ignorieren des Christseins und Glaubens der Hörer 332 6.1.3 Hörerschelte 335 6.1.4 Fragwürdige Identifikationsangebote 337 Inhaltsverzeichnis <?page no="10"?> 10 6.1.5 Anempfohlene Gefühle 340 6.1.6 Predigtklischees 341 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 345 6.2.1 Die „Situation“ in der Geschichte der Predigt und der Homiletik 345 6.2.2 Der Streit um den Anknüpfungspunkt 348 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 353 6.3.1 Das Prinzip der Korrelation und die Wiedergewinnung der Situation 353 6.3.2 Die Überwindung der Zweiteilung der Predigtwirklichkeit 358 6.3.3 Die Lebenswirklichkeit des Hörers und die homiletische Situation 361 a) Zur Begründung situationsbezogener Predigt 362 b) Zur Aufgabe situationsbezogener Predigt 363 c) Zum Verständnis der homiletischen Situation 365 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt 369 Vorbemerkungen 369 6.4.1 Predigen angesichts des Wahns. Politische Aspekte 371 a) Voraussetzungen und Probleme 371 b) Zur Funktion politischer Predigt 376 6.4.2 Predigen angesichts der Angst. Seelsorgliche Aspekte 381 a) Voraussetzungen und Probleme 381 b) Zur Funktion seelsorglicher Predigt 384 6.4.3 Predigen angesichts der Bedürftigkeit. Diakonische Aspekte 390 a) Voraussetzungen und Probleme 390 b) Zur Funktion diakonischer Predigt 392 6.4.4 Predigen angesichts der Wechselfälle des Lebens. Kasualtheoretische Aspekte 396 a) Zur Debatte um die Funktion von Kasualpredigten 396 b) Nonverbale Aspekte der Kommunikation des Evangeliums 399 c) Die Kasualpredigt als Sequenz des Rituals 399 d) Zum Adressatenbezug der Kasualien 400 e) Der besondere Sachbezug der Kasualpredigt 403 Inhaltsverzeichnis <?page no="11"?> 11 f) Zur Frage der „Mission“ 404 g) Zur Doppelfunktion des biografischen Elements der Kasualpredigt 405 h) Zum Textbezug der Kasualpredigt 406 i) Zur Frage der Anknüpfung und der Symbolisierung 407 . Predigen im Gottesdienst. Die Frage nach dem liturgischen Bezug der Predigt 409 7.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 410 7.1.1 Vermischung von ritueller und rhetorischer Kommunikation 410 7.1.2 Predigen am unpassenden „liturgischen Ort“ 411 7.1.3 Vernachlässigung und Inanspruchnahme des Kirchenjahres 414 7.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte von Liturgie und Liturgik 416 7.2.1 Zum Verhältnis von Eucharistie und Predigt 416 7.2.2 Zum Verhältnis von Lesungen und Predigt 421 7.2.2.1 Proprium und Perikopen als Bezugsrahmen der Predigt 421 7.2.2.2 Stationen und Probleme der Entwicklung von Proprium und Perikopen 424 7.2.2.3 Reformen der Lese- und Predigttextordnung in Deutschland im 21. Jahrhundert 430 7.2.2.4 Ordnungen gottesdienstlicher Lesungen in der Ökumene 435 a) Der römisch-katholische Ordo Lectionum Missae (OLM) 435 b) Das nordamerikanische Revised Common Lectionary (RCL) 437 c) Die britische und weitere europäische Lektionsordnungen- 439 7.2.2.5 Fazit: Zur Relevanz von Lese- und Predigttextordnungen für die Aufgabe der Predigt 441 7.2.3 Zum Verhältnis ritualbezogener und freier Rede 446 7.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 449 Inhaltsverzeichnis <?page no="12"?> 12 7.3.1 Zur Funktion von Proprium und Perikopen für die Predigtarbeit 449 7.3.2 Predigt im Kommunikationsgeschehen Gottesdienst 454 a) Zur gegenseitigen Abhängigkeit liturgischer und homiletischer Funktionen 454 b) Digitale und analoge Kommunikationsstrukturen im Gottesdienst 460 7.4 Zur Kategorie „liturgischer Bedingungen“ der Predigt 464 Teil II: Grundrichtungen und Leitfragen der Predigtanalyse Vorbemerkungen zur Systematisierung der Methoden der Predigtanalyse 469 1. Auf die Textgestalt der Predigt bezogene Formen der Analyse 472 1.1 Der contentanalytische Ansatz 472 1.2 Der sprechakttheoretische Ansatz 476 1.3 Der rhetorische Ansatz 479 1.4 Der semantische Ansatz 482 1.5 Der ideologiekritische Ansatz 489 2. Auf die Interaktion zwischen Prediger und Hörer bezogene Formen der Analyse 492 2.1 Auf das Subjekt der Predigt bezogene Formen der Analyse 493 2.1.1 Der tiefenpsychologische Ansatz bei den Grundimpulsen und Grundängsten des Predigers 493 2.1.2 Der kommunikationspsychologische Ansatz bei den Transaktionen und „Spielen“ des Predigers 495 2.2 Auf die Rezeption durch die Hörer bezogene Formen der Analyse 501 2.2.1 Der pastoralpsychologische Ansatz bei der Inhalts- und Beziehungsebene des Predigtgeschehens 501 2.2.2 Der empirische Ansatz bei der systematischen Befragung von Hörerinnen und Hörern 506 2.2.3 Der ablaufsimultane Ansatz des Reactoscope-Verfahrens 510 3. Das Predigtnachgespräch mit der Gemeinde 514 Inhaltsverzeichnis <?page no="13"?> 13 Teil III: Theologie der Predigt Vorbemerkungen 519 1. Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 520 1.1 Das Klischee vom modernen Menschen 520 1.2 Verkürzung des Glaubensbegriffs auf eine Gewissheitskategorie 522 1.3 Gesetzlichkeit der Predigt 524 1.4 Proklamationen der Mitmenschlichkeit 526 1.5 Moralistischer Sündenbegriff 527 1.6 Triviale Handlungsorientierung 529 2. Theologische Problemanzeigen aus der Geschichte und Gegenwart der Homiletik 530 2.1 Zur Begründung der Predigt 530 2.1.1 Predigt als Lebensäußerung der Gemeinde 531 2.1.2 Predigt als Ausdruck der Gegenwart Gottes 534 2.2 Zum Menschenbild der Predigt 535 2.2.1 „Freiheit“ in der Predigt 535 2.2.2 „Liebe“ in der Predigt 537 2.2.3 „Sünde“ in der Predigt 539 2.3 Predigt als Empfehlung des Glaubens 543 2.3.1 Glaubensgeschichtliche Aspekte 544 2.3.2 Überlegungen im Blick auf eine „Kommunikation des Glaubens“ 547 2.3.2.1 Zur emotionalen Dimension des Glaubens 547 2.3.2.2 Zur Kommunikation des Glaubens als Bekenntnis 550 3. Zur Aufgabe der Predigt 553 3.1 Die Aufgabe der Predigt im Lichte des Neuen Testaments 553 3.1.1 Kommunikation des Evangeliums im Horizont jüdischer Predigt 553 3.1.2 „Predigt“ im Neuen Testament 555 3.2 Die Aufgabe der Predigt im Lichte reformatorischer Theologie 562 3.3 Die Aufgabe der Predigt im Lichte ihrer Öffentlichkeit 568 3.3.1 Historische Aspekte 568 Inhaltsverzeichnis <?page no="14"?> 14 3.3.2 Theologische Aspekte 570 3.3.2.1 Vorüberlegungen zur Frage nach der Öffentlichkeit der Predigt 570 3.3.2.2 Adressatenbezogene Ebenen von Öffentlichkeit im christologischen Kontext 572 a) Die betroffene Menschheit: Zum kategorialen Begriff von Öffentlichkeit 573 b) Die angesprochene Gesellschaft: Intendierte Öffentlichkeit 574 c) Die anwesende Gemeinde: Faktische Öffentlichkeit 576 . Kommunikation als theologisches Wesensmerkmal der Predigt 580 4.1 Predigt als Kommunikations- und Beziehungsgeschehen 581 4.2 Predigt ist personale Kommunikation. Christologische und pneumatologische Aspekte der Homiletik 583 4.2.1 Der personale Charakter der Predigt als Ausdruck der Menschwerdung Gottes 583 4.2.2 Der personale Charakter der „Predigt im Heiligen Geist“ 585 a) Die geglaubte und die gestaltete Predigt. Credenda und Facienda der Homiletik 585 b) Homiletische Mythen: „Entsubjektivierung“ und „Unverfügbarkeit“ 589 4.3 Predigt ist handelnde Kommunikation. Schöpfungstheologische Aspekte 592 4.3.1 Predigt als Sprachhandlung 593 4.3.2 Predigt als Vergegenwärtigung des Lebens und als Offenhalten der Zukunft 594 4.4 Predigt ist verbindliche Kommunikation. Eschatologische Aspekte 596 4.4.1 Zum radikalen Existenzbezug der Predigt 597 4.4.2 Zum homiletischen Problem des „Rufs zur Raison“ 598 4.5 Predigt ist aufgetragene Kommunikation. Ekklesiologische Aspekte 600 4.5.1 Der „Dienst am Wort“. Ein Auftrag an die Gemeinde und an den Einzelnen 600 4.5.2 Zur inneren Logik des Predigtamtes 603 a) Personale Bindung des Predigtamtes 603 Inhaltsverzeichnis <?page no="15"?> 15 b) Strukturierung der Kommunikation des Evangeliums 603 c) Gegenüber-Situation der Predigt 604 d) Traditionsbezug der Predigt 606 e) Funktionale Legitimation des Predigtamtes 607 4.5.3 Zur Frage nach der Eignung für das Predigtamt 608 a) Gemeinsame Identität 608 b) Geschuldete Kompetenz 610 Epilog 615 Teil IV: Arbeitshilfen Ein Modell zur Erarbeitung einer Predigt 619 Zum Gebrauch 619 1. Die Vorbereitungsphase 620 1.1 Das homiletische Tagebuch 620 1.2 Die Lektüre des Textes 622 1.3 Zur Wahrnehmung von Beziehungs- und Inhaltsaspekten 623 2. Die analytische Phase 625 2.1 Die Frage nach der historischen Situation 625 2.2 Die Frage nach der Textur der Gegenwart 626 2.3 Die Gegenüberstellung der historischen Situation des Textes und der gegenwärtigen Situation der Predigt 627 2.4 Die Frage nach den Motiven des Predigttextes 628 2.5 Die Frage nach den Berührungspunkten zwischen den Motiven des Textes und dem gesellschaftlichen Diskurs 629 3. Die Entwurfsphase 632 3.1 Überlegungen zum Predigtthema 632 3.2 Die Strukturierung eines semantischen Feldes 633 3.3 Der Entwurf des Manuskripts 634 Merkblatt zur Anfertigung eines Predigtentwurfs im homiletischen Seminar und im Rahmen von Prüfungen 637 Inhaltsverzeichnis <?page no="16"?> 16 Teil V: Verzeichnisse Abbildungsverzeichnis 643 Literaturverzeichnis 645 Personenregister 687 Sachregister 695 Inhaltsverzeichnis <?page no="17"?> Vorwort zur 3. Auflage „Immer noch Predigt? “ Diese Frage wurde im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht nur rhetorisch gestellt, sondern aus empirischer Wahrnehmung, naheliegenden Vermutungen und ernsthaften Überzeugungen heraus immer wieder auch skeptisch ins Spiel gebracht. 1 Hintergründe für diese Frage waren unter anderem veränderte, mit dem Gebrauch neuer Medien einhergehende Kommunikationsgewohnheiten, tiefgreifende Reformen im Bereich religiöser Bildung und Erziehung sowie theologische Vorbehalte. Diese richteten sich vor allem gegen eine homiletische Praxis, in der die Predigt vorrangig die Funktion hatte, Heilsinformationen zu verbreiten - ohne die Hörer in ihrer Selbstverantwortung als Christen und Zeitgenossen im Blick zu haben. 2 Dass gleichwohl bis heute Sonntag für Sonntag viele Millionen Menschen weltweit einen Gottesdienst besuchen und eine Predigt hören, ist - auch im Vergleich mit anderen öffentlichen Veranstaltungen - Ausdruck eines beachtlichen Beteiligungsverhaltens und einer nicht zu unterschätzenden Erwartungshaltung. Immer wieder steht die Predigt vor der Herausforderung, die im Gottesdienst Anwesenden nicht zu enttäuschen, sondern darin zu fördern, aus Glauben zu leben. Das heißt zum Beispiel, einen Schritt in Richtung Freiheit zu machen, Wertschätzung zu erfahren, mit einem guten Lebensgefühl durch den Tag zu gehen, zu wissen, was man will und die Gründe dafür zu kennen, solidarisch zu sein und die Freundschaft mit sich selbst nicht zu vernachlässigen, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Bedarf an solchen Predigten wird nie versiegen. Dass es sie immer noch gibt, ist wohl auch ein Indiz dafür, dass es ihr hier und da durchaus gelingt, diesem Bedarf zu entsprechen. Prämissen und Intentionen Die gerade gesetzten Schlaglichter auf die Erwartungen an eine Predigt lassen erahnen, in welchem Maße die homiletischen Prämissen eines Predigers, vor allem sein Religions- und Glaubensverständnis, sein Lebensideal, sein 1 Vgl. den Beitrag von Hanna Jacobs, 2018: „Schafft die Predigt ab! “ - „Immer noch Predigt? “ So lautete schon der Titel eines von Helmut Zeddies herausgegebenen Sammelbandes (H. Zeddies, 1975b). 2 Vgl. exemplarisch die Kritik von Hans-Eckehard Bahr (H.-E. Bahr, 1968). <?page no="18"?> 18 Menschen- und Gottesbild usw. seine Vorstellung von einer „guten Predigt“ beeinflussen. Deshalb ist es unumgänglich, die damit verbundenen Argumentationsmuster genauer unter die Lupe zu nehmen. Dementsprechend bietet das vorliegende Werk ein differenziertes Gesamtporträt homiletischer Diskurse, die die Debatten um die Prämissen, Herausforderungen, Methoden und Ziele der Predigt nachhaltig geprägt haben. Dabei spielen - neben einzelnen Impulsen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - homiletische Ansätze und Reflexionsperspektiven seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine besondere Rolle. 3 Die Inhalte dieser Diskurse werden theologisch sowie im Dialog mit den Humanwissenschaften vertieft und im Rahmen eines eigenen homiletischen Konzepts in einen methodisch konvergenten Zusammenhang gestellt. Die dabei herausgearbeiteten homiletischen Prinzipien folgen der Systematik eines seit Ende der 1980er Jahre unter kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten kontinuierlich weiterentwickelten Entwurfs, der bereits in verschiedenen Einzelbeiträgen zur Person des Predigers, zur Rolle der Hörer, zum Bezugstext der Predigt, zu ihrer Sprache und ihren Rezeptionsbedingungen ausschnittweise präsentiert und 2002 erstmals im Zusammenhang veröffentlicht wurde. 4 Bei der hier vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine durchgängige Neubearbeitung der zweiten Auflage von 2011. 5 Das didaktische Anliegen diese Werkes kommt vor allem darin zum Tragen, dass es von einer kohärenten Betrachtung aller Elemente des homiletischen Prozesses ausgeht: Das Predigtgeschehen wird als Kommunikationsprozess zu den ihm eigenen Bedingungen in den Blick genommen, statt den in der Geschichte der Predigtlehre aufkommenden Einzelfragen chronologisch zu folgen oder die klassischen Themen der Homiletik ohne Bezug auf deren Zusammenhang mit dem Ganzen des Predigtgeschehens abzuhandeln. Jegliche Kriterien zur Gestaltung einer Predigt müssen sich daran messen lassen, ob sie die elementaren Bedingungen einer Predigt als Rede von Mensch zu Mensch - also die unaufhebbaren Gegebenheiten von Verstehen und Verständigung - angemessen berücksichtigen. Sofern es sich bei einer Predigt zugleich um eine religiöse Rede in der Tradition des Christentums sowie im Kontext von Kirche und Gemeinde handelt, ist außerdem zu fragen, wie jene Kommuni- 3 Zu den Schwerpunkten und zur Struktur der Diskurse zwischen 2000 und 2015 vgl. W. Engemann, 2010a, 2010b, 2016b und 2016c. 4 W. Engemann, 2002. 5 W. Engemann, 2011. Vorwort zur 3. Auflage <?page no="19"?> 19 Vorwort zur 3. Auflage kationsbedingungen theologisch zu denken und zu akzentuieren sind, wie sie hermeneutisch aufgenommen werden können und welche Konsequenzen sie für die Predigt als eine Form der Praxis des Christentums haben. Dieses Programm wird in den vier Hauptteilen dieses Buches folgendermaßen umgesetzt: Gliederung und Programm Teil I: Ausgangs- und Mittelpunkt ist die systematische Erschließung des Predigtgeschehens als eines komplexen Verstehens- und Verständigungsprozesses mit spezifischen Elementen, Phasen und Situationen. Die Plausibilität der dabei herausgearbeiteten Zusammenhänge steht und fällt mit der Kohärenz und Konvergenz der Argumente, auf die sich die homiletische Erörterung der einzelnen Aspekte dieses Prozesses bezieht. Zu diesen Aspekten gehören insbesondere die biblische Tradition, der Prediger als Subjekt, die Sprache der Predigt, deren Konzeption und Struktur, die Erfahrungs- und Lebenswelt potentieller Predigthörer sowie der liturgische Zusammenhang mit dem Ganzen des Gottesdienstes. Die Gliederung des Predigtgeschehens in vier Phasen (der Überlieferung, der Vorbereitung, der Versprachlichung und der Realisierung bzw. Rezeption) 6 ist mit der Beschreibung von Schlüsselsituationen verbunden, in denen sich bestimmte Abläufe menschlichen Verstehens und Kommunizierens wiederholen: Was andernorts unter „Ansätzen der Homiletik“ verhandelt wird (textorientierter, subjektorientierter, hörerorientierter Ansatz usw.), erscheint in diesem Buch gleichsam als wandernder Fokus zur Betrachtung des Kommunikationsgeschehens Predigt unter sich von Fall zu Fall ändernden Perspektiven. Conditio sine qua non einer professionellen Annäherung an die Homiletik ist ein adäquates Verständnis der Herausforderungen und Probleme, vor denen die Predigt tatsächlich steht. Daher spielt in diesem Buch die Problemorientierung, verbunden mit anschließenden Vertiefungen und der Darlegung entsprechender Konsequenzen, eine herausragende Rolle: 1. Zunächst werden alle Hauptkapitel, die sich mit den methodischen und theologischen Grundlagen der Predigt befassen, mit empirischen Beobachtungen und darauf bezogenen Analysen konkreter Probleme zeitgenössischer Predigt eröffnet. 6 Vgl. Abb. 1, S. 27. <?page no="20"?> 20 Vorwort zur 3. Auflage 2. Zum anderen wird die Erörterung eines jeden einzelnen Fokus des Predigtprozesses mit einer Kurzdarstellung seiner homiletischen Problemgeschichte verbunden. 3. Jedes Kapitel bietet eine Vertiefung der angesprochenen Fragen im Spiegel der zeitgenössischen Homiletik. 4. Alle Kapitel aus Teil I münden in den Versuch, aus den präsentierten Beobachtungen und Überlegungen Kriterien für jeweils ein bestimmtes Feld der Predigtvorbereitung zu entwickeln. Teil II: Die oben genannten Schwerpunkte geben auch die Struktur für die Darstellung der Ansätze und Methoden der Predigtanalyse im Teil II vor. Auf die Textgestalt bezogene Formen der Predigtanalyse stehen Analyseformen gegenüber, die zum einen auf die Interaktion zwischen Prediger und Hörer, zum anderen auf die Rezeption durch die Gemeinde bezogen sind. Auch die neuesten Ergebnisse der Predigtrezeptionsforschung und die damit verbundenen Möglichkeiten der Analyse werden in diesem Teil des Buches berücksichtigt. Teil III: Zur theoretischen Durchdringung des Predigtprozesses gehört die theologische Kontextualisierung der in Teil I entfalteten Reflexionsperspektiven. Die in diesem Zusammenhang entwickelte Theologie der Predigt setzt mit einer theologischen Erörterung empirischer Predigtprobleme ein. Sie nimmt im Weiteren auf die zuvor entfalteten kommunikationswissenschaftlichen, psychologischen, texthermeneutischen und sprachwissenschaftlichen Argumente Bezug, geht es doch darum, die Predigt theologisch als Kommunikationsgeschehen zu reflektieren. Dabei kommen grundsätzliche Fragen in den Blick, die zum Beispiel die Aufgabe der Predigt, die sie bestimmende Anthropologie und ihren Glaubensbegriff betreffen. Eine theologische Kommentierung des Predigtgeschehens kann sich freilich nicht auf Aussagen bezüglich der Prämissen und Credenda der Homiletik beschränken - also auf das, was man bezüglich der Wirkung der Predigt gerne glauben möchte. Daher müssen theologische Positionen, Haltungen und Entscheidungen auch auf die den Predigtprozess beeinflussenden Facienda bezogen werden - auf die Frage also, wie eine Predigt zu machen ist. Teil IV: Die Arbeitshilfen tragen den praktischen Anforderungen an ein homiletisches Lehr- und Studienbuch Rechnung. In einem Modell zur Erarbeitung einer Predigt (IV.1) wird eine detaillierte Anleitung zur Umsetzung der <?page no="21"?> 21 einzelnen methodischen Schritte gegeben. Das Merkblatt (IV.2) enthält eine kommentierte Checkliste für Predigtentwürfe und die dazu erforderlichen Vorarbeiten, wie sie im Rahmen von Seminarveranstaltungen und bei theologischen Prüfungen an deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen im Allgemeinen erwartet werden. Die zahlreichen eingearbeiteten Übersichten, Tabellen und Schemata sind im Rahmen jahrzehntelang angebotener Lehrveranstaltungen entstanden und in einem Verzeichnis am Ende des Buches zusammengefasst (S. 643). Sie entsprechen der Erwartung, den verhandelten Stoff zu systematisieren und zu visualisieren. Empirische Bezüge Ein Werk, das sich mit der Theorie zur Praxis der Predigt auseinandersetzt, tut gut daran, sich mit empirischen Details dieser Praxis zu befassen. Wovon in einer Homiletik zu reden ist, ergibt sich ja nicht nur aus dem in wissenschaftlichen Untersuchungen präsentierten Theoriepotential dieser Disziplin. Es ergibt sich auch aus bestimmten Gewohnheiten im Erarbeiten von Predigten, aus vorherrschenden Auffassungen bezüglich der Aufgabe der Predigt, aus unterschiedlichen Vorstellungen über die Bedeutung der biblischen Tradition für den Gottesdienst und aus anderem mehr. Einige der dabei zu Tage tretenden Probleme sind grundsätzlicher Art und haben die Kommunikation des Evangeliums zu allen Zeiten erschwert. Andere Schwierigkeiten sind auf unaufgelöste Missverständnisse bzw. konkrete Vorverständnisse vom Wesen der Predigt und die daraus resultierenden Routinen zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund fungiert das immer wiederkehrende Strukturelement der „Momentaufnahmen“ 7 als Indikator homiletischer Problemzonen, ohne damit die gegenwärtige Predigtpraxis generell abbilden zu wollen. Die einzelnen Problemanzeigen werden jeweils mit ersten Vorschlägen und Hinweisen zur Anwendung geeigneter homiletischer Kriterien verbunden, die dann im Laufe der einzelnen Kapitel präzisiert und weiter vertieft werden. In der nunmehr fast 35-jährigen Zusammenarbeit mit Studierenden hat sich gezeigt, dass die Bewusstmachung bestimmter Problemzonen einer Predigt ein entscheidender Schritt zum Aufgeben homiletisch entbehrlicher Gewohnheiten ist. 7 Vgl. I.2.1, I.3.1, I.4.1, I.5.1 usw. Nähere Erläuterungen zum Prinzip der Problemorientierung finden sich unter I.2.1, S. 38. Vorwort zur 3. Auflage <?page no="22"?> 22 Die damit einhergehende Aneignung entsprechender Kenntnisse und Fertigkeiten dient natürlich nicht nur der kritischen Distanz gegenüber einem anspruchsvollen Dienst, also der Möglichkeit, sich in der Vorbereitung auf die Predigt gleichsam selbst ins Wort fallen zu können. Trotz bzw. aufgrund ihrer besonderen Herausforderungen ist homiletische Arbeit in erster Linie ein bereicherndes Unterfangen mit Privileg-Charakter: In welchem Beruf wird man schon regelmäßig einmal in der Woche dazu veranlasst, sich - unter Einbeziehung der Betrachtung des eigenen Lebens - mit Existenzfragen zu befassen, mit den Lebens- und Glaubenserfahrungen anderer auseinanderzusetzen und die Koordinaten eines Lebens aus Glauben hier und heute zu erkunden? Änderungen gegenüber der . Auflage Für die dritte Auflage wurde das Buch durchgängig neubearbeitet. Wichtige Schaltstellen der Argumentation wurden erweitert und vertieft. Etwa 100 neue Titel - knapp die Hälfte davon englischbzw. fremdsprachige Schriften, und natürlich die aktuelle deutschsprachige homiletische Fachliteratur - wurden in den Diskurs integriert. Exemplarisch weise ich auf folgende Ergänzungen hin: Kapitel I.3 bietet nun auch eine Erörterung zur Frage der Autorität biblischer Texte (I.3.4.2). Kasualtheoretische Fragen wurden durch ein eigenes Kapitel enger in die Frage nach einer situationsbezogenen Predigt eingebunden (I.6.4.4). Eine starke Umprofilierung und Erweiterung hat das Kapitel I.7 (Predigen im Gottesdienst) erfahren, wobei den Reformen der Lese- und Predigttextordnungen im 21. Jahrhundert (I.7.2.2.3), den Ordnungen der gottesdienstlichen Lesungen in der Ökumene (I.7.2.2.4) sowie der Frage nach der Relevanz solcher Vorgaben (I.7.2.2.5) besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dem Abschnitt zur Aufgabe der Predigt im Lichte des Neuen Testaments (III.3.1.2) sind neue Aspekte und Schlüsselbegriffe hinzugefügt worden. Die Abbildungen haben eine komplette Neubearbeitung erfahren. Dr. Birte Bernhardt und Dr. Bernhard Lauxmann, Assistenten am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie, sowie dem Institutsreferenten Christian Sichera, BA, bin ich für ihre umsichtige Unterstützung bei der Recherche und Beschaffung englischsprachiger Literatur, bei den Korrekturarbeiten und beim Erstellen der Register sehr dankbar. Wien, im November 2019 Wilfried Engemann Vorwort zur 3. Auflage <?page no="23"?> Teil I Das Predigtgeschehen Seine Elemente und Perspektiven, Phasen und Situationen <?page no="25"?> 1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess. Ein Überblick Vorbemerkungen Die verschiedenen Ansätze der Homiletik befassen sich nicht alle in dem Sinne mit der Predigt, dass ihr homiletisches Interesse ausschließlich auf das Produkt, also auf die Kanzelrede als Manuskript oder Vortrag ausgerichtet wäre. Zwar erwecken einige ältere homiletische Entwürfe den Eindruck, als müsse das Auflisten theologischer Postulate und unmittelbar auf einen „Verkündigungsakt“ zugeschnittener Predigtkriterien den Kern homiletischer Überlegungen bilden; eine Predigtlehre jedoch, die sich nicht als bloße Anleitung zur Anwendung anderweitig gewonnenen Wissens, sondern als theoriebildende Disziplin versteht, muss den gesamten Predigtprozess im Blick haben: seine Elemente im Detail, die ihn bestimmenden Phasen und seinen Gesamtzusammenhang. In der Homiletik ist dementsprechend nach den spezifischen Voraussetzungen und Bedingungen im Entstehen, Vortragen und Hören einer Predigt zu fragen. Dazu gehört es, sich mit personalen, kommunikativen, kontextuellen und anderen Wirkungsfaktoren auseinanderzusetzen, die das Predigtgeschehen im Einzelnen beeinflussen. Auf dieser Basis können dann auch angemessene, homiletisch begründbare, also nicht nur dogmatisch gut zu hörende Folgerungen für die Predigtarbeit gezogen werden. Ein homiletisches Lehrbuch kann sich somit nicht auf die theologische Kommentierung oder Rechtfertigung bestimmter Predigtdefinitionen beschränken. Es gilt, zunächst die Gegebenheiten zu erkunden, die die Entwicklung und die Wirkung einer Predigt unabhängig von einer nachgeordneten Definition mitbestimmen. Die Darstellung der unterschiedlichen Reflexionsperspektiven bzw. Ansätze der Homiletik erfolgt daher in einem Zusammenhang, der die Predigt als Verstehens- und Verständigungsprozess erschließt. Auf diese Weise kommen die strukturalen Gegebenheiten und Grundvoraussetzungen der Predigt in den Blick, die faktisch zur Basis jeder Homiletik gehören - was nicht ausschließt, dass sie in einzelnen Ansätzen ignoriert werden. Das Predigtgeschehen kann in mehrere Phasen der Interpretation und Produktion von Texten untergliedert werden, in denen jedes Mal um Verstehen und Verständigung gerungen wird. Der erste Teil des Lehrbuchs soll zeigen, dass und wie die oftmals - und zu Unrecht - im Widerstreit gesehenen Ansätze der <?page no="26"?> 26 Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess Homiletik zusammengehören. Sie stehen in einem klar beschreibbaren inneren Zusammenhang und sind als Ausarbeitungen bzw. Vertiefungen der Strukturelemente des nachstehend beschriebenen Prozesses zu verstehen. In einem Schema (s. Abb. 1 auf der gegenüberliegenden Seite) können wir uns diesen Prozess folgendermaßen vergegenwärtigen: 1.1 Die Phase der Überlieferung: Vom Ereignis zum Bibeltext Am Anfang einer jeden auf Texten basierenden Überlieferung stehen bestimmte →Ereignisse 1 (Vorgänge, Handlungen, Situationen, Geschichten, Wahrnehmungen), die einen →Autor 2 dazu anregen, sie in Sprache zu verwandeln, in eine Erzählung zu kleiden bzw. ihre Bedeutung als Ergebnis seines eigenen Verstehens in einem →(Bibel-)Text zu verschriften. Das sich im Einzelnen der Wahrnehmung eines Erzählers oder Autors Darbietende (dies können bereits kursierende Erzählungen bzw. Texte sein) ist die →Quelle, aus der er schöpft, aus der er bestimmte Aspekte als relevant auswählt und die er schließlich strukturiert, indem er seinen Text als Verstehenshilfe über diese Quelle legt. Dieser Vorgang beruht einerseits auf der →Interpretation einer Quelle; andererseits impliziert er die →Produktion eines Textes. 3 Wer schreibt, ist in der Regel um eine Verständigung mit Lesern bemüht. Er hat eine →Botschaft, die er kommunizieren möchte, sonst würde er nicht schreiben. Der dabei entstehende Text ist in eine bestimmte Situation (→Situation I) eingebettet. Der Autor schreibt nicht nur unter spezifischen persönlichen Gegebenheiten, z. B. aus dem Gefängnis (→Situation des Autors). Er hat auch das Interesse, vor dem situativ gegebenen Hintergrund seiner Adressaten verstanden zu werden und etwas zu bewirken, was der Bewältigung anstehender Fragen dienen soll. Der Text ist also - obwohl selbst „Botschaft“ - in einer situationsbezogenen Auseinandersetzung mit dem (z. B. mündlich überlieferten) 1 Der Pfeil (→) vor einem Wort verweist jeweils auf die entsprechenden Begriffe in der Abbildung. Eine detaillierte Einführung in diesen Prozess und den dabei zugrundegelegten Textbegriff findet sich in W. Engemann, 2000a. Die wichtigsten hermeneutischen Konsequenzen sind in W. Engemann, 2003e, 133-140 zusammengefasst. 2 In diesem Zusammenhang genügt es, den komplexen Überlieferungsprozess von einer ersten Erzählung bis hin zu einer eventuellen letzten Redaktion und der damit gegebenen Koautorschaft eines Textes auf den Begriff „Autor“ zu verkürzen. Ausführlicheres dazu bei W. Engemann, 2000a. 3 Vgl. die entsprechenden Aktionen in Abb. 1. <?page no="27"?> 27 1.1 Die Phase der Überlieferung: Vom Ereignis zum Bibeltext Situation des Autors Situation des Predigers (I) Autor Bibeltext Prediger als Autor Ereignis Quelle Quelle Phase I Phase der Überlieferung Phase II Phase der Vorbereitung Phase III Phase der Versprachlichung Phase IV Phase der Realisierung Quelle Quelle Predigtmanuskript Prediger als Sender S p r a c h e Botschaft Botschaft Predigtvortrag Hörer Auredit Botschaft Botschaft Situation des Predigers (II) Situation des Hörers Die Elemente, Phasen und Situationen des Predigtprozesses produziert produziert produziert interpretiert interpretiert interpretiert interpretiert produziert Abb. 1: Die Komponenten, Phasen und Situationen des Predigtprozesses <?page no="28"?> 28 Evangelium entstanden, der seinerseits Gotteserfahrungen, Jesusbegegnungen oder andere Formen der „Offenbarung“ in bestimmten Situationen vorausliegen. Die Texte selbst sind so mit Situation gefüllt, dass man ihr Zeugnis nicht verstehen kann, wenn man von den situativen Bedingungen abstrahiert, unter denen es formuliert wurde. Ob der Autor alles „richtig“ verstanden bzw. „richtig“ wahrgenommen hat, und ob er mit seinem Text eine adäquate Sicht auf die Ereignisquelle (z. B. Leben, Werk und Intention Jesu) bietet, spielt für die Verständlichkeit der Texte keine Rolle. Wer sich mit biblischen Überlieferungen bzw. mit Literatur überhaupt befasst, muss sich darauf einlassen können, entscheidendes Wissen, das zum Verständnis des Textes nötig ist, im Text selbst zu finden. Die Ausleger können niemals - wie die Hermeneutik der Aufklärung anstrebte - den Autoren „aequi“ (gleichzeitig) werden. Schon aus diesem Grunde ist es wichtig, dem Text selbst genügend Aufmerksamkeit zu schenken und sein Eigenleben zu studieren. Man kann Texte nicht auf allzeit gültige Kernsätze reduzieren. Der Leser braucht den ganzen Text, um sich von ihm in Erschließungsräume und Welten einweisen zu lassen, die nicht als historisch-kritische Information abgerufen werden können. Sie müssen je neu erkundet werden. Zwar kommt der Autor nicht (mehr) als Interpretationshelfer in Betracht, aber im Text selbst sind Vorkehrungen getroffen worden, die zu bestimmten Deutungen ermutigen, andere aber erschweren. Was in Abbildung 1 unter →Phase I (Phase der Überlieferung) erscheint, ist ein Prozess, der der eigenen Predigtarbeit vorausliegt. Er ist Teil eines Überlieferungsprozesses, ohne den es - irgendwann später - nicht zu einer Predigt mit dem entsprechenden Bibeltext kommen würde. Schon in dieser Phase aber ist ein hermeneutisches Prinzip wirksam: Die biblischen Text-Zeugnisse entstehen selbst im Rahmen eines Rezeptions- und Produktionsprozesses, in dessen Verlauf aus den vielen möglichen Informationen, die eine Quelle potentiell bereithält, einige ausgewählt, interpretatorisch ergänzt und zu einer Botschaft umgeformt werden. Wenn sich die Autoren der biblischen Texte, indem sie schreiben, festlegen in der Deutung dessen, was sie „gesehen und gehört haben“ 4 , beschränken sie sich gerade nicht darauf, nur Gesehenes und Gehörtes niederzuschreiben: Dass in Jesus aus Nazareth Gott selbst unter die Leute gekommen und für sie gestorben ist, ja, dass Jesu Tod und Auferweckung uns das Leben gerettet hat - das kann man nicht einfach sehen und hören. Zu 4 Vgl. Act 4,20. Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess <?page no="29"?> 29 1.2 Die Phase der Vorbereitung: Vom Bibeltext zum Predigtmanuskript diesem Urteil kann nur gelangen, wer seinen Part wahrgenommen und eine existentiale Interpretation nicht gescheut hat. Die hier angesprochene hermeneutische Leistung wiederholt sich im Laufe des Predigtprozesses, wenn der →Prediger an den Text herantritt (→Phase II; Phase der Vorbereitung), wenn er später die Predigt auf der Kanzel zur Aufführung bringt (Phase III; Phase der Versprachlichung) und wenn der →Hörer sich schließlich mit der Predigt auseinandersetzt, um zu verstehen, was sie für ihn bedeuten kann (→Phase IV; Phase der Realisierung). Von einer Homiletik ist zu erwarten, dass sie erörtern kann, wie dieser Prozess zu „beeinflussen“ und zu gestalten ist, und dass sie zu erklären vermag, was ihn erschwert, stört oder blockiert. Darüber hinaus setzt sie sich natürlich mit solchen homiletischen Argumenten auseinander, die die Legitimität des hier angedeuteten „hermeneutischen Sukzessivs“ 5 bestreiten. Wo beginnt der eigentliche Predigtprozess? Am greifbarsten ist er natürlich in der Phase direkten Predigens und Hörens selbst, wenn der Prediger das Wort ergreift und die Hörer damit beginnen, das Vernommene zu rezipieren, für sich zu übersetzen - es sich also anzueignen - und produktiv in ihrem je persönlichen Leben zu verorten. Dieses etwa zwanzigminütige Kommunikationsgeschehen ist jedoch bereits das Resultat vorausliegender homiletischer Arbeit; es geht aus anderen, analogen Formen der Kommunikation des Evangeliums hervor. Damit kommen wir auf die Elemente der zweiten Phase zu sprechen. 1.2 Die Phase der Vorbereitung: Vom Bibeltext zum Predigtmanuskript Vom Bibeltext ist also ein zweites Mal zu reden. Mit Blick auf unser Schema 6 könnte man zunächst feststellen, dass der →Bibeltext das erste greifbare Element im Predigtprozess darstellt. Freilich kann man daraus, dass der Text dort vor dem →Prediger erscheint, nicht folgern, dass der Predigtprozess mit dem Text 5 Wenn ich im Blick auf den Prozess der Kommunikation des Evangeliums von einem „hermeneutischen Sukzessiv“ spreche, möchte ich die Tatsache herausstellen, dass christliche Glaubenszeugnisse in Form von Predigten von jeher mit einem unaufhebbaren Du-bist-Dran! verbunden waren. Das Evangelium zu verstehen heißt immer, es im Hinblick auf sein eigenes Leben zu verstehen, sich also im Zuge dieses Verstehens als Traditor des Evangeliums in Anspruch nehmen zu lassen. Vgl. dazu unten III.4.4. 6 Vgl. in Schema 1 die Vorbereitungsphase (Phase II). <?page no="30"?> 30 beginne. Der Prozess der Vorbereitung einer konkreten Predigt kommt allenfalls dadurch in Gang, dass sich der Prediger mit dem Text befasst. Deshalb wird noch im Einzelnen zu erörtern sein, wie homiletisch dafür Sorge zu tragen ist, dass der Text in seiner konfrontierenden, kritisierenden und konfirmierenden Funktion 7 in der →Vorbereitungsphase der Predigt auch zum Zuge kommt. Doch auch die Aussage, dass der Predigtprozess mit der Begegnung von Text und Prediger beginne, kann nicht so recht überzeugen; denn wenn sich der Prediger der Lektüre des Textes unterzieht, wird keineswegs ein Nullpunkt für den anstehenden Predigtprozess gesetzt: Der Text wird ja schon vor dem Hintergrund all der Erfahrungen rezipiert, die die gegenwärtige →Situation des Predigers bestimmen. Der Text wird aus der Perspektive längst aufgeworfener Fragen und bestehender Probleme gelesen, die den Prediger selbst oder Glieder seiner Gemeinde bewegen. Daher besteht von Anfang an eine faktische, unaufhebbare Gleichzeitigkeit zwischen der Situation des Predigers und seinem Text, und es ist müßig, alternativ zu fragen, ob die Predigtarbeit in der Auseinandersetzung mit der Situation oder mit dem Text zu beginnen habe. Entscheidend ist letztlich, dass die Predigtarbeit von beiden Polen der Auseinandersetzung mitbestimmt wird. Andernfalls drohen folgenreiche Fehlleistungen, wie sie unter I.3.1 und unter I.4.1 im Einzelnen noch beschrieben werden. Der gelesene Bibeltext gehört also grundsätzlich zwei Situationen an. Er gehört - vgl. die Überschneidung der entsprechenden Bereiche im Schema 1 - ganz zur Situation des Autors und ganz zur Situation des Predigers. Das unterscheidet ihn von einer Rede bzw. vom Gespräch 8 , und es hat Konsequenzen für das Verständnis der „Historizität“ des Textes: 9 Der Prediger steht paradoxerweise nicht vor der Aufgabe der Aktualisierung eines historischen Textes. Er steht vor der Aufgabe, den je und je gegenwärtigen Bibeltext erst historisch werden zu lassen: Es kommt für den Prediger darauf an, in der Auseinandersetzung mit dem Text zu einem neuen Text, zur Predigt zu gelangen, aus der hervorgeht, was jener Text heute in der Situation des Predigers und seiner Zeitgenossen 7 Die Details dieser Grundfunktionen werden unter 3.3.3 noch eingehend erläutert. 8 Vgl. zur literaturtheoretischen Brisanz dieser Unterscheidung K. Weimar, 1993, bes. 38-41. 9 Wenn man den Text nur insofern als „historisch“ gelten lässt, als er „alt“ ist, wird z. B. übersehen, dass er sich im Unterschied zu anderen Artefakten der Antike unverändert erhält, dass er als derselbe Text jedem Leser gleich gegenwärtig ist. Der Text wird historisch, indem ihn jemand interpretiert, als Quelle benutzt und für den Entwurf eines neuen Textes verwertet. Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess <?page no="31"?> 31 1.2 Die Phase der Vorbereitung: Vom Bibeltext zum Predigtmanuskript bedeutet. Wie sich seinerzeit ein Autor festgelegt und geschrieben und seinen Glauben in einen Text gefasst hat, so ist nun die Reihe am Prediger. Eine Predigt, die die Hörer vorzugsweise in die Situation damals entführt, den Text mit etwas aktuellem Anstrich versieht und schließlich deutlich zu machen sucht, was der Verfasser damals wollte, blockiert den Traditionsprozess des Evangeliums eher, als dass sie ihn fortführt. Eine Predigt hingegen, welche die in der Auseinandersetzung mit dem Text aufgenommene Botschaft im Horizont der Gegenwart reflektiert und in einen neuen Text transformiert, wird den Bibeltext - ohne ihn erschöpfen zu müssen - im eigentlichen Sinne „tradieren“. 10 Den Text verstehen zu wollen, hat einerseits damit zu tun, seine zwar offene, aber nicht beliebige Struktur zu studieren, seinem bald sinngenerierenden, bald sinnverweigerndem Gewebe zu folgen. Andererseits sehen Texte, zumal biblische Texte, die Eigeninitiative ihrer Leser vor; sie brauchen sie, um wieder lebendig zu werden. Deshalb werden wir der Kooperation zwischen Text und Prediger gebührende Aufmerksamkeit widmen müssen. 11 Die Impulse zur Erarbeitung der Predigt gewinnt der Prediger natürlich nicht nur aus seinem Verhältnis zum Text. Seine Predigt ist von verschiedenen Faktoren bestimmt. Einer dieser Faktoren ist in der Person und Subjektivität des Predigers selbst zu sehen. Sowohl sein Umgang mit dem Text als auch der Versuch, im Lichte des Textes auf die Lebens- und Glaubensfragen seiner Hörer Bezug zu nehmen und dabei eine Predigt zu erarbeiten, stehen unter dem Einfluss seiner Persönlichkeitsstruktur. Deshalb muss gefragt werden, in welchem Sinne von personaler Kompetenz als einer homiletischen Kategorie gesprochen werden kann, und inwiefern solche Kompetenz eine elementare Voraussetzung für die Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit und Zeugnishaftigkeit der Predigt ist. In diesem Zusammenhang werden wir dementsprechend die Bedeutung der Person für die kommunikative und konfessorische (bzw. argumentativ-positionelle) Kompetenz des Predigers thematisieren. 12 Diese Kompetenz - bzw. das Fehlen einer solchen - wird sich zunächst im →Predigtmanuskript 13 als Resultat der Auseinandersetzung des Predigers mit dem Text niederschlagen. Der Prediger lässt dem Bibeltext eine →Botschaft 10 Vgl. III.4.5.2 d. 11 Vgl. I.3.3.1. 12 Vgl. I.2.3.3-I.2.3.5. 13 In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob dieser Text ganz oder nur teilweise oder gar nicht verschriftet wird. Wichtig ist in dieser Phase des Predigtprozesses der <?page no="32"?> 32 folgen, die zunächst seine Botschaft ist, bevor sie an die Gemeinde ergeht. Sein Persönlichkeitsprofil, seine Grundeinstellungen zur „Welt“, sein Gottesbild, sein Glaubensverständnis, seine Ängste und Hoffnungen usw. werden sich niederschlagen in den Themen, die er verhandelt, in den Appellen, zu denen er sich entschließt, in den Bekenntnissen, die er wagt. Dies lässt sich mit verschiedenen Formen der Predigtanalyse verdeutlichen. Daher ist es aus homiletischen Gründen geboten, personale Kompetenz auch in Bezug auf die notwendige Selbstwahrnehmung des Predigers zu definieren. 1.3 Die Phase der Versprachlichung: Vom Predigtmanuskript zur Kanzelrede Im →Predigtvortrag wird der Prediger zum Interpreten seiner eigenen Predigt. Sein Auftreten, seine Stimme, Sprache und Haltung tragen zur Verdeutlichung oder zur Verdunklung dessen bei, was er sagen will. Deshalb ist es wichtig, sich mit den verbalen und nonverbalen Zeichen zu befassen, in die der Prediger sein →Manuskript übersetzt. Es entspricht der Bedeutung dieser Phase, wenn wir uns mit der →Sprache als einem eigenen Element bzw. dem besonderen Medium des Predigtprozesses befassen. Man kann leicht beobachten, wie ein und derselbe Satz - erst recht ein und derselbe Text - ganz unterschiedliche Bedeutungen anzunehmen vermag, wenn er von verschiedenen Menschen bzw. in verschiedenen Situationen gesprochen wird. Ohne dass sich am lexikalisch oder semantisch aufweisbaren Inhalt einer vorbereiteten Rede irgend etwas geändert haben muss, leistet sie u. U. ganz Unterschiedliches, sobald sie „aufgeführt“ wird: Eine Predigt, die z. B. - wie ihr Inhalt zu verstehen gibt - ermutigen soll, kann deprimieren; eine Predigt, die zu einer bestimmten Handlung motivieren soll, zur Strafrede werden. Wir werden folglich fragen müssen, mit welchen Besonderheiten der sprachlichen Kommunikation in der Predigt zu rechnen ist. Dabei muss man sich die geänderte →Situation (II) des Predigers als Redner gegenüber seiner Situation als Leser und Verfasser vor Augen halten: Der Prediger ist jetzt nicht mehr mit sich und dem Text und seinem Manuskript allein. Er tritt mit seiner Predigt in eine Rede- und →Hörsituation ein, die den Kern Umstand, dass Inhalt und Intention der Predigt für den Prediger feststehen, bevor er auf die Kanzel tritt. Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess <?page no="33"?> 33 1.4 Die Phase der Realisierung: Von der Predigt zum Verstehen des Hörers des Predigtgeschehens bildet. 14 Er hat jetzt ein lebendiges Gegenüber. Aus der Kommunikationsforschung wissen wir, dass in menschlichen Verstehensprozessen - im Unterschied zum Datenaustausch zwischen Maschinen - niemals nur Informationen weitergeleitet, sondern immer auch Beziehungen definiert werden. Deshalb werden wir nach der Relevanz entsprechender Kommunikationsstrategien für die Predigt fragen. Während der Prediger und der Autor seines Textes unterschiedlichen Situationen angehörten, wird in dieser Phase - bedingt durch den Redevorgang - eine Gleichzeitigkeit zwischen Prediger und Hörer hergestellt. Daraus ergibt sich ein Problem: Obwohl Prediger und Hörer aus unterschiedlichen Situationen zum Gottesdienst kommen, soll die gehaltene Predigt für beide gleichermaßen relevant sein. Wie kann man dieser Erwartung gerecht werden? Die Kompetenzen, die der Prediger brauchte, um die Vorbereitungsphase zu bewältigen, reichen nicht mehr aus: Der Akt des Sich-Verständlichmachens ist ein anderer als der des Verstehens. Scheitert die Predigt (schon) als Verständigungsprozess, wird natürlich auch die „Kommunikation des Evangeliums“ in Mitleidenschaft gezogen; die Predigt kann dann auf Seiten derer, denen sie gilt, nicht realisiert werden. Der Prediger muss also darauf bedacht sein, in seiner Predigt bestimmte Regeln zu berücksichtigen, die die Rezipierbarkeit, die Brauchbarkeit, d. h. das Verstehen- und Benutzenkönnen seiner Predigt fördern. 1.4 Die Phase der Realisierung: Von der Predigt zum Verstehen des Hörers Wir sprechen im Hinblick auf diese Phase deshalb von Realisierung, weil das Predigtgeschehen erst an sein Ziel kommt, wenn es den →Hörer erreicht und von ihm so rezipiert wird, dass er sagen könnte, was das Gehörte für ihn bedeutet. Eine Kanzelrede, die nur an und für sich „richtig“ ist und der bei der Interpretation des Bibeltextes nur keine „Fehler“ unterlaufen sind, bleibt eine unvollständige Predigt, wenn sie den Hörer nicht zur Fortsetzung herausfordert und befähigt. Und „Fortsetzung“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich der Prozess der Interpretation und des produktiven Verstehens bis hin zur Entstehung eines eigenen Zeugnisses - vgl. Phase I und II - aufseiten 14 Vgl. dazu die Überschneidung der Situation des Predigers (II) und des Hörers im Schema (Abb. 1, S. 27). <?page no="34"?> 34 des Hörers wiederholt. 15 Wenn in der Kette der weitergereichten Interpretation weitergereichter Texte nicht auch das Gliederpaar →Predigtvortrag und →Hörer ineinandergreift und der Hörer so die Chance bekommt, zu einer →Botschaft zu gelangen, die ganz seine Botschaft ist - Botschaft für ihn -, fehlt der Predigt ein entscheidendes Element. Was vom Verständnis biblischer Texte gesagt wurde, trifft also in abgewandelter Form auch für die buchstäbliche Einsicht des Hörers in die Predigt zu: Nicht der hat am besten verstanden, der wiederholen kann, was er gelesen und gehört hat, sondern der, der die Bedeutung des Gelesenen bzw. Gehörten für sich erfasst hat und sie gegebenenfalls selbst als Botschaft weitergeben kann. Um den faktischen Textcharakter dieses eigenen Verstehens als (Kommunikations-)Ziel der Predigt ausdrücklich zu markieren, kann man vom →Auredit sprechen. Hierbei handelt es sich - in Analogie zu „Manu-skript“ (= „mit der Hand geschrieben“) - um eine Wortbildung aus dem Ablativ zu auris und dem Passiv-Partizip von audire (= „mit dem Ohr gehört“). 16 Es geht dabei weniger um eine sprachliche als vielmehr um eine prinzipielle und strukturelle Analogie im Predigtprozess: Wie das Manuskript aus der Beschäftigung des Predigers mit dem Text hervorgeht, entsteht das Auredit als Resultat der Auseinandersetzung des Hörers mit der vernommenen Predigt. Die →Situation des Hörers während der Predigt ist von verschiedenen Faktoren bestimmt: a) Zunächst ist hier die Situation zu nennen, die wir ansatzweise bereits als Lebenswirklichkeit in den Blick genommen haben. Zwar kommt der Hörer aus dem Alltag zum Gottesdienst; diesen Alltag lässt er aber nicht vor der Tür. Er begleitet ihn, er ist ihm unter Umständen besonders bewusst, so dass Hörer auch der Probleme des Alltags wegen zur Kirche kommen, eine Predigt hören, singen und beten wollen. Dieser Situation ist angemessen Rechnung zu tragen. Deshalb werden wir danach zu fragen haben, wie die Lebenswirklichkeit des Hörers homiletisch in die Predigtarbeit einbezogen werden kann, welche Fragen und Kriterien dabei eine Rolle spielen und was die Wahrnehmung der 15 Vgl. hierzu und zum Weiteren wiederum Abb. 1, S. 27. 16 Zum Verständnis des Auredits vgl. ausführlicher W. Engemann, 2003c, 24-28 sowie die produktive Rezeption dieses Begriffs u. a. bei K.-H. Bieritz, 1998, A. Freund, 2000, J. Cornelius-Bundschuh, 2001, U. Pohl-Patalong, 2003, Th. Klie, 2003, S. Wolf-Withöft, 2004, S. Rolf, 2008. Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess <?page no="35"?> 35 1.4 Die Phase der Realisierung: Von der Predigt zum Verstehen des Hörers eigenen Lebenswirklichkeit (des Predigers) mit situationsgerechter Predigt zu tun haben mag. Die homiletischen Bemühungen, deren sich ein Prediger insgesamt bei der Erarbeitung und „Aufführung" einer Predigt unterzieht, sollen also über die Situation „Wir sind eine Gemeinde und hören eine Predigt“ hinausreichen. Im Grunde müsste man im obigen Schema auch noch eine „Situation des Hörers II“ anfügen: Nach der Predigt steht der Hörer nämlich vor der Aufgabe, aufs Neue zwischen Tradition und (Alltags)situation zu vermitteln. Vom homiletischen Prozess her gedacht, ist der Hörer die letzte Instanz des mit der Predigt verbundenen Vermittlungsgeschehens. Darin, ob und wie er selbst zum „Täter des Wortes“ 17 wird (vgl. Jak 1,22), kommt letztlich zum Ausdruck, was durch die Kommunikation des Evangeliums in heutiger Zeit bewegt werden kann. Damit sind keine „Werke“ als Versuche der Selbstrechtfertigung im Blick, sondern Veränderungen in, mit und unter Menschen gemeint, insbesondere Vorgänge, die die Erfahrung von Freiheit und das Empfangen und Gewähren von Liebe 18 betreffen. b) Zur Situation des Hörers gehört, zumindest für die Dauer der Predigt, auch der Prediger selbst. 19 Der Hörer nimmt die Predigt zusammen mit dem Prediger wahr. Er wird die Worte, die er hört, nicht ablösen können von dem, der sie sagt. Gleichzeitig ist er im Gespräch mit sich selbst und versucht, das Gehörte mit seinen Erfahrungen und dem, was er während des Hörens außerdem wahrnimmt (z. B. an der Haltung bzw. am Auftreten des Predigers), in Zusammenhang zu bringen. Als Partner im Kommunikationsgeschehen Predigt wird er der Kanzelrede nicht nur auf der Inhaltsebene folgen. In die Beziehungsebene, die sich im Zuge der Predigtkommunikation zwischen Hörer und Prediger aufbaut, fließen Sympathien und Antipathien ein; die damit verbundenen Erfahrungen der Be- 17 Dabei denke ich keineswegs nur an die pragmatische Umsetzung bzw. Handlungsdimension einer Predigt, sondern es geht um die Frage, ob im, mit oder durch den Hörer in der Tat etwas geschieht, ob der Predigtprozess etwas zu bewegen, Veränderungen einzuleiten oder auch zu einer Stabilisierung zu führen vermag - Ereignisse, die sich ohne diesen Prozess nicht eingestellt hätten. 18 Mit „Liebe“ sind hier - entsprechend der eingangs gebotenen Definition von Praktischer Theologie - alle denkbaren Formen sozialer Zuwendung und die mit ihnen verbundenen Erfahrungen von Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung gemeint. 19 Vgl. den entsprechenden Situationsbereich in Abb. 1, S. 27. <?page no="36"?> 36 stätigung und der Ablehnung bzw. der Hörerschelte wirken sich positiv oder negativ auf die Rezeption der Predigt aus. Daher ist die Frage nach dem Hörer auch als Frage nach dem Hören zu stellen. Der Prediger muss sich also - neben den Voraussetzungen sprachlich und theologisch gelingender Rede - auch mit Strategien des (z. B. selektiven) Hörens befassen. Diese schlaglichtartige Einführung in die Reflexionsperspektiven der Analyse und Gestaltung des Predigtgeschehens zeigt, dass sich dessen einzelne Aspekte nicht immer scharf voneinander abgrenzen lassen. Die Zergliederung des Predigtprozesses in seine Elemente, Phasen und Situationen macht im Gegenteil Zusammenhänge deutlich, die es z. B. nicht erlauben, den Bibeltext isoliert von seinen Rezeptionsmöglichkeiten zu behandeln, vom Prediger unter Absehung seiner Kontaktaufnahme zu den Hörern zu reden, den Predigtvortrag nur im Hinblick auf seinen theologischen Gehalt zu beurteilen oder die Hörer nur als Empfänger von Mitteilungen im Blick zu haben. Die verschiedene Male auftretende, sowohl situativ als auch rezeptionspraktisch bedingte Gleichzeitigkeit der Faktoren, die in den einzelnen Phasen des Predigtgeschehens jeweils die „Interpretation“ und „Produktion“ von Text und Rede bestimmen, nötigt zu einer ganz bestimmten Erschließung und Erörterung homiletischer Probleme: Es kommt darauf an, die einzelnen Elemente des Predigtgeschehens nicht isoliert, sondern im Blick auf die von Prediger und Hörer zu erbringenden „Interpretations-“ und „Produktionsleistungen“ zu thematisieren und schließlich zu fragen, was diese Leistungen fördern bzw. behindern kann. Dieser Einsicht würde man formal vielleicht dadurch am besten Rechnung tragen, dass man die einzelnen Positionen der Interpretation und des Neuentwurfs von Texten kurzerhand zur Gliederung einer Homiletik erklärt: Der Bibeltext als Quelle des Predigers, der Prediger als Ausleger des Textes, die Arbeit an der Predigt usw. Aus didaktischen Gründen wähle ich einen anderen Weg. Um den Lesern die Verortung der von mir angesprochenen grundsätzlichen homiletischen Probleme in verschiedenen Ansätzen zu erleichtern, orientiere ich mich bei der Gliederung dieser Einführung an denjenigen Komponenten des Predigtprozesses, die zugleich die materielle Basis für bestimmte homiletische Konzepte bilden: Am Prediger (I.2 Predigen in eigener Person), an der biblischen Tradition (I.3 Predigen mit einem Text), an der Gestalt der Predigt selbst (I.4 Predigen mit einer Struktur), an der Predigt als Rede (I.5 Predigen zu den Bedingungen der Sprache), am Hörer bzw. an der Situation (I.6 Predigen für einen Menschen) sowie am liturgischen Kontext (I.7 Predigen im Gottesdienst). Teil I.1. Das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess <?page no="37"?> 37 1.4 Die Phase der Realisierung: Von der Predigt zum Verstehen des Hörers Die einzelnen Elemente werden so eingeführt, dargestellt und problematisiert, dass sie gleichzeitig als Bestandteil des oben skizzierten Prozesses sichtbar werden. Das führt dazu, dass einzelne homiletische Brennpunkte auch außerhalb ihrer primären thematischen Zuordnung angesprochen werden müssen: So kann z. B. die Rede von der Situation nicht auf den späteren Sitz im Leben der Hörer reduziert werden; ebenso lässt sich die Frage nach dem Prediger nicht unter persönlichkeitsspezifischen Aspekten abschließend beantworten, sondern muss aus der Perspektive des Hörers erneut in den Blick genommen werden. Entsprechend dem vereinfachenden Schema (Abb. 1) beginnt der eigentliche Predigtprozess damit, dass ein Prediger an einen Text herantritt, um dessen Bedeutung im Horizont der eigenen Gegenwart - also in der des Predigers - neu zu erschließen. 20 Ein Prediger ist nicht nur eine beauftragte und in der Regel ordinierte Person; er ist zunächst ein Individuum. Er ist Subjekt, ein Mensch mit sehr spezifischen Erfahrungen und Erwartungen, mit Vorlieben und Abneigungen, mit bestimmten, vorgeprägten Gottesbildern und Glaubensvorstellungen. Was bedeutet es, dass die Kommunikation des Evangeliums durch den Prediger in Person eröffnet wird? Es entspricht der Initiative zur Kommunikation des Evangeliums in Gestalt einer Predigt, dass wir die Erörterung der Segmente des Predigtgeschehens mit der Frage nach der Funktion und Rolle des Predigers beginnen. 2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Was bedeutet es theologisch und methodisch, dass notwendigerweise Personen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kompetenzen, Lebenseinstellungen und Glaubenshaltungen in den Prozess der Kommunikation des Evangeliums in- 20 Bei einem rein empirischen Herangehen könnte man natürlich nie ganz konkret sagen bzw. auf den Punkt bringen, wo der Prozess der Entstehung einer Predigt seinen Anfang nahm, spielt in diesen Prozess doch immer alles das mit hinein, was der Prediger schon vor der Lektüre eines Textes weiß, was er in den letzten Wochen erlebt hat, was ihm vor Jahren widerfahren ist, was er an theologischer Literatur im letzten Monat gelesen und was ihn dabei womöglich gefesselt hat, welche Besuche er gemacht und welche Gespräche er geführt hat, welche Ideen ihn beseelen usw. <?page no="38"?> 38 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt volviert sind? Das Nachdenken über die Rolle des Predigers als „Subjekt“, „Individuum“, „Persönlichkeit“, „Sünder“, „Hindernis“, „Sprachrohr des Geistes“ usw. gehört zur homiletischen Theoriebildung, seit es - und sei es nur in Ansätzen - Predigtlehre gegeben hat. Dennoch wäre es irreführend, in dieser Sache von Anfang an schon von einer homiletischen Traditionslinie zu sprechen, denn die Gründe und Voraussetzungen dafür, dass man im Einzelnen auf den Prediger zu sprechen kam, weichen zu stark voneinander ab. Vor der Erläuterung der wichtigsten problem- und theoriegeschichtlichen Aspekte dieses Themas stehen ein paar „Momentaufnahmen vor Ort“ 21 . Die damit verbundenen empirischen Problemanzeigen sollen den Bedarf an einer homiletischen Erörterung der einfachen Tatsache verdeutlichen, dass sich ein Prediger stets „in Person“ an seine Gemeinde wenden muss. 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Die hier folgenden problembezogenen Skizzen sind nicht Ausdruck einer Vorliebe für „schlechte Beispiele“ oder besserwisserische Nörgelei an der pastoralen Praxis, sondern eine Konsequenz aus jahrzehntelangen positiven Erfahrungen mit problembasiertem (früher: problemorientiertem) Lernen: „Probleme sind nicht bloß ‚kalte‘ kognitive Strukturen, sondern sie gehören zu den ‚hot cognitions‘, indem sie unser geistiges Leben dynamisieren und unserem Suchen und Lernen Motivation und Richtung geben. Die Fähigkeit zum problemorientierten Lernen und damit zum produktiven Umgang mit Problemen ist eine zentrale, zu kultivierende Ressource lebenslangen Lernens, und die Arbeit an Problemen, sei es als Mittel oder Zweck, eine zentrale Aufgabe der Didaktik.“ 22 Am Problemfall kann man artikulieren lernen, was nicht stimmt. Durch Predigten hervorgerufene Irritationen provozieren die Suche nach Alternativen in Sprache, Theologie, Hörerbild, Lebensideal, Textverständnis usw. Vor allem drängen Problemanalysen dazu, sich der Frage zu stellen, warum eine Predigt bestimmte Irritationen, Missverständnisse, Trotzreaktionen usw. ausgelöst hat. Predigen wird (wie andere Kompetenzen, die ein Studium erfordern, auch) in weit geringerem Maße durch Nachahmung „positiver Beispiele“ gelernt - ohne 21 Die Rubrik „Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen“ wiederholt sich in jedem Hauptkapitel von Teil I, der der Erschließung der einzelnen Elemente und Phasen des Predigtprozesses gewidmet ist. 22 K. Reusser, 2005, 163 f. <?page no="39"?> 39 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen das Wissen um die Untiefen und Abgründe, die beim Erarbeiten und Präsentieren einer Predigt zu passieren sind. Dass Studierenden auch fremde Predigten als Vergleichsmaterial bereitgestellt werden, die formal und inhaltlich den Standards „guten Predigens“ entsprechen, versteht sich von selbst. Wie schon bei der ersten und zweiten Auflage greife ich teilweise auch auf Seminar- und Examenspredigten zurück, daneben wähle ich Beispiele aus anderen Predigtmanuskripten aus, die sämtlich anonymisiert worden sind. Die Einbeziehung studentischer Arbeiten in ein homiletisches Studienbuch erfolgt aus drei Gründen: (1.) Die entsprechenden Predigten spiegeln repräsentative Hör-Erfahrungen mit Predigten wider. Bis zu einem gewissen Grad sind die Predigten künftiger Pfarrerinnen und Pfarrer eine - wenn auch oft unbewusste - individuelle Rekonstruktion bzw. „Nachahmung“ dessen, was sie zum Beispiel in ihren Heimatgemeinden als Predigt wahrgenommen und verinnerlicht haben. Unter diesem Blickwinkel dokumentieren entsprechende Zitate aus Predigten Studierender durchaus Ausschnitte einer allgemeinen Predigtpraxis. Einige der mit Hilfe dieser Texte vertieften Fragestellungen dürften sich also in abgewandelter Form auch bei Predigten von Erfahreneren gewinnen lassen. (2.) Ein besonderer Vorteil der Hinzuziehung von Predigten Studierender ist darin zu sehen, dass die eingereichten Entwürfe jeweils mit exegetischen, systematisch-theologischen und hermeneutischen Vorarbeiten verbunden sind. So kann man an der in einzelnen Schritten vorgenommenen Begründung einer bestimmten Predigt sehen, aufgrund welcher Überlegungen sie gerade so gestaltet wurde, wie sie ist, und weshalb die Weichen der theologischen Argumentation entsprechend gestellt worden sind. (3.) Zudem sind diese Entwürfe Resultat eines theologischen Studiums. Sie lassen erkennen, was sich junge Theologinnen und Theologen heute unter einer Predigt vorstellen und was es konkret für sie heißt, Theologie zu treiben. 2.1.1 Unreflektierte Subjektivität Die Subjektivität des Predigers gehört zu den konstitutiven Bedingungen der Predigt, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil die Predigt eine Form der Kommunikation des Evangeliums ist. Das Evangelium als eine „Kraft Gottes“ zu proklamieren, „die da selig macht alle, die daran glauben“ (Röm 1,16), schließt nicht aus, sondern ein, dass Menschen in Person zum Zeugen dafür werden und in eigenen Worten zur Sprache bringen, was es heißt, aus Glauben zu leben. Das Subjektsein des Predigers ist nicht nur für die Glaubwürdigkeit und Plausibilität des mit einer Predigt verbundenen „Zeugnisses“ von elementarer <?page no="40"?> 40 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Bedeutung. Es spielt auch im Hinblick auf die mit lebendigen Kommunikationsprozessen verbundene inhaltlich-argumentative Positionierung des Predigers eine Rolle: In der Regel wird nicht im Kollektiv gepredigt. Selbst dann, wenn - wie z. B. in einer Dialogpredigt - mehrere Personen am Predigtgeschehen beteiligt sind, ist die Predigt nicht Resultat eines demokratischen Abstimmungsprozesses, sondern erfährt ihre Glaubwürdigkeit gerade dadurch, dass intersubjektiv, also unter den einzelnen Individuen, eine gemeinsame Vergegenwärtigung der Ressourcen eines Lebens aus Glauben in Gang gesetzt werden kann. Dabei werden unterschiedliche Erfahrungen, differierende Gottesbilder und persönliche Glaubensweisen nicht eingeebnet oder gegeneinander ausgespielt, sondern gewinnen in der damit verbundenen, unausweichlichen Positionierung ein spezifisches Profil. Sie markieren einen Standort in Raum und Zeit, auf den sich andere beziehen und von dem sie sich gegebenenfalls abgrenzen können. In diesem Sinne hat die Subjektivität des Predigers - anders als in dem folgenden Zitat - wenig mit dem Exponieren von Persönlichem zu tun. „Die Predigt verfolgt das Ziel, die Gemeinde an dem Begegnungsprozess des Predigers mit dem der Predigt zugrundeliegenden Text teilnehmen zu lassen. Der Prediger bürgt durch seine biografischen Erzählungen für den realen Bezug.“ 23 - Nein, darum geht es gerade nicht. Bei solcher Vorgehensweise werden die Hörer allzu oft mit Fragen konfrontiert, die sich der Prediger als Sachverständiger für Exegese und Hermeneutik zwar selbst stellen muss; für den Hörer werden diese Fragen aber dadurch nicht persönlicher oder auch nur interessanter, dass es Fragen sind, die das theologische Denken des Predigers widerspiegeln. Ebenso sind die im Zitat angesprochenen „biografischen Erzählungen“ nicht schon allein dadurch von Interesse und Relevanz, dass sie irgendwie auf Fragmente aus dem persönlichen Leben des Predigers Bezug nehmen, zumal, wenn sie unter das Motto gestellt werden: „Wie ich als Pastor dem Bibeltext begegnete.“ Gelegentlich wird Subjektivität als Bedingung glaubwürdiger Predigt deshalb abgelehnt, weil sie mit Willkür und Beliebigkeit verwechselt wird, weshalb man dann rasch auch noch den Abschied vom reformatorischen Schriftprinzip unterstellt. In einer „subjektiven persönlichen Predigt“ wird dann fälschlicherweise das Gegenstück zu einer „objektiven Textpredigt“ gesehen. Dieser Betrachtungsweise liegen gleich mehrere Missverständnisse zugrunde: Die homiletische Maxime, sich um eine von einem Subjekt verantwortete Predigt 23 Aus den Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. Hervorhebungen W. E. <?page no="41"?> 41 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen zu bemühen, konkreter gesagt, eine von der eigenen Subjektivität gestützte und von ihr mitgetragene Predigtweise anzustreben, hat eine reflektierte Subjektivität im Blick. Der programmatische Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität führt nun keineswegs zu einem Mehr an Objektivität; die Leugnung oder Verdrängung des Subjektseins des Predigers ist vielmehr von den Auswirkungen einer unreflektierten Subjektivität begleitet, die sich - vielleicht mit dem trügerischen Anspruch, sich objektiv an die „Textvorgabe“ zu halten - vor den Hörern unkontrolliert ausagiert. So sitzt der Prediger unter Umständen einem problematischen Selbstbild auf, statt sich im Bewusstsein seiner persönlichen (eben mit seinem Subjektsein verbundenen) Neigungen und Ängste, Vorlieben und Abgrenzungen, kurz: seiner persönlichen Erfahrungen und Erwartungen über die Intention der jeweiligen Predigt Rechenschaft abzulegen. „Ich darf doch nicht glauben, dass Gott mir bei der Bewältigung eines falschen Weges zur Seite steht! Wenn ich etwas tue, was seinem Willen zuwider ist, muss ich natürlich mit Schwierigkeiten rechnen, die mir Gott nicht aus dem Weg räumt. Ich soll ja umkehren. So werde ich mich allein mit den Problemen herumschlagen müssen, die ich nicht hätte, wenn ich nur den Weg ginge, den Gott für mich vorgesehen hat. Das gilt auch für mein Gebet. Wenn ich in einer falschen Richtung unterwegs bin, wird Gott meine Gebete natürlich um meinetwillen solange nicht erhören, bis ich mich besonnen und auf das eingelassen habe, was er an Gutem für mich vorgesehen hat.“ 24 Ganz abgesehen von der theologisch fragwürdigen Argumentation, dass man solange nicht mit einer positiven Intervention Gottes rechnen könne, wie man seinen religiösen Gehorsamspflichten nicht nachkomme 25 (als ob man den Willen Gottes morgens als Tagesanweisung auf dem Küchentisch fände), steckt in dem hier konstruierten exemplarischen Ich des Predigers ein angemaßter Autoritätsanspruch, durch den dieses Ich seine Glaubwürdigkeit als „Exempel“ verliert: Der Prediger, der so viel über die Interventionsprinzipien Gottes zu wissen scheint, als pflege er mit ihm zu frühstücken, gibt im Duktus der Predigt zu verstehen, dass ihm nichts ferner liegt, als derartige Irrwege einzuschlagen. Er kennt „natürlich“ die Regeln, gibt sie nur weiter - und ist nicht so dumm, sich den Spielregeln Gottes zu widersetzen. Eine Auseinandersetzung mit dem hier 24 Predigtmanuskript mit Bezug auf Heb 5,7-9. 25 Paulus (Röm 2,4) ist da anderer Ansicht: „Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr treibt? “ <?page no="42"?> 42 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt aufscheinenden Selbstverständnis könnte dem Prediger dabei helfen, diesem exemplarischen Ich eine suchende bzw. solidarische Komponente zu geben, an der deutlich wird, dass er den Hörern in Fragen der praxis pietatis und der Lebensgestaltung nichts voraus hat, also nicht deshalb als Pfarrer zu ihnen redet, weil er in den Fragen des Glaubens und Lebens immer einen Vorsprung hat. In folgendem Beispiel scheint der Prediger ein Selbstbild zu pflegen, das ihn als eine Art Über-Vater der Gemeinde zeigt. Um der damit beanspruchten Autorität auch Geltung zu verschaffen, spricht er vorzugsweise aus der Warte des (so von ihm wahrgenommenen) Paulus und weist seine Gemeinde zurecht: „‚Wie kleine unreife Kinder benehmt ihr euch! Wenn ihr nicht aufpasst, werdet ihr wie die zankenden Kinder am Ende alles kaputt machen! ‘ Und wie ein Vater in gefährlichen Situationen zurechtweist, so dass alles wieder recht wird, ermahnt Paulus die Korinther und sagt: ,Bildet euch auf eure Gaben nichts ein, die hat der Geist euch nach seinem Ermessen zugeteilt; staunt lieber darüber und freut euch daran! ‘“ 26 Außerdem beginnt und endet die Predigt mit einer Schulklassenszene, wobei sich die Hörer in den Schülern eines genialen Lehrers wiedererkennen sollen, die froh sein können, jemanden zu haben wie ihn - jemanden wie den Prediger - der „weiß, wo es lang geht“. Das sich seiner Anwesenheit nicht bewusste oder seine Präsenz gar verleugnende „Ich auf der Kanzel“ 27 stört dabei nicht nur die Zeugnisfunktion der Predigt, sondern praktiziert einen Subjektivismus eigener Art: Gott, die Propheten, Jesus, Paulus und die Großen der Kirchengeschichte werden einer fragwürdigen Selbstinszenierung untergeordnet: Der Prediger legt ihnen in den Mund, was er selbst für richtig hält, ohne sich seiner subjektiven Selektionsstrategien bewusst zu sein, die sich z. B. in der Auswahl (also auch in der Unterdrückung) bestimmter Themen und Informationen sowie in der Perspektivenbildung der Predigt zeigen. Die durchaus vorhandene, aber permanent verborgene Wirkung des Ichs macht es dem Hörer schwer, zur Predigt Position zu beziehen. Zutreffende und dem Evangelium durchaus angemessene Gedanken erscheinen als Weisheiten einer für sich existierenden Welt, die - ohne erkennbaren Bezug auf die Person des Predigers - auch für die als Hörer anwesenden Personen kaum von Bedeutung zu sein scheinen. Der unbewusste oder bewusste Versuch des Predigers, hinter sein Zeugnis zurückzutreten, verhindert freilich nicht, dass er, indem er spricht, auch etwas 26 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,1-11. 27 M. Josuttis, 2009, bes. 91-96. <?page no="43"?> 43 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen über sich selbst sagt und dabei seine Intention offenlegt. Sie widerspricht häufig dem Wortlaut der Predigt und trägt dann eher dazu bei, die Predigt als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Das trifft besonders dann zu, wenn sich der Prediger nolens volens von seinen Hörern oder von der Sache abgrenzt, die er doch vertreten sollte und deretwegen - besser gesagt: um deretwillen - er zu predigen hat. Solche abgrenzenden Tendenzen können auf Seiten der Hörer den Eindruck erwecken, dass der Prediger überheblich sei und sich als Repräsentant einer religiösen Elite verstehe. So heißt es in einer Predigt: „Das heilige Volk soll sich seiner Auserwähltheit bewusst sein. Wir Christen von heute leben, wie die Israeliten im Kanaan der Landnahmezeit, als Minderheit unter den Verehrern fremder Götter, als Gottesvolk unter fremden Völkern. […] Mancher von uns hat türkische Nachbarn oder Arbeitskollegen, die Muslime sind. […] Da gibt es schließlich den Bauunternehmer, […] mit einer Ehefrau aus Ostasien, die buddhistisch erzogen ist, und mit einer Tochter, die einen türkischen Freund hat. Als Christ gerät man dabei sehr rasch unter Begründungszwang für sein Christentum. Wie ist auf diese Situation zu reagieren? Ich muss nicht als Mucker oder Frömmler im stillen Winkel sitzen. […] Ich muss nicht in fremde Länder reisen und dort buddhistische Tempel zerstören oder hier in Deutschland türkische Gebetsräume niederbrennen. Ich muss auch nicht als religiöser Eiferer Anschläge auf die Tempel der Götter unseres Alltags verüben, etwa auf die Konsumtempel unserer Städte, in denen andere Götter verehrt werden als der Gott, der sich uns in Jesus Christus offenbart hat. Das alles muss ich und müssen Sie nicht tun. Was aber soll das Gottesvolk der Christen, was soll ich selber tun, was soll ich lassen? Es ist uns gesagt, was wir tun sollen! Gottes Gebote halten. Was aber heißt heute, die Gebote Gottes zu halten? Es ist ein unter evangelischen Christen verbreitetes Missverständnis, dass für uns die Gebote nicht wichtig seien.“ 28 In dieser Predigt werden gleich zwei Abgrenzungen markiert: Zum einen gegen die sich aus vielen verschiedenen Gruppen und Religionen zusammensetzenden „Heiden“, die nicht zum „auserwählten Volk Gottes“ gehörten, zum anderen gegen eine unbestimmte, aber verbreitete Gruppe von Christen, die die Zehn Gebote nicht ernst nähmen. Zwar beteuert der Prediger, durchaus nicht wegen seiner Leistungen zu den Auserwählten zu gehören, sondern dank der erwählenden Liebe Gottes. Doch seine phantasiereichen Gedanken im Hinblick auf das, was man den Heiden antun könnte, wenn man „müsste“, ferner sein Bild vom gegenwärtigen evangelischen Christentum sowie eine spezifische 28 Predigtmanuskript mit Bezug auf Dtn 7,6-12. <?page no="44"?> 44 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Zitationsweise von biblischen Motiven und landläufigen Redewendungen - all das erweckt den Eindruck, hier rede einer von den ganz wenigen, die es mit den zehn Geboten wirklich aufnehmen können: „Es ist uns gesagt, dass wir nicht sitzen sollen, wo die Spötter sitzen (Ps 1,1). […] ,Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen‘ (Mt 5,16).“ 29 Die Ambivalenz christlicher Existenz - zusammengefasst in der Formel simul iustus et peccator -, die Erfahrung, sich das Ethos der christlichen Tradition zu eigen machen zu wollen und dennoch Rückschläge zu erleiden, die Erfahrung, an den „Gott des Konsums“ zwar nicht zu glauben, ihm aber dennoch zu opfern usw. - dies alles findet in dieser, dem Selbstbild des Predigers geschuldeten „Steilvorlage“ christlichen Glaubens keine Berücksichtigung. 2.1.2 Die Wir-alle-Syntax Mit der „Wir-Anrede“ kann bei unangemessenem Gebrauch beides signalisiert werden: Dass sich der Prediger zum einen hinter bzw. unter „uns allen“ versteckt, um nicht offen Position beziehen zu müssen oder gar das Beziehen von Gegen-Positionen zu provozieren; zum anderen kann diese Redeweise eine verdeckte Hörerschelte implizieren. In diesem Fall gebraucht der Prediger zwar das „Wir“, aus dem übrigen Kontext der Rede geht aber hervor, dass er gerade nicht (auch) von sich selbst spricht, sondern nur seine Hörer meint - bzw. das Bild, das er von ihnen hat: „Wir haben es heute so gut wie verlernt, mit der Gewissheit des Beistands des Heiligen Geistes zu leben.“ 30 „Weil wir dieser Frage [nach unserer Heiligung] nicht genügend Achtung erweisen, wird bei uns gestohlen und betrogen: Im Betrieb, im Restaurant, auf dem Automarkt.“ 31 Dieser Gebrauch der Wir-Anrede taucht besonders häufig in ironischen und zynischen, im Tenor anklagenden Formulierungen auf, die etwas Dekretierendes haben - nach der Weise: „Was haben wir denn wieder falsch gemacht? “ Der dabei nicht zu überhörende aggressive Unterton kann als verbal abgeleitete Autoaggression verstanden werden: Der Prediger erspart sich die Auseinandersetzung mit Wahrnehmungen, die seine eigene Person betreffen, indem er sie auf die Hörer projiziert. 29 Ebd. 30 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,26-30. 31 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Thess 4,1-8. <?page no="45"?> 45 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen „Kennen Sie Wilhelm Busch? - Ja? Dann kennen Sie bestimmt auch Max und Moritz. Diese beiden haben eines Tages die von der Witwe Bolte frisch zubereiteten Hühner auf pfiffige Art und Weise gestohlen und sich an ihnen gütlich getan. Nach dem Mahl lagen die beiden satt und selbstzufrieden im Gras. […] Diese Zwei, das sind wir alle, Sie und ich - wir, denen die Schuld aus dem Hals guckt, wir, Sie und ich, die den Hals wieder nicht voll genug bekommen konnten mit Beachtetwerden, mit Geld, mit Eigenliebe, mit Erfolg, mit Ruhe vor unserem Nächsten. - Jetzt haben wir den Hals so voll, dass wir selber keinen Ton mehr herausbringen. Wir würgen an all dem herum, wovon wir nicht genug haben konnten, und haben darüber das Einfachste vergessen: uns Gott zuzuwenden und zu beten. Wir können nicht von Montag bis Freitag, oft auch noch am Wochenende, unseren Dienstgeschäften nachgehen und nur sonntags, wenn die Kirchenglocken läuten, für ein paar Stunden innehalten und Gottes Ruf folgen.“ 32 Das „Wir“ wird häufig auch eingesetzt, um einen „Zustand des Einklangs“ 33 da zu suggerieren, wo er - wie der Prediger offensichtlich vermutet oder unbewusst empfindet - nicht gegeben ist. Der Gebrauch des „Wir“ schenkt sich in diesen Fällen die Argumentation und nähert sich dadurch der Manipulation an. Wenn er nicht im Interesse der Anwesenden erfolgt und nicht von dem Bemühen geleitet ist, sie wirklich mitzuvertreten, werden die gemeinten Individuen als „Staffage“ 34 für die Thesen des Predigers missbraucht. Solche Fehlleistungen zu benennen heißt nicht, das „Wir“ in der Predigt grundsätzlich als homiletischen Missgriff zu brandmarken. Das „Wir“ hat in all jenen Zusammenhängen der Rede seinen Platz, wo es verdeutlicht, in welcher Hinsicht der Prediger mit seinen Hörern zusammengehört, dass er sich mit ihnen dem Evangelium gegenüberstellt, dass er vor denselben Herausforderungen steht usw. Das „Wir“ in der Predigt als bewusst gesetztes Signal für die „geistliche Ebenbürtigkeit“ von Prediger und Hörer, das „Wir“ als Bekenntnis zu geschwisterlicher Solidarität in Glaubens- und Lebensfragen, ist also durchaus zu begrüßen. Erst recht gilt für die sprachliche Gestaltung liturgischer Elemente, dass das „Wir“ (z. B. in kohortativen Formulierungen) angemessen und für eine glaubwürdige, gelingende Kommunikation unerlässlich ist: „,Wir wollen beten‘ ist eine im Gottesdienst durchaus erlaubte Formel, denn man kann von Menschen, die einen Gottesdienst besuchen, er- 32 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 28,26-30. 33 Vgl. P.-L. Völzing, 1979, 230. 34 A. a. O., 233. <?page no="46"?> 46 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt warten, dass sie auch zum Beten gekommen sind.“ 35 Problematisch ist es hingegen, wenn etwa die - mit liturgischem Bedacht so bezeichneten - „Allgemeinen Sündenbekenntnisse“ so (um)formuliert werden, dass sie auf eine Benotung der Hörer mit dem Prädikat „moralisch völlig ungenügend“ hinauslaufen. „Wir denken immer nur an uns, es ist uns gleichgültig, dass Menschen verhungern“ usw. Stereotype moralische Kritteleien verfehlen nicht nur die diakonische Grundhaltung und Selbstlosigkeit Einzelner, sie sind auch anthropologisch problematisch, indem sie „Sünde“ mit unterlassenen Einzelleistungen identifizieren und den Bedarf an der Kommunikation des Evangeliums mit Lücken im menschlichen Wohlverhalten begründen. 2.1.3 Jargon, Ironie und Sarkasmus Jargon, Ironie und Sarkasmus stellen je eigene sprachliche Formen der Annäherung und Distanzierung zum Gegenstand und zum Kommunikationspartner dar: Was im Jargon vorgetragen wird, soll häufig Solidarität mit den jeweils Zuhörenden anzeigen und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und dem Redner signifizieren. Die im Jargon vorgetragene Predigt gibt zu verstehen: „Wir gehören zusammen! Schließlich sprechen wir die gleiche Sprache.“ Gleichzeitig dient diese Sprachebene der Abgrenzung zu den anderen, in der Regel nicht Anwesenden. Der Gebrauch des Jargons kann also in hohem Maße von sozialen Motivationen bestimmt sein 36 und ist häufig dort anzutreffen, wo sich Redende auf die Gunst der Hörenden angewiesen fühlen und sich gewissermaßen bei ihnen einschmeicheln wollen. Das wiederum bedeutet sozialpsychologisch: Jargon kann unter Umständen Symptom für die Angst vor Ablehnung bzw. Ausdruck von Anbiederung und Unterordnung sein. Zu predigen bedeutet in diesem Fall für den Prediger, sich der Sympathie seiner Hörer zu vergewissern bzw. sie sich zu verschaffen. Der Gemeinde soll auf diese Weise die soziale Halt- und Belastbarkeit eines gruppenspezifischen Interaktionsnetzes vermittelt werden. Das Problem dieser Strategie - von den psychologischen und theologischen Schwierigkeiten der damit verbundenen Erwartungshaltung ganz zu schweigen - liegt u. a. darin, dass Jargon nicht allein schon durch den Gebrauch von Jargonismen den erwünschten Erfolg hat. Die „positive“ Wirkung des Jargons gründet im tatsächlichen Vorhandensein gemeinsamer Handlungs- und Erfahrungsräume zwischen Redner und Gruppe. Er wird als unangemessen und 35 A. a. O., 228. 36 G. Kalivoda, 1998, 713. <?page no="47"?> 47 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen einschmeichlerisch empfunden, wenn er nicht der - auf gemeinsamer sozialer Erfahrung beruhenden - Verhaltenserwartung der Hörenden entspricht. Inhaltlich geht dieser Stil häufig mit Verharmlosungen und Bagatellisierungen in Bezug auf bestimmte Ansprüche des Christentums bzw. des Glaubens einher, worin immer man seine conditio sine qua non im Einzelnen sehen mag. Die Predigt versucht also, potentiellen Akzeptanzschwierigkeiten im Voraus durch eine Verringerung möglicher „Anforderungen“ zu begegnen. Wenn jedoch für die Hörer nicht ersichtlich ist, dass der Prediger in der Tat „einer von ihnen“ ist und nicht nur rhetorisch ihr Leben, ihre Probleme und Fragen teilt, sondern in bestimmter Hinsicht zu ihren Bedingungen lebt und glaubt, bewirkt der dem „Mann von der Straße“ scheinbar entgegenkommende Jargon das Gegenteil. „Wenn ich auf mein Christsein angesprochen werde, weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Ich meine, ich weiß nicht, was das für mein Leben heißt. Ein bisschen klingt das „ich bin Christ“ nach romantischer Weltflucht, finden Sie nicht? Und dann noch diese biblischen Texte. Also ehrlich, ich verstehe noch nicht einmal ihre Sprache eindeutig, geschweige denn den Inhalt. Schlagen wir doch einfach mal eine Stelle auf: Philipper 4 Vers 4 f. [Text wird verlesen]. Da geh’ ich ja am besten gleich ins Kloster. Ach, selbst da ist doch so eine Position gar nicht lebbar. Das erinnert mich an meine Tante, die war auch so ’ne Fromme. Dass Paulus so etwas den erwachsenen Philippern empfiehlt, finde ich fast schon blauäugig. […] Hat das nicht auch schon Jesus in der Bergpredigt gesagt? Irgendwie so: Sorget euch nicht um euer Leben. […] Komisch, was so ein Wort plötzlich lostreten kann. Mensch, so eine Textstelle wirft mich ganz schön aus dem Konzept.“ 37 Untersuchungen zum Jargon lassen sich mit Beobachtungen aus der tiefen- und kommunikationspsychologischen Forschung verbinden. Der Prediger möchte womöglich „gefüttert“ werden, er befürchtet unter Umständen, eine Konfliktsituation in der Gemeinde nicht durchstehen zu können. 38 Welche Gründe man auch immer für das Auftreten der hier angesprochenen Sprechweisen anführen mag, sie eignen sich nur sehr bedingt dafür, das Christsein attraktiv erscheinen zu lassen oder den Eindruck der solidarischen Verbundenheit zwischen Prediger und Gemeinde zu erwecken. Im Gegenteil: Das Abschalten, Überhören und Uminterpretieren des Vernommenen durch die Hörer ist gewissermaßen vorprogrammiert, vor allem dann, wenn der Prediger seine eigene, persönliche 37 Predigtmanuskript mit Bezug auf Phil 4,4-7. 38 Vgl. H.-J. Thilo, 1974, 114 f. <?page no="48"?> 48 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Problematik, die sich möglicherweise an der Auseinandersetzung mit dem Text oder dem Thema der Predigt neu entzündet hat, auf die Gemeinde überträgt. Das Anstimmen ironischer und sarkastischer Töne bzw. das Einnehmen entsprechender Grundhaltungen geht - stärker als es beim Gebrauch von Jargonismen der Fall ist - mit klaren Distanzierungen einher, wobei der jeweils aufgezeigte Abstand zu Menschen, Dingen und Sachverhalten oft mit Entwertungen verbunden ist. Das heißt: In den einzelnen Predigten werden häufig diverse Sackgassen einer paradoxen, menschlichen Betriebsamkeit und einzelne Makel des westeuropäischen Lebensstils aufgezeigt, freilich - und das ist entscheidend - mit ‚hörbar hochgezogenen Augenbrauen‘ und mit dem bald empörten, bald resignierten Hinweis, dass sich bis auf Weiteres daran doch nichts ändern werde. Bei genauerem Hinsehen werden bald die Hegelsche „allgemeine Ironie der Welt“ 39 , bald A. Schopenhauers These von der allgemeinen Sinnlosigkeit des Lebens traktiert, bald werden H. Heines Verständnis von der „Ironie des großen Weltbühnendichters da droben“ 40 , bald F. Nietzsches Charakterisierung der Welt als Chaos perpetuiert, und es sind vor allem Nichtigkeitsfeststellungen, die Inhalt und Ton ironischer und sarkastischer Predigt bestimmen. Damit verbunden ist häufig das Bemühen, sich sowohl vom Theologisieren als auch von denen zu distanzieren, die dies weiterhin - u. a. auf der Kanzel - tun werden. Paul de Man deckte in seinen sprachphilosophischen Arbeiten 41 wiederholt die latente Neigung der Ironie zur Dekonstruktion auf. Er konstatierte an entsprechenden Texten selbstzerstörerische Tendenzen. Seiner Ansicht nach steht Ironie u. a. für fehlende Authentizität, die dem Schreiber bzw. Sprecher zwar bewusst sei; ebenso bewusst sei ihm jedoch, dass sie nicht überwunden werden könne. Im Gegenteil: „Man kann nicht nur ein bisschen ironisch sein.“ 42 Ironisch zu predigen bedeutet also, einen Bruch zu riskieren, der es nicht nur dem Prediger erschwert, eine konsistente und konstruktive Mitteilung zu kommu- 39 G. W. F. Hegel spricht wiederholt von der „tragischen Ironie“ der Welt. „Ein Recht tritt gegen das andere auf - nicht als ob nur das Eine Recht, das Andere Unrecht wäre, sondern beide sind Recht, entgegengesetzt, und Eins zerschlägt sich am Anderen“ (Hegel, 1986, Bd. 12, 393 f.). 40 H. Heine, 1986, Bd 7.1, 111, 199 und 1979, Bd 8.1, 182. 41 Vgl. bes. P. de Man, 1989. 42 „You can’t be ,a little ironic‘“, zitiert nach E. Behler, 1998, 624. <?page no="49"?> 49 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen nizieren, sondern der es ebensowenig dem Hörer erlaubt, zu einem schlüssigen Predigtverständnis zu gelangen. 43 Es mag Kommunikationssituationen geben, in denen Jargon und Ironie, vielleicht auch der Sarkasmus ihren Ort haben, z. B. als ultima ratio gegen die Ignorierung gebotener Distanzen, als Abwehrreaktion auf die Verletzung des Takts, als Schutzmaßnahme gegen die Überschreitung des persönlichen, individuellen Lebensbereichs. Ironische Rede kann durchaus auch im Interesse einer erwünschten und gesteuerten Provokation liegen oder - wohl dosiert - gar der Auflockerung einer verkrampften Gesprächssituation dienen und eine Form subversiven Humors sein. 44 Im Falle eines positiven Gebrauchs ironischer Redeweise käme dem Prediger am ehesten die rhetorische bzw. sokratische Rolle des „Zitterrochens“ zu, der den Zuhörenden in einen Dialog (auch mit sich selbst! ) verwickelt und seine festgefahrenen Auffassungen über sich, sein Leben, über Gott und die anderen erschüttert. Menon sagt in dem entsprechenden Dialog zu Sokrates: „Es kommt mir vor, als wärest du zum Verwechseln ähnlich jenem breiten Meerfisch, dem Marmelzitterrochen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren […]. Denn tatsächlich bin ich starr an Seele und Mund und weiß nicht, was ich antworten soll.“ 45 Aufgrund ihrer starken, gewohnheitsmäßigen sozialen Funktionalisierung und Bedeutung erfordern die in diesem Abschnitt angesprochenen Stile des Jargons, der Ironie und des Sarkasmus - sollen sie im Einzelfall konstruktiver Bestand- 43 Vgl. E. Behler: „Ironie ist hier […] keine Redefigur unter anderen, sondern […] ein Auseinanderreißen in der Sprache, welche es dem Autor unmöglich macht, seinen Text zu meistern und eine Sache unzweideutig zu sagen, aber es dem Leser ebenso wenig erlaubt, eindeutige Leseprotokolle zu verbuchen“ (ebd.). Diese „Zweideutigkeit“ ist von einer den Leser bzw. Hörer leitenden, inszenierten Mehrdeutigkeit, die beim Modell vom „offenen Kunstwerk“ unterstellt wird (vgl. Kap. I.4.3.4), zu unterscheiden. 44 In seelsorglichen Gesprächen - wie in der philosophischen Praxis grundsätzlich - hat die Ironie einen ganz anderen Stellenwert und gehört zu den Standards professioneller Gesprächsführung. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Ironie im Zweier- oder Dreiergespräch nicht im monologischen Block zur Geltung kommt, sondern zu bestimmten Formen einer gezielten Interaktion gehört. Durch einfache Wiederholung, Übertreibung oder durch das „ironische“ Behaupten des Gegenteils kann der Weg dafür bereitet werden, dass ein Ratsuchender etwas, was er mit großer Verbissenheit und Verzweiflung als letzte Wahrheit betrachtet, in einem anderen Licht zu sehen beginnt. Vgl. W. Engemann, 2002, bes. 119-121. 45 Platon, 1914, 36. <?page no="50"?> 50 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt teil der Predigt als öffentlicher Rede werden - außerordentlich feines Fingerspitzengefühl. 2.1.4 Abdriften ins theologische System Das „Abdriften ins theologische System“ ist Ausdruck eines Sicherheitsstrebens, das der religiösen bzw. theologischen Unentschiedenheit des Predigers hinsichtlich einer pointierten, angreifbaren Aussage der Predigt geschuldet ist. Also ventiliert er den Text und die ihm zu Gebote stehende Theologie, statt sich damit zu positionieren. Das kann auf eine durchaus virtuose Art und Weise geschehen, so dass zwar die Probleme und möglichen Facetten dessen, was er zu sagen hätte, zur Sprache kommen, nicht aber er selbst als Prediger, der etwas Konkretes sähe, etwas Bestimmtes wollte und dafür eigene Gründe in die Waagschale zu legen hätte. „Warum tut er das? Doch sicherlich auch, weil er hier der Versuchung begegnet, nicht nur seine Sache, sondern auch sich selbst sichern zu können. Nach dem Angebot eines vollständigen Systems kann ihm nichts mehr passieren - und es passiert in der Tat überhaupt nichts mehr. Und niemand glaubt, dass derjenige, der sich sichert, so in theologischer Besorgnis verkündet, überhaupt noch Interpret eines Evangeliums ist.“ 46 In der folgenden Predigt werden die Hörer zwischen der aussichtsreichen Rechtfertigungsbotschaft und der damit verbundenen Wiederentdeckung des Paradieses einerseits und starken Vorhaltungen angesichts ihrer angeblichen Interessenlosigkeit dem Paradies gegenüber andererseits dauernd hin- und hergeschubst. Eine der Sequenzen lautet: „Luther sagte einmal, als ihm die Erkenntnis über den wahren Glauben der Rechtfertigung allein aus Glauben gekommen sei, dies sei ‚wahrhaftig das Tor zum Paradies‘ gewesen. Dieses ‚Tor zum Paradies‘ hat sich für uns weithin wieder verschlossen. Und deshalb werden wir ja auch so verlegen, wenn man uns nach dem Evangelisch-Sein fragt. War für Martin Luther ‚Gott‘ noch selbstverständlich, so ist er das für uns keineswegs mehr. […] Schließlich suchen wir keinen ‚gnädigen Gott‘, sondern ein halbwegs zufriedenes, erfülltes Leben. […] Bei dieser ebenso nüchternen wie ernüchternden Bestandaufnahme stellt sich freilich die Frage, ob wir überhaupt noch etwas von Gott, von der Kirche erwarten. Sicherlich - ein wenig Geborgenheit, etwas Trost in schwierigen Situationen, Gemeinschaft Gleichgesinnter […]. Vom ‚Tor zum Paradies‘ nur noch wenige Spuren.“ 47 Weder zur konkreten Relevanz der Erfahrung von Rechtfertigung heute 46 H.-O. Wölber, 1971, 369. 47 Predigt zu Röm 3,21-28, zitiert nach F. Lütze, 2006, 165. <?page no="51"?> 51 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen noch über das den Prediger leitende Verständnis von Paradies erfährt man Genaueres. Verschiedenste Themen und Fragen klingen „irgendwie“ an, schieben sich ineinander und zeigen den Prediger alles in allem als missvergnügten Bedenkenträger. Vor diesem Hintergrund sind die Beobachtungen und Folgerungen Hans-Otto Wölbers verständlich: „Eine fleißige Predigthörerin erklärte einmal, sie habe immer das Gefühl, als würde ihr wohl zunächst mit der Predigt eine Hand entgegengestreckt. Aber zum Schluss würde die Hand wieder zurückgezogen.“ Wölber fasst die dahinterstehende Absicherungsstrategie des Predigers so zusammen: „Dringt er einmal vor zu einer kühnen Verwendung des Imperativs, so schwenkt er doch schließlich zurück zum theologisch dazugehörenden Indikativ. Preist er die Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung, so fügt er doch viele Gedanken über die Verfallenheit der Welt an. Er erstrebt also die Vollständigkeit des theologischen Systems.“ 48 Dieses System selbst ist natürlich kein Evangelium, sondern bestenfalls Instrumentarium zu seiner Plausibilisierung für Theologen. „Die viva vox evangelii muss nicht zuletzt darin eine viva vox sein, dass kraft einer Glaubensentscheidung festgestellt wird, was jetzt notwendig ist, aber nicht, was allgemein die ultima ratio eines theologischen Problems ist.“ 49 2.1.5 Verhebungen im Blick auf das Predigtziel Wenn Predigten von der Gemeinde eher als fehl am Platze denn als unklug, eher als belanglos denn inhaltslos empfunden werden, hängt das auch mit den von Predigern jeweils verinnerlichten Standards in Bezug auf die Aufgabe und die Möglichkeiten ihrer Predigt zusammen. Diese Standards wiederum werden mitbestimmt vom Selbstverständnis des Predigers und dem mit diesem Selbstbild verbundenen Begriff von seiner Rolle auf der Kanzel. Wer beispielsweise der Überzeugung ist, der Gemeinde jeden Sonntag „das Heil“ zu vermitteln, von dem sie ohne ihn nichts wüsste (und wer dabei möglicherweise noch unterstellt, dass das Hören seiner Predigt die bevorzugte Art und Weise sei, am Heil zu partizipieren), wird, wie entsprechende Predigtanalysen zeigen, eher dazu neigen, die reformatorische Wiederentdeckung der Rechtfertigungslehre zu referieren, als sich im Detail mit der Lebenswirklichkeit seiner Zeitgenossen auseinanderzusetzen und deren Fragen und Erfahrungen als hinreichenden Grund der Predigt anzuerkennen. 48 H.-O. Wölber, 1971, 368. 49 A. a. O., 369. <?page no="52"?> 52 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Inhalt und Gestaltung einer Rede hängen ganz wesentlich von den jeweiligen Funktionen und Zielen ab, die dieser Rede zugeschrieben oder von ihr erwartet werden. Dabei spielen der konkrete Redeanlass bzw. die jeweilige Situation eine besondere Rolle. Dass wir schon nach wenigen Sätzen sagen können, ob wir z. B. eine Ansprache zum Geburtstag eines Jubilars, eine Festrede für Schulabgänger oder eben eine Predigt hören, hängt mit einer Art „Standard-Repertoire“ zusammen, die wir für diesen und jenen Redeanlass verinnerlicht haben. Freilich: Je stärker dieses Repertoire beansprucht wird, umso größer ist die Gefahr der Klischeehaftigkeit einer Rede. Um ihr zu entkommen - und das gilt nicht nur für die Predigt, sondern auch für jede Rede-Gattung sonst -, ist es unabdingbar, sich von Fall zu Fall immer wieder neu mit der Funktion der jeweiligen Rede sowie mit den berechtigten (und unberechtigten) Erwartungen an sie auseinanderzusetzen. So begnügen sich viele Predigten damit, (a) theologische Themen zu erörtern, (b) eine historisierende Textauslegung zu betreiben, (c) allgemeine Belehrungen zum Umgang mit anderen zu erteilen oder (d) einzelne Aspekte christlicher Frömmigkeit zu ventilieren. So unzweifelhaft Bibelauslegung, theologische Information oder eine kritische Betrachtung der Alltagskommunikation auch in der Predigt ihren Ort haben, bleiben sie Sekundärmotive der Predigt. Als Selbstzwecke belasten sie die Primärfunktion der Predigt, mit Menschen angesichts der Erfahrungen, die sie machen, der Fragen die sie beschäftigen und der Probleme, die sich ihnen stellen, Perspektiven eines „Lebens aus Glauben“ in den Blick zu bekommen und - in der Sprache der Gleichnisse gesprochen - heute zu den Bedingungen des Reiches Gottes zu leben. Um der Funktion einer Rede mit dem zu entsprechen, was man sagt, ist es unerlässlich, sich zu fragen: Warum ergreife ich das Wort - abgesehen davon, dass es zur Zeremonie gehört? Was ist „der Fall“, der jetzt meine Rede nach sich zieht? Was bedeutet meine Rede für das Denken, Fühlen und Handeln der Hörer in ihrer Gegenwart? In vielen Predigten wird dieser Reflexionsgang in der oben angedeuteten Weise 50 umgangen: Zu a) So wird zum Beispiel gepredigt, „um eine erneute Beschäftigung mit dem Thema Abendmahl zu bewirken“, um „die Geschichte der Trinität nachzusprechen“, und um „die theoretische Frage nach Wesen und Bestimmung der Gemeinde“ und ihren „wichtigsten Aspekt - die Einheit der Kirche“ bei 50 Vgl. a) - d). <?page no="53"?> 53 2.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen aller „Schwierigkeit des Gedankens der Einheit“ zu erörtern. Zu diesen theologischen Fragen werden oftmals auch die theologischen Assoziationen und Erwägungen des Predigers gezählt. Demzufolge sei zu predigen, um „die Gemeinde am Begegnungsprozess des Predigers mit dem Text teilnehmen zu lassen“ 51 . Eine Predigt sollte jedoch nie ein Vortrag über ein Thema sein, sondern allenfalls anhand eines Themas - wie z. B. „Das Mahlhalten Jesu mit den Seinen und mit Zöllnern und Sündern“ - plausibel machen, in welcher Hinsicht davon die Rede sein kann, dass ich nach 2000 Jahren selbst an seinen Tisch geladen bin. Zu b) Häufig wird die Aufgabe der Predigt kurzerhand aus der Autorität der Schrift bzw. aus der Existenz eines Textes abgeleitet. Predigthörer können in diesem Fall den Eindruck gewinnen, dass die gerade dargebotene Kanzelrede in erster Linie die Folge davon ist, dass die Uhr auf Sonntag, 9.30 Uhr, steht und eine bestimmte Predigttextordnung die Erörterung eines ganz bestimmten Bibelabschnitts vorsieht. Warum das alles sonst noch gesagt werden muss, was da gesagt wird, ist dann kaum ersichtlich. Im Zuge solcher Predigten werden oft alle (vermeintlichen) Zentralbegriffe des Textes irgendwie zueinander in Beziehung gesetzt, voneinander abgegrenzt und mit den Zentralbegriffen anderer Texte und theologischer Systeme angereichert. Die Predigt hat aber ihre Aufgabe nicht erfüllt, wenn sie einen Text abschließend mit dem Etikett versehen kann: „Dies alles gilt nun auch für uns heute.“ Eine gewissenhafte Textbetrachtung gehört vielmehr zu den Voraussetzungen, die Aufgabe der Predigt schließlich nach bestem Wissen und Gewissen ins Auge fassen zu können und nach einer Sprache zu suchen, durch die die Hörer nicht primär über den Lebensbegriff des Paulus oder Johannes oder des Alten Testamentes unterrichtet, sondern gewissermaßen auf die Ankunft in ihrem eigenen Leben vorbereitet bzw. zum Leben ermutigt werden. Zu c) Allgemeine Belehrungen zum Verhalten im Alltag gehören zu den häufigsten Grundmotiven von Predigen. Entsprechende Predigten bleiben jedoch oft hinter dem zurück, was von Verbänden, Bürgerinitiativen, den städtischen Sozialämtern oder vom gesunden Menschenverstand über political correctness, Umweltschutz, Nachbarschaftshilfe gedacht, gedruckt und praktiziert wird. 51 Aus den Vorarbeiten zu studentischen Predigten mit Bezug auf 1 Kor 11,23-26, Röm 8,26-30, Eph 4,1-6 und 1 Kor 12,4-11. <?page no="54"?> 54 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt „Wieso erhoffst du für eine unbestimmte Zeit die Verbesserung der Verhältnisse? Es ist doch deine Nachbarin, die alt ist und sich einsam fühlt, und du brauchst nur über die Straße zu gehen und sie zu besuchen. Es ist doch dein Tetrapak, und du kannst ihn gegen eine Mehrwegflasche eintauschen! […] Der Geist treibt uns also dazu, unsere Welt jetzt zu verändern, weil wir auf dem Weg sind zu Gottes Ziel. Und wir erreichen es immer schon dort, wo wir uns Zeit nehmen für die Begegnungen im Alltag, wo wir die Augen offenhalten für die Verletzungen der Natur.“ 52 In einer anderen Predigt „soll gezeigt werden, dass es falsch und unbiblisch ist, die gesamte Menschheit in Gewinner und Verlierer einzuteilen: in die, die das ewige Leben verdienen, und die, die es nicht verdienen.“ 53 Braucht es, um zu dieser Einsicht zu gelangen, eine Auseinandersetzung mit Paulinischer Theologie? Nicht der Alltagsbezug als solcher ist aus der Predigt auszugrenzen. Er wird aber nicht dadurch hergestellt, dass die Hörer über die Grundregeln der Mitmenschlichkeit und Ökologie belehrt werden. Der Alltag ist predigtrelevant aufgrund der ihn bestimmenden Erfahrungsinhalte und der sich daraus ergebenden Fragen, Erwartungen und Haltungen, vor deren Hintergrund bzw. in deren Horizont die Kommunikation des Evangeliums erst möglich und plausibel wird. Zu d) Ein Problem stellt schließlich auch die Fixierung der Kommunikation des Evangeliums auf die Bearbeitung interner Aspekte christlicher Frömmigkeit dar. „Wir sollten doch noch mal darüber nachdenken, wie leichtfertig wir alle jeden Tag Gebote der Heiligen Schrift brechen; und zwar nicht nur Gebote, die wir als spezifisch jüdisch betrachten. Gott hat diese Gesetze in seiner Güte und Liebe für uns aufgestellt, um seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht sind manche Gesetze, die wir auf den ersten Blick als unbequem empfinden, gar nicht so dumm. […] Andererseits sollten wir auch nicht stumpf Gesetze und Tradition befolgen. Wir sollen darüber nachdenken, Vor- und Nachteile abwägen und dann nach unserem besten Wissen entscheiden.“ 54 Abgesehen von der theologischen Unzulänglichkeit und der extremen Gesetzlichkeit dieser beschuldigenden Argumentation ist es homiletisch problematisch, die klassischen Elemente christlicher Frömmigkeit letztlich doch nur vage zu ventilieren und irgendwie nur zu fordern, ohne sie im Kontext eines einladenden Verständnisses von christlicher Spiritualität bzw. eines Lebens aus 52 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,26-30. 53 Aus den Vorarbeiten zu einer studentischen Predigt mit Bezug auf Röm 6,19-23. 54 Predigtmanuskript mit Bezug auf Mt 12,1-8. <?page no="55"?> 55 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Glauben zu verankern. Dies setzte aber voraus, dass der Prediger seine eigene Freude an einem solchen Leben zur Sprache brächte und sich seiner inquisitorischen Haltung bewusst würde. 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik In der Geschichte der Homiletik lassen sich - soweit wir den Beginn einer wissenschaftlichen Reflexion der Rolle des Predigers im 19. Jahrhundert ansetzen - vier Phasen bzw. Argumentationslinien unterscheiden: (1) Am Anfang der Berücksichtigung der Rolle des Predigers für Gehalt und Gestalt der Predigt stand offensichtlich eine grundsätzlich wohlwollende Meinung von seiner Persönlichkeit als prinzipieller Chance für das Predigtgeschehen. (2) Lange Zeit hat man die Einsicht, dass notwendigerweise ein Subjekt mit der Aufgabe der Predigt befasst ist, in einen Katalog pragmatischer Forderungen an die Person des Predigers münden lassen. (3) Nicht unerwähnt bleiben darf das Bestreben, auf die Person des Predigers vor allem als Hindernis und Belastung für die Verkündigung des Evangeliums aufmerksam zu machen. (4) Das Interesse, die predigende Person methodisch wie theologisch als notwendiges Konstitutivum des Predigtgeschehens darzustellen, ist, wie zu zeigen sein wird, vergleichsweise neu. Die Positionen 1 bis 3 werden nachstehend im Sinne einer Einführung in die Problematik knapp skizziert. Der vierten Position, die die Forschung der letzten 70 Jahre zunehmend geprägt hat und die in der neueren Homiletik durchaus konvergent erörtert wird, ist das Kapitel I.2.3 in gebotener Ausführlichkeit gewidmet. 2.2.1 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielle Chance Die Wahrnehmung der Persönlichkeit des Predigers als einer prinzipiellen Chance für überzeugendes Predigen ging schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit empirischen Beobachtungen einher: Der Superintendent und Leiter des Göttinger homiletischen Instituts, Johann F. C. Gräffe, resümiert 1812 im Hinblick auf das Interesse der von ihm durchgeführten homiletischen Seminare: „Es kommt uns bei diesem Institute nicht sowohl darauf an, was der Prädikant im Sinne hatte, was er habe sagen wollen usf., als vielmehr darauf, was er gesagt hat, wie er es gesagt, und welchen Eindruck er auf seine Zuhörer gemacht hat. Dies ist ja die Hauptsache! “ 55 55 J. F. C. Gräffe, 1812, 43. <?page no="56"?> 56 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Der Eindruck, den ein Prediger als Persönlichkeit auf andere Menschen macht, wird freilich nicht um seiner selbst oder um irgendeines beliebigen Effekts willen begrüßt. So lässt Christian Palmer zwar gelten, dass der Prediger seine wissenschaftlichen Einsichten und seine Mentalität nicht aus der Predigt herauszuhalten habe, dies aber mit dem Interesse, „dass der Prediger etwas von sich selbst aussagt, das, wie z. B. eine gemachte Erfahrung, nun erst sich erproben soll […], oder von dem stillschweigend vorausgesetzt wird, dass es allgemeine Erfahrung sei, und das nun bloß vermöge einer Art von Individualisierung in der ersten Person ausgesprochen wird, wodurch es mehr Anschaulichkeit gewinnt und eben durch die individuelle Färbung einen eigentümlichen Reiz erhält“ 56 . Dass „ein nichts weniger als neuer Satz uns doch ganz neu ist, wenn der Mann, der ihn spricht, eine geistige und Leben erweckende Persönlichkeit ist“ 57 , wird von Palmer an anderer Stelle im Sinne eines Plädoyers für die Präsenz der Predigerpersönlichkeit in der Kanzelrede angeführt. Die oben angedeutete, prinzipiell positive Einschätzung der Person des Predigers drückt sich in der Homiletik des 19. Jahrhunderts vor allem darin aus, dass, zumindest generell, zwischen einem „biblischen Zeugnis“ und einem „persönlich gefärbten Zeugnis“ keine Kluft aufgerissen wird. Biblischer Text, Person und verkündigtes Evangelium werden im Gegenteil in einem sich sinnvoll ergänzenden, konvergenten Zusammenhang gesehen. „Die ewige Wahrheit [wird] in der Predigt nicht in abstrakter Weise, nicht als Depesche an die Menschen übermacht […] wobei der Bote eine völlig gleichgültige Figur ist, da ein Telegraph oder eine Brieftaube dasselbe hätte leisten können; sondern dass eben der Mann es ist, mit dem sich das Bibelwort aufs Innigste verschmolzen hat, dass seine Person mich hinzieht zum Evangelium.“ 58 Nicht der ausrichtende Herold, sondern der in Person von der Botschaft mitbetroffene Zeuge fungiert hier als homiletische Identifikationsfigur. Deshalb gilt: „Der Prediger muss mit seiner Predigt in eigner Person vor der Gemeinde erscheinen […]. Sie [d. h. die Predigt] ist die volle Manifestation der Persönlichkeit.“ 59 56 Ch. Palmer, 1857, 547; Hervorhebung W. E. 57 A. a. O., 632. 58 A. a. O., 553. 59 A. a. O., 600. Diese Sicht hat für Palmer zur Folge, die Bildung von Predigerpersönlichkeiten und ihre Begleitung auch in Fragen des Glaubens als eine wichtige Aufgabe pastoraler Ausbildung (z. B. im Rahmen von Predigerseminaren) zu betrachten. <?page no="57"?> 57 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Palmers Ansatz wurde im 20. Jahrhundert zunächst von Helmut Schreiner rezipiert. Schreiner legte dar, dass beim Wechsel von der vermeintlich objektiven Predigt in die bewusst subjektive „der Zeuge den Imperator ab(löse)“ 60 . Friedrich D. E. Schleiermachers homiletische Impulse sind jedoch für die Thematisierung des Predigers im homiletischen Prozess von noch größerer Wirkung gewesen. Dazu hat vor allem sein Versuch beigetragen, die Reflexionsgegenstände der Predigt in der Trias von Text, Gemeinde und Prediger einander gleichrangig zuzuordnen. Zur Funktion des Predigers hält er fest: „Vermittels des Einflusses seiner lebendigen Persönlichkeit soll er die gemeinsame Anregung leiten und ihr eine bestimmte Richtung geben.“ Der Prediger sollte niemals „glauben, seinem Berufe Genüge geleistet zu haben, wenn nicht die Totalität seiner Amtsführung auch die Totalität seiner ganzen religiösen Selbstdarstellung ist“ 61 . Heute würden wir - in Konvergenz zu Schleiermacher - vielleicht eher an die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Präsenz des Predigers erinnern und darauf verweisen, dass die Glaubwürdigkeit dessen, was der Prediger sagt, untrennbar mit seinem „persönlichkeitsspezifischen Credo“ 62 zusammenhängt. Darunter ist nicht die Inkaufnahme einer Privatdogmatik des Predigers zu verstehen, sondern es geht um die bewusste Einbeziehung von Konkretionen des Glaubens, um Erfahrungen und Bilder, in die - von jedem Menschen in spezifischer Weise - das Credo der Kirche übersetzt wird und Gestalt gewinnt. Die Einbeziehung dieser Spezifikationen schadet dem gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens nicht, sondern dient seiner Plausibilität. Die homiletische Favorisierung der Person des Predigers hatte also Gründe, die schon zum damaligen Zeitpunkt einen interdisziplinären Charakter haben. Sie sind u. a. von der Überzeugung motiviert, dass es sowohl zur Verständlichkeit wie zur Glaubwürdigkeit und zur Wirksamkeit der Kanzelrede nicht nur der reinen Lehre, sondern auch - modern gesprochen - einer adäquaten Beziehungsebene bedarf, die ohne „personale Authentizität“ auf Seiten des Predigers (um nur einen Aspekt zu benennen) gar nicht erst aufgebaut werden 60 H. Schreiner, 1936, 161. 61 F. D. E. Schleiermacher, 1850, 204 f. Bei dieser kühn anmutenden These ist freilich zu berücksichtigen, dass Schleiermacher das bewusste Sich-Hineinstellen des Predigers in die Tradition seiner Kirche voraussetzt, die ihm eine „lebendige protestantische Freiheit“ ebenso zutraut wie abfordert (a. a. O., 204). 62 Vgl. K. Winkler, 1997, 267-269. <?page no="58"?> 58 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt kann. Mit anderen Worten: Was in der Predigt gesagt werden soll, ist nur in dem Maße kommunikabel, als es den Prediger auch als Person selbst berührt und Teil seiner Überzeugung geworden ist. „Die eigentümliche homiletische Erbauung wird erzeugt durch die individuelle Assimilierung des Gotteswortes in der Person. Diese Erbauung erreicht der Prediger nicht wahrhaft, wenn seine Rede nicht als ein wahres Eigentum, als seine lebendige Überzeugung erkannt werden kann. Fehlt dieses, so schließen sich die Zuhörer misstrauisch ab gegen den Einfluss der Rede.“ 63 Wie Schleiermacher, Palmer und andere der in diesem Kapitel zitierten Praktischen Theologen bemüht sich auch Alexander Schweizer darum, einer naiven Gutheißung alles Individuellen entgegenzuwirken. An seinen Argumenten wird freilich auch deutlich, dass sich die Versuche und Plädoyers jener Zeit kaum auf zuverlässige Methoden oder konkrete Kriterien stützen können, sondern zunächst eine Frage der - wiederum persönlichen - Einschätzung sind: „Von hier aus sagt man etwa: ,Der Prediger soll seine Individualität verleugnen.‘ - Richtig, wenn gemeint ist, diese sei dem göttlichen Worte unterzuordnen, unrichtig, wenn das Leben der Individualität als profan aus dem Kultus ausgewiesen werden soll. Profan ist der bloß natürliche Mensch. […] Der neue Mensch aber stellt sich, sowohl überhaupt, als wie er in der erregtern Persönlichkeit individualisiert ist, im Kultus dar; denn jeder ist Mensch und Individuum zugleich. […] Die Individualität ist aber von der Persönlichkeit bestimmt zu unterscheiden; das Heilsleben ist persönlich erschienen in Christus und erscheint immerfort nur in der gläubigen Persönlichkeit, drückt sich in dieser aus als Gedanke und Wort. […] Nur dasjenige Individuelle, welches aus keinem gemeinsamen Glaubensgrund erfüllt wäre, kann im Kultus nicht erscheinen; hingegen muss in ihm mit zur Darstellung kommen, was lebendige Ausprägung des Gemeindeglaubens in der individuellen Persönlichkeit ist. […] Zu predigen ist das Wort Gottes, wie es die individuelle Persönlichkeit erfüllt, Christus, wie er lebendige Gestalt in der Person gewinnt und in die persönliche Individualität sich ausprägt.“ 64 Gegen die Auffassung, dass die Person des Predigers eine prinzipielle Chance für die Predigt sei, werden im 19. Jahrhundert vergleichsweise wenige Vorbehalte geäußert. 65 Jene Theologen, die die grundsätzlich positive Einschätzung 63 A. Schweizer, 1848, 172. 64 A. a. O., 138 f.; Hervorhebung W. E. 65 Vgl. z. B. C. I. Nitzsch, 1848, 46. Freilich gesteht Nitzsch - trotz seines dogmatisch-deduktiven Predigtverständnisses, in dem „göttliches Wort“ und „Auslegung heiligen Schriftinhalts“ „objektive Bestimmungen“ sind (a. a. O., 48 f.) -, der aufmerksamen <?page no="59"?> 59 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Schleiermachers, Palmers, Schweizers u. a. nicht rezipieren bzw. fortführen, tun dies weniger aus einer dezidierten Gegenposition heraus, sondern weil sie in ihrem eigenen Ansatz keinen rechten Ort dafür finden. 66 2.2.2 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielle Aufgabe Das in der Homiletik des 19. Jahrhunderts wohlwollend wahrgenommene, bewusste Eintreten der Persönlichkeit in das Predigtgeschehen wurde mehr und mehr zu einer prinzipiellen Aufgabe erklärt. Um 1890 67 zeichnet sich in der Praktischen Theologie das Bestreben ab, die Person des Predigers nicht nur gelten zu lassen; die stetig gestiegenen Erwartungen schlagen allmählich in standardisierte Anforderungen an seine Persönlichkeit um. „Es ist überhaupt ein meistens irrtümliches Gerede, wenn verlangt wird, dass der Prediger, wie man sich ausdrückt, ,nichts von seinem Eigenen zum Gotteswort hinzutue‘. Wer tut denn nichts von seinem Eigenen hinzu? Nur der gedankenlose, ideenarme Abschreiber. Sobald […] ich wirklich predige, verwerte ich das Gotteswort individuell. Eine jede praktische Auslegung des Letzteren macht sich also gerade dadurch und nur dadurch, dass ich mein Eigenstes über das Schriftwort disponieren lasse.“ 68 Der Anspruch dieser Homiletik ist deutlich: Die Präsenz des „ganzen Mannes“, der „Ausdruck seines eigensten Lebens“, kurz, die „eindrucksvolle Persönlichkeit“ wird ein Maßstab guter Predigt. Ihr Eindruck ist „für den Erfolg der Predigt […] von der entscheidendsten Bedeutung“ 69 . Die Predigt soll anregend sein und durch ihr Gestimmtsein - das heißt vor allem: durch die Stimmung des Predigers - gegebenenfalls die ganze Gemeinde in eine ebenso harmonische Stimmung versetzen. Originäre Ideen sind gefragt. Der Predigt fehlt offen- „Persönlichkeit des Predigers“ (nicht seiner „mit allerlei Gebrechen und Leidenschaften behafteten“ „Individualität“) eine die Predigtwirkung fördernde Funktion zu (a. a. O., 52). Vgl. auch die positive Rollendefinition der Person im Rahmen der Seelsorge (a. a. O., 2). 66 Das betrifft - nach Einschätzung des Kirchenhistorikers Ernst Koch (1982, 223) - vor allem aus der Erweckung hervorgegangene homiletische Entwürfe, die die Person des Predigers nur in ihrer potentiellen Zeugenfunktion wahrnehmen. Auf diesen Aspekt kommen wir unter III.2.2.5 genauer zu sprechen. 67 E. Koch spricht von einem „Neuansatz der Homiletik um 1890“ (1982, 224). 68 A. Krauß, 1883, 135. 69 F. J. Winter, 1901, 985 f. <?page no="60"?> 60 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt sichtlich etwas, wenn der Prediger es nicht geschafft hat, „sein Eigenstes“ zum Schriftwort in Beziehung zu setzen. Dem Prediger wird dabei ebenso viel abverlangt wie zugetraut: Nicht nur, dass er (nachdem er sich mit dem Gotteswort „ganz persönlich“ auseinandergesetzt, sich „die eigene Versuchbarkeit“ vor Augen gehalten und „seine Schwachheit“ nicht zu verbergen gesucht hat) „in den Hörern verwandte Klänge“ wachrufen kann. 70 Der Prediger wird zum ganz bewussten, persönlichen In-Erscheinung-Treten motiviert. Sein Gesamterscheinungsbild „mit alle dem, was man von seiner Treue und Wahrhaftigkeit und Güte weiß“, kann vermeintlich stärker als eine rhetorisch gelungene Rede auf die Hörer wirken und ihnen in hilfreicher Erinnerung bleiben. 71 Die direkten und impliziten Appelle zu einer stärkeren Einbringung der eigenen Persönlichkeit sind wohl u. a. die Folge davon, dass die bloßen Proklamationen der Bedeutung der Persönlichkeit für die Predigt nicht zu dem erwünschten Resultat geführt haben. Vielleicht sind sie somit auch Spiegelbild einer im Ganzen unbefriedigenden Situation. Es scheint schwierig gewesen zu sein, die Funktionen und die Art und Weise des Einbringens der Predigerpersönlichkeit zu konkretisieren. Sonst hätte man das Anliegen, die Relevanz des Evangeliums im Horizont der eigenen Existenz zur Geltung zu bringen, nicht immer wieder gegen das Missverständnis abgrenzen müssen, ein Prediger habe „von sich selber zu reden und die ,eigene Erfahrung‘ auf der Kanzel zur Schau zu zeigen“ 72 . Ebenso wenig hätte dann beklagt werden müssen, dass rhetorische Kunst, sprachliche Virtuosität oder das Kopieren anderer berühmter Prediger höher im Kurs stehe als der Mut zur persönlichen Eigenart und adäquaten Ausdrucksformen. Dieses Schlaglicht auf die zweite Phase der Thematisierung der Person des Predigers im Kontext der Homiletik macht deutlich, „dass die wichtigen Erkenntnisse dieser Generation zur Frage nach dem Einfluss des Predigers auf die Predigt den Prediger dennoch allein gelassen“ 73 haben. „Unbedingte persönliche Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit und rückhaltlose Solidarität mit dem zweifelnden Zeitgenossen“ 74 ersetzen keine methodischen Überlegungen, sondern erfordern sie. Bevor sich diese Einsicht durchsetzte, etablierte sich jedoch 70 H. A. Köstlin, 1907, 320. 71 F. Niebergall, 1909, 151. 72 H. A. Köstlin, 1907, 321. 73 E. Koch, 1982, 227. 74 A. a. O., 224. <?page no="61"?> 61 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik in der Homiletik eine tiefe Skepsis in Bezug auf eine die Kommunikation des Evangeliums fördernde Rolle des Predigers. 2.2.3 Die Persönlichkeit des Predigers als prinzipielles Hindernis Zur Erfahrung der Gemeinden nach zwei Weltkriegen gehörte die Erfahrung des Versagens von Menschen, die im Namen Gottes und im Auftrag der Institution Kirche gehandelt und gepredigt hatten. Von daher ist die Skepsis gegenüber einer positiven, an der Person des Predigers festzumachenden Rolle zu verstehen, die sich in der Homiletik nach 1920 stärker als in anderen Epochen predigttheoretischer Reflexion niederschlägt. Dieser Skepsis entspricht offensichtlich der Wunsch, sich als Theologe und Prediger von der Aufgabe zu entlasten, aus der Krise herauszuführen. Auch das Interesse, für eventuelle neue Krisen nicht persönlich verantwortlich gemacht zu werden, mag bei dieser Einstellung eine Rolle gespielt haben. Die „radikale Besinnung auf die Botschaft allein“ 75 ist der theologische Ausdruck dieses Interesses, das wohl von kaum einem anderen so deutlich in Sprache gefasst wurde wie von Eduard Thurneysen. Er sieht „zwischen dem Wort des Predigers und dem Wort Gottes […] eine tiefe Kluft […]. Nur in der tiefen Einsicht kann gepredigt werden, dass eigentlich nicht gepredigt werden kann. Nur der wird das Wort Gottes auf die Lippen bekommen, der weiß, dass Gottes Wort auf keines Menschen Lippen liegen kann.“ 76 Später formuliert Heinrich Vogel: „Unser Wort ist diesem Wort [Gottes] anheimgefallen, ist nicht unser Eigentum. Wir haben kein Verfügungsrecht darüber, sind auch nicht Autor unserer Predigt.“ 77 Wie aus dem Kontext der entsprechenden Formulierungen bzw. aus ergänzenden Äußerungen hervorgeht, sind sie durch die Auffassung miteinander verbunden, dass die Predigtvorbereitung vor allem ein rezeptiver und das Predigen ein instrumenteller Akt sei, von Gott selbst ausgeführt. Es wird unterstellt, dass der Prediger als Person und Individuum, als kreatives Subjekt nichts Substantielles zur Förderung der Predigt beisteuern kann. Mit dieser Ansicht hat sich auch Hans Urner einen Namen gemacht. In Anlehnung an Thurneysen verlangt er: „Was er [d. h. der Prediger] hört, soll er sagen - nicht, was er denkt, 75 E.-R. Kiesow, 1990, 103. 76 E. Thurneysen, [1921] 1971, 105-107. 77 H. Vogel, [1930] 1971, 161. <?page no="62"?> 62 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt nicht, was er erfahren hat“, um auf diese Weise jede „Trübung des Gotteswortes zu vermeiden“ 78 . Eigentlich sollte über jeder Predigt stehen: „Der Prediger als Hindernis.“ Denn „alles, was der Prediger mitbringt, kann hinderlich sein! Zum Prediger wird er erst durch das Wort Gottes, das ihm gesagt wird, damit er es weitersage. […] Der Text - als Gottes Wort - wird die unvermeidlichen Hindernisse überwinden.“ 79 Gegenüber diesem weder theologisch überzeugenden noch homiletisch durchzuhaltenden Urteil wird unter I.1 und I.3 dieser Einführung dargelegt, dass Rezeption und Produktion von Texten - und zwar auch von denen der Bibel - nicht nur untrennbar zusammengehören, sondern in starkem Maße und notwendigerweise von der Person mitbestimmt werden, die mit diesen Texten umgeht oder sie entwirft. Die periodische Einordnung dieser, den Prediger vor allem als Hindernis sehenden Betrachtungsweise, ist schwierig. Ernst Koch resümiert, „die Homiletik nach 1945 [habe] den Prediger als Faktor der Predigt weitgehend als Belastung für die Predigt“ verstanden. 80 Dies trifft für die breite Rezeption dieses Ansatzes gewiss zu. Die entscheidenden Wegbereiter dieser homiletischen Position haben sich jedoch schon früher mit ihren Bedenken zu Wort gemeldet, so dass es angemessen zu sein scheint, bereits in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg einen entsprechenden Umschwung in der Meinung über den Prediger zu konstatieren. Entwicklungsprozesse lassen sich kaum - zumal, wenn es um die allmähliche Veränderung in bestimmten theologischen Grundauffassungen geht - auf das Jahr genau abzirkeln. 81 Soweit man jedenfalls die Kriege in den Begründungszusammenhang für das Umschlagen der homiletischen Argumentation einbezieht, ist davon auszugehen, dass die positive Einschätzung der Person schon durch die Erfahrungen des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts erschüttert wurde. Wenn sich ganze Weltbilder revolutionieren und wenn vormalige Ideale als irreführend erlebt werden (vgl. analoge Entwicklungen in der Literatur, Musik, Malerei usw.), kann die einzelne Person, die in der Welt irgendwie agieren muss, dies offensichtlich nicht mehr zu den „alten Bedingungen“ bzw. unter den früheren Prämissen tun. 78 H. Urner, 1961, 95. 79 A. a. O., 85. 80 E. Koch, 1982, 231. 81 Wie wir noch sehen werden, ist das wichtigste Werk zur Bedeutung der Subjektivität für die Predigt von Otto Haendler (spätere Entwicklungen antizipierend) sogar in der Blütezeit der Dialektischen Theologie noch während des Zweiten Weltkrieges (1941) verfasst und publiziert worden (vgl. O. Haendler, 2017b). <?page no="63"?> 63 2.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Der einseitige, stereotype Verweis an das „Wort Gottes“ war an die dunkle Anweisung gekoppelt, der Prediger solle hinter sein Zeugnis zurücktreten, um dem Worte Gottes nicht im Wege zu stehen. 82 Dass es hierzu keinerlei Anleitung gab - eine solche könnte ja die Predigt als etwas Machbares erscheinen lassen -, hatte zur Folge, dass der Prediger wiederum alleingelassen war, wenngleich aus anderen Gründen. Während sich die Homiletik Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts häufig, soweit sie von der Person des Predigers handelte, auf Appelle zur persönlichen Ausstrahlung beschränkte, übersah die folgende Epoche die von ihr zuvor selbst ausgerufene, „beschämende und hilflos machende Not des Nichtkönnens“ 83 . Dem Prediger wurde auferlegt, das Reich Gottes als Zeuge zu proklamieren, ohne dass ihm gleichzeitig eine angemessene Orientierung dafür angeboten worden wäre, wie dies „unter Absehung von seiner Person“ geschehen könnte. Dass der „Tod des Predigers“ in verschiedenen Varianten homiletisch gefordert bzw. dogmatisch konstruiert wurde, dürfte kaum als Hilfe empfunden worden sein. Hier lässt sich eine Argumentationstradition von Eduard Thurneysen bis Rudolf Bohren nachzeichnen. Jener betonte, dass „nur der Gottes Zeuge sein“ dürfe, „der sterben will, indem er vom Leben redet“ 84 . Solches „Sterben“ bedeutete für Thurneysen, insbesondere auf Redekunst zu verzichten, die in der Gefahr stehe, etwas zu bewerben, was dem Prediger persönlich am Herzen liege, nicht jedoch Gottes Sache sei. 85 Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Thurneysens Aufsatz ist bei Bohren zu lesen: „Gottes Wort bleibt Gottes Wort, darum muss der Mensch, der es ausrichten will, am Wort sterben.“ 86 Ebenso frischt Rudolf Bohren - trotz partikulärer Zugeständnisse an die Redekunst - Thurneysens prinzipielle Skepsis gegenüber rhetorischen Bemühungen auf. Zur Untermauerung seiner Argumentation erzählt er, wie es ausgerechnet einem Stammler und Stotterer geschenkt worden sei, ihn als Hörer anzusprechen - einem Prediger also, der die Eigenbewegung des Wortes Gottes offensichtlich nicht durch seine Redekunst zu stören vermochte und so zum geeigneten „toten“ Instrument wurde. 87 Diese Argumentation steckt voller Aporien und Widersprüchlichkeiten, deren Ursache der Verzicht auf ein kohärentes Modell zum Verständnis des Predigtgesche- 82 Zur Problematik vgl. III.4.2. 83 O. Haendler, [1960] 2017b, 292. 84 E. Thurneysen, [1921] 1971, 107. 85 A. a. O., 111 f. 86 R. Bohren, 1971, 218. 87 Vgl. R. Bohren, [1971] 1993, 23. <?page no="64"?> 64 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt hens und eine darauf bezogene Rechenschaftslegung über den homiletischen Arbeitsprozess ist. Dass es mit diesen Einschätzungen und Appellen nicht sein Bewenden haben konnte, lag auf der Hand. Es reichte nicht aus, die Prediger in Anbetracht der Krise der Kirche, der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft und nicht zuletzt im Blick auf die sich rasant veränderten Bedingungen der Lebenswelt der Hörer nur auf die Credenda der Homiletik zu verweisen und die Facienda mit ein paar Praxistipps abzutun. 88 Gleichwohl ist diese Vorgeschichte zu berücksichtigen, will man neuere Ansätze verstehen, die versuchen, den Prediger im Rahmen seiner personalen, kommunikativen und konfessorischen Kompetenz als notwendigen Faktor der Predigt in den Blick zu bekommen. Eine theoriegeschichtliche Zwischenetappe von einer dialektisch-theologischen Problematisierung der Subjektivität des Predigers hin zu einer ihn als Person homiletisch würdigenden Predigtlehre findet sich in den Texten Emanuel Hirschs. „Wenn die Subjektivität wider den Felsen der ewigen Wahrheit anbrandet, wenn die persönliche Aneignung des Evangeliums ins Herz und Gewissen des Predigers sich als eine krisenreiche und segensreiche innere Geschichte vollbringt, so wird die Predigt beides zugleich sein können: Zeugnis von dem Einen und Ewigen, das jenseits alles Wahns und Wunsches steht, und Bekundung eines subjektiven unter der Gewalt Gottes stehenden und sich bewegenden Herzens.“ 89 Die Person des Predigers wird hier freilich nicht als die Person, die sie ist, zum Ausgangspunkt homiletischer Theoriebildung, sondern der Prediger kommt als Subjekt nur „unter der Gewalt Gottes“ in den Blick, als Subjekt zumal, das „wider den Felsen der ewigen Wahrheit anbrandet“. Für den Predigtprozess ist die Person des Predigers nur als unausweichlicher Durchgang des Evangeliums von Bedeutung, „als Weg der inneren Umgestaltung eines lebendigen Menschenherzens“, den das Evangelium nimmt, um „andere Menschenherzen zu erreichen“ 90 . Wiederum ist der Prediger als potentielles Hindernis im Blick, solange er sich jener inneren Umgestaltung versperrt, und wiederum ist das eigentliche Subjekt der Predigt das Evangelium selbst, wiederum 88 Im Übrigen fällt auf, wie schlecht die homiletische Parole, in einer Predigt nichts anderes zu sagen als das, was man höre, und dabei auf jede Beredsamkeit zu verzichten, zur Predigtpraxis derer passt, die sie verbreitet haben. Thurneysen wie Bohren sind die Rechenschaft dafür schuldig geblieben, wie ihre virtuose Textauslegung und glänzende Rhetorik in den Theorierahmen ihrer Homiletik verankert werden könnten. - Auf die Bedeutung der Sprache und die Funktion der Rede kommen wir unter III.4 ausführlich zu sprechen. 89 E. Hirsch, 1964, 42. Hervorhebungen W. E. 90 Vgl. H. M. Müller, 2002, 209. <?page no="65"?> 65 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven wird die Kommunikation des Evangeliums letztlich unabhängig von den Ängsten und Wünschen des Predigers gedacht. Das aber bedeutet: Nicht der Prediger predigt, sondern die Predigt predigt bzw. Gott bzw. sein Wort bzw. das Evangelium. Die Predigt wird als Geschehen gedacht, das - zusammen mit dem predigenden Subjekt - ganz „unter der Gewalt Gottes“ steht. In dieser Betrachtungsweise werden sowohl das Potential des Predigers als Subjekt als auch die Probleme des Predigers als Subjekt unterschätzt. 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 2.3.1 Personale Kompetenz als homiletische Kategorie Der entscheidende Impuls für eine konzeptionelle und methodisch reflektierte Integration der Person des Predigers in die Homiletik kam von Otto Haendler. Er versteht das „Subjekt des Predigers als Ausgangs- und ständigen Orientierungspunkt“ 91 der Predigtlehre: „Wenn jemand Sonntag für Sonntag mit seinem Munde, mit Worten seiner Sprache, mit Hilfe seiner Erfahrung und Erkenntnis das Evangelium verkündet, so ist seine Person um der Sache willen so wichtig, dass wir ihr die größte Aufmerksamkeit zuwenden müssen.“ 92 Bevor wir uns klar machen können, wie dieser Ansatz inhaltlich zu präzisieren ist, müssen wir uns mit einem Missverständnis auseinandersetzen, das sich wiederholt in der Rezeption des Haendler’schen Ansatzes niedergeschlagen hat: Haendler redet keinerlei Subjektivismus das Wort. 93 Im Gegenteil, sein Ansatz ist um der Sache und um der Gemeinde bzw. der Hörer willen ernst zu 91 Vgl. O. Haendler, 2017b, 296-303. Eine ausführliche Einführung in die homiletische Argumentation Haendlers sowie in die Rezeption seiner „Predigtlehre“ und seiner übrigen homiletischen Vorträge und Schriften findet sich in Otto Haendler: Homiletik. Monographien, Aufsätze und Predigtmeditationen, eingel. und hg. von Wilfried Engemann (= OHPTh 2), Leipzig 2017, 209-267. Zum Verständnis der personalen Dimension der Predigt bei Haendler vgl. die umfassende Untersuchung von Christian Plate: Predigen in Person. Theorie und Praxis der Predigt im Gesamtwerk Otto Haendlers (= APrTh 53), Leipzig 2014. 92 O. Haendler, 2017b, 298. 93 „Subjektivistisch sein, als Verzerrung von subjektiv sein, bedeutet, durch seine Subjektivität die Sache zu stören. Objektiv sein bedeutet, als Subjekt von der Sache getragen sein und als Subjekt die Sache tragen“ (a. a. O., 328). <?page no="66"?> 66 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt nehmen. 94 Die Aufmerksamkeit gegenüber dem Prediger als Subjekt resultiert aus der Einsicht, dass 1. die Sache der Predigt, also das Evangelium, nicht kommuniziert werden kann, ohne durch ein Subjekt dargestellt zu werden. 2. Außerdem sind die Hörer beim Verstehen dieses Evangeliums auf eine Predigt angewiesen, hinter der ein „Mitringender“ erkennbar ist, dessen Rede „echter Ausdruck des Standortes des Predigers“ 95 ist. Zur 1. These: Haendlers leidenschaftliches Plädoyer für eine angemessene Berücksichtigung der Subjektivität ist also verbunden mit der Forderung einer neuen Objektivität in der Homiletik, die nur erreicht werde, wenn der Prediger „als Subjekt von der Sache getragen“ werde und „als Subjekt die Sache“ 96 trage. Durch „sorgsames Erforschen des Subjekts, seiner Gegebenheiten und Möglichkeiten, [soll] die objektive Erkenntnis gefördert“ und der Predigtdienst „gestützt und gesichert“ werden. 97 Haendler fordert das Nachdenken über die Persönlichkeit des Predigers nicht ein, um die Kanzelrede aus ideologischen Gründen zu entdogmatisieren, sondern weil er überzeugt ist, dass gerade das Insistieren auf der Objektivität der Botschaft und der eilfertige Rückgriff auf dogmatische Richtigkeiten in der Predigt dazu führen, dass die Subjektivität einzelner Prediger ungehemmt in den Predigtprozess hineinwirkt. 94 In dieser Hinsicht besteht zwischen der Intention O. Haendlers und R. Bultmanns eine interessante Konvergenz. Es ist weniger das zeitgleiche Erscheinen von Haendlers Homiletik und Bultmanns programmatischem Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“ (1941), das beide Impulse aufeinander verweisen lässt, sondern beide Theologen ringen um die „Beseitigung falscher Glaubensanstöße“: Wie sich Bultmann mit rationalen Blockaden auseinandersetzt (die sich aus einem nicht zur Interpretation angenommenen Mythos ergeben), um dabei die eigentlichen Ärgernisse des Evangeliums offenzulegen, so befasst sich Haendler u. a. mit psychischen Sperren. Sie entstehen seiner Ansicht nach u. a. dadurch, dass Prediger in ihrer Rede dogmatische Glaubenssätze reproduzieren, ohne für deren Inhalte im Horizont individueller Erfahrung einen eigenen, persönlichen Ausdruck erarbeitet zu haben. Vgl. bereits J. Henkys, 1990, 45 sowie K.-P. Jörns, 2008, 19-28. 95 O. Haendler, 2017b, 402. 96 A. a. O., 328. Die Charakterisierung des Predigers als Subjekt einer konkreten Predigt schließt nicht aus, sondern ein, die Kirche bzw. die Gemeinde als theologisches Subjekt der Predigt zu verstehen (vgl. a. a. O., 22 sowie III.4.5 in diesem Buch). 97 O. Haendler, 2017b, 298. <?page no="67"?> 67 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Der Prediger steht also nicht vor der Frage, ob er die Rolle und Wirkung seiner Subjektivität im Predigtgeschehen bejaht oder ablehnt, sondern wie er sie berücksichtigt, ob er sie integriert oder ignoriert und damit in Kauf nimmt, sich in der Vorbereitungsphase der Predigt ebenso wie im Akt des Predigens um sich selbst zu drehen - und unkontrolliert seinen individualistischen Vorstellungen, Vorlieben und Ängsten zu folgen. „Wer unter möglichster Ausscheidung alles Subjektiven ganz zu einem Werkzeug in Gottes Hand werden will, wird nicht zu dem Werkzeug Prediger […], sondern er würde zur Schallplatte […]. Wer sich in diesem Sinne glaubt ,ausgeschaltet‘ zu haben, in dem wirken die subjektiven Kräfte sich unkontrolliert, ungeregelt und unnormiert aus.“ 98 Zu These 2: Kenntnisse über das Profil der eigenen Persönlichkeit und die Art und Weise ihrer Präsenz in der Predigtkommunikation sind von entscheidender Bedeutung für die Beziehung zum Hörer und den Umgang mit ihm. Ein Prediger, der sein Leben und seinen Glauben primär als Pflichterfüllung versteht und vor allem den Gehorsam zum obersten Prinzip seiner Amtsführung erklärt, werde, so Haendler, Schwierigkeiten damit haben, die Gemeinde in die Freiheit des Glaubens zu begleiten. „Wo der Prediger noch gewaltsam ist gegen sich selbst, ist er es auch in der Predigt gegen andere. Wo er noch leidet, ohne durchzubrechen, entweder zur Freiheit der Seele [d. h. hier zur Freiheit aus Glauben] oder zur Freiheit vom Zwang, kann er auch die anderen nicht zur Freiheit führen, die doch gerade darauf in seiner Predigt warten.“ 99 Ähnlich erklärt er an anderer Stelle: Wer anderen durch seine Predigt beistehen und ihnen „zu ihrer Erneuerung helfen will“, muss also die „Schattenseite seines eigenen Wesens annehmen“ 100 können, statt sie zu leugnen. Mit anderen Worten: Predigtarbeit kommt nicht aus ohne eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person und ihren Konditionen, mit biografisch gewachsenen Einstellungen und durch Erfahrung erworbenen Positionen, spezifischen Idealen, Vorlieben und Ängsten. Personale Kompetenz als homiletische Kategorie bezeichnet also - an dieser Stelle noch vorläufig definiert - die Fähigkeit des Predigers, eine Predigt im Bewusstsein sowohl der Grenzen wie auch der Möglichkeiten seiner Persönlichkeitsstruktur erarbeiten zu können und der Kommunikation des Evangeliums auf diese Weise einen mit dem eigenen Personsein verbundenen Charakter zu geben. 98 A. a. O., 330. 99 A. a. O., 371. 100 A. a. O., 326. <?page no="68"?> 68 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Diese Perspektive unterläuft in gewisser Hinsicht den seitens der Dialektischen Theologie proklamierten Notstand, predigen zu sollen, es aber nicht zu können. Den Bestrebungen, die Diastase zwischen Prediger und Verkündigung des Wortes Gottes zum Vorwort aller Homiletik zu erklären, wird entgegengehalten: „Die beste Predigt kommt nicht am meisten aus dem Evangelium und am wenigsten aus dem Subjekt, sondern am meisten aus dem Evangelium und am meisten aus dem Subjekt: nicht dem ,idealen‘, sondern dem bluthaften Subjekt.“ 101 Damit wird deutlich: Subjektivität im Verständnis Otto Haendlers ist nicht etwas nach Belieben Einzusetzendes. Subjektivität ist etwas Auszubildendes. Dementsprechend geht es in der Neuorientierung der Homiletik auf die Person des Predigers um eine „Schulung im Gebrauch dessen, was man [als Subjekt] hat“ bzw. um eine Schulung im Umgang mit dem, der man ist, denn es gibt „kein Mittel […], sich vom Subjektsein zu befreien.“ 102 Ein wichtiges Ziel dieser homiletischen Bemühungen ist es, dem Prediger zu echter Zeitgenossenschaft zu verhelfen, wodurch er wiederum der Sache und dem Hörer zugleich dienen kann. Diese Zielvorstellung ergibt sich aus der Beobachtung, dass Prediger - mögen sie nun unbewusst Anteile ihrer Mutterbindung auf die Kirche und Anteile ihrer Vaterbindung auf die Theologie übertragen haben oder nicht - in der Gefahr stehen, den Kontakt zum eigenen „Selbst“ und zur Welt zu verlieren, also eine Theologie zu verkünden, „die nicht gewonnen und erworben, sondern übernommen ist“ 103 . Der Prediger neigt dann dazu, zentrale Lebensprobleme sozusagen als ein „Kind von Theologie und Kirche“, aber nicht zeitgenössisch aufzunehmen. Homiletische Zeitgenossenschaft ist kein Korrelat für einen sich anbiedernden Aktualismus, sondern der angemessene Ausdruck für die Fähigkeit eines Predigers, sich selbst in der Zeit wahrzunehmen und sich auf ihre Diskurse zu beziehen. Es geht hier also nicht einfach um Zeitkritik, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart anhand der eigenen Person. Gerade dann, wenn man von der Predigt die Plausibilisierung auch „überzeitlicher Wahrheit“ fordert, muss um einer angemessenen Verortung dieser Wahrheit willen erwartet werden, dass sich der Prediger mit seinen zeitlichen, begrenzten biografischen Wahrheiten auseinandersetzt. 101 A. a. O., 332. 102 A. a. O., 295, 331 f. 103 A. a. O., 350. <?page no="69"?> 69 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Haendlers Buch „Die Predigt“ 104 stellt eine kaum zu überschätzende Pionierarbeit in der homiletischen Forschung dar. Es diente zunächst dem Aussprechen und Abklären von Ängsten einer ganzen Generation, die das sola fide so verstanden hatte, als müsse man - um jeglichem Synergismus bezüglich der „Heilswirksamkeit des Wortes Gottes“ vorzubeugen - einen grundsätzlichen Verdacht gegen alles hegen, was mit der Geschöpflichkeit des Predigers zusammenhänge, also von ihm selbst stammen könnte. 105 Dadurch wurde der Vernachlässigung kreativer und der Verdrängung destruktiver psychischer Kräfte lange Zeit Vorschub geleistet, die keineswegs unwirksam, sondern nur nicht bewusst gemacht worden waren. Haendlers Vorstoß zu einer dem Prediger als Subjekt und der Predigt als Zeugnis gleichermaßen Rechnung tragenden Homiletik fiel zunächst nicht auf sehr fruchtbaren Boden. Sein Ansatz wurde als psychologistisch missverstanden, mit seiner theologischen Argumentation setzte man sich kaum auseinander. Haendler ging in der 2. Auflage seiner Predigtlehre ausführlich auf seine Kritiker ein und schreibt dazu im Vorwort: „Immer wieder geht es um die Sorge vor der ‚Psychologisierung‘, d. h. um das Misstrauen gegenüber der Psychologie von der Theologie her, und um den Verdacht, dass dem Vollgewicht der theologischen Position von der Psychologie her Abbruch getan werden könnte. Das Problem ist im Grunde einfach und man kann es in den schlichten Satz fassen: „Wenn jemand psychologisiert, d. h. die theologische Wahrheit in psychologische Relationen auflöst, so liegt das an ihm und nicht an der Psychologie.“ Ohne die Begegnung zwischen Psychologie und Theologie versäume die Theologie „ein Stück grundlegenden und für sie bedeutsamen Wissens um die Seele des Menschen, an der sie ja zu arbeiten hat.“ 106 Aus diesen einleitenden Überlegungen zur Frage nach dem Subjekt der Predigt ergibt sich, dass personale Kompetenz nicht eine unter vielen anderen ist, die einem Prediger neben exegetischer, rhetorischer oder gemeindepädagogischer Kompetenz auch gut anstünde, sondern sie ist eine „Schlüsselkompetenz“. 104 Einer Information des Haendler-Schülers Ernst-Rüdiger Kiesow (Rostock) zufolge sollte das Buch - nach Otto Haendlers Wunsch - ursprünglich den Titel „Der Prediger und seine Predigt“ tragen. Für einen solchen Titel war es damals offenbar noch zu früh: Der Verlag wagte es nicht, dem Wunsch Haendlers zu entsprechen (K. Voigt, 1993, 262, Anm. 244). 105 Vgl. O. Haendler, 2017b, 303 f. 106 O. Haendler, a. a. O., 279, Hervorhebung original. <?page no="70"?> 70 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Bevor wir im Detail die Möglichkeiten der Wahrnehmung dieser Kompetenz erörtern, müssen wir nach den Voraussetzungen fragen, auf denen die Beschreibung personaler Kompetenz beruht. 2.3.2 Personale Kompetenz und die Selbstwahrnehmung des Predigers Zweifelsohne haben bei der Orientierung auf psychologische Aspekte der Predigt die epochalen Impulse der Humanwissenschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Pate gestanden. Die Abkehr von bloßen Appellen an die personale Kompetenz des Predigers bzw. die Überwindung der Abwehr personaler Anteile an der Verkündigung aus methodischer Rat- und Hilflosigkeit wurde dadurch gefördert, dass neue empirische und wissenschaftlich vertiefte Einsichten Schule machten. Dazu gehörte vor allem der im Ganzen erfolgreiche Versuch, die Persönlichkeit des Menschen - im Sinne einer Arbeitshypothese - als eine Struktur zu analysieren, deren einzelne Glieder, bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt, funktional aufeinander abgestimmt sind und insgesamt ein je charakteristisches Persönlichkeitsprofil ergeben. Nachstehend sollen drei in der Homiletik des 20. Jahrhunderts erfolgreich rezipierte Modelle skizziert und in ihrer Bedeutung für die Aufgabe der Selbstwahrnehmung des Predigers dargestellt werden. a) Die Struktur der Persönlichkeit. Zur homiletischen Rezeption der Impulse Sigmund Freuds Sigmund Freud war im Rahmen seiner psychoanalytischen Arbeit zu der Überzeugung gelangt, für die unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Äußerungen und Verhaltensweisen von Menschen ganz bestimmte Teile bzw. Funktionen in der Struktur des Ichs annehmen zu müssen. So unterscheidet er das Ich einer Persönlichkeitsstruktur einerseits vom Über-Ich und andererseits vom Es. Im Über-Ich, von Freud selbst auch als „Gewissen“ interpretiert, ist der Ort der Moral, wozu ethische Maßstäbe ebenso wie Schuldgefühle gehören. 107 Es wird im Laufe der Biografie des Einzelnen ausgeprägt und aktiviert, wobei Autoritätspersonen eine besondere Rolle spielen: Schon im Zuge der Erziehung und Entwicklung eines Menschen tritt das Über-Ich mehr und mehr an die Stelle der Eltern, Lehrer und anderer Autori- 107 Vgl. zum Folgenden S. Freud, 1961, 62-86. <?page no="71"?> 71 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven tätspersonen. Im Über-Ich wird verinnerlicht, was von außen an Normen und Maximen an den Menschen herangetragen wurde. „Das arme Ich“ 108 wird dementsprechend oft vom Über-Ich als „Erbe“ und „Rechtsnachfolger“ früherer Autoritätsinstanzen unter Druck gesetzt, indem es zu einer normierten Selbstbeobachtung führt und dem Ich gleichzeitig ein unerreichtes, ideales Wunsch-Selbstbild vor Augen hält: „Das Über-Ich ist […] die Vertretung aller moralischen Beschränkungen, der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannten Höheren im Menschenleben psychologisch greifbar geworden ist.“ 109 Gegenüber dieser relativ starken Bewusstseinskategorie, dem Über-Ich mit seinen Prinzipien, wird das Es als der Bereich des Unbewussten, Triebhaften und Unkontrollierten charakterisiert. Im „Seelenapparat der Person“ ist das Es derjenige Teil, der ohne Rücksicht auf Gut und Böse auf ein gutes Lebensgefühl aus ist, ein Energiepotential, das vom Ich - gewissermaßen mit dem Über-Ich im Nacken - nur mit Mühe gebändigt werden kann. 110 Für das Verständnis dieser Instanz der Persönlichkeitsstruktur kann auch der alltägliche Sprachgebrauch als Orientierung dienen: Wir pflegen beispielsweise zu sagen: „Es rumort in mir.“ „Es brodelt in mir.“ „Es kocht in mir.“ „Es schwelt in mir.“ - Demgegenüber ist es unüblich, zu sagen: „Es überlegt in mir.“ „Es urteilt in mir.“ In Verbindung mit dem „Es“ werden kognitiv nur bedingt steuerbare Regungen bezeichnet, die empirisch gleichwohl die Motivation von Haltungen und Handlungen betreffen - und die zu den emotionalen Bedingungen gehören, unter denen sich eine Änderung des Willens anbahnt. Das Ich erscheint als der eigentliche Ort der Authentizitätsbildung des Menschen. Das Ich ist die zu stärkende Instanz, von deren wenigstens relativer Souveränität - sowohl dem Über-Ich wie dem Es gegenüber - es abhängt, ob der Mensch eine eigene Identität finden und bewahren kann. Aus der Sicht Freuds besteht die persönlichkeitspsychologische Dynamik und Dramatik des Menschen darin, dass sich sein Ich, obschon es nicht gleichzeitig zwei Herren (Über-Ich und Es) dienen könne, gleich mit „drei gestrengen Zwingherren“ herumzuschlagen habe: Mit der Außenwelt, dem Über-Ich und dem Es. Alle psychischen Störungen (Ängste, Depressionen, Zwangsvorstellungen usw.) werden dementsprechend auf diese interne Konfliktkonstellation des Ichs zwischen Über-Ich und Es zurückgeführt. 108 A. a. O., 66. 109 A. a. O., 73. 110 A. a. O., 78-80. „Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie […] her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, dass der Reiter das Ross dahin führen muss, wohin es selbst gehen will“ (a. a. O., 83). <?page no="72"?> 72 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Je nachdem, wie in einer Person - um zunächst bei dem Modell von Freud zu bleiben - das Verhältnis des Ichs zum Über-Ich und zum Es ausfällt, werden sich auch in der Predigt dieser Person entsprechende Moralvorstellungen, Schuldgefühle, Verdrängungen, Ideale usw. abzeichnen. Dass der Prediger nur unter den Bedingungen seiner Person predigen kann, heißt auch, dass seine Geschichte und sein Geschick nicht einfach für die Dauer einer Predigt ausgeblendet werden können, denn eine Persönlichkeitsstruktur wird nicht täglich neu definiert. Sie ist die Grundhaltung, die ein Mensch aufgrund verschiedener Erfahrungen im Laufe seines Lebens eingenommen hat, um Erwartungen von außen, verinnerlichte Normen und eigene Bedürfnisse so zu harmonisieren, dass er ihnen gerecht werden und sich mit ihnen arrangieren kann. Persönlichkeitsstrukturen äußern sich demnach insbesondere in bestimmten Grundeinstellungen eines Menschen zu seiner Außenwelt - zu seinen Mitmenschen und zu Gott - und zu sich selbst. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Subjekts für die Predigt zunächst als Frage nach der faktischen Wirkung des Predigers präzisiert worden. Im Vordergrund steht nun nicht mehr der diffuse und zudem problematische Appell zu „mehr Persönlichkeit“ und Individualität auf der Kanzel, sondern die Auseinandersetzung mit der eigenen Person als homiletische Aufgabe. Arbeit an der Predigt impliziert Arbeit an und mit der eigenen Person. Die Predigtaufgabe kann nicht wahrgenommen werden, ohne dass der Prediger wahrgenommen hat, wer er ist, als wer er auf die Kanzel tritt und zu welchem Kommunikationsverhalten er neigt, wenn er nicht durch die Auseinandersetzung mit sich selbst sowie mit der Schrift und der Gemeinde korrigiert wird. b) Das Selbst und die Ganzheitlichkeit der Person. Zur homiletischen Rezeption der Impulse Carl Gustav Jungs Die Anfänge der Rezeption persönlichkeitspsychologischer Aspekte in der Homiletik sind ohne die Impulse der Psychoanalyse Freuds nicht denkbar. 111 Dennoch sind es zunächst die Vorstellungen C. G. Jungs, die zum Verständnis und zur Bezeichnung der ungelösten homiletischen Probleme sowie zur Cha- 111 Otto Haendler hat sich die Modelle und Methoden der Psychoanalyse nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch erarbeitet. Parallel zu seiner Pfarramtstätigkeit in Neukirchen bei Greifswald und zu seiner Dozententätigkeit an der Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität unterzog er sich in den Jahren 1935-37 am Berliner Psychologischen Institut einer Lehranalyse bei dem Freudianer Werner Kemper. <?page no="73"?> 73 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven rakterisierung personaler Kompetenz in der Homiletik herangezogen werden. 112 Hierfür spielt der Kontakt einer Person mit ihrem „Selbst“ bzw. die Wiederherstellung dieses Kontakts eine besondere Rolle. Im Hintergrund dieser Schwerpunktsetzung steht die Beobachtung, dass Prediger sich selbst häufig weniger kennen als die theologische Lehre, die sie in der Predigt zu reformulieren suchen, ja, problematischer noch, dass in der Theorie und Praxis der Predigt übersehen wird, dass theologische Wahrheiten erst in einer persönlichkeitsspezifischen Konkretion ihren adäquaten Ausdruck finden können. Das Selbst steht in der Homiletik Haendlers für die ausgewogene Ganzheitlichkeit der Person des Predigers. Während Freud das Ich einer Persönlichkeitsstruktur vom Es und vom Über-Ich so stark scheidet, das er es zum eigentlichen Ansprechpartner des Therapeuten erklärt (denn nur mit dem „eigentlichen“ Ich lohnt es sich, ein Bündnis einzugehen, zu verhandeln und zu arbeiten), erklärt Jung das Selbst als einen die gesamte Persönlichkeitsstruktur betreffenden, jedoch erst zu verwirklichenden Zustand. Das „Selbst“ ist in seiner Betrachtungsweise „umfänglicher als das Ich“ und steht für die konkrete Individualität einer Person im Sinne einer „innerste[n], letzte[n] und unvergleichbare[n] Einzigartigkeit“. 113 Im Selbst hat das Unbewusste ebenso Raum wie das Bewusstsein. Für die Konstitution des Selbst sind emotionale Impulse, rationale Einsichten, Wertmaßstäbe und Ideale gleichermaßen konstitutiv. „Selbstverwirklichung“ 114 bezeichnet demnach einen Prozess, in dem sich ein Mensch mit seinen Gefühlen und seinen Wertvorstellungen soweit auseinandersetzt, dass zwischen den verschiedenartigen Bereichen einer Persönlichkeitsstruktur ein kohärentes Verhältnis und Interkommunikation entsteht. Dadurch soll dem Prediger ein Umgang mit allen Sphären seiner Person, ein Rückgriff auf ihr gesamtes Ausdrucksvermögen möglich werden. Diese Art der Selbstverwirklichung des Menschen wird auch als „Personifikation“, „Individuation“ oder schlicht als „Verselbstung“ 115 bezeichnet und als Ausdruck personaler Präsenz und Kompetenz bewertet. In der Sprache Freuds hieße das: Das Es und das Über-Ich sind nicht mehr Bedrängungsfaktoren des „armen Ich“, sondern geläuterte 112 Wesentliche Anregungen für seine Arbeit erhielt Haendler durch die Arbeiten C.-G. Jungs und durch den Briefwechsel mit ihm. Vgl. zum biografischen Hintergrund Haendlers M. Meyer-Blanck, 1999, 395-405. 113 C. G. Jung, 1997, 91. 114 Ebd., vgl. dazu O. Haendler, 2017b, 339. 115 A. a. O., 338 f. <?page no="74"?> 74 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt und integrierte Funktionen eines Menschen, der - in Übereinstimmung mit seinem Selbst - mit allen Teilen seiner Persönlichkeitsstruktur in Kontakt steht. Dies geht mit der Überwindung eines selbstgefälligen Subjektivismus einher und ist mit dem Abschied von einem nur zugebilligten Persönlichkeitsstatus verbunden, demzufolge ein Mensch wird, „was [vielleicht] ein anderer mit Recht hätte werden können und sollen“, jedoch nicht das, „was er nach seinem eigensten Wesen werden sollte“. 116 In einer zweiten Bedeutung wird das Selbst nicht nur als Aufgabe und Ziel einer Persönlichkeit, sondern darüber hinaus in einem eher metaphysischen Sinn als deren Grundmotiv verstanden. Das Selbst ist so gesehen etwas dem Einzelnen urbildhaft Vorgegebenes, eine Art innerpersonales Führungs- oder Leitprogramm. Bei Haendler wird diese zweite Bedeutung schöpfungstheologisch rezipiert. Nach seiner Ansicht korrespondiert das Selbst mit dem Urbild, das der Schöpfer für den einzelnen entworfen hat. Das Selbst wird identifiziert mit dem Menschen, wie Gott ihn gemeint hat: „Das Selbst ist [also zugleich] der richtunggebende Faktor, der die Person im Sinne des von vornherein gegebenen Urbildes leitet.“ 117 Die Bildung bzw. Wiedergewinnung des Selbst ist nach Haendler mit „Aufräumungsarbeit auf dem Platz“ vergleichbar, „auf dem man ein neues Haus bauen will“. 118 Übertragen auf den Prediger geht es um eine Inventur der Prämissen, Inhalte und Ausdrucksformen, die die eigene Predigtarbeit bestimmen. Es geht um eine Bearbeitung von homiletischem Inventar, das man bislang nur deshalb für geeignet hielt, weil es dogmatisch und exegetisch als richtig galt. Dem wird widersprochen: Theologie im Allgemeinen und Predigtarbeit im Besonderen bedürfen des steten Rückbezugs dogmatischer Deutungsmuster auf den Erfahrungshintergrund und den Erlebnishorizont des Selbst sowie der Reformulierung ihrer Inhalte durch das Ausdrucksvermögen des Selbst. Die hier angesprochene Inventur betrifft nicht nur die Prüfung von Begriffen und Erklärungen, die ein Prediger unmittelbar aus der von ihm rezipierten theologischen Lehre übernommen haben mag. Sie gilt auch den Vorstellungen, die sich aufgrund bestimmter Eindrücke und Erfahrungen in ihm selbst gebildet haben (z. B. Gottesbilder), die in seinem Unterbewusstsein oder seinem Gewis- 116 A. a. O., 339. 117 Vgl. a. a. O., 340. 118 A. a. O., 341. <?page no="75"?> 75 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven sen etabliert und zu Haltungen geworden sind. 119 Sie stehen, ohne dass der Prediger dies immer zu erkennen vermag, möglicherweise im Widerspruch zu der ihm theologisch vorschwebenden Dogmatik, so dass letztlich Gehorsam oder Autoritätsgläubigkeit dazu führen, dass seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen nicht zur Sprache kommen. Das Ergebnis ist, dass die Predigt befremdet, statt zu helfen - ein Effekt, der in diesem Fall in der „unbewussten Fremdheit des Predigers gegenüber seiner eigenen Überzeugung begründet“ 120 ist. Studierende, so beobachtet Haendler im Rückblick auf jahrzehntelange homiletische Ausbildung, seien häufig noch ungeübt in der Reflexion ihrer eigenen, theologisch durchaus belangvollen Alltagserfahrung. Daher neigten sie dazu, kurzerhand den Ertrag ihrer Exegese als Predigt zu reformulieren. In ähnlicher Weise griffen Vikare in der Vorbereitung ihrer Predigt nach „dogmatischen Formulierungen“ wie nach „Rettungsringen“, weil sie sich scheuten, eigene geistliche Erfahrung in sprachliche Gestalt zu bringen. Auch für den erfahreneren Prediger gelte: Da er nicht glaube, aus einer organisch mit dem Selbst verwachsenen, lebendigen Theologie schöpfen zu können, greife er lieber auf stilistische Lösungen und praktische Popularisierungen zurück. 121 Zu einer überzeugenden Predigt - mitverantwortet vom Selbst, und auf der Inhalts- und Ausdrucksebene von ihm mitgeprägt - gehört es, sich nicht in abstrakte, überhöhte Behauptungen hineinzusteigern, sondern den Mut zu haben, sein „Wort zurückzuschrauben auf den Ausdruck dessen, was wir ernsthaft erfahren haben und ganz zu vertreten bereit sind, [… denn] wir können das Evangelium lebendig verkündigen nur so, wie es uns lebendig geworden ist.“ 122 Solche Sätze sind nicht Ausdruck einer falschen Bescheidenheit. Sie formulieren eine wichtige Konsequenz, die sich aus der Einsicht ergibt, dass eine lebendige Predigt vor allem von jenen Predigern zu hören ist, „die das Bekenntnis der 119 „Anspruchsvolles Auftreten ist oft […] nicht ein Zeichen von Sicherheit, sondern verdeckter Unsicherheit. Wenn wir hier helfen wollen, können wir nicht nur gegen den Anspruch des Ichs den Anspruch Gottes ins Feld führen, sondern wir müssen das verdeckte eigentliche Sein des Menschen aufsuchen, um womöglich seine Flucht in Vertrauen […] zu wandeln“ (O. Haendler, 2017b, 323). 120 A. a. O., 351. Vgl. auch meine Ausführungen zu den Problemen der Berufssprache des Predigers, die heute weit mehr als zu Haendlers Zeiten mit den Diskrepanzen zwischen der Sprachwelt der Dogmatik, dem religiösen Ausdruckrepertoire unserer Zeit und den Glaubensvorstellungen der Pfarrer zu tun haben (W. Engemann, 2006b, 87-91). 121 O. Haendler, 2017b, 293 f. 122 A. a. O., 331, 400. <?page no="76"?> 76 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Kirche [in eigenen Worten] als adäquaten Ausdruck ihrer persönlichen Überzeugung ansprechen können“ 123 , weil sie im Kontakt zu ihrem Selbst stehen. In diesem Zusammenhang benutzt Haendler den Begriff der Assimilation: „Das Wirken des Predigers ist zwangsläufig […] dadurch begrenzt, dass nur die assimilierten Stücke seiner Verkündigung befruchtend wirken können.“ 124 „Assimiliert“ ist eine Predigt, in der das, was sie zur Sprache bringt, mit dem Selbst verbunden und darin originales Zeugnis ist. Ein originales Zeugnis ist - anders als das originelle - immer schöpferisch, mag auch seine Ausdrucksweise eher schlicht und unoriginell sein. Glaubenssätze werden nicht dadurch assimiliert, dass man sich qua Entscheidung „unter sie stellt“ und sie bejaht, sondern indem sie mit der eigenen Person verbunden sind und eine organische Einheit bilden. 125 Eine Predigt auf der Basis eines „assimilierten Bekenntnisses“ zu erarbeiten, hat u. a. zur Konsequenz bzw. setzt voraus, Theologie und Biografie unter den konkreten Bedingungen der eigenen Person in ein wechselseitiges Wahrnehmungsverhältnis zu bringen. Aus der nach diesem Modus entstehenden Rede können dogmatische Wahrheit und eigene Erfahrung nicht mehr herausdividiert werden. Sie sind zu Amalgamen der Predigt geworden. Sie sind Interpretation der Schrift und adäquater Ausdruck eigener Überzeugung zugleich. Die Predigt ist so in einem ein Zeugnis, das die Wahrheit des Menschen vor Gott zur Sprache bringt und in dem der Prediger selbst zum Ausdruck kommt. Als eine entscheidende Maßnahme zur Unterstützung jener Assimilation und des damit verbundenen Prozesses der Selbstverwirklichung als Form personaler Kompetenz führt Haendler die Meditation ins Feld. Dabei geht es ihm nicht um einen homiletischen Arbeitsschritt unter vielen, vergleichbar einer persönlichen Besinnung in Ergänzung zur Exegese, sondern um den lebenslangen Prozess der Auseinandersetzung und Erschließung sowohl des eigenen Selbst wie des Evangeliums. „Meditation ist die Kunst, in die Bildschicht [der Person] einzugehen und in ihr Erkenntnisse zu empfangen.“ 126 Angeleitet von der Sachkunde eines Therapeuten oder durch entsprechende Literatur, können die so ermöglichten Wahrnehmungen anhand von Träumen, Mythen und Märchen, aber auch durch Gleichnisse und christliche 123 A. a. O., 394. 124 A. a. O., 333. 125 A. a. O., 338. 126 A. a. O., 441. <?page no="77"?> 77 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Symbole weiter vertieft und kommuniziert werden. Durch Meditation soll es möglich werden, vom Informationsgehalt eines einzelnen Textes zu einer tiefen Wahrheit bzw. von der zunächst oberflächlichen Wahrnehmung persönlicher Empfindungen zu einem tieferen Verständnis des Selbst zu gelangen, Grundimpulse und -ängste zu erkennen, um schließlich das Gewicht und die Bedeutung einer „Begegnung der Ganzheiten Evangelium und Subjekt“ 127 zu ermessen. Kennzeichnend für den Erfolg der Meditation ist es, von Einzelwahrnehmungen sowohl bezüglich der eigenen Person als auch bezüglich des Textes zu einem ganzheitlichen Verständnis des Selbst und des Evangeliums vorzudringen - was über eine Annäherung an die Predigtaufgabe hinausgeht. Zu solcher Meditation gehört es, „das Ganze der die Jahre und Jahrzehnte eines Lebens durchziehenden Arbeit am Verstehen des Evangeliums“ in Bezug auf bewusste und unbewusste Rezeptionsversuche in den Blick zu bekommen. Sofern nämlich ein konkreter Text und ein konkreter Prediger „Faktoren innerhalb der gelebten Geschichte“ sind, können sie beide in ihrer Authentizität getrübt werden. 128 Nicht nur bei der Deutung eines Textes kann man Irrtümern aufsitzen, auch die unter inadäquaten Prämissen erfolgende Einbringung der eigenen Person in die Kommunikation des Evangeliums kann die Wirkung dieses Geschehens beeinträchtigen. c) Die Ichzustände und die integrierte Persönlichkeit. Zur homiletischen Rezeption Eric Bernes Eine der moderneren Theorien zur Erschließung der Persönlichkeitsstruktur des Menschen, die - Freud im Ansatz rezipierend - für die Homiletik fruchtbar gemacht und weiterentwickelt wurden, ist die Transaktionsanalyse. 129 In der Praxis wird sie vor allem zur Analyse und Therapie zwischenmenschlicher (Kommunikations-)Beziehungen in verschiedenen sozialen Kontexten (Partnerschaft, Familie, Unternehmen) angewandt. Die Transaktionsanalyse basiert 127 A. a. O., 431. 128 A. a. O., 432. Von daher ist es verständlich, dass Haendler eine solche Meditation, von der eine klärende und heilende Kraft erwartet wird, auch als „Autopsychotherapie“ bezeichnen kann (a. a. O., 454). 129 Repräsentativ für diese Forschungsrichtung ist noch immer Eric Bernes Arbeit Spiele der Erwachsenen, 1995. Zur Theoriedebatte vgl. W. Engemann, 1992a, 5-7, 109-111 sowie die Gesamtdarstellung in W. Engemann, 2003b. Die in diesen Arbeiten entfalteten Thesen wurden im Rahmen rhetorischer Überlegungen unter anderem von M. Thiele (2005, 104-122) rezipiert. <?page no="78"?> 78 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt zunächst auf der allgemeinen Annahme, dass die biografisch ausgeprägte, je spezifische Persönlichkeitsstruktur eines Menschen den Ablauf von Kommunikationsprozessen in starkem Maße prädisponiert. So wird das Scheitern von Verständigungsprozessen weniger auf konkrete äußere Kommunikationsumstände, sondern vielmehr auf analysierbare Dispositionen und Disproportionen in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen zurückgeführt. Wer einen Kommunikationsprozess eröffnet, neigt prinzipiell zu „Transaktionen“, d. h. zur Übertragung von Empfindungen, durch die er einen anderen auf der Beziehungsebene dazu bringt, eine ganz bestimmte Grundhaltung einzunehmen bzw. sich in einer ganz bestimmten Position wiederzufinden. In der Literatur zur Transaktionsanalyse ist von Transaktionen in dreifacher Hinsicht die Rede. 130 Ich übertrage die dabei entwickelten Perspektiven im Folgenden gleich auf die Person des Predigers: 1. Bei der Analyse passiver Transaktionen steht die Frage nach der Genese der Persönlichkeitsstruktur des Predigers im Mittelpunkt. Es wird gefragt, was ihm im Laufe seines Lebens an Verhaltensmustern, Lebensweisheiten und Gefühlswertungen übertragen (trans-igiert) wurde. 2. Interpersonale Transaktionen beschreiben den Vorgang von Stimulation und Reaktion, wie er sich zwischen Prediger und Hörer entsprechend der Disposition ihrer Persönlichkeitsstruktur abspielt. Dabei werden Übertragungsmechanismen aufgedeckt, mit denen sich die Kommunikationspartner in ganz bestimmte Verhaltensweisen hineinmanövrieren und einander in Zugzwang versetzen, wobei es „Gewinner“ und „Verlierer“ geben kann. 3. Schließlich wird im Rahmen therapeutischer Transaktionen nach Möglichkeiten gesucht, destruktive Überformungen der Persönlichkeitsstruktur so weit rückgängig zu machen, dass der Prediger die Botschaft als er selbst zur Sprache bringt. Dazu gehört die Befähigung zu authentischer Kommunikation, die ohne „Gewinner“ und „Verlierer“ auskommt und nicht von egoistischen Nutzeffekten der Beteiligten bestimmt ist. 130 Vgl. die Systematisierung bei W. Engemann, 1992a, 33-35. <?page no="79"?> 79 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Diese Annahmen und Analysen beruhen auf zwei persönlichkeitspsychologischen Modellen: auf dem Modell der Ichzustände und auf der Thesenreihe von den Lebenspositionen: Das Modell der Ichzustände 131 kennt drei voneinander unterscheidbare Ich-Status, in denen sich das Fühlen und Handeln eines Menschen jeweils vollzieht. Mit Eltern-Ich (EL), Erwachsenen-Ich (ER) und Kind-Ich (K) werden - in gewisser Analogie zum Über-Ich, Ich und Es bei Freud - eigenständige Funktionssysteme von Verhaltensweisen, Vorstellungen und Gefühlen beschrieben, „Zustände“ des Menschen also, die aktiviert werden, sobald er in Kommunikation tritt. Wenn jemand einen Kommunikationsprozess eröffnet oder in ihn eintritt, dann in der Regel so, dass sein Stimulieren und Reagieren jeweils von einem der Ichzustände geprägt wird. Bezogen auf den Prediger veranschaulichen die Ichzustände gewissermaßen eine ganz individuelle Mixtur an Grundsätzen, Normen, Werten, Ausdrucksformen usw., die nicht aus dem konkreten Text oder aus der Auseinandersetzung mit der Situation gewonnen werden, sondern vor der konkreten Arbeit an der Predigt feststehen und das Herangehen an die Predigtaufgabe von vornherein mitbestimmen. Das dabei zu Tage tretende Modell der Persönlichkeitsstruktur des Menschen 132 erinnert an eine Verkehrsampel (vgl. Abb. 2): K ER EL Eltern- Ichzustand Erwachsenen- Ichzustand Kind- Ichzustand Abb. 2: Graphisches Schema der Persönlichkeitsstruktur, dargestellt anhand ihrer Ichzustände 131 E. Berne, 1995, bes. 25-31. Die Thesenreihe von den Lebenspositionen wird im Zusammenhang von Fragen kommunikativer Kompetenz (II.2.3.4) aufgenommen. 132 Zur theologischen Problematik der hinter diesem Modell stehenden Anthropologie vgl. W. Engemann, 1992a, 109-111. <?page no="80"?> 80 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Im Eltern-Ich (EL) ist aufgezeichnet, was einem Menschen vor allem in der Kindheit an Verhaltensregeln, Verboten und Ermahnungen vermittelt worden ist. Wenn ein Mensch aus diesem Status heraus agiert, wird immer etwas von dem abgerufen, was ihm durch Eltern und andere Autoritätspersonen nahegelegt wurde. Nach Muriel James gleicht das EL einem „Videoband im Gehirn, das die Gesetze, Ermahnungen und Regeln für das Denken, Fühlen und Verhalten enthält“ 133 . Je nach Inhalt des gespeicherten Potentials kann man das nährende Eltern-Ich, das grundsätzlich auf die ,Belohnung‘ des Kommunikationspartners ausgerichtet ist, vom strafenden Eltern-Ich, das im Gegenüber generell ein ,böses Kind‘ entdeckt, unterscheiden. Und schließlich kommt ein autoritatives, maßgebendes Eltern-Ich dadurch zum Ausdruck, dass es traditionelle Werte, Kompetenzen und verinnerlichte Normen als Grundlage seiner Autorität betrachtet. Die Dominanz eines bestimmten Ichzustandes äußert sich in der Predigt z. B. in wiederkehrenden, stereotypen Gottesbildern, Predigtthemen und signifikanten sprachlichen Ausdrücken. 134 Ein ausgeprägtes maßgebendes EL redet von Gott z. B. als dem großen Entlohner guter Taten bzw. als Lohner des Glaubens. Den Hörern werden dementsprechend vor allem Sattheit und Selbstzufriedenheit vorgeworfen. In sprachlicher Hinsicht bevorzugt das Eltern-Ich eine verabsolutierende Redeweise und bedient sich mehr der Behauptung denn der Argumentation. Für das Kind-Ich (K) ist ein Verhaltensmuster maßgebend, das sich vor allem im Äußern von Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen ausdrückt. Urteile aus dem unmittelbaren Empfinden, Sich-Wohlfühlen und Unbehagen in direktem Zusammenhang mit Bedürfnisbefriedigung, kindgemäße (verbale und nonverbale) ,Stellungnahmen‘ in Form spontaner Äußerungen von Schmerz oder Freude, Wut oder Beglückung - dies sind Ausdrucksweisen des Kind-Ichzustandes. Das freie, natürliche Kind-Ich ermöglicht spontanes, kreatives und unzensiertes Verhalten. Werden Phantasie und Begeisterungsfähigkeit durch eine strafende EL-Person eingeengt, entwickelt sich das betroffene Kind u. U. zum passiven Anpassungselement einer gebrochenen Existenz (gebrochenes Kind-Ich) oder begibt sich infolge von Verwöhnungen durch ein nährendes EL in schmollende Rebellion, sobald es irgendwelchen Forderungen gegenübersteht (rebellierendes Kind-Ich). 133 M. James/ L. M. Savary, 1977, 21 f. 134 Vgl. W. Engemann, 1992a, 37-49. <?page no="81"?> 81 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Je nach Ausprägung dieses Ichzustandes redet der Prediger von Gott als von seinem Schicksal, handelt thematisch vor allem von der Geduld und bevorzugt den Sprechakt der Ergebung in das Bestehende. Ist das Kind-Ich stärker als Status der Freiheit ausgeprägt, erscheint Gott in der Predigt eher als der Weitherzige, dessen Güte thematisiert und in einer antizipatorischen Sprache, vielleicht auch in fiktiven Träumen verdeutlicht wird. Das Erwachsenen-Ich (ER) schließlich ist der Zustand der rationalen Reflexion. Im ER hält sich der Mensch an normative Sätze aus dem EL-Bereich seiner Persönlichkeitsstruktur nur dann, wenn festgestellt wurde, dass sie mit den eigenen Einsichten übereinstimmen und seine Autonomie unterstützen. Das intakte Erwachsenen-Ich geht mit Fakten um, klärt Zusammenhänge, erarbeitet Lösungen und trifft Entscheidungen. „Immer, wenn Menschen vernünftig handeln, sagen wir, sie handeln aus ihrem ER heraus.“ 135 Es ist erklärtes Ziel der Transaktionsanalyse, Anteile aus dem Eltern-Ich und Kind-Ich in das Erwachsenen-Ich zu integrieren, weil allein von diesem Ich-Status erwartet wird, dass er dem EL und dem K positive Funktionen zuweisen und damit das Selbstwerden und -sein des Menschen gewährleisten könne. 136 Eine im ER vorgetragene Predigt wartet in der Regel mit vielen Informationen auf. Dem Autonomiestreben des ER entspricht es, dass Gott vor allem als ein menschlicher Gott thematisiert wird, der nichts Unvernünftiges fordert. Sprachlich bewegt sich eine solche Predigt vor allem auf der Ebene der Erörterung. Dysfunktionen im Erwachsenen-Ich als faktischer bzw. idealer Leitzentrale einer Persönlichkeitsstruktur werden immer als Störimpulse aus dem EL oder K interpretiert: Im Fall einer Eltern-Ich Dominanz (Abb. 3a), die zugleich eine Ausgrenzung des K impliziert, verfällt die Person einer leidenschaftslosen, scheinbar objektiven Sicht der Dinge. Wenn andererseits das EL ausgeschaltet ist und die Störmanöver vom Kind-Ich ausgehen (Abb. 3b), schlägt die abwägende Meinungsbildung des ER in angemaßte Autonomie und dekretive Urteile um. 135 M. James/ L. M. Savary, 1977, 30. 136 „Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kindheits-Ich [haben] Anspruch auf gleiche Berücksichtigung, und jedes von ihnen hat seinen legitimen Platz in einem erfüllten […] Leben.“ Dem Erwachsenen-Ich kommt insbesondere die Aufgabe zu, „einen regulierenden Einfluss auf die Tätigkeiten des Eltern-Ichs und des Kindheits-Ichs auszuüben und zwischen beiden objektiv zu vermitteln“ (E. Berne, 1995, 30 f.). <?page no="82"?> 82 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt K ER EL K ER EL (a) Persönlichkeitsstruktur mit Eltern-Ich-Dominanz (b) Persönlichkeitsstruktur mit Kind-Ich-Dominanz Abb. 3: Beispiele für Dysfunktionen der Persönlichkeitsstruktur nach der Transaktionsanalyse Die Vorstellung, dass sich das Verhalten eines Menschen grundsätzlich in verschiedenen Ich-Zuständen bzw. „Status“ oder „Funktionssystemen“ vollziehen kann, wird in der Transaktionsanalyse durch das sogenannte Egogramm modifiziert: Wenn man das Verhaltenspotential eines Menschen mit 100 % ansetzt, lassen sich die Anteile von EL, ER und K nicht auf je 33,3 % festlegen. Entsprechend der Biografie eines Individuums wird in der Regel ein Ichzustand zum dominanten Status, aus dem heraus es handelt und kommuniziert. Dabei wird das Prinzip der Komplementarität vorausgesetzt: Das Anbzw. Auswachsen eines Ichzustandes kann nur zu Lasten der anderen erfolgen. Ein Mensch, der in seinem Auftreten und Reden zu 60 % von seinem EL bestimmt wäre, hätte für rationale, vernunftgeleitete Aktionen (ER) vielleicht nur 30 % und für spontane Impulse und Reaktionen (K) dementsprechend nur noch 10 % an Handlungsspielraum zur Verfügung. In der Transaktionsanalyse Eric Bernes geht es nicht darum, die Persönlichkeit eines Menschen gewissermaßen unter die Regie des Erwachsenen-Ichs zu bringen. Unter Autonomie versteht er die Fähigkeit eines Menschen, in jedem Ichzustand er selbst zu sein. Den Disproportionen einer Persönlichkeitsstruktur bzw. der „Dissoziation“ 137 der Ichzustände wird dementsprechend das Modell ihrer „Integration“ gegenübergestellt: Die „ausgewogene“, integrierte Persönlichkeit vermag je nach Kommunikationssituation, den angemessenen Ichzustand als Funktionssystem der Gesamtperson zu aktivieren. 138 137 E. Berne, 1966, 366 f. 138 Vgl. E. Berne, 1995, 249 f. Zu den konzeptionellen Unterschieden bei der Charakterisierung des Erwachsenen-Ichs innerhalb der Transaktionsanalyse vgl. W. Engemann, 1992a, 22 f. <?page no="83"?> 83 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Anhand dieses Modells lassen sich einige Probleme und Kriterien personaler Kompetenz am eigenen Predigtstil spezifizieren: Indem man homiletisches (Fehl-)Verhalten auch als Widerspiegelung eines bestimmten Persönlichkeitsprofils erfasst, wird die Auseinandersetzung mit diesem Profil implizit als Arbeit an der Predigt plausibel. Mit einem Prediger, der beispielsweise (aus seinem EL heraus) von Gott nur als einer normgebenden Instanz reden kann und die Hörer überwiegend bei ihren geistlichen und moralischen Defiziten behaftet, wird man dann nicht nur über theologische Fragen der Predigt und eine entsprechende Hermeneutik des Evangeliums in den Dialog treten; der Prediger erhält auch die Möglichkeit, sich mit dem Charakter seines Eltern-Ichs oder mit blockierten Funktionen des Kind-Ichs als innerpersonalen Konditionen einer u. U. lebensverneinenden Predigtstrategie 139 auseinanderzusetzen. Bevor diese Möglichkeiten im Kontext der bereits erarbeiteten Perspektiven homiletisch weiter vertieft werden, soll auf einige wichtige Konvergenzen zwischen den vorgestellten Modellen aufmerksam gemacht werden. Sie betreffen nicht nur formal die Dreigliedrigkeit der skizzierten Konzeptionen, sondern auch inhaltliche Aspekte. Dazu zählt die grundlegende Einsicht, dass ein Mensch, der dies und jenes sagt oder behauptet, befürchtet oder erwartet, keineswegs nur von Sachzwängen (als solche erscheinen in der Regel Text und Situation) als „objektiven“ Gesichtspunkten bestimmt wird, sondern ebenso aus einer internen Disposition heraus agiert: aus Unbewusstem und Verdrängtem, aus unreflektiert Übernommenem oder unter Ängsten Erworbenem heraus. Im Einzelnen ist auf folgende Parallelen zwischen den oben erläuterten Modellen zu verweisen: 140 139 H. Heyen hat anhand einer transaktionsanalytischen Analyse von Predigten untersucht, was der Prediger, wenn er predigt, „mit sich selbst macht“. Die Studie legt insbesondere die persönlichkeitsspezifischen Dispositionen für eine „Lebensbejahung und Lebensverneinung auf der Kanzel“ offen (1995, bes. 12-16, 135-138). 140 Vgl. dazu Abb. 4, S. 84. <?page no="84"?> 84 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Über-Ich Verdrängtes Selbst Bewusstsein Bildschicht Unbewusstes EL K ER Modelle zur Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur Psychoanalyse (S. Freud) Tiefenpsychologie (C. G. Jung) Transaktionsanalyse (E. Berne) Bezeichnung Funktion Bezeichnung Funktion Bezeichnung Funktion Über -Ich : Internalisierte Normen- und Kontrollinstanz, die im Laufe des Heranwachsens eines Menschen an die Stelle früherer Autoritäten tritt. Äußert sich insbesondere als Gewissen und in Schuldgefühlen. Selbst: Einerseits urbildhaftes Leitmotiv, andererseits Ziel der Persönlichkeitsbildung und Ausdruck personaler Kompetenz. Ermöglicht Kohärenz zwischen rationalem und intuitivem Denken. Ich Unbewusstes Es Ich : Kein völlig abgegrenzter, sondern ständig „angefochtener“ Bereich. Eine Art Autonomie-Manager. Basis der Authentizität und Souveränität des Menschen. Bewusstsein: Schicht rationalen Denkens, dessen Anwendung intuitiv vom Unbewussten geleistet wird. Bildschicht als Medium der Kommunikation mit Unbewusstem. Es : Bereich des Unbewussten. Energie- und Triebpotential; auf Befriedigung hin orientiert. Nur indirekt, zum Beispiel durch Bewusstmachung von Verdrängtem, kontrollierbar. Unbewusstes: „Tiefenschicht“ des Menschen; „Kern“ der ihn leitenden Impulse und Ängste. Ort der innerpsychischen Prozesse. Trifft Vorentscheidungen für Prozesse im Bewusstsein. Eltern-Ich: Reservoir von Regeln und Normen für das Denken, Fühlen und Verhalten, vergleichbar einem „Videoband im Gehirn“ - mit Autoritätspersonen als Hauptdarstellern. Erwachsenen-Ich: Status der Rationalität. Urteilsbildung auf der Basis ausgewerteter Erfahrung. Zuständig für Reorganisation und Integration von Eltern- und Kind-Ich. Kind-Ich: Ermöglicht Spontaneität. Basis emotionaler Stellungnahmen. Kann kreative Ressourcen mobilisieren, aber auch zum passiven Anpassungselement einer Persönlichkeitsstruktur degenerieren. Abb. 4: Modelle zur Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur <?page no="85"?> 85 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 1. Ob ein Mensch als er selbst in Kommunikation tritt, hängt allen drei Modellen zufolge von der - als prinzipiell möglich unterstellten - Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung ab. Sie wird zwar in unterschiedlicher Weise in der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen verankert (vgl. Ich, Selbst und ER), läuft aber in jedem Fall auf die Doppelbestimmung der Authentizität als etwas dem Menschen sowohl Gegebenes als auch immer neu zu Erringendes hinaus. 2. Nicht alles, was durch eine Person in die Kommunikation eingeht, ist kontrollierbar. Unbewusste Erwartungen und Motive sind immer mit im Spiel und verschaffen sich auch gegen den Sinngehalt einzelner Sätze zumindest auf der Beziehungsebene Geltung. Weil die dafür verantwortliche Instanz (vgl. Es, Unbewusstes und K) allzu „vernünftige Lösungen“ immerzu in Frage stellt und sich bald mit störenden, bald mit konstruktiven neuen Impulsen einschaltet, kann sie nicht ignoriert werden. 3. Ein großer Teil der einen Menschen leitenden Überzeugungen und ihn bestimmenden Positionen ist nicht Resultat abwägender Reflexion, sondern Bestandteil übernommener Lebens-, Gottes- und Moralvorstellungen (vgl. Über-Ich und EL). Aufgrund des Einflusses, den dieser Teil einer Persönlichkeitsstruktur als internalisierte Autorität haben kann, ist es wichtig, sich um dessen „Ausstattung“ zu kümmern und selbstzerstörerische Anweisungen durch lebensdienliche zu ersetzen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine Predigt entsteht immer auch unter den konkreten Voraussetzungen einer Persönlichkeitsstruktur, deren Konstitution bzw. Konstruktion biografisch mitbedingt ist. Sie kann weder aus der Predigtvorbereitung herausgehalten noch für die Dauer der Predigt bewusst ausgeschaltet werden. Wenn ein Prediger an den Text herangeht oder vor die Hörer tritt, dann geschieht das in, mit und unter den Konditionen, die seine Persönlichkeit bestimmen. Ein Prediger kann sich dieser Konditionen bewusst werden und sie gegebenenfalls verändern, denn sie sind nicht irreversibel. 2.3.3 Personale Kompetenz und die Funktionen der Predigt Man kann die homiletischen Möglichkeiten, die sich aus einem besseren Verständnis der Persönlichkeitsstruktur des Predigers ergeben, unter zwei Gesichtspunkten betrachten: (a) unter konzeptionellen Aspekten und (b) unter analytischen. <?page no="86"?> 86 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt a) Konzeptionelle Aspekte Die Einbeziehung der Selbstwahrnehmung in die Predigtarbeit ist insofern von konzeptioneller Bedeutung, als die verschiedenen Bereiche oder Status, die zum Profil einer Persönlichkeit gehören, bestimmten Funktionen der Predigt zugeordnet werden können. Die mangelnde Entwicklung bestimmter innerpersonaler Funktionssysteme geht folglich mit einer Einschränkung des Ausdrucksvermögens einer Predigt einher und kann zur Folge haben, dass einige ihrer Funktionen beeinträchtigt sind. Umgekehrt würde es dem Gelingen der Predigt als Kommunikationsakt dienen, wenn der Prediger - im Sinne der von C. G. Jung und E. Berne entwickelten Persönlichkeitsmodelle - auf der Basis seines Selbst bzw. mit einer integrierten Persönlichkeitsstruktur die Plausibilität der Predigt unterstützen könnte. Indem sich die Kompetenz des Erwachsenen-Ichs in der Fähigkeit eines Menschen äußert, die verschiedensten Gegenstände der Kommunikation realitätsbezogen zu verhandeln, dient sie der Darstellungsfunktion der Predigt: Predigt hat immer auch mit dem Vermitteln von Inhalten, komplexer formuliert, mit Lehren zu tun. Eine Predigt, die nicht auch etwas zu erörtern hat und logisch zu argumentieren vermag, bleibt den Hörern Informationen und Argumente schuldig. Als „gewichtslose Selbstverständlichkeit“ 141 , als von der Erfahrung des Angefochtenseins losgelöstes Dogma, als bloßes Ventilieren von theologischem Stoff bietet die Predigt keine Lehre, sondern bodenlose Theorie. In der Verbindung des Erwachsenen-Ichs mit den übrigen Bereichen der Person kann der Prediger jedoch die notwendigen Informationen personal konkretisieren und dem Hörer so die Erschließung des Darzustellenden 142 erleichtern. Das wiederum heißt: Die von einem Prediger jeweils intendierte „Botschaft“, der Inhalt, die von ihm zu vermittelnde Aussage, wird erst in der Ausdrucksfunktion der Predigt zum Zeugnis für den Hörer: Der dafür besonders prädestinierte Status ist insofern das Kind-Ich, als in diesem Funktionssystem - bzw. in den entsprechenden Bereichen der anderen beiden Persönlichkeitsmodelle 141 Vgl. O. Haendler (2017b, 392) zur Problematik einer nicht mit dem Selbst verbundenen Predigt. 142 Die dreifache Funktionsbestimmung sprachlicher Äußerungen als Ausdruck (Symptom des Senders), als Appell (Signal an den Sender) und als Darstellung eines Inhalts (Symbolebene) geht auf Karl Bühlers Organonmodell zurück (vgl. K. Bühler, 1999, 28-33). <?page no="87"?> 87 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven - traditionell die Ressourcen eines Menschen zur „Selbstkundgabe“ 143 gesehen werden. Es entspricht der Ausdrucksfunktion des Kind-Ichs bzw. der Zeugnisfunktion der Predigt, wenn sie nicht in intellektueller Hörsaalsprache zum Erliegen kommt, sondern den Prediger als vom Evangelium selbst Betroffenen zeigt. Die Paraklese als (implizites oder explizites) Unterbreiten von Konsequenzen gehört ebenfalls in den Aufgabenbereich der Predigt. Eine Predigt, die nur Information und Zeugnis böte und die Hörer nicht auch auf der Verhaltensebene anspräche bzw. in Frage stellte, bliebe ihnen Entscheidendes schuldig. Die Zielvorstellungen einer Predigt implizieren immer auch eine Appellebene, deren Explikation - in der Sprache der Transaktionsanalyse - Aufgabe eines integrierten Eltern-Ich-Status wäre. In diesem Sinne ist die Predigt ein Signal an die Hörer, das auf Konsequenzen zielt. Christliche Paraklese 144 erschöpft sich freilich nicht in Appellen, sondern drückt sich ebenso in einer tröstlichen bzw. allgemein seelsorglichen Predigtweise aus. In dieser Hinsicht ist auf die bereits getroffene Unterscheidung zwischen nährendem und maßgebendem Eltern-Ich zu verweisen. Als integrierte Funktionssysteme können sie dazu beitragen, dass Dogmen und Rituale nicht Argumente ersetzen oder Kreativität unterdrücken, sondern zu Formen der „geistigen Hygiene“ 145 werden. Solche dreigliedrigen, mit Modellen für die Persönlichkeitsstruktur des Predigers konvergierenden Funktionsbestimmungen bzw. Dimensionen finden sich in der Homiletik öfter, ohne dass dabei ausdrücklich auf diese Konvergenz hingewiesen wird. In der folgenden Abbildung habe ich die oben skizzierten Grundfunktionen der Predigt einerseits auf das Modell der Transaktionsanalyse und die Sprachtheorie Bühlers, andererseits auf analoge homiletische Darlegungen bei Otto Haendler 146 und Hans v. d. Geest 147 bezogen. 143 In früheren Arbeiten K. Bühlers wird die Ausdrucksfunktion der Sprache noch (Selbst-)Kundgabe genannt. Vgl. dazu die Erläuterungen von Bühler, 1999, 28. 144 Vgl. z. B. παρακαλεῖν in Act 13,15 und Röm 12,8. 145 Unter der Voraussetzung, dass der Prediger wenigstens Teile des erfahrungshaltigen Hintergrundes von Dogmen in seiner Wirklichkeit zu verorten versteht, könnten diese (Dogmen) - so Haendler im Anschluss an C. G. Jung - der „geistigen Hygiene“ dienen (O. Haendler, 2017b, 391). 146 Vgl. a. a. O., 394 f. 147 Vgl. H. v. d. Geest, 1978, 40-42. <?page no="88"?> 88 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Persönlichkeitsstruktur nach der Transaktionsanalyse Grundfunktionen der Sprache nach Karl Bühler Predigtfunktionen in theologischer Hinsicht Predigtfunktionen nach Otto Haendler Predigtfunktionen nach Hans v. d. Geest Eltern-Ich Appellbzw. Signalfunktion Paraklese Grenze Wegweisung Erwachsenen-Ich Inhaltsbezug bzw. Darstellungsfunktion Lehre Frage Realität Kind-Ich Ausdrucksbzw. Selbstkundgabefunktion Zeugnis Ausdruck Geborgenheit Abb. 5: Die Grundfunktionen der Predigt mit Bezug auf die Persönlichkeitsstruktur des Predigers b) Analytische Aspekte Auf der kritisch-analytischen Ebene führt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Persönlichkeitsprofil zu einer Klärung der an der Predigtarbeit beteiligten Faktoren: Wer sich seiner Verdrängungen oder seiner Prägung in diesem oder jenem Ichzustand bewusst geworden ist und die Hintergründe seiner Lieblingsthemen ansatzweise kennt, wird sich eher davor hüten können, seine Probleme der Gemeinde unvermittelt als „Anfragen Gottes“ unterzuschieben. Bestimmte Formen homiletischen Fehlverhaltens können mit Bezug auf die Merkmale von Disproportionen in der Persönlichkeitsstruktur zumindest hypothetisch beschrieben und damit überhaupt artikuliert werden. So kann die Abkapselung eines Ichzustandes die Glaubwürdigkeit einer Predigt beeinträchtigen. Ein Prediger, der vor allem theologisches Wissen ventiliert und nur gelten lässt, was vernünftig erscheint, der keine tragfähige Beziehungsebene aufzubauen vermag und selbst Ängste und Hoffnungen von Menschen nur als „Reflexionsgegenstände“ zur Sprache bringt (ausgeprägtes ER), könnte im Rahmen einer den angeführten Modellen entsprechenden Analyse beispielsweise auf Verdrängungen, auf den abgebrochenen Kontakt zum Selbst oder auf den Ausschluss seines Kind-Ichzustands aufmerksam werden. Der Verlust an Ausdrucksfähigkeit bzw. Störungen im Blick auf die zur gegenseitigen Verständigung notwendige Dimension der Selbstkundgabe, kommen - homiletisch gewendet - einer Beeinträchtigung der Zeugnisfunktion der Predigt gleich. 148 148 Weitere Zusammenhänge zwischen Disproportionen in der Persönlichkeitsstruktur und homiletischem Fehlverhalten in W. Engemann, 1992a, 49-52. <?page no="89"?> 89 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Mit Dysfunktionen in der Selbstwahrnehmung und im Kommunikationsverhalten wird auch im Fall von Kontaminationen des einen Persönlichkeitsbereichs durch einen anderen gerechnet. Eine solche „Trübung“ liegt beispielsweise vor, wenn ein Mensch elterliche Richtlinien, die er als Kind verinnerlicht hat, als Resultat eigener rationaler Reflexion betrachtet und für eine selbstverständliche Regel hält: „Um von anderen gemocht zu werden, muss man rücksichtslos gegen sich selbst sein können.“ Solche Trübungen können dazu führen, dass bestimmte Predigtfunktionen nicht mehr wirksam werden können, dass eine durchaus weiterführende Frage (ER) als Vorwurf gehört wird (strafendes EL), oder dass die Paraklese (EL) zur bloßen Information verkommt. 149 Beispiel: Ein Pfarrer hat die Absicht, seine Hörer mit Bezug auf Lk 12,13-21 anlässlich des Erntedankfestes zu großzügigerem Teilen zu bewegen. Um dies zu erreichen, will er die Überreichlichkeit der Gaben Gottes in allen Lebensbezügen herausstellen und die Hörer zu der Einsicht bewegen, dass objektiv mehr als genug vorhanden sei. Es käme darauf an - so der Pfarrer -, in einer Haltung dankbarer Gelassenheit alles das entgegenzunehmen, was Gott den Menschen in seiner Güte und Menschenfreundlichkeit bereithielte. Statt nun aber seinem Erwachsenen-Ich Raum zu geben und mit guten Argumenten etwa den Unterschied zwischen Haben und Sein zu erörtern, wird die gesamte Predigt einem strafenden Eltern-Ich überlassen, das permanent die Undankbarkeit der Hörer thematisiert und sie wie egoistische Kinder behandelt. Die homiletischen Fehlhaltungen, die Hans-Joachim Thilo beschreibt, hängen mit dem Profil von Persönlichkeitsstrukturen zusammen. 150 Seine Untersuchungen postulieren ihrerseits personale Kompetenz als Voraussetzung und Teil homiletischer Kompetenz. Thilos Ansicht nach ist eine Analyse homiletischen Fehlverhaltens kaum möglich ohne eine - am besten im Dialog mit (einem) anderen geführte - Auseinandersetzung mit sich selbst. Dabei kommen verborgene, unbewusste und z. T. destruktive, vom Selbst bzw. vom Ich losgelöste Predigtmotive in den Blick. Sie äußern sich nach Thilo in drei Grundphänomenen: (1.) in der „Oralität des Predigers“, (2.) in der „Angst vor Konfliktsituationen“ und (3.) in der „Aggressivität des Predigers“. 151 149 Vgl. die oben in der Übersicht aufgeführten Predigtfunktionen. 150 Vgl. H.-J. Thilo, 1974, bes. 114-119. 151 A. a. O., 114. <?page no="90"?> 90 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt 1. Oralität, das „Gefüttertwerdenwollen“ des Predigers, ist Ausdruck eines unerfüllten und unreflektierten Wunsches nach Anerkennung. Der Prediger neigt dazu, seinen Hörern durch Inhalt sowie durch Art und Weise der Predigtkommunikation zu schmeicheln, ihnen nichts abzufordern und Problematisierungen zu vermeiden - ohne sich seiner tief sitzenden Ablehnungserfahrung bewusst zu werden. 152 Das für den Prediger Tragische an dieser Haltung ist der Umstand, dass die Hörer einer derartig schwammigen, unpositionierten, „säuselnden“ Predigt erst recht abweisend gegenüberstehen, wodurch sich ihr Distanzempfinden dem Prediger gegenüber noch vergrößert. 2. Ähnliches gilt für die Angst vor Konfliktsituationen: Ein Prediger beteuert, dass „wir alle in einem Boot“ sitzen und plädiert dafür, dass man sich deshalb von gegenseitigen Forderungen und Ansprüchen aneinander verabschieden, abweichende Meinungen nicht zum Streit ausarten lassen und „nur auf die Gerechtigkeit Gottes sehen“ sollte. 153 Er ist sich jedoch nicht darüber im Klaren, dass er somit faktisch auf die Erfahrung einer ihn auch in seinem Andersdenken akzeptierenden Gemeinschaft verzichtet, worunter er gerade leidet. 3. Wenn die Angst vor Konflikten in der Predigt zur Unterdrückung der eigenen Subjektivität und zur Bagatellisierung eigener Bedürfnisse führt, kann sie in Aggressivität umschlagen und sich als Hörerschelte äußern. „Wir zerstören das uns Menschen offenbarte Gottesbild und vertauschen es mit dem zum Idol erhobenen tierischen Menschenbild vom nackten Affen und stellen uns damit den Freibrief für alle unsere ungezügelte Sexualität aus bis hin zu den schamlosesten Perversitäten.“ 154 Meint der Prediger, wenn er hier „wir“ sagt, in der Tat sich und die Gemeinde? Wahrscheinlicher ist, dass dem Prediger hier etwas von seiner eigenen Problematik bewusst zu werden scheint; er versucht es jedoch anderen zu unterstellen, um sich nicht selbst mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Nicht gelebte, unterdrückte oder verleugnete, aber gleichwohl vorhandene Grundimpulse der Persönlichkeitsstruktur des Predigers wirken in der Predigt wie eine uneingestandene, sich immer wieder durchsetzende Gegenposition. Sie haben unmittelbar Einfluss auf den Kommunikationsprozess zwischen Prediger und Hörer. Daher kann man das Subjekt der Predigt letztlich nicht thematisieren, ohne auch persönlichkeitsspezifische Kommunikationsstrategien 152 Für diese Haltung sind Persönlichkeiten mit einem gebrochenen Kind-Ichzustand bzw. mit einem nährenden Eltern-Ich besonders disponiert. 153 Vgl. H.-J. Thilo, 1974, 115. 154 Dieses Beispiel bietet H.-J. Thilo, a. a. O., 113. <?page no="91"?> 91 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven in den Blick zu nehmen. Sie äußern sich in bestimmten Formen des Umgangs mit sich selbst, mit bestimmten Themen und mit den Hörern, was uns zum folgenden Kapitel führt. 2.3.4 Kommunikative Kompetenz und die Verständlichkeit des Predigers 2.3.4.1 Grundmuster der Predigtkommunikation. Zwei Modelle ihrer Analyse Die Frage nach der homiletischen Bedeutung der Personalität des Predigers impliziert insofern die Frage nach seiner kommunikativen Kompetenz, als der je spezifischen Persönlichkeitsstruktur eines Predigers bestimmte Kommunikationsstile näher liegen als andere. An der Art und Weise des Ablaufs eines Kommunikationsprozesses sind aber nicht nur bestimmte Persönlichkeitsprofile wiederzuerkennen; die in der Kommunikation sich vollziehende Auseinandersetzung mit anderen ist auch Ausdruck einer auf die Kommunikationspartner bezogenen Selbstdefinition, Ausdruck einer fortwährenden Positionierung, einer kommunikativen Grundhaltung, die nicht für alle Mitteilungen gleich gut disponiert ist. Eine durch Kommunikation erworbene und in Kommunikation umgesetzte Grundhaltung hat charakteristische Merkmale, besondere Vorzüge und typische Handikaps, die die Verständlichkeit der Predigt fördern und behindern können. Deshalb ist es nicht damit getan, solche Grundpositionen nur darzustellen. Es gilt vor allem, sie auch in ihrer determinierenden Funktion für ein latentes Predigtverständnis zu erörtern. Dabei geht es um persönlichkeitsspezifische Grundpositionen von Predigern, die unabhängig von Text, Kirchenjahr oder Situation auf eine ganz bestimmte, stereotype Inszenierung der Predigt hinauslaufen. Bemerkenswerterweise sind bei der Erschließung solcher Grundhaltungen immer wieder Vierer-Typologien analysiert worden, zwischen denen - obgleich ihnen unterschiedliche und voneinander unabhängige wissenschaftliche Einsichten zugrunde liegen - deutliche Analogien bestehen: So z. B. zwischen den klassischen „vier Temperamenten“, den „vier Denkformen“ und den „vier Neuroseformen“ des Menschen, um nur drei der bekanntesten zu nennen. „Das lässt eine Gesetzmäßigkeit vermuten, für die wir heute noch keine befriedigende Erklärung haben.“ 155 Für die nachstehenden Erörterungen, die sich ihrerseits an einem als Modell zu verstehenden Viererschema orientieren, ist es aber nicht 155 F. Riemann, 2009, 61. <?page no="92"?> 92 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt wichtig, auf einer - womöglich noch genetisch bedingten - Gesetzmäßigkeit zu bestehen. Es reicht aus, zu beobachten, dass es immer wiederkehrende, spezifische Formen der Bezugnahme einerseits auf sich selbst, andererseits auf die Hörer, den Text sowie auf Gott und die Welt gibt. Diesen Umgangsformen korrespondieren bestimmte Gottesbilder, bevorzugte Themen, charakteristische Redewendungen usw. Im Interesse einer Verdeutlichung der Kommunikationspraxis von Predigern wird im Folgenden versucht, die Perspektiven und Elemente zweier Modelle miteinander zu verbinden, die sich ergänzen. Zum einen (1.) handelt es sich um das Modell der vier Lebenspositionen der Transaktionsanalyse 156 , zum anderen (2.) um die tiefenpsychologische Typologie der vier Grundimpulse und -ängste des Predigers nach Fritz Riemann 157 . Während die Transaktionsanalyse eine eingängige, gleichwohl in einer breiten wissenschaftlichen Basis verankerte Terminologie bereitstellt 158 , enthält das Modell von Riemann bereits homiletische Konkretionen, die sich hinsichtlich der Kommunikationspraxis des Predigers jedoch noch vertiefen lassen. 1. Mit der Terminologie vom „Okay“bzw. „Nicht-Okay“-Sein werden in der Transaktionsanalyse 159 Grundpositionen menschlicher Existenz als Lebenshaltungen charakterisiert, die ihre Wurzeln bereits im Säuglings- und Kleinkindalter haben. Dem Okaybzw. Nicht-Okay-Verständnis kommt dabei freilich eine umfassendere Bedeutung zu, als wir sie aus dem Okay-Jargon unseres Alltags kennen. Die Rede vom Okaybzw. Nicht-Okay-Sein bezeichnet jeweils die Grundbefindlichkeit eines Menschen als Ausdruck seiner Beziehungen zur Mitwelt (zu den anderen, zur Welt, zu Gott), eine Lebensposition also, die in unterschiedlichem Maße von Lebensbejahung und -verneinung, von Toleranz und Intoleranz, von Zuversicht und Hoffnungslosigkeit, von Geborgenheit und Isolation usw. geprägt sein kann. 156 Vgl. W. Engemann, 1984 und 1992a. 157 F. Riemann, 1996. 158 Ein besonderer Gewinn der neutralen Begrifflichkeit der Transaktionsanalyse ist darin zu sehen, dass sie im Unterschied zu anderen Typologien nicht den Eindruck erweckt, Persönlichkeits- und Kommunikationsanalyse liefe immer darauf hinaus, Neurosen zu unterstellen. 159 Wir knüpfen hier an die Erörterungen unter I.2.3.2 c) an. <?page no="93"?> 93 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven So gibt es der TA zufolge eine Art Lebensfazit, zu dem ein Mensch schon in der Anfangsphase seiner Biografie gelangen kann, weil er anders keine Beziehung zwischen erlebter Umwelt und sich selbst herzustellen vermag: Ich bin nicht okay - du bist/ ihr seid okay: Indem das Kleinkind häufig „korrigiert“ wird, vieles „verboten“ bekommt und u. U. bestraft wird, ohne den Sinn dieser Widerstände verstehen zu können, bekommt es auf der Beziehungsebene vermittelt, „nicht okay“ zu sein. Freilich sind derartige Folgerungen und Entscheidungen nicht irreversibel. So gewiss sie sich verfestigen können und nicht nur passiv erfahren, sondern schließlich auch aktiv gelebt werden, sind sie - z. B. durch Bewusstmachung und durch entsprechende Gegenentscheidungen - therapeutisch zu beeinflussen. Zunächst aber kommt das Sich-Einfinden des Menschen in einer von bestimmten Werten geprägten Position einer Grundsatzentscheidung gleich, die nicht täglich neu formuliert wird. Sie ist das Ergebnis der Bemühung, „sich selbst und die Umwelt auf einen Nenner zu bringen“ 160 . Dabei können sich folgende Positionen herausbilden: (1.) Ich bin okay - Du bist okay. (2.) Ich bin okay - Du bist nicht okay. (3.) Ich bin nicht okay - Du bist okay. (4.) Ich bin nicht okay - Du bist nicht okay. 2. Ohne auf die Analogien zur Transaktionsanalyse Bezug zu nehmen, charakterisiert Fritz Riemann aus tiefenpsychologischer Sicht vier Grundeinstellungen, die - „biografisch-genetisch“ - jeweils auf eine Stufe frühkindlicher Entwicklung zurückgeführt werden. 161 Dementsprechend werden von ihm vier Persönlichkeitsprofile (schizoid, depressiv, zwanghaft und hysterisch) erarbeitet, bei denen extreme Ausformungen phasenspezifischer Entwicklungsimpulse (Nähe, Distanz, Beharrung und Wandel) zu verzeichnen sind. Es kann kaum oft genug darauf hingewiesen werden, dass weder Riemann noch andere gegenwärtige Vertreter der Tiefenpsychologie mit solchen Modellen zum Ausdruck bringen, dass alle Menschen krank wären. Die Ausdrücke schizoid, depressiv, zwanghaft und hysterisch sind Steigerungsbezeichnungen für lebensnotwendige Impulse wie Nähe und Distanzierung, Beharrungsvermögen und Wandlungsfreudigkeit, ohne die ein Mensch sich in der Alltagskommunikation nicht zu verorten vermag - und ohne die auch kein Prediger angemessen und verständlich von Liebe oder Schuld reden kann. Die einseitige Verstärkung eines solchen Impulses ist aber mit der Verkümmerung seines 160 Th. Harris 1973, 54. 161 F. Riemann, 2009, 61 f. <?page no="94"?> 94 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Gegenpols verbunden, der dann als ,Angst vor- … ‘ gelebt wird: Eine Dominanz des Impulses zu Nähe und Geborgenheit wird z. B. als Angst vor Distanz erlebt. Dominiert der Impuls zur Beharrung, wird jegliche Wandlung und Veränderung als Bedrohung empfunden und umgekehrt. Zum Verständnis der Relevanz beider Analyse-Modelle ist es wichtig, Lebenspositionen und Grundeinstellungen als (natürlich nicht allein) determinierende Faktoren eines bestimmten Predigtstils zu verstehen. Die oben skizzierten Grundhaltungen gehören zur Ausgangsbasis jeglicher Kommunikationsprozesse. Es liegt in der Logik solcher Positionen bzw. in der Erwartung eines sich in Kommunikation begebenden Menschen, dass sich im Fortgang der Verständigung die einmal bezogene Lebensposition bestätigt. Im Folgenden werde ich die Darstellung der einzelnen Lebenspositionen und ihre tiefenpsychologische Charakterisierung mit dem Problem der Verständlichkeit der Predigt verknüpfen. 162 2.3.4.2 Die Bedeutung der Lebenseinstellung des Predigers für die Plausibilität seiner Rede a) Distanzschaffendes Predigen und die Unverständlichkeit der Liebe Eine distanzschaffende Kommunikationsweise ist Predigern eigen, die ihr Leben überwiegend aus der Position „Ich bin nicht okay - Du bist nicht okay“ heraus gestalten. Menschen mit dieser Lebensposition stehen sich selbst wie auch anderen gleichermaßen ablehnend und hart gegenüber. Nach ihrem Eindruck bringen sie ihr Leben damit zu, „der Bestrafung durch die anderen auszuweichen“ 163 . Sie suchen eigentlich Zuwendung und wünschen sich eine positive Erwiderung auf ihre Versuche, Bestätigung zu erfahren. Weil sie solche Erfahrungen nicht machen konnten, ziehen sie sich - um weitere Enttäuschungen zu vermeiden - zurück. „There is nobody to turn to and, therefore, the child is seen by others as a nonresponsive person.“ 164 Tiefenpsychologisch gesehen wird der Ansatz zu diesem Impuls in der sensorischen Phase des Säuglings bis etwa zum dritten Lebensmonat entwickelt. Das ganz und gar abhängige Kind erlebt die Umwelt bzw. seine Mutter nicht als solche, sondern als Erfüllerinnen oder - z. B. bei vorübergehender Abwesenheit - als Störung seiner Bedürf- 162 Vgl. auch Abb. 6, S. 104. 163 M. James/ L. M. Savary, 1977, 113. 164 F. Hedman, 1974, 45. <?page no="95"?> 95 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven nisse. 165 Durch solche Störungen kann die Erfahrung der Abhängigkeit in eine latente Angst vor Abhängigkeit umschlagen, so dass das Kind ein Grund-Misstrauen entwickelt, sich im Sinne einer Schutzmaßnahme auf sich selbst zurückzieht und dabei einen Impuls zu sich abschirmender Distanz ausprägt. Wenn dieses Motiv der Selbst-Isolierung zum leitenden Grundimpuls der Kommunikation geworden ist, kann man von einer schizoiden Persönlichkeit sprechen. Da sie ihre innere Einsamkeit und Ungeborgenheit nicht dadurch überwinden kann, dass sie sich nach außen öffnet (dass sie dies nicht kann, ist ja ihr Problem), versucht sie „autark zu werden, niemanden zu brauchen“ und „auf niemanden angewiesen zu sein“ 166 . Ein Prediger mit schizoider Neigung geht auch bei der inhaltlichen Strukturierung der Predigt - solange er sich dieser Tendenz nicht bewusst wird - entsprechend vor: Er bevorzugt Themen, die eine Distanz implizieren: „Christsein angesichts der Feindschaft der Welt“, „Kerngemeinde und Kartei-Christen“ - kurz, alles, was ihm zur Illustration von Ichstärke und individuellem Durchhaltevermögen als tauglich erscheint. Gleichzeitig wird der Prediger versuchen, sich selbst von der Menge der Hörer abzugrenzen und darauf bestehen, dass jeder allein seinen Weg gehen muss, um bei Gott - der es seinerseits nicht anders gemacht hat - Anerkennung zu finden, wofür es wiederum keine zuverlässigen Anhaltspunkte gibt: Von Gott wird nicht im Zusammenhang einer Beziehungsangelegenheit, sondern wie von jemandem gesprochen, zu dem man - nicht zuletzt seiner Unberechenbarkeit wegen - gerade keine Beziehung haben kann, dem man ausgeliefert ist. Einzig die schmerzliche Einsicht in die Wahrheit (Gottes und der Welt) kann dem Glauben als Orientierung dienen. Was Predigern mit dieser Grundposition besser gelingt als anderen, ist die wirksame, d. h. verständliche Konfrontation mit sperrigen, unbequemen Wahrheiten. Solche Prediger sind oft „nahe am ,Puls der Zeit‘, Gegner sowohl aller sentimentalen und unechten Frömmelei wie erstarrter und sinnleer gewordener Riten und Bräuche“ 167 . Freilich: Wie will ein Prediger von dieser Position aus das Mitteilungsgeschehen Predigt als partizipatorische, Anteil gebende Kommunikation gestalten? Dass Gott mit dem Menschen aus Liebe zu tun haben will und auch nicht die Schuld des Menschen dazu führt, Gott dazu zu bewegen, auf Distanz zu gehen, wird der Prediger nicht plausibel vertreten können. 165 Vgl. F. Riemann, 2009, 62-64. 166 A. a. O., 64. 167 A. a. O., 65. <?page no="96"?> 96 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Das Handikap, nicht nur beziehungslos zu predigen, sondern noch beim Predigen Beziehungen abzubrechen und durch seine Rede zu schockieren, wird ihn am Ende als den starken Einsamen an der Spitze seiner Gemeinde erscheinen lassen. Die damit einhergehende, von den Hörern empfundene Empörung wird - ebenso wie eine eventuelle Zustimmung seitens der Gemeinde - die Distanz, unter der er ja leidet, noch vergrößern. Doch nicht nur der Prediger selbst wird als Person von seiner eigenen Kommunikationsstrategie in Mitleidenschaft gezogen. Auch in der Gemeinde kann er „ekklesiogene Schädigungen“ verursachen, indem er die Hörer „durch zu subjektive und utopische Vorstellungen bzw. Forderungen“ überfordert und zu Schritten veranlasst, „denen diese nicht gewachsen sind“. 168 Was den Anteil des Predigers an der „Situationsmacht“ 169 angeht, so wird er von seinem Autarkiestreben her „Vollmacht“ beanspruchen und nicht zögern, sie auch gestisch, mimisch, hodologisch 170 und auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen. Für entsprechende Darstellungen in der Predigt eignen sich Personen mit ausgeprägtem strafenden Eltern-Ich eher als andere. 168 A. a. O., 64 f. 169 Heinrich Lausberg ergänzt die zahlreichen Betrachtungsmöglichkeiten einer Kommunikationssituation auf eine äußerst instruktive Weise, indem er - die jeweilige soziale Konstellation der Kommunikationspartner berücksichtigend (Prüfung, Arztgespräch, Bewerbungsgespräch, seelsorgliche Beratung usw.) - fragt, wer von ihnen die „Situationsmächtigen“ und wer die „Situationsinteressierten“ sind (vgl. H. Lausberg, 1963, 18). 170 Der Ausdruck „hodologisch“ (von gr. ὁδός = Weg) bezieht sich auf das in einem Raum durch vorgegebene bzw. gewählte Wegstrecken verfügbare Zeichenrepertoire (z. B. Prozession im Mittelgang einer Kirche, bewegungsmäßige Interpretation der „liturgischen Wege“ zwischen Kirchenbank, Altar, Kanzel, Ambo usw.). Hodologische Codes machen es möglich, durch die Nutzung und durch die Art und Weise des Begehens dieser Strecken den Zuschauern bzw. der Gemeinde etwas zu verstehen zu heben. Karl-Heinrich Bieritz berichtete in seiner Liturgik-Vorlesung von einem Prediger, der sich nur dann im Kirchenschiff aufhielt, wenn er selbst agierte. Immer dann, wenn die Gemeinde sang oder auf andere Weise selbst am Gottesdienst beteiligt war, entzog er sich den Blicken der Gemeinde und verschwand in der Sakristei. Wer so wenig mit seiner Gemeinde zu tun haben will, wird ihr schwerlich die Idee der Gemeinschaft des Leibes Christi nahebringen können. Vgl. auch K.-H. Bieritz, 2004, 43-45. 95. <?page no="97"?> 97 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven b) Umarmendes Predigen und die Unverständlichkeit des Konflikts „Ich bin nicht okay - Du bist okay“ - so formuliert die Transaktionsanalyse die Grundposition von Menschen, die ein überwiegend negatives Bild von sich selbst entworfen haben und gleichzeitig dazu neigen, in anderen Menschen unerreichbare Vorbilder zu sehen, bewundernswerte „Glückspilze“, die das bessere Los gezogen haben und immer im Vorteil sind. Weil sie sich nicht für liebenswert halten, sehen sie sich fortwährend in der Pflicht, sich die Achtung und Zuwendung anderer und Gottes zu verdienen. Wenn das nicht gelingt, kann es dazu kommen, dass sich ein Mensch mit dieser Lebensposition physisch und emotional von den anderen zurückzieht und sich weigert, die volle Verantwortung für die eigenen Gefühle und für sein Verhalten zu übernehmen. 171 Aus tiefenpsychologischer Sicht wird der Grundimpuls zu Nähe und Bindung vor allem in der oralen Phase der frühkindlichen Entwicklung eines Menschen - im Verlauf des ersten Lebensjahres - geformt. Das allmählich zwischen Ich und Du unterscheidende Kind erlebt sein Leben vor allem in Gestalt der Bindung an seine Mutter. Eine gelingende, im Ganzen störungsfreie Beziehung des Kleinkindes zur Mutter stellt ihm die notwendige emotionale Grundausstattung für eine sich entwickelnde eigene Bindungsfähigkeit bereit. 172 Störungen in dieser Phase haben nicht etwa zur Folge, dass das Kind keinen Bindungsimpuls entwickelt, sondern dass er die Entwicklung dominiert: Das Versagen von Nähe fixiert das Kind umso mehr auf die allzu oft entbehrte Beziehungsperson; es klammert sich an, weil es nicht „satt“ wurde. Wird es hingegen verwöhnt, weil die Mutter, um selbst geliebt zu werden, ihr Kind in Abhängigkeit hält, wird der natürliche Reifungs- und Abnabelungsprozess des Kindes von Schuldgefühlen begleitet. Um diesen Schuldgefühlen und dem drohenden Liebesentzug der Mutter auszuweichen, verzichtet es lieber auf den Weg der Selbstwerdung und verstärkt die Bindung, unter der es leidet. Depressive Persönlichkeiten sind häufig Menschen mit einem gestörten Selbstwertgefühl. Sie bezweifeln, allein mit ihrem Leben zurechtzukommen. Um dieser Gefahr gar nicht erst ausgesetzt zu sein, sind sie bereit, den Erwartungen anderer weit entgegenzukommen. Um in ihrem Geborgenheitswunsch nicht enttäuscht zu werden, haben sie eine hohe Bereitschaft, Schuld anderer zu übergehen bzw. als eigenes Versagen umzuinterpretieren. Empfundene Enttäu- 171 Vgl. M. James/ L. M. Savary, 1977, 77 f. 172 Vgl. F. Riemann, 2009, 66 f. <?page no="98"?> 98 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt schungen oder innere Proteste gegenüber dem Auftreten der anderen werden kaum geäußert, sondern unterdrückt und als Spannung in die eigene Persönlichkeit hineinverlagert, die auf diese Weise ‚unterminiert‘ wird. Prediger mit einer depressiven Grundstruktur neigen dazu, Liebe und Leid als Inbegriff christlichen Lebens zu thematisieren, ohne dabei Möglichkeiten zur Veränderung leidvoller Situationen zu erschließen, es sei denn durch Selbstaufgabe, durch radikalen Ichverzicht, in der Hoffnung, wenigstens um diesen Preis von den anderen angenommen zu werden. „Gott“ erscheint in ihren Predigten als jemand, der nichts fordert, nichts erwartet, aber alles gelten lässt und mit nichts anderem befasst ist, als anderen seine Liebe aufzudrängen. Dem Werben um Zustimmung und Anerkennung entspricht es, dass der depressive Prediger Konflikte umgeht und Konfrontationen mit Schuld vermeidet. Doch auch hier ist damit zu rechnen, dass er das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich will: Indem er sich primär als selbstloser Helfer präsentiert und in permanenter Demutshaltung alles zu verstehen und zu verzeihen vorgibt, verliert er u. U. den Rest des Profils, das er braucht, um überhaupt als Gegenüber wahr- und ernst genommen zu werden. Die Hörer werden die zu große Nähe als anbiedernd und bedrückend empfinden, was die Distanz, die der Prediger zu überwinden sucht, noch vergrößert. Die Ichzustände, die diese Grundhaltung in der Kommunikation am entschiedensten vertreten können, sind das gebrochene Kind-Ich und das nährende Eltern-Ich. Die „Situationsmacht“ wird in einer dementsprechenden Predigtweise ganz Gott zugeschrieben, freilich einem als Schicksal verstandenen Gott: Alles Geschehende muss als Zeichen seiner Liebe verstanden und interpretiert werden, ohne dass die sich darin zeigende „göttliche Macht“ positiv für Veränderungen der Realität in Anspruch genommen würde. Die drohenden ekklesiogenen Schädigungen liegen auf der Hand: Wenn der Prediger seiner Gemeinde den Eindruck vermittelt, „Bedenken, Zweifel oder Kritik an kirchlichen Institutionen oder gar an Gott“ seien blasphemische Vermessenheit, gibt er der Vorstellung Raum, man werde sich mit Skepsis und Unsicherheit die Liebe Gottes verscherzen. 173 Sofern der Impuls zur Bindung nicht durch Störungen zum dominanten Leitprogramm eines Predigers wird, bietet er auch Chancen: Er ist wichtig für das Identifikationsvermögen des Predigers und unterstützt so die seelsorgliche 173 A. a. O., 68. <?page no="99"?> 99 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Dimension der Predigt. 174 Der Prediger vermag seinen Hörern zu vermitteln, dass sie etwas wert sind, dass sie geliebt, gewollt und gebraucht werden. c) Zwanghaftes Predigen und die Unverständlichkeit der Freiheit In der Literatur wird bei der Verdeutlichung der Lebensposition „Ich bin okay - Du bist nicht okay“ gern auf den Pharisäer aus Lukas 18,9-14 verwiesen. 175 Menschen mit dieser Grundhaltung wirken überheblich. Aufgrund ihres ausgeprägten Eltern-Ichs und des damit verbundenen Autoritätsanspruchs neigen sie dazu, andere zu korrigieren bzw. Menschen und Dinge zuerst als etwas zu Bewertendes wahrzunehmen. In ihrer Gegenwart kann sich nur wohlfühlen, wer sich eher für „nicht okay“ hält, gern an der Autonomie und Autorität anderer partizipiert und sich dadurch als aufgewertet erfährt, wer also aus einer depressiven Grundhaltung heraus auf die Zuwendung einer starken Persönlichkeit erpicht ist. Diese auf die Unterwerfung anderer und die Normierung des ganzen Lebens ausgerichtete Grundhaltung kann beim zwanghaften Typus auf Störungen in der sogenannten analen Phase (etwa zweites bis fünftes Lebensjahr) zurückgeführt werden. In dieser Phase bildet sich die Eigenständigkeit des Kindes heraus; seine wachsenden Fähigkeiten setzt es mehr und mehr zur Durchsetzung seines Wollens ein. Das Kind bekommt einen Begriff von seiner Macht. Wird es in dieser Entwicklung blockiert, indem die Eltern ihre faktische Übermacht missbrauchen, es dressieren oder blinden Gehorsam lehren, wird dieses Kind aus Angst die zwanghafte Beachtung von Vorschriften für überlebenswichtig halten und sich den jeweils herrschenden „Gesetzen“ anpassen. Versuchen die Eltern hingegen, alles im Machtkampf auszuhandeln und das Kind damit in seiner Emanzipation zu überfordern, kann es zur Opposition um jeden Preis kommen. 176 Ohne solche Störungen ist davon auszugehen, dass in der genannten Phase der überlebensnotwendige Grundimpuls zur Selbstbehauptung gesetzt wird. Von den oben genannten Störungen beeinflusst, kann der konstruktive Trieb zur Selbstbehauptung zu einer zwanghaften Grundhaltung werden, in deren Folge ein Mensch sein Fühlen, Denken und Verhalten in erlaubte und ver- 174 „Der Prediger mit überwiegend dieser Persönlichkeitsstruktur ist oft der geborene Seelsorger“ (a. a. O., 67). 175 Vgl. z. B. F. Hedman, 1974, 50, M. James/ L. M. Savary, 1977, 88 und andere. 176 Vgl. F. Riemann, 2009, 69 f. <?page no="100"?> 100 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt botene Lebensäußerungen einteilt. Das Beharren auf vorgegebenen Regeln und Traditionen wird für lebenswichtig gehalten, da Abweichungen von der Norm mit Strafe und Liebesentzug geahndet wurden. Ein so bestimmter Mensch wird Schwierigkeiten damit haben, den Mut für ein von eigenen Wünschen, Überzeugungen und Entscheidungen bestimmtes Leben aufzubieten. Dem schwachen Impuls zu einem freien, auf der Basis eigener Einsichten gestaltetem Leben wird er kaum nachgeben können. Als Prediger wird er Themen favorisieren, in denen er seine Maßstäbe vorführen kann, Themen, die sich mit einer bestimmten Weltanschauung verknüpfen lassen und entsprechende Ordnungen bestätigen: Dazu gehört der Respekt vor „höheren Ordnungen“ wie den 10 Geboten, die Entfaltung des Glaubens als Akt des Gehorsams bzw. das Insistieren auf der Erfüllbarkeit der Gebote. In diesem Sinne ist der zwanghafte zugleich ein gesetzlicher Prediger, der dazu neigt, den Hörern die Differenz zwischen Sein und Sollen vor Augen zu halten, sie auf die Defizite im Erfüllen der Erwartungen Gottes hinzuweisen und das kommende Gericht als Hauptmotiv der Buße darzustellen. Gegenüber den jeweils unterstellten Abweichungen von den Normvorgaben Gottes betrachtet dieser Prediger seine Intoleranz als notwendigen Selbstschutz vor eigenem Freiheitsstreben. Dementsprechend ist von Gott als von einem „moralischen Prinzip“ 177 die Rede, ohne das alles drunter und drüber ginge. Sicher: Wo deutlich gemacht werden muss, was über den Tag hinaus gilt, ist Beharrlichkeit - zumal in Verbindung mit einem angemessenen Verantwortungsgefühl und -bewusstsein - von großer Bedeutung. Der zwanghafte Prediger vermag aber kaum aufzuzeigen, für welche Risiken, für welche Freiheit jene Beharrlichkeit gebraucht wird. Weil für ihn Neuerungen mit Chaos gleichzusetzen sind und weil er Traditionen ernster nimmt als Situationen, haben seine Predigten oft einen aggressiv-belehrenden Charakter. Solche Predigt ist darin problematisch, dass sie das Evangelium in Gebote und Verbote zerlegt und nichts von der Freiheit verdeutlicht, in deren Dienst die Predigt steht. Letzteres würde der Prediger wahrscheinlich als Preisgabe eines Teiles seiner „Situationsmacht“ verstehen, die - aus seiner Sicht - mit dem Bedarf an Richtlinienkompetenz seitens unselbständiger Gemeindeglieder steht und fällt. Das Dilemma dieser Grundhaltung drückt sich darin aus, dass die ausgeprägte Tendenz zur Beharrung von den Hörern nicht als Schutzimpuls für Frei-, Spiel- und Lebensräume empfunden wird, sondern zu noch größeren Enttäu- 177 A. a. O., 71. <?page no="101"?> 101 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven schungen hinsichtlich der Einhaltung des Gesetzes führt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hörer dem Prediger die Autorität zuerkennen, die er von seinem maßgebenden Eltern-Ich her beansprucht, ist gering. d) Schrankenloses Predigen und die Unverständlichkeit von Grenzen Die Lebensposition „Ich bin okay - Du bist okay“ gründet in der Überzeugung, „dass Menschen sich verändern können und dass jeder in seiner Selbstverwirklichung noch weiterkommen kann“ 178 . Wer diese Grundhaltung eingenommen hat, wird sich nur schwer mit Grenzen arrangieren. Er wird sich ein mit Phantasie und Imagination entwickeltes Projekt kaum kleinreden lassen. Weil Freiheit und Autonomie in der Werteskala seines Lebens ganz oben rangieren, sieht er nirgendwo einen Determinismus walten und kennt keine absoluten, grundlosen Beschränkungen. Er ist von einem starken Selbstvertrauen bestimmt und von dem Bewusstsein geleitet, dass ihm ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten zur Verfügung steht. Dieses Gefühl wird auch den jeweiligen Kommunikationspartnern vermittelt. Das Gespräch mit Menschen dieser Position hinterlässt bei anderen häufig den Impuls, etwas ändern zu wollen - dies freilich nicht aus einem Schuldgefühl heraus, sondern aufgrund eines entstandenen Erwartungspotentials. Die Grundlagen für diesen Impuls sind offensichtlich auf Erfahrungen in der sogenannten phallischen Phase 179 (fünftes bis sechstes Lebensjahr) zurückzuführen. Das Kind 178 M. James/ L. M. Savary, 1977, 101 f. 179 Wenngleich die Phasen der psychosexuellen Entwicklung des Menschen bis zur Pubertät heute (noch) komplexer analysiert werden können als in der Psychoanalyse Sigmund Freuds, findet die von ihm vorgeschlagene Terminologie noch weitgehend Verwendung. Das gilt auch für die „phallische Phase“, die mitunter fälschlicherweise durch den Begriff der „genitalen Phase“ ersetzt wird. Die „genitale Phase“ ist jedoch die sechste und letzte Stufe in der psychosexuellen Entwicklung (nach der Latenzphase etwa vom 6.-7. Lebensjahr, in der sexuelle Regungen eher abgewehrt und Anforderungen der Umwelt verinnerlicht werden.) Die genitale Phase wird auf den Zeitraum vom 8. Lebensjahr bis zur Pubertät angesetzt. Die hier als Argumentationsfolie dienende „phallische Phase“ verdankt ihren Namen einem - nach Ansicht Freuds - Jungen und Mädchen gleichermaßen betreffenden Detail der Entdeckung ihrer Geschlechtlichkeit: „Penisneid“ bei den Mädchen; „Kastrationsangst“ bei den Jungen. Entscheidend für das Verständnis und die Relevanz dieser Phase sind die sich in ihr vollziehende Ausdifferenzierung der Beziehung zu Vater und Mutter als gleichbzw. andersgeschlechtlichen Beziehungspersonen, die Erfahrung von Konkurrenz durch <?page no="102"?> 102 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt fängt an, eine eigene Identität auszubilden und sich dabei an Vorbildern zu orientieren. Das ausprobierende Suchen nach einer befriedigenden Rolle wird vorübergehend zur bestimmenden Lebenshaltung, die sich im Falle von Störungen langfristig wiederum als dominanter Lebensimpuls ausprägen kann. Die Ausrichtung auf profillose, „unverlässliche oder unreife elterliche Vorbilder“ kann dazu führen, dass das Kind seine Identifikationsversuche zunächst abbricht und sich lieber auf die reizvolleren, aber unrealistischen Vorbilder seiner Phantasiewelten konzentriert. Eine ähnliche Wirkung hat es, wenn die Eltern das Kind mit zu steilen, egoistischen Identifikationsvorgaben konfrontieren. 180 Das Kind erfährt sich als angenommen und akzeptiert nur um den Preis, dass es alles aus sich herausholt. Auf dieser Basis kann sich eine „hysterische Persönlichkeit“ mit einem schwankenden Selbstwertgefühl entwickeln, das sich einmal in Minderwertigkeitsgefühlen, ein anderes Mal in Selbstüberschätzung äußert. Ein Mensch, der bald zu wenig, bald zu viel bestätigt wurde, wird sich unter Umständen zu einem Virtuosen der Anpassung entwickeln, um dadurch bei den anderen auf Anerkennung und Wohlwollen zu stoßen. Bestimmt vom Impuls zum Wandel, begleitet von der Angst vor Endgültigem, inszeniert die hysterische Persönlichkeit bestimmte Rollen, ohne dabei Anhalt am eigenen Ich bzw. am Selbst zu finden. 181 Prediger mit dieser Grundhaltung präsentieren sich gern als toleranter Freund der Hörer. Ihre Predigten lassen sich kaum auf bestimmte Themen fixieren; die Prediger neigen dazu, das von ihrem Gegenüber jeweils Erwartete aufzunehmen. Inhaltsfragen werden also in gewisser Weise instrumentalisiert, indem sie vor allem die Funktion haben, den Prediger als jemanden zu zeigen, der ihnen - und zwar im Sinne der Hörer - gerecht werden kann. Dem Prediger dieser Prägung ist „seine persönliche Wirkung oft wichtiger als das Inhaltliche“ 182 . Tenor der Predigt ist - ohne auf einen bestimmten Themenkanon fixiert zu sein - die „Freiheit eines Christenmenschen“. Wovon immer der Prediger handelt, er wird in einer Weise von Gott und den Beziehungen der Menschen zu ihm und untereinander sprechen, dass - soweit er es beeinflussen kann - Hoffnung geweckt, die Freude am Dasein genährt und das Leben bejaht wird. den gleichgeschlechtlichen Elternteil, das Erlernen des Umgangs mit Konkurrenz, das Werben um Anerkennung in der Rolle als (kleiner) Mann und (kleine) Frau, die Suche nach Normen, an denen man sich beim Erlernen dieser Rolle orientieren kann u. a. m. 180 Vgl. F. Riemann, 2009, 73 f. 181 Vgl. a. a. O., 73-75. 182 A. a. O., 75. <?page no="103"?> 103 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Prediger mit dieser Lebensposition sind dadurch in einem gewissen Vorteil, dass sie leichter als andere verdeutlichen können, dass das Leben mehr ist als der uns auferlegte Versuch, den Verführungen der Sünde oder der Bedrohung durch einen beobachtenden Gott auszuweichen. Es liegt ihnen fern, erfahrenes Leid einfach als Folge von Schuld zu bewerten. Entschlossener Widerstand gegen vermeintliche Schicksale, Aufbegehren gegen unnötiges Leid, können ihrer Ansicht nach genuin christliche Glaubensäußerungen sein. Ihr Handikap liegt in einem hohen Anteil an Scheinkommunikation: Wer so predigt, macht sich und anderen etwas vor, was der Realität nicht nur nicht standhält, sondern ihr auch keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag, weil das, was er predigt, nicht aus der Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit der Hörer hervorgeht. Die an Realitätsleugnung grenzende Predigtstrategie kann ekklesiogene Neurosen begünstigen und dazu führen, dass die Hörer sich enttäuscht aus dem Gottesdienst zurückziehen. Das Erwachsenen-Ich des Predigers ist in diesem Fall in so starkem Maße von seinem Kind-Ich getrübt, dass seine Gesamtpersönlichkeit eher einen naiven als freien Eindruck erwecken wird. Infolge des Ausblendens von Grenzen gelingt es ihm kaum, die Hörer ihre Lebenswirklichkeit sehen zu lassen. Das „Gesetz“ ist als unerlässliche Begrenzung der Möglichkeiten des Menschen nicht im Blick, auch nicht als notwendige Kritik trügerisch-narzisstischer Selbstbilder. Deshalb vermag die Predigt nicht, seelsorglich auf verspielte Lebensperspektiven einzugehen, latent vorhandenes Bewusstsein von Schuld anzusprechen und (auch) in diesem Gesamtzusammenhang die „Kommunikation des Evangeliums“ zu reflektieren. Die Hörer als „Situationsinteressierte“ werden ihren Prediger eher als „Luftikus“ denn als „Situationsmächtigen“ erleben und seine „Situationsziele“ kaum für erstrebenswert halten. Spätestens an dieser Stelle zeigt es sich, dass die durchaus konvergenten Modelle der Transaktionsanalyse und der klassischen Tiefenpsychologie nicht ineinander aufgehen. Während die Transaktionsanalyse die Lebensposition „Ich-bin-okay - Du-bist-okay“ - hier dem hysterischen Typ zugeordnet - als erstrebenswerte Idealposition charakterisiert, wird seitens der Tiefenpsychologie darauf verwiesen, dass ein gewisser Anteil aller vier Grundhaltungen bzw. -impulse zur Bewältigung des Lebens (mit und ohne Religion) nötig ist, dass also nur das unverhältnismäßige Anwachsen bestimmter Antriebe und Ängste zu Deformationen der Persönlichkeitsstruktur und damit auch zu Störungen im Kommunikationsverhalten des Menschen führt. Natürlich könnte man - ganz im Sinne der Transaktionsanalyse - jene Ausgewogenheit von notwendigen Impulsen und <?page no="104"?> 104 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Hemmungen kurzerhand mit der Position „Ich-bin-okay - Du bist okay“ identifizieren. Dabei würde man aber jene psychischen („hysterischen“) Verwerfungen übergehen, die aus dem latenten Imperativ zur Inanspruchnahme aller potentiellen Möglichkeiten erwachsen. Von daher ist es wichtig, die beiden Modelle in einem konvergenten Verhältnis zu sehen, wodurch einerseits das psychische Grundprofil des Predigers verdeutlicht, andererseits seine Kommunikationsstrategie offengelegt werden kann. Differenzierungsaspekte Kommunikationsprofile / Predigtstrategien Kommunikationstyp distanzschaffend umarmend zwanghaft schrankenlos Lebensposition Ich bin nicht okay - Du bist nicht okay Ich bin nicht okay - Du bist okay Ich bin okay - Du bist nicht okay Ich bin okay - Du bist okay Tiefenpsychologischer Typus „schizoider“ Prediger „depressiver“ Prediger „zwanghafter“ Prediger „hysterischer“ Prediger Grundimpuls Distanz Nähe Beharrung Wandel Grundangst Angst vor Abhängigkeit Angst vor Trennung Angst vor Veränderung Angst vor Endgültigem Daseinsverständnis Bedrohungen ausweichen Schicksale ertragen Ordnungen verteidigen Möglichkeiten nutzen Glaubensverständnis Kampf Hingabe Gehorsam Selbstverwirklichung Selbstbild Einsamer Zeuge Selbstloser Helfer Zuverlässiger Hüter Toleranter Freund Gottesbild unberechenbare Macht bedingungslose Liebe Garant der Ordnung Garant der Freiheit Hörerbild Menschen, die sich in Sicherheit wiegen Menschen, die man nicht enttäuschen darf Menschen, die am Gesetz Gottes scheitern Menschen mit unerschöpften Lebensmöglichkeiten „Cantus firmus“ / Fokus Feindschaft der Welt Geduld im Leiden Halt durch Gehorsam Leben in Freiheit Verdeutlichungsproblem Liebe bzw. Zuwendung Konflikt bzw. Streit Freiheit bzw. Autonomie Verantwortung bzw. Grenzen Abb. 6: Kommunikationsprofile und Predigtstrategien Ungeachtet modellinterner Abweichungen in der Typologisierung von Grundhaltungen und Lebenspositionen ist mit einer auf die eine oder andere Weise <?page no="105"?> 105 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven symptomatischen Predigtkommunikation zu rechnen, mit entsprechenden Formen des Umgangs mit den Hörern, spezifischen Glaubens- und Gottesvorstellungen und charakteristischen Plausibilitätsstörungen. Ein Prediger, der um die Dominanz eines für die eigene Predigtpraxis typischen Kommunikationsmusters weiß, hat die Möglichkeit, gegenzusteuern und seine Predigten auf ihre Inhalte, ihre Theologie, ihre sprachlichen Eigenheiten, ihr Hörerbild usw. kritisch zu hinterfragen. 183 In der Übersicht auf der vorhergehenden Seite werden die Ergebnisse einer konvergenten Betrachtungsweise von Transaktionsanalyse und Tiefenpsychologie in homiletischer Perspektive zusammengefasst. 2.3.5 Konfessorische Kompetenz und die Glaubwürdigkeit des Predigers Mit dem übergeordneten Gliederungspunkt - gegenwärtige Reflexionsperspektiven - soll natürlich nicht unterstellt werden, frühere homiletische Ansätze hätten dem Prediger als Zeugen gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Einzelne Plädoyers hat es durchaus gegeben. Teils waren sie jedoch bloßer Hinweis auf die besonderen Chancen eines persönlichen Zeugnisses, teils wurden sie als Appell zu deutlicherem Bekenntnis formuliert. In vielen Fällen wurde die Zeugenfunktion des Predigers kurzerhand mit dem „Keryx“ im Sinne eines „Herolds“ identifiziert. Dass der Prediger als Subjekt für die Entwicklung einer konfessorischen bzw. argumentativ-positionellen Kompetenz notwendig ist, und dass die personale Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit eines Predigers eine unverhüllbare Basis seines Zeugnisses ist, ist weitgehend erst in der Homiletik des 20. Jahrhunderts vertreten und als theologisches Thema begriffen worden. Freilich hatte bereits Christian Palmer einen recht anspruchsvollen Begriff von konfessorischer Kompetenz, indem er „das Geheimnis der Zeugenschaft des Predigers“ darin begründet sah, dass dessen Zeugnis die „ganze, mit der Wahrheit Eins gewordene Persönlichkeit“ 184 sei. Etwas vorsichtiger, aber von ähnlich hohem Zutrauen in die Zeugnisfähigkeit als Resultat einer individuellen Anpassungsleistung des Predigers an seine Botschaft, argumentierte Theodosius Harnack: Der Prediger ist „kein bloßer Briefbote, sondern lebendiger Zeuge, der mit seiner Person für die Botschaft einsteht, mit der er sich zusammengeschlossen hat“ 185 . 183 Eine Einführung in die Möglichkeiten der Predigtanalyse wird in Teil II geboten. 184 Ch. Palmer, 1857, 554. 185 Vgl. den Kontext bei Th. Harnack, [1878] 1978, 222. <?page no="106"?> 106 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Noch Alfred Niebergalls 186 Arbeit „Der Prediger als Zeuge“ 187 sitzt dem Missverständnis auf, die Auseinandersetzung mit der Person des Predigers sei ein bloßer Nachhall einer „psychologischen Forderung der Selbstfindung“ 188 . Dass die Auseinandersetzung mit der Person eine theologische Aufgabe ist, die um der Kommunikation des Evangeliums willen erfolgt, kommt in seiner Erörterung nicht in den Blick. Als hätte Haendler in seiner Kritik an der seitens der Dialektischen Theologie propagierten „Inkongruenz zwischen Person und Verkündigungsträger“ 189 die homiletischen Absurditäten dieses Postulats nicht aufgezeigt, erscheint der Zeuge bei A. Niebergall quasi als das Produkt von Amtskirche und biblischem Text. Die Zeugenschaft des Predigers sieht er im „Königsamt Christi“ sowie durch Taufe, Berufung, Ordination und Sendung des Predigers ausreichend konstituiert und vom Neuen Testament her inhaltlich festgelegt. 190 A. Niebergall kann das Gegenmodell Haendlers, das im personalen Subjekt kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung des Zeugnisses sieht, nur als „Auflösung der Auffassung von Amt und Dienst des Predigers, wie sie bisher von dem Neuen Testament und der reformatorischen Theologie bestimmt“ 191 worden sei, bewerten. Statt theologisch die Voraussetzungen zu reflektieren, die die Predigt als personale Kommunikation mit anderen Mitteilungsprozessen teilt, wird die Zeugnisfunktion der Predigt mit der Behauptung begründet, „dass ihr Wesen allein vom Neuen Testament her“ zu verstehen sei. Was es heißt, dass die Predigt - nicht zuletzt vom Neuen Testament her und im Sinne der Reformatoren - als Zeugnis einer Person gefordert ist 192 , wird nicht bedacht. So kommt A. Niebergall zu dem kurzsichtigen Resümee, dass „allein der Auftrag“ den Prediger zum Zeugen qualifiziere 193 . 186 Man achte auf die Unterscheidung zwischen Alfred Niebergall (1909-1978) und seinem Vater Friedrich Niebergall (1860-1932). Alfred Niebergall wurde 1959 auf den Lehrstuhl seines Vaters in Marburg berufen, knüpfte jedoch nicht an dessen auf Empirie und Interdisziplinarität basierendem Konzept von Praktischer Theologie an. 187 A. Niebergall, 1960. 188 A. a. O., 19; Hervorhebung W. E. 189 O. Haendler, [1957] 2015, 344. 190 Vgl. A. Niebergall, 1960, 59-74. 191 A. a. O., 23. 192 Vgl. unten III.4.2. 193 A. Niebergall, 1960, 24. <?page no="107"?> 107 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Wäre dies die ganze Wahrheit, müsste man vom Prediger in der Tat fordern, als Zeuge „hinter sein Zeugnis zurückzutreten“ 194 . Die Frage, ob er dies überhaupt kann, muss allerdings verneint werden. 195 Insbesondere nach der oben vorgenommenen und begründeten Einordnung der Predigt in den Gesamtzusammenhang personaler Kommunikation wäre es abwegig, diese Frage hier erneut aufzuwerfen. Ebenso geklärt ist die Frage, ob er es überhaupt soll. 196 Im Folgenden muss allerdings noch thematisiert werden, was es überhaupt heißen könnte, sich nicht zu einem eigenen Zeugnis durchringen zu wollen. Dies liefe u. a. darauf hinaus, konfessorische Kompetenz, soweit sie das persönliche Ausdrucksrepertoire des Predigers betrifft, zu bestreiten. Es bedurfte einer langen homiletischen Auseinandersetzung, bevor die oben genannten Missverständnisse sowohl methodisch als auch theologisch so genau erörtert werden konnten, dass die Verknüpfung der konfessorischen Kompetenz mit der Frage nach der Person des Predigers zu einer homiletischen Maxime wurde. Der homiletische Diskurs über den Anteil persönlichkeitsspezifischer Elemente an der menschlichen Kommunikation ist unter anderem durch Manfred Josuttis vorangebracht worden: „Einerseits muss der Prediger als Determinante des Predigtgeschehens überhaupt erst wieder entdeckt werden. Er ist im Dialog zwischen Text und Situation, Bibel und Gemeinde nicht einfach Sprachrohr oder Dolmetscher, sondern persönlicher und parteilicher Zeuge. Er muss [einerseits] sehen lernen, dass er seine Verkündigung auch immer durch seine persönliche Problematik, durch seine soziale Herkunft, seine akademische Ausbildung wie durch seine emotionale Konstitution beeinflusst. Und er muss [andererseits] entdecken lernen, dass all dies nicht zu verdrängen oder gar zu vertilgen ist, dass er vielmehr dazu berufen ist, als freier Zeuge des Evangeliums sein Ich in den Predigtvortrag mit einzubringen.“ 197 194 Diese Formulierung stammt wohl von D. Bonhoeffer, 1965, 247. 195 Vgl. die Studie von H. Barié (1972). Der Vf. weist anhand des Verhaltens verschiedener Hörer nach, dass das Zeugnis in keinem Fall als „Zeugnis an sich“ aufgenommen, sondern immer im Kontext der Wahrnehmung der Person rezipiert wurde. „Ob er will oder nicht, trägt der Zeuge in jedem Fall positiv oder negativ zum ,Wort an sich‘ mit seiner Person etwas bei“ (a. a. O., 27 f.). 196 Diese Frage wird noch von H. Barié „vorläufig zurückgestellt“ (1972, 37). 197 M. Josuttis, 1972, 134 f. <?page no="108"?> 108 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Damit begründet Josuttis die Notwendigkeit der Person für das Zeugnis des Evangeliums theologisch. Er zeigt zudem, in welchem Maße die Befangenheit von Predigern, sich in der Predigt als Person zu positionieren, nicht nur aus theologischen Missverständnissen hervorgeht, sondern auch auf einer gesamtgesellschaftlichen Tabuisierung des Ichs beruht. Obwohl sich die pädagogische und politische Theoriebildung seit 1974 198 stark gewandelt hat, gibt es in der Praxis homiletischer Seminare noch immer das Phänomen einer gewissen Selbstverleugnung, sobald die Ebene religiöser Kommunikation erreicht wird. Die Neigung zur Anpassung an das vermeintlich Erwartete ist hoch, das Bedürfnis, sich als Kritiker einer Predigt zu exponieren oder gar einer Gruppe zu widersprechen, ist eher schwach ausgeprägt. Wer „Ich“ zu sagen wagt, „stört das Gleichgewicht einer Gruppe, stürzt sie in eine Identitätskrise und mutet ihr eine Strukturveränderung zu“ 199 . Wer „Ich“ sagt, gerät in Konflikt mit den Interessen anderer und stellt bestehende Positionen in Frage. Andererseits ist von der Stabilisierung des Ichs auf der Kanzel auch eine Stärkung der konfessorischen Kompetenz des Predigers zu erwarten. Dabei spielen folgende Gesichtspunkte 200 eine besondere Rolle: 1. Wer „Ich“ sagt, schafft Raum für notwendige Positionierungen, er versteckt sich nicht hinter Autoritäten, wird angreifbar, riskiert Ablehnung und provoziert Erwiderungen als Voraussetzung zur Eröffnung eines Dialogs. Die Gemeinde wird so dazu befähigt, das Zeugnis des Predigers ihren eigenen Erfahrungen - die durch dieses Zeugnis unter Umständen erst bewusst werden - gegenüberzustellen. 2. Wer „Ich“ sagt, verzichtet auf Mutmaßungen und Unterstellungen bezüglich der Lebens- und Glaubenswirklichkeit der Hörer, macht aber gleichzeitig deutlich, wie (in Bezug auf seine eigene Person) von den Schwierigkeiten und Perspektiven geredet werden kann, die ein Leben aus Glauben mit sich bringt. Das Ich in der Predigt erschwert Projektionen seitens des Predigers auf die Gemeinde und erleichtert die Identifikation der Gemeinde mit dem Prediger. 198 Aus diesem Jahr stammt die Erstveröffentlichung des Beitrags, auf den wir uns zunächst beziehen (vgl. M. Josuttis, 2009). 199 A. a. O., 87. 200 Vgl. a. a. O., 91-96. <?page no="109"?> 109 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 3. Wer „Ich“ sagt, wird auch darin zum Zeugen, dass er das Evangelium dem Ideologieverdacht entzieht. Sofern es für Ideologien bzw. für Ideologen typisch ist, ihre Lehren als objektiv darzustellen und ihre eigene Unfehlbarkeit zu proklamieren, gibt sich der Zeuge unumwunden als Betroffener zu erkennen. Gerade der proklamatorische „Verzicht auf das Ich kann ein ideologisches Verstecken der eigenen Interessen bedeuten“. Demgegenüber kann das beabsichtigte und für die Hörer ersichtliche Einbringen der eigenen Person dafür sorgen, „dass das Evangelium als solches mehr bleibt als seine Auslegung durch diese Person“ 201 . Zur theoretischen Durchdringung und praktischen Einübung in einen angemessenen Umgang des Predigers mit seinem Ich hat Manfred Josuttis verschiedene Ich-Funktionen analysiert bzw. definiert. Dabei steht das Erlernen des Ich-Sagens ganz im Dienste der konfessorischen Kompetenz des Predigers im oben beschriebenen Sinn. 202 Denn in dem Maße, in dem das Ich des Predigers theologische Aussagen „nicht mehr als Bedrohung der eigenen Existenz“ empfindet oder sie zu deren Verteidigung missbraucht, in dem Maße, wie ein Prediger Kritik an seiner theologischen Position nicht als persönliche Schmähung missversteht 203 , in dem Maße wird er auch als er selbst sichtbar werden und zu einer Art der „Selbstdarstellung“ 204 finden, die ihn nicht im Angriff oder in der Defensive zeigt, sondern als Zeugen. Im Interesse der Einübung in einen ebenso begründeten wie verantworteten Gebrauch des Ich-Pronomens skizziert Josuttis spezifische Formen bzw. Profile des Ichs auf der Kanzel. 205 Diese Profile zeigen, in welch vielfältiger Weise ein Prediger „Ich“ sagen und dabei entsprechend unterschiedliche Verständniswei- 201 A. a. O., 95. 202 In den Erläuterungen von Josuttis erscheint zwar das „konfessorische Ich“ als eine Möglichkeit der Ich-Präsenz unter anderen (vgl. Abb. 7, S. 111); die Argumentation Josuttis’ lässt jedoch erkennen, dass ihm viel daran gelegen ist, dass der Prediger „die Pose des Allwissenden“ und das Verharren im Abstrakten aufgibt und Ich-sagend zu einer Verkündigung findet, in der sich gewissermaßen „der Geist der Predigt […] zusammenzieh[t] zur Person des Zeugen“ (a. a. O., 82). 203 A. a. O., 97-100. Josuttis nimmt in diesem Zusammenhang auch auf das Ich-Verständnis Freuds und dessen Anregung Bezug, an der „Ichstärkung gegenüber den Kräften des Es und des Über-Ich“ zu arbeiten. 204 Vgl. das entsprechende Konzept „religiöser Selbstdarstellung“ bei F. D. E. Schleiermacher, 1850, 205. 205 M. Josuttis, 2003, 100-103. <?page no="110"?> 110 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt sen nahelegen kann. Mit Ausnahme des verifikatorischen Ichs, das in der Gefahr steht, die Wahrheit des Evangeliums mit Verweisen auf das eigene gelingende Leben dokumentieren bzw. auf sie begrenzen zu wollen, sind im Grunde alle Ichformen gleichermaßen zur Plausibilisierung eines Lebens aus Glauben geeignet und bedürfen eines Predigers, der weiß, wen er meint, wenn er „Ich“ sagt in seiner Predigt. Je nach der Funktion, die einzelnen Aussagen zugeordnet wird bzw. die die Predigt als Ganze bestimmen soll, wird der Prediger bald Ich sagen, um Differenzerfahrungen in Bezug auf den Verheißungsüberschuss des Evangeliums zu thematisieren (konfessorisches Ich), bald, um Fragen und Zweifel des Hörers im eigenen, lebensgeschichtlichen Horizont anzusprechen (biografisches Ich). Er kann stellvertretend Ich sagen, d. h. in persönlicher Zuspitzung auf Grunderfahrungen menschlicher Existenz und Fragen des Glaubens zu sprechen kommen (repräsentatives Ich), oder die Bedeutung des Evangeliums an persönlichen Konsequenzen aus seinem Verständnis der Botschaft konkretisieren (exemplarisches Ich). Schließlich besteht die Möglichkeit, in der Predigt einen spezifischen (z. B. am Problem- und Textbezug der Predigt orientierten) Bezugsrahmen zu imaginieren und ein Handlungsfeld zu schaffen, auf dem am Geschick des Ichs gezeigt wird, worauf das Evangelium hinausläuft und womit vielleicht zu rechnen ist, wenn die Predigt bewirkt, wovon sie handelt (fiktives Ich). Diese „Formen des Ich auf der Kanzel“ sind gewiss nicht immer scharf voneinander abgrenzbar: Ein konfessorisches Ich ganz ohne biografische Note ist kaum vorstellbar. Ebenso trägt das exemplarische Ich Züge des repräsentativen. Mögliche Überschneidungen widerlegen jedoch nicht die faktische Multifunktionalität des Ichs auf der Kanzel, sondern fordern zu einem bewussteren Umgang mit ihm heraus. Im Interesse einer genaueren Differenzierung kann man die genannten Ich-Profile nach ihren jeweiligen Funktionen, Bezügen und Chancen bzw. Gefahren folgendermaßen einander gegenüberstellen (vgl. Abb. 7). <?page no="111"?> 111 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Ich-Form Funktionen Bezug Chance/ Gefahr verifikatorisches Ich Erweis der Wahrheit des Textes bzw. der Wirklichkeit Gottes Eigene, als bestätigende Glaubenserfahrung gedeutete Erlebnisse Leben wird als Beleg der Wahrheit (z. B. des Textes) instrumentalisiert; Gefahr der Selbstüberschätzung konfessorisches Ich Markierung des Überschusses der Verheißung gegenüber menschlicher Erfahrung Differenzerfahrungen, Situationen der Anfechtung, Gründe für das ,Dennoch des Glaubens‘ Kluft zwischen dem, was bezeugt werden kann u. dem, was verheißen ist, wird ernst genommen; hohe Glaubwürdigkeit biografisches Ich Plausibilisierung der Relevanz biblischer Tradition für Grundfragen des Lebens Erfahrungen, Fragen und Zweifel im lebensgeschichtlichen Kontext Verdeutlichung des Lebensbezugs des Textes, statt mit dem Leben den Text zu bestätigen repräsentatives Ich Persönliche Zuspitzung der Allgemeingültigkeit der Botschaft; konzentriert das „Wir“ der Hörer Prediger nimmt Grunderfahrungen der Existenz u. des Glaubens auf, ohne auf seine Biografie verweisen zu müssen Seitens der Hörer ist eine direkte Identifikation mit dem Ich möglich, da es (ohne biografische Begrenzung) stellvertretend für andere ,Ichs‘ steht exemplarisches Ich Exemplifikation der Bedeutung der Botschaft am Prediger als ihrem ersten Adressaten Konkretisierungen in Bezug auf persönliche Konsequenzen aus der Botschaft Das exemplarische Ich des Predigers stellt eine Übersetzungsleistung dar, impliziert also ein Verstehensmodell fiktives Ich Perspektivische Verdeutlichung des Evangeliums in einem spezifischen Bezugsrahmen Ein ausgearbeiteter, z. B. narrativ gestalteter Kontext mit eigenen Verstehens- und Handlungsspielräumen Möglichkeit zur sprachlichen Antizipation der Auswirkung des Evangeliums im Leben eines Menschen Abb. 7: Merkmale und Funktionen des Ichs in der Predigt Mit der Einbringung der Kategorie der „konfessorischen Kompetenz“ wird nicht postuliert, dass es über den „Anbruch der Königsherrschaft Jesu Christi“ nicht mehr zu sagen gäbe als das, was das Zeugnis eines Predigers, der Ich sagt, zu verstehen gibt. Konfessorische Kompetenz zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass ein Prediger die Perspektiven eines Lebens aus Glauben nicht verdeutlichen kann, ohne dabei - ebenso fragmentarisch wie authentisch - zum Ausdruck zu bringen, inwieweit er selbst von diesen Perspektiven betroffen ist, und mit welchen Konsequenzen er in seinem Leben rechnet, wenn er glaubt, was er sagt. <?page no="112"?> 112 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Auf dieser Ebene ist auch der Zusammenhang zwischen dem Prediger als Zeugen und der Glaubwürdigkeit der Predigt insgesamt zu erörtern. Für die Überzeugungskraft der „Frohen Botschaft“ ist es nicht unerheblich, wer sie verkündet. So gewiss die Entdeckung und Erfahrung des Glaubenkönnens nach dem Verständnis des Neuen Testaments und der Reformatoren unter anderem „Gnade“ ist - und nicht zwangsläufige Folge von kommunikationstechnisch gelingender Predigt -, kann dieser Glaube nur als Glaube einer Person kommuniziert und bezeugt werden. Dementsprechend gilt für die Glaubwürdigkeit der Predigt, dass sie durch die Person des Predigers in dem Maße befördert bzw. gestört werden kann, wie er sich der Notwendigkeit eines auf seine Person bezogenen (Predigt-)Zeugnisses bewusst ist. Eine Predigt kann anderen vor allem dadurch zu einem glaubwürdigen Zeugnis werden, dass der Prediger sie unter den Bedingungen seiner Existenz erarbeitet und nicht versucht, ihre „Message“ vom Horizont seiner eigenen Fragen, Schwächen und Konflikte abzutrennen. Andernfalls kann er schwerlich verdeutlichen, inwiefern er selbst auf das Evangelium angewiesen ist. Das Zeugnis, das der Pfarrer den Gliedern seiner Gemeinde schuldet, besteht also nicht zuerst - und auch nicht an zweiter Stelle - in der Vorbildhaftigkeit seines Lebens oder in der Fähigkeit, „dem Gesetz Genüge zu tun“. Wenn dies die entscheidende Prämisse von Glaubwürdigkeit wäre, dann stünde „eine bestimmte Struktur der Ämtergliederung in der Kirche der Botschaft von der Begnadigung des Sünders im Wege“ 206 . Wer die glatte Übereinstimmung von Lehre und Leben, von Evangelium und Zeuge fordert, trägt zur Verfälschung des Evangeliums ebenso wie zur Unglaubwürdigkeit der Predigt bei. Es ist also 1. der „Normalfall, dass der Pfarrer predigt, was er selbst durch seine Existenz nur bruchstückhaft abzudecken vermag, 2. kommt das daher, dass er nicht das Gesetz, sondern das Evangelium zu predigen hat, welches die Unfähigkeit aller Glieder der Gemeinde voraussetzt, dem Gesetz zu entsprechen, 3. predigt deshalb der Pfarrer stets auch sich selber.“ 207 206 D. Stollberg, 1979, 46. Demgegenüber besteht für A. Niebergall die „persönliche Leistung“ des Zeugen „in den Folgerungen aus dem ,neuen Sein‘, in das ihn jenes Zeugnis gerufen und gestellt hat“, sowie in dem Vermögen, „die bezeugte Wirklichkeit und Wahrheit Gottes […] als verbindliche Wahrheit zu übersetzen und umzusetzen“ (A. Niebergall, 1960, 48). Der Zeuge habe „mit seiner ganzen Person und Existenz“ für sein Zeugnis zu stehen, „um auf diese Weise der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen“ (a. a. O., 29). 207 D. Stollberg, 1979, 43; Hervorhebungen original. <?page no="113"?> 113 2.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Die Bemühung, Ich zu sagen, ist also keine bloß rhetorische Bemühung, sondern theologische Arbeit. Sie ist der Versuch, den Eigenbedarf des Predigers an der Lebens-Kunde des Christentums zu verdeutlichen. Nur der wird zu glaubwürdiger Predigt finden, der sich von einem falschen, idealen Selbstbild verabschiedet hat, das nur den zeigt, für den man sich gern hält. Es wird der Glaubwürdigkeit des Predigers nicht schaden, sondern dienen, wenn er sich der Gemeinde nicht als ein anderer präsentiert als der, der er ist. Und es wird die Plausibilität der Kanzelrede nicht trüben, sondern stärken, wenn der Prediger, seinen „Schatten“ 208 wahrnehmend, erkennen lässt, inwiefern er selbst auf Gnade und Vergebung angewiesen ist. Für diesen Zusammenhang sind die „Hypothesen“ zur Glaubwürdigkeit des Predigers von H. Barié 209 aufschlussreich: Das (Vor-)Urteil über das Zeugnis des Predigers hängt nach Barié (1.) davon ab, inwieweit sich das Bild, das die Hörer von seiner Person haben, mit ihrem eigenen Idealbild vom Christsein deckt oder eben nicht. Eine Predigt wird (2.) umso besser beurteilt, je unzweifelhafter die Hörer den Eindruck haben, vom Prediger ernstgenommen und von ihm verstanden zu werden. Die Meinung der Hörer über das Zeugnis des Predigers wird (3.) beeinflusst durch das, was sie „über die Harmonie oder Dissonanz“ zwischen den Worten und dem Verhalten eines Predigers wissen. Eine unterstellte „Harmonie zwischen Wort und Verhalten“ beeinflusst Bariés Untersuchungen zufolge das Urteil der Hörer positiv. Das Wissen um Dissonanzen zwischen Wort und Verhalten des Predigers führt zu einem dementsprechend negativen Urteil. 210 Für jede der von Barié formulierten Hypothesen zur Glaubwürdigkeit des Predigers erweisen sich die in diesem Kapitel erwogenen Aspekte als unmittelbar relevant: Wer sich als personales Subjekt mit einer eigenen Ich-Identität zu erkennen gibt und Positionierungen sowohl wagt wie provoziert, hat die Chance, als Gegenüber statt als Projektionswand für Idealbilder wahrgenommen zu werden. Der Hörer wird sich in dem Maße ernst- und wahrgenommen wissen, wie der Prediger sich selbst wahr- und ernstnimmt und seine eigenen Fragen, Dilemmata und Verlegenheiten nicht verleugnet. 208 Zur Notwendigkeit der Akzeptanz des eigenen „Schattens“ und zum Umgang mit ihm vgl. bereits O. Haendler, [1957] 2015, 138, 237 f. 209 Vgl. H. Barié, 1972. Barié spricht vorsichtigerweise - trotz der empirischen Argumentationsgrundlage auf der Basis eines gelungenen Experiments - durchgängig nur von „Hypothesen“. 210 A. a. O., 27. 35 f. <?page no="114"?> 114 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Etwas heikler ist die These, die Glaubwürdigkeit eines Predigers gründe nicht in der Kongruenz von Lehre und Leben. Zum einen ist festzuhalten, dass diese Spannung nur scheinbar einen wirklichen Widerspruch aufzeigt: Redlichkeit im Ansprechen von Problemen, Aufrichtigkeit in der Einschätzung von Schwierigkeiten im Leben und im Glauben, das Stehen zu eigenen Grenzen usw. markieren ja durchaus ein erstrebenswertes Verhalten und ein bestimmtes Ethos. Solche Ehrlichkeit wird von den Hörern hoch bewertet. Bei der von Barié vorgestellten dritten Form der Glaubwürdigkeit wird jedoch unter einem der Lehre bzw. der Botschaft entsprechenden Verhalten stillschweigend ein moralisch tadelloses Leben, und „Lehre“ zudem als Gesetz verstanden. Demgegenüber ist festzuhalten, dass der Prediger der Gemeinde gerade darin Zeuge und Vorbild sein kann, dass er dieses Verständnis von Heiligung, dem die Hörer möglicherweise auch in ihrem eigenen Leben gerecht zu werden suchen, persönlich in Zweifel zieht. Dietrich Stollberg ist somit zuzustimmen, wenn er den Prediger daran erinnert: „Darin darfst du Vorbild sein, dass du mit deiner Schwäche anders umgehst, als man sonst in der Welt tut. […] Der Pfarrer darf Vorbild sein in ungeschminkter Selbstwahrnehmung - einschließlich ihrer blinden Flecken.“ 211 Das heißt ja nicht, dass der Prediger sich nun als charakterlich schwierigen, moralisch verkommenen, ethisch anspruchslosen oder auch nur besonders problembeladenen Menschen darzustellen habe. Er soll nur als der auftreten, der er ist, und seine Predigt weder nach dem eigenen Wunschbild noch nach dem Idealbild richten, das die Gemeinde von ihm haben mag. „Kein Pfarrer [predigt] glaubwürdig […], der von seiner Gemeinde Leistungen fordert, die er selber nicht erbringen kann.“ 212 Freilich: Er soll sie auch gar nicht erbringen, sondern nun auch der Gemeinde zur Selbstwahrnehmung im Lichte des Evangeliums verhelfen. Er kann durch seine Predigt dazu beitragen, dass sich der Einzelne - noch mit Selbstvorwürfen behaftet - als wertgeschätzt, liebenswert und ernstgenommen erfährt. 211 D. Stollberg, 1979, 49. 53. 212 A. a. O., 48. <?page no="115"?> 115 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt 213 2.4.1 Zum Problem der Definition „persönlicher Predigt“ Als ein wesentliches Resultat der Einführung in die gegenwärtigen Reflexionsperspektiven ist festzuhalten, dass die persönliche Predigt homiletisch gesehen zunächst kein Imperativ ist, sondern ein Indikativ, keine Anweisung, sondern Beschreibung eines Segments der faktischen Kommunikationsbedingungen der Predigt: Weil ein Prediger seiner Gemeinde nur „in Person“ gegenübertreten kann, spricht er immer als Subjekt, als Individuum mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur. Auch wenn er ‚unpersönlich wirkt‘ und als eher distanziert und kühl erlebt wird, ist er es doch persönlich, der die Wahrnehmung jener Kühle und Distanziertheit auslöst. Freilich muss dieser „Indikativ der persönlichen Predigt“ aus wenigstens zwei Gründen thematisiert werden: Erstens, um dem Eindruck entgegenzuwirken, es bestünde die Möglichkeit, statt einer persönlich gefärbten Predigt eine theologisch objektive zu halten. Zweitens ist eine Predigt nicht schon dadurch eine homiletisch verantwortete Predigt, dass die Hörer im Nachgespräch den Eindruck äußern, dass sie „irgendwie persönlich“ gewesen sei. Wenn im Weiteren dennoch von der persönlichen Predigt als einer homiletischen Kategorie die Rede ist, geht es um die Predigt als Ausdruck personaler, kommunikativer und konfessorischer Kompetenz. Eine in diesem Sinne persönliche Predigt muss nicht unbedingt eine auch im Ganzen gelungene Predigt sein, die wie keine andere den Glauben ihrer Hörer weckte und festigte, theologisch gut durchdacht wäre, rhetorisch überzeugte und zum Handeln motivierte. Es geht um eine Kategorie der Predigt mit eigenen Kriterien; sie hat kein geringeres Gewicht als etwa die „biblische Predigt“ 214 . Bei solchen Bezeichnungen geht es nicht um Alternativen zwischen konkurrierenden Ansätzen, sondern um Qualitäten, die für jede Predigt von Belang sind. Axel Denecke hat entsprechende homiletische Impulse aus ganz unterschiedlichen Ansätzen zusammengetragen und auf sein Verständnis von „persönli- 213 Ich schreibe diesen Ausdruck - wie „biblische“, „rhetorische“ oder „seelsorgliche Predigt“ - in Anführungszeichen, um eine gewisse Distanz zu diesen Formulierungen zu signalisieren. Solche Bezeichnungen können nicht für bestimmte Predigtstile oder alternative Predigtdefinitionen geltend gemacht werden, sondern sind grundlegende Dimensionen bzw. Kategorien der Predigt schlechthin. 214 Vgl. I.3. <?page no="116"?> 116 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt cher Predigt“ bezogen. Persönlich zu predigen heißt für ihn: 1. „Ich sagen“, 2. „angstfrei predigen“, 3. „eindeutig reden“, 4. „frei, offen, unbefangen predigen“, 5. „greifbar und angreifbar predigen“, 6. „demokratisch predigen“, 7. „solidarisch mit dem Hörer sein“, 8. „mit dem Hörer ins Gespräch kommen“, 9. „den Hörer einladen, selbst ,Ich‘ zu sagen“, 10. „von sich abgeben, sich verschenken“, 11. „bescheiden predigen“. 215 Hier werden Vorstellungen formuliert, die, wenn sie befolgt werden, durchaus eine persönliche Predigt in unserem Sinne nach sich ziehen dürften. Vieles davon setzt jedoch bereits eine hohe personale Kompetenz voraus und kann leicht als tautologisch missverstanden werden: „Offen, frei und unbefangen zu predigen“ kann man sich kaum als Zielvorgabe setzen. Demgegenüber kann man durchaus anstreben, „eindeutig zu reden“ (dazu muss man vor allem etwas über das Funktionieren von Sprache wissen) oder die Situation des Hörers „ernst zu nehmen“ - was verlangte, die homiletische Situation methodisch zu erfassen. Damit sollen die differenzierten Überlegungen Deneckes nicht als unüberlegte Forderungen apostrophiert werden. Ich plädiere aber für eine deutlichere Abgrenzung der Kategorie der „persönlichen Predigt“ von einem (scheinbar) freundlich-toleranten Kommunikationsstil. Denn wenn die unterschiedlichen homiletischen Reflexionsperspektiven - falls sie vom Prediger angemessen berücksichtigt würden - sämtlich eine „persönliche Predigt“ ergäben, verlöre sie als eigene Kategorie ihre Plausibilität. In ähnlicher Weise könnte man von der „biblischen Predigt“ alles das erwarten, was Denecke für die „persönliche“ unterstellt: das Wagnis der Auseinandersetzung, die Angreifbarkeit der Position, eine solidarische Haltung, Bescheidenheit, Eindeutigkeit usw. Vergleichbares wäre für die „rhetorische“, sogar für die „politische Predigt“ zu sagen. Solche Versuche drohen in einem Streit um Begriffe zu versanden, laufen also auf eine ideologische Debatte um die „wahren“ Kriterien der Predigt bzw. um das wichtigste homiletische Prinzip hinaus. Um dem zu entgehen, wird im Folgenden keine Wunschliste in Bezug auf Gestalt und Wirkung der persönlichen Predigt formuliert, sondern es gilt, die Grundvoraussetzungen zu skizzieren, die sich rückblickend aus der Frage nach der Subjektivität und Personalität des Predigers ergeben. 215 Vgl. A. Denecke, 1979, 47-50. <?page no="117"?> 117 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt 2.4.2 Voraussetzungen „persönlicher Predigt“ a) Selbstwahrnehmung als Basis innerer Kongruenz Eine persönliche Predigt bedarf der Selbstwahrnehmung des Predigers. Dass er selbst als Person ein spezifischer Faktor im Predigtprozess ist, bedeutet, dass er nicht nur zur Auseinandersetzung mit dem Text und der Situation der Hörer herausgefordert ist, sondern auch zum „intrapersonalen“ Dialog. Im Blickpunkt ist ein innerer Zusammenklang von Gefühl, Denken, Reden und Agieren, der u. a. als Stimmigkeit der eigenen Rede erfahren wird. Es geht um die Erfahrung von Kongruenz im Empfinden, Auftreten und Argumentieren eines Predigers, die sich positiv auf die Nachvollziehbarkeit der Argumentation (Kohärenz) und die Plausibilität des Gesagten für andere auswirkt. Dabei ist „Selbstwahrnehmung“ nicht als bloß rezeptiver, sondern vor allem als identitätsbildender Akt zu verstehen: Das Gewahrwerden verborgener Ängste, die Offenlegung verdeckter Motive, das Nachdenken über sich selbst, die Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen, die Klärung des eigenen Willens usw. - das alles impliziert einen stetigen Veränderungsprozess. Die persönliche Predigt ist nicht zuerst eine Sache des guten Willens, schon gar nicht eine Sache des bloßen Wählens aus verschiedenen Identifikationsangeboten 216 , sondern zunächst Ausdruck dafür, dass ein Prediger weiß, was ihn bewegt, ermutigt, beunruhigt oder ängstigt. Weil sich die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen insbesondere in Beziehungen herausbildet und weil man im Grunde erst durch die Anwesenheit eines anderen seiner eigenen „Position“ gewahr wird, dürfte eine vertiefte Selbstwahrnehmung im Alleingang kaum erfolgreich sein. Wer den Hörer im Hinblick auf seine Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu den anderen ansprechen will, sollte sich selbst in diesen 216 So erwartet Bernd Düwel von der Analyse und Bereitstellung von „Leitbildern“ bzw. Identifikationsangeboten (Wolken, Schnee, Berge, Hähne, Raben, Hunde, Rinder), „Hilfen für den heutigen Prediger in seiner Herausforderung, eine für ihn spezifische Identität aufzubauen“ (B. Düwel, 1992, 56). „Als Hahn“ z. B. könne sich der Prediger wahrnehmen „in der Rolle dessen, der die Kommunikation mit dem Hörer initiiert, und zwar in einer Weise, dass er auf ,Gott‘ aufmerksam macht, unüberhörbar“ (a. a. O., 413). Diese auf die Identifikationsangebote eines Begriffskatalogs reduzierte Form der Hilfestellung zu persönlich stimmiger Predigt ist insofern problematisch, als sie wiederum Projektionen des Selbst impliziert: Sie setzt auf homiletisch fragwürdige „Idealtypen“ eines Predigers, auf Wunschbilder und -rollen, die sich gerade als Hindernis einer wirklich zur Person des Predigers gehörenden Predigt erweisen können. <?page no="118"?> 118 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt Beziehungen wahrgenommen haben. 217 Hierfür kommen alle Formen analytischer wie therapeutischer Kommunikation - einschließlich reflektierter Alltagskommunikation - in Betracht: die eigene Inanspruchnahme von Seelsorge ebenso wie die Aussprache mit anderen im Predigtdienst Stehenden, das Predigtnachgespräch ebenso wie die Supervision. 218 b) Individualität als Basis von Originalität „Selbstwerdung“, „Selbstverwirklichung“ bzw. „Individuation“ ist für Otto Haendler eine Grundvoraussetzung persönlicher Predigt. Sie gewährleistet auch deren „Originalität“ im eigentlichen Sinn: Es geht um eine Predigt, die ihren Ursprung kommunikationspraktisch gesehen in einem konkreten Subjekt - und allein schon deswegen eine eigene, unverwechselbare, „individuelle“ Note hat. Im Rahmen der Kategorie der persönlichen Predigt bezeichnet Haendlers Verständnis von „Selbstverwirklichung“ den Versuch des Predigers, als er selbst vor die Gemeinde zu treten, nachdem er sich persönlich mit der biblischen Tradition beschäftigt und sich im Kontext seiner eigenen Empfindungen und Verhaltensweisen mit ihr auseinandergesetzt hat. Nachdem der Prediger mit Menschen gesprochen hat, deren Wahrnehmung er ernst nimmt, und nachdem er durch kritische Relektüre eigener Predigten sowie andere Formen der „Meditation“ einen gewissen Abstand zu seinem Tun als Prediger gewonnen hat, muss er - unverwechselbar - endlich doch als derjenige auf der Kanzel erscheinen, der er im Zuge dieser stunden-, monate- und jahrelangen Beschäftigungen geworden ist. 217 Vgl. hierzu auch den programmatischen Titel des Buches von W. D. Edgerton: „Speak to Me That I May Speak. A Spirituality of Preaching“ (2006), in dem die Predigtarbeit als ein Prozess beschrieben wird, der notwendiger- und wünschenswerterweise mit dem ganzen Leben eines Predigers im Zusammenhang steht und z. B. auch mit Transformationen im Bereich der Glaubensvorstellungen und -grundsätze einhergeht. Die erste gleichermaßen theologisch wie psychologisch argumentierende Homiletik, die den engen Zusammenhang der Predigtarbeit mit Fragen der Selbstwahrnehmung, gelebter Spiritualität und einer „assimilierten“, stimmigen Theologie verband, war die Predigtlehre Otto Haendlers ([1941] 2017, z. B. 374-379, 436-465). 218 Signifikant für eine gestörte innere Kongruenz (mithin für eine Predigt, die entsprechende Irritationssignale sendet) kann z. B. die ablehnende Haltung des Predigers gegenüber seiner eigenen Rolle sein - oder auch der Eindruck, keinen eigenen Spielraum gegenüber dem Text, den Erwartungen der Gemeinde, dem Auftrag der Kirche usw. zu haben. Vgl. zum Hintergrund I. Kuttler, 2008, bes. 57, 74. <?page no="119"?> 119 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt Dieses Ansinnen ist anspruchsvoll und genügsam zugleich. Es ist insofern anspruchsvoll, als die Kategorie der Originalität mit der Erwartung verbunden ist, dass der Prediger etwas sagt, was nur er so sagen kann. Es ist wiederum bescheiden, als es weder eine sprachlich besonders originelle noch eine kerygmatisch gewaltige oder rhetorisch gekonnte Predigt erfordert. Die Originalität der Predigt geht mit einer wahrnehmbaren, reflektierten Subjektivität des Predigers einher. Wer darauf trainiert ist, „von sich“ abzusehen, wird insofern eher eine „unpersönliche“ Predigt halten, als sie nur Kopie, Imitation, vielleicht auch Attrappe eines authentischen Zeugnisses ist. Axel Denecke fordert in der Perspektive persönlicher Predigt zu dementsprechend bescheidenem Predigen auf: „Ich verzichte […] auf eine möglichst abgeschlossene und abgerundete Predigt, die den Hörer durch Mitteilung von Ehrfurcht erregenden und sorgsam aufeinander abgestimmten Glaubenswahrheiten als Nicht-Wissenden […] behandelt. Ich gebe mich dagegen mit meinen durchaus nicht Ehrfurcht heischenden […] Glaubenserfahrungen anderen zu erkennen. Mein Glaube ist recht mittelmäßig, unfertig, […] mehr von Niederlagen als von Siegen geprägt. Diesen Glauben erachte ich für wert, dass er anderen mitgeteilt wird. […] Der Hörer gewinnt [seinerseits] die Fähigkeit, seinen eigenen, bescheidenen Glauben auch auszusprechen.“ 219 c) Erfahrungsbezug als Basis von Authentizität Theologische Tiefe und homiletische Qualität einer persönlichen Predigt hängen in starkem Maße davon ab, inwieweit sich ein Prediger darüber im Klaren ist, wie unerlässlich eine persönliche, auch sprachliche Reformulierung und Aneignung des allgemeinen Glaubensbekenntnisses der Christenheit ist. Klaus Winkler spricht in analogem Zusammenhang gern vom „persönlichkeitsspezifischen Credo“ 220 : Ein Glaubender sollte das, was er glaubt, zu den Konditionen des eigenen Personseins glauben, denken und ausdrücken können. Das ist im Allgemeinen ein selbstverständlicher, unauffälliger Prozess, der aber durch die auch sprachliche Unterordnung des Predigers unter bestimmte Formulierungsangebote der christlichen Dogmengeschichte gestört werden kann. Otto Haendlers Erläuterungen zur notwendigen „Assimilation des Bekenntnisses“, Klaus Winklers Beobachtungen bezüglich der je eigenen Art eines Menschen, 219 A. Denecke, 1979, 49 f. 220 Zum „persönlichkeitsspezifischen Credo“ vgl. oben S. 57 sowie K. Winkler, 1997, 267-269. <?page no="120"?> 120 Teil I.2. Predigen in eigener Person. Die Frage nach dem Subjekt der Predigt seinen Glauben auszudrücken sowie die oben vorgetragenen Überlegungen zur Verbindung zwischen Persönlichkeitsstruktur und Glauben lassen den Schluss zu, dass das persönliche Zeugnis von substantieller Bedeutung für die Authentizität einer Predigt ist. Auch in diesem Zusammenhang gilt: „Authentizität an sich“ ist noch keine Garantie dafür, dass der Kategorie persönlicher Predigt Rechnung getragen wird. Eine nachlässig vorbereitete oder mit zynischem Unterton gehaltene Predigt kann durchaus „authentisch“ zum Ausdruck bringen, was der Prediger vom Glauben, von Gott, von sich oder von seiner Gemeinde hält. Im Dienst der Predigt steht der eigene Glaube nur als erfahrener und reflektierter Glaube, der dem Prediger auch eine Auseinandersetzung mit seinem eigenen Selbstbild 221 ermöglicht und ihn zur Annahme seiner selbst verholfen hat. In Gesprächen insbesondere mit älteren Pfarrern begegne ich gelegentlich der Auffassung, dass junge Menschen heute deswegen weniger Glaubenserfahrungen machten, weil sie „wirkliche Not“ - z. B. die Not des Krieges und der Nachkriegszeiten - nicht kennten, in denen Glaube eine überlebenswichtige Funktion gehabt habe. Diese Argumentation ist insofern problematisch, als existentielle Not - in der man sich vielleicht eher auf den Glauben besinnt als in anderen Situationen - nicht nur eine Frage äußerer Lebensumstände ist. Allerdings nehme ich wahr, wie schwer es Studierenden fällt, eigenes Erleben überhaupt als Erfahrung auszudrücken. Es besteht eine gewisse Scheu, z. B. Erfahrungen im Kontext der Aneignung von Freiheit (oder Erfahrungen der Unfreiheit) mit Bezug auf den eigenen Glauben in den Blick zu nehmen und zu kommentieren. In den von mir untersuchten Predigten zeichnen sich zwei Ersatzlösungen ab: Eine Mög- 221 Einen gut informierenden Überblick über homiletische Impulse des 20. Jahrhunderts, die eine Auseinandersetzung mit dem Selbstbild („zelfbeeld“) des Predigers implizieren, bietet die Studie von Marinus Beute (2016, bes. 55-96). Weniger überzeugend ist der Versuch, angesichts der in der Homiletik ausgesprochen komplex geführten (u. a. von zahlreichen psychologischen und anthropologischen Aspekten bestimmten) Debatte um die Aneignung eines adäquaten Selbstkonzepts das Selbstbild des Paulus als Lernmodell zu empfehlen. Die homiletischen Probleme im Zusammenhang des Selbstbildes des predigenden Subjekts ergeben sich ja weniger aus mangelnden Orientierungsvorgaben oder fehlenden Vorbildern, sondern aus den Motiven, Gründen und Absichten, aus denen heraus Predigende ihr Selbst konstituieren und sich dabei (zum Beispiel) gern auf Paulus berufen. Mit anderen Worten: Das Selbstbild des Paulus hat der Plausibilität seiner Botschaft in vielerlei Hinsicht gedient; die Herausforderung für Predigende besteht jedoch vor allem darin, sich einem Selbstbild anzunähern, das durch ihr eigenes Selbst - im Sinne C. G. Jungs - bedingt ist, da nur zu diesen Bedingungen (nicht zu denen des Paulus) gepredigt werden kann. <?page no="121"?> 121 2.4 Zur Kategorie der „persönlichen“ Predigt lichkeit, das Einbringen reflektierter Eigenerfahrung zu umgehen, ist das Klischee, nach dem die „Blume in der Betonfuge“, „das Lächeln am Fenster“ und der „Sonnenstrahl in der Teetasse“ zur Begegnung mit einem deus ex machina werden (vgl. I.6.1.6). Eine andere Variante ist radikale Abstraktion von Glaubenserfahrungen, häufig verbunden mit der Kategorie des Extraordinären. Wenn diese einerseits banalen, andererseits überzogenen und blutleeren Vorstellungen von Glaubenserfahrung an die Hörer weitervermittelt werden, werden diese sich entweder überfordert oder gelangweilt fühlen. Wenn diese Grundvoraussetzungen persönlicher Predigt (Kongruenz, Originalität und Authentizität) gegeben oder zumindest als erstrebenswert akzeptiert sind, kann der Erwerb spezifischer kommunikativer und konfessorischer Kompetenzen eine Frage homiletischen Trainings werden. Ein Prediger, der in der Selbstwahrnehmung erfahren ist und das Repertoire seiner Kommunikationsmuster kennt, der einen Einblick in seine „Lebensposition“ gewonnen und sich mit ihr auseinandergesetzt hat, kann sich im Ich-Sagen üben, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, eigene Probleme auf die Gemeinde zu projizieren. Mit den in I.2 zusammengeführten und systematisierten Argumentationsmustern ist noch längst nicht alles gesagt, was im Rahmen einer Homiletik im Blick auf die predigende Person zu erörtern ist. In den vorausgehenden Abschnitten haben wir uns auf jene Aspekte der Predigt konzentriert, die sich aus den menschlichen Strukturen des Subjekt- und Personseins des Predigers ergeben. Gleichwohl geht es bei den Kompetenzen, die vom Prediger erwartet werden, nicht nur um den professionellen Umgang mit der eigenen Person, die dazu nötige Distanz zum „Selbst“, das Stehen zur eigenen Identität usw. Die Predigt basiert auf Kompetenzen, die den Vorgang der Kommunikation des Evangeliums insgesamt betreffen, wozu spezifische, mit einem Amt verbundene Berufskompetenzen gehören. Wir kommen darauf im Rahmen einer Theologie der Predigt zurück 222 , die u. a. zu erklären hat, inwieweit die Predigt als dem Prediger von der Gemeinde aufgetragene Kommunikation zu verstehen ist, aufgrund welcher Qualifikationen dieser Auftrag erteilt werden kann - und weshalb nicht alle predigen, obwohl doch in den Kirchen der Reformation in gewisser Hinsicht alle Priester und Priesterinnen sind. 222 Vgl. bes. III.4.2 und III.4.5. <?page no="122"?> 122 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt 3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Beim Textbezug der Predigt geht es um eine inhaltliche Kontinuität zwischen einem Stück biblischer Überlieferung und einer zeitgenössischen Kommunikation des Evangeliums. Die Wertschätzung dieser Kontinuität ergibt sich u. a. aus dem eingangs (I.1) erläuterten Verständnis der Predigt als Überlieferungs- und Kommunikationsprozess: Die Predigt ist eine Sequenz innerhalb jenes unabschließbaren Verstehens- und Verständigungsprozesses, in dem das Evangelium jeweils im Kontext spezifischer Situationen zur Sprache kommt, was auf die eine oder andere Weise wiederum zur Fortsetzung bzw. erneuten Aufnahme der Kommunikation des Evangeliums führt. Sich auf einen Text zu beziehen bedeutet also immer auch, danach zu fragen, wie andere Menschen vor uns gedacht und geglaubt haben, als sie vor vergleichbaren Herausforderungen gestanden und ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Herausforderungen und Erfahrungen zu verstehen, die einst zu den biblischen Texten geführt haben, ist ein wesentlicher Teil des Versuchs, sich in die „Tradition“ dieser Texte zu stellen. Dabei geht es um mehr und um anderes als um die bloße Übernahme oder Bejahung einzelner Kernaussagen der Überlieferung. Weil eine Predigt nicht die Aufgabe hat, ein bestimmtes Textverständnis zu erkunden und anderen das Ergebnis mitzuteilen, kann der Textbezug als solcher nicht selbst das Ziel homiletischer Bemühungen sein. Eine Predigt soll die Hörer in erster Linie nicht an Texte heranführen, sondern sie - unter Bezugnahme auf die alten Glaubenszeugnisse - in ihr Leben hinein begleiten und dazu beitragen, dem „Leben aus Glauben“ auf der Spur zu bleiben. Dazu gehört es, den Text im Predigtvollzug in dem Sinne historisch werden zu lassen, dass die Hörer schließlich nicht einem Text gegenüberstehen, dem sie entweder zustimmen oder eben „nicht glauben“, sondern dass sie in lebendiger Rede in eine Auseinandersetzung über ihr Leben aus Glauben verwickelt werden. Wenn sich freilich ein Prediger im Vorfeld der Predigt nicht geduldig genug mit dem Text selbst auseinandersetzt und ihn, gewissermaßen aus Verlegenheit, vor allem durch häufiges Zitieren und Traktieren zur Sprache bringt („Unser Text sagt uns-…“) 223 , wächst die Gefahr, ihn quasi als Passepartout für beliebige 223 Vgl. die Beobachtungen zum „ruinierten Text“ und dem „auctor ex machina“ in der Studie zum Umgang mit Texten von Wilfried Engemann, 2003e, bes. 108-112. <?page no="123"?> 123 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Aussagen und Ansprüche der Predigt zu missbrauchen. Im Folgenden wird anhand einiger Probleme im Umgang mit biblischen Texten deutlich gemacht, was im Hinblick auf eine homiletisch verantwortliche Integration des Textes in den Predigtprozess zu bedenken ist. 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 3.1.1 Exegese ohne Fokus Das Gelingen und Scheitern einer Predigt hängt nicht allein von spezifisch homiletischen Fähigkeiten ab, sondern wird von theologischen Schlüsselqualifikationen mitbestimmt. Dazu gehören Kompetenzen im Umgang mit den Texten des Alten und Neuen Testaments, die Grundkenntnisse in den entsprechenden Originalsprachen einschließen. Diese Kompetenzen zielen nicht nur auf die Erkundung des Gewordenseins antiker Texte mit den dafür entwickelten historisch-kritischen Methoden. Es geht auch um die Fähigkeit, mit dem Repertoire der klassischen Exegese und anderer literaturwissenschaftlicher Zugänge zu einem tieferen Verständnis der Bedeutung eines Textes vorzudringen. Die Exegese ist in der Phase der Predigtvorbereitung ein Instrument, das dazu dient, den Text zu einer Tür werden zu lassen, durch die man einen Zugang zu Erfahrungen und Überzeugungen bekommt, die die Geschichte und Eigenart des christlichen Glaubens geprägt haben. So gewissenhaft die einzelnen Arbeitsschritte der historisch-kritischen Analyse eines Textes vorgenommen werden, so unklar bleibt in vielen Predigtentwürfen, die im Rahmen von theologischen Examina eingereicht werden, die Antwort auf die Frage, was dies nun alles für das Verständnis des Textes bedeutet, wozu es diesen Text damals brauchte, was er in welcher Situation klarzustellen vermochte, warum, woraufhin, mit welchem Interesse er schließlich abgefasst wurde. Die jeweiligen Resümees beinhalten oft dogmatische Allgemeinplätze, die von solcher Globalität sind, dass man sie weder völlig bestreiten noch ihnen wirklich Glauben schenken möchte. Häufig sind es Aussagen, zu denen man entweder auch ohne den aufwendigen Anmarschweg der Exegese gelangt wäre, oder die eine sachgerechte, zielgerichtete Exegese hätte verhindern können: „Und das ist es schlussendlich auch, was uns Röm 8,31-39 sagen will: Du, Mensch, bist angenommen und gerechtfertigt, so wie du bist. […] Es ist davon auszugehen, dass die im Skopus des Predigttextes enthaltene Hervorhebung der Exklusivität Jesu Christi und <?page no="124"?> 124 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt seiner Tat von allen Gemeindegliedern prinzipiell bejaht wird, sonst wären sie nicht zum Gottesdienst gekommen. […] Der Predigttext ist also von grundlegender Relevanz für die Hörerinnen und Hörer. […] Dementsprechend hat die Predigt auf den persönlichen Bereich des Menschen einzugehen, ihm seine Situation als Verworfener zu verdeutlichen (Gericht), sie der Bibel [Gnade] gegenüberzustellen und ihm einen Weg aufzuzeigen.“ 224 Häufig finden sich unter „Zusammenfassung der Textaussage“ Angaben, die nur die Struktur des Textes betreffen, jedoch als „inhaltliche Kernaussage“ missverstanden werden: „Inhaltlich beruft sich der Text auf die Autorität Jesu, indem er in Form einer Abschiedsrede ,Geistempfang‘ und ,Weltkonflikt‘ als zwei von Jesus vorhergesagte Ereignisse darstellt.“ 225 Eine andere Predigt versteht unter der „Kernaussage“ des Textes „die Verheißung des Geistes und seines Wirkens, bezogen auf die konkrete, geschichtliche Situation“. Was aber wird denn nun verheißen, wenn der Geist verheißen wird? Und worin liegt die Bedeutung dieser Verheißung? Wofür ist sie gut? Wovor könnte sie bewahren - damals und heute? Dieses Problem hat noch eine andere Seite: Wenn die Exegese nicht dazu führt, aus den zahlreichen Untersuchungen zu einem bestimmten Text auch eine mit diesem Text verbundene Kommunikationsabsicht herauszuarbeiten, ist es nicht nur schwierig, im Lichte dieses Textes bestimmte Erfahrungen und Situationen des Lebens heute anzusprechen; der Prediger bringt sich darüber hinaus auch um die Möglichkeit, eigene Überzeugungen, Ideen und Intentionen durch die des Textes in Frage gestellt zu sehen - bzw. überhaupt etwas zu „sehen“, was er nicht schon erwartet hätte. Aus diesen Gründen gehört die methodische Annäherung an den Erfahrungskern eines Textes, an die daraus resultierende Mitteilungsabsicht sowie an das Kommunikationsinteresse des Textes im Sinne eines „Situationsziels“ zu den Elementaria der Predigtarbeit. 226 3.1.2 Exegese auf der Kanzel Dem Unerledigtsein der exegetischen Bemühungen um ein Verständnis des Textes vor der Erarbeitung der eigentlichen Predigt entspricht auffälligerweise die Aufnahme einzelner exegetischer Befunde in den Predigtvortrag. Die Hörer werden in solchen Fällen mit der „Gnosis in Korinth“, mit „redaktionellen Eingriffen in die ursprüngliche Gestalt des Textes“ oder mit Spekulationen über die 224 Aus den Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,31-39. 225 Aus den Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 15,26-16,4. 226 Vgl. dazu insbesondere I.3.3.3. <?page no="125"?> 125 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Ideale „seines eigentlichen Verfassers“ befasst, ohne dass diese Auslassungen in irgendeiner Hinsicht zum besseren Verständnis der Intention des Textes oder Predigt beitrügen. Es steht außer Zweifel, dass der Prediger sich im Vorfeld der Predigt allen exegetisch relevanten Aspekten einer Textanalyse stellen und verschiedenen Pfaden des Verstehens nachgehen muss (die ihn auch in die Irre führen können), bevor bei einer textbezogenen Predigtarbeit die Pointe der Predigt in den Blick kommt. Nachdem das geschehen ist, ist es aber nicht mehr nötig, all die exegetisch erwogenen Probleme und Aspekte vor der Gemeinde zu wiederholen. Exegetische Prozeduren gehören in die Vorbereitungsphase der Predigt; ihre Erträge der einzelnen Etappen können nicht einfach als „Botschaft“ an die Hörer durchgereicht werden. Deshalb gilt: „Es soll nie über den Text referiert werden […]. Auf der Kanzel soll kein Exeget stehen, der erwägt, ob ein Wort so oder so zu verstehen sei. […] Der Gemeinde soll das Ergebnis solch sorgfältiger Arbeit vorgetragen werden.“ 227 Drei Viertel einer Pfingstpredigt zu 1 Kor 12,4-11 sind beispielsweise der bloßen Darlegung des Pfingstereignisses nach der Apostelgeschichte sowie der Situation der Korinther gewidmet. Dabei wird ausgiebig referiert, was die Jünger denken, was ihnen bewusst wird, was sie vorhaben, was sie bekennen. Das Gleiche wird für die Korinther wiederholt: „Auch die Korinther, an die Paulus den Brief geschrieben hat, in dem der heutige Predigttext steht, haben die Begeisterung durch den Geist erlebt […] Paulus bestätigt ihnen […] Die Korinther dachten […] Die Korinther meinten […] Doch mit diesem Denken liegen sie gewaltig im Irrtum. Dieses sagt ihnen Paulus in seinem Brief ganz deutlich. Er will […] Paulus versteht […] Paulus weiß […].“ 228 Exegetische Auskünfte haben, was die Predigt im Gottesdienst angeht, auf der Kanzel nur insoweit einen Ort, als sie zum Verständnis der Predigt selbst unerlässlich sind. Schließlich geht es in der konkreten Predigt - im Unterschied zu anderen Umgangsformen mit biblischen Texten - nicht darum, den Text in seinem historischen Horizont damals zu verstehen. Es geht um die Kommunikation des Evangeliums im Horizont des gegenwärtigen Lebens. Das heißt: Es geht nicht darum, unter Anwendung aller Ressourcen der Wissenschaft Theologie den Text historisch verstehen zu können und dazu - aus einem illustrativen Interesse heraus - womöglich noch Szenen aus dem „Leben heute“ zu konst- 227 K. Barth, 1986, 107. 228 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. <?page no="126"?> 126 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt ruieren. Es ist umgekehrt: Der Text ist in seiner Bedeutung für das Verständnis unseres heutigen Lebens vor Gott, vor uns selbst, mit den anderen relevant. Er wird historisch im Akt seiner Auslegung und Rezeption. 229 3.1.3 Missverstandene Textpredigt Missverstanden wird die Funktion des Bezugstextes einer Predigt z. B. dann, wenn man unterstellt, ihre Textgemäßheit ergäbe sich schon aus dem intensiven Gebrauch des Textes, also aus dem wiederholten Rezitieren einzelner Passagen bzw. aus einer Melange von eigenständigen Formulierungen und Bibeltextzitaten. Die Predigt, so wird dabei gemutmaßt, belege in ihrem ständigen Rekurs auf das, was „der Text sagt“, zugleich ihre inhaltliche Kontinuität zu ihm. Ein Prediger überschreibt den ersten Absatz seiner Predigt mit „Motivierender Einstieg“ und integriert daraufhin auf nur 14 Zeilen die gesamte, den Text kennzeichnende Begrifflichkeit unmittelbar in seine Rede: „Einheit“, „Einigkeit im Geist“, „Einheit des Geistes“, „ein Leib“, „eine Hoffnung“, „ein Herr“, „ein Glaube“, „eine Taufe“, „ein Gott“, „Neues Testament“, „Altes Testament“, „Einheit“, „Einheitsbezeichnungen“, „Einheit der Kirche“, „Begriff Kirche“, „Begriff Christenheit“, „ein Leib“, „Leib Christi“, „weltumspannende Christenheit“, „gesamte Christenheit“, „Taufe“, „Leib Christi“, „Einheit der Christen“. 230 Eine Analyse mehrerer Predigten zu demselben Text lässt freilich leicht erkennen, dass die explizite Anwesenheit eines Textes keine Garantie für eine durchgehaltene Orientierung an einer bestimmten Aussage oder Intention dieser Perikope ist. Nach ein paar Gleichsetzungen von tragenden theologischen Begriffen des Textes mit vermeintlich existentiellen Problemen von Menschen erscheint „unser Leben heute“ gegenüber dem Text allemal wie die „Nadel zum Faden“ - und man möchte jedes Mal meinen, dass der Text einzig und allein für diese Predigt an diesem Tag geschrieben worden sei. Der Text, der ja zunächst immer dasselbe sagt, „bestätigt“ umso mehr, je weniger man sich um die Erarbeitung einer in Frage kommenden Textintention gekümmert hat. Die Predigten sind dann in dem Sinne „pure Textpredigten“, als sie in der Tat von vornherein auf den Text hin angelegt wurden, so dass alles zusammenzupassen scheint - wenn auch unter fragwürdigen Prämissen. Solche Predigten hinter- 229 Nähere Erläuterungen unter I.3.3.3. 230 Predigtmanuskript mit Bezug auf Eph 4,1-6. <?page no="127"?> 127 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen lassen den Eindruck, als wäre die Predigt dazu da, einen Text zu bedienen, statt zusammen mit dem Text der Gemeinde zu dienen. Dazu ein Beispiel: „In der Fülle von gewichtigen und dicht zusammengedrängten Aussagen unseres Predigttextes erkenne ich zwei Programmpunkte, die das Verhältnis der christlichen Gemeinde von unterschiedlichen Seiten beleuchten. Auf diese beiden Punkte möchte ich im Folgenden eingehen. Vielleicht ist Ihnen das Stichwort Gottesdienst noch im Ohr. [Es folgt ein Textzitat.] Ich kann mir vorstellen, dass Sie schon beim ersten Hören des Predigttextes Anstoß genommen haben [Textzitat]. Aber wir dürfen Paulus hier nicht missverstehen: Wenn er vom Leib redet, den wir Gott hingeben sollen, dann meint er nicht unseren Körper, sondern unsere ganze Existenz. Blicken wir noch einmal an den Anfang des Predigttextes [Textzitat]. Und dann ist da noch der zweite Programmpunkt […]. Im Anschluss an die Mahnung zum wahren Gottesdienst heißt es: Und stellt euch nicht dieser Welt gleich“ 231 [längeres Textzitat]. Auch im weiteren Verlauf der Predigt wird der Text im Grunde nur ventiliert, ohne dass sich der Prediger aus hermeneutischen Gründen dazu entschließen könnte, von Paulus als logischem Subjekt seiner Predigt abzurücken, sich selbst (wenigstens temporär) als „Traditor“ zu begreifen und entsprechend präzise zu reden. Die zitierte Predigt lässt erahnen, dass die Tradition, in die sich der Prediger zu stellen glaubt, nicht einfach per Zitat in die Predigt hineingeholt werden kann. Kontinuität zur Tradition ist vor allem eine hermeneutische Anforderung an die Predigt und dementsprechend auf der Inhaltsebene anzustreben. Um solche Kontinuität zu gewährleisten, ist tiefer und grundsätzlicher anzusetzen als bei der Oberflächenstruktur eines Textes. So kann beispielsweise eine narrative Predigt, die im Predigtvortrag selbst weder am Wortlaut des Textes anknüpft noch explizit seine Begriffe traktiert, in einer sehr starken Kontinuität zu ihrem Bezugstext stehen und in hohem Maße von dessen Grundaussagen bestimmt sein. 232 Eine solche Predigt erfordert allerdings, sich intensiv mit dem Woher und Wohin des Textes zu befassen, um zu einem gründlichen, tiefen Textverständnis zu gelangen, das einen gleichermaßen „freien“ wie „treuen“ Umgang mit dem Text ermöglicht. Wenn wir unter „Textpredigt“ eine Predigt verstehen, die in theologisch verantworteter Kontinuität zu derjenigen Tradition steht, die den Text hervorbrachte und ihn auslegte, dann wird „Texttreue“ nicht durch eine bestimmte Form der Predigt gewahrt, sondern sie wird vor allem in der 231 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 12,1 f. 232 Vgl. Genaueres unter I.4.3.2. <?page no="128"?> 128 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt theologischen (exegetischen, systematischen, hermeneutischen, homiletischen) Auseinandersetzung mit ihm praktiziert. 3.1.4 Minimierung der Botschaft Was den Hörern einer Predigt als „frohe Botschaft“ vermittelt wird, erweist sich bei näherer Betrachtung oft als Sequenz aus dem Reservoir der kleinen Annehmlichkeiten des täglichen Miteinanders: Ein Lächeln, ein freundlicher Blick, eine besorgte Frage nach dem eigenen Wohlergehen. Die Transformierung der Vorstellung eines Lebens aus Glauben auf irgendwie erleichternde Momente des Alltags hat nichts mit Bescheidenheit oder mit Dankbarkeit für die nicht selbstverständlichen kleinen großen Dinge zu tun. Unter „Minimierung der christlichen Botschaft“ verstehe ich die unbedachte Bagatellisierung oder Episodisierung in Bezug auf das, wofür das Evangelium steht, für das, was es zu hoffen und zu erwarten gilt. Die eher minimalistischen Möglichkeitsbeschreibungen des Lebens aus Glauben gehen zumeist mit einer Verharmlosung sowohl des „Lebens in der Welt“ als auch des „Lebens vor Gott“ einher. Sie erschöpfen sich allzu oft in romantisierenden Redeweisen, die das zu Befürchtende ebenso in Grenzen halten wie „die gute Nachricht“ selbst. „Solch ein guter Hirte ist Jesus für die Menschen. Auf jede einzelne Seele hat er sein Augenmerk gerichtet. Wenn wir ihn in uns zu Worte kommen lassen, dann können wir seine Stimme hören, so klar, als ob er neben uns stünde. Wenn wir an Hoffnung verlieren, lässt er die Sonne scheinen und zeigt uns die Schönheit einer bunten Blumenwiese, die Weisheit eines alten Baumes und die Faszination des abendlichen Sternenhimmels. Und wenn wir traurig sind, dann lässt er einen freundlichen Menschen uns begegnen, der uns ein herzliches Lächeln schenkt, damit wir für einen Moment unsere Probleme vergessen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Jesus in unserer Mitte stehen, der seine Arme freundlich ausbreitet, zum Zeichen dafür, dass wir alle eingeladen sind, bei ihm Annahme, Geborgenheit und Gemeinschaft im gegenseitigen Vertrauen zu finden.“ 233 Inwiefern die Predigt des Evangeliums, theologisch gesprochen, mit existentiellen Prozessen wie z. B. Einsicht, Reue, Umkehr oder Auseinandersetzung zu tun hat, kann eine so beharrliche Bagatellisierungshermeneutik nicht verdeutlichen. Dass das, was wir unter Kommunikation des Evangeliums verstehen, personale Wandlungsprozesse einschließt und Menschen mit der Möglichkeit konfron- 233 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 10,11-16. <?page no="129"?> 129 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen tiert, ein anderer zu werden, wird dabei kaum in Betracht gezogen. In der hier kritisierten Praxis drückt sich wiederum nicht zuerst homiletisches Unvermögen aus, sondern sie ist wohl eher Ausdruck einer zu spärlich ausgeprägten systematischen Kompetenz, die auf theologische Argumentation zielt und die Wahrnehmung und Reflexion auch eigener Erfahrung einschließt. Anders ist es kaum zu erklären, wie auf der Grundlage großangelegter Exegesen Predigtziele definiert werden, die von solcher Vagheit sind, dass man sie auch ohne Lektüre des Textes jederzeit extemporieren könnte: „Der Sinn des Christentums ist es nicht, sich gegenseitig im Glauben auszugrenzen, sondern anzunehmen.“ 234 Manchmal bleiben trotz ausgiebig zitierter Dogmatik die eigentlichen Pointen der hinter den Zitaten stehenden (strittigen) Positionen unberücksichtigt. Stattdessen verweist man zur Begründung selbst schlichtester und immer irgendwie „richtiger“ Aussagen gern auf ganze Ansätze wie die von Paul Tillich, Karl Rahner oder Karl Barth - als habe man damit schon ein Argument gewonnen. Nach meiner Beobachtung hängt die Seichtigkeit des Inhalts einer Predigt sprachlich oftmals mit dem Grad ihrer Abstraktion zusammen. Nicht zufällig wird das Banale auch als das zur Phrase, zur Unerheblichkeit Verkommene bezeichnet. Umgekehrt steigt der Grad der Relevanz einer Predigt mit dem Grad ihrer Konkretion. 3.1.5 Pragmatische Hermeneutik Eine Predigt hat immer auch etwas zu verdeutlichen. Wer predigt, sollte dementsprechend etwas zu verstehen geben können. Ein wesentlicher Teil der Verdeutlichungsleistung einer Predigt ist bereits in den Vorarbeiten zur Predigt zu erbringen: Wer predigt, muss vorher wissen, was er gemäß seinem Verständnis des Textes und seiner Einsichten im Blick auf die Lebenswirklichkeit der Hörer gerade in dieser konkreten Predigt zu verstehen geben will. So gewiss dabei unterschiedliche Verstehensbegriffe zugrunde gelegt werden können (z. B. Verstehen als Einverständnis, als Interaktion, als Konstruktion usw. 235 ), bedarf es auf Seiten des Predigers eines methodischen Verstehenwollens - sowohl bezüglich des Textes als auch hinsichtlich der Sache, um die es in der Predigt geht. Ohne das Bewusstsein, dass es tatsächlich etwas zu verstehen gilt, das eine bestimmte 234 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 6,19-23. 235 Vgl. I. Reuter, 2000, 54-116. <?page no="130"?> 130 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Vorgehensweise bzw. eine bestimmte Form der Annäherung erfordert, läuft die „hermeneutische Umsetzung“ der Predigtidee ins Leere. In den schriftlichen Vorarbeiten zu einer Predigt bzw. homiletischen Seminaren werden hermeneutische Überlegungen häufig durch Absichtserklärungen ersetzt. Der bloße Vorsatz, dies und jenes so oder so zu sagen, wird als zureichende Basis dafür angesehen, dass diese oder jene Wirkungen auch erzielt werden können: „Indem ich den Text am Beginn der Predigt in Frage stelle und seine Aussagen mit starken Zweifeln konfrontiere, möchte ich die Aufmerksamkeit der Gemeinde von Anfang an für die im letzten Teil der Predigt verteidigte Botschaft des Textes wecken.“ Woher weiß der Prediger, dass man schon durch die Problematisierung eines Bibeltextes die Aufmerksamkeit der Hörer gewinnt? Und warum mit der Verteidigung des Wichtigen im letzten Teil der Predigt auftrumpfen, eingebettet in die rhetorische Geste: „Das hättet ihr wohl nicht gedacht? “ Mit dieser leicht durchschaubaren Übung, bei der sich am Ende alles reibungslos ineinanderzufügen scheint, wird der Hörer gewiss nicht zum ersten Mal konfrontiert. Im folgenden Beispiel finden sich gleich mehrere Grundsätze einer allzu pragmatischen Hermeneutik, die aus homiletischer Sicht sämtlich zum Scheitern verurteilt sind. Der Verfasser möchte „im fiktiven Ich“ einen Jünger zu Wort kommen lassen, wodurch die Hörer in die Lage versetzt werden sollen, das Empfinden dieses Jüngers am eigenen Leibe zu spüren. Dann könne der Hörer, so die Ansicht des Verfassers, „nachempfinden, wie wohltuend Jesu Gegenwart empfunden worden sein muss, wie das Leben des Jüngers […] mit dem Auftreten Jesu von Nazareth eine heilsame Wendung nahm. Die Geschichte holt einen dort ab, wo man gerade in seinem Alltag steckengeblieben ist […]. Die Predigt kann schließlich in einem Schlussteil, der wieder deutlich als eigene Interpretation erkennbar ist, die dogmatischen Akzente setzen, die die Predigerin nach der Arbeit mit der Perikope für angezeigt hält. 236 Mit dem Einleitungs- und dem Schluss- 236 Genau umgekehrt sollte es sein. Die Predigt wird nicht gehalten, um die Hörer in die Grundfragen der Dogmatik einzuführen und sie zu lehren, mit welchen theologischen Formulierungen sie ihre Lebens- und Glaubenserfahrung am geeignetsten ausdrücken sollten. Die Predigt muss sich auf der Basis theologischer Einsicht um eine Übersetzung aus der Sprache der Dogmatik in die Sprache alltäglicher Lebens- und Glaubenswirklichkeit bemühen. Der Bezug auf die Modelle der Systematischen Theologie ist nicht erst in der Predigt herzustellen, sondern in den Vorarbeiten zu erbringen. Das erleichtert es, eine Predigt zu erarbeiten, die die nachträgliche, explizite Aufnahme dogmatischer Sprachmuster der Systematischen Theologie nicht mehr benötigt, weil sie aus der Arbeit mit ihnen erwachsen ist. <?page no="131"?> 131 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen teil meiner Predigt kann ich den Hörer einladen, mit mir auf eine Entdeckungsreise zu gehen, indem ich ihn in die entsprechende Stimmung versetze. Trotzdem versuche ich nicht, dem Hörer etwas Fertiges vorzusetzen, bei dem er nichts mehr findet, über das er weiterdenken könnte und möchte. Weil jeder Hörer für sich darüber nachdenken können soll, wie er den Heiligen Geist erfahren kann oder erfahren hat, sollen im Schlussteil der Predigt bewusst keine Beispiele genannt werden. Nach der Predigt soll der Hörer dann selbst die Möglichkeit haben, in der ,Ahnung des Friedens‘ und der Sicherheit der Verheißung des Geistes weiterzudenken und in die Woche zu gehen.“ 237 Diese Vorstellungen über die Wirkung der Predigt befassen sich nicht mit der wichtigen Frage, unter welchen Voraussetzungen erwartet werden kann, dass eine im Ich-Stil vorgetragene „Berichterstattung eines Jüngers“ tatsächlich ein „Mitempfinden“ bzw. „wohltuendes Nachempfinden der Gegenwart Jesu“ ermöglichen könnte und keine peinlichen, „Kinderstunde“ assoziierende Empfindungen auslöst. Ebenso wenig wird geklärt, inwiefern die Predigt einen behaupteten „Abholeffekt“ impliziert und warum eigentlich ihr theologisches Profil erst im Schlussteil der Predigt hervortreten darf. Es wird nicht hinterfragt, wieso gerade das unspezifisch Unfertige zum Nachdenken anrege - und nicht eine klare Position. Es bleibt offen, auf Basis welcher Erkenntnis behauptet werden kann, dass ausgerechnet der Verzicht auf Beispiele die Möglichkeit zum Weiterdenken schaffe - zumal die Predigt-Rezeptionsforschung zu einem umgekehrten Ergebnis kommt. Hermeneutische Probleme für den Mitvollzug der Predigt durch die Hörer entstehen auch dadurch, dass die Bezüge zwischen Text und Situation häufig nur beschworen werden, ohne dass dargelegt wird, auf welchen Analogiebildungen sie beruhen und in welchen (begrenzten) Zusammenhängen sie gelten. Dieses Dilemma ist umso gravierender, je üppiger die Predigt mit Grundbegriffen christlicher Soteriologie operiert und stillschweigend unterstellt, hier werde gewissermaßen Evangelium pur vermittelt - wie etwa in dieser Predigt zu Karfreitag: „Im gekreuzigten Jesus kommt Gott selbst zu Wort. Im Kreuz Jesu erfährt Gott das menschliche Elend, will bei den Menschen sein, will mitleiden. Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, so feiern wir es jedes Jahr an Weihnachten. Aber diese Menschlichkeit Gottes kommt vor allem zum Ausdruck im heilenden Wirken Jesu, in seinem alle menschlichen Erwartungen enttäuschenden Kreuz. […] Jesus hängt am Kreuz, bleibt 237 Aus den Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 14,23-47. <?page no="132"?> 132 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt in der Erfahrung der Anfechtung Mensch. […] Gott kennt mein Leid und ist in den schwierigsten Phasen meines Lebens nicht fern. Gott leidet mit. Diese Erkenntnis kann zum Trost werden. Freilich, Leid bleibt schlimm, wird zunächst nicht erträglicher, aber Gott ist bei den Leidenden. […] Ich muss diese Orte aufspüren, meine Krisen aushalten, die Enttäuschungen meines Lebens für mich fruchtbar machen, denn Gott kennt meine Nöte.“ 238 Hier wird der Tod Jesu ohne hermeneutische Reflexion in das „Leiden sonst“ eingezeichnet. So bleibt im Dunkeln, inwiefern es ein Trost sein soll, dass es Gott auch nicht anders geht als mir. Wäre nicht umgekehrt zu erwarten, dass das einlinige Ineinssetzen von „Leiden hier“ und „Leiden dort“ - gerade dann, wenn Gott auch nur nicht anders kann als leiden - eine eher schizoide statt eine vertrauensvolle Lebens- und Glaubenshaltung fördert? Etwa nach der Weise: „Mir geht es schlecht - und Gott ist auch nicht mehr der, der er einmal war. Wozu also soll ich mich an ihn wenden? “ Natürlich ist es theologisch zu begrüßen, das Leiden Jesu mit dem Leiden von Menschen in einem bestimmten Zusammenhang zu sehen, aber mit derartigen Gleichungen (s. o.) wird keinerlei Verstehen angebahnt. Dass Krisen sinnvoll sind, wird auch in der nicht-kirchlichen Beratungspraxis nirgends bestritten, man kann es in einschlägigen Taschenbüchern aus der Rubrik „Lebenshilfe“ sogar genauer nachlesen. Aber wenn das Leiden Gottes oder Jesu zu einem vertieften Verständnis eines Lebens aus Glauben herangezogen wird, braucht es eine Hermeneutik, die über die bloße Behauptung der Sinnhaftigkeit dieses Leidens und Sterbens hinausreicht. 3.1.6 Text- und Begriffsfetischismus Die eben skizzierte pragmatische Hermeneutik ist häufig gepaart mit einem an magische Praktiken erinnernden Textfetischismus. Jegliche Probleme, sie mögen auch noch so schemenhaft am Horizont der Predigt erscheinen, werden vom Prediger unmittelbar mit dem Text als Waffe aufs Korn genommen und „abgeschossen“. Die im Schnelldurchlauf angerissenen Fragen können noch so abgründig sein, die angedeutete Krise mag noch so unabweisbar erscheinen, das „So-spricht-der-Text“ wird einer Beschwörung gleich in verschiedenen Sprachmustern stereotyp in die Predigt eingestreut. 238 Predigtmanuskript mit Bezug auf Mt 27,33-50. <?page no="133"?> 133 3.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Hinter dieser Strategie steht die dem Prediger mehr oder weniger bewusste Auffassung, allein schon das Zitat des Textes tauge zur Abwehr des Bösen, bar jeder theologischen Argumentation, bar jeglicher Wahrnehmung der „Anfechtungen“ 239 der Hörer und der Spannungen, die den Text seinerzeit hervorbrachten. Die sprachliche wie theologische Syntax mancher Predigt scheint vor allem in der Konstruktion einer Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Text und Gemeinde begründet zu sein. Signale hierfür sind - um aus einer einzigen Predigt zu zitieren - Wendungen wie: „Der Text will uns zeigen“, „der Text will uns die Augen öffnen“, „der Text wendet unseren Blick“, „der Text will uns Mut machen“, „der Text will uns sagen“, „dreimal spricht uns der Text direkt an.“ 240 Wie aber kann ein Text uns direkt ansprechen? Von der sprachlogischen Problematik solchen Stils ganz abgesehen: Was habe ich in Anbetracht einer solchen Predigt noch mit Gott zu tun, wenn der Text mich so aufmerksam umsorgt? „Es ist leichter, sich voneinander abzugrenzen, als eine Einheit zu bilden. […] Wir erfahren das vor allem […] im Streit zwischen zwei Menschen, Ehepartnern, Eltern und Kindern, Nachbarn, Arbeitskollegen, Gruppen, Völkern, vor allem dann, wenn sie sich bekriegen. Wenn nun der Text trotz aller Differenzen und Streitigkeiten die Menschen zur Einheit im Geist mit Gott aufruft, dann muss das doch heißen, dass wir Menschen zur Einheit befähigt sind. Der Text lässt uns ja auch nicht allein mit seiner Forderung, sondern nennt Eigenschaften, die das Einssein ermöglichen.“ 241 Mit Textfetischismus ist der paradoxe Effekt gemeint, Gottes Wort mit Gottes Wort aus der Predigt zu vertreiben und „es“ im permanenten Rekurs auf seinen Schriftzustand (auf das also, was „es“ einmal gesagt hat), nicht das sagen zu lassen, was „es“ heute sagen könnte. Das Gleiche lässt sich in Bezug auf das zähe Strapazieren einzelner theologischer Begriffe sagen: So ist beispielsweise ein Prediger überzeugt davon, dass einer Gemeinde von Krankenhauspatienten ausgerechnet dadurch ihre Zugehörigkeit zur Lebenswelt der anderen klarge- 239 Vgl. E. Lange, 1976, 25. Lange versteht unter „Anfechtungen“ u. a. jene Zweifel, die dem Hörer kommen können, wenn er, im besten Sinn des Wortes ausgerüstet mit den Verheißungen des Evangeliums, in seinem Alltag unterwegs sei und vor der Notwendigkeit stehe, das Gehörte und ihm Verheißene mit seiner Erfahrung zusammenzubringen. Ebenso - und womöglich in noch stärkerem Maße - sei der Prediger von Anfechtungen betroffen: „Angesichts der Tatsachen“ könne es leicht geschehen, dass „es ihm die Sprache verschlägt“ (ebd., 25). 240 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 15,26-16,4. 241 Predigtmanuskript mit Bezug auf Eph 4,1-6; Hervorhebung W. E. <?page no="134"?> 134 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt macht werden muss, dass man ihr den „Begriff des Geistes“ erkläre, weil dieser Begriff (sic! ) „in die Gemeinschaft der Glaubenden“ 242 führe. Fazit: In dem hier problematisierten Vorgehen wird übersehen, dass jegliches Verständnis von Gelesenem und Gehörtem darauf basiert, dass der Gestalt des Wortes von Seiten des Lesers oder Hörers etwas hinzugefügt wird, was nicht zu lesen oder zu hören ist: der Gehalt bzw. die Bedeutung des Gelesenen und Gehörten. Eine solche Ergänzungsleistung - sie ist der Kern jeglichen Verstehens - bedarf einer „Anleitung“ durch die Predigt selbst. Es ist für das Verständnis einer Predigt entscheidend, ob der Hörer schließlich über die gehörte Predigt „hinauskommt“, dass er - nach ihrem Verständnis gefragt - sich nicht auf das Rezitieren einzelner Sätze beschränken muss, sondern die Bedeutung dieser Sätze in seinem eigenen Lebenskontext verorten kann. 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Um den Gründen für den Textbezug in der Predigttradition der Kirche auf die Spur zu kommen, kann man sich zum einen auf explizite Angaben in entsprechenden Predigtanleitungen stützen. Zum anderen kann man aus der Art und Weise der Einbeziehung der biblischen Überlieferung in Predigtpraxis und homiletische Theorie auf die jeweils impliziten Vorstellungen und Ansprüche schließen, die mit der Bezugnahme auf biblische Texte verbunden werden. Bei der Frage, ob und wie sich eine Predigt auf die Bibel zu beziehen habe oder nicht, sollte mitbedacht werden, dass jedes persönliche Zeugnis, das aus der Kommunikation des Evangeliums erwächst, immer schon Teil eines Überlieferungsprozesses ist: Menschen formulieren, was für sie verbindlich ist, notwendigerweise mit Bezug auf das, was ihnen vermittelt wurde. Es ist Resultat eines komplexen Aneignungsprozesses, bei dem es nicht nur um Zustimmung und Ablehnung geht, sondern - viel differenzierter - auch Auseinandersetzung, Verarbeitung, Übersetzung, Transformierung von Tradition im Spiel war. Das Fehlen einer ausgesprochenen Textauslegung oder auch nur eines ausdrücklichen Schriftbezugs kann also nicht mit „Traditionsabbruch“ gleichgesetzt werden. Gefragt werden kann und muss hingegen, aus welchen Gründen sich eine Predigt - über ihre faktische Traditionsbezogenheit hinaus - auch noch auf einen einzelnen Text beziehen sollte. 242 Aus den Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. <?page no="135"?> 135 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik 3.2.1 Zur Schriftbindung textfreier und textbezogener Predigt Die Predigtpraxis der christlichen Kirche zeigt, dass unter schriftgemäßer Kanzelrede durchaus nicht immer Textauslegung mit anschließender Vermittlung einer „Botschaft des Textes“ verstanden wurde. Das gilt zunächst hinsichtlich der Beweggründe für den Schriftbezug in den biblischen Büchern selbst. Die ersten Spuren der Kommunikation des Evangeliums in der frühen Christenheit lassen sich jedenfalls nicht als Textauslegung verstehen, sondern sie verdeutlichen - im Horizont der Schrift und mit Blick auf die konkrete Existenz der Hörer bzw. Leser -, was es heißt, in der Gegenwart Gottes zu leben bzw. zu Christus zu gehören. 243 Sie wollen Glaubende in ihrem gegenwärtigen Leben vor Gott ermutigen, sie an die Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Freiheit erinnern - und auf Veränderungen vorbereiten, die mit dem Kommen des Reiches Gottes zu tun haben. Quelle dieser Zeugnisse ist nicht ein Text, sondern sie beziehen sich teils (1.) auf die biblische Überlieferung als Ganze, also das Alte Testament, teils (2.) auf die unverschriftete Erfahrungstradition der Christengemeinden und teils (3.) auf die Erfahrungen der Gemeinde in ihrer jeweiligen Gegenwart. Im Hebräerbrief werden diese Bezugnahmen auf unterschiedliche Quellen sehr schön deutlich. Er macht von allen eben benannten Formen des Traditionsbezugs Gebrauch. Zu 1.: Die „Predigt“, die wir mit dem Hebräerbrief vor uns haben, wird im Horizont des gesamten Alten Testaments gehalten, wobei nicht ein einzelner Text, sondern größere Zusammenhänge im Lichte des Christusgeschehens rezipiert werden. Es wird also nicht einfach nur Altes Testament zitiert, sondern verschiedene Ereignis-Ebenen werden miteinander verschränkt: Christus wird als Hohepriester verdeutlicht, der sich dafür einsetzt, „dass wir Barmherzigkeit empfangen“ (4,16). Das geschieht, indem er sich selbst zum Opfer bringt (9-10). Die Hörer sollen sich mit dem wandernden Gottesvolk identifizieren, dem nun nicht mehr Moses, sondern Christus als „Führer und Vollender des Glaubens“ vorausgeht (12,2). Zu 2.: Oft ist es nicht das Schriftwort des Alten Testaments, auf das der Verfasser abhebt, sondern es sind die Erfahrungen der Gemeinde, die die Zeugnisse des Glaubens in Form von Texten nach sich gezogen haben. So liegt es nahe, dass 243 Sie stellen indessen Bekenntnisse dar, die den Text für spätere Predigten hergaben, eine Traditionspraxis, die sich, wie wir sehen werden, im Laufe der Predigtgeschichte wiederholt hat. <?page no="136"?> 136 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt z. B. die ganze „Wolke der Zeugen“ mit aufgeboten wird (11,1-12,1), um die Leser auf dem Weg der Nachfolge zu ermutigen. Zu 3.: Schließlich versucht der Verfasser des Hebräerbriefes auch noch eine theologische Auslegung der Gegenwart und gebraucht gewissermaßen die Situation der potentiellen Rezipienten als „Text“, den er interpretiert: „Gott erzieht euch, wenn ihr dulden müsst“ (vgl. 12,7-11). Die textfreie und dabei schriftgemäße christliche Predigt hat es durch die Jahrhunderte hindurch immer gegeben. Sie bezog sich dann oft auf andere Zeugnisse des christlichen Glaubens, z. B. auf Choräle, auf katechetische Texte oder auf Bekenntnisschriften 244 und dergleichen, also auf Texte mit einer bereits enthaltenen Interpretation der Bibel. Ebenso alt ist die Tradition der Themapredigt, in der es z. B. um die praktischen Konsequenzen des christlichen Glaubens für einen bestimmten Bereich des (gesellschaftlichen) Lebens geht, um die Bedeutung bestimmter kirchlicher Feiertage für die christliche Spiritualität, um Fragen der Zeit u. a. m. Zu den bekanntesten textfreien und gleichwohl schriftgemäßen wie situationsbezogenen Predigten gehören die 1522 gehaltenen Invokavitpredigten M. Luthers. 245 Diese Reden zielen u. a. auf die Bändigung einer unübersichtlich gewordenen Situation. In Wittenberg herrscht Verwirrung: Die Gläubigen sollen durch eine neue Ordnung des Rates der Stadt zu einem evangelischen Leben gezwungen werden. Sie werden u. a. mit der Auffassung konfrontiert, dass die Ehelosigkeit junger Menschen in der Bibel nicht vorgesehen - und der Empfang des Abendmahles unter nur einer Gestalt Sünde sei. Mit dem Argument, das Zeigen von Bildern in der Kirche sei eine Form von Götzendienst, zerstören Übereifrige Bildwerke der Stadtkirche. Im Hinblick auf die Bedeutung, die bestimmte Ausdrucksformen reformatorischer Frömmigkeit im öffentlichen Bewusstsein gewonnen hatten, stellen Luthers Mahnungen zur Rücksicht auf die Schwachen eine Form politischen Handelns dar. 244 So hielt z. B. Nicolaus Selnecker im Jahre 1581 zusammen mit weiteren Theologen einen Predigtzyklus über die Konkordienformel, was auch insofern eine Besonderheit darstellt, als Selnecker selbst an der Entstehung dieses Dokuments beteiligt war. Angesichts des Bekenntnischarakters dieses Textes handelt es sich bei den darauf Bezug nehmenden Predigten Selneckers in gewisser Weise um Predigten über eine Predigt (vgl. N. Selnecker, 1581a sowie 1581b). 245 Vgl. die Einführung in die Invokavitpredigten und deren kritische Edition von H. Junghans, in: Martin Luther, 1982, bes. 520-529. <?page no="137"?> 137 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Die Invokavitpredigten Luthers sind darin vorbildlich, dass sie trotz ihrer thematischen Fokussierung Predigten bleiben. Luther lässt sich nicht dazu verleiten, auf der Basis des öffentlichen Diskurses die ,richtige Position‘ zu erläutern, sondern nimmt die andrängenden Fragen im Lichte des Evangeliums auf, um aufs Neue die „Freiheit eines Christenmenschen“ zu plausibilisieren, aus der sich kein (neues) Gesetz machen lässt. 246 Im Hinblick auf die spezifische Funktion der Predigt als christliche Rede in der Öffentlichkeit ist bei Themapredigten besonders darauf zu achten, dass sie nicht auf einen prophetisch-kritischen Impuls reduziert oder auf ihre politische Dimension beschränkt werden, sondern auch der Dimension der Seelsorge (priesterliche Funktion) und dem Verheißungspotential der Kommunikation des Evangeliums (kerygmatische Funktion) Rechnung tragen. Dass dies auch im Hinblick auf die Themen der Gegenwart möglich ist, steht außer Zweifel. „Es gibt Themen, die durchaus auf die Kanzel gehören und zu denen nicht ohne Zwang ein passender Text zu finden ist. Ich halte es z. B. für sinnvoll und auch notwendig, einmal zu Problemen wie Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe zu predigen, denke aber, dass es falsch wäre, diese heißen, auch in der Gemeinde umstrittenen Fragen nur von einem Text - etwa vom fünften Gebot her - zu entfalten. Gerade bibeltextlose Predigten können [dadurch] dem reformatorischen Schriftprinzip […] entsprechen, dass sie bedrängende Probleme auf dem Hintergrund der ganzen Schrift darzulegen versuchen.“ 247 Entgleisungen bzw. Kuriositäten hat es zu allen Zeiten gegeben, sowohl im Fall textbezogener wie textfreier Predigt. So hat es beispielsweise Predigten über Biografien gegeben, die - oft in völliger Verkennung der tatsächlichen Leistung und Ziele der betreffenden Männer und Frauen für das Selbstverständnis des Christentums - auf den bloßen Appell zur Nachahmung hinausliefen oder eine faktische Verklärung einzelner Glaubenshelden darstellten. In dieser Hinsicht besonders berühmt wurden die Lutherpredigten von Cyriacus Spangenberg 248 , der der Bergwerksgemeinde in Mansfeld „Luther“ predigte, indem er ihn als 246 In diesem Zusammenhang ist es interessant, mit welchen Streitfragen sich Luther in den Invokavitpredigten nicht befasst: Die Klärung der kirchlichen Finanzen, das Verbot von Betteln und Wucherzinsen, das Problem der Prostitution u. a. m. überlässt er der städtischen Gewalt (vgl. M. Luther, 1982, 523). 247 J. Ziemer, 1990, 213; Hervorhebung W. E. 248 C. Spangenberg, 1589. Dieses Werk ist mehr als 40 Mal aufgelegt und bearbeitet worden. Nicht weniger bekannt wurde das in 17 Predigten dargestellte Leben Luthers von J. Matthesius (1883). <?page no="138"?> 138 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Bergmann, Steiger, Hauer und Treckerjungen präsentierte. In diesem Zusammenhang müssen auch die Predigten über wirtschafts- und gesundheitspolitische Fragen wie Ackerbau, Wiederaufforstung und Pockenimpfung in der Zeit der Aufklärung erwähnt werden. Man wird dem Anliegen der Aufklärungspredigt, zeitgenössisch zu sein und für das Alltagsleben ihrer Hörer etwas austragen zu wollen, allerdings nicht gerecht, wenn man nur auf die Skurrilitäten dieser Epoche der Predigtgeschichte verweist: auf eine Adventspredigt über Holzdiebstahl (mit Bezug auf Mt 21,8), auf Weihnachtspredigten über die Abhärtung der Hirten, über den (gefährlichen) Gebrauch von Pelzmützen oder über Stallfütterung, sowie auf Osterpredigten, die sich mit dem Problem, lebendig begraben zu werden auseinandersetzen und das frühe Aufstehen thematisieren. Der moderate Ansatz von J. Spalding 249 lässt erkennen, in welchem Maße das moralpädagogische Prinzip die Aufgabe der Predigt dominiert. Schließlich ist auf die zwar in der Regel auf einen Text bezogene, sich aber oft weit von seiner Eigenaussage entfernende Erweckungspredigt zu verweisen: Der Text ist hier häufig nur der Ausgangspunkt für den aus einem bestimmten Thema entwickelten „Ruf zur Umkehr“. Claus Harms plädierte dafür, „den Predigern die Fessel des Textes“ abzunehmen; dann stünde es „weit besser in der Kirche und um die Kirche“ 250 . Statt dass das Evangelium verkündigt würde, plagten sich die Prediger unnötig mit historischen Fragen herum. 251 Harms’ Kritik an der Textbindung der Predigt macht freilich auch deutlich: Nicht schon die Verwendung eines Textes selbst, sondern allenfalls eine bestimmte Art des Umgangs mit dem Text taugt als ein Indiz für die Schriftgemäßheit der Predigt. Der Vorwurf Vinets, das sich im Text verbeißende Predigen gleiche oftmals einer „in aller Form vollzogenen Hinrichtung des Wortes 249 Johann J. Spalding kommt in seinen Darlegungen „Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes“ immer wieder auf den Gedanken zurück, dass die Predigt eine die Gesellschaft und den Einzelnen verbessernde und somit glückselig machende Wirkung habe (vgl. J. Spalding, 1791, 63-76). Ein Prediger müsse daher „vor allen Dingen“ wissen, dass „der Mensch gut werden muss, wenn er glücklich werden will“ (334). In der Widmung, die den Charakter eines Vorworts hat, hebt Spalding hervor, beim Predigen komme es darauf an, „bloß die Sache des bessernden und beruhigenden Christentums vor Augen zu halten“, um „viele Menschen dadurch zu ihrem Glücke zu führen“ (a. a. O., XXV-XXVIII). 250 C. Harms, 1837, 53, 67 f. 251 Ähnliche Argumente finden sich bei Alexandre Vinet, der es für unverantwortlich hält, den Text so über die Predigt herrschen zu lassen, dass das Wort Gottes nicht mehr als lebendiges Zeugnis vernehmbar sei. Vgl. A. Vinet, 1944, 98-100. <?page no="139"?> 139 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Gottes“ 252 , und Harms’ Empfehlung, deswegen gleich die „Fessel des Textes“ abzustreifen, offenbaren eine große homiletische Hilflosigkeit: Anscheinend konnte man sich keinen anderen (als den von Harms und anderen kritisierten) wissenschaftlich begründeten Umgang mit dem Text vorstellen. Deshalb sieht man sich vor der letztlich nicht zwingenden Alternative, entweder „Texte zu reiten“ 253 oder sich „von ihrer Fessel zu lösen“. Aus diesem Grunde werden wir uns ausführlich mit der Frage zu befassen haben, welches Modell des Umgangs mit dem Text sowohl der Eigenart seines konkreten Zeugnisses als auch der Notwendigkeit zu einem neuen Zeugnis gerecht wird. Die Zugeständnisse an die Schriftgemäßheit auch textfreier Predigt laufen nicht auf ein Plädoyer für die Predigt ohne Text hinaus, sondern sollen die Frage nach der spezifischen Funktion des Textbezugs verstärken. Es dürfte leichter gelingen, schriftgemäß zu predigen, wenn man sich dabei auf einen Text bezieht, als wenn man dies ohne Text versucht. Eine Predigt ohne Text entbehrt der Auseinandersetzung mit einer konkreten Gestalt und einem (Zwischen)ergebnis der Kommunikation des Evangeliums. Ihr fehlt ein widerständiges „Gegenüber“ 254 . Der Prediger gelangt dann ohne eine dialogische Auseinandersetzung, ohne den Widerstand einer anderen Position - die ihm die Beschäftigung mit einem Text bescheren könnte - zu seiner Rede. Die Wahrscheinlichkeit, nach Textstellen wie nach passenden Zitaten zu eigenen Auffassungen über Gott und die Welt zu suchen, wächst unter solchen Umständen. Es besteht die Gefahr, Glaubenszeugnisse ideologisch zu missbrauchen und sich seine Sicht der Dinge von der Bibel bestätigen zu lassen. Der Bezug auf die Bibel kann bei Themapredigten oder textfreien Predigten zu einem spezifischen Problem werden: Man kann Gesetz predigen und sich allgemein auf „die Bibel“ berufen, man kann mehr Anstand und Zuvorkommenheit im Umgang miteinander fordern und dabei „die Bibel“ bemühen, man kann zu besonnenem Handeln im Alltag und in der praktischen Lebensgestaltung aufrufen und sich dabei wiederum „auf die Bibel stützen“. Die unterschiedlichen, je selbständigen Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments sind jedoch nicht einfach unter bestimmte Glaubens- und Gottesvorstellungen subsumierbar; sie lassen sich auch nicht für bestimmte hehre Absichten verein- 252 A. Vinet, 1944, 99. 253 Der erhellende Begriff vom „Textreiten“ stammt von Harms, 1837, 68. 254 Andreas Horn hat die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Text sehr bildhaft und eindringlich beschrieben (vgl. A. Horn, 2009). <?page no="140"?> 140 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt nahmen. Um sie zu verstehen und in die eigene Predigt zu integrieren, reicht es nicht aus, sich auf eine repräsentative Sammlung von Kernsätzen der Bibel zu beziehen und sie nach eigenem Gusto zu kombinieren. Wer so verfährt, übersieht leicht, dass biblische Texte in je spezifischer Weise und Absicht zum Ausdruck bringen, was Glauben bedeutet. Damit sind einige der Gesichtspunkte in den Blick gekommen, die bei der Bindung der Predigt an die Schrift bzw. einen Text eine Rolle gespielt haben und noch spielen. Es fehlen noch jene Argumente, die sich auf den Text vor allem als „Wort Gottes“ beziehen. Wenngleich es sich dabei um Prämissen handelt, die nicht den Umgang mit dem Text und seine Funktion im Rahmen des Predigtprozesses reflektieren, sondern von seinem Anspruch her, Wort Gottes zu sein, argumentieren, haben sie doch auf die Methoden und die Praxis der Predigt starken Einfluss genommen. Sie kommen im folgenden Abschnitt zur Sprache. 3.2.2 Traditionelle Argumente für den Textbezug In der Praxis und Theorie der Kommunikation des Evangeliums kann man drei traditionelle Argumente für die Bezugnahme auf die biblischen Traditionen voneinander unterscheiden. Der Textbezug wird (1.) als Argument der Wahrheit, (2.) der Verbindlichkeit und (3.) der Verlässlichkeit der Botschaft der Predigt betrachtet. Diese Differenzierung entspricht bis zu einem gewissen Grad jenen Aspekten, die prinzipiell für die Wirkung von Sprache bzw. für die Funktionen der Predigt 255 gelten: - Das Wahrheitsargument bezieht sich auf den Inhalt des Textes bzw. der Botschaft; es wird u. a. für die durch den Text gewonnene Objektivität der Predigt in Anspruch genommen (Darstellungsbzw. Lehrfunktion). - Das Verbindlichkeitsargument wird aus der Bedeutung des Textes für die Adressaten abgeleitet; es wird im Blick auf die Relevanz der Predigt für das Glauben, Denken und Handeln der Hörer geltend gemacht (Appellbzw. parakletische Funktion). - Schließlich kann der Textbezug in den Zusammenhang der Glaubwürdigkeit des Predigers gestellt werden und die Botschaft der Predigt als verlässlich erscheinen lassen (Selbstkundgabe-, Ausdrucksbzw. Zeugnisfunktion). 255 Vgl. die drei Funktionen der Predigt (Lehre, Paraklese, Zeugnis) unter I.2.3.3. <?page no="141"?> 141 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik a) Der Text als Argument der Wahrheit Diese Art des Schriftbezugs ist nicht selten eine Reaktion auf Schwierigkeiten, die sich aus der nie unmittelbaren, von Predigern als zu spärlich empfundenen, eigenen Wahrnehmung des Heilshandelns Gottes in der Gegenwart ergeben. Nicht nur Prediger kann es ermüden, auch für Hörer stellt es eine Herausforderung dar, in den Ereignissen des Alltags oder im Lauf der Welt „Zeichen des Kommens des Reiches Gottes“ zu erkennen und sie als heilsam oder auch nur hilfreich zu interpretieren. Mit dieser Erfahrung verbindet sich bei Predigern gelegentlich der Eindruck oder die Sorge, mit ihrem eigenen Zeugnis selbst kein hinreichend überzeugendes Zeichen setzen zu können. 256 Da liegt es nahe, die Wahrheit des Textes zu beschwören und sie für die Glaubwürdigkeit der in der christlichen Tradition kultivierten Verheißungen zu beanspruchen. Die historische Nachvollziehbarkeit der im Text dargestellten oder erzählten Ereignisse spielt bei dessen Inanspruchnahme als Argument für die Wahrheit der Botschaft kaum eine Rolle. Es interessiert beispielsweise nicht, in welcher Situation der Psalmbeter einst sein Schicksal beklagte (vgl. Joh 19,24 mit Ps 22,19) oder in welchem Zusammenhang Mose und Aaron ihre Ordnung für das Passa erließen (vgl. Joh 19,36 mit Ex 12,46). Wenn die entsprechenden Texte in der Passionsgeschichte quasi als Zeugen aufgerufen werden, geht es allein um die Wahrheit der Botschaft des Karfreitags in allen ihren Details - bis hin zur Abnahme Jesu vom Kreuz: „Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubet. Denn solches ist geschehen, auf dass die Schrift erfüllt würde: Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen“ (Joh 19,35 f.). An dem Versuch, die Plausibilität der Verkündigung von der Autorität der Texte profitieren zu lassen, ist im Grunde nichts auszusetzen: Schon im Neuen Testament wird durch den Bezug auf die Schrift die Wahrheit der Botschaft hervorgehoben. Die Nachricht von Jesus als Mensch gewordene und Menschen erlösende Liebe Gottes wird z. B. in der johanneischen Passionserzählung von „Schriftbelegen“ wie von einem cantus firmus durchzogen. Die stereotype Wendung, „auf dass erfüllt würde die Schrift“, soll unterstreichen, dass es sich wirklich so verhält. Der Autor bürgt sozusagen kraft der Autorität der Schrift dafür, dass der Leser seinen Augen bzw. der Hörer seinen Ohren trauen kann: „Es ist 256 Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer sind gerade angesichts ihres Engagements auf dem Gebiet der Predigt darüber frustriert, auf welch geringe (spürbare) Resonanz ihre homiletischen Bemühungen stoßen (vgl. K.-W. Dahm, 2005, 236). <?page no="142"?> 142 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt vollbracht“ (Joh 19,30). Die vorausgehenden Rückbezüge auf das, „was geschrieben steht“, haben also einen Beglaubigungscharakter, eine Indizienfunktion. Sie sind damit einerseits Teil einer besonderen Strategie der Kommunikation des Evangeliums, andererseits sind sie Teil der Mitteilung selbst, denn es ist eine gute Nachricht, zu erfahren, dass ein Stück Verheißung sich erfüllt. Dass diese Strategie funktioniert, setzt u. a. voraus, dass ein Text von seinen Lesern oder Hörern schon deshalb für belangvoll gehalten wird, weil er aus „der Schrift“ stammt, weil also die Bibel eine unangefochtene Autorität darstellt, der man von vornherein Glauben schenkt. Ein Prediger versucht auf dieser Basis, die Gemeinde kraft der Autorität der Schrift zu stärkerer Gemeinschaft zu bewegen. Nach wiederholten Verknüpfungen von Appellen an die Gemeinde mit Textzitaten resümiert er: „Die Christenheit ist nach unserem Bibeltext verpflichtet, sich […] zusammenzuraufen und gemeinsam an einen Tisch zu setzen, um die von Gott vorgegebene Einheit der Kirche sichtbar werden zu lassen. So verstehe ich unseren Bibeltext. […] Sonst hätte der Briefschreiber nicht gleich sieben Mal das Begriffsfeld ,Einheit‘ aufgegriffen.“ 257 Ein anderer Prediger legt der Gemeinde unter Berufung auf die Schrift nahe, das Zweifeln an der Auferstehung Jesu Christi aufzugeben, darin Gottes Willen zu befolgen und so die Stärke der Auferstehung zu erfahren. Auf eine Formel gebracht: Wahrheit durch Gehorsam: „Als die Jünger der Aufforderung Jesu nachgekommen waren, das Netz rechts vom Schiff auszuwerfen, machten sie den Fang ihres Lebens - und fangen an zu begreifen, dass sie das dem Auferstandenen zu verdanken haben. Das reißt sie aus ihrer Lethargie. Der Text zeigt: Auch wir können teilhaben an der Fülle des Lebens, wenn wir uns auf Gottes Willen einlassen - und unsere Zweifel werden wir dabei auch noch los.“ 258 Die Schwierigkeiten dieser Form des Textbezugs liegen auf der Hand: Für zeitgenössische Predigthörer „ist es keineswegs mehr eine selbstverständliche Voraussetzung, dass es gut und nützlich ist, biblische Texte ausgelegt und erklärt zu bekommen.“ Sie fragen: „Warum sollte mich das interessieren? […] Da hilft keine grundsätzliche Belehrung […] über die Autorität der Bibel. Da hilft nur die gemachte Erfahrung: Das war für mich gut. Das habe ich wirklich gebraucht.“ 259 Wer einen biblischen Text überwiegend in seiner „autoritativen 257 Predigtmanuskript mit Bezug auf Eph 4,1-6. 258 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 21,1-14. 259 K.-P. Hertzsch, 1990, 16. <?page no="143"?> 143 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Funktion“ 260 bemüht, läuft Gefahr, in Beschwörungen der Autorität des Textes abzugleiten, statt diese Autorität - zusammen mit den Hörern - selbst als Vergewisserung zu erfahren. Das sich hier andeutende Problem verschärft sich noch, wenn die vermeintlich über den Text in die Predigt eingebrachte Autorität der Schrift gar nicht im Hinblick auf die Hörer thematisiert wird, sondern v. a. der Zurückdrängung der Subjektivität des Predigers dienen soll. Dann wird der Textbezug als Schutzmaßnahme gegen eine „zu persönliche“ Predigt aufgefasst. In diesem Sinne begründet Hans Joachim Iwand den Relevanzverlust der Predigt mit dem Hinweis, dass die Prediger heute offenbar nicht mehr geduldig genug auf den Text hören und „nicht bedürftig genug […] an den Text herankommen“, dass sie „schon immer etwas […] mitbringen“ und damit der Wahrheit des Textes im Wege stehen. 261 In immer neuen Formulierungen beschreibt Iwand das Von-sich- Absehen-Müssen und Sich-auf-den-Text-Verlassen als zusammengehörende, sich wechselseitig begünstigende homiletische Tugenden. Diese Haltung hat ihm den missverständlichen Titel eines „Texthomiletikers“ 262 eingebracht. Hans Joachim Iwand begründet die Beschäftigung mit dem Text in der Phase der Predigtvorbereitung so: „Meditieren heißt, dass wir im Wort die Wahrheit suchen und nicht in uns, [… heißt], im Text das Evangelium [zu] suchen, im Geschriebenen die viva vox, im Buchstaben den Geist [zu] vernehmen.“ „Der Buchstabe der Schrift ist nun einmal die Stelle, wo wir anklopfen dürfen und müssen.“ Dabei wird im Hinblick auf die Wirkung der Textautorität auf den Prediger unterstellt: „Die Richtung, in der das Wort Gottes uns trifft und anspricht, liegt bei ihm selbst; das Wort behält sich auch in der ,Anwendung‘ selbst in der Hand.“ 263 Ganz ähnlich fordert Hermann Diem den Textbezug der Predigt vor allem deshalb, weil „der Dreieinige Gott in seiner Selbsterschließung“ kein anderes Zeugnis als das in der Schrift gegebene „Zeugnis von seinem Handeln wahrmachen“ wolle. Wer auf den Text verzichte, müsse notgedrungen „die im Zeugnischarakter des Textes liegende Wahrheitsfrage auf andere Weise beantworten“, nämlich mit seinem „menschliche[n] Selbstverständnis“. 264 In einer früheren Schrift führt Diem aus, die „Zeugniskräftigkeit 260 Vgl. M. Josuttis, 1983, 387-389. 261 H. J. Iwand, 1979, 489 f., 493. 262 Vgl. J. Henkys, 1990, 48. 263 H. J. Iwand, 1979, 490. 494 f. 264 H. Diem, 1971, 281 f. <?page no="144"?> 144 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt der Predigt [beruhe] auf dem Gegebensein des kanonischen Textes, über den gepredigt wird“. 265 Freilich lässt sich der u. a. durch Klaus-Peter Hertzsch in die Debatte eingebrachte Säkularisierungs-Einwand 266 nicht mit Hinweisen auf einen „Selbsterschließungsmodus“ biblischer Zeugnisse beiseitewischen. Er braucht auch gar nicht wegargumentiert zu werden. Es ist nur verhängnisvoll, wenn die Berufung auf den Text mit der Forderung verbunden wird, der Prediger möge „dem Text Platz machen“. Im Predigtprozess ist der Prediger - nicht der Text! - „ultimativer Zeuge“, letztes Glied in der Kette der Kommunikation des Evangeliums, bis der Hörer durch die Predigt seinerseits (und wiederum temporär) „ultimativer Zeuge“ eines Lebens aus Glauben wird. Im Akt der Predigt jedoch bringt der Prediger - in Wahrnehmung seiner personalen, kommunikativen und konfessorischen Kompetenz - in ultimativer Zeugenschaft das Evangelium als sein konkretes, bestimmtes, unverwechselbares, alles andere als beliebiges Zeugnis zur Sprache. In einer neuen Annäherung an die Homiletik Hans Joachim Iwands („Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark“ 267 ) versucht Norbert Schwarz zu zeigen, dass Iwands homiletische Bedeutung nicht auf die Rolle eines Texthomiletikers reduziert werden kann. Schwarz zeichnet Iwands homiletische Anthropologie „im Spannungsfeld von Wort Gottes und Subjektivität“ nach, um dessen Verständnis für die Bedeutung der Person des Predigers zu rekonstruieren. 268 Dabei versucht er nachzuweisen, dass Iwands Argumentation mit den Kategorien kommunikationswissenschaftlich orientierter Homiletik durchaus im Einklang stehe. Doch dieses Ansinnen steht - bei aller Wertschätzung, die insbesondere die Kommentierung des Amtsverständnisses Iwands und dessen Sicht auf die Aufgabe der Predigt verdienen - auf wackeligen Füßen. Zum einen begründet Schwarz die Hörerorientierung Iwands in starkem Maße hypothetisch: Bestimmte, positive - von Schwarz offenbar erwünschte - Wirkungen der Iwand’schen Predigten werden auf damalige 265 H. Diem, 1939, 207. 266 Vgl. oben das Zitat zu Anm. 260. 267 N. Schwarz, 2008. 268 A. a. O., 49-94. Dabei geht es sehr gesetzlich zu: Was der Prediger alles zu leisten hat, um sich der „Antinomie des Selbstverhältnisses auszusetzen und dadurch die Stelle offen zu halten, an der Christus sich als Bestimmungsgrund des Lebens erweist“ (91) ist enorm und fällt ganz unter die vom Vf. an anderer Stelle selbst formulierte rechtfertigungstheologische Kritik der Überschätzung der Rolle des Predigers. <?page no="145"?> 145 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Hörende übertragen und unter Berufung auf den Wortlaut der Predigten Iwands einfach unterstellt. Dieses Verfahren trägt dem Umstand zu wenig Rechnung, dass Schwarz mit den ihm vorliegenden Manuskripten natürlich anders verfährt als ein Hörer in den Vierziger Jahren. Zum anderen zeigen die von Schwarz angeführten Belege für das Interesse Iwands am Prediger oder Hörer, dass die Gründe dieses Interesses gerade nicht aus einem differenzierten Verständnis für das besondere Profil dieser „Gegenstände“ der Homiletik resultieren, also nicht auf einer Auseinandersetzung mit den entsprechenden Reflexionsperspektiven beruhen. Vielmehr handelt es sich um ein von bestimmten Prämissen abgeleitetes Interesse, verbunden mit Fragen, die von einem homiletischen Vorverständnis des „Wortes Gottes“ sowie „des Textes“ motiviert sind und ein bestimmtes Prinzip von „Texthomiletik“ klar favorisieren. Von daher lässt die Untersuchung von Norbert Schwarz eine hinreichend kritische Distanz gegenüber dem Kronzeugen für „Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjekts“ 269 vermissen. Dies zeigt sich z. B. in der Aufnahme des Kerygma-Begriffs, mit dem Norbert Schwarz, sich auf Iwand berufend, daran erinnert: „Keinesfalls darf es dazu kommen, dass der Prediger sich zwischen Gott und Gemeinde stellt und den ‚Pfeil des Wortes Gottes‘ selber ins Ziel zu lenken sucht.“ 270 Mit Iwand gesprochen: „In dem Augenblick, wo Sie beginnen, als Prediger über die Seelen zu herrschen, laufen Sie in Gottes Schwert.“ 271 Diese Karikatur einer homiletischen Position ist natürlich keine Alternative dazu, lieber darauf zu verzichten, den Prediger nicht mehr als „Keryx“ zu apostrophieren. Die Debatte um Iwands „Texthomiletik“ zeigt: Für das theologisch-konzeptionelle Verständnis eines homiletischen Ansatzes ist es nicht entscheidend, ob dort unter anderem auch vom Prediger oder Hörer die Rede ist. (Kein Lehrer der Predigt hätte sich je unterstanden, zu sagen, Prediger und Hörer könnten im homiletischen Prozess ignoriert werden.) Entscheidend für das homiletische Konzept ist die Frage, aus welchen Gründen, mit welchem Interesse und mit welcher Predigttheologie bestimmte Fragen der Predigt zum Erschließungsort der Homiletik werden. Das heißt im Blick auf Iwand, dass es gar nicht nötig ist, seine Einsichten im Nachhinein als eine Art Vorwegnahme der modernen Homiletik verstehen zu wollen. Iwand - darin ist Henkys 272 zuzustimmen - verdient zu Recht den Titel eines Texthomiletikers. Auch wenn Iwands Begründung des Textbezugs der Predigt sowohl methodische wie theologische Probleme aufweist, 269 Vgl. den Untertitel der Untersuchung von N. Schwarz, a. a. O. 270 A. a. O., 122. 271 Ebd. 272 Vgl. J. Henkys, 1990, 48. <?page no="146"?> 146 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt verdankt ihm der homiletische Diskurs ein geschärftes Verständnis für die Widerständigkeit biblischer Zeugnisse und die mit ihnen aufgegebene Frage nach der Wahrheit. b) Der Text als Argument der Verbindlichkeit Die Bezugnahme auf biblische Texte ist häufig mit der Absicht verbunden, auf diese Weise die Verbindlichkeit der Predigt zu unterstreichen bzw. erst herzustellen. Dieses Motiv für den Textbezug ist an und für sich ebenso wenig zurückzuweisen wie das Argument der Autorität. Beide Aspekte haben im Rahmen der Theologie der Predigt einen eigenen Ort. 273 Die besondere Verbindlichkeit, die durch den Text in die Predigt kommt, besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit ihm - und mit der Predigt - nicht auf Reflexe der Zustimmung und Ablehnung reduziert werden kann. Die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift zeigt sich im Predigtprozess also erstens darin, dass der Prediger als Ausleger dazu genötigt wird, sich selbst im Zeugnis der Schrift zu exponieren, und dass zweitens dann auch die Hörer das Zeugnis des Predigers als Herausforderung und Hilfe eigenen Glaubens verstehen. Auch diese Funktion des Textbezugs korrespondiert mit einer neutestamentlichen Form des Umgangs mit der Schrift. Besonders den paulinischen Briefen ist es eigen, die Verbindlichkeit ihrer Botschaft durch Schriftbezüge so zu untermauern, dass ihr Inhalt nicht als bloß zu befürwortende oder eher abzuweisende Ansichtssache missverstanden werden kann, sondern als Evangelium gehört wird. So macht Paulus seinen Lesern häufig mit Bezug auf das Alte Testament deutlich, dass Christus mit ihnen Gemeinschaft halten will (2 Kor 6,16b) und dass es zum Glauben gehört, die rettende Gerechtigkeit Gottes als Basis des eigenen Lebens vorauszusetzen (Röm 1,17). Besonders dicht zitiert Paulus an den Stellen seiner Briefe, in denen der Gemeinde Schwieriges gesagt und der Grad der Verbindlichkeit gleichzeitig erhöht werden soll. Das betrifft z. B. die Entfaltung der Schuldfrage (Röm 3,9-20). In der sogenannten Bergpredigt läuft die Rezeption alttestamentlicher Textstellen eindeutig auf eine Zuspitzung der Botschaft Jesu und des zitierten Alten Testaments hinaus. Die Angesprochenen haben sich offensichtlich eine eher harmlose Deutung des von Gott zu Erwartenden und ihrem Leben Bevorstehenden zurechtgelegt. Mit einem Mal wird ihnen eine unerwartet weit ausgreifende und dabei unmittelbar relevante Aussicht 273 Dem wird in theologischer Hinsicht besonders in Kapitel III.4.4 Rechnung getragen. <?page no="147"?> 147 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik auf ihr eigenes Leben eröffnet; zugleich werden sie mit einer starken Verbindlichkeit konfrontiert, und der ihnen neu zu verstehen gegebene alttestamentliche Text, den sie als Norm ihres Lebens und Glaubens wertschätzen, trägt das Seine dazu bei. Die Bergpredigt nach Matthäus ist natürlich keine „Textpredigt“. Sie ist aber insofern biblische Predigt, als sie die gegenwärtige Situation der Adressaten (u. a. Verfolgung sowohl von jüdischer wie römischer Seite, Gefährdung des Glaubens durch Irrlehrer) unter Aufnahme traditionsreicher Texte (Deuteronomium, Psalmen, Propheten) mit der Kommunikation des Evangeliums verknüpft. Das Argument der Verbindlichkeit wird - scheinbar paradoxerweise - gerade dann torpediert, wenn die Funktion des Textbezugs auf eine Maßnahme gegen den Prediger reduziert wird: Demnach müsste sich eine Predigt vor allem deshalb auf einen biblischen Text beziehen, um den Prediger als „potentiellen Störfaktor des Predigtgeschehens“ 274 auszuschalten. Wenn der Prediger nur die Bibel auslege oder, besser noch, nachspreche, was dastehe, wachse die Wahrscheinlichkeit, dass Gott selbst zur Sprache komme. So begründet Alfred Dedo Müller die homiletische Maxime der „Schriftgebundenheit der Predigt“ damit, dass der Gemeinde andernfalls - ohne den konkreten Text - „die Privatmeinung eines Predigers“ angeboten würde: „Die Kirche muss Gewähr dafür bieten, dass die Predigt nicht zur Einbruchstelle eines zügellosen Subjektivismus oder eines starren Intellektualismus wird.“ Der Text als „Urwort“ wird gleichgesetzt mit der „Stimme Gottes“, so dass der explizit textbezogenen „Bindung der Predigt an das Schriftwort“ gleich zwei Funktionen zugeschrieben werden: Der Bezug der Predigt auf den Bibeltext ist sowohl notwendige Voraussetzung als auch Ermöglichung „wirklicher Hörfähigkeit“. Die Bindung des Textes an die Predigt vermag, so Müller, das Hören-Können des Einzelnen sogar „von allem“ zu lösen, was ihn normalerweise vom Hören abhalte. 275 Weil „alles vorgegeben“ sei, „was gesagt werden soll“, fordert auch Karl Barth, beim Predigen vor allem „den Gehorsam dem Text gegenüber zu wahren“: „Die Schrift soll alles von eigenen Meinungen, Wünschen und Gedanken säubern; es gilt in strenger Disziplin am Wort zu bleiben und nur das hören zu wollen, was das Wort sagt, nicht, was die große Öffentlichkeit, die engere Gemeinde oder das eigene Herz hören möchten. […] Ich habe nicht etwas zu sagen, sondern nur etwas nachzusagen. Wenn Gott allein 274 Vgl. Josuttis’ Analyse und Kritik der einseitigen Betonung des normativen Anspruchs des Textes (M. Josuttis, 1983, 386 f.). 275 A. D. Müller, 1954, 196. <?page no="148"?> 148 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt in der Predigt sprechen will, so darf weder Thema noch Skopus dazwischentreten. […] Wir haben die dem Text eigentümliche Gedankenbewegung einfach mitzumachen.“ 276 In Anbetracht solcher Postulate und kaum umsetzbarer Anweisungen nimmt es nicht wunder, wenn die wünschenswerte Verbindlichkeit der Kommunikation des Evangeliums häufig weder in Bezug auf die Person noch in Bezug auf die Hörer bedacht, sondern allein auf die Existenz eines Textes zurückgeführt wird. So heißt es in einer Predigt: „Geht uns das heute noch an? Etwas muss es mit uns zu tun haben, denn der Text steht in unserer Heiligen Schrift, im Neuen Testament, im Evangelium des Matthäus. Und wir gehen doch davon aus, dass jedes Wort der Heiligen Schrift wichtig für uns und unser Leben ist. Also wollen wir uns auf den Weg machen, um den Text Stück für Stück kennenzulernen und zu einem Stück unseres Lebens werden zu lassen.“ 277 Dieses Textverständnis ist eine homiletische Sackgasse. Es fällt in der Konsequenz auch hinter das zurück, was Müller oder Barth mit ihren Thesen über die Bedeutung des Textes gemeint haben. Freilich ist auch die Kategorisierung des Textbegriffs in der Homiletik dieser beiden Autoren problematisch und provoziert solche Missverständnisse, wie sie in der eben zitierten Predigt zur Geltung kommen. Als einer homiletischen (nicht nur theologischen) Kategorie kommt der Verbindlichkeit des Textes eine Funktion zu, die nicht proklamiert werden kann, sondern Resultat eines Prozesses ist, sich also erweisen muss: Der Text wird verbindlich in der Auseinandersetzung mit ihm, also in der Situation der Predigtvorbereitung bzw. beim Predigen und Hören. Dann aber wird er in dem Maße verbindlich, wie er - im oben formulierten Sinn - historisch wird und das Zeugnis des Predigers und Hörers nach sich zieht. 278 c) Der Text als Argument der Verlässlichkeit In der Bezugnahme auf einen Bibeltext drücken sich nicht nur Autorität und Verbindlichkeit aus. Der Textbezug trägt auch dem Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit im Sinne von Verlässlichkeit Rechnung. Das äußert sich z. B. in der Erwartung, die Predigt erhalte durch ihren Bezug auf den Text als bewährtes Glaubenszeugnis der Christenheit Anteil an der Solidität und Validität der Heiligen Schrift. 276 K. Barth, 1986, Reihenfolge der Zitate: 74. 77. 34 f.; Hervorhebung W. E. 277 Predigtmanuskript mit Bezug auf Mt 12,1-8. 278 Vgl. Phase III und IV in Abbildung 1 unter I.1. <?page no="149"?> 149 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Auch diese Form des Schriftbezugs begegnet bereits in der Rezeption des Alten Testaments durch das Neue, und zwar besonders an solchen Stellen, in denen Verheißungen zur Sprache kommen, die ,naturgemäß‘ für eher unwahrscheinlich gehalten werden. Das trifft beispielsweise für die paulinische Auferstehungsverkündigung zu: Nicht nur die Auferweckung Jesu wird als Geschehen „nach der Schrift“ bezeugt (vgl. 1 Kor 15,1-11), sondern auch die eigene Auferstehung wird durch den Bezug auf „die Schrift“ als äußerst verlässliche Tatsache vor Augen gestellt: Unter Aufnahme von Aussagen der Genesis sowie der Psalmen und Propheten wird im 1. Korintherbrief mit immer neuen Argumenten verdeutlicht, dass an der Glaubwürdigkeit der Botschaft von der Auferstehung der Toten und von einem ewigen Leben kein vernünftiger Zweifel bestehen kann (vgl. 1 Kor 15,12-58). Dem Verlässlichkeitsargument zufolge trägt der Text dazu bei, dass selbst ein noch so sperriges und gewagtes Zeugnis im Rahmen einer Predigt Vertrauen zu erwecken vermag, weil es im Zusammenhang anderer unerhörter (Text-) Zeugnisse steht, die sich bereits als vertrauenswürdig erwiesen haben. Weil der Text „es“ sagt, stimmt die Predigt. Das Verlässlichkeitsargument greift freilich von seiner eigenen Logik her in allen den Fällen nicht, in denen Prediger nicht zu einem eigenen Zeugnis und einer entsprechend klaren theologischen Haltung vordringen, sondern sich auf eine abstrakte, paraphrasierende Wiederholung der Textaussagen bzw. auf das bloße Ventilieren des Textes beschränken. In Anbetracht dessen ist der Versuch, ausgerechnet dieses Argument wiederum des Predigers wegen ins Feld zu führen, zutiefst fragwürdig: Nach Hans Urner ist der Textbezug nichts anderes als ein Akt des Gehorsams, der zu verhindern habe, dass der Prediger seiner Gemeinde etwas anderes mit auf den Weg gebe als Gottes Wort. Bei dieser Argumentation wird übersehen, in welchem Maße gerade der Eindruck der Verlässlichkeit der Predigt von der Beziehungsebene zwischen Prediger und Hörer mitbestimmt wird. „Wenn eine Predigt nur in solchem Gehorsam besteht, dann muss sie Auslegung der Schrift sein, dies zuletzt und zuerst und gar nichts anderes.“ Die Auslegung des Schriftwortes erfolgt „in der Gewissheit des Glaubens, dass es uns Gottes Wort selber sagt“. Und deshalb darf „Verkündigen […] nichts anderes sein als Weitersagen.“ Wer ohne Text daherkomme, verschweige Gottes Wort; und wer sich auf einen Text beziehe, aber dabei Eigenes, Persönliches ins Spiel bringe, bleibe seiner Gemeinde ebenfalls das Wort Gottes schuldig, indem er es durch „tiefsinnige Erkenntnisse“ und „eigene Phantasie“ <?page no="150"?> 150 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt verdränge. „Was Gott uns zu verkündigen hat, das steht im Text und nirgends sonst.“ 279 - Fragt sich nur, wie „Gott verkündigt“ hat, als die Glaubenden das noch nicht einem vervielfältigten Text entnehmen konnten. Im Rückblick auf den Textfetischismus am Ende der Epoche der Dialektischen Theologie ist es geradezu erschreckend, mit welcher Nachhaltigkeit der Stellenwert der eigenen Erfahrung, der eigenen Emotionen und - last but not least - des eigenen Denkens für die Aneignung und Kommunikation des Glaubens tabuisiert wurde. 280 Wer Gott für uns ist, erfahren wir einerseits aus der Schrift, andererseits (und in anderer Weise) erfahren wir es mit unserem Leben und von anderen Menschen - wie denn auch Menschen einst die biblischen Texte verfasst haben. Beim Textbezug geht es also keinesfalls um die Ausdifferenzierung des verlässlichen „Wortes Gottes in der Schrift“ aus den unverlässlichen Worten von Menschen, sondern die Lehre von der Predigt hat sich insofern mit dem Text zu befassen, als dieser die Erfahrung der Verlässlichkeit Gottes im Leben des Menschen mit Worten von Menschen bezeugt. Wer aus Gründen der Wahrheit, der Verbindlichkeit und der Verlässlichkeit der Botschaft stereotyp fordert, dem Text nichts hinzuzufügen, sondern weiterzusagen, was dasteht, muss sich den berechtigten Vorwurf gefallen lassen, die hermeneutischen Bedingungen des Predigtprozesses nicht hinreichend bedacht zu haben. 3.2.3 Hermeneutische Probleme des Textbezugs Die Tatsache, dass wir in der Predigt mit Bezug auf die Heilige Schrift kommunizieren, die das „Wort Gottes“ in Druckbuchstaben bezeugt, wirft die Frage auf, worin sich die Rezeption von Texten von einer gesprächsweisen Kommunikation unterscheidet. Das fundamentaltheologische „Sola-Scriptura-Prinzip“ ist insofern nicht unmittelbar als Auslegungs- und Predigtmaxime anzuwenden, als 279 H. Urner, 1961, 69. 71. 73 f. 280 Dem sich darin abzeichnenden Sicherheits- und Verlässlichkeitsanspruch wird man aber auf diese Weise gerade nicht gerecht, wie H.-O. Wölber schon 1957 erkannte: „Der Prediger […] hält sich in der Regel scharf an den speziellen Text. Er sagt sogar nicht: ‚Gott spricht‘ oder ‚ich denke‘, sondern ‚der Text sagt‘, ‚dieser Text überwindet uns‘ usw. Der Text wird zu einer eigenen Größe. Aber dies tut der Prediger […], um einen Sicherungspunkt zu haben, auf solche Absicherung ist er theologisch material[iter] grundsätzlich eingestellt. […] Er bringt das Arsenal. […] Er missversteht die Predigt als theologisches System“ (H.-O. Wölber, [1957] 1971, 368 f.). <?page no="151"?> 151 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik wir, indem wir „die Schrift auslegen“ und predigen, notwendigerweise auch über die Schrift sprechen. Dabei werden die Worte der Schrift notwendigerweise mit Worten angereichert, die nicht „die Schrift“ sind. Die Aussage, dass „Gott in der Schrift zu uns redet“, ist natürlich eine theologische. Sie ist symbolisch zu verstehen. „In der Schrift“ wird nämlich grundsätzlich nicht geredet, sondern ausschließlich geschrieben. Nimmt man die Schrift in diesem Sinne ernst (sola scriptura), und nimmt man die Herausforderung, sie auch zu verstehen, ebenfalls ernst, muss man sich sowohl aus methodischen wie theologischen Gründen mit den Bedingungen der schriftlichen Form der Glaubenszeugnisse und den Bedingungen ihres Verstehens befassen. Dabei wird unterstellt, dass für die Verstehbarkeit der Bibel keine Sonderkonditionen reklamiert werden müssen. Wie eine inkarnatorisch argumentierende Theologie daran festhalten muss, dass Gott sich in der Person Jesu unter den Bedingungen des Menschseins offenbart hat, so gilt von seinem Wort, dass es - unter anderem - auch in die Bedingungen eines Textes eingeht und sich unter den Bedingungen von Texten erschließt. Das Sola-Scriptura-Prinzip ist im Kern Ausdruck einer emanzipatorischen Hermeneutik, die sich von den Interpretationsvorgaben der römischen Tradition gelöst hat; der Einzelne steht der Bibel als Ausleger unmittelbar gegenüber - ohne dazwischengeschaltete Autoritäten. Im Folgenden werden zunächst drei mit Problemen behaftete Modelle des Textbezugs rekonstruiert; sie sind zwar keine Empfehlung für die Predigtarbeit sind, ermöglichen aber eine detaillierte Erörterung der Gründe und Perspektiven, die beim Textbezug der Predigt zu beachten sind. a) Unmittelbare Auslegung und die Bedingungen von Literatur Bei einer „unmittelbaren Auslegung“ eines Textes werden die Bedingungen seiner Schriftlichkeit faktisch nicht akzeptiert. Dies trifft für all jene Anwendungen eines Textes zu, die aus der oben (I.1.2) schon angesprochenen Ungleichzeitigkeit der Situationen von Autor und Leser keine Konsequenzen ziehen. Unmittelbare Auslegung heißt, einen willkürlichen Bogen zu schlagen von dem, was dasteht, zu dem, was es heute bedeutet - ohne gefragt zu haben, was es wohl damals bedeutet haben könnte und was es heute zu sagen gilt. Die damit artikulierte Kritik richtet sich nicht gegen eine „zweite Naivität“ im Umgang mit der Bibel. Die braucht man - zumal als Theologin oder Theologe -, um die Texte auch „einfach so“ oder „nur“ mit dem Interesse lesen zu können, sich an ihnen zu erfreuen und sich zu erbauen. Es ist wichtig, Texte auch ohne <?page no="152"?> 152 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt ein vorgeschaltetes exegetisches Sezieren im Gesamtzusammenhang meditieren zu können, Parallelen zu ähnlichen Texten zu assoziieren oder sich lesend zum Gebet führen zu lassen. Rudolf Bohren forderte zu Recht, dass solche Lektüre in der persönlichen Vorbereitung auf die Predigt ihren Platz finden soll. In diesem Kapitel geht es jedoch um die Frage, was es heißt, zu einer dem Text angemessenen Interpretation zu gelangen und den Text methodisch fachgerecht in die Predigtarbeit aufzunehmen. In gewissem Sinne hat auch die unmittelbare Auslegung „Methode“: In der Regel werden einzelne Formulierungen des Textes ausgewählt, als Lösung gegenwärtiger Fragen angeboten und zur Etikettierung von Lebens- und Glaubenserfahrungen verwendet. So wird z. B. der Schlusssatz aus der Perikope von den „Arbeitern im Weinberg“ 281 häufig dazu verwendet, um kurzerhand zu folgern, dass „vor Gott auch heute jeder eine Chance“ habe. Ob der Text nicht eine andere, theologisch konkretere Pointe haben könnte - die man leichter wahrnimmt, wenn man sich klar gemacht hat, dass dieser Satz ein späterer Zusatz ist -, wird häufig nicht gefragt. Besonders verhängnisvoll erweist sich diese Strategie der unmittelbaren (also un-vermittelten) Anwendung dann, wenn das jeweils willkürliche In-Beziehung-Setzen des Textes zu einer scheinbar naheliegenden Facette des Lebens der Hörer damit begründet wird, dass man ja „nur den Text ernst nehmen“ und „nur gelten lassen“ wolle, was dastehe. Unmittelbare Auslegung bezieht sich häufig auf Passagen der (literarisch geschaffenen) wörtlichen Rede, auf die „Stimme Gottes“, auf „Worte Jesu“, auf prophetische Sätze usw. - also auf die Ebene der im Text selbst gebotenen Zitate. Dabei wird meist außer Acht gelassen, was mit den Figuren, die im Text erscheinen, eigentlich geschieht, vor welchen Entscheidungen sie stehen, welche Identifikationsangebote dem Leser dadurch unterbreitet werden usw. Herausgerissen aus der konkreten Situation verlieren solche Einzelworte ihre kontextuelle Relevanz und werden zu universell einsetzbaren, ungeerdeten Behauptungen über das Tun und Lassen Gottes. 282 281 „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Mt 20,16). 282 Bei der Analyse einer Reihe von Predigten mit Bezug auf Gen 28,10-19a ist mir aufgefallen, in welch starkem Maße ein Wort wie „Ich bin mit dir und will dich behüten“ (V. 15) dazu verleitet, es in lediglich allgemeiner und abstrakter Weise zum „Thema“ der Predigt zu machen. Texte mit konfirmations- und trauspruchreifen Sätzen haben es offensichtlich schwer, in ihrem spezifischen, spannungsreichen Bezug zu konkreten Lebenswelten verstanden zu werden. Häufig werden entsprechende „Kernsätze“ nur als Aufhänger für banale Allgemeinplätze verwendet, ohne dass es zu einem tieferen Verständnis ihrer Pointe im Licht der gesamten Perikope käme. <?page no="153"?> 153 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik So wird der Text gerade nicht ernst genommen, sondern der Leser bzw. Hörer wird um die Möglichkeit gebracht, es sozusagen mit dem Ernst des Textes zu tun zu bekommen, Widerspruch zu empfinden, sich einer anderen Auffassung zu stellen und - statt mit markigen Sprüchen - mit den Erfahrungen und Überzeugungen konfrontiert zu werden, die zu diesem Text geführt haben. Einen Text ernst zu nehmen, hat damit zu tun, ihn als Resultat einer Auseinandersetzung zu verstehen und ihn nicht als Stichwortlieferanten zu missbrauchen. Unmittelbare Auslegung übersieht die Bedeutung der Situationsgebundenheit des Textes. Die Literaturwissenschaft verweist daher auf die Ungleichzeitigkeit der Situationen von Autor und Leser, um klarzustellen, dass Texte immer eine über-setzende Vermittlung durchlaufen müssen, bevor man von einem Verstehen sprechen kann. In der gesprochenen Rede sorgt die gemeinsame Situation in der Regel für Klarheit: „Übermorgen“ bedeutet „übermorgen“, „heute Abend“ bedeutet „heute Abend“. Wenn solche Formulierungen in einem Text stehen, der zu einem ganz anderen Zeitpunkt rezipiert wird, muss der Leser - schon allein aufgrund der Ungleichzeitigkeit der Situationen - „damals“ oder wenigstens „vorgestern“ denken. Dieses Umdenken ist auch auf anderen Ebenen erforderlich: Im Hinblick auf heute nicht mehr geltende kulturelle Gewohnheiten ebenso wie hinsichtlich religiöser Bräuche, Weltvorstellungen und Zukunftserwartungen. So ist es beispielsweise nicht damit getan, Hörern das Jüngste Gericht als die Situation zu erklären, in der ihnen aus einem Buch der guten und bösen Taten vorgelesen wird, und ihnen eine letzte große Generalbelobigung oder -bestrafung in Aussicht zu stellen. Es ist aber zu fragen, was diese Rede damals bedeutet hat und auf welche Weise das Anliegen dieser Rede heute in neuer Gestalt zur Sprache kommen kann. Damit kommen wir auf eine weitere Überlegung zu sprechen, die uns nahelegt, von der verführerischen Praxis einer unmittelbaren Auslegung Abstand zu nehmen: Der Verfasser eines Textes schreibt nicht nur aus seiner Situation heraus; indem er schreibt, stellt er zugleich Adressaten in Rechnung, die den Text in einer anderen Situation lesen werden. Das heißt, dass er bis zu einem gewissen Grade von seiner konkreten Situation abstrahieren muss, um Missverständnissen vorzubeugen. Er tut dies freilich in der Erwartung, dass sein Text von Lesern zur Interpretation angenommen wird, und dass sie zu adäquaten, analogen, jedenfalls zu eigenen Konkretionen gelangen. Einseitige Fixierungen auf den „Sitz des Textes im Leben damals“ untergraben den Versuch des Verfassers, <?page no="154"?> 154 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt dem jeweiligen Text eine Bedeutung zu geben, ihm eine Idee einzupflanzen, die den Rahmen seiner eigenen Situation sprengt, überschreitet oder doch über sie hinausweist. Unmittelbare Textauslegung operiert mit passepartout-ähnlichen Abstraktionen des Textes, statt nach konkreten Dreh- und Angelpunkten in der Lebenswelt der Hörer zu fragen, nach jenen Situationen, in denen das, was da im Text steht, Bedeutung gewinnen kann. Natürlich gibt es Kontexte spirituellen Lebens - z. B. die Morgenandacht vor einer Dienstbesprechung oder die Meditation eines biblischen Textes -, in denen man einen Text auch unmittelbar und assoziativ deuten kann, um Worte aus der Situation damals unmittelbar in die heutige mit hineinzunehmen. Dann muss man aber wissen, was man tut: In den genannten beiden Fällen greift man auf Formen christlicher Spiritualität zurück, zu deren Regeln es gehört, Texte gerade nicht wissenschaftlich zu sezieren, sondern sie unmittelbar zur eigenen Erbauung zu rezipieren. Dies (allein) kann und soll freilich nicht das leisten, was von einer Auseinandersetzung mit dem Text nach den Kunstregeln von Exegese und Hermeneutik im Vorfeld der Predigt zu erwarten ist. Daher ist die frühere Tendenz der Homiletik dialektisch-theologischer Prägung, sich mit Bezug auf die skizzierten traditionellen Argumente für den Textbezug skeptisch zur Leistung der Exegese zu äußern, wenig überzeugend. 283 b) Historische Auslegung und das Problem des historischen Autors Die traditionellen Argumente für den Textbezug gehen mehr oder weniger betont davon aus, man werde durch die „exakte Feststellung […] des ursprünglichen Sinnes“ in die Lage versetzt, „dem Text nicht einen neuen oder anderen Sinn geben [zu müssen] als den so ermittelten“ 284 . Wenngleich man dabei - um der menschlichen Kurzsichtigkeit willen - ein paar Abstriche macht und sich mit „annähernder Richtigkeit“ 285 begnügt, bleibt als ausgesprochene oder unausgesprochene Forderung immer im Raume stehen, durch eine „hörende“, „anklopfende“, „Eigenes zurückhaltende“ Beschäftigung mit dem Text zu dem Sinn vorzudringen, den ihm sein Autor gab. Historisch-kritische Auslegung ist in gewissem Sinne das Gegenmodell zu dem zuvor unter a) skizzierten Prinzip. Sie ist von der Erwartung bestimmt, der 283 Vgl. hierzu die Kritik Manfred Mezgers an Rudolf Bohren in: M. Mezger, 1989, 92. 104. 284 H. Urner, 1961, 70 f. 285 A. a. O., 72. <?page no="155"?> 155 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Ursprungsintention möglichst nahekommen zu können. Dazu gehört es, literarische und historische Kontexte in Rechnung zu stellen, überlieferungs- und redaktionsgeschichtliche Zusätze und Streichungen zu erkennen, um schließlich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen zu können, was der „bereinigte Text“ bzw. die „best erhebbare Textgestalt“ 286 einmal bedeutet haben mag. Auch wenn man sich in den vorausgegangenen Jahrhunderten noch nicht der verfeinerten Methoden historisch-kritischer Exegese zu bedienen vermochte, wurde diese am Ursprungssinn des Textes anknüpfende Auslegung, seit es sie gab, immer für grundsätzlich möglich und geboten gehalten. Schon die großen Ausleger der Alten Kirche berufen sich wie selbstverständlich auf eine persönliche Zielsetzung der biblischen Autoren. Augustin redet beispielsweise vom „propositum“ als von der Absicht Moses beim Schreiben der Genesis. Im Zeitalter der Scholastik macht, angeregt durch Thomas von Aquin, die Prämisse vom „Hauptsinn, den der Autor intendierte“, die Runde. Auch die europäischen Humanisten, so z. B. J. Clichtove, glauben an Methoden der Auslegung, nach denen „die Dinge so verstanden werden, wie es die Autoren beabsichtigt haben“. Und noch die Hermeneutik der frühen und mittleren Phase der Aufklärung ist im Hinblick auf die Auslegung biblischer und anderer alter Texte von der Überzeugung bestimmt, dass man den historischen Autoren durchaus „aequi“, gleich(zeitig) werden könne. 287 In der Predigtpraxis schlagen sich die Nachwirkungen dieses Bewusstseins häufig in unbekümmerten Rekursen auf das nieder, was „Paulus damals wollte“, „wessen er sich bewusst war, als er schrieb“, „was ihm deutlich vor Augen stand“, was „er höchstwahrscheinlich ahnte“ usw. Der Effekt ist ein ähnlicher wie bei der unmittelbaren Auslegung: Der Text selbst, der Text als Ganzer mit seiner spezifischen Struktur von Sinngenerierung und Sinnverweigerung, der Text in seiner Individualität, etwas so zur Sprache zu bringen, wie kein Text sonst es zur Sprache bringt, spielt keine Rolle mehr. Er wird nicht mehr gebraucht. Dem Prediger genügt es, zu wissen, was der Verfasser des biblischen Textes wollte bzw. was der Text historisch bedeutete. Das Aussagevermögen des Textes kann freilich durch die vermeintliche Klärung seiner historischen Funktion auch boykottiert werden. 288 286 Nach M. Mezger wird der Ausleger damit der „verbalen Verbindlichkeit“ des Textes gerecht (1989, 98). 287 Vgl. meine Untersuchung 2003e, 109 und die Literatur ebd. 288 So heißt es z. B. in den exegetischen Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript zu 2 Sam 12,1-15a im Fazit: „Der Text macht deutlich, wieso eigentlich Salomo Nachfolger wird.“ <?page no="156"?> 156 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Um Missverständnissen vorzubeugen, muss an dieser Stelle erneut auf die Legitimität historisch-kritischer Exegese verwiesen werden. 289 Wir wissen heute so viel über die historischen Umstände in Bezug auf die Entstehung und die Funktion der einzelnen Texte und biblischen Bücher wie keine Generation vor uns. Wer sich nicht mit der Frage nach dem Sitz im Leben des Textes befasst, entbehrt wichtiger Voraussetzungen seiner Interpretation. Wer aber das Fazit „Der Verfasser wollte sagen“ schon als Resultat der Auslegung gelten lässt, übersieht, unter welchen Voraussetzungen der Verfasser schrieb. Wir müssen hier die oben angeführten Bedingungen von Literatur um eine wesentliche erweitern: Wer schreibt, lässt den Text an seiner Stelle sprechen. Der Text tritt an die Stelle des Autors. Roland Barthes spricht in Zuspitzung dieses Sachverhalts vom „Tod des Autors“ 290 . Dieser Ausdruck ist der literaturwissenschaftliche terminus technicus für die einfache Tatsache, dass ein Autor, nachdem er geschrieben und seinen Text in Umlauf gebracht hat, insofern hinter seinen Text zurücktritt, als er in dem nun anbrechenden Prozess der Rezeption nicht als Interpretationsgehilfe zur Verfügung steht. Es gehört zum Akt des Lesens, sich nicht auf die ,hinter‘ dem Text stehende historische Welt fixieren zu können, sondern die im Text selbst entworfene Welt in die Auslegung einbeziehen zu müssen. 291 Vorerst bleibt festzuhalten, dass es einer lebendigen Produktion und Rezeption von Texten (insofern eine tautologische Formulierung, als es immer ein schöpferischer Akt ist, Texte zu „produzieren“ oder sie zu „rezipieren“) widerspricht, sie einem historisierenden Autorsinn zu unterwerfen. Der „Tod des Autors“ erfordert es, den Text zur Interpretation anzunehmen und zu einem Verständnis zu gelangen, das der Autor, der weder mich noch meine Situation kannte, zwar nicht vorauszusehen vermochte, das er aber durch seinen Text doch ermöglichen konnte. Eine Deutung, verstanden als Autorsinn-Erforschung, implizierte streng genommen die Möglichkeit, ein abschließbares Buch mit den unverän- In einem anderen Resümee wird als Ertrag der Exegese festgehalten: „Die Perikope versucht ihren Beitrag [zur Einheit der Kirche] zu leisten, indem sie die Geschichte und die Gestalt des Paulus kerygmatisiert und ihn also zum Urbild des geretteten Sünders stilisiert“ (Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Tim 1,12-17). 289 Ausführliche Erläuterungen dazu - mit Textbeispiel - im Kapitel I.3.3. 290 „La voix perd son origine, l’auteur entre dans sa propre mort, l’écriture commence“ (R. Barthes, 1994a, 491). 291 Unter I.3.3.1 kommen wir auf die vielfältigen Möglichkeiten einer solchen Vorgehensweise zu sprechen. <?page no="157"?> 157 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik derlichen, historisch-kritisch ermittelten Interpretationen der biblischen Texte zu schreiben, das fortan als Ergänzungsband zur Bibel im Umlauf sein müsste. 292 Überdies wird bei der historischen Auslegung häufig die Möglichkeit überschätzt, sich selbst - als Ausleger - tatsächlich „enthistorisieren“ zu können. Wer einen 2000 Jahre alten Text, geschrieben in fremder Sprache, in eigener Sprache verstehen und zu einer Interpretation in eigener Sprache gelangen will, kann gar nicht in solchem Maße von seiner gegenwärtigen Situation absehen, wie dies de facto unterstellt und gefordert wird. Kein Ausleger kann zu einer historisch-objektiven Interpretation gelangen; sie stellte einen Widerspruch in sich selbst dar. Der Versuch eines Predigers, den fremden Text und dessen fremde Botschaft unter Ausblendung eigener Überzeugungen und Leseerwartungen zu reformulieren, würde die Brauchbarkeit der Interpretation für seine Situation und die Gegenwart seiner Gemeinde in Frage stellen. 293 Ein solcher Umgang mit Texten zieht weitere Probleme nach sich: Wie verfährt man mit Texten, die auf große Autoritäten (wie z. B. den „Jahwisten“) zurückgeführt werden können, die jedoch so normierend - also ohne an der intentio auctoris interessiert zu sein - bearbeitet wurden, dass man vor der Frage steht, welchen der am Entstehen des vorliegenden Textes beteiligten Autoritäten und Autorsinne man zu respektieren geneigt ist. Harold Bloom weist auf die Gefahr hin, sich den Autor zu suchen, den man braucht. 294 292 Von daher bleiben Zweifel am Zustandekommen einer optimierten Exegese, wie M. Mezger sie offenbar für möglich hält: „Wem nicht schon in der Exegese […] die Leitgedanken der Predigt ‚mit einem Satz‘ ins Gesicht gesprungen sind, der schafft’s in der Meditation auch nicht mehr. […] Man findet die Welt, den Menschen, die Gemeinde und sich selbst ziemlich getreu porträtiert im Text - oder man versteht sein Handwerk nicht“ (M. Mezger, 1989, 105; Hervorhebung W. E.). Von der Exegese zu den Leitgedanken der Predigt - genau darin liegt ein zentrales Problem. Dass ein Ausleger „sein Handwerk nicht versteht“, wenn er jenen Grundgedanken nicht schon bei der Exegese seines Textes getreu darin abgebildet findet, ist nicht nur nicht zwingend - es wäre auch bedenklich, wenn es sich so verhielte. Das Bewusstsein, dem Text auf diese Weise beikommen zu wollen, könnte sich gerade als Bedrohung des Textsinnes erweisen. 293 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen zur hermeneutischen Herausforderung der Interpretation des Evangeliums von Ronald J. Allen, 1998a. 294 Vgl. H. Bloom, 1991, 16 f. <?page no="158"?> 158 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt c) Das Kerygma-Modell und die Vieldeutigkeit der Texte Es wäre sicher eleganter, vom „kerygmatischen Modell“ zu sprechen. Dies könnte aber den unberechtigten Verdacht erwecken, dass anderen Versuchen der Auslegung eines Textes ein kerygmatisches Interesse abzusprechen wäre. Wenn in der Phase der Predigtvorbereitung vom „Kerygma“ die Rede ist, geht es um ein ganz bestimmtes Verständnis von Textauslegung: Der Ausleger soll seinen Text so lange befragen, bis er „mit dem Begriffsmaterial des Verfassers oder Redaktors einer Schrift und unter Berücksichtigung der homiletischen Situation seiner Leser“ - d. h. der Leser des Verfassers damals - den „kerygmatischen Gehalt“ des Textes als dessen „Skopus“ zusammenfassen kann. 295 Es hat zwar im Einzelnen Abstufungen und Variationen dieses Verfahrens 296 gegeben. Sie sind sich jedoch alle darin einig, dass man mit dem Kerygma den Verkündigungsgehalt des Textes zu einem Satz verdichten kann: Die „für die Predigt nötige Exegese“ ist geleistet, wenn ich „mir über folgende drei Dinge klar geworden bin: I. Welches ist der Hauptsinn meines Textes? II. Durch welche Nebenskopoi wird dieser Hauptsinn […] unterstützt? III. Wie dienen die einzelnen Verse meines Textes dem Hauptskopus bzw. den Nebenskopoi? “ Dabei gilt: Nebenskopoi, „die dem Hauptskopus zuwider sind, [können] für die weitere Predigtarbeit unberücksichtigt bleiben“ 297 . Natürlich ist es wichtig, die Bemühungen um ein theologisches Verständnis des Textes nicht im Sande verlaufen zu lassen. Dem entspricht es, als Ergebnis der Beschäftigung mit dem Text festzuhalten, was sie erbracht hat und was im Gespräch mit dem Text deutlich geworden ist. Nur so kann man den weiteren Schritten eine bestimmte Richtung geben und auf dem homiletischen Arbeitsfeld Markierungen vornehmen, Wegweiser anbringen, um für die anstehende theologische Auseinandersetzung den Boden zu bereiten. Es ist jedoch zu fragen, ob bereits die Ergebnisse der Exegese in einem kerygmagesättigten Zielsatz untergebracht werden müssen. Wird man einem Text nicht besser gerecht, wenn man zunächst festhält, welche Aussagen er möglich macht, welchen er 295 Nach L. Fendt, 1970, 64 f. 296 W. Marxsen legte z. B. Wert darauf, dass im Skopus nicht nur Redender (nach J. Schieder immer Gott als Subjekt [1957, 65]) und Hörende genannt werden, sondern dass außerdem das zu Sagende in die Situation der historischen Hörer hineingestellt wird (W. Marxsen, 1957, 54). 297 L. Fendt, 1970, 65. <?page no="159"?> 159 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik sich widersetzt und inwiefern in diesem Text Glaubenserfahrung zur Sprache kommt? Damit kommen die Probleme des „Kerygma-Prinzips“ in den Blick: 1. Es ist im Hinblick auf die Wirklichkeits- und Erfahrungsbezogenheit der Predigt problematisch, die Predigt aus einem Destillat zu gewinnen und auf das als zu profan empfundene Textganze zu verzichten. Kerygmatische Konzentrate lassen nicht mehr erkennen, unter welchen Umständen, durch welche Zweifel hindurch und mit welchen Erwartungen ein Text als Zeugnis des Glaubens formuliert wurde. Es könnte einen faden Geschmack hinterlassen, wenn das „Kerygma“ - einem Brühwürfel gleich - mit Wasser verdünnt, den Hörern als Predigt offeriert wird. 2. Der Weg zum „Kerygma“, auf dem ein „Hauptsinn“ erarbeitet wird und auf dem störende „Nebenskopoi“ erklärtermaßen ausgeblendet werden, ist in gefährlichem Maße der Willkür des Auslegers ausgesetzt. Das zeigt sich schon darin, dass diejenigen Theologen, die „das Kerygma“ als Antwort auf die Frage nach dem Verkündigungsgehalt eines Textes gefordert haben, in Predigten mit Bezug auf gleiche Texte ganz unterschiedliche Kerygmata zu proklamieren wussten. 3. Es besteht die Gefahr, dass das Hineinsprechen des Kerygmas in die Wirklichkeit der Hörer zu Kurzschlüssen führt: Worauf ließen sich die Destillate von Texten, häufig als theologische Proklamation oder als allgemeine Behauptungen formuliert, nicht beziehen? Dieses Verfahren schenkt der hermeneutischen Frage nach der Analogie zwischen den Erfahrungen, deren Resultat der Text ist, und den Erfahrungen, die Menschen heute machen, zu wenig Aufmerksamkeit. 4. Schließlich ist es hoch problematisch, die Erschließung und - im Rahmen des Predigtgeschehens - die temporäre Bändigung der Bedeutungen des Textes zu einem Hauptsinn als exegetisch zwingend hinzustellen. Das Problem verstärkt sich angesichts der Forderung, diesen Hauptsinn mit dem Begriffsrepertoire des Textes zu formulieren. Wie soll das zugehen, wenn doch von diesem Text erwartet wird, dass er über sich hinausweist und für uns Heutige relevant ist? Plausibler wäre es, nach erfolgter Exegese die verschiedenen Sinnrichtungen des Textes zu bilanzieren, ihre Verankerung in der Lebenswirklichkeit der Hörer zu reflektieren und aufgrund hermeneutischer Erwägungen eine homiletisch-didaktisch begründete Reduktion vorzunehmen. <?page no="160"?> 160 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Angesichts dieser Probleme ist es angebracht, an die Einwände klassischer Ausleger zu erinnern: Man wird einem Text gerade nicht gerecht, wenn man „mit allen Kräften auf den Hauptsinn los(geht)“ 298 . Hieronymus und Origenes bekennen ohne Bedauern, dass sie beim Lesen der Schrift den Eindruck gewönnen, eine „infinitam sensuum siluam“ 299 bzw. eine „latissimam Scripturae silvam“ 300 zu durchschreiten, ja, einen „Ozean“ 301 , ein „Meer“ vor sich zu haben, einen „nicht ausschöpfbaren Strom“, der im Fließen neue Bedeutungen schafft. 302 Origenes hat mit seiner Grundunterscheidung zwischen literalem und geistlichem Sinn zur „Freiheit gegenüber dem Buchstaben aus Gehorsam gegenüber dem Geist“ ermutigen wollen. „Die Ursache einfältigen Redens von Gott“ komme daher, dass „die Schrift […] nur nach den nackten Buchstaben“ gelesen werde. Deshalb sollte man mehr darauf achten, quod significatur, als qualis verbis significetur. 303 Weil es „für die Menschen äußerst schwierig“ sei, die [in einem Text gemeinten] „Sachen“ zu finden - zumal, wenn die Schrift wie in „Rätseln“ und „dunklen Worten“ zu uns spreche -, stünden wir nicht vor der Aufgabe, den Leib dieser Schrift so lange zu traktieren, bis er endlich eine uns plausibel erscheinende Antwort darauf gebe, wie es gewesen sein möge. Da der Text einen plausiblen literalen bzw. historischen Sinn unter Umständen gar nicht enthalte, komme es darauf an, zu einer figurativen, „geistlichen“ Auslegung vorzudringen, also entschlossen danach zu fragen, wofür das stehe, was im Text zu lesen ist. 304 Denjenigen Sinn, „quem auctor intendit“, könne man allenfalls in Bezug auf den literalen Sinn eruieren. Dementsprechend besteht auch Thomas von Aquin 305 darauf, dass neben dem Autorsinn auch andere Sinne ernsthaft in Betracht gezogen werden. Augustin unter- 298 L. Fendt, 1970, 63. 299 Hieronymus, 1910, 609. 300 Origenes, 1989, 156. 301 Hieronymus, 1964, 677. 302 Weitere Quellenangaben bei W. Engemann, 2003e, 127. 303 Vgl. Origenes, 1976, 21. 23. 700. 799. Diese Unterscheidung kann freilich nicht als Vorbild für die sehr dicht postulierte Korrespondenz zwischen historischer Wahrheit und Kerygma dienen, da Letzteres (von den Vertretern dieses Ansatzes) immer als naheliegende Aktualität des historischen Sinnes verstanden wurde. Noch M. Mezger geht es in der Predigt allein darum, „das exegetisch Erkannte und als Textwillen klar Formulierte der Gemeinde [zu] sagen“ (1989, 105). 304 Vgl. Origenes, 1976, 701. 703. 705. 713. Für Origenes kam diese Entdeckung leider etwas spät: Jahre vor seiner Idee, bei der Interpretation der Bibel einen mehrfachen Schriftsinn zu unterstellen, sah er sich u. a. durch den sogenannten Eunuchenspruch (Mt 19,12) dazu veranlasst, sich „um des Himmelreiches willen“ kastrieren zu lassen. 305 Vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologica, I, q. I, 9 ad 2. <?page no="161"?> 161 3.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik stellt, dass sich die Autoren der weitreichenden spirituellen Bedeutung ihrer Texte, die sie kraft des Heiligen Geistes schrieben, nicht bewusst gewesen wären, weshalb die Texte der Schrift mehr sagten, als ihre Autoren beabsichtigten. 306 Melanchthon hat die erst zwei, dann drei, dann vier Sinne der Schrift 307 , nach denen das Mittelalter auszulegen pflegte, bestritten und stattdessen - ähnlich dem Insistieren auf dem Kerygma - einen geistlichen Sinn propagiert. Schließt man sich dieser Auffassung an, teilt man freilich auch die ganze Problematik dieser Hermeneutik, die sperrige Literalsinne mit Hilfe theologischer Gemeinplätze zurechtbiegen 308 muss. Es ist wohl kein Zufall, dass noch niemand auf den Gedanken kam, ein Hauptsinn-Buch für Prediger zu schreiben, in dem man das eine Kerygma eines jeden Textes nachschlagen könnte. Es ist weder möglich noch nötig, so etwas zu versuchen. Das reformatorische Schriftprinzip steht und fällt ja auch nicht mit der Eindeutigkeit erhebbarer Schriftsinne. 309 Einige jener Hermeneutiker der 306 Vgl. Augustin, 1962a, 24-27 sowie 1962b, 96-102. 307 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn wird in der Regel Nikolaus von Lyra zugeschrieben: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.“ Zitiert nach E. v. Dobschütz, 1921, 1. 308 Vgl. H. Sick, 1959, bes. 24-28, 43-47, 49-51. Zuletzt hat Paul S. Wilson versucht, einer nach seiner Wahrnehmung zu stark auf historisch-kritische Aspekte fokussierten Annäherung an biblische Texte in der Predigtarbeit durch die Erinnerung an die Kategorie des literalen bzw. geistlichen Sinns entgegenzuwirken (P. S. Wilson, 2001). Damit nimmt er eine klassische Überzeugung der homiletischen Hermeneutik auf, wonach exegetisch-historischer Sachverstand allein nicht genügt, um die persönliche Relevanz eines Textes für das eigene Leben aus Glauben zu erfassen. Wilson stellt die hier und da anzutreffende Verkürzung biblischer Texte auf ihren historischen Informationsgehalt zu Recht in Frage. Um diese homiletisch unfruchtbare Praxis zu überwinden, genügt es allerdings nicht, mit der Kategorie eines geistlichen oder literalen Textsinns zu operieren, den man (im Sinne einer Offenbarung) gleichsam nur bejahen oder ablehnen könnte. Wer predigt, kommt nicht darum herum, mit einem höchst eigensinnigen Text zu kooperieren und dessen Autorität darin zu sehen, dass er die Qualität eines Glaubenszeugnisses hat. Näheres dazu unten unter I.3.4.2, S. 187-192. 309 Luther selbst hat sich dem strengen Prinzip, nach dem einen Schriftsinn zu forschen - ein hermeneutisches Verfahren, das seinen eigenen theologischen Grundsätzen durchaus nahekommt -, in seiner Predigtpraxis nur gelegentlich untergeordnet. Er hat, wie nicht zuletzt seine bildhafte, assoziationsreiche Sprache und seine Bezugnahmen auf mehrere biblische Texte in einer Predigt zeigen, häufig auf das „Nacherleben des Inhalts“ bzw. auf seinen „genialen Instinkt“ gesetzt und sich ansonsten auf den Heiligen Geist verlassen. Vgl. dazu K. Holl, 1932, 578. 569. <?page no="162"?> 162 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Aufklärung, die lange Zeit die Recherche des einen Ursprungssinnes auf ihre Fahnen geschrieben hatten, kamen in ihren späteren Arbeiten zu der Einsicht, dass „jeder Text […] hinsichtlich der möglichen Auslegung unerschöpflich“ sei, so dass „jede Interpretation, auch wenn sie richtig ist, […] verbessert werden“ könne, und zwar so weit verbessert, dass der Leser gegebenenfalls besser verstehe als der Autor des Textes. 310 Die bald historisch, bald kerygmatisch konstruierte Alternative zwischen Autorintention und Leseinteresse schenkt dem Umstand zu wenig Beachtung, dass das Verstehen und Interpretieren von Texten ein schöpferischer Akt ist, der nicht ausgeführt werden kann, ohne dem, was dasteht, etwas hinzuzufügen, was nicht dasteht. Dass man sich dabei dennoch auf der Basis des Textes bewegen kann, wird erst verständlich, wenn man ergänzend einen dritten Weg - jenseits der Konkurrenz zwischen historischem oder kerygmatischen Textsinn und Leseintention - ins Auge fasst: Die Kooperation zwischen Text und Leser. 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Die oben angesprochenen Probleme werfen die Frage auf, welche Möglichkeiten Prediger haben, sich in verantwortlicher Weise auf den Text zu beziehen und über das historisch Erhebbare hinauszukommen, ohne dabei vorschnellen Anwendungen aufzusitzen. Wenn wir im Weiteren von „Textbezug“ der Predigt sprechen, beschränken wir uns zunächst auf die Funktion des Textes in der Vorbereitungsphase der Predigt, in der - begleitet von der Auseinandersetzung unter anderem mit einem Text - ein Predigtmanuskript bzw. der Entwurf einer Rede entsteht. 311 In der dritten und vierten Phase des Predigtgeschehens tritt die Predigt gewissermaßen zusammen mit dem Text an die Stelle des Textes. Ob und wie dann in der Predigt der Text erneut erscheint, ist vor allem eine Frage ihrer Gestaltung. Das Entscheidende im Hinblick auf die Interpretation und Rezeption des Textes geschieht an früherer Stelle. Was ist in Bezug auf diesen Akt zu berücksichtigen? 310 L. C. Madonna (1994, 35) mit Bezug auf die Hermeneutik Christian Wolffs. 311 In meinem Schema zu den Komponenten, Phasen und Situationen des Predigtprozesses (vgl. Abb. 1, S. 27) gehört dieser Akt zur Phase II bzw. „Situation I des Predigers“. <?page no="163"?> 163 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 3.3.1 Das Kooperationsmodell a) Das Modell der Textwelten und Autorbzw. Leserinstanzen Die Problematisierung primär historischer oder kerygmatischer Zugänge zum Textsinn bedeutet nicht, dass der Prediger sich selbst überlassen wäre bei dem Versuch, einen Text zu interpretieren. Der historische Autor steht dem Leser als „textinterner Autor“ zu den Bedingungen des Textes zur Verfügung. Das heißt, im Prozess der Rezeption eines Textes trifft der Leser auf verschiedene Instanzen der Begleitung, mit deren Hilfe er sich die im Text dargestellte, erzählte oder fiktive Welt erschließen kann, Zeuge von Gesprächen wird und Ereignisse zu beobachten vermag. 312 Dies setzt voraus, dass der Leser bereit ist, im Zuge der Textlektüre auch das vom Text geforderte Leseverhalten an den Tag zu legen, also nicht nur auf ein im Text verstecktes theologisches Fazit aus zu sein oder nur historische Fragen an den Text zu stellen. So wie der Autor im Text unterschiedliche Rollen wahrnimmt, werden auch vom Leser und Interpreten unterschiedliche Rollen erwartet. In der folgenden Übersicht (Abb. 8) wird in einer kurzen synoptischen Erläuterung zunächst die in diesem Zusammenhang benutzte Terminologie vorgestellt. 313 312 Im nachstehenden Modell der Textwelten fasse ich Konzeptionen zusammen, die zunächst für die Analyse erzählender Texte entwickelt wurden (vgl. z. B. W. Schmid, 1973, 23-29). Mittlerweile werden Modelle dieser Art in verschiedenen Varianten auch für andere Gattungen (z. B. Briefe und Berichte) angewendet, wobei man unterstellt, dass der Autor immer einen „Entwurf “ von seinen Lesern hat und seinen Text entsprechend einrichtet. 313 Vgl. S. 125. Zur Genese und Differenzierung der nachstehenden Begriffe vgl. W. Engemann, 2003e, 121-126. Die Ausführungen zu den Autor- und Leserinstanzen beziehen sich v. a. auf die Arbeiten von W. Schmid (1973), H. Link (1976) und W. Iser (1976). <?page no="164"?> 164 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt 1. Textexterne Ebene Historischer Autor Historische Welt I und II Historischer Leser Realer Autor als historische Person/ Personengruppe Reale Welt, in der der Autor einen Text schreibt und in der ein Leser ihn liest Realer Leser als empirische Person/ Personengruppe 2. Textinterne Ebenen und ihre Instanzen Autorinstanzen (A) Textwelten (W) Leserinstanzen (L) A 1: Impliziter Autor W 1: Dargestellte Welt L 1: Impliziter Leser Literarische Version des Schreibers; ein auf die Autorschaft des Textes reduziertes Abstraktum Entwurf des Schreibers; abstrakte Kommunikationssituation, mit Reduktion der Wirklichkeit verbunden; zeigt Wertmaßstäbe von A 1. Es geht um die Welt, wie sie aufgrund wissenschaftlicher Recherchen geschichtlich dargestellt werden kann. Beispiele: eine Welt, in der Römern, Pharisäern, Zöllnern bestimmte Rollen zufallen, in der es Schülergruppen bzw. Jünger und ganz bestimmte, immer wiederkehrende soziale und politische Konflikte gibt. Vorgestellter Leser, neuerem Sprachgebrauch folgend, könnte man einfach vom „virtuellen“ Leser sprechen: Im Text vorgezeichneter Akt-Charakter des Lesens; die Gestalt, die der Text braucht, um realisiert zu werden A 2: Erzähler W 2: Erzählte Welt L 2: Fiktiver Leser Geschöpf des Autors; Sprecher des impliziten Autors; fiktiver Autor Fiktive Kommunikationssituation; Welt, in der alles möglich ist, was erzählt wird. Im Unterschied zur „toten“, dargestellten Welt, in der sich (noch) nichts ereignet, ist die erzählte Welt eine dynamische; sie ist „belebt“. Beispiele: eine Welt, in der die verschiedenen Jünger eine je eigene Geschichte haben, Fische fangen, auf dem Wasser gehen, mit Jesus frühstücken. Gegenüber zum Erzähler als virtueller Repräsentant dessen, dem erzählt wird; ihm werden bestimmte Standpunkte und Wertungen nahegelegt A 3: Beobachter W 3: Zitierte Welt L 3: Zeuge Literarisches Instrument der Allgegenwart; der omnipräsente Ereignisbeobachter: immer dabei, wenn etwas geschieht oder jemand etwas sagt Von bestimmten Personen sprechend gebildete Welt; die Welt im Text. Beispiele: die Emmaus-Jünger im Gespräch; Jesu Gebet in Gethsemane Rolle, durch die der konkrete, gegenwärtige Leser mit dem Beobachter bzw. zum Ereignis gleichzeitig wird Abb. 8: Die Ebenen und Instanzen des Textes <?page no="165"?> 165 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven . Historischer Autor und historischer Leser: Ein realer, historischer Autor (auch „textexterner“ 314 Autor) hat, in einer bestimmten Situation lebend, einen Text geschaffen und nach bestimmten Gesichtspunkten strukturiert. Im Text selbst erscheint er nur noch implizit und abstrakt. Man kann allenfalls noch auf das Bewusstsein schließen, in dem der Text abgefasst wurde. Ein wiederum realer historischer Leser greift - in einer späteren historischen Welt - auf diesen Text zurück. . Impliziter Autor (A ) und dargestellte Welt (W ): Diese auf den Autor eines Textes reduzierte historische Person - die literarische Version des historischen Autors - wird „impliziter Autor“ genannt. Durch ihn wird der Leser mit einer ganz bestimmten Weltdarstellung konfrontiert. 315 Diese dargestellte Welt des Textes präsentiert alles das, was - im Rahmen der Darstellung des Textes - über die Zeit und Situation damals gesagt werden soll, wobei es u. a. um Sitten und Bräuche, soziale Rollen und Hierarchien, um Selbstbilder und Tabus, kurz um kulturelle Regelungen aller Art geht. . Erzähler (A ) und erzählte Welt (W ): Auf der Basis der dargestellten Welt entsteht die erzählte Welt, in der die allgegenwärtige Instanz des Erzählers (A 2) regiert und mit Bezug auf reale oder fiktive Personen und Ereignisse Geschichten in Umlauf bringt. . Impliziter Leser (L ) und fiktiver Leser (L ): Die Konstruktion der erzählten Welt schließt ein, dass der Erzähler auch einen potentiellen Leser/ Hörer imaginiert, so dass man analog vom „impliziten Leser“ (L 1) sprechen kann. Dieser wird vom Erzähler an die Hand genommen und in eine Welt begleitet, in der es alles gibt, was erzählt wird bzw. erzählbar ist. Sie ermöglicht dem impliziten Leser den Eintritt in die Ebene der Gleichzeitigkeit mit den handelnden Personen. So steht der Leser gewissermaßen vor denselben Entscheidungen, vor denen die Figuren des Textes stehen. . Beobachter (A ) und Zeuge (L ) auf der Ebene der zitierten Welt (W ): Dementsprechend kann im Text eine dritte Autorinstanz, ein Beobachter figuriert sein (A 3), der immer dabei ist, wenn die Personen, von denen erzählt 314 H. Link, 1976, 16. 315 H. Link, 1976, 21 f., 34. <?page no="166"?> 166 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt wird, etwas sagen und denken. Der Leser wird so zum Mitbeobachter bzw. zum Zeugen, der alles das sieht, was ihn die Beobachter-Instanz sehen lässt (L 3). So kann man schließlich auch noch eine zitierte Welt (W 3) unterscheiden, deren Spuren sich gelegentlich als Einsprengsel weiterer Welten entpuppen. Eine solche Welt entsteht, wenn z. B. zwei Personen miteinander über etwas reden, was außerhalb der im Text selbst dargestellten oder erzählten Welt liegt. In der folgenden Grafik wird die Hierarchie der genannten Textwelten sowie der Autorbzw. Leserinstanzen anschaulich gemacht: Ebene der historischen Welt (II), in der ein Leser liest. Besonderheit: Ungleichzeitigkeit von Autor und Leser Ebene der historischen Welt (I), in der ein Autor schreibt. Textebene 1: Dargestellte Welt Textebene 2: Erzählte Welt Textebene 3: Zitierte Welt mit Beobachter und Zeugen Besonderheit: deren Gleichzeitigkeit mit Erzähler und fiktivem Leser Besonderheit: deren Gleichzeitigkeit mit implizitem Autor und implizitem Leser Besonderheit: deren Gleichzeitigkeit Abb. 9: Hierarchie der Textwelten und die Zuordnung der Autor- und Leserinstanzen <?page no="167"?> 167 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven b) Beispiel zur Erläuterung der Textwelten sowie der Autorbzw. Leserinstanzen Zur Vergegenwärtigung der Beschaffenheit der Welten und Instanzen des Textes soll eine Perikope aus dem Alten Testament dienen: Jes 40,1-8 [9-11], ein Predigttext für den 3. Advent. Ich wähle bewusst keinen ausgesprochenen Erzähltext, um deutlich zu machen, dass die genannten Kategorien im Prinzip für jeden Text gelten: . Ebene: Die historische Welt des Textes ist die Exilsituation Israels am Ende der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. „Jerusalem“ ist Inbegriff für Personen, Gruppen und Besitztümer, die im Jahre 586 v. Chr. aus dieser Stadt deportiert bzw. verschleppt wurden. Zu „Jerusalem“ gehören aber auch Menschen, die - nach 586 - aus der Stadt geflohen sind und nun in anderen Teilen ihres ehemals eigenen Landes unterdrückt werden. Den Verbannten wird das Bevorstehen einer Wende verkündet - die Heimkehr: Um den Text in seiner historischen Bedeutung zu verstehen, muss man um die ,Heimat-Probleme‘ Israels wissen sowie die Bedeutung des „Gelobten Landes“ und seine Geschichte kennen. Der Text spricht in die Situation längere Zeit nach der Vertreibung. Die Weggeführten haben sich bis zu einem gewissen Grade arrangiert. Nicht Wenige werden die Hoffnung auf eine Heimkehr aufgegeben haben. So kann der Text historisch als der ermutigende Aufruf Deuterojesajas verstanden werden, die Hoffnung auf eine Intervention Gottes und eine erlösende Rückkehr nicht zu verlieren. 316 Der Prophet ermutigt das Volk im Exil dazu (so könnte z. B. eine allein auf diesen Einsichten basierende Predigt resümieren), mit Gottes Eingreifen und der dadurch ermöglichten Heimkehr zu rechnen. Die Aussicht auf Heimat wird als Trost empfunden. . Ebene: Die dargestellte Welt des Textes ist jene, die Deuterojesaja vor dem Hintergrund der historischen Situation aufgebaut hat. Sie stellt seine Art der Erfassung der Wirklichkeit dar und enthält die Elemente, die der Verfasser braucht, um den Textsinn zu gestalten, um die Bühne aufzubauen, auf der Personen Handlungen vollziehen und Sätze sprechen. Zu dieser Welt gehört (1.) ein Gott, der Schuld vergibt, (2.) ein Volk, das als „sein Volk“ bezeichnet wird, (3.) das Ebnen einer Straße, wie es bei Reisen hochgestellter Persön- 316 Ich bin mir im Klaren darüber, mit dieser Festlegung einen „vereinfachten“ historischen Sinn in den Blick genommen zu haben; streng genommen wäre die historische Ebene des Textes im Umfeld Deuterojesajas als „Autor“ zu skizzieren. <?page no="168"?> 168 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt lichkeiten oder Truppenbewegungen üblich war, (4.) „Fleisch“, offenbar als Inbegriff der anderen Völker, (5.) „verdorrendes Gras“, (6.) „Gottes ewiges Wort“, (7.) ein „Hirte“, der seine Lämmer schützt u. a. m. - Auf der Ebene dieser Elemente kann erklärt werden, was der Text schildert und mit welchen Mitteln der Verfasser seine Darstellung inszeniert. Er braucht einen Leser, der sich auf diese „Kulisse“ einlässt. Für die Erfassung dieser Welt des Textes ist die „Begriffsexegese“ im Allgemeinen besonders ertragreich. Sie ermittelt, wie der Text bebildert ist und was er zeigt: Dass Gott wie ein Hirte ist, der die Seinen wie Lämmer einsammelt und vor weiteren Bedrohungen bewahren will, dass das Wort dieses Gottes im Unterschied zu „Fleisch“ und „Gras“ ewigen Bestand hat. Aus der Ebene der erzählten Welt des Textes geht hervor, was nun im Einzelnen auf der dargestellten Bühne geschieht, wie es geschieht - kurz, was alles möglich ist: Die Hoffnung auf „Vergebung der Schuld“ und auf ein „Ende der Knechtschaft“ geht um und steckt an. Jedoch: Nicht weniger als etwas „Bahn-Brechendes“ wird gefordert. In Anbetracht der Kraftlosigkeit, unter der man mit den Deportierten - indem man liest - gleichsam mitleidet, möchte einem der Mut sinken. Dem Erzähler zufolge ist es aber Gott selbst, der jene Bahn - Hügel und Täler ignorierend - errichtet. (Als Leser muss ich folgern, dass wir - das Volk im Text und ich - sozusagen nur mithören, was der Prophet hört, dass also der „Befehl“ zu diesem Projekt nicht an uns ergeht, sondern als ‚Absprache unter himmlischen Wesen‘ erzählt wird.) Während der Prophet - und ich mit ihm - noch zögern und Schwierigkeiten haben, dies alles zu verstehen, stellt sich heraus, dass man sich im Hinblick auf die unterstellte Nutzung der Straße getäuscht hat: Sie ist nicht, wie sonst üblich, für den Herrscher bestimmt, sondern für das Volk. Die Heimkehr - unter den Augen vieler Zuschauer, darunter auch Feinde - (V. 5b) scheint ein ungefährdetes Projekt zu sein, kurz vor seiner Umsetzung stehend. . Ebene: Die dritte textinterne Ebene, die zitierte Welt, enthält Worte, die von verschiedenen ,Personen‘ gesprochen werden: „Tröstet, tröstet mein Volk […].“ In den Versen 1 und 2 wendet sich offenbar ein Himmlischer an Himmlische. In den Versen 3-5 meldet sich eine weitere Stimme zu Wort: „In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg […].“ In V. 6 weiß sich der Prophet persönlich angesprochen. Die Verse 7-8 scheinen Bestandteil der Antwort auf „die Stimme“ zu sein. Schließlich bricht es aus dem Propheten selbst hervor: „Hast du gehört, Zion, Botschafterin der Freude? “ (9-10) Der Leser wird Zeuge eines Gesprächs auf mehreren Ebenen und an mehreren Orten. <?page no="169"?> 169 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Der Leser kann beispielsweise „mithören“, was man sich im Himmel zuruft, er kann der Beauftragung des Propheten beiwohnen, er kann den Propheten in Jerusalem in Verzückung geraten sehen. Die Beobachter-Instanz des Autors macht es ihm möglich. Unmittelbare Auslegung hat es bei diesem Text genauso „leicht“ wie bei allen anderen. Sie wird sich auf die ,fetten Brocken‘ der zitierten Welt stürzen, das „Tröstet, tröstet mein Volk“ zum Textwillen erklären und ohne Umschweife auf „die vielen alltäglichen, kleinen und großen Notlagen“ Bezug nehmen, „in denen wir des Trostes dieses Textes bedürfen“. Freilich, bedarf es für einen (auf beliebige alltägliche Notlagen anspielenden) Gang durch die facettenreichen Trostsituationen unseres Lebens gerade dieses ‚exotischen‘ Textes, um einen klareren Begriff von einem Leben aus Glauben zu bekommen? c) Folgerungen Was folgt aus diesen Differenzierungen für die Interpretation des Textes? Zunächst ist festzuhalten, dass die Bedeutung eines Textes nicht auf einer der genannten Ebenen allein gesucht werden kann. Die skizzierten Textwelten stellen ein symbiotisches Ganzes dar. Sie machen gemeinsam die unverwechselbare Individualität des Textes und die inhaltliche Bestimmtheit seiner Bedeutung aus. Die unter I.3.2.3 skizzierten hermeneutischen Orientierungen (vgl. S. 150-162) sind verschiedene Formen des problematischen Versuchs, nur mit einer dieser Welten auszukommen: Unmittelbare Auslegung begnügt sich häufig mit der zitierten Welt, historische Interpretationen erklären Texte auf ihrer historischen Ebene, kerygmatische Engführungen nehmen oft kurzschlüssig auf das im Text Dargestellte (Gottesbilder, Wertmaßstäbe usw.) Bezug. Die Ebene der erzählten Welt, die im Erzählprozess erst entsteht und für das Funktionieren des Textes und die interne Plausibilität seiner Aussagen von Belang ist, wird nach meiner Beobachtung bei der Erschließung der Bedeutung eines Textes am häufigsten vernachlässigt. Will man den Text hingegen nicht nur auf einer Ebene erfassen, genügt es nicht, einmal die intentio auctoris verstanden, ein Kerygma formuliert oder sich eine geeignete Parole aus der zitierten Welt zum Motto der Predigt erkoren zu haben. Die Kooperation mit dem Text setzt voraus, sich während der Arbeit an der Predigt vom Text begleiten zu lassen: Prediger müssen den Text mehrfach lesen (gerade dann, wenn sie ihn zu kennen glauben), um die von ihm erwarteten Rollen einzustudieren. Wer sich auf den Text einstellt und ihn vor oder nach der exegetischen Arbeit noch so zu lesen vermag, dass er alles, was er zum Verstehen braucht, aus dem Text selbst erfährt, dessen Lektüre wird <?page no="170"?> 170 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt durch den Text entautomatisiert und hält sich im mutmaßenden „Vorgriff “ auf noch nicht Gelesenes und im korrigierenden „Rückgriff “ auf schon Gelesenes 317 für neu zu Lesendes bereit. „Wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen.“ 318 Es ist gerade im Hinblick auf die Stereotypen christlicher Predigt (Stellvertreterschaft Christi, Rechtfertigung aus Glauben usw.) wichtig, auf die je eigene Gestalt der Texte zu achten, in denen eben nicht in Stereotypen vom Verhältnis Gottes zu den Menschen die Rede ist. 319 Damit ist der Akt der Kooperation aber noch nicht hinreichend beschrieben. Kooperation setzt voraus, bestimmte Vorkehrungen dafür zu treffen, dass Text und Leser gleichermaßen am Interpretationsprozess beteiligt sind. Dazu gehört die wiederholte Lektüre des Textes als wiederholte Begegnung von Text und Leser. Sie trägt dazu bei, dass aus „Textintention“ und „Lesererwartung“ ein Sinn erwächst, der weder schon im Text nachgelesen noch vom Prediger schnurstracks in ihn eingezeichnet werden kann. Um nicht schon dem ersten Textverständnis zu erliegen, empfiehlt Klaus Weimar, den Text mit „dummen“ Warum- und Wozu-Fragen zu konfrontieren und sie in eigener Sprache - also gerade nicht in der Sprache des Textes - zu beantworten. 320 Bei diesem Versuch kommen Bedeutungen ans Licht, die sowohl auf den Text als auch auf die Initiative des Lesers zurückzuführen sind. 321 Kommen wir auf den Text Jes 40,1-11 zurück und fragen, was es heißt, ihm nicht sogleich etwas im kerygmatischen Sinn „Anzusagendes“ entlocken zu wollen, sondern ihm (1.) jene Fragen zu stellen, die sich auf die Motive, auf die Argumentation und seine Zielvorstellungen beziehen, und (2.) nach Antworten zu suchen, die zwar in der Sprache von heute gegeben werden und in der Welt 317 Vgl. K. Weimar, 1993, 166-168. 318 R. Barthes, 1994b, 20. 319 Einen besonderen Fall der Gleichmacherei biblischer Texte stellt die im 17. und noch im 18. Jahrhundert beliebte Jahrgangspredigt dar: Dabei pflegte man ein ganzes Kirchenjahr lang Sonntag für Sonntag ein und dasselbe Thema zu traktieren, wobei man sich bedenkenlos auf die vorgegebenen altkirchlichen Lesungen bezog (vgl. M. Schian, 1912, 16 f.). Es liegt auf der Hand, dass der Text bei solcher Auslegung keine Chance hatte, sein Eigenes in die Predigt einzubringen, geschweige denn, der intentio lectoris (der Einstellung und Erwartung des Lesers) zu widersprechen. 320 Vgl. K. Weimar, 1993, 170-177. 321 Vgl. die „Dialektik von Protektion und Protest“, bezogen auf das Verhältnis des Predigers zum Text, bei W. Engemann, 1992d, 169 f. <?page no="171"?> 171 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven von heute verortet sind, jedoch als Resultat der Auseinandersetzung mit dem Text gelten können und ohne ihn so nicht möglich wären: . Wovon redet der Text? Im Text ist die Rede von einem gewaltigen, unaufhaltsamen Umzug. Ich lese eine Geschichte vom Nach-Hause-Kommen. Ich werde als Leser Zeuge einer pompösen Rückkehr, die sowohl das Volk betrifft als auch seinen Gott. Man zieht wieder zusammen. Es geht um eine ,Wiedervereinigung‘. Der Erzähler präsentiert mir aber auch einen Skeptiker, einen Propheten, der bezweifelt, dass alles anders werden soll, der müde abzuwinken scheint und Einwände vorbringt (V. 6b-8a), in denen sich die Fragwürdigkeit politischer Versprechen zu spiegeln scheint. Ich sehe, wie im Text Utopie und Realität aufeinandertreffen und wie am Ende die Utopie favorisiert wird: Dem „Heimkehrfieber“, in dem der Text geschrieben ist, entspricht eine Realität: Das Zusammenziehen von Gott und seinem Volk ist im Gange. Dies wird im Text als gegebene Wirklichkeit wahrgenommen. . Warum gibt es diesen Text? Es gibt diesen Text, weil das Maß voll, weil die Zeit reif ist, weil derjenige, der die Macht hat, die Situation zu ändern, sich das Leid des Volkes nicht mehr ansehen will. Es gibt diesen Text auch, weil so etwas vorkommt: Unterdrückung, Deportation, Exil. Es gibt diesen Text, weil sich jemand angesprochen weiß, weil jemand seine Stimme erhebt und nicht unterschlägt, was er kommen sieht. . Wohin führt mich die Beschäftigung mit diesem Text? Während ich den Text lese, frage ich mich, warum Menschen so viel an ihrer Heimat, an ihrem Zuhause liegt. Und ich frage mich, weshalb Gott sich seinerseits auf Orte des Zusammenlebens mit seinem Volk zu fixieren scheint. Ich kann das so nicht nachvollziehen; durch wiederholte Lektüre stoße ich aber auf das „Exil im eigenen Leben“. Ich werde erinnert an die Notwendigkeit eines wiederholten Aufbruchs aus einer Welt der Entfremdung von mir und von Gott, in der ich immer derjenige sein muss, den andere von mir erwarten usw. . Wozu sollte ich eine Gemeinde von heute mit diesem Text konfrontieren? Meine Bezugnahme auf diesen Text hat zur Voraussetzung, dass mich die Analogien, die ich im Zuge wiederholter Lektüre ,gesehen‘ habe, zu einer Predigt führen können, die sich mit heutiger Lebenswirklichkeit im Horizont konkreter christlicher Tradition befasst. Eine Predigt mit diesem Text kann die Hörer zur Wahrnehmung weiterer, konkreterer Analogien sowohl in Bezug auf das „Exil im eigenen Leben“ als auch in Bezug <?page no="172"?> 172 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt auf die „Heimkehr“ und das „Zusammenwohnen“ führen: Deshalb werde ich nach entsprechend strukturierten Geschichten von der „Heimkehr aus dem Exil“ in der Bibel, 322 vor allem aber im Leben suchen. Die sich in wiederholter Lektüre einstellende Lese-Weise des Textes läuft nicht auf immer dasselbe Verständnis hinaus. Ich bin mir bei dem Bemühen, den Text in meiner Zeit zu verstehen, durchaus im Klaren, dass ich mit den Bildern meiner eigenen Erlebniswelt, eigener Erfahrung und einer persönlichen Art zu glauben an den Text herantrete und ihn wie durch eine Folie lese. Eine in der jeweiligen Gegenwart ebenso relevante und verständliche Interpretation setzt voraus, dass im Text verschiedene ‚Seh-Reisen‘ möglich und geboten sind. Der Prediger als Ausleger eines biblischen Textes hat also nicht nur die Aufgabe, aufzuspüren, was der Text explizit sagt; die sinnbildende Interpretationsleistung des Auslegers wird erbracht, indem der Interpret das vom Text notwendigerweise (! ) Verschwiegene in eigenen Worten zur Sprache bringt. Der Autor, der sich ja in der Auswahl dessen, was er niederschreiben konnte, begrenzen musste, hat den Text und dessen Welten so eingerichtet, dass der Leser sich das Nicht-Gesagte - aber von dem Geschriebenen gleichwohl Berührte - erschließen kann. 323 In entsprechendem Zusammenhang spricht Roland Barthes von der „Lust am Text“ 324 , die aus dem Leser einen „idealen Leser“ mache. Nach U. Eco wäre es im Hinblick auf den potentiellen Bedeutungsreichtum, der von der Begegnung mit Text und Leser zu erwarten ist, das Beste, wenn der Leser an einer „idealen Schlaflosigkeit“ litte, denn dann könnte er den Text in immer neuer Lektüre ad infinitum befragen. 325 Diese Wunschvorstellung ähnelt auffallend der biblischen Variante des ebenfalls schlaflosen, nie fertig werdenden idealen Lesers: „Wohl dem, […] der Lust hat am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“, heißt es programmatisch im 1. Psalm. 322 Auch der „verlorene Sohn“ glaubt nicht, sich seinem Vater als denjenigen zumuten zu können, für den er sich hält. Sein Weg in die Fremde wurde zudem auch ein Weg der Entfremdung von sich selbst und von seinem Vater. Seine Skepsis im Hinblick auf das Wieder-nach-Hause-kommen-Können wird enttäuscht. Vgl. auch die Aussagen Jesu über die „vielen Wohnungen“ (Joh 14,2) wie überhaupt den inneren Zusammenhang der Aspekte „Fremde“, „Wohnen“, „Heimkehr“ und die darin sich ausdrückenden Gott-Mensch-Relationen in der Bibel. 323 Vgl. W. Iser, 1994, 264 f. 324 R. Barthes, 1994b, 20. 325 U. Eco, 1987, 35. <?page no="173"?> 173 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Mit einem Text zu kooperieren hat also wesentlich damit zu tun, bereit zu sein, selbst die Lesergestalten zu verkörpern, die in den verschiedenen Ebenen des Textes gebraucht werden. Nur derjenige wird das vom Text Verschwiegene zur Sprache bringen können, der - in der Regel auf der Ebene der erzählten Welt - an die Unbestimmtheitsstellen des Textes herantritt und sie mit Elementen seiner eigenen Lebens- und Glaubenswelt besetzt. Ein Text birgt „ein ganzes Spektrum möglicher Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen“, weshalb „Interpretationen, die die Pluralität der Konkretisationen unterdrücken, […] sich den Vorwurf gefallen lassen [müssen], dass sie den wahren Sinn des Erzählten verfehlen“ 326 . Aus all dem folgt: Wer einen Text verstehen will, muss die im Text für den Leser vorbereiteten Enklaven versuchsweise „bewohnen“, mit eigenen Fragen und Erwartungen im Gepäck. Diese Enklaven bzw. Leerstellen sind als „zentrale Umschaltelement[e] der Interaktion von Text und Leser“ zu bewerten; sie „regulieren die Vorstellungstätigkeit des Lesers, die nun [aber] zu den Bedingungen des Textes in Anspruch genommen wird“ 327 . Der oben mit Bezug auf Jes 40 vorgenommene Interpretationsversuch ist im Hinblick auf die vom Leser erwarteten Aktivitäten nur angedeutet worden. Ein weiterer Versuch müsste darin bestehen, den Text auf der Basis des bereits gewonnenen Verständnisses mit weiteren, analog strukturierten Lebenssituationen zu „bewohnen“ und zu beobachten, welche Perspektive sie bekommen 328 , wie sie sich gegebenenfalls verändern, welche Rollen sie dem Leser erschließen. Der implizite Leser ist als Akteur vorgesehen und gewinnt im historischen Leser der Gegenwart neue Gestalt. Der Struktur des Textes korrespondieren analoge Handlungsbzw. Ereignisstrukturen, die für die Sinnerfüllung des Textes in der Gegenwart der Leser unverzichtbar sind. Eine gelungene Vertiefung der oben vorgetragenen Argumente bietet Georg Lämmlins Untersuchung „Die Lust am Wort und der Widerstand der Schrift“ 329 . In dieser die homiletische Bedeutung der Rezeption biblischer Textes in den Mittelpunkt stellenden Arbeit wird anhand der „Re-lektüre des Psalters“ gezeigt, dass die oben skizzierten 326 W. Schmid, 1973, 35 f. 327 W. Iser, 1994, 266. 328 W. Iser schreibt einem Text die Fähigkeit zu, den Leser zum Träger seiner (d. h. der des Textes) Perspektive zu machen. Sich den Welten des Textes aussetzend „erhält der Leser die Möglichkeit, den Blickpunkt zu besetzen, der vom Text eingerichtet“, jedoch nicht in ihm selbst dargestellt ist (vgl. W. Iser, 1994, 61-63). 329 Vgl. G. Lämmlin, 2002. <?page no="174"?> 174 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Einsichten nicht nur für das Verstehen der jüdisch-christlichen Überlieferung auf der Textebene relevant sind: Ein kooperativer Umgang mit Texten ist auch für das Verstehen von Situationen von Belang, denn der Situationsbezug der Predigt kommt nicht zuletzt durch eine bestimmte Art der Beschäftigung mit dem Text selbst ins Spiel. Dies setzt freilich voraus, dass der Prediger die texteigenen Rezeptionsvorgaben des Textes respektiert und den im Leseprozess sich eröffnenden, aus Situationen gespeisten und auf Situationen zielenden Konstruktionsbzw. Antizipationsraum des Textes auch betritt. Durch den von Wolfgang Iser beschriebenen Modus des Text-Leser-Verhältnisses können nach Ansicht Lämmlins Interaktionen in Gang gesetzt werden, die den Predigtprozess insgesamt zu einem gleichermaßen textbezogenen wie situationsgerechten Geschehen werden lassen. Als ein Ergebnis seiner Analysen stellt der Verfasser ein „Lektüremodell“ vor, das über Textverstehen und Mit-Situationen-Zurechtkommen hinaus darauf angelegt ist, dass das glaubende Subjekt im Zuge dieser Kooperation dazu herausgefordert wird, sich zum Wahrgenommenen zu verhalten, sich gleichsam zu ‚aktualisieren‘ und gegebenenfalls ein Stück weit neu zu konstituieren. „Das Subjekt gewinnt sich im Lesen aus dem Text, […] und zwar, indem es seine Verstehensabsicht gerade auf die Bedeutung des Textes ausrichtet und nicht auf sich selbst.“ 330 3.3.2 Das Analogie-Modell In den vorangegangenen Ausführungen ist in verschiedenen Wendungen von „Analogie“ die Rede gewesen: von Analogien, die der Leser zwischen der Textstruktur und den Ereignisbzw. Handlungsstrukturen des eigenen Lebens erkennt, von Analogien für das „Exil“, für die „Heimkehr“, für das „Wieder-zusammen-Wohnen“, für die Erfahrung, dasein zu dürfen, ohne sich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Wer im Hinblick auf die Bedeutung eines alten Textes für die Gegenwart von Analogien redet, unterstellt, dass zwischen der Situation bzw. den Erfahrungen, die den Text bedingen, einerseits, sowie der Situation bzw. den Erfahrungen des Lesers andererseits Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten, Verwandtschaften bestehen. 331 Um Analogien zu sehen bzw. herzustellen, werden Fragen wie diese gestellt: 332 330 A. a. O., 139 f. 331 Homiletisch relevant dürften vor allem solche Analogien sein, die im Hinblick auf Situationen sowie in Bezug auf Relationen (v. a. zwischen Personen, jedoch auch zwischen Personen und „Objekten“, Ereignissen und Bedingungen, zwischen Mensch und „Gott“) festgestellt werden können. 332 Vgl. dazu die Synopse in der oben eingefügten Tabelle (Abb. 8, S. 164). <?page no="175"?> 175 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 1. Auf der Ebene der historischen Welt: Gibt es zwischen der Situation, in die hinein der Text spricht, und jener Situation, in die hinein meine Predigt sprechen wird, Gemeinsamkeiten? 2. Auf der Ebene der im Text dargestellten Welt ist zu fragen: Gibt es Ähnlichkeiten in den Einstellungen zu bestimmten Sachen, Problemen, dem Leben, zu sich selbst? Gibt es Entsprechungen bezüglich der Bedingungen oder Störungen des Gottesverhältnisses im Text einerseits und in der Erfahrung heute lebender Menschen andererseits? 3. Fragen mit Bezug auf die erzählte Welt könnten lauten: Kehrt das Grundmuster der Geschichte, die der Text erzählt, in der Gegenwart wieder? Welche Personen, welche Konflikte, Spannungen, Lösungsperspektiven müssten dabei an die Stelle der entsprechenden Angaben im Text treten? 4. Schließlich ist auch im Hinblick auf die zitierte Welt zu fragen: Welche Bedeutung nehmen die gesprochenen Sätze (Verheißungen, Warnungen, Bekenntnisse usw.) an, wenn sie „unübersetzt“ im analogen Kontext wiederholt werden? Steht diese Bedeutung in Kontinuität zu der Intention des Textes, die ich zuvor erarbeitet habe? Wenn nicht: Wie müsste ich umformulieren, damit angesichts der begrenzten Analogien etwas Entsprechendes gesagt wird, das wiederum in seiner Wirkung mit der im Text beschriebenen Wirkung korrespondiert? Analogiebildungen haben nichts mit Gleichmacherei zu tun. Daher sind die eben aufgeführten Fragen natürlich auch im Hinblick auf die jeweiligen Unterschiede zu stellen. Gerade wegen der Differenzen zwischen zwei Gliedern eines angestrebten Vergleichs wird es ja überhaupt erst notwendig, nach Analogien zu suchen. Es geht um die Tatsache, dass Situationen, Handlungen, Einstellungen bei aller Unterschiedlichkeit in einer bestimmten Hinsicht miteinander verglichen werden können und Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Merkmale, Einstellungen, Handlungsstereotypen, in denen sich die jeweiligen Glieder einer vergleichenden Gegenüberstellung ähnlich sind, werden Analogon 333 genannt. Dabei wird vorausgesetzt, dass solche Analogien nicht nur zwischen der „historischen Situation hinter dem Text“ und der „historischen Situation heute“ erkundet werden, sondern ebenso durch die Gegenüberstellung der im Text dargestellten bzw. in ihm erzählten oder nur zitierend aufgerufenen Welt mit der Lebenswirklichkeit der Gemeinde. 333 In einer Predigt mit Jes 40,1-11 stellte beispielsweise die sowohl den Exilierten als auch den Hörern heute unterstellte „Krise der Identität“ (samt den entsprechenden theologischen und anthropologischen Implikationen) ein solches Analogon dar. <?page no="176"?> 176 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Auch von den anderen beiden Auslegungsstrategien ist das Analogie-Modell deutlich zu unterscheiden: Bei der Fixierung auf ein Kerygma geht es gewissermaßen um eine „digitale“ 334 Erschließung: Die Bedeutung eines hochkomplexen Textes wird in Form eines abstrakten Satzes wiedergegeben. Es geht (nur) um ein Resultat der Beschäftigung mit dem Text, um eine aus dem Text gleichsam herausgefilterte Wahrheit, weniger um die Frage, wie der Text als ganzer zur Glaubens- und Verstehenshilfe des Lesers werden kann. Analoge Auslegung braucht den Text - um im Bild zu bleiben - im ungefilterten Zustand. Der Text macht nämlich deutlich, wie Menschen aus welchen Gründen in welchen Situationen zu welchen Überzeugungen gelangen, unter welchen Bedingungen sie von „Gott“ erreicht werden bzw. anfangen, nach ihm zu fragen. Diese Vorgaben des Textes sind für die Plausibilität seiner Botschaft nicht unerheblich. Deshalb ist nach solchen Gründen, Umständen, Haltungen im Text und im Lebensalltag von heute zu suchen, zwischen denen zumindest begrenzte Ähnlichkeiten in Bezug auf die Selbstwahrnehmung von Menschen sowie in Bezug auf ihr Leben mit anderen und ihre Existenz vor Gott zum Ausdruck kommen. Unmittelbaren Auslegungsversuchen, die das im Text jeweils Dargestellte und Erzählte weitgehend ignorieren, unterlaufen häufig Schein-Analogien. Korrespondenzen zwischen Textwelten und Lebenswelten gründen dann nicht in gemeinsamen Merkmalen bezüglich einer Konfliktsituation oder in vergleichbaren Möglichkeiten einer Lösung dieses Konfliktes 335 , sondern kommen durch isolierte Transfers einzelner Aussagen des Textes in beliebige Lebenssituationen zustande. 334 Von „digital“ ist hier im Sinne willkürlicher Entsprechungen von Ausdruck und Bedeutung, also im Sinne „arbiträrer Zeichen“ die Rede. Verstehensprozesse können auch auf „analogen“ Zeichen basieren, deren Gestalten jeweils etwas von ihrem Inhalt präsentieren - wie etwa geöffnete Arme bei einer Begrüßung ein „Willkommen“ signalisieren. „Digitale Sprache“ kann nur verstehen, wer die Kombinationen von Wörtern und ihren Bedeutungen nach den Regeln einer bestimmten Sprache erlernt hat. Zur Erfassung des Zusammenhangs genügt dann ein binärer Code ([engl.] dog =- [dt.] Hund), weshalb man vereinfachend von „digitalen Codes“ spricht. Wir kommen im Rahmen liturgischer Fragen ausführlicher auf diese Unterscheidung zurück (vgl. I.7.3.2, S. 460-463). 335 Zur Relevanz der Kategorie des Konflikts für die homiletische Arbeit (u. a. im Interesse der Zuspitzung von Problemen) vgl. auch D. Buttrick, 2007 sowie die Hinweise zu diesem Thema in der vorliegenden Untersuchung (47, 89 f., 97-99, 104). <?page no="177"?> 177 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Von besonderer Bedeutung für Analogiebildungen, die aus der Kooperation mit dem Text erwachsen, dürfte die von der Scholastik so bezeichnete analogia proportionalitatis sein. Bei dieser Form der Analogie geht es nicht um das bloße, oft zu kurz greifende Parallelisieren von bestimmten Einzelaussagen oder gar nur Begriffen des Textes mit dem christlichen common sense. Es geht um „ein Verhältnis zwischen zwei Verhältnissen“ 336 . Der Ausleger hat also beispielsweise zu fragen, ob und in welcher Weise - ich komme auf den eingeführten Text Jes 40,1-11 zurück - im Blick auf das Verhältnis des Volkes zu Gott oder im Blick auf die Haltung des Volkes zu seinem Exil (bzw. zu einer bevorstehenden Rückkehr) von Entsprechungen in Bezug auf das Verhältnis der hörenden Gemeinde zu Gott oder von Entsprechungen in Bezug auf andere situationsbestimmende Faktoren gesprochen werden kann. Diese Form der Analogiebildung hat zwei Vorteile: Da es zum einen immer um „ein Verhältnis zwischen Verhältnissen“ geht, erscheinen „Gott“ und „Gemeinde“ in der Regel als Konstituenten des Analogieverhältnisses, und zwar zu den Bedingungen des Textes bzw. der gegenwärtigen Situation, was immer mit Konkretionen zu tun hat. Zum anderen gründet diese Form der Analogiebildung darin, dass das je Eigene der einander gegenüberstehenden Situationen bzw. Verhältnisse angemessen berücksichtigt wird und hinreichend zur Geltung kommt, gegebenenfalls auch bezüglich der unaufhebbaren Unterschiede. Sobald man versucht, eine zwingende Abfolge von Textbetrachtung, Situationsanalyse, Analogiebildung usw. festzulegen, wird man feststellen, dass sich diese Schritte nicht scharf voneinander abgrenzen lassen - zumal für einen im Textverstehen vorgebildeten Theologen, der die historischen Hintergründe vieler Perikopen im Allgemeinen schon kennt und sich nicht zum ersten Mal mit dem jeweiligen Text beschäftigt. Dennoch empfiehlt es sich, bestimmte Arbeitsschritte vor anderen zu gehen, wobei freilich damit zu rechnen ist, dass neue Erkenntnisse bereits getroffene Entscheidungen in Frage stellen und zu Korrekturen im Interpretationsprozess des Textes führen. Vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel diskutierten Probleme schlage ich folgendes Prozedere 337 vor: 336 J. Track, 1978, 628. 337 Mit der nachstehenden Skizze beschreibe ich weder schon den „Weg zur Predigt“ (dies kann im Zuge der Beschäftigung allein mit dem Text gar nicht geleistet werden), noch biete ich ein weiteres spezifisches Textauslegungsmodell an, ergänzend zu denen, die im Rahmen der historisch-kritischen oder sozial-wissenschaftlichen Exegese gemacht oder als psychologische, empirische und kreative Methode entwickelt wurden (vgl. die Skizze von J. Ziemer, 1990, 225-235). Sondern es geht um einen Umgang mit dem Text, der unabhängig von der konkreten Methode der Erschließung des Textes grundsätz- <?page no="178"?> 178 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt . Schritt: Wiederholte Lektüre des Textes: Nach dem ersten Lesen setze ich nicht mit der Exegese ein, sondern lese den Text ein zweites oder drittes Mal und öfter, um ihn zunächst möglichst ‚unwissend‘ zu lesen. Ich frage den Text, was er zu sagen hat, warum und wozu ich das wissen sollte, was er mir erzählt, lasse ihn - nicht einen Kommentar, nicht ein Wörterbuch, nicht eine Predigtmeditation - auf die genannten Fragen antworten, indem ich ihn lese. So nimmt die Kooperation mit dem Text ihren Anfang. Dabei muss ich mein exegetisches Wissen natürlich nicht verleugnen. Theologen sind bei der Lektüre eines Textes durch ihre Ausbildung immer schon „präpariert“. Ein gediegenes Grundwissen über die Konditionen der Autoren und Adressaten der biblischen Texte erleichtert es ihnen, zumindest einen Teil jener W-Fragen zu beantworten: Z. B. „Wer spricht hier? “ Es ist aber wichtig, bei den erstbesten Antworten („Paulus“) nicht stehen zu bleiben, sondern bei dem „Wer? “ zu verweilen: Dabei zeigt sich z. B.: Hier schreibt jemand unter den Bedingungen der Haft, rechnet anscheinend mit der Möglichkeit seiner Hinrichtung, gleichwohl fühlt er sich „autark“ usw. (vgl. z. B. Phil 4,10-20). Wer die Lektüre des Textes nicht als eigene Aufgabe begreift oder gar den Text gleich im Kommentar mit den entsprechenden Erklärungen liest, hat es schwer, Facetten des Textverständnisses wahrzunehmen, die nicht in der Perspektive des exegetischen Kommentars liegen, dessen Interesse vor allem der historischen und dargestellten Welt des Textes gilt. . Schritt: Übernahme der von den Textwelten geforderten Lese-Rollen: Ich versuche, die Ergebnisse meiner Lektüre dadurch zu präzisieren und gegebenenfalls zu erweitern, dass ich die unterschiedlichen Welten des Textes studiere und zwischen historischer, dargestellter, fiktiver und zitierter Welt unterscheide. Ziel dieser Annäherung ist es, unter dem vom Text Vorgegebenen auch das von ihm Offengelassene wahrzunehmen und seine Enklaven versuchsweise mit Beobachtungen, Erfahrungen, Erwartungen und Fragen zu besetzen, die der eigenen Lebenswirklichkeit entstammen. Der Text sieht meine Initiative vor, die ich zu seinen Bedingungen ergreifen muss, denn der Text selbst verändert sich nicht. Dadurch wird es möglich, wahrzunehmen, wie z. B. ein Fragment meiner Lebensgeschichte in der Geschichte des Textes neu erzählt wird, wie ein gesprochener Satz aus der zitierten Welt als ein ,Wort für mich‘ hörbar wird. lich gepflegt werden sollte, sowie um Aufgaben bzw. Fragen, denen man sich bei der Interpretation eines Textes immer zu stellen hat. <?page no="179"?> 179 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Dabei treten Möglichkeiten des Textverständnisses zu Tage, die über die zunächst gefundenen Antworten auf die W-Fragen (s. oben) weit hinausgehen. . Schritt: Historisch-kritische Exegese oder andere wissenschaftliche Formen der Erschließung des Textes: Mit diesem Schritt kann in der Regel eine der Textwelten genauer erforscht werden. Die historisch-kritische Exegese vertieft insbesondere die historische und die im Text dargestellte Ebene des Textes. Psychologische oder bibliodramaturgische Methoden eignen sich gut zum besseren Verständnis dessen, was sich zwischen den Figuren der Erzählung ereignet, was in ihnen vor sich geht, was sie bewegt und inwiefern die sich im Text abzeichnende „Lösung“ z. B. mit der Erfahrung von Freiheit verbunden ist. Ziel dieses Schrittes ist es, das Verständnis des Textes in einem bestimmten Bereich weiter zu vertiefen, neue Aspekte der Interpretation des Textes zu gewinnen, aber auch schon erwogene Ideen, Perspektiven und Analogien der Textrezeption zu verwerfen, weil sie den wissenschaftlich erhebbaren Daten zur Erschließung der Bedeutung des Textes gänzlich zuwiderlaufen oder zumindest nicht mit ihnen konvergieren. . Sondierung der Interpretationsrichtungen: Die Schritte 1-3 stellen einen Prozess des Entdeckens, Vertiefens und Verwerfens von Textdeutungen dar, die zwar voneinander unterschieden sind, aber insofern miteinander konvergieren, als sie alle zu den Bedingungen des Textes möglich, exegetisch plausibel und theologisch angemessen sind. Wenngleich es nicht möglich ist, das eine Kerygma aus der Beschäftigung mit dem Text zu gewinnen, ist es für die weitere Beschäftigung mit dem Text wichtig, angesichts der verschiedenen Sinnrichtungen einen - zu den Bedingungen des Textes möglichen - ‚temporären Fokus‘ zu setzen. Unter dieser Voraussetzung ist es nicht nur legitim, sondern erforderlich, zu solchen Aussagen zu gelangen: „In diesem Text wird erzählt, dass-… “, oder „Der Text handelt von der Erfahrung, dass-… “, oder „Die Lektüre dieses Textes konfrontiert mit der Einsicht, dass-…“ . Schritt: Sondierung der Analogien. Der Leser wird sich kaum dagegen wehren können, schon vom ersten Moment der Textrezeption an Analogien zu bilden. Indem er sich auf den verschiedenen Ebenen des Textes bewegt, werden Bilder, Szenen, Ereignisse aufgerufen, die von diesem Text berührt werden. Nachdem die zunächst assoziativ hergestellten Analogien teils vertieft, teils verworfen, teils ergänzt (1.-3. Schritt) und unter je konvergenten Perspektiven in einen Zusammenhang gestellt wurden (4. Schritt), kommt es darauf an, die Relevanz <?page no="180"?> 180 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt der bislang in Betracht gekommenen Analogien im zeitgenössischen Kontext der Lebenswirklichkeit der Hörer zu prüfen. 338 3.3.3 Funktionen des Textes im Predigtprozess a) Die konfrontierende Funktion des Textes Der Begriff „Konfrontation“ impliziert die Bedeutungen „Begegnung“, „Widerstand“, „Auseinandersetzung“. In Anwendung dieser Textfunktion kommen Analogien zu jenen Erfahrungen in den Blick, deren Resultat die Texte sind: In den Ereignissen und Begegnungen, die zu biblischen Zeiten als „Gotteserfahrung“ gedeutet bzw. als „Offenbarung“ verstanden wurden, sahen sich Menschen offenbar mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die in grundstürzender und grundlegender Weise ihre Existenz betraf und in Spannung zu den gewohnheitsmäßigen Erfahrungen ihres Alltags standen. Ihre Ansichten von Gott, ihre Erwartungen an ihre Zukunft, ihre Selbsteinschätzungen und Wertvorstellungen - dies alles wurde in Frage gestellt, erschüttert und verändert. Davon legen die Texte Zeugnis ab. Das heißt, sie sind aus einer solchen Konfrontation hervorgegangen und versuchen, das ungesuchte Zusammentreffen mit Gott in Geschichten und Liedern, in Briefen und Gleichnissen, mit Bildern und Metaphern auszudrücken. Wer einen biblischen Text liest, wird mit einer fremden Wirklichkeit befasst, die ihm paradoxerweise so dargeboten wird, als könnte sie seine eigene sein - und unter der Lektüre stellt sich heraus: In einer je und je bestimmten Hinsicht wird sie die eigene. Zu einer „Konfrontation“ in diesem Sinne gehört die Herausforderung, Stellung zu einer Wirklichkeit zu beziehen, die man so noch nicht kennt, die einem so vielleicht auch nicht gefällt, die Korrekturen im Urteilen und Handeln nach sich zieht. Die Auseinandersetzung mit dem Text nötigt überhaupt erst dazu, die eigene Warte kritisch in Augenschein zu nehmen und sich mit Fragen und Perspektiven zu befassen, die ohne den Text nicht in den Blick gekommen wären. Manfred Josuttis spricht in diesem Zusammenhang von einer „kreativen Funktion“ des Textes: „Die Auseinandersetzung mit dem fremden Text ergibt für den Prediger die Herausforderung und den Anstoß zum eigenen Reden. Der hermeneutische Akt ist deshalb 338 Welche Kriterien für diesen letzten Schritt homiletischer Analogiebildung zu veranschlagen sind, wird im Zusammenhang der Frage nach dem Hörer bzw. dem Situationsbezug der Predigt weiter vertieft (vgl. I.6, S. 323-368). <?page no="181"?> 181 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven in der Tat als dialogische Begegnung zu verstehen, in Analogie zum offenen Gespräch mit einem lebendigen Partner. Wenn sich dieses Gespräch nicht im wechselseitigen Austausch von Bestätigungswerten erschöpft, dann […] findet die kreative Erweiterung des Lebenshorizonts und der sprachlichen Kompetenz als kritische Überwindung bisheriger Wahrnehmungs- und Ausdrucksbarrieren statt.“ 339 Indem sich ein Prediger bei der Vorbereitung auf die Predigt auf einen Text bezieht, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die in der Glaubenskommunikation erwartete Konfrontation mit den „Bedingungen des Reiches Gottes“ von der Konkretheit einer Situation profitiert. Der Text ventiliert ja nicht theologische Begriffe oder Ideen, sondern formuliert Glauben unter den Bedingungen einer ganz bestimmten Situation und zielt u. U. auf ganz bestimmte Veränderungen einer Situation. In Texten werden wir häufig mit Modellen dafür konfrontiert, wie Situationen und die in ihnen Handelnden sich ändern können. Ohne einen Text hätte der Prediger womöglich Antworten nur für konstruierte Situationen im Blick, in denen er sich auskennt - ohne die Chance, den ,richtigen‘ Fragen zu begegnen. b) Die kreatorische Funktion des Textes Worin die kreatorische Funktion des Textes besteht, geht zum großen Teil schon aus der oben beschriebenen, dem Leser aufgetragenen Kooperation mit dem Text hervor: In dem dort beschriebenen Sinn kreiert der Text seinen Leser. Die Auseinandersetzung mit dem Text ist nicht nur deshalb ein schöpferischer Prozess, weil der Ausleger neben Fachwissen Phantasie braucht, um mehr im Text lesen zu können als seine Buchstaben zeigen; dem Text selbst kommt eine kreatorische Funktion zu, indem er seinen Leser dazu bringt, sich im Prozess der Lektüre als einen anderen wahrzunehmen. Das ist im Prinzip bei der Lektüre eines jeden ‚guten‘ literarischen Textes so. Das Besondere an den biblischen Texten ist in erster Linie nicht ihre Struktur bzw. ‚Machart‘; die verbindet sie gerade in vielerlei Hinsicht mit anderen Briefen, Liedern, Geschichten, Parabeln, Gebeten usw. Das Spezifische biblischer Texte liegt eher auf der Ebene ihrer besonderen, verwickelnden Inhalte, ihrer Intentionen, ihrer Ansprüche, ihrer radikalen Ausrichtung auf den Existenzbezug des Menschen. Das heißt, man kann biblische Texte auch wie andere 339 M. Josuttis, 1983, 389. <?page no="182"?> 182 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Texte lesen, um sich an ihrer Ästhetik zu erfreuen und dabei ein genießender Leser sein. Man kann ihre ethischen Werte studieren, in eigenen Auffassungen korrigiert werden und ein Lernender werden. Dies liegt, wie gesagt, auch in der Intention anderer literarischer Texte. 340 Biblische Texte - und natürlich ihre Auslegungstradition - treten häufig mit dem Anspruch auf, den Leser gewissermaßen zum Zeugen dessen werden zu lassen, was da erzählt wird und ihn die Kooperation mit sich (also den Texten) als tröstend, befreiend, ermutigend usw. erfahren zu lassen. 341 Der Leser soll die Texte in existentieller Betroffenheit rezipieren und mit ihrer Hilfe besser verstehen können, was im Blick auf sein eigenes Leben auf dem Spiel steht. Die Definition dieser Textfunktion als „kreatorisch“ ist nicht mit der „kreativen Funktion“ bei Josuttis zu verwechseln. Eher bestehen gewisse Parallelen zwischen der hier besprochenen kreatorischen und der von ihm diskutierten „autoritativen Funktion“ des Textes. 342 Der Gedanke, dass das Lesen oder Vernehmen des Textes die Hörer bzw. Leser in gewisser Hinsicht ‚qualifiziert‘, ist nicht unberechtigt. Freilich ist diese Begründung der Autorität ein textinternes Argument, das die von Josuttis zu Recht kritisierte textexterne Prämisse, wonach der Text schon durch sein bloßes Gegebensein Autorität besitze, keineswegs stützt. c) Die konfirmierende Funktion des Textes Das Lesen biblischer Texte bedeutet auch Vergewisserung. Diese Funktion würde sicherlich von vielen Lesern der Bibel an erster Stelle genannt werden: Im Text finden Menschen bestätigt, was sie glauben und sehnsüchtig erhoffen. Durch das, was „geschrieben steht“, können ihre Zweifel zerstreut, kann Skepsis abgebaut werden. Im Text bezeugt jemand, der - wenn auch zeitversetzt - gemeinsam mit dem Leser oder Ausleger glaubt, dass sein Glaube ihm geholfen hat. Der Leser muss das nicht alles genauso sagen können oder jene Erfahrung nun umgehend auf dieselbe Art und Weise nachmachen. Was da steht, wird ihm 340 Vgl. zum Streit um die Funktionen biblischer und anderer literarischer Texte W. Engemann, 2000a, 233-238. 341 A. Horn (2009) schlägt einige „hoffentlich entlastende“ Übungen für den Umgang mit Texten vor, die dazu führen dürften, dass es nicht bei dem hier formulierten Anspruch bleibt. Vgl. insbesondere seine Ausführungen zum „Prediger als homo ludens“ in: A. Horn, 2009, 148-150. 342 M. Josuttis, 1983, 387 f. <?page no="183"?> 183 3.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven ja nicht erzählt, um ihn zum Parteigänger des Autors zu machen. Eine bestätigende Wirkung setzt lediglich voraus bzw. schließt ein, dass der Leser zwischen sich, dem Autor des Textes und denen, die ihm diesen Text überliefert und nahegebracht haben, eben auch gemeinsame Identitätsmerkmale erkennt. Wer in der Schrift liest, erfährt, dass die Beantwortung seiner Fragen, die Bewältigung seiner Probleme oder die Suche nach Orientierung auf der Grundlage bereits gefundener Antworten und der Erfahrung bewältigter Not erfolgen kann. In diese Bestimmung des Textes fließen Aspekte ein, die von Josuttis teils der „kommunikativen“, teils der „identitätsstiftenden“ Funktion des Textes zugewiesen werden. Josuttis erläutert die identitätsstiftende Funktion u. a. mit dem sozialpsychologischen Argument, dass sich „menschliche Gemeinschaften […] in unserem Kulturkreis durch ihren Bezug zu schriftlichen Dokumenten“ konstituieren. 343 Den kommunikativen Aspekt des Textes erläutert er zunächst in der gleichen Weise: „Er [der Text] stiftet Gemeinschaft.“ Später wird diese Aussage jedoch präzisiert: Der Text erweist sich als „Plattform“ der Kommunikation, „auf der sich der homiletische Akt als Verständigungsbemühung um die aktuelle Relevanz des christlichen Glaubens entfalten kann“ 344 . d) Zur Frage der Einbringung des Textes in die Predigt Im Predigtgeschehen selbst erfüllt der Text nur zusammen mit der Predigt die eben genannten Funktionen. Auch aus diesem Grund ist die Einbringung des Textes in den Predigtvortrag einer eigenen Überlegung wert. 345 Wenn man den Text stereotyp immer am Anfang der Predigt verliest, reduziert man sein Funktionsrepertoire auf ein Minimum, zumal bei schwierigen Texten, deren Grundaussagen man erst nach wiederholtem Lesen verstehen kann. Solche Texte gewinnen beim bloßen Hören häufig nicht einmal eine informierende Funktion, sondern werden von den Hörern als Einstiegsritual in die Predigt wahrgenommen. Je weiter der Text nach hinten gesetzt wird, je mehr im Vorfeld des Textzitats zur Verständlichkeit des Textes getan wird, je sorgfältiger die Situation zur späteren Verortung des Textes erschlossen, je plausibler die Fragen nachgezeichnet werden, die der Text berührt - oder die Antworten problematisiert werden, die 343 A. a. O., 392. 344 A. a. O., 390. 345 Vgl. zwei Beispiele für die Texteinbringung am Ende der Predigt mit entsprechenden homiletischen Überlegungen zur Funktion des Textes bei W. Engemann, 2001b. <?page no="184"?> 184 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt der Text in Frage stellt - umso höher wird seine Erschließungsfunktion für das in der Predigt zuvor Gesagte sein, und umso verständlicher ist auch der Text selbst. Wird der Hörer durch die Predigt auf den Text vorbereitet, fängt der Text sofort an zu sprechen, er wird ‚brauchbar‘ in dem Sinne, als er im Verständnis der Hörer einen Platz bekommt und ihr Handeln zu leiten vermag. Gar ans Ende der Predigt gestellt, kann er schlaglichtartig den geistlichen Horizont der Predigt ausleuchten und eine vergewissernde, die Hörer in den Alltag begleitende Funktion haben. Ein Text, der gut verständlich ist wie z. B. ein Erzähltext, kann durchaus auch am Anfang der Predigt stehen bzw. innerhalb der Predigt verschiedene Funktion haben. Am Anfang der Predigt kommt ihm - soweit er verständlich ist - häufig eine konfrontierende Funktion zu. Seine kreatorische Funktion erfüllt ein Text besonders dann, wenn er im Verlauf der Predigt aus unterschiedlichen Perspektiven ins Spiel gebracht wird, um den Hörern - sozusagen auf allen seinen Ebenen bzw. durch den Einblick in den Zusammenhang seiner ‚Welten‘ (s. o. 3.3.1.a, S. 163-166) - ein je eigenes Selbstverständnis dafür zu vermitteln, welche Rolle(n) ihnen dieser Text nahelegt. Aus diesen Zuordnungen lassen sich keine Gesetze ableiten, die einfach nur zu befolgen wären. Wer predigt, sollte jedoch in der Lage sein, einen Text durch gezielte Kontextualisierungen multifunktional einzusetzen. Vom bloßen Zitat an einer beliebigen Stelle in der Predigt kann man jedenfalls nicht erwarten, dass der Text dann schon selbst dafür sorgen werde, in der gewünschten Weise rezipiert zu werden. 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt 346 3.4.1 Voraussetzungen biblischer Predigt Wie ist der Textbezug einer Predigt zu definieren, die der Kategorie einer „biblischen Predigt“ 347 entsprechen soll? Vor dem Hintergrund der bisher gewonnenen Erkenntnisse können wir uns mit der vagen Aussage, „dass der biblische 346 Die nachstehenden Erläuterungen haben den Charakter einer Zusammenfassung und setzen die Lektüre von I.3.2 und I.3.3 voraus. 347 Vgl. meine kritischen Bemerkungen zu derartigen Definitionsversuchen oben S.-115 f. <?page no="185"?> 185 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt Text im Mittelpunkt der Predigt stehen soll“ 348 , nicht zufriedengeben, auch nicht nach dem Zusatz, „den biblischen Text zum Umschlagplatz der Erkenntnis in der Predigt zu machen und einmal zu sehen, was dabei herauskommt“ 349 . Ähnliche Missverständnisse liegen den Einschätzungen J. P. Grevels zu „bibelorientierten Predigttheorien“ zugrunde 350 , zu denen der Verfasser nur die Entwürfe Christian Möllers, Horst Hirschlers und Friedrich Mildenbergers zu zählen vermag. Aus Ernst Langes Ansatz habe man in der Predigtpraxis den Schluss gezogen, „die Exegese des Textes als kritische Distanz der Predigtgestaltung aufzugeben“ (38) - eine groteske Behauptung. Die semiotische Methode drohe gar zum „deus ex machina im Gewande theologischer Herrschaftsinteressen“ (54) zu werden - um nur zwei Beispiele zu nennen, denen der Verfasser das Qualitätsprädikat „bibelorientierter Homiletik“ versagen muss. Der Verfasser beklagt - ausgehend von seinem Vorverständnis „bibelorientierter Homiletik“ - mit Referenzen auf den rezeptionsästhetischen Diskurs der Homiletik die angebliche „Infragestellung“ der Autorität des Textes durch entsprechende Ansätze. 351 Damit wird er der Differenziertheit und der in diesem Diskurs gepflegten Leidenschaft und Aufmerksamkeit für den Text nicht gerecht. Der Vorschlag Grevels, mit Hilfe der „Lichterlehre“ Karl Barths der „Relativierung“ des Textes durch die homiletischen Impulse der Rezeptionsästhetik zu entkommen (56), ist im Ansatz verfehlt. Grevel konstruiert homiletische Oppositionen (z. B. einem „relativen“ und einem „absoluten“ Textverständnis), die zu dem Diskurs, auf den er sich bezieht, nicht passen. Er verstellt sich durch seine unhinterfragten Prämissen den Blick für die theologischen Gründe einer (u. a. auch) rezeptionsästhetischen bzw. semiotischen Kultur des Umgangs mit biblischen Texten. Der Vorwurf der Relativierung des biblischen Textes ist nicht zuletzt Folge eines ungeklärten Verhältnisses zwischen der Art der Autorität biblischer als literarischer Texte, der Rede von „Gottes Wort“ und der Art der Autorität eines zeitgenössischen Glaubenszeugnisses in Gestalt einer Predigt (vgl. dazu unten 3.4.2). Wo der Text proklamatorisch - wie bei Hirschler - kurzerhand zum Mittelpunkt der Predigt erklärt wird, läuft die Predigt Gefahr, zu einem mehr oder weniger informationsreichen Rundgang zu werden: Wie ein Guide die christlichen Pilger zu den heiligen Stätten Israels führt und sie mehr oder weniger sachkundig darüber in Kenntnis setzt, was dort einst geschah, so werden die Hörer bald auf 348 Dies versteht H. Hirschler als „Zuspitzung der homiletischen Aufgabe“, biblisch zu predigen (1988, 18); Hervorhebungen original. 349 Ebd. 350 J. P. Grevel, 2002, 30-37. 351 A. a. O., 41-51. <?page no="186"?> 186 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt dieses, bald auf jenes Detail des Textes verwiesen - und sind dabei oftmals genauso weit vom Alltag entfernt wie auf einer wirklichen Reise ins Heilige Land. Wenn lediglich der Text zum „Umschlagplatz der Erkenntnis“ erklärt wird, erhebt man ihn zum eigentlichen Ort des homiletischen Geschehens. Der für die Brauchbarkeit bzw. Verständlichkeit der Predigt entscheidende Umschlagplatz und Ort des Verstehens ist jedoch, wie mehrfach begründet wurde, die Lebenswirklichkeit des Hörers. Er soll durch die Predigt, die sich auf einen Text bezieht, dazu instandgesetzt werden, aufs Neue zwischen Tradition und (seiner) Situation zu vermitteln. Damit dies geschehen kann, muss eine andere Verhältnisbestimmung zwischen biblischer Überlieferung und Predigt vorgenommen werden. Es kommt nicht darauf an, einen Text zum Mittelpunkt der Predigt zu machen, sondern die Bibel als Ressource eines Lebens aus Glauben zu plausibilisieren. Nach diesem Verständnis läuft die Predigt nicht auf einen Text zu, sondern sie basiert auf der biblischen Tradition. Was heißt das im Einzelnen? 1. Zunächst ist auf eine scheinbare Paradoxie zu verweisen: Biblische Predigt muss situationsbezogene Predigt sein, denn der Bezug auf biblische Texte ist ein Prozess, in dem das Zeugnis von Menschen von Anfang an in einer bestimmten Situation steht. Was in den Texten zu lesen ist, kann angemessen nur im Kontext einer spezifischen Situation gedeutet werden und zielt wiederum auf Erfahrungen (des Glaubens) in konkreten Situationen (vgl. Abb. 1, S. 27). 2. „Biblisch“ wird eine Predigt weder schon noch erst durch ihren Bezug auf einen Text der Heiligen Schrift, sondern indem sie unter Bezug auf diese Tradition aufs Neue die Kommunikation des Evangeliums in Gang setzt, wozu es gehört, dass Menschen einen Schritt in die Freiheit tun, sich als geliebt und wertgeschätzt erfahren, sich mit Freude und Zuversicht anderen sowie dem eigenen Leben zuwenden können und auch in der Selbstliebe gestärkt werden. 352 3. Biblisch ist eine Predigt, die ihren Text historisch werden lässt, indem sie dem Zeugnis der Schrift das Zeugnis des Predigers - die Predigt - als Ergebnis u. a. der Auseinandersetzung mit dem Text folgen lässt. Dabei kommen Gehalte, Intentionen, Aspekte, Perspektiven des Textes in neuer Gestalt, also in der Regel auch in anderen Begriffen und Bildern zur Sprache. 352 Vgl. dazu Kapitel III.2.2. <?page no="187"?> 187 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt 4. Biblisch ist eine Predigt, die sich bewusst in einen Überlieferungs- und Interpretationsprozess hineinstellt und auf die in der Tradition bewahrten Erfahrungen als Quelle, als Korrektiv und zur Vergewisserung ihres Zeugnisses zurückgreift. Das Ziel dieses Traditionsbezugs ist nicht, genau dieselben Erfahrungen wie die Autoren und ersten Adressaten biblischer Texte zu machen und ihre Bekenntnisse wörtlich nachsprechen zu können, sondern in der Kontinuität dieser Tradition zu analogen Einsichten und Erfahrungen zu gelangen. 5. Biblisch ist eine Predigt, die die besonderen Bedingungen der literarischen Gestalt des „Wortes Gottes“ respektiert, die wir - im Fall der Predigtperikopen - in Form verschrifteter Zeugnisse vor uns haben. Eine Predigt, die z. B. nur auf einer der erörterten Ebenen des Textes 353 basiert, steht trotz ausgiebigen Zitierens, trotz kerygmatischer Reduktion und trotz historischer Entdeckungen in der Gefahr, „unbiblisch“ zu sein. 6. Biblische Predigt wiederholt nicht einfach, was im Text steht; ihre „Biblizität“ wird sich darin erweisen, dass sie das vom Text notwendigerweise Verschwiegene, aber für den Leser Eingeräumte, zur Sprache bringt. 354 Biblische Predigt fordert daher in starkem Maße einen eigenständig argumentierenden und „eigensinnigen“ 355 Prediger, der weiß, was er an einem bestimmten Sonntag aus welchen Gründen mit der konkreten Predigt sagen und bewirken will. 3.4.2 Die Autorität der Schrift - eine hermeneutische Kategorie a) Beobachtungen zur Erfahrung von Autorität Es gehört zu den größeren Herausforderungen theologischer Hermeneutik, der Autorität der Überlieferung und dem homiletischen Gebot der Relevanz gleichermaßen gerecht zu werden. Es ist ein Teil der homiletischen Kunst, mit einem Text, der weder als Predigtperikope für den je vor uns liegenden Sonntag gedacht noch überhaupt für uns heute geschrieben wurde, eine Predigt zu halten, die den Text aus vergangenen Tagen ebenso zwingend braucht wie die jeweils anwesende Gemeinde mit ihren Erfahrungen aus Jetzt und Hier. 353 Vgl. oben Abb. 8 (S. 164) und 10 (S. 218). 354 Zu diesem Doppelaspekt der Kooperation mit dem Text vgl. W. Engemann, 2003e, 126-133. 355 Vgl. K.-H. Bieritz, 1998. <?page no="188"?> 188 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Jene Herausforderung zeigt sich bereits bei Verständigungen über die Art der Autorität biblischer Texte: Der bei Studierenden und Pfarrern durchaus anzutreffenden Aufgeklärtheit über die Entstehungsgeschichte eines Briefes, Liedes oder Gleichnisses steht später in der Predigt oft eine unvermittelte, hermeneutisch ungebrochene, direkte „Verkündigung“ von Einzelsätzen des Textes als „Wort Gottes“ gegenüber, denen man sich zu beugen müssen glaubt, ob man damit etwas anfangen kann oder nicht. Häufig dominiert das Bewusstsein, im Gehorsam gegenüber der Schrift „ungeschminkt weitersagen“ zu müssen, „was dasteht“, die Arbeit mit dem Text. Diese Gefolgschaft wird gern mit psychologischen und kommunikationstheoretischen Annahmen gerechtfertigt oder mit menschlichen Defekten begründet: „Ich darf doch nicht nur die Dinge sagen, die mir persönlich gefallen.“ „Es ist doch falsch, sich aus Gottes Wort das Angenehme herauszupicken und das Unangenehme zu verschweigen.“ „Der Glaube ist nicht zum Wohlfühlen da.“ „Wo, wenn nicht im Gottesdienst, muss man mit dem Menschen auch mal Tacheles reden dürfen.“ Wenn man im Gespräch die Hintergründe dieser Positionen erörtert, kommen entsprechende Prämissen zum Vorschein, so z. B. die Auffassung, dass sich die Autorität der Schrift letztlich darin erweise, dass sie nicht relevant zu sein brauche, weil sie „Machtworte“ spreche. (Für Machtworte gelten die Bedingungen von Evidenz und Relevanz bekanntlich nicht.) In der Praxis freilich sind das Erleben und Zuerkennen von Autorität meistens eine Art Echo auf die Erfahrung von Relevanz. Autorität bahnt sich unter anderem als Nebeneffekt von Kommunikationserfahrungen an, wenn sich uns durch jemanden etwas erschließt, was uns fortan wichtig ist. Wo Autorität nicht im Kommunikationsgeschehen selbst zum Tragen kommt, wird sie erfahrungsgemäß umso mehr proklamiert, gefordert oder versuchsweise erzwungen, was Gesten scheinbaren Gehorsams zur Folge haben kann. Außerdem verliert Autorität unter Zwang oder Druck ihren eigentlichen Charakter: das allgemein anerkannte Ergebnis ihrer Wirkung zu sein. Die Wechselbeziehungen zwischen dem Verständnis von der Autorität der Schrift und dem Umgang mit ihren Texten sind u. a. durch das in verschiedenen Fassungen kursierende Missverständnis bedingt, dass sie, die Schrift, sich erst und vor allem in der Aktualisierung historischer Textsinne Geltung verschaffe. Hermeneutische Verfahren - wie etwa die Analogiebildung - sind jedoch, wie oben gezeigt wurde, viel komplexer. Die Pointe einer biblischen Erzählung verstanden zu haben, heißt ja nicht, sie zu bejahen oder es nun einfach auch „so“ zu machen, auch „so“ zu denken oder sich <?page no="189"?> 189 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt mit dem Helden bzw. der Heldin der Geschichte, gar mit Gott, zu identifizieren. Ausschlaggebend ist, ob ein Prediger seinem Text so weit auf den Grund gekommen ist, dass er ihn mit einer veränderten Sicht der Dinge wieder „verlassen“, über ihn hinausgehen kann, und mit dem Wissen, das er der Auseinandersetzung mit dem Text verdankt, auf gegenwärtige Fragen eines Lebens aus Glauben zu sprechen kommen kann - mit einem eigenen, stimmigen, hoffentlich relevanten Text. Das ist etwas grundsätzlich anderes als das Ergebnis einer „Aktualisierung“. Einen biblischen Text zu verstehen heißt, etwas genereller formuliert, ihn als Zeugnis eines bestimmten Lebens- und Glaubenskonzepts in den Blick zu bekommen - und in diesem Sinne natürlich auch als eigensinnige Autorität. Ob aber eine solche Annäherung an den Text auf eine heilsame Verunsicherung und Infragestellung, oder auf eine notwendige Distanzierung, auf eine überraschende Bestätigung oder worauf auch immer hinausläuft, muss sich je und je erst herausstellen. Ein Text verliert jedenfalls nicht an Autorität, wenn wir in einen Dissens zu ihm geraten und er uns gar eine Art der Daseinsbewältigung vor Augen stellt, die wir uns heute nicht mehr zu eigen machen wollen. 356 Es ist heikel sowohl für die Autorität der Schrift als auch für die Relevanz der Predigt, wenn Bibeltexte ihrem Wesen nach nicht als Glaubenszeugnisse menschlicher Daseinsbewältigung verstanden werden. Dadurch wird es nämlich unmöglich, ihre Autorität in der Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses zu sehen. Biblische Texte können aber gar keine theologische Bedeutung gewinnen, geschweige denn lebensweltlich relevant werden, wenn nicht plausibel geworden ist, was sie als Menschentexte bezeugen, wofür sie geschrieben und wofür sie gebraucht wurden, welcher Erfahrungskern, welcher Glaube sie bestimmt. Er ist das Grundwasser ihrer Autorität. Wenn man nicht bis dorthin vordringt, kann man alle möglichen Bedeutungen aus den Texten herauspumpen, ohne dabei auf Relevantes zu stoßen. b) Schriftautorität als Kommunikationsbegriff und hermeneutische Kategorie Was macht die Autorität der biblischen Texte aus? Vom Ursprung des Begriffs auctoritas her gesehen haben die Texte der Bibel Autorität, weil sie von Autoren stammen, deren Texte sich als glaubwürdig und relevant erwiesen haben. Auctor und auctoritas, Autor und Autorität haben nicht nur sprachlich dieselbe 356 Als ein Beispiel hierfür sei die Aufforderung zu einer Praxis radikaler bzw. rigoroser Nachfolge genannt (Lk 14,25-35). <?page no="190"?> 190 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Wurzel, sie sind auch in der Sache zutiefst miteinander verschränkt: Der Begriff der Autorität bezieht sich ursprünglich auf einen zitierbaren Autor, auf den man aus argumentativen Gründen zurückgreift, um einer wahrscheinlichen Aussage bzw. Interpretation ein noch größeres Gewicht zu geben. Gebraucht wurden solche Autoritäten besonders in politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen, in denen es in Rede und Gegenrede um Begründungen ex auctoritate 357 ging. Im politischen und juristischen Tagesgeschäft ist das bis heute so. Bekräftigend wirkt die Autorität des Zitierten jedoch nur, wenn sich die Stimme des Autors in vorausliegenden Kommunikationssituationen bereits als glaubwürdig, belangvoll und gut begründet erwiesen hat. Autorität ist also im Kern ein Kommunikationsphänomen und damit eine hermeneutische Kategorie. Sie ist ein Gut, das in Kommunikationsprozessen „gewonnen“ wird. Autorität ist im Kern ein nicht erzwingbarer Widerhall der Erfahrung von Respekt, der sich beim Hören oder Lesen dadurch einstellt, dass man nicht nur etwas versteht, sondern sich selbst in Relation zu etwas neu zu verstehen gegeben wird. In dieser Funktion muss sich Autorität immer wieder bewähren, sonst „verliert sie sich“, sie „schwindet“ und wird nur noch als angemaßte Autorität empfunden, auf die man pochen muss - weil man sie nicht „hat“. Was ergibt sich aus all dem für das Verständnis der Autorität der Schrift? 358 1. Die Autorität der biblischen Texte ist das Ergebnis eines hermeneutischen Prozesses. Indem ihr Zeugnis vernommen, als glaubwürdig empfunden, verstanden und dabei in seiner Relevanz erkannt wird, gewinnt es an Autorität. 2. Autorität und Relevanz wird biblischen Texten umso eher beigemessen, als sie als existenzrelevante Lebens- und Glaubenszeugnisse von Menschen nachvollziehbar sind und keine Maßstäbe oder Maximen vorgeben, die sich Menschen schlechterdings nicht zu eigen machen können. Existenzrelevant sind insbesondere solche Kommunikationen, die eine Leben eröffnende, befreiende Konsequenz haben und deshalb für einen Menschen eminent sind, belangvoll werden. 3. Glaubende rezipieren Texte der Tradition und geben sie weiter, weil sie Gründe haben, ihnen mit einem Vertrauensvorschuss zu begegnen und 357 Vgl. H. Lausberg, 1990, 102, 234-235. In dieser Sprachform sind die Begriffe „Autor“ und „Autorität“ sinnenfällig verschmolzen. De auctoritate heißt sowohl „auf Basis einer Autorität“ wie „von einem angesehenen Autor bezeugt“. 358 Vgl. auch die zusammenfassenden Thesen bei Wilfried Engemann, 2014, 125 f. <?page no="191"?> 191 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt sie als Autorität anzuerkennen. Im Akt der Rezeption und Interpretation setzen sie jedoch die Tradition fort und werden damit potentiell selbst „Autorität“. 4. Der Autorität der biblischen Texte wird nicht durch Bejahung, Zustimmung oder Für-wahr-Halten entsprochen. Im Vorfeld der Predigt erheben sie vielmehr den Anspruch (an den Prediger), als glaubwürdiges Zeugnis anerkannt und als gültiges Muster für ein Leben aus Glauben wahrgenommen zu werden. Als menschlichen Glaubenszeugnissen kommt ihnen höchstmögliche Autorität zu. Abgesehen vom homiletischen Kontext: Biblische Texte ringen heutigen Lesern und Hörern noch immer eine Stellungnahme ab. Dieser Prozess schließt aber nicht aus, sondern ein, zu einem eigenen Urteil, in der Sprache der Tradition, zu einem Bekenntnis im Blick auf das eigene Leben aus Glauben zu gelangen. Die in der Bibel verschrifteten Zeugnisse sind folglich mit all ihrer Autorität eine „Zwischenstation“ beim Überliefern des Glaubens. Den facettenreichen Prozess der Überlieferung des Glaubens stark vergröbernd, könnte man so formulieren: Nachdem ein Erzähler erzählt (vorbiblische Tradition), ein Autor geschrieben (biblische Tradition) und jemand eine Interpretation dazu geliefert hat (homiletische Tradition), sind schließlich die Hörer an der Reihe, ihren Part zu übernehmen, die Relevanz des Vernommenen in eigener Person zu spezifizieren und dabei „zu Tätern des Wortes“ zu werden. Dazu soll ihnen die Predigt helfen. 359 Es hat nichts damit zu tun, die Autorität Gottes in Frage zu stellen, wenn man die Zeugnisse, die von ihm künden, zusammengenommen nicht als das ‚Buch Gottes‘ versteht, sondern als literarische Spurensicherung der Glaubens- und Freiheitskultur des Christentums, die die Bibel zu einem einzigartigen Vademecum für ein Leben aus Glauben macht und ihr Autorität verleiht. Wenn im homiletischen Prozess auf die Autorität der Heiligen Schrift Bezug genommen wird, ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass letztlich nicht Texte, sondern Subjekte im Blick sind, Menschen, die in ihrem Leben aus Glauben gestärkt werden sollen, in einem Leben, das in starkem Maße als ein Leben in Freiheit zu bestimmen ist. Bisweilen kommen aber in der Arbeit am Text Autoritätskonzepte zum Tragen, die Elemente der Bevormundung aufweisen, auf 359 In der Erläuterung zu Abb. 1 (vgl. S. 26-37) wurde dieses Prozedere im Detail vorgestellt. <?page no="192"?> 192 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Rechthaberei gründen oder gar einen inquisitorischen Ton an den Tag legen. Dabei wird die Heilige Schrift als Machtsubjekt missverstanden, das immer recht behält - und wenn es das Einzige ist, was der Leser oder Hörer zu begreifen hat. Wenn man schrifthermeneutisch an der Kategorie einer verliehenen, im Verstehen eingeräumten Autorität festhalten will, kommt man nicht umhin, die Autorität der Schrift zu anderen Prämissen der homiletischen Arbeit in Beziehung zu setzen. Eine dieser Prämissen betrifft das Verhältnis von Autorität und Freiheit: Es ist ein Ausdruck von Freiheit, sich an die Gründe zu binden, von deren Relevanz man überzeugt ist. Mit Bezug auf die biblischen Texte kann man sagen, sie werden mir vor allem dadurch zur Autorität, dass ich ihre Art, den Menschen und sein Leben wahrzunehmen - und mich mir zu verstehen zu geben -, „schätzen gelernt“ habe, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ich davon durch einen Zuwachs an Freiheit profitiere. Die Freiheit, mich an bestimmte Gründe zu binden und mich in meinem Urteil von einer Autorität wie der eines biblischen Textes bedingen zu lassen, ist Ausdruck eines auf kommunikative Resonanz bezogenen Autoritätsverständnisses. Solche Autorität verliert ihre kommunikative Kraft in dem Maße, wie sie nur behauptet und rhetorisch „durchgesetzt“ wird. Von Mensch zu Mensch Gesprochenes darf sich auch im Bezug auf Autoritäten nicht des Anspruchs der Begründbarkeit und damit der Plausibilität entziehen. Eine weitere, homiletisch zentrale Relation ist das Verhältnis der Autorität der Schrift zur Rationalität einerseits und zur Ideologie andererseits. Weil faktisch wirksame Autorität aus ergebnisoffenen Verständigungsprozessen hervorgeht und in der kommunikativen Praxis als Vertrauensvorschuss gewährt wird, war man sich schon früh der Gefahr ideologischen Argumentierens mit Autoritäten bewusst. Nicht erst in der Aufklärung, schon in der Antike wurde auf die Gefahr der „Autoritätsgläubigkeit“ verwiesen. Diese Haltung ist auch dann keine Empfehlung, wenn sie sich auf die fromme Rezeption eines Textes in der Predigtvorbereitung bezieht. Sofern die Autorität der biblischen Zeugnisse in dem Inhalt liegt, den sie bezeugen, sofern sie also - wie die ex auctoritate-Referenzen der Antike - aufgrund ihrer durchaus verständlichen, unwiderstehlich klaren, nicht selten überraschenden Positionen und Pointen, Gewicht bekommen, kann deren Autorität unmöglich gegen das Erkenntnisprinzip, also gegen das Verstehen-Müssen der Texte als Voraussetzung ihrer Relevanz und Wirkung ausgespielt werden. <?page no="193"?> 193 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt 3.4.3 Mit dem Alten Testament christlich predigen - Normalfall und Sonderfall Vorüberlegungen Nach intensiven Diskussionen in den Gemeinden und auf Synoden sowie aufgrund zahlreicher landeskirchlicher Stellungnahmen zum Verhältnis von „Christen und Juden“ 360 aus den 80er und 90er Jahren stehen wir heute in einer anderen Situation als etwa noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur das Bewusstsein in den christlichen Gemeinden hat sich geändert, auch Kirchengesetze sind um- und neugeschrieben worden, um grundlegenden Einsichten Rechnung zu tragen. Gemäß dem (revidierten) Votum der „Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise ,Christen und Juden‘ im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland“ (KLAK) gilt es als Konsens, in Gottesdienst und Predigt angemessen zum Ausdruck zu bringen, dass Juden und Christen sich zu demselben einen Gott bekennen, dass der Bund Gottes mit seinem Volk ungekündigt fortbesteht und dass Jesus seine Botschaft als Jude verkündet hat, 361 d. h. ohne mit seinem Glauben der jüdischen Tradition abzuschwören, vielmehr in der Absicht, diese auf seine eigene Weise fortzusetzen. Dieser Konsens hat mit dazu beigetragen, dass - wenigstens in der Theorie und in den danach erarbeiteten Liturgien der evangelischen Landeskirchen Deutschlands - jegliches Triumphieren, soweit es als Triumphieren über den jüdischen Glauben und die ihn prägenden Gottesoffenbarungen verstanden werden konnte, in unseren Gottesdiensten keinen Platz mehr hat. Allerdings war die maßgebliche Stellungnahme von EKU und VELKD - wie ihre Kritiker zutreffend feststellen 362 - fast ausschließlich an dogmatischen Argumentationsfiguren interessiert, ohne in gleichem Maße exegetische, religionsgeschichtliche u. a. Aspekte zu berücksichtigen. Das hat zur Folge, dass alte Irrwege im Umgang mit dem Alten Testament nicht klar genug benannt werden und dass im Grunde alle der unten problematisierten Modelle noch immer möglich zu sein scheinen. 360 So lautet auch der Name der 1961 gegründeten Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der viele Publikationen zu diesem Thema zu verdanken sind. 361 Vgl. „Lobe mit Abrahams Samen“, 1995, 3-5. Dieser Grundkonsens ist - bei durchaus abgestuften Interpretationen - auch in den sich anschließenden Debatten nicht aufgegeben worden. Vgl. dazu die Beiträge in: Streit um das Gottesdienstbuch, 1995. 362 Vgl. z. B. F. Crüsemann/ W. Romberg, 1995, 30. <?page no="194"?> 194 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt Das Wenige, was in der Stellungnahme von EKU und VELKD zu der so wichtigen und komplizierten Frage der Hermeneutik konstatiert wird, hat einen stark apologetischen Charakter und bietet kaum konstruktive Aspekte für den Umgang mit dem Alten Testament. Es wird als angemessen verteidigt, dass Christen das Alte Testament von Ostern her zu lesen haben, dass das Alte Testament zusammen mit dem Neuen die christliche Bibel bilde, dass es folgerichtig „zwei Ausgänge der im Alten Testament bezeugten Glaubensgeschichte“ geben dürfe, einen nach jüdischem und einen nach christlichem Verständnis. Im Hinblick auf die entscheidende Frage nach der Begründung der christlichen Auslegung des Alten Testaments wird auf das Bestehen „je eigene(r) Auslegungshorizonte von Juden und Christen“ verwiesen. Welchen Sinn es haben soll oder welche Notwendigkeit besteht, „jede Aussage der Tradition [auch] in ihrem ursprünglichen Sinn zu erfassen“ 363 , wird demgegenüber nicht erläutert. Bei der Frage nach der christlichen Predigt mit alttestamentlichen Texten können wir nichts von dem suspendieren, was wir oben an Argumenten für eine schriftgemäße Predigt erörtert haben. In Anbetracht der Notwendigkeit, unsere Aufmerksamkeit einerseits dem Gehalt und der Gestalt der Texte zu widmen und genau zu lesen, was dasteht, andererseits aber in jeder Predigt „Christus verkündigen“ zu sollen, stehen wir vor einem spezifischen hermeneutischen Problem: Wie verfahren wir mit Texten, „die den nicht kennen, den wir in unserer Predigt verkündigen wollen“? 364 In der Geschichte der christlichen Auslegung des Alten Testaments lassen sich meines Erachtens zunächst drei Grundmodelle voneinander unterscheiden, die diese Frage zwar zu klären suchen, dabei aber auch neue Probleme schaffen. Ich schlage vor, sie als retrospektivisches Modell, als Oppositionsmodell und als dynamisches Modell zu bezeichnen. Diese Modelle sollen nachstehend kurz skizziert werden, bevor wir fragen, was die Anwendung eines vierten Modells - des schon erläuterten Analogiemodells - für die Predigt des Alten Testaments leisten kann. a) Das retrospektivische Modell Diesem Modell zufolge wird unterstellt, dass ein eigentliches Verstehen des Alten Testaments nur im Rückblick - das heißt in diesem Fall, vom Neuen Testament her - möglich sei. Grundschema dieser hermeneutischen Vorgehensweise 363 Vgl. die Stellungnahme der Theologischen Ausschüsse, 1995, 18 f. 364 K.-P. Hertzsch, 1997, 3. <?page no="195"?> 195 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt ist die Relation von Verheißung und Erfüllung, wobei sich die Bibel als scheinbar geschlossener Verweisungszusammenhang darstellt. In dieser an Hinweisen auf das Kommende interessierten Lektüre verweist das, was im ersten Teil der Bibel steht, latent auf den zweiten Teil und scheint vor allem deshalb lesenswert zu sein, weil es auf das neutestamentliche Zeugnis von Christus bezogen werden kann. 365 Die Probleme dieses Modells liegen auf der Hand: Es ist (1.) geschichtslos, weil es auf einem punktuellen Kurzschließen der Christusgeschichte mit ausgewählten, als relevant erscheinenden Szenen der Heilsgeschichte Gottes mit dem Volk Israel beruht. Den Verfassern und ersten Lesern wird (2.) ein unzureichendes bzw. uneigentliches Verständnis ihrer eigenen Texte unterstellt, und die um den rechten Glauben ringenden Propheten werden zu Wahrsagern degradiert. 366 (3.) Es wird übersehen, dass es auch im Alten Testament Erfüllung von Verheißung gibt und dass auch im Neuen Testament Fragen, Zweifel, uneingelöste Erwartungen und neue Verheißungen ihren Platz haben, die wiederum der Erfüllung harren (vgl. z. B. die Erwartung der „Parusie“). (4.) Das retrospektivische Modell führt nicht zu neuem Verstehen. Es erschließt nichts, denn wer auf diese Weise das Alte Testament liest, will etwas, wovon er schon weiß, darin wiedererkennen, ohne sich mit der eigensinnigen Bedeutung dieses Textes selbst zu befassen 367 : Man liest, um bestätigt zu bekommen, was man im Grunde längst weiß - und um zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was man unter Berufung 365 Als Verfechter dieser Sichtweise hat sich u. a. Wilhelm Vischer einen Namen gemacht (vgl. ders., 1934). Genaugenommen ist es freilich unzutreffend, von einem Verheißungs-Erfüllungs-Schema zu sprechen. Die hier skizzierte Hermeneutik setzt ja gerade nicht bei den Verheißungen des Alten Testaments ein, sondern bei den Aussagen des Neuen, wofür dann Anhaltspunkte im Alten Testament gesucht werden. Entsprechend der dabei waltenden hermeneutischen Strategie müsste man von einem Erfüllungs-Verheißungs-Schema sprechen, um damit die Umkehrung der Perspektive zu markieren. 366 Vgl. K.-P. Hertzsch, 1997, 9. 367 Von dieser Erwartung sind m. E. die sogenannten „Reflexionszitate“ im Matthäusevangelium ausgenommen. Während sie in ihrer Rezeptionsgeschichte fast ausschließlich zum „Schriftbeweis“ verkommen sind oder als Argument für eine retrospektivische Schriftlektüre beansprucht wurden, dienen sie dem Verfasser des Evangeliums vor allem dazu, seinen gegenwärtigen Lesern zu plausibilisieren, dass sie sich ihrerseits (auch! ) als zum Volk Gottes gehörend begreifen dürfen. <?page no="196"?> 196 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt auf Jesus Christus glaubt, auch schon vom Alten Testament bezeugt wird. Hans Dietrich Preuß fragt zu Recht: „Aha! - Und? “ 368 b) Das Oppositionsmodell Dieses Modell basiert auf der Gleichsetzung des Alten Testaments mit „Gesetz“ und des Neuen Testaments mit „Evangelium“. Einer der bekanntesten und wirkungsvollsten Vertreter dieses antithetischen Umgangs mit den beiden biblischen Büchern ist Rudolf Bultmann. Zeige das Alte Testament den Menschen „unter dem Gesetz“, stelle ihn das Neue „unter die Gnade“. Das Alte Testament erzähle eine „Geschichte des Scheiterns“. Wer darauf zurückgreife, tue dies insofern mit Recht, als „sich die Situation des Gerechten nur auf dem Grunde des Scheiterns“ abzeichne. Für den christlich Glaubenden sei jedoch „die Geschichte Israels vergangen und abgetan“. 369 Auch dieses Modell birgt verschiedene Probleme. Beginnen wir mit einem praktischen: (1.) Man müsste - sofern jede Predigt de facto auf Gesetz und Evangelium bezogen ist - strenggenommen in jeder Predigt mit zwei Texten aufwarten, um den Hörern anhand des Alten Testaments erst zu zeigen, wie es um ihr Sein im „Weltreich“ steht, um dann anhand des Neuen Testaments zu verdeutlichen, wie es sich im „Gottesreich“ 370 leben lässt. Diese Gegenüberstellung ist aber nicht nur unpraktisch, sondern vor allem exegetisch falsch, denn weder das Alte noch das Neue Testament sehen in der Heiligen Schrift 371 nur eine Geschichte des Scheiterns. Zwischen den beiden biblischen Büchern gibt es nicht nur Spannung, sondern auch Kontinuität 372 , denn der Gott des Neuen Testaments wird als der „Gott der Väter“ angebetet. Das Oppositionsmodell ist zudem (2.) ungeschichtlich: Die Christen der Urkirche haben sowohl an den traditionellen jüdischen Tempelgottesdiensten 368 H. D. Preuß, 1989, 128. 369 R. Bultmann, 1964, 162-165, 333 und 1972, 185. 370 Diese „Aufteilung“ geht auf eine Unterscheidung von Emanuel Hirsch zurück, die er in dem Buch „Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums“ (1936) entfaltet hat. 371 Innerhalb der Bibel ist dieser Begriff für „Mose und die Propheten“ bzw. das Alte Testament reserviert. 372 Vgl. Heb 1,1 f.: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“ <?page no="197"?> 197 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt wie an christlichen Hausgottesdiensten teilgenommen. Ferner (3.) bietet das Neue Testament ebenso viel „Weltreich“ wie das Alte, um wiederum im Kontext konkreter Geschichte das Heilshandeln Gottes sichtbar werden zu lassen. Die Notwendigkeit des Evangeliums ergibt sich nicht nur aus dem Alten Testament oder dem dort enthaltenen Gesetz. Das Neue Testament selbst bringt das Gesetz in aller Deutlichkeit zur Sprache und kennt ebenfalls Geschichten des Scheiterns, wie dem Alten Testament die Güte und Gnade Gottes nicht fremd sind. (4.) Wie im Alten Testament der „erste Bund“, wird im Neuen - und noch heute - auch der „zweite Bund“ von Seiten der Menschen gekündigt und gebrochen. Gott erweist sich noch immer als der allein treue. Dass diese Treue Gottes in der Geschichte und dem Geschick Jesu Christi (für Nicht-Juden) eine neue Plausibilität gewinnt, impliziert keine Relativierung der Erfahrung der Treue Gottes durch das Volk Israel. c) Das dynamische Modell Das dynamische Modell postuliert eine Steigerung der Deutlichkeit und Fülle des göttlichen Heils vom Alten zum Neuen Testament hin. Gott macht (Heils-) geschichte mit seinem Volk, das in Berichten, Erzählungen und Liedern versucht, solches Handeln zu deuten und mit der eigenen Erfahrung in Zusammenhang zu bringen. Die „Gottesgeschichte“ steht nach diesem Modell aber nicht still, sondern ist ein dynamischer Prozess, der als „Heilsgeschichte […] auf eine Erfüllung hingeführt wird“ 373 . Und es entspricht der Lebendigkeit des Wortes Gottes, dass es einen nicht auszuschöpfenden Überschuss an Verheißung impliziert, was sich in immer neuen Texten niederschlägt, die dies bezeugen. Die Auslegungen (z. B. Predigten) zu diesen Texten werden durch das Handeln Gottes und (wieder) neue Interpretationsversuche bis in die Gegenwart hinein solange überholt, „bis diese unaufhörliche Bewegung in Christus zu ihrem Ziel und Ende kommt“ 374 . Erst in Christus komme demnach der alle Völker einschließende Heilswille Gottes unmissverständlich und vollwirksam zur Geltung, wovon das Neue Testament zeuge. Die Probleme auch dieses Modells müssen nicht lange gesucht werden: (1.) Wenn allein „in Christus“ bzw. im Neuen Testament die Fülle des Heils deutlich würde, das Alte Testament hingegen nur ein weniger überzeugendes Vorpro- 373 G. v. Rad, 1958, 131. 342. 374 W. Schütz, 1981, 84. <?page no="198"?> 198 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt gramm dazu darstellte, wäre es Zeitverschwendung, sich überhaupt noch mit dem AT zu befassen. (2.) Die reduktionistische Frage nach dem eschatologischen Fazit der Testamente übergeht alles das, was wir oben zur Kooperation mit dem Text und zu seinen Funktionen festgehalten haben. 375 (3.) Das dynamische Modell droht der Geschichte des Glaubens ihre Dynamik gerade zu nehmen, indem sie die post christum gebliebene eschatologische Differenz gegenüber einer wirklichen Vollendung des Heils herunterspielt. Die Dynamik des Glaubens ergibt sich sowohl in Israel als auch in der Kirche aus dem immer wieder neuen Sich-zu-erkennen-Geben Gottes angesichts immer wieder auftretender Fragen und Zweifel. 376 d) Das Analogiemodell Da sich die Auseinandersetzung des Predigers mit dem Alten Testament methodisch nicht von der Interpretation eines neutestamentlichen Textes unterscheidet, ist das in I.3.3.2 vorgestellte Analogiemodell auch für die Erschließung alttestamentlicher Texte relevant: In beiden Fällen geht es um ein Zeugnis aus alter Zeit in einer mir fremden Sprache, das jemand in einer bestimmten Situation formuliert hat. Sowohl die Texte aus dem Alten als auch die aus dem Neuen Testament gehören zwei Situationen an - der des Autors und der des Lesers -, weshalb ich weder die Schriften des Alten noch die des Neuen so rezipieren kann, als habe man sie gerade heute für bzw. an mich geschrieben. Wenn ich diese Texte dennoch als „Texte für mich“ lese, lasse ich in beiden Fällen gelten, dass Situationen heute und Situationen damals gemeinsame Strukturmerkmale aufweisen können: Es gibt „Grunderfahrungen von Wirklichkeit, Grundmuster interpretierter Er- 375 Dass die biblischen Texte z. B. eine unverzichtbare Hilfe zur Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis sind, dass sie mich an der Hoffnung und Gewissheit anderer Glaubender partizipieren lassen und bei eigenen Entscheidungen helfen können, kommt dabei nicht in den Blick (vgl. auch H. D. Preuß, 1989, 134 f.). 376 „Da ist die Täuferfrage: Bist du nun der, der da kommen soll, oder sollen wir nicht doch auf einen anderen warten? Da ist die Unsicherheit im 2. Petrusbrief: Die Vollendung der Welt ist angebrochen, und doch bleibt alles so, wie es war. Und auch hier fällt uns die noch unerfüllte Verheißung ein: […] ,Gott, der Herr, wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen‘, eine Erwartung und Verheißung, die in Offenbarung 21 unverändert fortgeschrieben wird“ (K.-P. Hertzsch, 1997, 10). <?page no="199"?> 199 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt fahrung“ 377 mit dem Glauben und mit Gott, die mir zum Verständnis meiner eigenen Erfahrung sowie zur Erneuerung, Bekräftigung und Infragestellung meines eigenen Glaubens unverzichtbar sind. Ich lese die Texte des Alten und des Neuen Testaments in der Erwartung, dass sie mich in einer Situation treffen können, die derjenigen ähnelt, aus der heraus bzw. für die sie verfasst wurden. Für die Legitimität dieser Erwartung sprechen zum einen die anthropologischen Konstanten in der Geschichte der Menschheit: Was dem Menschen Leid beschert und an Gott zweifeln lässt, was ihn hoffen macht und wodurch er Vertrauen findet, dies kann - obschon in Geschichten von damals erzählt - unversehens die eigene Geschichte widerspiegeln und verändern. Genährt wird diese Erwartung außerdem von der Überzeugung, dass der Gott des Volkes Israel der Vater Jesu Christi ist. Die in Betracht kommenden Analogien werden vor allem proportionaler Art 378 sein, sich also auf die Vergleichbarkeit des Verhältnisses zwischen Israel und seinem Gott einerseits und der Kirche bzw. den einzelnen Glaubenden und ihrem Gott andererseits beziehen. Die Analogien beruhen folglich auf der Vergleichbarkeit von Glaubenshaltungen als Beziehungsverhältnissen. Beim Analogiemodell geht es nicht um mehr oder weniger willkürliche Sachanalogien (gelobtes Land = Heilsgüter in Christus), sondern um Analogien bezüglich der Existenz des Menschen 379 vor Gott: den Alltag des Menschen betreffend, seine Ängste und Hoffnungen, seine Fragen und Erfahrungen betreffend, die der Einzelne als „Erfahrung mit Gott“ identifiziert und um anderes mehr. Dass uns die Texte des Alten Testaments dann auch zu zeigen vermögen, „wie nötig wir Menschen Christus haben“ 380 - nämlich genauso nötig, wie Israel auf das Eingreifen Jahwes angewiesen war -, beruht nicht auf einer willkürlichen Uminterpretation der Texte, sondern auf der schon in Israel üblichen Lesart der alten Geschichten: Die alten Texte wiederzulesen und wiederzuerzählen ist immer ein Akt der Verlebendigung und des Wiederaufleben-Lassens in neuer Gegenwart, die dann natürlich auch von einem weiteren Wissenshorizont bestimmt ist: Erzähler und Leser der Bibel wissen mehr als den Menschen bewusst ist, die in der erzählten Geschichte agieren, und es ist gute Tradition, 377 H. D. Preuß, 1984, 121. 378 Vgl. oben S. 177 zur analogia proportionalitatis. 379 H. D. Preuß spricht von „Existenztypologie“ (1989, 135). 380 H. D. Preuß, 1989, 136. <?page no="200"?> 200 Teil I.3. Predigen mit einem Text. Die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt die Geschichten mit diesem Wissen zu lesen, zu verstehen und auf eigenes Erleben zu beziehen. „So geht es uns auch, wenn wir Geschichten des Alten Testaments erzählen: Wir kennen den Ausgang. Ich finde meine Erfahrung wieder in ihrer Erfahrung und weiß doch mehr, als die Handelnden wissen. Es ist meine Geschichte und doch zugleich eine fremde. Ich finde mich im rennenden Jona wieder und weiß doch zugleich: Es ist sinnlos, dass er vor seiner Aufgabe davonläuft. Ich empfinde die Angst Israels mit, die Angst vor dem Einzug ins gelobte Land; denn ich kenne die Angst vor dem Unbekannten, und ich weiß doch: Es ist kein Grund zur Angst, denn Gott erwartet sie dort schon. Von einem neuen Blickpunkt sehe ich die mir bekannte Situation jetzt kritisch oder auch ermutigend.“ 381 Analogien sind nicht mit Identifikationen gleichzusetzen. Wo „geschichtliche Relationen“ 382 geachtet werden, bleiben die Unterschiede zwischen dem in der Wüste wandernden Gottesvolk und der Geschichte und den Geschicken der Kirche gewahrt. Von Analogien zu reden, setzt die Wahrnehmung unterschiedlicher Situationen geradezu voraus. Dazu gehört bei christlichen Lesern eben auch die „Situation post Christum“. Deshalb ist es wichtig, die Art und den Inhalt eventueller Analogien zwischen AT und NT und Gegenwartsgeschichte von Text zu Text je neu zu bestimmen. Die Urchristenheit hat, selbst aus „den Schriften“ des Alten Testaments lebend, ihr Christuszeugnis auch mit Bezug auf diese Schriften neu formuliert und sich dabei nicht einfach mit überlieferten Erfahrungen identifiziert. So geht z. B. Paulus in 1 Kor 10,1-11 davon aus, dass sich die Geschichte „unserer Väter“, insbesondere die Erzählung von Israels Wüstenwanderung, nicht in der Wiedergabe eines damaligen Geschehens erschöpft. Mit seinem Wissen bzw. seinen eschatologischen Erwartungen stößt er in diesen Texten (Ex 13-17; Num 11-21) auf etwas, was ihn und seine Leser bewegt: auf die Möglichkeit, das Reich Gottes als Ziel der Wanderung zu verfehlen. Dieses Problem wird gerade in Anbetracht des neuen Bundes als akut empfunden. Dementsprechend aktualisiert er die Erzählungen über Ereignisse aus der Wüstenzeit und warnt davor, dass es zu einem vergleichbaren Abfallen vom Glauben kommen kann wie seinerzeit bei den Vätern. In dieser Argumentation drückt sich nicht die Überlegenheit späterer Deutungen aus, sondern die Relevanz der Schriften in einer 381 K.-P. Hertzsch, 1997, 9. 382 H. D. Preuß, 1989, 135. <?page no="201"?> 201 3.4 Zur Kategorie der „biblischen“ Predigt geänderten Situation, auch und gerade unter der Voraussetzung, zur „eschatologischen Generation“ 383 zu gehören. Im letzten Kapitel ging es vor allem um die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit und Begründung, alttestamentliche Texte zu predigen, ohne jüdisch Glaubenden einen uneigentlichen Umgang mit ihrer Bibel zu unterstellen. Dass bei Struktur-Analogien Inhalte wechseln können, liegt auf der Hand. Der Gehalt, den Christen bei der Auslegung biblischer Texte erheben, wird immer ein Beitrag zur Beantwortung der Frage sein, wer „Jesus Christus für uns heute“ ist. 384 Im Interesse der Bewältigung dieser Aufgabe ist die Predigt mit Texten aus dem Alten Testament nicht nur erlaubt, sondern unbedingt wünschenswert. Sie eignen sich - gerade im Hinblick auf die Bildung relevanter Strukturanalogien - schon formal oft besser als manche der zum Teil abstrakten Texte etwa aus dem Briefkorpus des Neuen Testaments. Was viele alttestamentliche Perikopen auszeichnet, ist ihr konkreter Bezug zur Lebenswirklichkeit des Menschen. Sie thematisieren den Menschen vor Gott, indem sie ihn als Teil der Schöpfung zeigen, in wirtschaftliche Zusammenhänge eingebunden, in politische Aktionen verwickelt, auf der Suche nach einer Partnerin, auf der Flucht vor bedrängenden familiären Zuständen, auf dem Feld, im Angesicht des Todes. Dies alles wirkt bodenlosen, pneumatistischen, blutleeren und insofern unmenschlichen Auslegungen der biblischen Glaubenszeugnisse entgegen. Wir können im Übrigen auch die ‚geistlicher‘ bzw. ‚pastoraler‘ formulierten Texte des Neuen Testaments besser verstehen, wenn wir zuvor in die Sprachschule des Alten Testaments gegangen sind. 385 „Christus, wahres Israel, Glaube, Sünde, Himmelreich usw. sind alttestamentliche Worte. Das Alte Testament hat hier die hermeneutische Funktion der Unterweisung in einer Sprache, in der das Geschick Christi als Heilstat ausgesagt wird; […] es sagt, dass Gott im AT begonnen hat, das Heil zu bereiten.“ 386 383 Vgl. N. Walter, 1997, 63. 384 Vgl. III.2.1.3 und III.3. 385 Vgl. in diesem Zusammenhang besonders die Bedeutung der Psalmen. „Die Psalmen können […] als die Hilfe der jüdisch-christlichen Tradition verstanden werden, sich über die gewordene Lebensgeschichte in den glückenden und leidvollen Zusammenhängen nüchterne Erkenntnis zu verschaffen“ (P. Deselaers, 2004, 166). Deselaers weist in seinem Beitrag zudem auf offenbarungstheologische Aspekte der Psalmenpredigt hin (a. a. O., 159-161). 386 H. D. Preuß, 1989, 127. <?page no="202"?> 202 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt 4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Vorbemerkungen Mit der Arbeit am Text und mit einer - vor dem Hintergrund homiletischer Herausforderungen erfolgten - Auseinandersetzung mit der eigenen Person sind natürlich noch längst nicht alle Voraussetzungen für die Gestaltung einer Predigt geschaffen. Dass dieses 4. Kapitel nun unmittelbar mit Überlegungen zur Struktur der Predigt an die Ausführungen über die Bedeutung des Textes anschließt, hat systematische Gründe, die sich aus der Darstellung des Predigtgeschehens ergeben: In dem oben 387 vorgestellten Modell, das einen Überlieferungsprozess widerspiegelt, folgt dem Bibeltext - formal und chronologisch betrachtet - das Manuskript des Predigers. Daher kommen wir in diesem Zusammenhang auf strukturale bzw. Gestaltungsfragen zu sprechen. Im letzten Kapitel haben wir festgestellt: Wir können sehr weit im Verstehen biblischer Überlieferungen vorankommen, und doch reichen die in der Auseinandersetzung mit einem Text gewonnenen Einsichten allein nicht aus, um eine Predigt zu erarbeiten. Die Phase der Beschäftigung mit einem Stück biblischer Überlieferung trägt gleichwohl dazu bei, für den erst noch zu erarbeitenden Inhalt beziehungsweise den Schwerpunkt der Predigt eine Spur zu legen, Anhaltspunkte zu finden. Der Text ist von diesem Moment an beteiligt bei der Frage, was gepredigt werden soll - ohne diese Frage allein schon beantworten zu können. Um ihr nachzugehen, bedarf es einer ebenso gründlichen Auseinandersetzung mit der Situation, auf die die konkrete Predigt ausgerichtet sein wird, es bedarf einer Sondierung der Erfahrungen, auf die hin Menschen angesprochen werden sollen, ferner eines Abgleichs von Vorstellungen bezüglich möglicher Veränderungen, auf die die Predigt zielen wird und anderer Schritte mehr. 388 Solche inhaltlichen Fragen tragen aber bereits Elemente einer Predigtstruktur in sich: 1. Warum - aus welcher Notwendigkeit, aufgrund welcher Beobachtungen - will ich dies und das sagen? Was treibt mich, zu sagen, was ich sage? Diese Warum-Frage zielt auf das Woher der Predigt, sie gilt ihrer Motivation. 387 Vgl. Abb. 1, S. 27. 388 Vgl. die Kapitel I.5-7. <?page no="203"?> 203 Vorbemerkungen 2. Was will ich sagen? Was möchte ich verdeutlichen? Welche Position vertrete ich in welcher Angelegenheit? Die Was-Frage gilt dem Inhalt der Predigt, ihrer Botschaft. 3. Spätestens mit der Antwort darauf stellt sich die Frage nach den Gründen und Argumenten für das, was man zu sagen hat: Wie komme ich dazu, zu sagen, was ich zu sagen habe? Die Wie-Frage betrifft die Begründung der Kernaussage der Predigt. 4. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Wozu oder Woraufhin als Frage nach der Absicht der Predigt: Woraufhin ergreife ich das Wort? Was ‚bezwecke‘ ich damit, dass ich rede und mich dazu auch noch auf eine Kanzel stelle. Diese vier W-Fragen - Warum? Was? Wieso? Woraufhin? - bilden den Kern einer plausiblen Redestruktur. Soweit sie wirklich ernst genommen werden, bieten sie dem Prediger Anhaltspunkte für eine kohärente Argumentation. Die Fragen geben ein logisches Grundkonzept vor, eine Gliederung, der jedermann folgen kann, auch ohne dass zusätzlich einzelne Überschriften oder Zwischentitel den Redefluss erklärend unterbrechen müssen. Diese Fragen sind in ihrer Abfolge nur in begrenztem Maße austauschbar. Wer sich zu Beginn einer Predigt zu lange mit der Was-Frage aufhält, ohne über das Warum Rechenschaft abzulegen, irritiert die Hörer, die nicht verstehen können, weshalb sie sich an einem schönen Sonntagmorgen zum Beispiel mit den exegetischen Entdeckungen eines theologischen Gelehrten befassen sollten. Andererseits kann die Frage nach dem Wieso, also nach der Begründung der Position des Predigers, als eigentliche Pointe oder neue Sicht der Dinge auch am Schluss einer Predigt stehen, vor allem, wenn die beabsichtigte Wirkung der Predigt in erster Linie auf Veränderungen im Urteilen der Hörerinnen und Hörer zielt. Bevor in Abschnitt I.4.3 vier Reflexionsperspektiven 389 vorgestellt werden, die der Verfeinerung dieser anhand von Fragen angedeuteten Predigtstruktur dienen, ist wiederum auf einige, sich bei der Gestaltung von Predigten zeigende Probleme hinzuweisen. 389 Der gesamte sprachliche und stilistische Bereich der Gestaltung der Predigt wird in einem eigenen Kapitel unter I.3.5 behandelt. <?page no="204"?> 204 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 4.1.1 Zerfallende Argumentation Im Allgemeinen wird in Predigten sehr viel mehr behauptet als argumentiert. Dabei steht häufig die Was-Frage im Vordergrund, gelegentlich verbunden mit der Frage nach dem Woraufhin, d. h. mit Ausblicken auf Konsequenzen, die von der bloßen Vergegenwärtigung von Sachfragen erwartet werden. Die allzu oft ausbleibende Erhellung des „Wieso und Warum“, also das fehlende Bemühen um Argumentation, stellt die den Predigern jeweils vorschwebenden Wirkungen jedoch in Frage. Homiletisches Argumentieren ist nicht nur unentbehrlich für die Verständlichkeit, sondern auch für die Glaubwürdigkeit und für die Überzeugungskraft einer Rede. Argumentation ist die Basis der Gestaltung jeder Rede, denn sie impliziert die organische Abfolge aufeinander abgestimmter, kohärenter Strukturelemente. Wer beispielsweise darlegen will, wie mit einem bestimmten Problem umzugehen ist, sollte beispielsweise: (1.) zu verstehen geben können, inwieweit es sich tatsächlich um ein Problem handelt (Warum-Frage), (2.) in Bezug auf bereits unternommene „Problemlösungen“ darlegen, worin deren Grenzen liegen (Bestandteil der Wieso-Frage), (3.) erklären können, worin sich seine Vorstellungen von anderen unterscheiden (Was-Frage) und auf welche Haltung, auf welches konkrete Verhalten seine Vorschläge hinauslaufen (Woraufhin-Frage), (4.) begründen, inwiefern er damit rechnen kann, dass die vorgetragene Lösung zur Bewältigung des angesprochenen Problems taugt (Wieso-Frage), (5.) Vorstellungen davon bzw. Bilder dafür haben, wie die Welt aussähe, wenn der von ihm nahegelegte Vorschlag greifen und Menschen sich danach richten würden (Woraufhin-Frage). Diese Reihenfolge ist natürlich kein Korsett: Man kann ebenso mit Visionen beginnen und dann auf die von jedermann wahrnehmbaren „Abweichungen von der Wirklichkeit“ zu sprechen kommen, nach den Gründen für diese Differenz fragen, dabei ein Problem fokussieren usw. Es ist jedoch offensichtlich, dass die skizzierten Elemente der Rede einander brauchen, um je für sich zu funktionieren. Eine Predigt, die sich auf die Doppelstruktur von „konstruierten Lösungen“ für „konstruierte Probleme“ beschränkt, ist der Kommunikation des Evangeliums nicht förderlich. Natürlich ist es leichter, bestimmte Lehrsätze des Christentums in der Predigt in verschiedenen Wendungen zu wiederholen, als argumentativ zu erschließen, was sie für unsere Lebenswirklichkeit bedeuten bzw. inwiefern es überhaupt <?page no="205"?> 205 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen relevant ist, sich mit ihnen zu befassen. Der Umstand, dass es sich bei solchen dogmatischen Formeln um Grundlagen des Christentums handelt, verleiht ihnen nicht schon die Qualität plausibler Argumente zur Beantwortung der Frage, was Leben aus Glauben heute heißt. Dogmatische Leitsätze - sei es in der neutestamentlichen Literatur, sei es in den Bekenntnisschriften - sind immer das Resultat vorausgegangener Auseinandersetzungen. Man kann sie nicht einmal historisch richtig verstehen, wenn man nicht weiß, unter welchen Bedingungen und aufgrund welcher Prämissen sie zustande gekommen sind. Umso problematischer wirkt ihre Zitation in Kontexten, die durch ganz andere Fragen, Erfahrungen und Situationen geprägt sind, als sie dogmengeschichtlich zu unterstellen sind. Es reicht nicht aus, wenn der notwendige Bezug zwischen theologischen Einsichten und heutiger Lebenserfahrung lediglich durch die stereotype, oft im letzten Viertel einer Predigt zu findende Behauptung proklamiert wird, dass dies alles „auch für uns heute“ gelte. In solchen Fällen endet die Predigt genau dort, wo sie beginnen müsste. Dazu ein Beispiel: „Gott wird Mensch in Jesus Christus. Unglaublich. Gott wird Mensch und hält seinen Kopf für uns hin! In Jesus Christus nimmt Gott die Konsequenzen des Gesetzes an unserer Statt auf sich und geht in den Tod. Das sichere Urteil des Todes wird vollstreckt. Nicht an uns, an Gott selbst in Christus. Gott ist tot. - Aber Gott bleibt nicht im Tod. Er überwindet ihn. - Gott wäre nicht Gott, bliebe er im Tod. ,Christus ist erstanden von den Toten‘, heißt es in der Osternacht. Der Tod hat seinen Stachel verloren. Jetzt schickt Gott seinen Botschafter in die Welt, seinen Botenjungen, um den Menschen zu sagen: Hört her! Gott hat an eurer Statt das Gesetz erfüllt! Er hat den garstigen Graben zwischen uns und sich zugeschüttet, ein für alle Mal, durch seinen Sohn Jesus Christus. […] Auch dir und mir, uns allen gilt es. Vertraut darauf, dass Gott in Jesus Christus die offene Rechnung beglichen hat, dass Gott die Sache wieder in Ordnung gebracht hat. Vertraut darauf, dass wir wieder Gottes Gegenüber, Gottes Partner sind, weil Gott selbst das Gesetz erfüllt hat. […] In Jesus Christus hat Gott uns wieder zu seinem Gegenüber gemacht. Und wer weiß, vielleicht sitzen wir eines Tages, am Ende der Zeit, wenn wir bei Gott sind, mit ihm zusammen und schauen gemeinsam in den Sternenhimmel“ [Predigtende]. 390 Eine Predigt, die auf diese Weise ein Kernstück reformatorischer, d. h. in diesem Zusammenhang, in starkem Maße argumentierender Theologie abhakt, lässt die Frage offen, was Hörerinnen und Hörer mit alldem, was „Gott“ da mit 390 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 3,21-28. <?page no="206"?> 206 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt sich selbst auszumachen scheint, zu tun haben. Die Gemeinde bekommt auf naheliegende Fragen keine Antwort. „Antworten“ zu formulieren hieße ja in diesem Fall nicht, Gott zu erklären, sondern zu erfahren, wie der Prediger zu dem kommt, was er sagt - also aus welchen Gründen er so denkt. Stattdessen sieht der Hörer seinen Prediger die Eiger-Nordwand der Dogmatik besteigen und ihn da oben den Zusammenhang von Gesetz und Glaube und Werken und Gnade und Rechtfertigung ventilieren. Zu dieser Predigt ergeben sich unter anderem folgende kritische Rückfragen: 1. Weshalb ist der Prediger dort unterwegs? 2. Und vor allem: Weshalb sollte sich der Einzelne mit dem Dilemma Gottes befassen, „sein Gesicht nicht verlieren“ 391 zu dürfen und deshalb auf der Erfüllung des Gesetzes bestehen zu müssen? 3. Wieso ist da ein garstiger Graben zwischen mir und Gott? 4. Wieso muss Gott in Jesus seinen Kopf für mich hinhalten? 5. Inwiefern kommt dabei „ein Leben in Freiheit“ für mich heraus? 6. Warum wird mir die Partnerschaft Gottes als um ein Haar für immer verpasst vor Augen gestellt - und dann plötzlich doch als „geschenkt“ dargeboten? Vielleicht möchte ich mit einem Gott, der eine solch umständliche Rechtfertigung für die Hinrichtung seines „Botenjungen“ braucht, nichts zu tun haben? 7. Was hilft es mir, dass Gott sich selbst hilft, indem er das Gesetz erfüllt? 8. Was hat mein Leben mit der „Rechnung“ zu tun, die damals zu „begleichen“ war? Gibt es für mich nicht die Gnade der „späten Geburt“? 9. Gibt es heute noch Wirkungen jenes Gesetzes, so dass mir eine Predigt, die mir die Freiheit vom Gesetz verkündet, wichtig werden könnte? 10. Wieso sollte ich darauf vertrauen, dass ich Gottes Partner bin? Gibt es außer dem Sternenhimmel keine Anhaltspunkte dafür? Diese Rückfragen sind nicht im Sinne einer Anklage gegen den Prediger misszuverstehen, sondern als quasi anwaltliche Mandatsübernahme für die Hörerinnen und Hörer im Sinne von Ernst Lange. 392 Solche Fragen sind Teil des Versuchs, geläufige dogmatische Loci in immer neuen sprachlichen Versuchen zu 391 Ebd. 392 Es empfiehlt sich, den Auftritt des „Anwalts der Hörerinnen und Hörer“ im Rahmen von Predigtnachbesprechungen und -analysen gelegentlich auch zu inszenieren. Vgl. W. Engemann, 2009c, 422 f. <?page no="207"?> 207 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen reformulieren, mit lebensweltlicher Erfahrung zu verbinden und sie argumentatorisch für das erhoffte Hören und Verstehen seitens der Hörer aufzubereiten. 4.1.2 Das Problem der Scheinprobleme Eine der häufigsten Strategien zur Strukturierung - meist der Eröffnung - von Predigten ist eine Problematisierung entweder des Textes oder der Welt. Der Rest der Predigt befasst sich dann damit, dieses Problem abzuarbeiten. Bei diesem homiletischen Muster ist Folgendes zu bedenken: a) Die Problematisierung des Textes in der Predigt ist unter Umständen dann von Belang, wenn der Text als Predigttext tatsächlich eher ein Hindernis als eine Hilfe für die Kommunikation des Evangeliums zu sein scheint. Dann kann es zum Bespiel angemessen sein, „gegen“ den Text zu reden, um - paradoxerweise - schriftgemäß zu predigen. Nach meiner Beobachtung ist jedoch die Problematisierung des Textes in der Mehrzahl der Fälle ein wenig glaubwürdiges, um Aufmerksamkeit heischendes Ritual. Es hat häufiger die Funktion, eine argumentativ bequeme, scheinbar diametrale Gegensätzlichkeit zwischen Text und Situation zu postulieren, um dann doch zu dem „überraschenden Ergebnis“ kommen zu können, dass gerade dieser Text so gut wie kein anderer zu uns Heutigen passt: „Paulus benimmt sich, als ob wir Schulkinder wären. […] Paulus, damit hast du uns Menschen des 20. Jahrhunderts gegenüber nicht den richtigen Ton getroffen. Schließlich bist du nicht unser Vorgesetzter. Falls du etwas zu bitten hast, tu das schön sachlich, wende dich an die zuständigen Leute in der Gemeinde. So, wie du hier auftrittst, hast du uns nichts zu sagen. [Regieanweisung des Predigers an sich selbst: ] (An dieser Stelle schlage ich für alle sichtbar die Bibel zu und lege sie beiseite.) Ich bin ein wenig unruhig. Vielleicht habe ich doch zu voreilig gehandelt? […] Ich danke dir, Paulus, dass du das so gesagt hast.“ 393 Diese Strategie ist wenig erhellend, da sofort als „Masche“ 394 durchschaubar. Der Hörer wird mit einer - theologisch wenig plausiblen - konstruierten Problema- 393 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Thess 4,1-8. 394 Vgl. die Charakterisierung des „strategischen Scheinantagonismus“ bei W. Engemann, 1993, 122 f. <?page no="208"?> 208 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt tik konfrontiert und spürt doch, dass es wirklichere, lebensrelevante Probleme anzusprechen gäbe, deretwegen er letztlich auch zur Kirche gekommen ist. b) Aber auch die ritualisierte Problematisierung von Situationen steht in der Gefahr, bloßer Aufhänger weltfremder Predigten zu sein, die sich den von der Lebenswirklichkeit der Hörer her andrängenden Fragen gerade nicht stellen, sondern bestimmte Notsituationen nur zitieren, um ein gewisses Problembewusstsein anzuzeigen. Dabei wird häufig eine solche Flut von Notlagen, Krisen und Unglücken aufgezählt, dass - selbst bei hoher Motivation - eine Predigt nicht ausreichen könnte, um die damit verbundenen Fragen und Probleme argumentativ zu bewältigen. „Was ist das für eine bittere Lage: […] Ein Schrei ertönt nach dem, der das Elend beenden und das Heil herbeiführen kann, und immer wieder die bittere Erkenntnis: Auf dieser Welt gibt es niemanden. Auch uns selbst ist dieser Schrei bekannt. Auch unser Leben heute hält immer wieder Situationen bereit, bei denen die Frage nach dem, der das Heil bringt, erst einmal unbeantwortet bleiben muss. […] Es kann schlimm kommen. Krankheit oder Tod eines geliebten Menschen können sehr schnell zu dem Ruf nach dem Ende führen. Um uns herum stehen Krieg, Leid und Ungerechtigkeit wie ein großes Fragezeichen in der Welt […] Genau in diese Situation hinein gibt Johannes seiner Gemeinde die Zusage: Doch, es gibt jemanden.“ 395 Eine gelungene Problemorientierung drückt sich freilich nicht in der Menge der in einer Predigt aufgelisteten Übel aus, sondern in dem Versuch, konkrete - und das heißt immer auch: begrenzte - Erfahrungen, Facetten und Probleme menschlichen Lebens zur Sprache zu bringen. Diese sind den Hörern ja nicht fremd; im Gegenteil, sie bringen sie in den Gottesdienst mit, sie sind ihnen präsent und hindern sie zum Beispiel daran, in noch umfassenderer Weise die Erfahrung von Freiheit zu machen. Eine solche Problemorientierung läuft wiederum nicht darauf hinaus, am Ende der Predigt eine hübsche rhetorische Lösung hervorzuzaubern - nach der Weise: „Wir müssen nur - dann- …! “ Die Problemorientierung einer Predigt ist dann gelungen, wenn sie ein Stück authentischer Lebenswelt so zur Sprache bringt, dass ihr seitens der Hörer Relevanz zuerkannt wird - die Voraussetzung dafür, dass sich Hörer auch für das interessieren, was die Predigt hinsichtlich einer Veränderung oder Neubetrachtung jener Lebenswelt zu sagen hat. 395 Predigtmanuskript mit Bezug auf Apk 5,1-5. <?page no="209"?> 209 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 4.1.3 Scheindialoge Der Dialog-Charakter einer Predigt ist nicht zwangsläufig an eine sogenannte Dialog-Predigt gebunden, in der zwei Sprecher auftreten oder in der der Prediger in ein Gespräch mit der Gemeinde tritt. Dialogisch wird eine Predigt schon dann, wenn die Hörer in ihr wirklich zum Vorschein kommen, wenn sie also nicht nur Anwendungsfall eines Textes oder Container theologischen Wissens sind, sondern wenn ihr Dasein selbst konstitutiv geworden ist für die Fragen und Probleme, die zu der jeweiligen Predigt geführt haben. Bloße Dialogizität auf der Grundlage vorbereiteter Scheinfragen und Scheinantworten ist kein überzeugender Ausdruck dafür, dass die Hörer bei der Erarbeitung der Predigt eine Rolle gespielt haben. Die inszenierten Dialoge mit einem Co-Prediger bzw. mit der Gemeinde erweisen sich oftmals nur als Monologe in verteilten Rollen, die des Gesprächspartners zur Kommunikation eines schon vorher feststehenden Lösungsweges bedürfen. Eine Predigerin stellt sich die dialogische Annäherung an die selbstgestellte Frage, wem man „sich mit seinem ganzen Leben anvertrauen kann, ohne enttäuscht zu werden“ 396 , folgendermaßen vor: Predigerin: „Wem kann ich schon völlig vertrauen? Bin ich nicht schon so oft enttäuscht worden? Diese Zwiespältigkeit kennen wir doch aus unserem persönlichen Leben: Da ist zum Beispiel Frau F. Die Diagnose beim Arztbesuch war eindeutig: Multiple Sklerose. . Sprecher: Soll ich es meinem Mann erzählen? Was ist, wenn er mich verlässt? Und doch - wem sollte ich sonst so vertrauen wie ihm? Predigerin: Oder da ist Herr K. Seine Kollegen sind sich einig: . Sprecher: Ein netter Typ, immer gut drauf. Predigerin: Doch keiner weiß, wie unglücklich und einsam sich Herr K. oft fühlt. . Sprecher: Ich sehne mich so sehr nach jemandem, dem ich mich anvertrauen kann. Aber wer wird mich lieben, nachdem die Maske gefallen ist? […] . Sprecher: Lass dir helfen. - Ja das möchte ich wohl. Aber von wem? Predigerin: Jesus sagt von sich selbst: . Sprecher: Ich bin der gute Hirte. Ich bin der echte, der wahre Hirte. Ich bin der einzige Hirte, der es wirklich gut mit dir meint. 396 Vorarbeiten zu einem Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 10,11-16.27-30. <?page no="210"?> 210 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt . Sprecher: Und das soll ich glauben? Das wollen doch alle. […] Politiker, Firmenchefs. Sektenführer […] Und da soll ich es in meinem privaten Leben noch wagen, mich jemandem anzuvertrauen, der dann Hirte über mich ist? Nein, dagegen wehre ich mich. Ich bleibe mein eigener Herr. Predigerin: Oft sind wir von anderen Menschen im Stich gelassen worden. Aber könnte Jesus nicht auch über uns enttäuscht sein? Über unser Misstrauen ihm gegenüber, obwohl er sogar sein Leben für uns eingesetzt hat? Und dennoch: Jesus hält als der Liebende zu uns.“ 397 Mit dem Lösungsangebot, dass „volles Vertrauen einzig Jesus gegenüber gerechtfertigt“ sei, werden die zuvor angetippten, instrumentalisierten Probleme beiseite gewischt und gerade nicht in die Predigt integriert. Nach dem Motto: „Alle denken an sich, nur Jesus denkt an dich - und das ist genug“, werden die potentiellen „Anfechtungen“ der Hörer eher nicht respektiert. Die Predigt reißt einen Graben auf zwischen dem, was Menschen erleben können und dem, was Jesus ihnen gern tun möchte. Im vorliegenden Beispiel wirken die „fiktiven Fragen“ der in der Tat „fiktiven Hörer“ in einem Maße zurechtgeschneidert, dass dem Dialog die Spannung entzogen wird, die er braucht, um nicht zusammenzubrechen. Setzt man die von verschiedenen Personen gesprochenen Texte zusammen, wird man wahrscheinlich kaum Anhaltspunkte dafür finden, dass hier verschiedene Personen mit individuellen Erfahrungen beteiligt waren. Den Fragen ihrer Hörer hält solche Predigt kaum stand. Sie hat gewissermaßen das Genmaterial, aus dem menschliches Fragen in seiner radikalen Existentialität erwächst, solange präpariert, bis es - für authentische Fragen unbrauchbar geworden - für die Antworten der Predigt brauchbar erschien. Wer Enttäuschungen erlebt und aus dem „dürren Tal“ nicht herauskommt, vertraut halt zu wenig und ist selber schuld. Dabei gehört das „dürre Tal“ durchaus zum Wirkungsfeld des Guten Hirten, aus dem er hervortritt als der, der er wirklich ist. Dieses „Tal“ ist dann aber nicht - wie in dieser Predigt - Dekoration, sondern Grund der Predigt. Gelingende Dialoge sind in aller Regel Muster einer dynamischen Argumentation, in der sich Rede und Gegenrede, Plädoyers und Einwände, Vermutungen und Überzeugungen usw. zu einer Art ‚lautem Denken‘ zusammenfügen und eine Spur ergeben, der Hörer gut folgen können. 398 397 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 10,11-16.27-30. 398 Zur Gestaltung der dialogischen Struktur der Predigt vgl. unten I.4.3.3. Im Rahmen dieses Abschnitts (I.4.1) geht es zunächst um Problemanzeigen. <?page no="211"?> 211 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 4.1.4 Unspezifische Beispiele Beispiele sollten Einspielungen konkreter Segmente wahrgenommener oder angestrebter Wirklichkeit in das Gewebe einer Rede sein, exemplarische Schnappschüsse bestimmter Facetten des Lebens, wie der Prediger es sieht - oder wie es sich unter veränderten Bedingungen darstellen könnte. Solche Einspielungen brauchen in der Regel etwas Zeit und eine bestimmte Kulisse. Sie sind genau. Beispiele markieren einen Klärungs- oder Handlungsbedarf bzw. tragen ansatzweise zur Klärung bei, d. h. sie können mögliche Haltungen oder Handlungen auch „vorführen“. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob hier Erfundenes oder tatsächlich Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes oder Fiktives zur Sprache kommt. Wichtig ist, dass das Beispiel nicht nur ein Jonglieren mit Metaphern und Synonymen ist, sondern schlaglichtartig ein Fenster öffnet, eine Tür aufstößt, durch die man einen überraschenden Blick in die Wirklichkeit des eigenen Lebens gewinnt. Um seinen Hörern verständlich zu machen, was es heißt, dem Auftrag zum Zeugnis gerecht zu werden, erklärt ihnen der Prediger: „Ich würde mir wünschen, dass wir alle den kleinen Zeugen in uns öfter zu Wort kommen lassen, dass in allen möglichen Situationen, ob am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundeskreis, ob in der Politik, auf der Straße oder beim Einkaufen von uns immer wieder hinterfragt wird, ob es da nicht erforderlich oder sinnvoll wäre, ein deutliches oder ein kleines Zeugnis abzulegen für unseren Herrn. Wie, das weiß jede und jeder von uns am besten. Ob still im Verborgenen […], ob durch Worte oder durch Handeln, da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.“ 399 Wenn „der Phantasie keine Grenzen gesetzt“ sind, warum bedient sich der Prediger dann nicht selbst jener antizipatorischen Kraft, durch die Menschen etwas zu sehen vermögen, was zu jenem „Noch-Nicht“ gehört und mehr ist als die bloße Spiegelung von Ist-Zuständen? Dazu bedarf es Beispiele im Sinne imaginierender Impulse, durch die „die Verheißungen der Bibel“ nicht mehr nur aus der Vergangenheit heraus erklärt werden, sondern als gegenwärtige und künftige Realität in den Blick kommen. In ihrer alles offenlassenden Argumentation, die weder in der Problemanzeige noch in ihren Perspektiven konkret wird, entwickelt die Predigt keinen Erschließungsraum, keine Anhaltspunkte, an denen sich die Hörer orientieren könnten. Die Predigerin delegiert es an die 399 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 1,29-34. <?page no="212"?> 212 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Hörerinnen und Hörer, herauszufinden, worin die Konsequenzen der von ihr vorgetragenen Sicht der Dinge liegen könnten. Dabei wird der Unterschied zwischen faktischer Offenheit, der letztlich jede Art sprachlicher Äußerung unterliegt, und gestalteter, inszenierter, anknüpfungsfähiger, taktischer Offenheit - Merkmal jeglicher künstlerischer Gestaltung - übersehen: Erstere liegt bereits in jeder diffusen Mitteilung vor; Letztere fordert, die keineswegs beliebige Form der Mitteilung mitzubedenken und so zu gestalten, dass sich der Empfänger die Bedeutung dieser Mitteilung erschließen kann. 400 In dem zuletzt angeführten Predigtzitat hätte beispielsweise dargelegt werden können, was an einem Arbeitsplatz geschieht, wenn jemand damit anfängt, seinen Glauben als eine Form der Aneignung von Freiheit zu praktizieren, oder an welche Situation zu denken ist, wenn in einer Familie jemand durch seinen Glauben dazu befähigt wird, sich selbst ernst zu nehmen und bestehende Beziehungen neu zu gestalten: Welche Irritationen löst das aus? Welche Veränderungen bahnen sich an? Ihre illustrative - d. h. wörtlich: ihre „erhellende“ - Kraft beziehen Beispiele aus ihren Details. Scheinbar Nebensächliches ist zur Charakterisierung der Begleitumstände einer bestimmten Szene und damit Stimmigkeit des Beispiels von erheblicher Bedeutung. Deshalb sind gelungene Beispiele häufig „kontingent“: Sie sind einzigartig, sie überraschen durch ihre Abweichung vom Klischee, so dass das jeweils in den Fokus gerückte Handeln, Reden oder Erleben innerhalb der geschilderten Gesamtsituation mit allen ihren Details eine spezifische Pointe erhält. Bis in die Anleitung für Lesepredigten hinein wird die falsche Auffassung perpetuiert, Beispiele müssten möglichst allgemein gehalten werden, damit sie für viele Menschen gelten könnten. „Denken Sie mehr an Begebenheiten, die für alle Gemeinden zutreffend sind.“ 401 In einer Predigt wird dies in folgender Weise beherzigt: „Strukturen, Institutionen und menschliches Verhalten, das auf Schuld und Schuldigsein verweist, sind eine Folge der Sünde. Ein Beispiel dafür ist die weit verbreitete Beziehungsunfähigkeit. Einen krassen Ausdruck findet sie in den Familien, in denen man kaum miteinander reden kann. Man redet aneinander vorbei, versteht sich nicht, hat sich nichts zu sagen. 400 Näheres zu einer nach den Maximen des „offenen Kunstwerks“ gestalteten Predigt unter I.4.3.4. 401 Aus dem Merkblatt Ag 459-23-84, „Hinweise zur Gestaltung der Lesepredigt“, das den Autoren der Lesepredigt-Reihe „Er ist unser Friede“ (Evangelische Verlagsanstalt Berlin) in den 80er Jahren an die Hand gegeben wurde. <?page no="213"?> 213 4.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Andere Beispiele sind an dieser Stelle von jedem einzufügen.“ 402 - Szenisch beispielhaft „eingespielt“ wird hier kaum etwas. Wie sich „Folgen der Sünde“ auf das Zusammenleben von Menschen auswirken - und wie es aussähe, wenn sich dies änderte, wird so gerade nicht in Sprache gefasst. Die hermeneutische Leistung eines Beispiels hängt nicht davon ab, dass das Erzählte jedem von uns alle Tage und an jedem Ort passieren könne. Romane, Erzählungen und Filme usw. können uns durchaus mit Erfahrungen konfrontieren und sie uns nahebringen, obgleich nahezu auszuschließen ist, dass wir jemals gerade so etwas (wie z. B. eine Irrfahrt im Weltraum) erleben werden. Das dabei Geschilderte wird dadurch belangvoll für unsere eigene Erfahrung, dass es in seiner Konkretion übersetzbar und auf unser eigenes Leben hin durchschaubar wird. Bloße Beispiellisten, in denen einfach die erstbesten Assoziationen aufgereiht werden, tragen demgegenüber kaum zur Verdeutlichung problematisierter oder nahegelegter Erfahrungen, Denkweisen und Haltungen bei: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir geht heute alles viel zu schnell. Ständig diese Informationen […] im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung, von den Nachbarn: Sinnlose Kriege, missachtete Menschenrechte, deutsche Ausländerfeindlichkeit, Umweltverschmutzung, Ozonloch, Atombombenversuche, Neonazismus. Dazu noch meine kleinen, privaten Wünsche, an denen ich tagtäglich scheitere, im Umgang mit meinem Partner, meinen Kindern, meinen Freunden, den Arbeitskollegen usw.“ 403 Solche Listen mit vermeintlichen „Beispielen“ wirken umso fataler, je tragischer die im Schnelldurchlauf anvisierten Lebenssituationen sind: „Es kann schlimm kommen: Krankheit oder Tod eines geliebten Menschen können sehr schnell zu dem Ruf nach dem Ende führen. Um uns herum stehen Krieg, Leid und Ungerechtigkeit wie ein großes Fragezeichen in der Welt.“ 404 Statt die Unabweisbarkeit eines solchen „Fragezeichens“ in einer Situation zu verankern, an der es sich im alltäglichen Leben nicht wegdiskutieren lässt, nimmt es der Prediger gleich mit der ganzen Welt auf. Wird es aber den Hörer interessieren, was dabei herauskommt, wenn sich sein Prediger eigentlich und vor allem mit „Gott“ befasst und ihn schließlich doch nur gegen die Menschen verteidigt? 402 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 1,29-34. 403 Predigtmanuskript mit Bezug auf Phil 4,4-7. 404 Predigtmanuskript mit Bezug auf Apk 5,1-5. <?page no="214"?> 214 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt In einer anderen Predigt führt der Prediger „zum Beispiel die vielen schlaflosen Nächte einer krebskranken Frau“ an, die wegen ihrer Schmerzen nicht schlafen kann. „Oder ich denke an den alten Mann im Altersheim, der vor lauter Einsamkeit nicht zur Ruhe kommen kann und die ganze Nacht wachliegt. […] Aber auch die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist allgegenwärtig. Diese Sorge raubt vielen Menschen unter uns den Schlaf.“ 405 Der Prediger könnte nun solche „Gedanken“, „Wünsche“ und „Zweifel“ Betroffener - anhand eines Falles - konkret zur Sprache bringen. Warum tut er es nicht? Fürchtet er echte, substantielle Einwendungen? Braucht er seine „Beispiele“ nur zur Vorbereitung seines Lösungsangebots? Diesen Eindruck könnte ein nachdenklicher Hörer gewinnen, wenn es am Ende der Predigt - in Anbetracht des gewaltigen Berges angesprochener Ängste - ungewollt zynisch heißt: „Schlaflose Nächte können heilsame Nächte sein, liebe Gemeinde. Nikodemus ist einer von den Menschen, deren Leben durch ein nächtliches Gespräch von Grund auf verändert wurde. […] Wer zu Jesus kommt und sich auf sein Wort wirklich einlässt, bleibt nicht, wie er ist.“ 406 Beispiele sollten verdeutlichen, was es heißen könnte, wenn ein Mensch - sollte die eben zitierte Predigt nicht übertreiben - nach einer durchwachten Nacht als ein anderer, verändert in den Tag geht, oder wie ein Tag aussieht, an dem die Hoffnung gegenüber den Ängsten der Nacht die Oberhand behält, was diesen Tag von den anderen unterscheidet usw. 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Mit den vorangestellten Wahrnehmungen ist eine Reihe von Aspekten der Gestaltung einer Predigt bereits in den Blick gekommen. Es dürfte deutlich geworden sein, in welchem Maße Inhaltsfragen mit Gestaltungsfragen zusammenhängen. Wie in den Vorbemerkungen zu diesem Kapitel ausgeführt, ist die Inhaltsfrage mit der Erarbeitung der Bedeutung eines Textes nicht geklärt. 407 Spätestens bei der Arbeit an einem Predigtkonzept steht der Prediger vor der Frage, auf welche Weise und mit welchen Mitteln er zum Ausdruck bringen soll, was er in 405 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 3,1-8 (9-15). 406 A. a. O. Der letzte Satz ist zugleich das Ende dieser Predigt. 407 Die Platzierung dieses Kapitels über Gestaltungsfragen der Predigt (zwischen die Kapitel über den Text und die Situation) hat rein formale Gründe: Die Darstellung der Reflexionsperspektiven der Homiletik in Teil I folgt dem in Abb. 1 erläuterten Schema (vgl. oben S. 27). <?page no="215"?> 215 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik der Sache, in der er das Wort ergreift, zu sagen hat, insbesondere zu den Perspektiven, die sich aus seinem Verständnis von zeitgenössischem Christentum für ein Leben aus Glauben heute ergeben. Der Respekt vor Fragen der Predigtgestaltung war in der Geschichte der Homiletik recht unterschiedlich ausgeprägt. Seit sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass sich (in einer Rede) Inhaltsfragen immer auch als Formfragen stellen, gehört eine umfassende, interdisziplinäre Erörterung formaler Gesichtspunkte der Predigt zum Standard der Homiletik. Der vorausgehende Streit drehte sich in besonderer Weise um die Einschätzung der Rolle der Rhetorik bei der Kommunikation des Evangeliums. Daher zunächst ein paar Bemerkungen zu den strittigen Punkten dieser Debatte. 4.2.1 Zum Streit um die rhetorische Tradition. Zur Umstrukturierung der Genera in Sprachfunktionen Der Versuch, den Inhalt einer Rede durch deren wohlüberlegte Gestaltung stärker zu Bewusstsein zu bringen, ist natürlich älter als homiletische Untersuchungen dazu. Die ganze Jahrhunderte prägenden Vorstellungen von einer formal gelungenen Predigt kamen aus der Rhetorik. Ausgerechnet diese Tatsache hat mit dazu geführt, dass um die selbstverständlich anmutende Frage, ob man sich nicht mit den formalen Grundsätzen einer Rede befassen sollte, wenn man eine so sperrige Botschaft wie das Evangelium zu predigen habe, immer wieder gestritten wurde. 408 Hinter diesem Streit stand ein einseitiges, das Selbstverständnis der Rhetorik karikierendes Bild von den Prinzipien der Redekunst: Rhetorische Künste seien eine Art Überredungsstrategie; sie setzten ein manipulatives Interesse, Eigenwilligkeit und mangelnden Respekt vor dem Wirken des Geistes voraus. 409 408 Vgl. unter den vielen Kommentaren dazu exemplarisch die Anmerkungen Michael Thieles zur „Rhetorikverachtung der Theologie“ (M. Thiele, 2005, 15-22). 409 So bekundet Hans Martin Müller ausdrücklich sein Verständnis für Bemühungen, „die Predigtlehre davon [d. h. von der Rhetorik] abzusetzen“ und stärker die „Natur der Sache“ und den „Auftrag des Redenden“ im Auge zu behalten - Formulierungen, die leider nicht präzisiert werden (vgl. H. M. Müller, 1996, 559). Vgl. auch die Kritik Gert Ottos an Hans Martin Müller (G. Otto, 1999, 95 f.). Vgl. auch die theologische Kritik J. F. Kays (2003) an der Vernachlässigung der Rhetorik u. a. durch die Homiletik Karl Barths. <?page no="216"?> 216 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Dieses instrumentalisierte Verständnis von Rhetorik beruht auf einer selektiven Rezeption der rhetorischen Tradition: Man hat sehr häufig übersehen, dass diese Disziplin keine Lehre zur Beherrschung allein der Technik der Rede ist, sondern eine je inhaltlich bestimmte und ethisch verantwortete Kunst. 410 Sie verfolgt vor allem das Ziel, durch die Gestaltung von Sprache zu einem Dialog zu befähigen, in dem die Hörenden zu einer qualifizierten Stellungnahme in einer bestimmten Angelegenheit (von deren Relevanz der Redner selbst überzeugt ist) veranlasst werden. Natürlich waren die Klassiker der Rhetorik ebenso darum bemüht, Regeln zu beschreiben, nach denen das jeweils in der Absicht eines Redners liegende Ziel auch erreicht wird, so dass rhetorischen Bemühungen immer auch der Grundimpuls zu wirkungsvoller Rede innewohnt. Cicero hat eine nicht unerhebliche Voraussetzung zur Erlangung des „Sieges der Rede“ - so der damals gängige Sprachgebrauch - darin gesehen, unter den Zuhörenden eine prinzipielle „Gewogenheit“ dem Redner gegenüber herzustellen, um sie so besser lenken zu können und ihre Zustimmung zu gewinnen. 411 „Wer auf dem Forum und in Zivilprozessen so spricht, dass er beweist, unterhält und den Willen der Zuhörer beherrscht“, darf sich nach Cicero einen guten Redner nennen, denn: „Beweisen ist notwendig, Unterhaltung angenehm; wer aber den Willen der Zuhörer zu bestimmen weiß, der trägt den Sieg davon.“ 412 Augustin knüpft unmittelbar daran an und erklärt dem kirchlichen Redner: Wer mit seiner Rede etwas erreichen möchte, darf „nicht bloß lehren, um zu unterrichten, und darf nicht bloß ergötzen, um zu fesseln, sondern er muss auch rühren, um zu siegen“ 413 . Die Einbettung dieser Forderungen in die Gesamtkonzeption der Rhetorik Augustins zeigt jedoch, dass er Cicero nicht instrumentalisiert: Die Wahl der rhetorischen Mittel wird vom Inhalt der Rede und von der Verantwortung des Predigers vor Gott bestimmt. Weder die Inhaltsfrage noch die Frage nach der Verantwortung sind rhetorisch zu klären, sondern sie ergeben sich aus dem Inhalt der Kommunikation des Evangeliums sowie aus den erörterten Grundfunktionen der Predigt. Im Hinblick auf Augustins 410 Vgl. hierzu G. Ottos grundlegende Schrift, Die Kunst, verantwortlich zu reden (1994). Ganz gleich, ob sich Otto auf Platon, Aristoteles, Cicero oder Augustin, auf Positionen des Barock, der Aufklärung oder auf gegenwärtige Theorieansätze bezieht: Er ist darum bemüht, den unauflöslichen Zusammenhang von Rhetorik, Ästhetik und Ethik herauszustellen und so nach Möglichkeiten zu suchen, der Instrumentalisierung der Rhetorik theoretisch wie praktisch zu entkommen (vgl. bes. G. Otto, 1994, 72-130). 411 Vgl. M. T. Cicero, 1976, 316. 323. 412 Cicero, zitiert nach G. Ueding/ B. Steinbrink, 1994, 35. 413 Augustin, 1962b, IV, 13, 29. Vgl. auch 12, 27. <?page no="217"?> 217 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik homiletische Rezeption der Rhetorik resümiert Gert Otto: „Augustins praedicator unterscheidet sich vom orator dadurch, dass zwar für beide gilt: Der Redner ist auf Hörer bezogen - aber für den praedicator allein gilt: Er ist zugleich Hörer seines Gottes. Das ist ein neues Verständnis des Redners, entstanden aus dem Bezug des Redners auf das geoffenbarte Wort und seine alles überragende Qualität.“ 414 Der „Sieg“, um den der Prediger ringt, ist in dieser Hinsicht nicht ein Sieg für ihn als den Redner, er ist erst recht nicht ein Sieg über die Hörer, sondern ein Sieg des Evangeliums. 415 Der weiterführenden Frage nach den Kriterien für die Gestaltung einer wirksamen Rede ging die grundsätzliche Einsicht voraus, dass das Ziel einer Rede jeweils im Kontext ihres „Sitzes im Leben“ anvisiert werden muss. Dem entspricht es, dass die antiken Redegattungen genera causarum genannt werden, 416 orientiert am jeweils gegebenen Anlass bzw. Fall, dessen sich ein Redner im Interesse der Hörer anzunehmen hat. Die für die wichtigsten „Arten von Fällen“ vorgeschlagenen Einteilungen sind zwar zu keinem Zeitpunkt wirklich einheitlich gewesen, jedoch hatte sich zunächst - vor allem im Anschluss an Aristoteles, Cicero und Quintilian - eine Dreiteilung mit einer vergleichbaren inhaltlichen Grundstruktur durchgesetzt. Die Vorstellungen, die man mit diesem rhetorischen Programm verbunden hat, kann man sich am besten klar machen, wenn man die Gattungen nicht nur auf den Fall, sondern auch im Hinblick auf die zu verhandelnde Sache, die besondere Funktion der Rede, die erwartete Hörerkompetenz und das Gesamtziel der Rede vergegenwärtigt. 417 414 G. Otto, 1999, 66 f. 415 Dementsprechend fragt Augustin: „Wer wagte […] die Behauptung, die Wahrheit müsse in ihren Verteidigern gegen die Lüge unbewaffnet sein“ (1962b, IV, 2, 3). 416 Die oft flüchtige Rezeption rhetorischer Aspekte in die Homiletik hat zu begrifflichen Diffusionen geführt, wobei durch allzu unbekümmertes Zitieren vom Zitat auch Ungenauigkeiten die Runde machen. So ist es z. B. irreführend, den Ausdruck genera dicendi als Korrelat oder gar Ersatz für genera causarum zu benutzen. Während dieser auf konkrete Bedürfnisse einer demokratisch organisierten Polis verweist (s. o.), stammt jener aus einer späteren Epoche, in der die Redekunst eine Kunst unter vielen war und nicht mehr zu den Schlüsselqualifikationen des politisch engagierten Bildungsbürgers gehörte, sondern eher als kulturelles Ereignis verstanden oder aus religiösen Gründen benutzt wurde. 417 Nachstehende Übersicht ist der Versuch einer Synthese aus den entsprechenden Vorschlägen von Aristoteles, dem Auctor ad Herennium, Cicero und Quintilian, die keine einheitliche Einteilung und Benennung der Genera aufweisen. <?page no="218"?> 218 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Einteilung und Funktion der antiken Redegattungen (genera causarum) in Bezug auf : Gattungen den Fall die Sache die Funktion den Hörer das Ziel gerichtliche Rede (genus iudiciale) Anklage und Verteidigung vor Gericht Beurteilung von bereits Geschehenem docere: zur Urteilsbildung befähigen Urteilskompetenz das gerechte Urteil beratende Rede (genus deliberativum) Klärungsbedarf in (politisch) schwierigen Situationen Vorschlag in Bezug auf künftiges Handeln movere: Handlungsmöglichkeiten abwägen Handlungsfähigkeit die begründete Handlung oder Haltung Prunkrede (genus demonstrativum) lobenswertes bzw. kritikwürdiges Verhalten Öffentliches Lob bzw. öffentliche Kritik delectare: Unterhaltung gewähren Genuss der Rede die gelungene Unterhaltung Abb. 10: Einteilung und Funktion der antiken Redegattungen Aus der Aufteilung der Rede in drei Gattungen kann nicht gefolgert werden, dass die rhetorische Praxis ihr je 1: 1 entsprochen hätte. 418 Dies wäre auch unverständlich bzw. kaum darstellbar, denn jede gelungene Rede hat Elemente aller drei Gattungen: Man kann sich keine Rede vorstellen, die nicht in irgendeiner Hinsicht zur Urteilsbildung beitrüge, die sich nicht auch mit bestimmten Auffassungen auseinandersetzte, ganz ohne Wertungen auskäme und nicht auch einen Impuls für künftiges Handeln setzte. Nach Quintilian gibt es keine Gattung, in der wir nicht implizit auch „loben oder tadeln, raten oder abraten, etwas anstreben oder abwehren müssten. Gemeinsam haben sie auch, dass sie gewinnen, erzählen, lehren, steigern, abschwächen und durch Erregung oder Besänftigung der Leidenschaften die Gemütsverfassung der Hörer bestimmen […] Denn alles beruht gewissermaßen auf wechselseitiger Aushilfe: Auch beim Loben wird ja Gerechtigkeit und Nutzen behandelt, auch beim Raten das Gute, und selten dürfte man eine Gerichtsrede finden, bei der sich nicht in einem Abschnitt etwas von dem finden ließe, was wir oben genannt haben.“ 419 Die Vagheit bzw. Pragmatik in Bezug auf die Funktionsbeschreibungen der Genera zeigt sich auch in der Bestimmung der erwarteten Leistung der Hörenden: So wird zwar 418 J. Engels, 1996, 702. 419 Quintilianus, 1995, III, 4, 12 und 15 f. <?page no="219"?> 219 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik die auf ein Urteil hinauslaufende Rede dem genus iudiciale zugeordnet, gleichzeitig wird der einer Prunkrede folgende Hörer „ein kritischer Beurteiler“ (aestimator) genannt. 420 Ebenso konkurriert die demonstrative Rede, indem sie lob- oder kritikwürdige Sachverhalte aufweist, mit dem Darstellungsprinzip der klassischen Gerichtsrede. Daraus ist nicht zu folgern, die Gattungslehre sei ohne Belang, sondern es ist zu fragen, worin die eigentliche Leistung der antiken Rhetorik besteht: 1. Sie hat das kommunikative Dreieck von Redner, Hörer und Gegenstand der Rede überhaupt erst entdeckt. 2. Sie hat herausgefunden, dass die Wirksamkeit einer Rede vom Maß der Rücksicht auf die interdependenten Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen dieses Dreiecks abhängig ist. 421 Von daher wäre es kurzschlüssig, die antiken Redegattungen derart in der Homiletik zu rezipieren, dass man einfach - parallel zu den Genera - Predigtgattungen benennen und Stilreinheit fordern würde. Deshalb sollte man Predigenden eher nicht raten, sich jeweils zwischen einer „kognitiv“ geprägten „Lehrpredigt“, einer „emotionalen“ „Festpredigt“ oder einer „handlungsbezogenen“, paränetischen Predigt zu entscheiden, statt ein „,ausgewogenes‘ Mischprodukt“ zu bieten. 422 Im Kern rhetorischer Bemühungen stehen gerade solche „Mischprodukte“, deren Wirksamkeit durch die Gleichzeitigkeit von Information, Handlungsimpuls und expressiver Kraft nicht geschmälert, sondern gesteigert wird. Im Zusammenhang der drei Grundfunktionen der Predigt (Darstellungsfunktion, parakletische Funktion, Ausdrucksbzw. Zeugnisfunktion) wurde bereits erörtert, dass gerade die Interdependenz der rhetorischen Funktionen im Interesse sprachlich wirksamer Predigt liegt. Eine ganz andere Sache ist es, auf der Basis der Sprechakttheorie darüber nachzudenken, welche „Handlung“ im Vordergrund der Predigt stehen soll und von welchem Inhalt bzw. welcher Botschaft das jeweils angestrebte Sprechaktgeschehen bestimmt sein soll (vgl. unten I.5). Selbst der junge Melanchthon, der die antike Rhetorik zunächst akribisch rezipierte und in einen ersten, fragmentarischen Grundentwurf evangelischer 420 Martianus Capella, 1983, 154 f. 421 „Es basiert nämlich die Rede auf dreierlei: dem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, sowie jemanden, zu dem er redet, und seine Absicht zielt auf diesen - ich meine den Zuhörer“ (Aristoteles, 1993, 1, 3, 1-3. 1358a 36-1358b 13). 422 Vgl. M. Meyer-Blanck/ B. Weyel, 1999, 69 f. <?page no="220"?> 220 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Homiletik einzeichnete, 423 konstatierte bald die Unzulänglichkeit dieses Schemas angesichts der Komplexität der homiletischen Aufgabe. Er versucht, als vierte Gattung das genus didascalicum einzuführen, das den unterweisenden Charakter der Predigt stärken sollte. 424 Wenngleich dieser begriffliche Vorschlag von der späteren protestantischen Schulrhetorik und Predigtlehre nicht aufgenommen wurde, markiert er bezeichnenderweise die Kontinuität und Relevanz rhetorischer Fragen für die Homiletik: Melanchthon reformuliert für die Predigtlehre die Einsicht, dass eine Rede in ihrer Situationsbezogenheit Hörer-orientiert sein muss. Ihr Ziel kann nicht bestimmt werden, ohne von einer hermeneutischen Leistung, von einem „Lernen“ auf Seiten des Hörers 425 zu sprechen. Die Frage ist, wie dieses Ziel nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Form der Predigt angegangen werden kann. Angesichts der - im Vergleich zur Blütezeit der klassischen Rhetorik - heute völlig geänderten Situation öffentlichen Redens im Allgemeinen und der gottesdienstlichen Predigt im Besonderen sind die Kasus antiker Redesituationen heute eher als Basisdimensionen der Rede generell zu verstehen. Sofern es in jeder Predigt unter anderem darum geht, (1.) Hörer zum Hören zu motivieren, also ihre Aufmerksamkeit zu wecken, (2.) einen Inhalt darzustellen und seine Bedeutung aufzuweisen sowie (3.) Impulse für bestimmte Handlungen oder Einstellungen zu geben, liegt es nahe, die Genera - zumal sie ja sprachliche Grundfunktionen bezeichnen - in dieser Weise zu rezipieren. Für die Frage nach der Form der Predigt heißt das zunächst, deren Funktionen auf die (wiederum klassische) Einteilung der Rede in Einleitung, Hauptteil und Schluss beziehen zu können: Grundstruktur der Rede Klassische Genera Redefunktionen Predigtfunktionen Einleitung genus demonstrativum Stärkung der Hörbereitschaft Kontaktfunktion Hauptteil genus iudiciale Darstellen eines Sachverhalts Lehrfunktion Schlussteil genus deliberativum Aufzeigen von Konsequenzen parakletische Funktion Abb. 11: Strukturen der Rede und Funktionen der Predigt 423 Vgl. das Kapitel „De sacris concionibus“ in Melanchthons Lehrbuch De Rhetorica libri tres (1519). 424 Ph. Melanchthon, (1531/ 1542) 1963, Sp. 423-425. 425 Das unter 4.3.1 vorgestellte lernpsychologische Modell knüpft an dieser Position an. <?page no="221"?> 221 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Erläuterung zur Abb. 11: Weil die Predigt ein Kommunikationsprozess ist, ist es rhetorisch geboten, die Herstellung der Kommunikationssituation selbst zu bedenken und sich zu fragen, was das Hören fördern und was die Motivation, der Predigt zu folgen, stärken könnte. Zu Beginn der Predigt beispielsweise einen kommunikationsfördernden Kontakt 426 herzustellen, erfordert, schon in der Einleitung die Solidarität mit den Hörenden im Hinblick auf eine bestimmte (Grund-)Situation zum Ausdruck zu bringen, also zu zeigen, inwiefern man selbst an den Umständen partizipiert, angesichts derer die Predigt gehalten wird. Von diesem Kontakt profitierend, kommt im Hauptteil der Predigt ihr Gegenstandsbezug zur Geltung, kann sich theologische Lehre argumentativ als Lebenskunde entfalten. Als Folge der Plausibilität der Lehre ergeben sich im Anschluss an den Argumentationsgang der Predigt parakletische Impulse, die teils auf bestimmte Handlungen, teils auf Einstellungsveränderungen hinauslaufen können. Diese Tabelle weist starke Analogien zu dem bereits vorgestellten sprachtheoretische Zeichenmodell Karl Bühlers auf, wonach jede der drei vorgestellten Grundfunktionen der Rede (mit unterschiedlich großen Anteilen) in jeder sprachlichen Äußerung gleichzeitig aufgezeigt werden kann: Das heißt, jedes sprachliche Zeichen - z. B. ein gesprochener Satz - ist zugleich (Selbst-)Ausdruck des Redenden, Handlungsimpuls bzw. Signal und Präsentation eines Gehalts. Dies, so Bühler, ist deshalb so, weil jeder sprachliche Ausdruck (1.) von jemandem vorgetragen wird, sich (2.) auf irgendetwas bezieht und (3.) von jemand anderem rezipiert werden muss. Somit hat also auch jeder Teil einer Rede eine in ihrer Gestalt begründete ästhetische Funktion 427 , eine auf ihren Gehalt bezogene Darstellungsfunktion sowie eine auf den Hörer bezogene Signalfunktion 428 , wobei oft eine Funktion jeweils im Mittelpunkt steht. Redeteil Zeichenfunktionen der Sprache Predigtfunktion Einleitung ästhetische Funktion Kontakt Darstellungsfunktion Lehre Signalfunktion Paraklese 426 Dieser Kontakt hat erheblichen Einfluss auf das Zustandekommen einer positiven, tragfähigen Beziehungsebene zwischen Prediger und Hörer. 427 Vgl. den Aspekt der Unterhaltung beim genus demonstrativum in den antiken Genera. 428 Vgl. K. Bühler, 1999, 24-33. <?page no="222"?> 222 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Redeteil Zeichenfunktionen der Sprache Predigtfunktion Hauptteil ästhetische Funktion Kontakt Darstellungsfunktion Lehre Signalfunktion Paraklese Schlussteil ästhetische Funktion Kontakt Darstellungsfunktion Lehre Signalfunktion Paraklese Abb. 12: Beispielschema für den Wechsel von Haupt- und Nebenfunktionen der Sprache im Verlaufe einer Predigt Aus diesem Schema darf keine rhetorische Zwangsjacke werden: Eine gut strukturierte Predigt vermag inhaltlich sofort in medias res und zu Herzen zu gehen. Sie kann aufgrund ihrer Aufmerksamkeit erweckenden Gestalt sowohl gut zu hören sein als auch schon Wertungen nahelegen und das Beziehen von Positionen provozieren. Sie kann zum Beispiel mit argumentativer Präzision auf Aspekte der Rechtfertigung Bezug nehmen und darin zugleich den Kontakt zwischen den Gemeindegliedern Prediger und Hörer festigen, indem sie kirchliche Lehre als persönlich glaubwürdiges Zeugnis darbietet usw. 429 Bemerkenswerterweise finden sich gerade unter biblischen Texten - an deren bloßer inhaltlicher Wiedergabe Karl Barth so gelegen war - zahlreiche Musterbeispiele für die Koinzidenz der oben bezeichneten Funktionen der Rede: In seinen Predigten - z. B. vor dem Volk in Jerusalem (Act 22,1-21) oder vor Festus und Agrippa (Act 26,1-32) - berichtet Paulus in starkem Maße von sich selbst, teils sich rechtfertigend, teils auf Gottes Gnade verweisend. Schließlich kommt er nach langen und sehr persönlichen „Einleitungen“ zur „Sache“, nämlich zu der Aussage, dass „Christus von den Toten auferstanden“ sei (Act 26,23). Ohne besondere Glaubensappelle setzt er schließlich mit seinem Zeugnis einen so starken Impuls, dass König Agrippa gleichwohl bekennt: „Es fehlt nicht viel, du 429 Karl Barth hat sich sowohl gegen „Einleitungen“ als auch gegen „Teile“ in der Predigt gewandt. Er begründet das freilich mit Argumenten, die dem spezifischen und begründeten Interesse der Rhetorik an Einleitungen und Teilen zuwiderlaufen: Wenn Barth urteilt, Einleitungen seien „nur verlorene Zeit“ und die „Teile“ einer Predigt seien nicht mehr als eine nicht schriftgemäße Addition von Lehre und Anwendung von Lehre (explicatio und applicatio), wird er der semantischen und sprachpragmatischen Relevanz der oben erörterten Zusammenhänge nicht gerecht. Vgl. demgegenüber Barths besondere Art der Fokussierung der homiletischen Arbeit auf den Text (K. Barth, 1986, 101. 105). <?page no="223"?> 223 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik wirst mich noch bereden und mich zum Christen machen“ (28). Mit anderen Worten: Einleitungen können durchaus etwas Wesentliches sagen und Pointen der Predigt vorwegnehmen. Theologische Lehre kann ein persönliches Zeugnis ebenso einleiten wie dieses ihr vorausgehen kann, und beide sind zu jedem Zeitpunkt aufeinander bezogen. Die allmähliche Umstrukturierung der Genera in Sprachfunktionen ist ein Resultat, das aus der Entwicklung der Rhetorik selbst hervorgegangen ist. Die rhetorischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts sehen sich daher nicht vor der Aufgabe, die antiken Genera zu revitalisieren. 430 Stattdessen beschreiben und diskutieren sie die personalen und situativen Bedingungen, unter denen erwartet werden kann, dass der Inhalt einer Rede verständlich, ihr Handlungsimpuls verantwortlich und ihre Position glaubwürdig ist. Natürlich können je nach Kasus bestimmte Funktionen dominieren; jede einzelne gewinnt ihre Redewirksamkeit jedoch nur in Rückbindung an die beiden anderen. 4.2.2 Zur Korrespondenz von Inhalt und Form 431 Das Korrespondenzverhältnis von Inhalt und Form der Predigt betrifft nicht nur die Frage nach einer inhaltlich plausiblen und formal-logischen Disposition der Kanzelrede, sondern ist für einzelne Wörter, Metaphern, Bilder und Sätze ebenso relevant wie für die Predigt als organisches Ganzes. Sowohl die einzelnen Bedeutungsinhalte einer Predigt als auch ihre Botschaft als Ganze sind Wirkungen sprachlicher Gestaltung. Das je Mitzuteilende ist an besondere (Zeichen-)Gestalten gebunden. Das Gelingen der Predigtkommunikation hängt folglich auch davon ab, ob ihr jeweiliger Inhalt in einer ihm entsprechenden Form repräsentiert wird, ob er also dem Hörer so signifikant dargeboten wird, dass dieser das Vernommene auch im Kontext eigener Lebens- und Glaubenserfahrung verorten bzw. in ihn hinein übersetzen kann. Die Theologie hält eine Fülle von Formeln und Leitsätzen parat, in denen bestimmte Auffassungen über die Wechselbeziehungen zwischen Gott und 430 „Keine der drei Hauptschulen der ,Neuen Rhetorik‘, weder die psychologisch-kommunikationswissenschaftliche Rhetorik, noch die philosophisch orientierte Argumentations- und Kommunikationstheorie, noch schließlich die linguistisch oder semiotisch ausgerichtete Rhetorik betrachten die theoretisch-lehrbuchhafte Einteilung der Redegattungen als ein vordringliches Aufgabenfeld“ (J. Engels, 1996, 270). 431 Vgl. hierzu auch die anhand zweier Quellentexte vorgenommene Einführung in die Thematik in: W. Engemann/ F. Lütze, 2009, 189-194. <?page no="224"?> 224 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Mensch, über den Glauben, über Leben und Tod usw. auf den Punkt gebracht werden und so - für Theologinnen und Theologen - „diskursfähig“ werden. Je stärker ein Prediger, vor allem in der Predigt selbst, unmittelbar aus diesem Begriffs- und Formelrepertoire schöpft, umso standardisierter ist seine Sprache, und umso weniger würde es auffallen, wenn er sich beim Predigen durch jemand anderen vertreten ließe, der genauso verführe. Wenn ein Prediger seinen Text vor allem daraufhin liest, welche dogmatischen oder ethischen Standards am besten zu den ‚wichtigen‘ Begriffen der Perikope (Gnade, Sünde, Liebe, Hoffnung, Nächster) passen, werden seine Predigten in ihrem Einerlei und ihrer unbescholtenen theologischen Richtigkeit mehr und mehr austauschbar sein. Dieses Problem hängt mit der unaufhebbaren Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Form zusammen. Es genügt nicht, sich im Vorfeld der Predigt über die eigene Mitteilungsabsicht klar zu werden und die „Botschaft“ als eine Art theologisches Fazit im Kopf zu haben. Wer die Gemeinde dazu motivieren und durch die Predigt selbst dazu anleiten will, mehr zu verstehen, als man auf einem vierbis fünfseitigen Manuskript unterbringen kann - und das ist für die Rezipierbarkeit der Predigt in das Alltagsleben ihrer Hörer entscheidend -, der muss die Inhaltsfrage mit der Frage nach der Gestalt und Struktur der Predigt verbinden. Dabei kann man von den eigensinnigen biblischen Texten, die das, was sie sagen, so sagen, wie die meisten anderen Texte es nicht sagen, einiges lernen: Sie haben, wie außerbiblische Texte auch, eine je eigene, unverwechselbare Struktur, die es ermöglicht, den Text gewissermaßen zu den ihm eigenen Bedingungen zu studieren, ihm dabei aber durchaus verschiedene, keineswegs beliebige Interpretationen abzugewinnen. So ist es zum Beispiel kein Zufall, sondern ergibt sich mit Notwendigkeit aus der ,Natur der Sache‘, dass vom Reich Gottes traditionellerweise in Gleichnissen gepredigt wird. Gleichnisse stellen in ihrer ebenso verrätselnden wie offenbarenden Redeweise eine besonders geeignete und angemessene Form der Botschaft vom Kommen dieses Reiches dar: Gleichnisse leuchten einerseits sofort ein; andererseits lassen sie vieles offen - und lassen vor allem nicht los, sondern fordern, einmal verstanden, zu einer neuen Auseinandersetzung mit sich heraus. Sie nötigen durch ihre Bilder, Metaphern und Geschichten dazu, selbst in ihnen zu erscheinen und angebotene Rollen zu übernehmen. Die Predigt kann von diesen Beobachtungen profitieren. Wir kommen unter 4.3.4 darauf zurück. Die Einsicht, dass Inhaltsfragen zureichend nur im Zusammenhang von Gestaltungsfragen erörtert werden können, ist in der Predigtlehre des 20. Jahrhunderts zunächst von Friedrich Niebergall in Erinnerung gebracht worden. Seine Vorstellungen zur Gestaltung der Predigt sind zugleich als Grabrede auf die <?page no="225"?> 225 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik seines Erachtens letzten Versuche zu verstehen, der Predigtlehre eine scholastische Rhetorik aufzuzwingen. 432 Er konstatiert mit unüberhörbarer Genugtuung: „Wie weit hat sie [d. h. die Gestaltung der Predigt] sich von den alten Regeln der homiletischen Scholastik entfernt! Zerquäle dich an deinem Text, bis du ein Thema hast; dann suche im Schweiß deines Angesichtes eine Disposition, siehe aber zu, dass sie nach dem Gesetz der analytisch-synthetischen Methode genau dem Gange des Textes folgt! Erschöpfe diesen Text, wenn es möglich ist! Dann baue die Teile auf; aber jeder sei dem anderen an Länge gleich; zwei, drei, auch vier, nur sei der letzte ja nicht viel kürzer als die anderen! […] Es war das Ideal des alten deutschen Aufsatzes, [dessen] Form diktiert wurde, um nachher mit Inhalt ausgefüllt zu werden. Oder es war das Drama, dessen Inhalt in fünf Akte hineingepresst werden musste. Oder auch das Haus, dessen Fassade und anderen Seiten zuerst festgestellt wurden, ein Außengewand, in das sich dann die Zimmer hineinzwängen lassen mussten. So baute man von außen nach innen und füllte Formen mit Inhalt, anstatt den Inhalt sich seine Formen selbst zulegen zu lassen. - Heute ist auf dem Gebiet der Künste alles anders geworden. Es gibt Theaterstücke nicht bloß mit vier Akten, sondern auch solche, die aus Stationen oder aus Bildern bestehen. Häuser baut man jetzt von innen nach außen; man baut vom Zweck aus, weil man der Tyrannei und der Lüge der Form müde ist. In der Einrichtung der Zimmer hat man das bisher so heilig gehaltene Gesetz der Symmetrie aufgegeben. […] Von hier aus die Entwicklung der Form der Predigt zu betrachten, dürfte nicht zu kühn sein. […] Man könnte, um wieder einen Vergleich aus der Kunst und der Dichtung zu gebrauchen, sagen, dass die Predigt aus dem Bereich eines formgebundenen Klassizismus zu einem Expressionismus übergegangen sei.“ 433 F. Niebergall sucht nach einer „der Sache entsprechenden Ordnung“, nach einem flexibel zu handhabenden „Schema“ 434 , nach einer auf inhaltlichen Überlegungen basierenden Gliederungsstruktur der Predigt. Die Aufteilung einer 432 Spätere Versuche, die Genera und die rhetorischen Regeln der Scholastik doch wieder einzuführen, haben in der homiletischen Debatte so gut wie keine Rolle mehr gespielt: W. Trillhaas insistierte noch in der 3. Auflage seiner Evangelischen Predigtlehre (1954) auf den „eisernen Regeln“ der (Thema-)Predigt: „Alle Teile müssen gleichwertig sein, […] alle Teile müssen sich gegenseitig ausschließen, […] alle Teile müssen im Thema enthalten sein (1954, 147). H.-R. Müller-Schwefe regte Ende der 50er Jahre - ebenfalls ohne Erfolg - zu einer Rückbesinnung auf die genera iudiciale, deliberativum und demonstrativum (1958, 247-249) an. 433 F. Niebergall, 1929, 211. 434 A. a. O., 168. 212. <?page no="226"?> 226 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Predigt in „Einleitung, Hauptteil, Schlussteil“ reicht seiner Ansicht nach deshalb nicht aus, weil sie formalistisch sei und offen ließe, worum es in diesen Teilen inhaltlich gehe. 435 Auf der Suche nach einer Grundstruktur, die unabhängig davon brauchbar ist, ob man eine klassische Lehrpredigt oder eine emphatische Festtagsrede vorbereiten will, entwickelt Niebergall ein von vier Elementen bestimmtes inhaltliches Grundmuster mit strukturellen Konsequenzen: Eine Predigt sollte (1.) eine Darlegung der „vorausgesetzten Zustände“ im Sinne einer Problemanalyse enthalten, aus der hervorgeht, vor welchem Horizont die Predigt gehalten wird. In einem nächsten Schritt (2.) sollen die „Normen“, Richtlinien, Leitbilder vergegenwärtigt werden, anhand derer auf die entsprechenden Zustände bzw. Situationen Einfluss genommen wird. 436 Des Weiteren seien (3.) die „objektiven Hilfsmittel“ zu erörtern, durch die auf eine Veränderung problematischer Zustände hingewirkt werden könne. Hier gelte es, sowohl all das ins Feld zu führen, „was von Gott her geschehen ist und geschieht und geschehen wird“, als auch das, was Menschen tun können. 437 (4.) Unter „subjektiven Hilfsmitteln“ versteht Niebergall zum einen das kommunikative Repertoire, das dem Prediger als Person zu Gebote steht; zum anderen geht er davon aus, dass es zum Gelingen einer Predigt gehört, die Person des Hörers „empfänglich zu machen“ 438 . Damit plädiert er für ein Predigtschema, - in dem die Kommunikation des Evangeliums inmitten wirklicher Lebensverhältnisse verortet wird, weil das Wort nicht „blaue Luft“, sondern den „festen Boden der Wirklichkeit“ 439 braucht, - in dem Verhältnisse nicht einfach nur gespiegelt, sondern mit den Spielregeln des Reiches Gottes 440 konfrontiert werden, weil der Predigt sonst eine Zielvorgabe fehlt, - in dem das Handeln Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie das Menschen Mögliche mit Bezug auf Situationen und „Normen“ zur 435 Die oben getroffenen Zuordnungen von Rede- und Predigtfunktionen waren Niebergall in dieser Form nicht vertraut. 436 Vgl. F. Niebergall, 1929, 176-182. Freilich argumentiert Niebergall hier weniger von den Verheißungen des Evangeliums her, als vor allem mit dem „Inhalt der christlichen Ethik“ (a. a. O., 168). 437 A. a. O., 169. 182. 438 A. a. O., 169. 188. 439 A. a. O., 176. 440 Vgl. z. B. die Seligpreisungen der Bergpredigt nach Mt 5,3-16. <?page no="227"?> 227 4.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Sprache gebracht werden, so dass das Verheißene von frommen Wunschvorstellungen unterschieden werden kann, und - in dem schließlich auch die schon bestehende, in jeder Predigt schon vorauszusetzende Gottesbeziehung der Hörer 441 berücksichtigt wird. Niebergall versucht im Weiteren, anhand zahlreicher Beispiele zu verdeutlichen, wie dem Verstehen des Hörers ein Weg gewiesen werden kann, indem „eben jene Elemente [nicht] bloß zu inhaltlichen Bestandteilen der Rede, [sondern] auch zu ihrem Grundschema gemacht“ werden.“ 442 Daraus ergibt sich eine Variante zu den oben vorgestellten Schemata. Man könnte sie folgendermaßen zusammenfassen: Grundaspekte der Struktur und des Inhalts der Predigt nach F. Niebergall a) strukturelle Aspekte 1. Vorausgesetzte Zustände 2. Erwartete Veränderungen 3. Objektive Möglichkeiten der Veränderung 4. Subjektive Möglichkeiten der Veränderung b) inhaltliche Aspekte Analyse der Situation des Menschen; konkrete Lebenswirklichkeit Auseinandersetzung mit den „Regeln des Reiches Gottes“; Texte des Alten und Neuen Testaments Erinnerung und Antizipation des Handelns Gottes; Folgerungen für das Handeln des Menschen Berücksichtigung der personalen Dimension bzw. der Beziehungsebene der Predigt Zuordnung zu den Predigtfunktionen „Sitz im Leben“ Darstellungsbzw. Lehrfunktion parakletische Funktion Kontaktbzw. Zeugnisfunktion Abb. 13: Grundaspekte der Struktur und des Inhalts der Predigt nach Friedrich Niebergall 441 F. Niebergall, 1929, 169. 442 A. a. O., 211 f. Vgl. dazu den Abschnitt „Die Gestalt der Predigt“, a. a. O., 197-212. Viele dieser Vorlagen würden heutige Hörer wohl nicht mehr ansprechen, was vor allem mit den Sprachkonventionen der zitierten Predigten sowie mit heute eher fernliegenden Themen bzw. Situationsbeschreibungen zusammenhängen dürfte. Für problematisch halte ich die Auffassung Niebergalls, in Dorfgemeinden weniger auf das Mitarbeiten bzw. Mitdenken der Hörer setzen zu können als in Städten. Mit wenigen Worten viel zu sagen sei nur „möglich angesichts einer Gemeinde, die gewöhnt ist, beim Hören zu denken“ (a. a. O., 206). Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass jegliches Verstehen (nicht nur in der Predigt) immer ein kompositorischer Akt ist, in dem das Gehörte (hier: sprachliche Ausdrücke) ergänzt wird durch etwas dem Gesagten erst Beizumessendes, bevor es für den Einzelnen Bedeutung gewinnen kann. <?page no="228"?> 228 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Wie diese Übersicht zeigt, weisen die vier Strukturelemente Ähnlichkeiten zu den oben erörterten Bedingungen einer als Rede wirksamen Predigt auf. Was Niebergalls Entwurf auszeichnet, ist vor allem dessen Berücksichtigung der - mit Predigtfunktionen nicht einfach verrechenbaren - Situation („vorausgesetzte Zustände“), auf die die Lehre, die Paraklese und das persönliche Zeugnis auszurichten sind. Charakteristisch ist ferner die Zielorientierung der nach diesem Schema zu erarbeitenden Predigt: Im zweiten und dritten Schritt wird, rückbezogen auf die Situationsanalyse, die geänderte Situation ins Auge gefasst. Das aber heißt, jede Predigt ist kasuell, und zwar insofern, als sie sich auf Umstände bezieht, unter denen Menschen leben, auf Zustände, die veränderungsbedürftig und veränderungsfähig sind, was wiederum den Menschen dazu freisetzt, sein Leben und die Beziehungen, die dieses Leben bestimmen, mitzugestalten. Die Bewusstmachung der Notwendigkeit, bei der Erarbeitung einer Predigt die je vorauszusetzende Situation zu klären und dabei das Situationsziel der Predigt 443 stärker ins Auge zu fassen, gehört zu den wichtigsten Errungenschaften der homiletischen Auseinandersetzung mit der rhetorischen Tradition. Dies schlägt sich in den gegenwärtigen Reflexionsperspektiven deutlich nieder. 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Vorbemerkungen Die „Kunst, verantwortlich zu reden“ 444 wird heute nicht mehr allein im Rahmen sprachtheoretischer oder -pragmatischer Einsichten erörtert, sondern als eine die Sprache zwar einschließende, aber über Sprachkunst hinausgehende Gestaltungsaufgabe begriffen. Gewiss gehören Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit der eigenen Sprache zu den wichtigsten Voraussetzungen einer ansprechenden Rede. Die Sprache ist und bleibt das entscheidende Medium rhetorischer Kommunikation, weshalb für den Umgang mit der Sprache in der Predigt ein eigenes Kapitel (I.5) vorgesehen ist. 443 Der Rhetorikforscher H. Lausberg fordert, bei der Analyse einer Rede immer auf „die vom Redenden gewollte Intention der Situationsveränderung“ zu achten, von der jede Rede bestimmt sei (1963, 18). Vor diesem Hintergrund erscheint es ihm als angemessen, Redende als „Situationsmächtige“, Hörende als „Situationsinteressierte“ und den Zweck einer Rede als „Situationsziel“ zu bezeichnen (ebd.). 444 Vgl. den entsprechenden Titel des Buches von Gert Otto (1994). <?page no="229"?> 229 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Wer reden will, weil er etwas mitzuteilen hat, wer reden will, weil er Veränderungen in Gang setzen oder vor etwas warnen will, wer etwas lehren will und wünscht, dass die Menschen, zu denen er spricht, das jeweils Vermittelte möglichst gut behalten können, sollte jedoch über Kenntnisse verfügen, die auch die Bedingungen gelingender Kommunikation betreffen. Er sollte wissen, was den Prozess des Verstehens befördert und was ihn erschwert. Im homiletischen Kontext geht es dabei letztlich auch um die Frage, was es heißt, entschlossen bzw. „entschieden zu predigen“ 445 . Damit ist - dies sollte nach der Lektüre der vorausgegangenen Kapitel eigentlich keiner Erwähnung mehr bedürfen - wiederum nicht ein bestimmter Sprachstil gemeint, der markig, laut und bestimmt daherkommt und keine Fragen mehr kennt. Die Notwendigkeit, entschieden zu predigen, ist vielmehr eine unabweisbare, elementare Bedingung der Kunst, überhaupt verantwortlich zu reden. Michael Meyer-Blanck hat dies in eindrückliche Worte gefasst: „‚Entschieden zu predigen‘ heißt also nicht, den Hörern Entscheidungen vorzugeben (oder gar aufzuzwingen), sondern ihnen Entscheidungen vor Augen zu stellen oder zu ermöglichen. Es heißt gerade, das eigene Entschiedensein als eine Möglichkeit gewählter Freiheit selbstkritisch bewusst zu halten - und nicht naiv für alle und alles offen zu sein und so unbewusst Sympathie für die eigenen Ansichten zu erpressen. […] Entschieden zu predigen heißt zielorientiert und bewusst zu predigen, und darum auch selbstkritisch zu predigen. Nur muss diese Selbstkritik im rhetorischen Vollzug sistiert werden. Andernfalls steht man neben sich und verursacht performative Schäden. Wer beim Laufen daran denkt, dass er eigentlich auch jederzeit fallen könnte, läuft Gefahr, dies auch zu tun; und wer beim Tanzen über die Schrittfolge sinniert, wird die Partnerin treten oder bei ihr Mitleid erregen, aber nicht mit ihr in Schwung kommen. Jedes Ding hat seine Zeit: Selbstkritik eigener Ziele hat seine Zeit und das entschiedene Eintreten dafür hat seine Zeit. So ist es auch beim Predigen.“ 446 Der notwendigen Gestaltung der Predigt so Rechnung zu tragen, dass sie eine verantwortliche Rede ist, bei der die Angesprochenen sowohl erfahren, was der Redende will, als auch erkennen, was das für sie selbst bedeutet, ist eine große 445 Vgl. M. Meyer-Blanck, 2009a, 8-12. 446 A. a. O., 8 f. Vgl. dazu auch Gottfried Voigts Beitrag: „Die Predigt muss etwas wollen“, in: W. Engemann/ F. Lütze, 2009, 33-42. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Katie G. Cannons homiletische Didaktik, die einem zentralen Grundsatz des methodistischen Theologen und Predigers Isaac R. Clarks zu folgen sucht: „If you ain't got no proposition, you ain't got no sermon neither“ (K. G. Cannon, 2002, 14). <?page no="230"?> 230 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt homiletische Herausforderung. Es gibt verschiedene Zugänge, die man wählen kann, sich dieser Herausforderung zu stellen und inhaltliche und formale Gesichtspunkte in einer die Predigtkommunikation begünstigenden Weise aufeinander zu beziehen. Vier dieser Zugänge werden im Folgenden vorgestellt: Es handelt sich (1.) um die lernpsychologische, (2.) um die narratologische, (3.) um die dialogische und (4.) um die semiotische Perspektive. Die hier aufgestellte Reihenfolge spiegelt nicht etwa eine Rangfolge dieser Perspektiven im homiletischen Diskurs wider, sondern entspricht dem Zuwachs an Komplexität vom lernpsychologischen Modell hin zu einer grundsätzlich von der Zeichenhaftigkeit der Predigt ausgehenden Betrachtungsweise. 4.3.1 Die lernpsychologische Perspektive: Predigt als Lernprozess Bei der homiletischen Rezeption lernpsychologischer Beobachtungen und Einsichten geht es darum, den Predigtprozess unter Gesichtspunkten eines Lernprozesses zu betrachten. Aus dieser Perspektive ist es möglich, das Situationsziel einer Predigt als Resultat eines Lernprozesses zu verstehen. Dieser Ansatz trägt zunächst der Tatsache Rechnung, dass die Kommunikation des Evangeliums schon im Neuen Testament insofern als Lernprozess begriffen wird, als das Verb διδάσκειν (lehren) zu den wichtigsten Begriffen zur Beschreibung jenes Vorgangs gehört, den wir heute als „predigen“ bezeichnen. Dass Jesus lehrte - und wenn er predigte, auch wie ein Lehrer auftrat -, zieht sich wie ein cantus firmus durch die Evangelien: Menschen sammeln sich um Jesus und verfolgen ihn bisweilen, um seine Lehre zu hören - „und Jesus, wie es seine Gewohnheit war, lehrte sie abermals“ 447 . Das Lehren Jesu ist ein Bekanntmachen mit Vorstellungen, Bildern und Vergleichen, die es weder nur zu glauben, schon gar nicht blind zu befolgen gilt, sondern die zunächst etwas zu verstehen geben, die etwas verdeutlichen - eben etwas lehren, was die jeweiligen Adressaten in der Regel so noch nicht „gesehen“ oder gedacht, geschweige denn verstanden haben. Der jeweilige Inhalt der Lehre betrifft die Adressaten immer existentiell - bzw. ihr Wirklichkeitsverständnis substantiell. Dabei werden Regeln aufgezeigt und Zusammenhänge aufgedeckt, wie sie etwa in den Seligpreisungen, im Vaterunser oder in dem Hinweis zum Ausdruck kommen, dass, wer „zuerst nach dem Reich Gottes trachtet“, wer also weiß, woraufhin er leben will, mit dem übrigen 447 Mk 10,1. Weitere Stellen in Auswahl: Mt 5,2; Mt 7,29; Mt 13,54; Mt 21,23; Mk 1,21 f.; Mk 2,13; Mk 4,2; Mk 6,2; Lk 5,3; Joh 8,2. <?page no="231"?> 231 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven schon klarkommen wird. Dies sind zusammengenommen Aussagen, die nicht auf eine befreiende Botschaft reduziert werden können oder als Gesetz befolgt werden wollen, sondern die den Adressaten als für ihr Leben relevant und ihr Leben verändernd vor Augen gehalten werden. 448 Mit dieser Betrachtungsweise soll weder das Wirken des Heiligen Geistes erübrigt, noch das Kommen des Reiches Gottes auf eine dogmatische Lektion reduziert werden. Das lernpsychologische Modell geht vielmehr davon aus, dass das Hören auf eine Predigt ein Umlernen bzw. Weiterlernen impliziert (beziehungsweise implizieren kann). 449 Dabei wird ein umfassender, ganzheitlicher Lernbegriff vorausgesetzt, bei dem nicht Stoffaneignung im Mittelpunkt steht, sondern der sich auf das gesamte Verhaltensrepertoire des Menschen, also auf sein Denken, Fühlen und Handeln bezieht. 450 Dass das Hören auf Glaubenszeugnisse Lernprozesse einzuleiten vermag, lässt sich anhand zahlreicher Texte des Alten und Neuen Testaments verdeutlichen, in denen Menschen mit „Offenbarungen“ bzw. mit dem Kommen des Gottesreiches konfrontiert werden. Ob man an die „Hirten auf dem Felde“ denkt, die lernen müssen, dass ihr König sich anders präsentiert, als sie erwartet haben, ob man an den flüchtenden, unglücklichen Jakob denkt, der auf freiem Feld wider Erwarten die Erfahrung der Begleitung Gottes macht, oder ob man sich die Umkehr-Rufe des Täufers und Jesu vergegenwärtigt: Es geht immer um Botschaften, die, um verstanden zu werden, ein Umdenken erfordern, das tiefgreifende Veränderungen in nahezu allen Bereichen des Lebens nach sich zieht. Der Zusammenhang von Inhalt und Form erfordert - lernpsychologisch gesehen - die Beachtung einzelner Stufen innerhalb einer Rede. Die Prozedur, 448 Zur Lehrdimension der Verkündigung Jesu und zum Problem der Ausblendung dieser Dimension in bestimmten Ansätzen der Homiletik und Seelsorge vgl. W. Engemann, 2004, 885-889 und 2006a, 28-32. 449 H. B. Kaufmann geht noch weiter, indem er - für das lernpsychologische Modell plädierend - festhält: „Glaube ist nicht ein einmal gesetztes, reines Bewusstseinsphänomen, sondern muss als christliche, kontinuierliche Erfahrung, als Lebens- und Lernprozess verstanden werden.“ Aus der Einleitung zu: P. Düsterfeld/ H. B. Kaufmann, 1975, 10. 450 W. Schütz’ Kritik an diesem Modell gründet in einem überholten Lernbegriff, wonach Lernen im Pauken von Wissen bestehe. Er sieht den Gottesdienst zu einer „Schulveranstaltung“ (1981, 216) verkommen und übergeht sowohl die didaktischen und theologischen Prämissen dieses homiletischen Ansatzes (vgl. die Zusammenfassung am Ende dieses Kapitels 4.2.1) als auch die entsprechenden, oben erwähnten Impulse Luthers oder Melanchthons. <?page no="232"?> 232 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt die Menschen durchlaufen, wenn sie Einstellungen ändern, sich zu bestimmten Handlungen motivieren lassen oder im Bereich der Affekte neue Erfahrungen machen, weist ein immer wiederkehrendes Grundmuster auf. Wer es berücksichtigt, wird den Inhalt, den er zu vermitteln hat, so zu strukturieren suchen, dass (1.) mit einem Interesse an der Sache zu rechnen ist, dass (2.) der inhaltliche Kern bzw. das Grundproblem der angesprochenen Sache klar vermittelt wird, dass (3.) seine Argumente in Auseinandersetzung mit möglichen Gegenargumenten formuliert werden, dass (4.) die Botschaft in Bezug auf das angesprochene Problem formuliert wird und einen ,Lösungsvorschlag‘ impliziert, und dass (5.) die Predigt die Verlässlichkeit ihrer Botschaft selbst demonstriert, das heißt sprachlich antizipiert. Es geht also um fünf Phasen oder Stufen, an die bestimmte Funktionen innerhalb der Rede bzw. der Predigt geknüpft sind. 451 Sie lassen sich folgendermaßen bestimmen: Phase Funktion Beispielskizze 1. Motivation Der Hörer wird zu einer Fragehaltung disponiert; er soll das angesprochene Thema als für sich relevant wahrnehmen bzw. sich in der geschilderten Situation wiederfinden können. Die Predigt vergegenwärtigt eine Situation, in der ein Mensch seine Unfreiheit als belastend empfindet. Der Hörer wird an die Schwierigkeit erinnert, in Übereinstimmung mit dem eigenen Denken, Fühlen und Handeln zu leben. In dem Wunsch, dass dies sich ändert, hört er zu. 2. Problemabgrenzung Die aufgenommene Frage wird auf ein Problem hin fokussiert; das angesprochene Thema erhält ein bestimmtes Profil und wird dadurch konkret. Die Situation wird strukturiert. Die Predigt verweist auf die Angst, die Menschen hindern kann, ihrer Freiheit gemäß zu leben. Dabei spielt die Angst vor eigener Verantwortung und vor der eigenen Schwäche eine besondere Rolle. Sie ist als die Angst, selbst zu leben beschreibbar. 3. Versuch und Irrtum Problemlösungsmöglichkeiten werden aufgezeigt, Scheinlösungen als solche markiert. Der Bedarf an einer anderen, neuen, die Situation verändernden Lösung wird deutlich. Die Predigt stellt Formen des Ersatzes eines Lebens in Freiheit bzw. dessen Kompensation dar: Arrangements mit faulen Kompromissen, Umdeutung bestehender Zwänge zu „auferlegten Kreuzen“, Verzicht auf die Erfahrung befreiten Lebens u. a. m. 451 Die ersten homiletischen Arbeiten hierzu stammen von H. Arens (1972, bes. 125-138) bzw. H. Arens/ F. Richardt/ J. Schulte (1975, 41-81). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem lernpsychologischen Modell findet sich bei P. Bukowski (1995), der zu einer ausdrücklichen Würdigung dieses Ansatzes gelangt (ebd., 31-35). <?page no="233"?> 233 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Phase Funktion Beispielskizze 4. Lösungsangebot Einführung eines Lösungsangebots, das keine Scheinlösung darstellt, also Gegenargumente nicht scheuen muss. Die Problemlösung wird angebahnt. Im Zusammenhang der Erschließung des biblischen Textes kommt die neue Situation in den Blick. Die Predigt bringt die Kompromisslosigkeit der Auferstehung Jesu ins Spiel: Die Frauen des Ostermorgens, die sich - zu seinem Grab pilgernd - auf das Ende einer einst hoffnungsvollen Geschichte eingestellt hatten, werden damit konfrontiert, dass sie in ihrem eigenen Grab nichts mehr zu suchen haben, sondern leben sollen (vgl. Mk 16,1-8). 5. Lösungsverstärkung / „Transfer“ Verdeutlichung der Tauglichkeit bzw. Bewährung des Lösungsangebots in verschiedenen Situationen. Es geht um die Ermutigung, das Lösungsangebot für möglich zu halten und in der eigenen Situation entsprechend zu handeln. Die Fortsetzung bzw. der Neubeginn dieses Lebens wird unter erschwerten Bedingungen anvisiert: Ausgerechnet das „heidnische Galiläa“ wird zum Bewährungsort wiedererwachten Lebens. Eben noch missmutige Fischer - „gescheiterte Existenzen“ - finden in Galiläa eine neue Lebensperspektive. Abb. 14: Das lernpsychologische Modell in homiletischer Perspektive Dass erst in der 4. Phase des Lernprozesses ein „Lösungsangebot“ zur Sprache kommt, bedeutet nicht, dass der Bibeltext in diesem Modell eine nur periphere Rolle spielte. 452 Die Relevanz des Textes für die Predigt entscheidet sich vor allem im Zuge der Vorbereitung auf die Predigt mit dem Text. Diese Vorbereitung schließt ein, dass in der Auseinandersetzung mit dem Text - und gefordert von ihm - Fragen aufgenommen werden, die sich auf die Lebenswirklichkeit derer beziehen, die die Predigt hören werden. Solche Fragen sind in gewissem Sinne selbst das Resultat der Beschäftigung mit der Bibel, soweit deren Texte unter anderem als Form der Bewältigung des Lebens verstanden werden dürfen. Deshalb kann es angemessen und durchaus „biblisch“ sein, mit Fragen anzusetzen, die „das Leben“ stellt. 453 Bei der Anwendung des lernpsychologischen Modells ist von vornherein zu bedenken, dass die einzelnen (in Abb. 14 genannten) Phasen in der Predigtvorbereitung in einer ganz anderen Folge zum Zuge kommen: In der Regel sind es 452 Vgl. diesen Vorwurf zuerst in A. Mertens kritischem Kommentar zum lernpsychologischen Modell (A. Mertens, 1975) und später in den Bilanzen zur Bedeutung der Lernpsychologie für die Homiletik (z. B. bei H. W. Dannowski, 1985, 144). Ernüchternd an dieser Kritik ist nicht ihre Skepsis gegenüber der Rezeption eines psychodidaktischen Modells, sondern das dabei leitende Verständnis von biblischer Predigt. 453 Zu den Kriterien biblischer Predigt vgl. I.3.4. <?page no="234"?> 234 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt zunächst die Phasen 2 (Problemabgrenzung) und 4 (Lösungsangebot), die bearbeitet werden müssen. 454 Fragen hinsichtlich der Hörer-Motivation, Analysen von Scheinalternativen und Überlegungen zur Lösungsverstärkung schließen sich an, wenn geklärt ist, wovon die Predigt handeln wird, welches Problem sie ansprechen will und welches Kommunikationsziel sie hat. Da diese Fragen oben bereits ausführlich erörtert wurden, beschränke ich mich in der anschließenden Vertiefung des lernpsychologischen Modells auf die Phasen 1, 3 und 5: Bei der Erarbeitung der Motivationsstufe (Phase 1) ist zu berücksichtigen, dass die Predigt den Erlebnishorizont des Hörers beziehungsweise den Bereich existentieller Erfahrungen auch wirklich erreicht, damit den Hörer angeht, was die Predigt sagt, und er sich in der von der Predigt eingefangenen oder entworfenen Situation auch wiederfinden kann. Dazu gehören die richtigen Fakten, also Sachkenntnis, sowie eine Beziehungsebene, die die Botschaft, dass es sich um eine Predigt für mich handelt, emotional unterstützt. 455 Von besonderem Gewicht sind die Auseinandersetzungen in der Phase Versuch und Irrtum (Phase 3). Schließlich geht es hier um die Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern und mit Versagen, also mit einem Teil der Ursachen des Problems. Eine Predigt, die hier Scheinprobleme konstruiert, wird schnell als irrelevant oder unredlich durchschaut. Die Motivationsphase hat dann nicht gehalten, was sie versprochen hat. Es kann auch nicht darum gehen, echte Probleme mit theologischen Begriffen glattzubügeln. Der Hörer soll der vom Prediger eingebrachten Argumentation folgen und mitdenken können. Die Lösungsverstärkung (Phase 5) sollte der Motivationsphase an Konkretheit nicht nachstehen. Situationsschilderungen, Problemabgrenzungen, das Durchspielen von Lösungsmöglichkeiten, ein Lösungsangebot - dies alles droht zu verpuffen und hinterlässt, lernpsychologisch gesehen, Frustrationen, wenn sich daraus keine Perspektiven für das eigene Leben ergeben, wenn nur zu stimmen scheint, was gesagt wurde, ohne dass es nun auch im eigenen Leben erprobt werden und sich bewähren könnte. Diese Überlegungen erinnern Leserinnen und Leser möglicherweise an jene Stimmen, die sich gegen die Rhetorik wandten, um alles Manipulative aus dem Predigtgeschehen 454 Die Schwierigkeiten in der Festlegung einer eindeutigen Reihenfolge bei der Annäherung an Situation und Text, Problembestimmung und Lösungsperspektive, wurden bereits erörtert (vgl. I.3.2). 455 Hierbei kommen - was das Kommunikationsverhalten des Predigers angeht - all die Prinzipien zur Geltung, die in Abb. 7 (S. 111) zusammengefasst wurden. <?page no="235"?> 235 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven herauszuhalten. In der Tat: Auch die Werbeindustrie profitiert von der Lernpsychologie, indem sie erforscht, wie Probleme erzeugt, Unsicherheiten geschaffen und Erwartungen geweckt werden, um daraufhin ein entsprechendes Produkt als Lösungsangebot anzubieten und sogleich - durch die „Freude über die weiße Wäsche“ oder das „Lachen des Säuglings“ usw. - mit einer Lösungsverstärkung aufzuwarten. Inwieweit man freilich einem Menschen, oder sagen wir es genauer: seinem Nächsten, einen Gefallen damit tut, dass man sich mit seinen Problemen befasst, hängt in starkem Maße davon ab, ob er diese Probleme wirklich hat, und natürlich davon, ob dieses Interesse ein solidarisches, evangelisches, diakonisches usw. oder nur ein eigennütziges ist. „Entschieden zu predigen“ und damit nicht nur für eine bestimmte „Sicht der Dinge“, sondern vor allem für eine bestimmte Erfahrung von Leben zu werben, gehört zu den Grundprinzipien einer leidenschaftlichen Kommunikation des Evangeliums. Homiletisch ist in jedem Fall zu bedenken: Eine gedankenlose oder vorgeblich nur dem Text folgende Predigt ist keineswegs vor dem Auftischen künstlicher Probleme gefeit, wie sie einem in der Welt der Werbung allenthalben begegnen. Solche Predigt läuft Gefahr, für religiöse Produkte zu werben (z. B. bestimmte Gottes- und Selbstbilder), die der Prediger aus Gründen favorisiert, über die er sich unter Umständen gar nicht im Klaren ist. Wer überlegt, wie er etwas tun sollte, überlegt immer zugleich, wie er es wirkungsvoll tun sollte. Entscheidend ist die Verantwortung, in die Predigende sich stellen, wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen das Wort ergreifen. Darüber muss ein Prediger sich und der Gemeinde immer wieder Rechenschaft ablegen - unabhängig von der Methode, die er benutzt, um seiner Predigt eine verstehensfördernde Gestalt zu geben. Für die Aufnahme lernpsychologischer Theorieelemente in die Homiletik sprechen aber noch weitere Aspekte, die sich aus den Beziehungen zwischen Lernen und Glauben ergeben: Bilder und Vorstellungen, die ein Mensch als Kind von Gott hat, ändern sich im Laufe des Erwachsenwerdens. Das ist ein Lernprozess, für den die Predigt entscheidende Impulse bieten kann. Christen lernen u. a. im Hören auf die Predigt, dass bestehende Zustände veränderungswürdig sind. Sie lernen, das Evangelium in Kontexte ihrer Lebenswirklichkeit hinein zu übersetzen. Die Predigt lehrt auch, wie über die christliche Hoffnung Rechenschaft abgelegt und wie christliche Freiheit praktiziert werden kann und erweist sich dadurch als Einführung in ein Leben aus Glauben. <?page no="236"?> 236 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt 4.3.2 Die narratologische Perspektive: Predigt als involvierende Erzählung Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der diskursiven Darlegung und der erzählerischen Entfaltung eines Inhalts. Im ersten Fall geht es vor allem um die stringente Erörterung von Sachverhalten, um die systematische Einbringung von Informationen, um das logische Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten. Im zweiten Fall wird im Rahmen eines Erzählzusammenhangs geschildert, welche Rolle dieser Inhalt zum Beispiel im Alltag eines Menschen spielt, unter welchen Lebensumständen ein Einzelner mit ihm zu tun bekommt und ihn braucht, was dieser Inhalt praktisch für die Bildung von Entscheidungen bedeutet u. a. m. Homiletisch übersetzt heißt das: Eine narrativ in Szene gesetzte Predigt kann deutlich machen, was konkret mit einem Leben aus Glauben gemeint ist, an welche Entwicklungen, welche Konsequenzen zu denken ist. In gewisser Weise kann eine Predigt in der Fiktion einer Erzählung Wirkungen zur Sprache bringen, die sich - idealerweise - aus ihrem Hören selbst ergeben sollen. 456 Wer predigt, indem er erzählt, führt seine Hörer in medias res: Er eröffnet ihnen eine ebenso komplexe wie detailgetreue, facettenreiche Welt, in der die Dinge soundso liegen, eine Welt, in der „eine Situation besteht“, die sich im Laufe der Geschichte und der Predigt verändern kann. Wer predigt, indem er erzählt, entwirft eine Welt mit einem Vorher und Nachher, eine Welt mit Ereignis- und Erfahrungscharakter, in der die in dieser erzählten Welt Handelnden erleben, was das Evangelium für die Hörer in ihrer realen Welt bedeuten kann. Die Gemeinde ist Teilhaberin sowohl ihrer realen als auch der ihr erzählten Welt. 457 Hörend wird sie in der Geschichte, der sie folgt, gewissermaßen zur Beteiligten an dem, was in dieser Geschichte geschieht. Der Mitvollzug der Predigt erfordert es - und ermöglicht es den Hörenden zugleich - gewissermaßen zu „Tätern des Wortes“ 458 zu werden. Das lutherische fides ex auditu gewinnt im 456 Vgl. die grundsätzliche Unterscheidung von „besprochenen“ und „erzählten“ Welten schon bei H. Weinrich (1964, 44-50). 457 Das ausführlich vorgestellte Modell zur Beschreibung der Prozesse, die sich bei der Produktion und Rezeption von literarischen Texten abspielen (vgl. I.3.3.1 und Abb. 8 und 9, S. 164 und 166), gilt analog in gewisser Hinsicht auch für die Rede. Der Hauptunterschied zwischen dem Verhältnis von Autor und Leser einerseits sowie Redner und Hörer andererseits besteht darin, dass sich Letztere als historische Personen - anders als Autor und Leser - gleichzeitig in einer gemeinsamen Kommunikationssituation befinden. 458 Vgl. Jak 1,22. <?page no="237"?> 237 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Hören auf eine narrative Predigt eine pragmatische Note: Indem eine solche Predigt „im Hörer Betroffenheit erzeugt“, lässt sie ihn zum „Täter des Wortes“ werden, „so dass von ihm [d. h. dem Hörer] wiederum erzählt werden kann“ 459 . Der hörende Mitvollzug einer Geschichte führt natürlich nicht automatisch zu besserem Verstehen 460 oder zu einer „religiösen Betroffenheit mit Glaubensfolge“. Andererseits kann man sagen, dass „gute Geschichten“ dem Hörer eine intensivere Partizipation am Mitteilungsgeschehen Predigt ermöglichen. Gute Geschichten sind solche, die die Ebene des Erzählens tatsächlich erreichen, die den Hörer in eine „erzählte Welt“ mit hineinnehmen, in der er eine Rolle spielen kann, Geschichten, die nicht nur zum Zwecke der Illustration steiler Behauptungen ein paar Anekdötchen anbringen. Was der Theologe und Schriftsteller Wolfgang Hegewald über das Lesen von Erzählungen schreibt, gilt auch für das Hören guter Geschichten: „Jede gelungene Erzählung unterhält, in mehrfachem Sinn, ihren Leser: als ästhetisches Vergnügen, und indem sie zu seinem Lebensunterhalt beiträgt. Der Erzähler ist imstande, mich, seinen Leser, zu unterhalten, weil er für die Komplexität seines Stoffes eine Form erfindet, die mir unerhört und zwingend selbstverständlich zugleich vorkommt.“ 461 Die homiletische Legitimität zum Erzählen in der Predigt bzw. zur Erzählpredigt ergibt sich aus dem Charakter der biblischen Botschaft selbst. Ob man an die Rezeption der großen Erzählungen des Alten Testaments oder an die kleine Form der Gleichnisse, ob an die „Geschichtsbücher“ oder an die Evangelien denkt: Was „Gott“ für die Glaubenden bedeutet, wie es um die Beziehung zwischen Gott und (einem) Menschen steht, welche Zukunft der Mensch „bei Gott“, „in seinem Reich“ haben wird usw. - alles dies wird vorzugsweise in Form von Geschichten wiedergegeben. Auch auf dem Höhepunkt der Liturgie fängt der Liturg an zu erzählen: „In der Nacht, als unser Herr Jesus Christus verraten wurde, nahm er das Brot-…“ 462 459 H. Weinrich, 2009, 333. 460 Otto Haendler, der seine Homiletik - um einen blinden Flecken des homiletischen Diskurses jener Zeit zu fokussieren - primär von der Person des Predigers her entwirft, erwartet Entscheidendes vom Erzählen auf der Kanzel: Der Zusammenhang von Inhalt und Form erfordere es, in der Predigt das „echte Erzählen von Geschichten“ zu pflegen, weil diese die „Bildschicht“ des Hörers als den „Ort des eigentlichen Verstehens aktivierten“ (2017b, 557; vgl. auch 629 f.). 461 W. Hegewald, 1998, 39. 462 Zum „Ereignischarakter der Predigt“ vgl. den Einleitungstext zu den Beiträgen von M. Nicol und H. Weinrich in W. Engemann/ F. Lütze, 2009, 231-234. <?page no="238"?> 238 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Über das „Geheimnis des Glaubens“ kann angemessen nur in Geschichten geredet werden. Das Christentum ist „nicht primär eine Argumentations- und Interpretationsgemeinschaft, sondern eine „Erzählgemeinschaft“ 463 . Dem Inhalt nach sind die jüdisch-christlichen Erzählungen freilich alles andere als Plaudereien. Sie sind subversiv. Auch in dieser Hinsicht besteht zwischen Form und Inhalt eine starke Kongruenz: Wer die Erzähltradition der Bibel aufnehmen und auf der Kanzel fortsetzen will, sollte bedenken, dass es dabei um ein traditionell ‚gefährliches‘ Geschäft 464 geht: Wer biblisch 465 predigt, indem er auf der Basis der Bibel erzählt, erinnert an Geschichten der Befreiung und stiftet zur Veränderung bestehender Verhältnisse von innen her an, soweit diese mit Unterdrückung der Freiheit, Rücksichtslosigkeit und Unfrieden verbunden sind und Leben gefährden. Wer erzählend predigt, bringt Gegengeschichten in Umlauf, 466 die zwar im Gottesdienst zu Ende erzählt werden, jedoch in den Alltagsgeschichten der Hörer ihre Fortsetzung finden. Diese Voraussetzungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf Kanzeln wenig erzählt wird. Nach einer Untersuchung von Andreas Egli ist die primäre Sprachform der Predigt das „Besprechen“ von Texten, Situationen, Themen usw. Immerhin - so Egli - fände sich in den Predigten ein durchschnittlicher Anteil erzählender Sprache von 26 %. 467 Dieses Fazit ist freilich mit Vorsicht zu genießen. Wenn man, wie Egli, die Narrativität einer Predigt quantitativ ermittelt und schon allein auf der Basis einzelner Sätze und Abschnitte zu dem Urteil kommt, Predigten böten „durchschnittlich ein Viertel 463 J. B. Metz (2009, 221) nimmt damit einen Begriff von Walter Benjamin auf. H. Weinrich glaubt, beobachten zu können, wie das Christentum bei „der Berührung mit der hellenistischen Welt […] seine narrative Unschuld verloren“ habe. Und wie die „erzählenden Mythologen“ mehr und mehr von den „argumentierenden Philosophen“ verdrängt worden seien, habe sich auch die Theologie zu einer Wissenschaft entwickelt, deren Anliegen es zu sein scheint, „die tradierten Geschichten möglichst schnell und vollständig in Nicht-Geschichten zu verwandeln“ und sie auf eine (womöglich abstrakte) Faktizität zu reduzieren (H. Weinrich, 2009, 247). 464 Nach J. B. Metz implizieren Geschichten auf der Kanzel „gefährliche Erinnerungen“ (1973, 336 f.). 465 Vgl. zum Verständnis biblischer Predigt I.3.4. 466 Vgl. analog dazu das Gegenspiel-Modell von K. H. Bieritz, 1983, 153-158 sowie eine Reihe vorliegender Predigtbände, die versuchen, narratologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen (z. B. H. Nitschke, 1981). 467 A. Egli, 1995, 118. <?page no="239"?> 239 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven […] erzählende Sätze“ 468 , bedeutet dies noch lange nicht, dass damit die Qualität des Erzählerischen oder gar einer Erzählung erreicht würde. Eingestreut in Behauptungen, Erklärungen und theologische Konklusionen sind die von Egli angeführten Beispielssätze oft nur Phrase oder Floskel; sie bieten kaum etwas von dem, was seit Mitte der siebziger Jahre unter „Narrativität in der Predigt“ verstanden wird. 469 Skizziert und auf den Begriff gebracht wurde die „Narrative Theologie“ zunächst von dem schon genannten (protestantischen) Literaturwissenschaftler Harald Weinrich. Dieser Ansatz wurde in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts systematisch-theologisch reflektiert und an die einschlägigen Diskurse der Dogmatik angeschlossen. Dabei bestand freilich die Gefahr, das Erzählen gegen das Argumentieren auszuspielen. 470 Die argumentative Leistung einer erzählten Geschichte darf jedoch nicht unterschätzt beziehungsweise kann kaum überschätzt werden. Im Hinblick auf eine bestimmte Situation erzählt, kann eine Geschichte nicht nur als ganze die Funktion eines Arguments erfüllen, sondern aufgrund ihrer konkreten Details auch eine ideale Basis abstrakter Argumentation sein. In einer Situation, in der die Zuhörer Jesu - nach Lukas - mehr und mehr die Erwartung hegen, „das Reich Gottes werde sogleich offenbar werden“ (Lk 19,11), hätte man vielleicht eine klare Stellungnahme von Jesus erwarten können. Eine Unterweisung in Sachen Endzeit, eine Darlegung über „Schon-Jetzt“ und „Noch-Nicht“, eine Aufklärung über angemessene und unangemessene Haltungen und Hoffnungen - Klartext also. Stattdessen erzählt Jesus ein Gleichnis, in dem er die passiv-religiöse Zuschauermentalität der Umherstehenden problematisiert und sie in einen Perspektivenwechsel einbezieht. Ohne dass der erwarteten Zukunft eine Absage erteilt wird, tritt hier die Gegenwart als eschatologischer Ort hervor, an dem Menschen dazu herausgefordert und befähigt werden, mit dem Kommen des Reiches Gottes zu rechnen und entsprechend zu leben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich die jeweils vorgestellte Kommunikationssituation zu vergegenwärtigen: Natürlich geht es nicht darum, in der Wissenschaft Theologie das Argumentieren und damit etwa die Möglichkeiten 468 Ebd. 469 Was wird denn erzählt, wenn gegenüber der Gemeinde zum Beispiel behauptet wird: „Doch eines ist klar: Wer seinen Jammer nicht versteckt vor Jesus, sondern sich vor ihm dazu bekennt, empfängt sein vergebendes Wort. Jesus hat das Recht, Sünde zu vergeben, uns zu reinigen, denn er hat das Gesetz doppelt erfüllt“ (a. a. O., 97). 470 Vgl. z. B. D. Ritschl/ H. O. Jones, 1976. <?page no="240"?> 240 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt des logischen Begründens oder Folgerns und Definierens abzuschaffen. Die Situation der Predigt und ihre Aufgabe, Glauben zu wecken und zu stärken, bedürfen jedoch in besonderer Weise einer erfahrungsbezogenen Sprache, die aufgrund der Analogiefähigkeit von Erfahrungen und des damit einhergehenden Involvierens des Hörers quasi Argumentationscharakter hat. Ob theologisches Argumentieren für den Hörer schon deshalb die Qualität von Argumenten hat, weil das Gesagte (nur) für Fachleute logisch und stringent ist, darf in Zweifel gezogen werden. Die Argumentation einer Predigt - sie sei abstrakt oder narrativ konzipiert - steht und fällt mit der Nachvollziehbarkeit der einzelnen Elemente dieser Argumentation für jeden Hörer und jede Hörerin. Sie können aber leichter folgen, wenn die Argumentationskette der Predigt Erzählelemente enthält. Wichtige, für die Homiletik noch kaum erschlossene Impulse zum Erzählen auf der Basis der biblischen Überlieferungen bieten die im Rahmen des Religionsunterrichts entworfenen Erzählmodelle von Dietrich Steinwede und Walter Neidhart. 471 Die Autoren zeigen, dass eine auf einen biblischen Text bezogene Erzählung zunächst dieselben theologischen Vorarbeiten erfordert wie eine text-erklärende Predigt. Während das Konzept Steinwedes darauf setzt, bestimmte analogieträchtige Elemente (z. B. die Szenenfolge eines Gleichnisses) in die Erzählung zu integrieren, um damit den verbindlichen Charakter des Textes als einer Ur-Kunde deutlich zu machen, liegt Neidhart in besonderem Maße daran, so zu erzählen, dass das Glaubensverständnis eines Textes in unmittelbarer Verbindung mit zeitgenössischen Lebensfragen zur Sprache kommt. Für die narratologische Gestaltung einer Predigt gibt es verschiedene Varianten. Manfred Haustein nennt: 1. die „Nacherzählung biblischer Texte“, 2. die „biblische Geschichte als Prototyp eigener Lebens- und Zeitgeschichte“, 3. die „gegenwartsbezogene Neugestaltung eines Bibeltextes“ und 4. die „biblische Erzählung, kreativ-aktuell weitererzählt“. 472 Die so klassifizierten Erzählgestalten liegen jedoch dicht beieinander, lassen sich nur bedingt voneinander abgrenzen 471 Vgl. D. Steinwede, 1981 und W. Neidhart, 1989. 472 M. Haustein, 1990, 464 f. Auch bei der „gegenwartsbezogenen Neugestaltung“ geht es Haustein immer noch um die Neugestaltung eines Bibeltextes. Viele Predigten aus der Zeit der Wiederentdeckung des Erzählens auf der Kanzel gehen in ähnlicher Weise vor (vgl. z. B. H. Nitschke, 1976 und 1981). Entsprechend der Vertiefung der Funktion des Textes in I.3 ist dies aber nicht zwingend. Es ist durchaus legitim, eine Geschichte zu erzählen, sie sogar biblisch - also im Geiste der jüdisch-christlichen Tradition - zu erzählen, ohne dabei auf die Wiedererkennbarkeit oder das Verständnis eines bestimmten Textes abzuzielen. Ebenso kann der biblische Text eine eigene ‚Nebenrolle‘ <?page no="241"?> 241 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven und haben in irgendeiner Weise sämtlich die Gestalt des Bibeltextes selbst zur Vorlage. Das aber ist keineswegs zwingend. Die narratologische Struktur einer Predigt ist von der Gestalt des Textes nicht abhängig. Vor allem gilt es, sich über die Wirkung verschiedener Erzählstrukturen selbst im Klaren zu sein: 1. Erzählende Elemente am Beginn einer Predigt können - soweit die üblichen Klischees 473 vermieden werden - zur Verdichtung der Lebenswirklichkeit beitragen und die Situation, die im Blickpunkt der Predigt steht, als echte, lebensnahe Situation plausibilisieren. 474 Gelingen sie, d. h. sind sie erzählerisch gut gemacht, sind sie erfahrungsgemäß mit einer Steigerung der Hörbereitschaft verbunden. 2. Werden Erzählungen in der Funktion von Beispielen in die Predigt einbezogen, sollte darauf geachtet werden, dass sie nicht nur illustrieren, was schon gesagt wurde, sondern dass sie die Intention des Gesagten in einer bestimmten Richtung verstärken, vertiefen, präzisieren, dass sie die „Entschiedenheit der Predigt“ 475 gewissermaßen noch ein Stück weiter treiben und unmissverständlich werden lassen. 3. Ob eine Predigt, die sich insgesamt als Nacherzählung des Textes versteht, verständlicher ist als der unter Umständen schwer verständliche Text selbst, hängt u. a. davon ab, ob den in der Erzählung auftretenden Figuren einfach nur „Texterklärungen“ in den Mund gelegt werden (was den Erzählzusammenhang stört), oder ob sie in plausiblen Rollen agieren, mit denen sich die Hörer gegebenenfalls identifizieren können. Die „vorausgesetzte Identität von vergangener und gegenwärtiger Geschichte“ 476 darf nicht nur unterstellt, sie will auch erzählerisch gestaltet werden. innerhalb der Erzählung spielen und dadurch auf eine ganz besondere Weise ihrem Gesamtverständis dienen. Vgl. dazu die Beispiele in: W. Engemann, 2001b, 12-24. 473 Vgl. I.5.1.5 und I.6.1.6. 474 „Wer erzählt, ist dem verpflichtet, was Ingeborg Bachmann einmal ‚Starkstrom Zeitgenossenschaft‘ genannt hat. Seine Neugier auf alles, was der Fall ist, lässt sich kaum stillen, und er ist gut beraten, sich für die Signaturen seines Zeitalters zu interessieren“ (W. Hegewald, 1998, 38). 475 Vgl. die Vorbemerkungen zu I.4.3. Wer erzählt, „muss kein Hehl aus seiner Meinung machen“, er präsentiert schließlich nicht das Gegoogelte aus dem Internet, jenem monströsen Musterschüler, „der alles behält und nichts begreift, der Wasserkopf des globalen Dorfs, ein nützlicher Idiot. Sein Idiom ist die plappernde Gleichgültigkeit“ (W. Hegewald, 1998, 38). 476 H. W. Dannowski, 1981, 153. <?page no="242"?> 242 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt 4. Die homiletisch konsequenteste narrative Form ist die Predigt als erzählte Geschichte, in der nichts mehr erklärt werden muss, weil ihre Mitteilungsabsichten deutlich sind, weil die ihr vorschwebende Haltung erkennbar, ihre Handlungsimpulse klar und ihre Identifikationsangebote verständlich sind. Im Sinne der oben festgehaltenen Kriterien biblischer Predigt ist es durchaus möglich, in einer zusammenhängenden Geschichte sowohl den theologischen Gehalt eines Textes zu verdeutlichen als auch das existentielle Interesse des Hörers zu vertreten - auch ohne expressis verbis vom „Text damals“ und „uns heute“ zu sprechen. 477 Man nimmt der homiletischen Rezeption narratologischer Prinzipien ihre eigentliche Pointe, wenn man schließlich doch resümiert, es sei „nie möglich […], eine ganze Predigt als Erzählung zu gestalten“; es müsse zusätzlich ein „subjektiv verbürgtes und verifiziertes Deutungsmuster“ 478 in die Predigt eingeführt werden. Es ist gerade ein Vorzug der erzählenden Kommunikation des Evangeliums, dass der Hörer das vom Prediger in systematischer Vorarbeit entwickelte „Deutungsmuster“ am konkreten Fall nachvollziehen kann, ja, dass der Hörer selbst in dieser Geschichte erscheinen muss oder sie zumindest für Kontexte seines eigenen Lebens - für seinen „Fall“ - übersetzen kann. Eine Predigt in Form einer Geschichte könnte im doppelten Wortsinn „Zeugnis“ sein: zum einen in theologischer Hinsicht, als das in persönliche Sprache gefasste, dogmatisch oft abweichlerische Reden von den Motiven, Überzeugungen und Erwartungen des eigenen Glaubens, zum anderen in narratologischer Hinsicht, als quasi berufsethische Schuldigkeit des Redners, sich erzählend an seinen Nächsten wenden zu müssen: Wer sich nicht um die Form der Botschaft kümmert, die er auf diese Weise mitteilen will, wer sich also auf sein Handwerk nicht versteht, „legt falsches Zeugnis ab“ und verstößt nach Ansicht des amerikanischen Dichters Ezra Pound 479 gegen das 8. Gebot. 477 Vgl. W. Engemann, 1993b, 25-29. 123-129 sowie 2001, 71-78, 116-127. Neue Anregungen für die Praxis narrativer Homiletik bietet Janet K. Ruffings Buch „To Tell the Sacred Tale“ insofern, als sie auf die Relevanz nicht nur der biblischen, sondern auch der gegenwärtigen Glaubensgeschichten verweist. Sie plädiert mit Nachdruck für das (Mit-)Teilen („sharing“) von „sacred stories“ im Interesse einer Verdeutlichung der Fortsetzung der Geschichte Gottes mit den Menschen bis in die Gegenwart hinein, worin sie zugleich eine privilegierte Form geistlicher Begleitung sieht (J. K. Ruffing, 2011). 478 H. W. Dannowski, 1985, 156. 479 Dieser Gedanke wird häufig zitiert, v. a. in literaturkritischen Essays, in den von mir recherchierten Texten jedoch immer ohne Quellenangabe, zuletzt bei W. Hegewald (1998, 40). <?page no="243"?> 243 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 4.3.3 Die dialogische Perspektive: Predigt als Gespräch a) Prämissen einer dialogischen Rede- und Gesprächskultur Unter Hinweis auf ein homiletisches Missverständnis 480 wurde bereits deutlich, dass eine Predigt nicht erst durch die Form des Dialogs einen dialogischen Charakter bekommt. Dialogizität ist zunächst eine inhaltliche Dimension der Predigt. 481 Sie steht für die Einbeziehung der Hörersituation im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit der Zeitgenossen. Diese Maxime ist freilich leichter proklamiert als erfüllt: In der philosophischen, rhetorischen und theologischen Geschichte des Dialogs einschließlich entsprechender Theorien werden einem gelungenen Dialog Merkmale zugeschrieben, die nicht einfach von den üblichen Anforderungen an einen guten Redner abgedeckt werden. Wer sich mit seiner Predigt auch formal auf einen Dialog einlassen will, sollte sich über die elementaren Prämissen eines solchen Unterfangens im Klaren sein: 1. Mit einem Dialog lässt man sich auf ein je aktuelles, interaktives Geschehen ein, bei dem von vornherein mit einer wechselseitigen Beeinflussung zu rechnen ist. Dieses beabsichtigte und erwartungsvolle Sich-einander-Aussetzen ist die Prämisse, der faktische Rahmen und das abstrakte Ziel des Dialogs: Man tritt in den Dialog ein, weil man sich etwas davon verspricht, sich mit bestimmten Vorstellungen und Gedanken den Vorstellungen und Gedanken eines anderen auszusetzen. 2. Die Struktur des Dialogs ist triadisch. Im Hinblick auf die Predigt formuliert: Prediger und Hörer handeln gemeinsam im Blick auf einen von ihnen geteilten Bezugsrahmen (in der Sprache der antiken Rhetorik: Logos), „der sich in einem gemeinsamen Thema materialisieren kann, aber nicht muss“ 482 . So lässt man für den Predigtdialog beispielsweise gelten, dass man sich auf eine gemeinsame Tradition (z. B. einen Text) bezieht und im Verständnis der Bewältigung eines gemeinsamen Anliegens (z. B. „Leben aus Glauben“) weiterkommen will. 3. Die Musterdialoge der Antike und der mittelalterlichen Scholastik sind keine Verlegenheitslösungen und nicht zur Abwechslung in einer domi- 480 Vgl. I.4.1.3 (S. 209 f.). 481 Dieser inhaltlichen Ebene noch vorgelagert ist die anthropologische: Jegliche Kommunikation hat ihren Ursprung in dem menschlichen Bedürfnis nach einem Leben in Beziehungen („Geselligkeit“), dessen Wesen der Dialog ist. 482 E. W. B. Hess-Lüttich, 1994, 607. <?page no="244"?> 244 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt nanten Monologkultur erdacht worden. Diese Dialoge hatten ihren „Sitz im Leben“ in je konkreten Situationen, die der Bewältigung harrten: Die ars dialogica war stark mit den zu klärenden Fällen vor Gericht und mit parteilichen Stellungnahmen verbunden, sie hat der Wahrheitsfindung in gelehrten Disputationen gedient und - last but not least - der Pflege einer im tieferen Sinn „witzigen“, pointenreichen, originären Konversationskultur. 483 Das bedeutet: In einem Dialog „geht es immer um etwas“ - es steht wirklich etwas auf dem Spiel, nicht zuletzt die Art der Beziehung der Dialogpartner. Wer „im Dialog predigt“, sollte sich also darüber im Klaren sein, worum er - im besten Wortsinn - streiten, mit anderen um Erkenntnis und Verstehen ringen will. Er sollte geklärt haben, ob er die Hörer (z. B. coram deo oder vor Selbstvorwürfen) verteidigen will, ob er aus Zweifeln heraus in einer bestimmten Frage der Wahrheit näher kommen will usw. 4. Aus 3. folgt, dass - mit Ausnahme des zum Zwecke der Konversation stattfindenden Gesprächs - der Dialog im Kern eine argumentierende Struktur hat, wofür die Sokratischen Dialoge 484 nach wie vor mustergültig sind. Homiletisch einen Dialog zu eröffnen, heißt in dieser Hinsicht, einzutauchen in die Welt vernünftigen Argumentierens, logischen Denkens, des Befragens und Sich-in-Frage-stellen-Lassens. In der Auseinandersetzung (διαλέγεσθαι) versuchen die Dialogpartner, sich der Wahrheit anzunähern. Wenn es dazu kommt, ist das nicht den mitgebrachten Wissensbeständen (z. B. eines Predigers) auf einer Seite des Kommunikationsgeschehens zu verdanken, sondern es war das Ergebnis eines zwischen den Kommunikationspartnern gelingenden Dialogs, in dem Rechenschaft gefordert und abgelegt wurde (λόγον δίδοναι). Die Begründungsverpflichtung ist ein zentrales Element des Dialogs. 5. Der theologisch-philosophische Anspruch an eine homiletische Dialogkultur geht - an Schleiermachers Konzept der Begegnung von Subjekten in der communicatio des Gesprächs sowie an die Dialogiker F. Ebner, M. Buber und G. M. Martin anknüpfend - über kunstvoll inszenierte Strukturen von Rede und Gegenrede noch hinaus: Sie hat den zwischen den Kommunikationspartnern sich bildenden, ihre Gemeinsamkeit charakterisierenden und mitbestimmenden Sinnbestand im Blick, nicht nur in Sprechakte zerlegbare, wechselseitig aufeinander bezogene Monolog-Sequenzen. 483 Vgl. C. Schmölders, 1979 und K.-H. Göttert, 1988. 484 Vgl. Platon, 1982, besonders die Dialoge im 1. Band dieser Ausgabe. <?page no="245"?> 245 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Von dem dabei implizierten, spezifischen Begriff der Kommunikation des Evangeliums ergeben sich neue Perspektiven, diesen Dialog als Basis von Gemeinde zu verstehen. 6. Das Gelingen eines solchen Dialogs - und die Bereitschaft, sich den Einsichten zu öffnen, zu denen er führt -, sind wichtiger als der unmittelbare Nutzen seiner Ergebnisse, und in jedem Fall höher zu bewerten als (Schein-)Lösungen, die dem Dialog nicht standhalten. Dass Dialoge vom Meinen zum Wissen führen können, schließt ein, dass sie auch zur Erfahrung der gegenwärtigen Grenzen des Wissens führen. Über solche weitreichenden Prämissen hinaus ist der Frage nachzugehen, ob nicht der idealerweise schon im Inhaltsbezug der Predigt implizierte Dialog durch entsprechende Strukturen noch unterstützt werden kann, um die Beteiligung der Gemeinde am Predigtgeschehen zu vertiefen. b) Dialogpredigt mit und vor der Gemeinde Grundsätzlich sind zwei Formen dialogischer Predigt vorstellbar: Der unmittelbare Dialog mit der Gemeinde sowie der sie indirekt beteiligende Dialog, der durch zwei Personen vor versammelter Gemeinde geführt wird. Die sich im Dialog mit der Gemeinde entwickelnde Predigt setzt zunächst die gleichen Arbeitsschritte voraus, wie sie für die als Monolog vorgetragene Predigt erforderlich sind - bis hin zu dem Versuch, sich (möglichst schriftlich) über den eigenen Standort Rechenschaft abzulegen. Es geht darum, schon im Vorfeld der schließlich zu haltenden Predigt ein umsichtiger Gesprächspartner zu sein, der Fragen hat, die ihn umtreiben, Fragen, die ihn in der Auseinandersetzung mit Texten und Situationen bewegen. Es gilt, sich schon im Vorfeld eines expliziten Dialogs damit zu befassen, mit welchen Argumenten bestimmte Fragen üblicherweise aufgenommen und diskutiert werden. 485 485 Vgl. dazu das u. a. in Auseinandersetzung mit dem Dekonstruktivismus Levinas’ entwickelte, homiletisch weitsichtige und anregende Prinzip des „other-wise preaching“ von John McClure (2001), „a constant going forth to the other, […] an endless journey of solidarity and affinity” (151). Eine entsprechende Homiletik macht Ernst mit der Herausforderung, zu den Lebens- und Verstehensbedingungen der anderen zu predigen, so dass sie mit der Predigt etwas anfangen können. Dazu bedarf es nicht nur einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem biblischen Text, sondern auch einer unvoreingenommenen Annäherung an die Lebenspraxis und -prämissen der potentiellen Hörer, auf deren Fragen mit den stilistischen Lösungen der Theologie <?page no="246"?> 246 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Wer im Dialog predigt, braucht freilich nicht so zu tun, als sei der Rückgriff auf die Form der Dialogpredigt die direkte Folge davon, dass bei ihm eine große Ratlosigkeit vorherrsche oder dass er mit einem bestimmten Text gar nichts anfange könne. Grund für eine Entscheidung zur Dialogpredigt könnte aber die Erkenntnis sein, dass im Dialog der Erfahrungshintergrund bestimmter Fragen, Positionen und Erwartungen deutlicher zur Geltung kommt als im monologischen Vortragsstil. Die Gemeinde erkennt im Dialog unter Umständen deutlicher als im Monolog, wie der Prediger zu dieser Aussage oder jener offenen Frage gelangt ist. Umgekehrt bekommt der Prediger mit, ob er mit seiner Predigtidee Fragen und Positionen der Hörenden getroffen hat, ob sein Verständnis von Glauben in der Lebens- und Erfahrungswelt der Gemeinde einen Platz findet. In diesem Dialog kann es auf beiden Seiten zu veränderten Betrachtungsweisen und Positionsverschiebungen kommen. Schließlich geht es in der Predigt immer auch um die der eigenen Person entsprechende Art zu glauben. Dialogisch gestaltete Predigten haben daher einen offeneren, etwas riskierenden, „outenden“ und damit auch seelsorglichen Charakter. Die dialogische Kommunikation in und mit der Gemeinde, bei der das Evangelium sowohl durch die Gemeinde als auch durch den Prediger vergegenwärtigt wird, steht und fällt mit der Fähigkeit der Dialogpartner, das latente Erwartungsmuster von Fragen (des Hörers) und Antworten (des Predigers) zu überwinden. Starke Impulse für eine auch formal dialogische Predigt sind mit den strukturellen Reformbewegungen in Gemeinden Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gesetzt worden, wobei in gewissem Sinne demokratische Überlegungen Pate gestanden haben: Franz Jantsch schlägt vor, Gemeindeglieder aufzufordern, „in der nächsten Predigt, deren Thema man ihnen vorher mitteilt, Fragen zu stellen“ 486 . Warum aber nur Fragen? Warum sollen die Gemeindeglieder nicht im Gottesdienst aussprechen können, wie sie nur unbefriedigend reagiert werden kann - zumal, wenn sie darauf hinauslaufen, sie nur bejahen oder verneinen zu können. Dekonstruktivistische Reflexion im Vorfeld der Predigt ist also weder Ausdruck einer Lust an der Demontage bewährter Orientierungsmöglichkeiten noch ein besserwisserisches Irritieren der Gemeinde, sondern die notwendige Folge des Anzweifelns von „totalen“ Erklärungs-, Plausibilitäts- und Autoritätsstrukturen, die in der kommunikativen Praxis nicht mehr leisten, was sie versprechen. Neue, stimmige Argumentationsmuster können nur entwickelt werden, wenn sie aus der Sicht des Hörers anschlussfähig sind und gleichsam von ihm fortgesetzt, ausgebaut, übertragen werden können. 486 Nach M. Haustein, 1990, 468; dort ohne Literaturangabe. <?page no="247"?> 247 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven mit der angekündigten Problematik als Christen umgehen und was „Glaube“ in diesem Zusammenhang für sie bedeutet? Was ist das für ein Dialog, in dem sich die Gemeinde auf die Fragen, der Prediger aber auf die Antworten vorbereitet? Dialogpredigten helfen zu verdeutlichen, dass auch der Prediger Fragen hat, und es muss ersichtlich werden, wie und was er angesichts dessen glaubt. Ferner ist die Gemeinde auch im Hinblick auf ihre Erfahrungen mit einem Leben aus Glauben anzusprechen. Der Dialog könnte hier eine mäeutische Funktion gewinnen: Im Dialog kommt immer wieder neu heraus, was Menschen im Blick auf ihr Leben tagaus tagein unterstellen, wonach sie eigentlich suchen, was sie eigentlich wollen, mit welchen Prämissen sie leben, welche Erwartungen sie haben, wovon sie aus Gründen Abstand nehmen usw. Sie werden sich (wieder einmal) neu dessen bewusst, wovon sie leben, was von substantieller Bedeutung und was Nebensache ist. Damit die als Dialog gestaltete Predigt keine Antworten ventiliert, zu denen es gar keine Fragen gibt, sollte die Gemeinde - um als Dialogpartnerin ernst genommen zu werden - in den hermeneutischen Prozess der Erkundung von Lebenssituationen und der Erschließung von Texten einbezogen werden. Im Einzelnen könnte man auf folgende Grundstruktur zurückgreifen: . Einführungsphase: Motivation und Information Zur Schaffung günstiger Voraussetzungen eines Dialogs kann es gehören, einer Gemeinde in gebotener Kürze und Prägnanz zunächst die wichtigsten Informationen über den Text und seinen „Sitz im Leben“ bereitzustellen, Einblicke, die sie zum Verständnis einer Pointe braucht. Analog kann man mit einer skizzenhaften, sachkundigen Annäherung an den lebensweltlichen Brennpunkt der Predigt beginnen, an dem sich Fragen nach der Relevanz von Glauben, der Aneignung von Freiheit usw. entzünden. In jedem Fall geht es darum, den Text oder eine bestimmte Problemstellung so weit zu durchleuchten, dass sich die Gemeinde selbst im Text und im Thema bewegen kann. <?page no="248"?> 248 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt . Vertiefungsphase (Dialog I): Vertiefung von Problemen und Perspektiven mit der Gemeinde Die Verknüpfung einer Problemskizze mit Wissen über einen Text provoziert im Idealfall die Wahrnehmung von Spannungen, Parallelen und Konvergenzen. Es ist gar nicht vermeidlich - und sollte auch gar nicht unterdrückt werden - dass allein schon eine bestimmte Verknüpfung von Text und Thema als Einstieg in einen Dialog positionellen Charakter hat und eine Interpretation zumindest provoziert. Jetzt ist es an der Gemeinde, zwischen dem (skizzierten oder einem anderen) Problemhorizont und der Text gewordenen Tradition Bezüge herzustellen und dabei eigene Lebenswirklichkeit zur Sprache zu bringen. Zwischen Prediger und Gemeinde erfolgt so eine Verständigung darüber, worin die Pointe, der Clou, der „Witz“ der Antwort oder der Frage des Textes damals bestanden haben mag. Dabei kommen neue Fragen zum Vorschein, zu denen der Text offensichtlich schweigt, die aber im Dialog gleichwohl angesprochen und auf die jeweilige Perikope oder andere Texte, Lieder, Kunstwerke Tradition des Christentums bezogen werden können. . Vergewisserungsphase (Dialog II): Aussprechen von Überzeugungen und Erwartungen Im Interesse eines echten Dialogs ist es wichtig, dass der Prediger auch selbst zum Ausdruck bringt, was er in einer bestimmten Angelegenheit persönlich glaubt, worauf er hofft, was er bezweifelt. Er sollte den Dialog in dem am Anfang dieses Kapitels erörterten Sinn „entschieden“ führen. Hierzu sollten nicht nur Rückfragen erlaubt sein. Der Dialog sollte Erfahrungen zu Tage fördern, die das persönlichkeitsspezifische Credo der Gemeindeglieder zum Ausdruck bringen und dadurch Anstoß zum Artikulieren des eigenen Glaubens sein können. Für den Dialog zweier Dialogpartner vor der Gemeinde gilt das oben Gesagte im übertragenem Sinn: Es ist verfehlt und wird von den Hörern als abgekartetes Spiel durchschaut, wenn die dargelegten - womöglich noch besonders schwerwiegenden - Probleme des einen Sprechers durch die vorbereiteten Antworten des anderen grandios gemeistert werden. In diesem Fall wird der Gesprächspartner zur Marionette von Scheinlösungen - auch ein Fall von „homiletischem falsch Zeugnis-Reden wider seinen Nächsten“ und Verstoß gegen das achte Gebot. 487 Wenn die Predigt als Dialog zwischen zwei Gemeindegliedern gestaltet wird, sollten beide bereits einen echten Dialog absolviert haben: Sie sollten sich, be- 487 Vgl. oben den Schluss von I.4.3.2, S. 242. Weiterführende Überlegungen zum dialogischen Charakter der Predigt hat zuletzt Marlene Ringgaard Lorensen (2013) vorgelegt. <?page no="249"?> 249 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven vor sie sich treffen, jeder für sich mit dem Text befasst und sich im Horizont eines konkreten Textverständnisses mit ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit auseinandergesetzt haben. Sie sollten klare Vorstellungen davon haben, in welchem Sinne es um die Existenz geht, davon, was die Predigt zum Verständnis und zur Veränderung der entsprechend wahrgenommenen Existenz beitragen könnte und welche Haltung sie nahelegt. Das Gespräch, zu dem sich die im Dialog Predigenden dann treffen, um einen ersten Dialog zu führen, sollte aufgezeichnet werden. Auf der Basis dieser Aufzeichnung kann dann eine Dialog-Predigt gestaltet werden. Dabei wäre auch zu klären, in welchem Zusammenhang der Text zur Sprache kommt, welche der unter vier Augen angesprochenen Probleme und Lebensbezüge vor der Gemeinde fokussiert werden sollen, in welcher Form das „persönliche Credo“ beider zum Ausdruck kommen soll u. a. m. c) Vom Polylog zum Bibliolog Durch die Einbeziehung kommunikations- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven bei der Frage nach einer angemessenen Gestalt der Predigt hat die Homiletik seit Anfang der siebziger Jahre eine starke Entwicklung durchlaufen. Diese lässt sich an zwei besonderen Dialogformen verdeutlichen, die in geradezu modellhafter Weise zwei weit auseinanderliegende Grundverständnisse der dialogischen Dimension der Predigt symbolisieren. Nach dem Konzept der Polylogpredigt von Heinz Wagner gibt der Prediger zunächst (1.) mit Bezug auf den Text „einige Impulse zum Nachdenken oder öffnet in einer Situationsanalyse den Zugang zum Text. Dieser Eingangsteil ist der Ansatz für (2.) ein Gespräch, das der Pfarrer im Kirchenschiff hält. Seine Anregungen lösen Reaktionen aus, Fragen ermutigen zur Stellungnahme, Erfahrungen der Gemeindeglieder konkretisieren die Botschaft, kritische Anregungen vertiefen das Verständnis. […] Es schließt sich ein ‚Zwischenspiel‘ an, meist Chor- und Gemeindegesang. (3.) Für etwa 10 Minuten zieht sich der Pfarrer in die Sakristei zurück und versucht, die erhaltenen Beiträge zu ordnen und zu verarbeiten. (4.) Auf der Kanzel hält er dann die zwar überdachte, in ihrer Form aber improvisierte Predigt“ 488 . Von den Prämissen einer dialogischen Rede und Gesprächskultur ist hier - außer dem triadischen Element, einem gemeinsamen Bezugsrahmen von 488 Vgl. H. Wagner, 1977, zitiert nach M. Haustein, 1990, 469. <?page no="250"?> 250 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Bibeltext und Christentum - wenig zu erkennen. Der Prediger liefert mit einer ganz bestimmten Akzentuierung des Textes auch gleich den passenden Blick auf die Gegenwart. Dazu - also mit Bezug auf das dem Prediger vertraute Problemfeld - sollen Fragen gestellt und Kommentare abgegeben werden. Die Gefahr, das Erfahrungspotential der Gemeinde auf den theologischen Fragehorizont des Predigers zurechtzuschneidern und mit einem Repertoire von Antworten anzutreten, das vor der Predigt schon zurechtgelegt wurde, ist hoch. (Dass der Pfarrer das Gespräch im Kirchenschiff „halten“ 489 soll und dass dann, natürlich auf der Kanzel, schließlich doch die zuvor schon bedachte Predigt zur Sprache kommt, 490 sind bezeichnende Vorstellungen.) Fragwürdig ist auch die Grundidee, den ohnehin kärglich inszenierten Dialog nur als warming up für den eigenen Monolog zu begreifen und nicht noch stärker den Glauben der Gemeinde zu konsultieren. Stattdessen zieht sich der Pfarrer in die Sakristei zurück (in der sich einst der Priester auf die „Vermittlungsarbeit“ zwischen Gott und der Gemeinde vorbereitete), um allein an den Lösungen zu arbeiten. Einen ganz anderen dialogischen Ansatz lässt das Modell der Bibliolog-Predigt von Uta Pohl-Patalong erkennen: Die Homiletikerin nimmt Überlegungen von Peter Pitzele 491 auf, dem an einer am Bibliodrama orientierten Form des Dialogs mit der Gemeinde gelegen ist. Dabei spielt wiederum der gemeinsame Bezug auf einen Text eine maßgebliche Rolle. Die Gemeindeglieder werden „in den Text hineingeführt, so dass die Einzelnen ihre eigenen Entdeckungen machen und ihre Auseinandersetzungen führen können“ 492 . Im Einzelnen lässt sich folgende Struktur rekonstruieren: 493 489 Ein Gespräch kann man allenfalls führen, nicht halten, und um es zu führen, muss man in ein Gespräch mit anderen eintreten - ohne genau voraussagen zu können, wie man wieder aus diesem Gespräch herauskommt. 490 Signifikant daran ist nicht nur, dass die Gedanken, die diese Predigt bestimmen, schon vor dem Gottesdienst feststehen; bemerkenswert ist auch der für das gegenseitige Verstehen unnötige Ortswechsel: Was im Kirchenschiff mit und von der Gemeinde geredet wird, ist eben nur ‚soso‘. Das Eigentliche kommt nach Ansicht Wagners offenbar doch vom Pfarrer, von oben - und im Monolog. 491 Vgl. P. Pitzele, 1998 und 1999. 492 U. Pohl-Patalong, 2001, 259. 493 Vgl. U. Pohl-Patalong, a. a. O., 258-268. Hinzufügung der Nummerierung W. E. <?page no="251"?> 251 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 1. Der Prediger - in der Terminologie Pitzeles: der den Dialograum eröffnende „facilator“ - stellt zunächst die Methode beziehungsweise die Regeln dieser Art der Annäherung an einen Text vor. 2. Der Prediger führt in die Situation der biblischen Geschichte ein und versucht dabei, das Vorstellungsvermögen der einzelnen Gemeindeglieder zu aktivieren. 3. „An einem bestimmten Punkt schlägt sie [die Predigerin] die Bibel auf und liest einen Satz oder einen kurzen Abschnitt. Aus diesem Satz weist sie […] allen Anwesenden die Rolle einer biblischen Gestalt zu und spricht sie in dieser an.“ 494 4. Die Angesprochenen äußern sich dazu, wenn sie möchten. Vielleicht schweigen sie auch und denken nach; sie reagieren jedenfalls in einer Weise, die für den Fortgang dieses Bibliologs von Bedeutung ist. 495 Die Hörer sollen sich in die Rolle der jeweiligen Figuren des Textes versetzen und sie im Kontext eigener Erfahrungen verstehen. 5. Der Prediger nimmt das unter Umständen leise und schüchtern Gesagte auf, indem er es laut und vernehmlich vor der gesamten Gemeinde wiederholt (nach Pitzele: „echoing“) und gegebenenfalls inhaltlich verstärkt, wobei emotionale Gehalte und gedankliche Impulse gleichermaßen berücksichtigt werden. Eine andere Möglichkeit der Vertiefung des Bibliologs besteht darin, nach Art eines Interviews zurückzufragen (nach Pitzele: „interviewing“). 6. Ein- oder mehrmalige Wiederholungen der Sequenzen 3-5: Nach einiger Zeit führt der Prediger „die Geschichte weiter und liest einen nächsten Satz oder Abschnitt. Die Gemeinde bekommt erneut eine Rolle zugewiesen, die entweder eine andere Person sein kann (‚Sie sind Maria. Maria, du hast die Botschaft des Engels gehört. Was ist dein erster Gedanke? ‘) oder auch die gleiche Person in einem späteren Stadium (‚Sie sind wieder Gabriel, zurück auf dem Weg in den Himmel: Was denken Sie im Rückblick über Ihre Begegnung mit Maria? ‘). Erneut äußern sich Einzelne, erneut erfolgt echoing und interviewing“ 496 . 7. Nach einigen solcher Sequenzen „schließt der/ die facilator, entlässt die Gemeinde aus den Rollen und führt in die Gegenwart zurück. Die unterschiedlichen Aussagen bleiben nebeneinander stehen und werden nicht in eine einheitliche Botschaft aufgelöst“ 497 . 494 A. a. O., 260. 495 Vgl. die Beispiele ebd. 496 A. a. O., 261. 497 Ebd. <?page no="252"?> 252 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Die starke Textnähe dieser Dialogform ergibt sich aus ihrem Ursprung im Bibliodrama: Statt einer exegetisch-intellektuellen Annäherung an den Bibeltext wird der Text im Bibliodrama mit den Beteiligten inszeniert; sie spielen die im Text vorgesehenen oder entdeckten Rollen und kommen insofern zu einem tieferen Verständnis des Textes und ihrer Situation, als sie die Verwicklungen der Handelnden (beziehungsweise der passiv Betroffenen) am eigenen Leibe erleben. Die im Predigtgeschehen Mitagierenden erfahren, spüren und reflektieren dann natürlich auch, was in diesem Text, in dieser Geschichte, auf dem Spiel steht. Die Vorteile gegenüber dem Polylog liegen auf der Hand: Die Gemeinde wird zum Verstehen dessen, worum es überhaupt geht, wirklich gebraucht. Sie ist beteiligt an der Erkundung der Brennpunkte des Textes. Die „Antworten“ werden nicht aus der Sakristei herausgereicht, sondern im Dialog gewonnen. Was interaktiv geschieht, ist das, was geschehen kann. Es bedarf nicht der pastoralen Vervollständigung oder der Verbesserung. Soweit der Anspruch. Es steht außer Zweifel, dass ein Bibliolog - gekonnt inszeniert 498 - zu einer lebendigen und den einzelnen Beteiligten in starker Erinnerung bleibenden Annäherung an den Text und das eigene Leben führen kann. Ein Nachteil dieser Methode ist der Verzicht auf eine im Dialog gemeinsam errungene Verständigung über den Gesamtsinn des Textes, über seine Pointe, seinen Witz, seine Position, seine schlagenden Argumente - über den „Clou der Geschichte“. Schließlich steht in Texten, die Erfahrungsdokumente sein wollen, häufig Entscheidendes auf dem Spiel. Die auftretenden Personen und Rollen sind in einer gewissen Weise nur Mittel zum Zweck: Sie sollen etwas zum Vorschein bringen, auf etwas aufmerksam machen. Es schadet der dialogischen Annährung an einen Text nicht, wenn man den dramatis personae zugesteht, dass sie etwas ganz Bestimmtes wollen - worüber es sich lohnt, eine Verständigung herzustellen. Problematisch ist auch der Verzicht auf die einen Dialog kennzeichnende Auseinandersetzung und Positionalität, die von einem Ringen um Wahrheit und Klarheit bestimmt ist, wozu Abwägen, Zustimmen, Ablehnen, Dagegenhalten 498 Nach Ansicht von U. Pohl-Patalong ist es ratsam, Bibliologe nicht nur „auf dem Hintergrund von Lektüre oder Teilnahme-Erfahrung anzuleiten, sondern eine Fortbildung für diese Methode zu besuchen“ (a. a. O., 259). Methodisch überzeugende Anregungen und instruktive Beispiele finden sich in: U. Pohl-Patalong, 2009 und U. Pohl-Patalong/ M. E. Aigner, 2009. <?page no="253"?> 253 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven usw. gehören. 499 In einem Dialog geht es ja gerade nicht darum, dass jeder einmal seine eigene Sicht der Dinge zum Besten gibt, nur weil sie ihm momentan einleuchtet. Es geht im Dialog auch darum, gemeinsam zu prüfen, was die geäußerten Ansichten taugen, wie stichhaltig sie sind, welche standhalten und welche nicht. Es ist letztlich eine gewisse Nonchalance im Blick auf das Ergebnis des Bibliologs, das nachdenklich stimmen kann: Die Hörenden sollen „ihre persönliche Lesart (oder auch mehrere Varianten derselben) an der Predigt profilieren können“ 500 . Geht es denn um nichts, möchte man fragen, dass jeder bei dem bleiben soll, was er sich in ein paar Minuten zurechtgelegt hat? „Eine eindeutige Botschaft wird nicht mehr angeboten.“ 501 Dass Texte sich nicht auf ein eindeutiges Kerygma trimmen lassen, schließt aber nicht aus, sondern ein, dass Predigende entschieden auftreten, dass sie wissen, was sie wollen, und - gerade im Dialog - erklären können, wie sie dazu kommen. Außerdem kann sich die Fixierung auf die einzelnen Rollenangebote des Textes insofern als Problem erweisen, als sie auf nur wenige Anwesende einigermaßen passen. Wenn bestimmte Rollen oder Figuren damals mit den Erfahrungen von Hörern heute gefüllt werden sollen, setzt das immer auch voraus, dass es sich im konkreten Fall lohnt, sich etwa in die Rolle des Engels Gabriel zu versetzen. Dass das geht, ist unbestritten; dass dadurch bestimmte Facetten eines Textes besser als nur durch klassische Exegese zur Geltung kommen, auch. Dass aber auf diese Weise in der Tat auch das eigene Leben neu in den Blick kommt, ist weniger gewiss. 502 499 Vgl. I.4.3.3.a, S. 243-245. 500 U. Pohl-Patalong, 2001, 263. 501 Ebd. 502 Das oben erläuterte Prinzip, wonach wir in einer Predigt auf biblische Texte zurückgreifen, um unser Leben (vor Gott) zu verstehen und zu führen, und nicht primär deshalb nach Geschichten und Erfahrungen aus dem wirklichen Leben suchen, um eine biblische Erzählung nachvollziehen zu können, muss bei dieser Methode wohl häufiger vernachlässigt werden: Erst vor dem 7. und letzten Schritt (s. o.) „entlässt [die Predigerin] die Gemeinde aus den Rollen und führt sie in die Gegenwart zurück“ (a. a. O., 261). Waren die Hörer vorher nicht in ihrer Gegenwart? Inwieweit damit der Forderung Ernst Langes Rechnung getragen werden soll, mit dem Hörer über sein Leben zu reden - was erklärtermaßen auch im Interesse von Uta Pohl-Patalong liegt - wird nicht so recht deutlich. Es ist zumindest vorstellbar, dass die Teilnehmer eines gottesdienstlichen Bibliologs mehr über die unterschwelligen Aspekte eines Textes als über sich selbst erfahren. <?page no="254"?> 254 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Diese kritischen Anmerkungen zum Bibliolog betreffen vor allem zu hohe Erwartungen an das Modell. Manipulation ist hier wie bei jeder anderen Predigtform auch möglich, etwa durch eine bestimmte Art der Einbringung des Textes, durch latent suggestives Fragen u. a. m. Auch das theologische Verständnis des Predigers von der Dignität des Bibeltextes dürfte sich auf die Offenheit beziehungsweise Vorhersagbarkeit des Bibliologs auswirken. Ungeachtet dessen ist ausdrücklich dazu zu ermutigen, sich mit den von Pohl-Patalong weiterentwickelten „Grundformen des Bibliologs“ im Detail auseinanderzusetzen. 503 Es liegt auf der Hand, dass hier mit anderen Erwartungen „gepredigt“ wird, als sie sonst den homiletischen Prozess begleiten. Gleichwohl hat der Bibliolog als eine spezifische Form der Kommunikation des Evangeliums sein eigenes Recht und ist in der von Uta Pohl-Patalong ausgearbeiteten Form ein Meilenstein in der Dialogkultur der Predigt. 4.3.4 Die semiotische Perspektive: Predigt als „offenes Kunstwerk“ 4.3.4.1 Die Inanspruchnahme der Hörer Die Rede von der Predigt als „offenem Kunstwerk“ hat gelegentlich das Missverständnis ausgelöst, es ginge um ein homiletisches Strukturprinzip, bei dem alles irgendwie offen bliebe - um einen Modus der Kommunikation, bei dem die Inhalte und Pointen ganz dem Verstehen-Wollen und -Können der Hörer anheimgestellt wären. Dieser Fehlschluss resultiert aus der Übertragung der landläufigen Bedeutung von „offen“ auf einen semiotischen Zusammenhang, in dem „offen“ das genaue Gegenteil bezeichnet: In der Semiotik versteht man unter „Offenheit“ nicht etwa ein Defizit an Entschlossenheit oder eine in Kauf genommene Unbestimmtheit bezüglich der Inhalte bzw. Adressaten der Kommunikation. „Offen“ ist der Ausdruck für die Qualität eines Kommunikationsmediums oder Artefakts (eines Bildes, einer Skulptur, eines Textes, einer Rede usw.), bereits durch seine spezifische Struktur selbst zu einer intensiven, den Rezipienten gleichsam verwickelnden Interpretation herauszufordern; Hörer oder Betrachter werden bei ihrer Interpretationsarbeit durch die Struktur eines offenen Kunstwerks unterstützt. 504 503 U. Pohl-Patalong, 2009 und U. Pohl-Patalong/ M. E. Aigner, 2009. 504 Ausführlichere Erläuterungen dazu bei W. Engemann, 1993a, bes. 153-176, 1998b, 312-317 und 2000, 138 f. <?page no="255"?> 255 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Strukturen zu folgen und Strukturen zu bilden, indem man dem, was man wahrnimmt (eine Gestalt), etwas hinzufügt, was man nicht wahrnimmt (einen Gehalt), ist das A und O allen Verstehens und aller Verständigung: Wir verstehen etwas, indem wir bestimmten Ausdrucksformen (einem Wort, einer Haltung, einem Gegenstand, einem Ereignis usw.) bestimmte Bedeutungen zuordnen. Ohne solche permanenten Komplettierungen ist verstehende Wahrnehmung unmöglich. Die einer Deutung harrende Offenheit eines Textes, einer Skulptur oder einer Geste ist insofern nichts anderes als die semantische Potenz aussagekräftiger Formen und Strukturen. Sie animieren zu einer Auseinandersetzung mit dem, was es zu sehen oder zu hören gibt. Sie regen dazu an, Verknüpfungen zwischen Ausdruck und Bedeutung, Form und Inhalt, Wahrgenommenem und Erschlossenem herzustellen. Dabei entstehen Zeichen: elementare Strukturverbindungen aus Signifikanten und Signifikaten, Bezeichnendem und Bezeichnetem. Bei der Integration semiotischer Aspekte in die Homiletik geht es dementsprechend um die Frage, wie so gepredigt werden kann, dass das jeweils Gesagte nicht für sich selbst im Raum stehen bleibt, sondern dass es fortgesetzt, ergänzt und im Bezug auf die Lebenssituation der einzelnen Hörer durch diese selbst konkretisiert werden kann. Predigten, denen aufgrund ihrer agitatorischen Redundanz, ihrer abstrakten Behauptungen, ihrer sprachlichen Stumpfheit, ihrer ideologischen Plattitüden usw. nichts Eigenes hinzugefügt werden kann, sind daher grundsätzlich unzureichend. 505 Die Aufnahme des Modells des offenen Kunstwerks in die Homiletik ist mit der Erwartung verbunden, dem Hörer jene Zuarbeit nicht nur zu ermöglichen, sondern ihn - durch die Predigtstruktur selbst - zum Verstehen herauszufordern und beim Verstehen zu leiten. Es gilt, die Beteiligung des Hörers, seine Arbeit mit und an der Predigt vorzusehen, statt seine Ergänzungen erübrigen zu wollen. Am „offenen Kunstwerk“ scheitern gängige Rezeptionserwartungen, Wahrnehmung wird entautomatisiert; es leistet willkürlicher Deutung Widerstand und fordert so zu einer Auseinandersetzung heraus, die ein modifiziertes bzw. neues Verstehen eröffnet. 506 Aus all dem ergibt sich eine dialektische Charakterisierung des Kunstwerks als „offen“ und „geschlossen“ zugleich: Es ist insofern offen, als es unvollendet bleibt, bevor es nicht ein Betrachter, Leser oder Hörer wahrnimmt, interpretiert und versteht. In seiner formvollendeten Gestalt jedoch, in seiner perfekten 505 Vgl. zum „redundanten Exzess“ W. Engemann, 1990, bes. 790-792. 506 Vgl. U. Eco, 1977, 29. <?page no="256"?> 256 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Präsentation, in seiner ästhetischen Qualität, hat es nichts Beliebiges, wohl aber etwas Bezwingendes. 507 Das offene Kunstwerk fordert zur Auseinandersetzung mit sich heraus und ist ansprechend. Es ist offen aufgrund seiner Geschlossenheit. Diese Eigenschaft eines Textes oder einer Predigt basiert auf einer qualifizierten Vieldeutigkeit, die man fachsprachlich als Ambiguität bezeichnet: Etwas ist ambiguitär, indem es sich einerseits vorhersehbaren Sinngebungen sperrt und den Betrachter, Leser oder Hörer auf diese Weise in eine Interpretationskrise führt. Die Qualität der Ambiguität des jeweiligen Werkes besteht andererseits darin, dass diese Interpretationskrise mit Hilfe derselben Werkstruktur überwunden werden kann, die sie verursacht hat. Die Ambiguität des offenen Kunstwerkes resultiert also aus der dialektischen Spannung zwischen seiner Rätselhaftigkeit und seinem Hinweischarakter, zwischen Wahrnehmungsstörung und Wahrnehmungshilfe. 508 Spätestens an dieser Stelle, wo vom Herbeiführen und Überwinden von Interpretationskrisen geredet wird, stellt sich die Frage nach der theologischen und homiletischen Legitimität sowie der Notwendigkeit einer solchen Perspektive. Wenn der Prediger weiß, was er dem Hörer sagen will - so wird gegen das Modell des offenen Kunstwerks eingewendet -, warum dann nicht „auf den Kopf zu“? Zunächst ist an dieser Frage richtigzustellen, dass sie von einer Scheinalternative ausgeht: Auch unter semiotischen Gesichtspunkten kann man einem Hörer durchaus etwas „auf den Kopf zu“ sagen. Doch was auch immer man sagt, es wird nicht das „letzte Wort“ bleiben können, das der Hörer sozusagen konservieren und nur „behalten“ müsste, um ihm etwas abgewinnen zu können oder einen Handlungsimpuls zu erfassen. Wenn das, was gegebenenfalls „auf den Kopf zu“ gesagt wird, auch im Kopf ankommen und im Leben des Betreffenden etwas bewirken soll, muss es mit konkreten Bedeutungen verbunden, mit Interpretanten versehen werden. Nur so kann das Gesagte relevant werden, nur so können auch die Worte einer Predigt - in denen das individuelle Leben des Einzelnen expressis verbis kaum erscheint - Anschluss finden im Leben der Anwesenden. Der 507 U. Eco hebt bei der Erläuterung des „offenen Kunstwerks“ besonders hervor, dass es „keine amorphe Aufforderung“ zu einem beliebigen Eingreifen darstellt. Die strukturelle Offenheit impliziert „die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung zu einem am Werk […] orientierten Eingreifen, die Einladung, sich frei in eine Welt einzufügen, die gleichwohl immer noch die vom Künstler gewollte ist“ (1977, 54 f.). 508 U. Ecos Ausführungen zur „Ambiguität“ lassen den Schluss zu, deren Charakter als die Dialektik von Selbstbezüglichkeit (autoriflessività) und Bezugnahme (riferimento) zu beschreiben. Vgl. U. Eco, 1985, 329-331. <?page no="257"?> 257 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Hörer muss, indem er das Gehörte gebraucht, sich erschließt, es aktualisiert usw. zum „Täter des Wortes“ werden. Diese Ergänzungsarbeit ist der Tätigkeitsmodus allen verstehenden Hörens. Auf den ersten Blick kann das Ansinnen, keine „selbstverständlichen“, dem Erwartungssystem der Hörer voll und ganz entsprechenden Predigten zu halten, als Gag oder als besondere Art der Manipulation erscheinen. Faktisch jedoch geht es bei dieser Maxime um den Versuch, den Wechselwirkungen von Inhalt und Form Rechnung zu tragen. Ein Beispiel dafür ist die theologische Eigenart von „Offenbarungen“, in denen sich Gott - wie z. B. in den Glaubensurkunden des Alten und Neuen Testaments bezeugt - Menschen mitteilt. Solche Mitteilungen haben immer damit zu tun, dass sich etwas querlegt zu bisherigen Wahrnehmungsmustern. Es geht um Mitteilungen, die häufig sowohl ungewöhnlich kommuniziert werden als auch ungewöhnlichen Inhalts sind. Sie sind offen, weil sie sich nicht von selbst verstehen, und sie verstehen sich nicht von selbst, weil sie von etwas künden, was nicht zu erwarten ist. Wer versucht, sie zu verstehen, nimmt die Infragestellung eigener oder gängiger Auffassungen (semiotisch: Codes) über Gott und die Welt in Kauf, wird sich anderer Sichtweisen bewusst, erlebt Einstellungsveränderungen an sich selbst. Aus der Fülle der hier zu nennenden Beispiele beschränke ich mich auf die Zeichen Jesu, die er durch sein Auftreten, Reden und Handeln gesetzt hat: Sein Umgang mit Sündern und kultisch Unreinen, seine Gleichnisse, seine Art, vom Reich Gottes zu reden, sein Auftritt im Tempel, seine Unbefangenheit Frauen gegenüber usw. waren Zeichen, die anstößige Inhalte in anstößiger Form zum Ausdruck brachten. Was er auf diese Weise mitteilte, führte schon zu seinen Lebzeiten zu einer Fülle von Deutungen. „Fresser und Säufer, der Zöllner und Sünder Gesell“ (Mt 11,19), politischer Rebell (Mk 15,26 par), Verrückter (Mk 3,21), eschatologischer Prophet usw. sind nur einige der üblichen Lesarten. Die Ursache für diese Vielstimmigkeit hat auch mit der Offenheit einer Botschaft zu tun, deren Inhalt man nicht abschließend festhalten und zu den Akten legen kann, der aber andererseits nie unverständlich war oder alles Mögliche bedeutet hätte. Man hat Jesu Botschaft in ihren verschiedenen Gestalten nicht als Provokation empfunden, weil man sie nicht verstanden hätte, sondern weil man verstanden hat, dass hier Welt-, Selbst- und Gottesbilder auf dem Spiel stehen. Jesus konfrontiert mit einer Botschaft, zu der man sich, indem man sie versteht, irgendwie verhalten muss. Die „Zeichenforderer“ (Mt 16, 1-4) wollen sich solchem Verstehen nicht aussetzen, denn sie spüren, dass ihr Welt-, Selbst- und Gottesbild auf dem Spiel steht. Sie wollen kein offenes, sie verwickelndes und in Anspruch nehmendes Zeichen, sondern eines, <?page no="258"?> 258 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt das ihren Erwartungen entspricht und sie bestätigt. Das Zeichen, mit dem die Hirten nach Lk 2,12 konfrontiert werden - „ein Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ -, ist wiederum eines, das weder den Erwartungen entspricht noch irgendetwas bestätigt: Dass ein gewindelter Säugling in einem Fressgestell den „Heiland der Welt“, gar den „Messias“ signifizieren kann, stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was man bisher über Macht und Herrschaft, über die Bedeutung von „oben“ und „unten“ gelernt hatte. Die Hirten werden durch dieses Zeichen - semiotisch gesprochen - mit einem neuen Code vertraut gemacht. Sie werden in eine Verstehenskrise hinein- und wieder aus ihr herausgeführt. Sie verstehen, indem ihnen die Störung einer gewohnten Sichtweise zugleich einen neuen Blick auf ihre Wirklichkeit eröffnet. 4.3.4.2 Dialektische Betrachtungsweisen Will man vor diesem Hintergrund dem Zeichencharakter der Predigt homiletisch gerecht werden, muss man sie als Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozess mit der ihr eigenen Dialektik ernst nehmen. 509 Zunächst sei daran erinnert, dass man beim Predigen immer vor der Aufgabe steht, einer Rede eine klare Struktur zu geben. Doch wie schon erläutert: Auch ein noch so hohes Maß an Klarheit und Deutlichkeit würde nie dazu führen, dass die Predigt ihre prinzipielle Offenheit für multiple interpretatorische Aneignungen verlöre. Man kann hier zunächst von faktischer Ambiguität sprechen. Sofern man bereit ist, eine bestimmte Offenheit als Qualität zu begreifen und den Aspekt vielfältiger interpretatorischer Anschlussmöglichkeiten weiterzudenken, kann man auch von einer Inszenierung dieser Offenheit sprechen und dabei den Schritt von der faktischen zur taktischen Ambiguität gehen. Anliegen ist in beiden Fällen dasselbe, nämlich den notwendigerweise konstruierenden Rezeptionsprozess der Hörer zu fördern. Es geht um eine Predigt, die dem Hörer bestimmte Verstehensmöglichkeiten verweigert und andere vorschlägt, um eine Predigt, die - gehalten zwischen Sinnverweigerung und Sinngenerierung - den Hörer zu je konkreter Sinnbildung anleitet. Die Predigt soll eine Rede sein, mit der Hörende operieren, also etwas anfangen können, durch die sie an eine Wirklichkeit herangeführt werden, die in ihr selbst so noch nicht ausgesprochen ist, eine Predigt, die die Einzelnen in verschiedenen Lebenskontexten erproben und in diesem Sinne selbst weiterschreiben können. 509 Vgl. W. Engemann, 1992d, bes. 167-173. Zur „generierenden Qualität von Texten“ vgl. auch M. Thiele, 2005, 136-139. <?page no="259"?> 259 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Der Hörer nimmt die Predigt in einer ähnlichen dialektischen Spannung wahr, in der der Prediger sich befindet, wenn er unter Bezugnahme auf einen Text mit der Predigtarbeit beginnt: Zum einen ist es die Aufgabe des Predigers, sich schützend vor den Text zu stellen, dem Text zu „folgen“ und seine faktische Vieldeutigkeit zu bändigen. Der Prediger hat Sorge zu tragen dafür, dass aus dem Text nicht „alles Mögliche“ wird. Es gehört zu seinen Aufgaben im Vorfeld der Predigt, den Text gegen einebnende, willkürliche Deutungen zu schützen. Auf der anderen Seite kommt der Prediger aber nicht darum herum, im Zuge der Vorbereitung seiner Predigt zu einer entschiedenen Deutung des Textes vorzudringen. Indem er den Text - nicht zuletzt gerade durch eine bestimmte, eigenwillige Interpretation - vor beliebigen Interpretationen schützt, nimmt er ihm freilich auch bestimmte Verstehensmöglichkeiten. Sobald man den Text deutet, also mit ihm über-setzt in die Gegenwart und ihn in einen Zusammenhang stellt, in dem er nicht das Gleiche bedeutet wie vor 2000 Jahren, gerät man unwillkürlich in Spannung zu den Bedeutungen, die der Text in seinem ursprünglichen Kontext produzierte usw. Die Beschäftigung mit dem Text wird so für den Prediger zu einem Ringen um interpretatorische Treue und Wahrnehmung zugemuteter Freiheit. Im Hinblick auf die Rezeption einer im semiotischen Sinne offenen Predigt durch den Hörer kann man dementsprechend von der Dialektik zwischen Gebrauch und Verbrauch sprechen: 510 Was der Hörer zu hören bekommt, muss zunächst in dem Sinne gebräuchlich sein, dass es auf Anhieb verständlich ist, dazu geeignet, mit Hilfe der Predigt etwas zu verstehen, was die Predigt selbst nicht ausformulieren kann. Dabei darf eine Predigt in dem Sinne „eigensinnig“ 511 sein, dass sie dem Hörer überraschende Sehweisen nahelegt, die seinen eigenen Blick auf Gott, auf die Welt und sich selbst strapazieren bzw. schärfen. In diesem Zusammenhang kommt es dazu, dass der Hörer - wie der Betrachter des offenen Kunstwerks - im Zuge des Verstehen-Wollens und Interpretieren-Müssens der Predigt bestimmte Deutungen und Ansichten verwirft, vom Verbrauch vorgefasster Ansichten ganz zu schweigen. Sofern die Predigt die Aufmerksamkeit des Hörers letztlich nicht auf sich selbst lenkt, sondern ihm quasi als Medium (für Einsichten, die über die Summe der Aussagen der Predigt hinausgehen) zur Verfügung steht, kann man auch von der Predigt sagen, dass sie sich in dem Maße verbraucht, wie sie gebraucht wird. Diese Hinweise auf die ambiguitäre Dimension der Predigt und das Plädoyer für eine Kultivierung dieser Ambiguität haben nichts damit zu tun, sich des 510 Ausführlichere Erläuterungen bei W. Engemann, 1992d, 171-173. 511 Vgl. K.-H. Bieritz zur „eigensinnigen Predigt“ (1998, 29-40). <?page no="260"?> 260 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Evangeliums zu schämen oder Hörern willentlich etwas zu verschweigen. Sie sind die Konsequenz aus der Tatsache, dass man von dem Moment an, in dem man zu predigen beginnt, nicht mehr allein an dem Werk beteiligt ist, das da entsteht. Man kann jedoch einen Prozess in Gang setzen, in dem die Hörer auch zum Gebrauch der Zeichen der Predigt bewegt werden - ein Geschehen, das sie ebenso erfreuen wie trösten und belehren kann. 512 Damit kommt noch einmal die Frage nach der Machart einer in diesem Sinne zeichenhaften Predigt in den Blick. Entsprechend dem Modell vom offenen Kunstwerk müsste sie von einem „Idiolekt“ 513 gekennzeichnet sein, im streng wörtlichen Sinn: von einer „Eigensprache“, die sie wahrnehmbar von anderen unterscheidet. Es geht also um eine Predigt, die etwas Eigenes hat. Von einem Idiolekt spricht man dann, wenn dieses Eigene alle Ebenen der Gestaltung bestimmt, wenn also - bezogen auf eine Rede - Wortwahl, Satzbildung, Verwendung von Metaphern, Sprechweise zusammenpassen. Dass man Musikstücke oder Werke der Malerei so klar voneinander unterscheiden, und Beethoven oder Chopin, Bach oder Mozart, Renoir oder Klee, van Gogh oder Dürer usw. leicht erkennen kann, obwohl sie alle dieselben Töne und Grundfarben verwenden müssen, hängt mit eben jenem Idiolekt zusammen: Menschen vermögen etwas auf ganz eigene Weise zum Ausdruck zu bringen, so, wie niemand sonst außer ihnen es vermag. Das lässt aufhorchen und hinsehen. Dasselbe gilt für Texte, seien sie nun verschriftet oder vorgetragen: Sie vermögen etwas auf je eigene Weise zu sagen und können dabei etwas vermitteln, was sonst so nicht vermittelt werden kann. Es wäre also noch nicht damit getan, ein paar faszinierende Bilder in die Predigt zu integrieren, Fremdworte aufzunehmen oder zu verbannen - oder eine gekonnte Erzählung in eine sprachlich sonst ermüdende Predigt zu montieren. Geht es also darum, ein Kunstwerk zu schaffen - jeden Sonntag neu? Ja und nein: Es geht nicht darum, Predigten bestimmten Redekunst-Gattungen anzunähern oder sich literarische Kunstwerke zum Vorbild zu machen und etwa mit Poemen oder druckreifen Kurzgeschichten auf der Kanzel aufzutreten. So hilfreich ein solcher Versuch im Einzelfall sein kann: Die Basis - nicht mehr, aber auch nicht weniger - eines homiletischen Idiolekts ist die „persönliche Predigt“, wie sie unter I.2.4 skizziert wurde. Sie ist aufs Engste mit der Individualität des Predigers bzw. der Predigerin gekoppelt, und wer nicht weiß, als wer er redet, 512 Vgl. die Funktionen der Predigt unter I.2.3.3. 513 Vgl. W. Engemann, 1993a, 186-198. <?page no="261"?> 261 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven wird nie zu einem Idiolekt, zu einer eigenen Art und Weise der Bezugnahme auf biblische Texte und gelebtes Leben kommen. Die Respektierung der Kriterien der „persönlichen Predigt“ ergibt nicht schon eine interessante und überzeugende Struktur, sie wird aber zweifelsohne die Suche nach weiteren Möglichkeiten einer in sich stimmigen Predigt erleichtern. Dazu gehört das Aufspüren produktiver Bilder (jeder hat seine eigene, mit sehr konkreten Anschauungen gefüllte Bilderwelt! ), die Erschließung kreativer Metaphern, die Erfindung authentischer Erzählungen, der Gebrauch stimmiger Begriffe und unabgegriffener Formulierungen. Dies sind sprachliche Formen, die im Kleinen vollbringen, was nach dem Modell des offenen Kunstwerks von der Predigt als Ganzer erwartet wird: Sie unterlaufen Wahrnehmungsgewohnheiten, um zu vertiefter Wahrnehmung zu führen. Sie verletzen das Regelsystem der Sprache, um etwas auf neue Weise zu zeigen. Sie haben eine bilderstürmerische Note, damit die dichtbehängte Bildergalerie des christlichen Glaubens - für die die Theologie fast lückenlose Kataloge bereitstellt - nicht die Bilder, Gedanken und Eindrücke erübrigt, zu denen der Einzelne gelangen soll, um selbst entdecken und ausdrücken zu können, was er glauben und hoffen kann. In ihrem Praxisbuch „Im Wechselschritt zur Kanzel“ haben Martin Nicol und Alexander Deeg den Versuch unternommen, einige der Prinzipien des offenen Kunstwerks in Richtung einer „dramaturgischen Homiletik“ zu präzisieren. 514 Damit verorten sie die Predigtarbeit - wie andere Praktische Theologen seit Schleiermacher - auf dem Gebiet der Künste. 515 Predigten sollten demnach weniger den Charakter einer Vorlesung oder eines Besinnungsaufsatzes haben, sondern eher nach Art eines Films oder eines Bühnenstücks gemacht sein. 516 Dabei werden solche Kunstwerke als Maßstab herangezogen, deren Effekt insbesondere auf dramaturgischen Bemühungen beruht. Die Realisierung der Pre- 514 M. Nicol/ A. Deeg, 2005. 515 Hierbei werden rhetorische Impulse sowie solche Theorieelemente zeitgenössischer Homiletik aufgenommen, die sich mit kommunikationspraktischen, semiotischen und rezeptionsästhetischen Aspekten der Predigt befassen. Vgl. zur theoretischen Vertiefung dieses Ansatzes Martin Nicol, 2005. Vgl. auch den 2008 erschienenen Band zu den Herausforderungen der „Performance“ einer Predigt, der u. a. Aspekte körperlicher Präsenz sowie der musikalischen Kontextualisierung der Predigt einschließt (J. Childers und C. J. Schmit, 2008). 516 Jana Childers geht in einer eigenen Untersuchung der Frage nach, inwiefern Predigende von den Grundsätzen und Methoden der Schauspielkunst lernen können, was letztlich auch zur Steigerung der Kreativität in der Phase der Predigtvorbereitung beitragen kann (J. Childers, 1998). <?page no="262"?> 262 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt digt wird als lebendiges Rede-Ereignis gedacht; der dynamischen Komposition ihrer einzelnen Sequenzen („moves“) sowie deren Anordnung („structures“) wird ein besonderes Gewicht beigemessen. 517 Um welche Art Predigt es dabei geht, wird an zahlreichen gelungenen Sequenzen lebendiger, bildhafter Kanzelreden aus der Predigttradition des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Sie verdeutlichen, wie eine bewegende, einleuchtende, unterhaltende und „offenbarende“ Rede gemacht ist und lassen so das Machbare am Handwerk der Predigt erkennen. Die Metapher des „Wechselschritts“ im Haupttitel rekurriert auf die „tänzerische Leichtigkeit des Predigtmachens“ 518 , die freilich nicht zu erlangen ist ohne den Respekt vor der Einheit von Inhalt und Form, von Theologie und Hermeneutik, von Theorie und Praxis. Die sprachliche Bewältigung der Predigtarbeit konzentriert sich freilich nicht primär auf die rhetorische Bewältigung dogmatischer Untiefen - wie etwa der, von Gott nicht reden zu können und es doch zu müssen. Die Autoren lenken ihr Augenmerk auf homiletische Kunstübungen, die jedermann nachvollziehen kann, der sich mit der eigenen Sprache, mit fremden Texten, mit Reden und Hören auseinanderzusetzen bereit ist. „Eine Studentin hat bei einem Gottesdienst im Rahmen des Homiletischen Seminars nicht mehr über die Sache geredet, sondern die Sache selbst sich ereignen lassen. Es ging um die Geschichte von Maria und Martha (Lk 10,38-42). Die Studentin hat zwar auch erklärt bzw. informiert: Die Wiederholung des Namens sei im Judentum zur Zeit Jesu ein Zeichen besonderer Vertrautheit gewesen. Aber die Predigerin hat es nicht dabei belassen. Sie hat es sinnenfällig gemacht, hat es uns miterleben lassen: nicht ‚Martha, Martha‘ (mit erhobenem Zeigefinger), sondern ‚Martha, Martha‘ (mit Liebe und Zuneigung in der Stimme). Die Predigerin hat nicht über das Wiederholen von Namen geredet, sondern sie hat den Namen ‚Martha‘ wiederholt. Da entstand im Vollzug der Kanzelrede eine eindrucksvolle Szene, eine kleine Inszenierung, ein, wenn man so will, Stück Film oder Theater. Genau diese kleine Szene war dann im Nachgespräch ein Punkt der Predigt, der bei vielen Hörerinnen und Hörern als besonders eindrücklich im Gedächtnis haften geblieben ist. So eindrucksvoll kann das sein und so einfach: to make things happen. Und so einfach könnte es in der Praxis sein, den konzeptionellen Wechsel einzuleiten von der Predigt als Vorlesung zur Predigt als Kunstwerk.“ 519 517 Vgl. D. Buttrick, 1987. 518 M. Nicol/ A. Deeg, 2005, 6. 519 M. Nicol, 2009, 242. <?page no="263"?> 263 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Bei diesem Konzept spielt der buchstäblich aktuale Zusammenhang zwischen Wort und Bewegung eine besondere Rolle und lässt die Predigt selbst als „bewegte Bewegung“ erscheinen, in die hinein sich „die Bewegung des biblischen Wortes“ fortsetzen soll. 520 Dementsprechend gehen die beiden Verfasser unter den Stichworten „Bibelwort und Kanzelsprache“ auf Wechselwirkungen zwischen zitierter (biblischer) und eigener Sprache ein 521 und erläutern analog dazu in einem eigenen Kapitel über „Künstlerwort und Kanzelsprache“ Aspekte einer produktiven, facettenreichen Kontextualisierung geliehener Worte. Ergänzend hierzu werden die Interdependenzen zwischen Liturgie und Predigt als je eigene, aber aufeinander bezogene Genera einer dynamischen, ereignishaften religiösen Kommunikation dargestellt. Exkurs: Die virtuelle Perspektive: Predigt als Konstruktion der Welt Last but not least soll die Kategorie virtueller Realität im Kontext der Gestaltung einer Predigt zur Sprache kommen. 522 Virtuelle Realität im weiteren Sinne ist diejenige Wirklichkeit, zu der sich Menschen verhalten. Die „virtuelle Welt“ ist die Welt als wahrgenommene oder gedachte, gewünschte oder geglaubte Welt. Sie ist Wirklichkeit als notwendigerweise unterstelltes und dadurch wirksames Bezugsfeld unseres Daseins. In diesem Sinne ist auch unser Welt- und Selbstbild Ausdruck einer virtuellen, uns (mit)bestimmenden Realität. Virtuelle Realität entspringt aber auch der Kraft von Vorstellungen, der Kraft des Glaubens, unserer Fähigkeit, den morgigen Tag zu denken und Zukunft zu antizipieren. Virtuelle Realität geht gleichwohl nicht allein auf menschliche Phantasien zurück: Sie ist eine auch in Auseinandersetzung mit der materialen Welt, mit „harter Realität“ gewonnene, in Fehlschlägen erlernte und schließlich angeeignete Welt. Sie ist ständig im Fluss, ständig in Veränderung begriffen. Sie wird immer wieder mit neuen Bildern und Vorstellungen angereichert, während andere Bilder und Vorstellungen aus dieser virtuellen Welt verschwinden, sobald sie niemandes Gedanken, Wünsche und Hoffnungen mehr widerspiegeln. Von den bestehenden Strukturen, Regeln, Zusammenhängen, Bildern, Visionen, Traditionen virtueller Welten gilt dann aber auch, dass sie ihrerseits Kräfte freisetzen 520 A. a. O., 21. 521 Vgl. dazu das Beispiel im Absatz zuvor. 522 Da es sich hierbei in der Tat noch um eine Perspektive handelt und die methodisch-gestalterische Ausarbeitung dieser homiletischen Betrachtungsweise noch aussteht, erfolgt die entsprechende Darstellung im Rahmen eines skizzenhaften Exkurses. <?page no="264"?> 264 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt und gleichsam auf ihre „Benutzer“ zurückwirken. An diesem Punkt zeigt sich die Relevanz virtueller Welten für die Identität des Einzelnen und von Gruppen. Virtuelle Welten zu bilden ist daher auch eine Form der Entwicklung und Aneignung von Identität. Wenn Menschen ihre Identität beschreiben, greifen sie notwendigerweise konstruierend auf ihre „virtuelle Realität“ zurück, indem sie z. B. sagen, was sie in ihrem Leben als gegeben betrachten, mit welcher Welt sie rechnen, wie sie sich auf diese Welt einstellen, wie sie dieser Welt zu entsprechen suchen. Predigten sollen einen Beitrag zur Konstruktion dieser Welt bzw. zum „Sich-Einrichten-Können“ in der virtuellen Welt des Glaubens liefern. Um sich die damit verbundenen Herausforderungen in einem Modell zu vergegenwärtigen: Wer predigt, hat es in gewisser Weise mit drei verschiedenen Welten zu tun, die sich teilweise überschneiden, die aber auch in Spannung und Konkurrenz zueinander stehen können: Da ist (1.) die „reale Welt“ als Summe materieller und immaterieller Faktizitäten, die Welt, wie sie ist, die Welt, an der man sich stößt, die nicht ausweicht, die Welt, wie sie dem Einzelnen begegnet: Mit Frost und Hitze, Tag und Nacht, mit Krieg und Gewalt und unvorhersehbaren Ereignissen. Wenn gepredigt wird, kommen (2.) Vorstellungen über eine andere oder doch veränderte Welt ins Spiel: Eine Predigt kann „neues Land“ betreten, Vorstellungen von einer erneuerten Welt aufzeigen, das „Reich Gottes“ hineinzeichnen in die Welt, wie sie jetzt ist und dabei einen neuen Vorstoß in die virtuelle Welt das Glaubens unternehmen. 523 Von den einzelnen Hörern mitgebracht wird (3.) ein je eigener, persönlicher Kosmos, die Welt, wie sie für den Einzelnen im Laufe seines Lebens geworden ist, die Welt, wie sie für ihn „existiert“, eine Welt mit bestimmten Erfahrungen, Werten und Erwartungen, die Welt, zu der ein „Weltbild“ gehört, die Welt, in der sich der Einzelne eingerichtet hat. 523 Vgl. in diesem Zusammenhang die von Ch. Usarski (2005) in einer predigtgeschichtlichen Recherche zu Mt 15,21-28 rekonstruierten, von den einzelnen Predigern entworfenen Wirklichkeits- und Glaubenswelten. Es ist aufschlussreich, zu lesen, in welchem Maße bestimmte theologische Vorstellungen u. a. mit gendertheoretischen Prämissen, typischen Glaubenskonzeptionen, stereotypen Gottes- und Weltbildern und entsprechenden Lebensauffassungen verbunden sind, wie entsprechende heilsgeschichtlichen Referenzrahmen konstruiert und ggf. dazu passende erwählungstheologische Argumentationsmuster entwickelt werden. Dabei entstehen virtuelle Welten, in denen sich die Predigenden jeweils bewegen - und die zu beschreiten sie auch die Gemeinde animieren. Die von Usarski analysierten „Predigttypologien“ können faktisch auch als Leitmotiv für die in diesen Predigten jeweils entworfene virtuelle Welt (des Glaubens) gelten. <?page no="265"?> 265 4.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Vor diesem Hintergrund kommt der Predigt die Aufgabe zu, sich konkret am Ausbau jener virtuellen Welt zu beteiligen, in der Glaubende sich orientieren. Gewiss, der Glaube ist eine Kraft, die dem Einzelnen beim Führen seines „wirklichen“ Lebens eine Hilfe (nicht nur ein Denkmodell) sein soll. Glauben ist eine Ressource bei der Erfahrung realer und konkreter Freiheit. Gleichwohl impliziert das Phänomen des Glaubens insofern das Leben in einer virtuellen Welt, als für den Glauben nicht nur gilt, was man sieht, sondern ebenso das, was man nicht sieht. Glauben hat mit Leben auf Gottes Möglichkeiten hin zu tun, mit einem imaginären und gleichwohl gewissen Woraufhin. Dies (im Rahmen einer Predigt) anhand eines normalen Wochentags anhand von Begegnungen, konkreten Erfahrungen und Visionen zu exemplifizieren, könnte mit dem Entwurf eines neuen „Weltbildes“ einhergehen. In einer umfangreichen Untersuchung hat Ilona Nord die Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise für die christliche Religion im Allgemeinen sowie für Gottesdienst und Predigt im Besonderen dargestellt. 524 Sie knüpft an das Prinzip vieler biblischer Texte an, die reale Welt mit kühnen Konzeptionen einer bevorstehenden bzw. bereits angebrochenen neuen Welt zu konfrontieren und die Folgen für die Zukunft aufzuzeigen. Derartige biblische Texte sind oft experimentelle Texte: Sie manipulieren die virtuelle Welt dessen, der sie liest, meditiert oder hört insofern, als sie, angereichert mit neuen Optionen, zu Bestandteilen derjenigen Welt werden, zu der der Leser oder Hörer sich verhält und die er im Alltag unterstellt. (Auch die „Gemeinschaft der Heiligen“ ist nicht nur die zu einem Gottesdienst versammelte Gemeinde, sondern überdies eine „virtual community“ 525 , mit der sich der Einzelne über die Koordinaten von Raum und Zeit hinaus verbunden weiß.) Ein Prediger sollte daher Bilder und Geschichten, Phantasie und Träume haben für die Welt, die er unterstellt, die er antizipiert und „sieht“, indem er glaubt. Die detaillierte Beschreibung der virtuellen Dimension des Glaubens ist für I. Nord eine unabdingbare Ergänzung und Korrektur einer zu einseitig an Wahrnehmungsprozessen orientierten Praktischen Theologie und Homiletik. Ihr geht es um Impulse zur homiletischen Gestaltung von Erschließungsräumen, die anschlussfähig sind für die virtuelle Welt der Hörer. Die sich u. a. in produktiven Metaphern oder visionären Geschichten Geltung verschaffende virtuelle 524 Vgl. I. Nord, 2008, bes. 258-332. 525 Vgl. a. a. O., 31-36. <?page no="266"?> 266 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Dimension der Predigt ist Ausdruck der „Wirklichkeit des Möglichen“ 526 . An dieser Dimension zu arbeiten heißt, „konstruktiv“ zu predigen, über spekulative Diagnosen der realen Welt hinauszuführen, in der biblischen Bilderwelt nicht zu verharren und sich an einer um neue Bilder bereicherten Vorstellungswelt zu beteiligen, in der der Einzelne ungewohnte Rollen ausprobieren kann, eine Welt, zu der er sich schon im Hören auf die Predigt verhalten und in der er sich als anderer erfahren kann. Das Predigtgeschehen ist nach Ilona Nord unter anderem „eine Gelegenheit, die eigene Lebenssituation neu zu strukturieren […] Für die Kommunikation des Evangeliums wird mit der Predigt ein Möglichkeitsraum geschaffen. Erst wenn dieser auch von den am Predigtgeschehen beteiligten Menschen betreten und in Gebrauch genommen wird, werden eigene Erfahrungen in ihm gemacht, und in diesem Sinne wird das Predigtgeschehen für sie wirklich. Erst in dieser Partizipation kann das Mögliche sich als Wirkliches zeigen.“ 527 4.4 Zur Kategorie zeichenhafter Predigt In die Überlegungen für die Arbeit an der Zeichenhaftigkeit der Predigt ist alles das einzubeziehen, was bisher zur Gestaltung von Predigten als belangvoll festgehalten wurde. Die semiotische Perspektive kann also angemessen sowohl im lernpsychologischen Modell 528 als auch in einer narrativen Predigt oder in einem offenen Dialog, unter dramaturgischen wie unter virtuellen Gesichtspunkten zum Tragen kommen. Ebenso könnte man in jedem der genannten Zugänge Elemente des Lernens oder des Dialogs ausmachen. Dennoch haben diese verschiedenen Orientierungen für die Gestaltung einer Predigt nicht einfach das Gleiche im Blick. Was sie verbindet, sind ihre Grundannahmen in Bezug auf die temporäre Bedeutung der vorgetragenen Predigt im Verständigungsprozess mit den Hörern, sowie das Interesse, dem Inhalt der Predigt auch durch eine angemessene Form gerecht zu werden. Was die vier Betrachtungsweisen zur Gestaltung der Predigt unterscheidet, sind ihre Referenzrahmen und die damit verbundenen Prämissen bezüglich des Zusammenhangs von Gestalt und Gehalt der Kanzelrede. 526 A. a. O., 92. Vgl. dazu den von I. Nord aufgezeigten philosophischen Hintergrund bei I. Kant und S. Kierkegaard, a. a. O., 88-100. 527 A. a. O., 286 f. 528 Vgl. insbesondere jene Ausführungen, in denen das Lernen nicht als reproduktiver Vorgang, sondern als Prozess des Um- und Weiterlernens charakterisiert wurde. <?page no="267"?> 267 4.4 Zur Kategorie zeichenhafter Predigt In den siebziger und achtziger Jahren wurden einige davon unter der Rubrik der „symbolischen Predigt“ 529 verhandelt. Symbole sind vieldeutig, eine Art offenes Kunstwerk en miniature. Sie lassen sich nicht auf eine Deutung reduzieren. Symbole - im Kontext von Erfahrungen gebildet - vermögen diese Erfahrungen immer wieder aufzurufen, wenn sie erscheinen bzw. beim Betrachter, Leser oder Hörer Erkenntnisprozesse auslösen. Deshalb kann man auch sagen, dass eine symbolhafte oder -bezogene Predigt der Sprache des Glaubens besser gerecht wird als eine Predigt mit thetischen Sätzen. 530 Das Symbol hat die Eigenschaft, den Hörer für seine Sinnbildung zu engagieren und Erfahrungen aufzurufen, ohne die dem Glauben die nötige existentielle Basis fehlt. Das Symbol „steht in einem Verweisungszusammenhang“, es „reizt dazu, über seine tiefere Bedeutung nachzudenken und darüber mit anderen einen Verständigungsprozess herbeizuführen“ 531 . Diese Erwartungen stehen den Prämissen einer semiotisch reflektierten Homiletik sehr nahe. Die Symboldebatte hat gelegentlich zu praktischen Fehlschlüssen geführt und den theoretischen Horizont des Mottos - „mit Symbolen leben“ 532 - verunklart: Bald benutzte man den Symbolbegriff, um an ihm die Authentizität religiöser Erfahrung festzumachen, bald leitete man aus der Historizität der Gestalt eines Symbols seinen Wahrheitsanspruch ab, bald meinte man, vermittels der 529 Vgl. dazu die Ausführungen von H. Albrecht, 1985, 36-44. Die symboltheoretische Behandlung der Homiletik geht vor allem auf Anregungen von J. Scharfenberg, 1992 zurück. 530 Roman Roessler, der über Jahrzehnte für die Redaktion der „Predigtstudien“ des Kreuzverlags zuständig war, weist in einem nachdenklichen Artikel zur Sprache und Theologie der Predigt auf die Notwendigkeit der symbolischen Redeweise in der Predigt hin: „Wir reden in Bildern und Gleichnissen von dem, was wir nicht anders sagen können. Wenn die Gebrochenheit symbolischen Redens nicht festgehalten wird, entstehen zwei Wirklichkeiten, die sich nicht mehr vermitteln lassen: dort eine überweltliche, biblisch-dogmatische Eigenwirklichkeit mit ihren eigenen Kausalitäten, und hier unser heutiges Bewusstsein von Realität. Wo das so auseinanderfällt, kann der Brückenschlag vom biblischen Text zur Situation nicht gelingen. Und hier liegt für mich das Kernproblem heutiger Predigt“ (R. Roessler, 2001, 64). 531 J. Scharfenberg, 1992, 251. Scharfenberg schwebte offensichtlich vor, die nach seiner Ansicht tragenden Symbole der einzelnen Stationen des Kirchenjahres (Licht, Finsternis, Kreuz usw.) homiletisch mit den Phasen der Reifung des menschlichen Lebens in Verbindung zu bringen (vgl. a. a. O., 253 f.). 532 J. Scharfenberg/ H. Kämpfer, 1980. <?page no="268"?> 268 Teil I.4. Predigen mit einer Struktur. Die Frage nach der Gestalt der Predigt Symbole einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit des Glaubens haben zu können. 533 Die Folgen dieser Praxis zeigen sich z. B. in (vom Ansatz her durchaus zu begrüßenden) Predigten in Form von „Bibel-Träumen“ 534 , in denen man permanent den Begriffen „Symbol“ bzw. „symbolisch“ oder „Zeichen“ bzw. „zeichenhaft“ begegnet. Immer wieder wird der Einzelne darauf hingewiesen: Achtung, ein Symbol! Achtung, ein Zeichen! Die ständige Apostrophierung des vermeintlich Symbolischen als symbolisch trägt aber gerade nicht dazu bei, symbolisch zu predigen. Aus einem gewissen Zwang heraus, dem Hörer mit dem Symbol auch gleich die Bedeutung samt alltagspraktischen Folgerungen zu liefern, wird das notwendige Sich-ins-Spiel-Bringen-Können des Hörers wahrscheinlich eher behindert als gefördert. Statt den „Funken Hoffnung“ durch die Predigt leicht entzündlich zu machen, erklärt der Prediger, dieser Funke warte darauf, „dass wir ihn entfachen und als Lebensschwung wahrmachen“ 535 . In der drohenden Verwechslung der in Anspruch nehmenden Kraft von Symbolen mit dem Appell, sie zu realisieren, läge jedenfalls eine Fehlentwicklung des symbolischen Ansatzes, der mit dem Anspruch vorgetragen worden war, auch zu einem vertieften Verstehen biblischer Texte und menschlicher Existenz beizutragen. Aufgrund dieser Entwicklung (und des in der Theologie mit ganz unterschiedlichen Funktionen verwachsenen Symbolbegriffs) empfiehlt es sich, bei der Analyse, Beschreibung, Kritik und Gestaltung des Predigtgeschehens als eines Verstehens- und Verständigungsprozesses von zeichentheoretischen (statt von symbolischen) Kategorien auszugehen. Aus den in diesem Kapitel vorgestellten Perspektiven ergeben sich folgende Grundsätze: 1. Eine „semiotisch funktionierende“, ambiguitäre Predigt gibt dem Hörer nicht nur Predigtinhalte mit auf den Weg - oder das, was über einen Text zu sagen ist; sie verhilft ihm durch ihre spezifische Struktur dazu, das zu verstehen Gegebene in den Kontext der eigenen Lebenswelt hinein zu übersetzen. 2. Indem die Hörer zur Fortsetzung des Gehörten in ihre eigene Situation hinein befähigt werden, wird die Aneignung eines „persönlichkeitsspezifischen Credos“ 536 gefördert. 533 Kritisch dazu: W. Engemann, 1992b, 19-21. 534 O. Schmalstieg, 1991. 535 A. a. O., 85. 536 Vgl. I.2.2.1. <?page no="269"?> 269 4.4 Zur Kategorie zeichenhafter Predigt 3. Die Zeichenhaftigkeit bzw. Ambiguität einer Predigt ist nicht nur ein kommunikationstheoretisch gebotenes, sondern auch ein theologisch relevantes Kriterium. Sie stärkt die dialogische Form einer Predigt, die nicht einfach bloß auf Zustimmung zielt oder mit Ablehnung rechnet, sondern dem Hörer eine eigene Rolle in der Predigt bzw. im Leben zumutet und zuspielt. 4. Ambiguitäre Predigt ist weder verwirrend noch diffus, weder beliebig noch unverbindlich. Sie weckt und lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers durch eine Struktur, in der sie konkreten Inhalten Gestalt gibt, die nicht anders als zeichenhaft dargestellt und zum Handlungsimpuls werden können. 5. Zeichenhafte Predigt impliziert notwendigerweise Lernprozesse. Dabei geht es nicht um eine Verschulung der Gemeinde, um exegetische Lektionen oder um vor allem belehrende Sprechakte. Es gehört jedoch zur Intention der Kommunikation des Evangeliums, dass festgefahrene, gleichsam „eingefrorene“ Vorstellungen und Zerrbilder des Menschen von sich selbst, von Gott sowie von den bestehenden Beziehungen zu anderen, verändert werden können. 6. Dialog, Erzählung und Lernprozess können Formen „offener“ Predigt sein. Sie stärken die Zeichenhaftigkeit der Predigt, indem sie sich eilfertigen Lösungen und einfachen Schlüssen verweigern und die Hörenden an der „virtuellen“ Konstruktion der Perspektiven einer erneuerten Welt beteiligen. 7. Die Idee einer ergänzungsbedürftigen, vielfach anschlussfähigen ambiguitären Predigt bedeutet keine unnötige Verkomplizierung homiletischer Prinzipien. Sie trägt dem dialektischen Charakter der Kommunikation des Evangeliums Rechnung, der u. a. davon bestimmt ist, dass einerseits bestehende Erwartungsmuster irritiert, andererseits aber neue provoziert, vorgestellt und eingeführt werden, die eine Neubzw. Umorientierung der Hörer ermöglichen. <?page no="270"?> 270 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt 5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Vorbemerkungen In der Didaktik der Homiletik - soweit sie sich in homiletischer Anleitungsliteratur und in den Anforderungen von Landeskirchen an die Elemente einer Examenspredigt niederschlägt - spielen sprachliche Überlegungen eine vergleichsweise geringe Rolle. Exegetische, theologische, situationsbezogene, liturgische und homiletische Erörterungen erschöpfen sich oft in der Frage nach Inhalt, Begründung und struktureller Umsetzung einer bestimmten Predigtintention. Das verstörende Auftreten eines „Anwalts der Sprache“ 537 ist eine Möglichkeit, die oft unausgeschöpften Ressourcen der Sprache in die Predigtarbeit zu integrieren. Die Überraschung ist oft groß, wenn sich durch scheinbar kleine sprachliche Modifikationen ein völlig anderer, klarerer, überzeugenderer Eindruck von der Gesamtintention der Predigt ergibt. Dabei kann im Einzelfall erfahren werden, was Walter Benjamin über „die magische Seite der Sprache“ schreibt. Sie bestehe darin, in einem unerwarteten Moment Sinn freisetzen zu können - wie ein Vexierbild plötzlich etwas zeigt, was es bis dahin verborgen hat. Benjamin sieht in der Sprache ein „Medium“, in dem „die Dinge nicht mehr direkt [begegnen], sondern in ihren Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen […] und zueinander in Beziehung treten“ 538 . Im Laufe der vorausgegangenen Darstellungen mussten wir schon oft auf die mediale Wirkung der Sprache Bezug nehmen, um beschreiben zu können, was es mit „homiletischer Kompetenz“, „glaubwürdiger Predigt“, „dialogischer Kommunikation“ und „anschlussfähigen Predigtstrukturen“ auf sich hat. Als wichtigstes Medium des Predigtgeschehens 539 ist die Sprache Faktor und Indikator ganz unterschiedlicher, gleichzeitig ablaufender Prozesse. Von der Pre- 537 Der „Anwalt der Sprache“ hat in der seminaristischen Nachbesprechung einer Predigt unter anderem die Funktion, auf eventuell verspielte sprachliche Möglichkeiten hinzuweisen. Vgl. W. Engemann, 2009c, 425 f. 538 W. Benjamin, 1984, 129 f. 539 Zur medialen Präsentation der Predigt gehören natürlich auch andere (Zeichen-)Sprachen: Körperhaltungen, Bewegungsformen, Kleidung (Talar), Mimik, Gestik, räumliche Kategorien (Entfernung zu den Hörern), die das Predigtgeschehen umgebenden und „mitpredigenden“ Gegenstände (Kanzel, aufgeschlagene Bibel) u. a. m. <?page no="271"?> 271 Vorbemerkungen digtsprache als einem Medium zu sprechen, ergibt sich aber vor allem aus dem Verständnis des von verschiedenen Seiten in den Blick genommenen Predigtprozesses selbst: Die Kommunikation des Evangeliums - bis hin zur Bildung eines Auredits 540 durch die anwesenden Hörerinnen und Hörer - ist darauf angewiesen, dass ein Interpretations- und Aneignungsprozess durch die Adressaten in Gang gesetzt wird. Im Unterschied zu ideologischer Rede kommuniziert eine Predigt nicht primär durch einen instrumentellen Sprachgebrauch und nicht durch „rhetorische Tricks“, sondern auf Basis von Hören und Verstehen. 541 „Theologie hin, Theologie her - eine Predigt ist eine sprachlich gestaltete Rede, die Zuhörer, Menschen mit Leib und Seele und auch Hirn, erreichen und beeinflussen will. Predigt ist eine bestimmten Menschen zugewandte sprachliche Gestalt und gestaltete Sprache. Darüber gilt es nachzudenken. Nicht Theologie, Sprache ist die erste. […] Die Folgerungen laufen nicht darauf hinaus, aus dem Prediger einen Laiendichter oder Halbliteraten zu machen. […] Aber für sprachliche Möglichkeiten sensibel werden, die eigene Sprache in ihrer Flexibilität auf die Probe stellen, mit ihr Sprünge wagen - kurz: die Begriffssprache der Wissenschaft aus der Predigt heraushalten, soweit es nur irgend geht, das ist schon genug, ohne dass man auch noch den Dichtern Konkurrenz machen müsste.“ 542 Bevor wir uns einige Grundregeln im Umgang mit dem Medium Sprache vergegenwärtigen, gilt es, ein paar Probleme anzusprechen, die das Funktionieren der Sprache als Medium der Predigt oft beeinträchtigen. 540 Vgl. oben S. 34. 541 Vgl. hierzu die Grundlagen in I.1 sowie die Klassifizierung der Predigtaspekte am Ende eines jeden der vorausgehenden Kapitel. Die Unterscheidung von instrumentellem und medialem Sprachgebrauch findet sich auch bei Anderegg: „Wenn uns ein Sprachgebrauch die Frage nach Sinn nahelegt, so ist er selbst nicht das, worum es uns im letzten geht, sondern er bietet sich an als Medium für eine Sinnbildung, die über ihn hinaussieht; aber dem, worum es eigentlich geht, dem, was sinnbildend begriffen werden soll, nähern wir uns nur, indem wir uns ganz auf den Sprachgebrauch einlassen, indem wir ihn ernst nehmen als Medium für unser sinnbildendes Begreifen“ (J. Anderegg, 1985, 51). 542 G. Otto, 2009, 259 f. <?page no="272"?> 272 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 5.1.1 Theologische Stilistik Wie in anderen Wissenschaften gibt es auch in der Theologie eine Fachsprache, einen Berufsjargon. Für eine schnelle Verständigung unter Fachleuten ist diese Sprachebene sehr nützlich. Weil die meisten Theologinnen und Theologen irgendwann auch predigen und in der Vorbereitung auf die Predigt natürlich mit ähnlichen Fragen konfrontiert werden, wie sie sie im Rahmen theologischer Diskurse bearbeitet haben, erscheint es ihnen oft als naheliegend, dieses Repertoire abstrakter Begriffe auch auf der Kanzel zu verwenden. So nützlich die Fachsprache im Rahmen von Vorlesungen und Büchern ist, in der Predigt wirkt der routinierte Gebrauch dogmatischer Schlagwörter exkommunizierend. Die Sprache der Dogmatik dient der diskursiven Erörterung theologischer Fragen bzw. der Verständigung über sie, kaum jedoch für die Rede zu den Hörern. „Unser Sein in Christus“, „die Relevanz der Rechtfertigung für die Nachfolge im Glauben“, „die uns so oft determinierende transsubjektive Macht der Sünde“ und die „Permanenz unserer Ichbezogenheit als Boykott des Gnadenhandelns Gottes“ sind Formulierungen, die die Plausibilität einer Predigt nicht gerade steigern. Während der Prediger vorführt, wie gewandt er sich in seiner Welt bewegen kann, signalisiert er dem Hörer, dass das Ganze wohl „eine Nummer zu hoch“ für ihn ist. Dieser Stil kann unversehens lieblos und gedankenlos wirken: „In Jesus Christus ist Gott den Menschen Mensch geworden. Nicht ein völlig unbekanntes, fremdes, überirdisches Wesen […] Bis zur endgültigen Konsequenz seines Todes am Kreuz hat er Vertrauen und Versöhnung geschenkt und gelebt. Indem Gott ihn von den Toten auferweckte, bestätigte er die Richtigkeit seines Weges, die Vorbildhaftigkeit seines Lebens. Der Apostel Paulus ist selber auf diesen Weg gebracht worden, hat Jesu Leben als Richtschnur für sein Leben erfahren. […] Wir sind eingeladen zu einer Gemeinschaft mit Gott und unseren Mitmenschen in der Nachfolge Jesu im Sinne des Gesetzes Christi, im Sinne von gegenseitiger Liebe, Barmherzigkeit, Sanftmut und Frieden. Christliches Miteinander hat für Paulus und uns da Grenzen, wo wir zu einem Handeln veranlasst werden, das nicht im Sinne Jesu ist und gleichzeitig unsere Verantwortung vor Gott leugnet. […] Der Geist Jesu kann sich unter uns aber nur entfalten, wenn wir versuchen, in der Nachfolge Jesu zu leben.“ 543 543 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 9,16-23; Hervorhebungen W. E. <?page no="273"?> 273 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Solche Sprache steht in der Gefahr, sich in religiöser Phraseologie zu verlieren und keine Argumentationsmuster mehr erkennen zu lassen. Gründe und Pointe der Gesamtintention gehen verloren; was die Predigt eigentlich will, warum sich die Hörenden worauf einlassen sollen, bleibt im Dunkeln: „Alles Fleisch, und sei es noch so mächtig, vergeht! Eine Erfahrung, die uns die Geschichte auch immer wieder lehrt. Dieser Vergänglichkeit, dieser Ohnmacht wird nun entgegengehalten, was Bestand hat: Das Wort Gottes! Es hat Bestand bis in alle Ewigkeit. Das ist der Anfang des Tröstens […] Darin erwächst uns Zuversicht und Trost, dass wir uns mit unserer Ohnmacht und Vergänglichkeit fest machen an der Stärke Gottes und an seiner Liebe und Zärtlichkeit zu uns. Deswegen ist Gottes Wort keine leere Vertröstung, sondern ein echter Trost, der uns trägt. Denn er ist unser guter Hirte. Diese Erfahrung Deuterojesajas gilt selbstverständlich auch für uns Christen, die wir in Christus unseren guten Hirten für unser Leben haben. […] In dieser guten Erfahrung der Liebe Gottes können wir in unserer Gemeinde den Weg bereiten auf Weihnachten zu.“ 544 Dieser Stil ist von „semantischem Rauschen“ geprägt. Er erschwert es, Genaueres zu verstehen, gibt aber ständig vor, dass es etwas zu verstehen gäbe. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Predigtweise über kurz oder lang zu Frustrationen auf Seiten der Hörenden führt, die in Anbetracht solcher Hör-Erfahrungen kaum mehr sagen können, wozu es gut sein sollte, eine Predigt zu hören. 5.1.2 Dysfunktionale Sprechakte Sprachliche Äußerungen lassen sich nicht nur in richtige und falsche, rhetorisch gelungene oder unbeholfene einteilen. Sie lassen sich auch nach der jeweiligen Handlung bestimmen, die sie implizieren. Grundsätzlich ist es so, dass Menschen, indem sie reden, etwas „ausrichten“, dass Wirklichkeit gestaltet wird, und dass auch an den Angesprochenen (und durch sie) etwas geschieht. 545 Wir können mit Worten des Dankes eine positive Wirkung auf einen Menschen ausüben und ihn dadurch ermutigen. Wir können jemandem angesichts einer Katastrophe Hilfe versprechen und dadurch eine Situation entspannen. Wir können uns in Behauptungen ergehen und damit bestimmte Sachverhalte in den Raum stellen. Wenn die Beobachtung zutrifft, dass in der Predigt die behauptenden 544 Predigtmanuskript mit Bezug auf Jes 40,1-8. Hervorhebungen W. E. 545 Genaueres zur Theorie der „Sprechakte“ unter I.5.3.1.-I.5.3.2. <?page no="274"?> 274 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Sprechakte überwiegen 546 , kann dies nur zu Lasten anderer Sprechakte gehen, zum Beispiel zu Lasten von plausibilisierenden (erklärenden), mobilisierenden (ratenden) oder die eigene Befindlichkeit ausdrückenden (klagenden) Sprechakten. Dass man nach dem Hören mancher Predigten kaum zu sagen vermag, worum es eigentlich ging, hängt in starkem Maße damit zusammen, dass sich sprechakttheoretisch gesehen wenig ereignet hat, außer, dass viel „in den Raum gestellt“, viel behauptet wurde. „Einzig Bestand auf dieser Welt hat Gott allein und somit alles, aber auch nur das, was zu ihm gehört, wie sein Wort. Und das heißt sicher nicht, dass die Aussagen Gottes als zeitlose Wahrheiten bestehen bleiben werden. […] Das Wort wurde Fleisch. Hier hat Gottes Wort in besonderer Weise seine Wirkmächtigkeit gezeigt. […] Wenn wir uns hieran zurückerinnern, gibt uns das Hoffnung für die Zukunft. In der Zwischenzeit hat Jesus Christus uns aber nicht verwaist zurückgelassen, sondern in seinem Wort können wir ihm begegnen, weil dieses Wort er selber ist.“ 547 Die Predigt verkümmert als Kommunikationsakt, wenn sie sich aufs bloße Behaupten verlegt und nicht die ganze Bandbreite menschlicher Kommunikation in ihre Sprache integriert. Dabei geht es keineswegs nur um mehr rhetorischen Respekt vor der Kanzelrede. Auch aus theologischer Sicht und in homiletischer Perspektive ist die auf Thesen reduzierte „Konfrontation mit Heilstatsachen“ nicht gerechtfertigt. Existenzbezogenes Fragen, in Anspruch nehmender Dialog, verwickelndes Erzählen, Artikulation von Erfahrung, persönliches Bekenntnis usw. - solche Dimensionen der Predigt funktionieren nicht im Stil von Behauptungen. In der Praxis der Redegattung Predigt findet man zudem spezifische Sprachformen, die in der Alltagssprache kaum anzutreffen und eng mit der Bevorzugung von Behauptungen verbunden sind. So weisen Predigten Sprechakte auf, die man zwar formal bestimmten Arten von Sprechakten zuordnen könnte, die aber die entsprechende Funktion nicht erfüllen. Das betrifft besonders Wendungen in Verbindung mit dem Verb dürfen: Die meist euphorisch artikulierte Botschaft, dass etwas sein darf bzw. geschehen darf, gehört eigentlich zu Situationen, in denen entweder Beschränkungen bestehen oder in denen man sich selbst Beschränkungen auferlegt hat, von denen man eigentlich wünscht, dass sie nicht bestünden. Eine erlaubende Sprachhandlung im Sinne einer Deklara- 546 Vgl. H. W. Dannowski, 1975, 174. 547 Predigtmanuskript mit Bezug auf Jes 40,1-8. <?page no="275"?> 275 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen tion 548 stiftet dementsprechend eine neue Wirklichkeit und gibt in der geschilderten Situation erwünschte oder ersehnte Möglichkeiten frei. Beschränkungen werden endlich überwunden. Wenn die Hörer in einer Predigt etwas „dürfen“, wird jedoch in der eindeutigen Mehrzahl der Fälle Moral gepredigt. Wenn die Gemeinde endlich einmal etwas darf, werden ihr in der Regel bestimmte Verhaltensweisen nahegelegt. Dafür stehen die folgenden Beispiele: - „Vielleicht werden wir zu Zeuginnen und Zeugen für andere. […] Einfach durch eine Tat, ein Gespräch, unser Dasein. In dieser Hoffnung dürfen wir leben. Und darum dürfen wir bitten.“ 549 War es je ein Problem fiktiver oder realer Hörer, darum nicht bitten zu dürfen? Dem Prediger geht es um eine gesteigerte Aufmerksamkeit dafür, wie man einem anderen zum Zeugen wird, und dass sich seine Hörer der damit verbundenen Verantwortung bewusst werden. Warum sagt er es nicht? - In einer anderen Predigt wird hervorgehoben: „Deshalb sehe ich sowohl den Pharisäer als auch den Zöllner als ein Gegenüber für uns an, das uns wachrütteln soll. Es soll uns dazu ermutigen, vielleicht einmal öfter über uns selbst nachzudenken. Manchmal ist es nämlich ganz heilsam, ehrlich zu fragen, ,Wer bin ich? ‘ Diese Ehrlichkeit dürfen wir uns vor Gott leisten.“ 550 Die Predigerin will dazu ermutigen, „über sich selbst nachzudenken“. Dass die Hörenden das (angeblich) zu wenig tun, liegt gewiss nicht daran, dass sie meinen, es sei verboten. Die Preisgabe eines falschen Selbstbildes erfordert nämlich Mut und eine nicht beängstigende Aussicht auf die Person, mit der man es dann zu tun bekommt. Mit einer „Erlaubnis“ ist da wenig gewonnen. - „Wir dürfen uns angenommen fühlen durch die Menschwerdung Gottes in Christus, das hat Gott uns mit Christus gesagt.“ 551 Das Problem, das die Verfasserin ansprechen will, ist wiederum nicht, dass Menschen es nicht wagten - obwohl sie sich gern trauen würden - „sich durch die Menschwerdung angenommen zu fühlen“, sondern dass ihnen nicht plausibel ist, was Jesu Geburt mit ihrer eigenen Annehmbarkeit zu tun haben sollte. So steht am Ende - durch die Rede vom Dürfen kaschiert - wiederum nichts als eine pure Behauptung im Raum. 548 Nach J. R. Searle (1975) haben „declarations“ (Ernennen, Berufen, Trauen, Erlauben usw.) die Funktion, eine qualitativ neue Wirklichkeit zu stiften. 549 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 15,26-16,4. 550 Predigtmanuskript mit Bezug auf Lk 18,9-14. 551 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Tim 3,16 f. <?page no="276"?> 276 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt - In Anbetracht der starken Verbreitung dieser predigttypischen Redeweise ein letztes Beispiel: „Wenn wir uns als Teil des Leibes Christi fühlen dürfen, können wir uns der Verbindung mit ihm gewiss sein.“ 552 Auch hier geht es natürlich um einen Aufruf, der wiederum nicht daran scheitert, dass man meint, sich nicht als Glied der Gemeinde fühlen zu dürfen. Außerdem verdeutlicht die faktische Konditionierung der Verbindung mit Christus durch ein sich erst einzustellen habendes Gefühl die Problematik dieses Sprechaktes. Derartige Formulierungen finden sich in der Predigtliteratur und -praxis zu Hunderten. Vom Dürfen ist die Rede, in Wahrheit aber geht es um ein Sollen. Offenbar in dem Bewusstsein, dass man das Evangelium - und nicht das Gesetz - zu predigen habe, werden die im Evangelium eröffneten Lebensmöglichkeiten als Resultat von endlosen Erlaubnisketten dargestellt. Dies ist eine Form (schlechter) klassischer Gesetzespredigt: Sie ist geprägt von versteckten Behauptungen, fragwürdigen Unterstellungen und vagen Appellen. Eine solche Predigt hinterlässt - was ihre Ansprüche an den Einzelnen angeht - den Eindruck, es handele sich letztlich nur um Bagatellen, denen man mit etwas gutem Willen leicht gerecht werden könne. Vielleicht sind die zahlreichen „Erlaubnisse“ das Symptom eines bestimmten Selbstverständnisses der Predigenden. Denn wer darf schon sagen, „ihr dürft“? Die Position des Erlauben-Könnens setzt Autorität voraus. Dieser Sprechakt hat seinen „Sitz im Leben“ vor allem in der Position von Eltern gegenüber ihren Kindern, von Behörden gegenüber Bürgern usw. Er ist keine brauchbare Basis für das Beziehungsverhältnis Prediger-Hörer. Zudem trägt der Versuch, Moral-Appelle durch die sprachliche Geste des Erlaubens zu kaschieren, dazu bei, dass echte, notwendige Aufrufe, die dazu beitragen sollen, den Hörern ihren eigenen Part deutlich zu machen, überhört werden. In Formulierungen nach der Weise „vielleicht sollten wir“, „nun dürfen wir endlich“ usw. geht die Ernsthaftigkeit verbindlicher Anrede verloren. 5.1.3 Der homiletische Lassiv Dieser Ausdruck kennzeichnet einen spezifischen Umgang mit dem Verb „lassen“ in der Predigt. Obschon formal und grammatikalisch in den jeweiligen Anwendungsfällen als Indikativ oder Imperativ erkennbar, ist die faktische 552 Predigtmanuskript mit Bezug auf Eph 4,1-6. <?page no="277"?> 277 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen semantische Funktion der Aussagen, in denen etwas „einfach gelassen“ bzw. „zugelassen“ werden soll, wesentlich schwieriger zu bestimmen. 553 „Die Barmherzigkeit Gottes begleitet unser Leben. […] Paulus ermutigt uns dazu, die Barmherzigkeit Gottes anzunehmen, sie wirken zu lassen in uns, damit sie auch für andere Menschen erfahrbar wird.“ 554 Vergleichbare, immer wiederkehrende Formulierungen sind: Wir brauchen uns „den Frieden nur schenken zu lassen“, „wir dürfen uns die Augen öffnen lassen“, wir brauchen „Jesus nur in unser Leben hinein zu lassen“, „uns nur von Gottes Geist anregen zu lassen“ u. a. m. Um der Predigt einen evangelischen Charakter zu geben und - weil sie offenbar als störend empfunden werden - Appelle zu vermeiden, hat sich in der Kanzelrede der Ratschlag verbreitet, das gnädige Handeln Gottes einfach zuzulassen. Dann werde sich das Leben, das Evangelium und Predigt verheißen, schon von selbst einstellen. Ein solcher „Lassiv“ ist mehr (bzw. weniger) als nur eine Form misslungener Kommunikation des Evangeliums. Auch der Versuch, das Vernommene als Handlungsanweisung zu befolgen, führt zu Frustrationen: Denn - um auf das Zitat oben zurückzukommen - wie macht man das? Wie lässt man die Barmherzigkeit Gottes in sich wirken? Schafft sie es nicht allein? Steht jemand, dem Barmherzigkeit widerfahren ist, wirklich vor der Wahl, sie „nun auch wirken zu lassen“ - und das auch noch „in sich“? Sind „Barmherzigkeit“, „Güte“, „Noblesse“, „Liebe“ nicht vielmehr beglückende Erfahrungen, angesichts derer es nichts mehr abzuwägen gibt, sondern die immer gerade recht kommen und auf die man ohne Extraeinladung hofft? Durch die Ideologie des „Einfach-nur-Zulassens“ werden die Hörer (wie bei einschlägigen Werbestrategien) in die Position von Kunden gedrängt, denen ein schlecht zu verkaufendes Produkt aufgeschwatzt werden soll. Diese Redeweise hat eine bagatellisierende Funktion: Gerade an den Stellen, wo davon die Rede ist, dass wir nur (sic! ) dies und jenes zuzulassen bzw. geschehen zu lassen brauchen, geht es meist um heikle Fragen des menschlichen Lebens und Glaubens. Entgegen der scheinbar passiven Redeweise handelt es sich auch hier um eine bestimmte Form von „Gesetzespredigt“ 555 : „Du wirst 553 Es geht hier nicht nur um Aussagen, in denen expressis verbis vom „Lassen“ die Rede ist, sondern auch um vergleichbare passive Stereotypen, die - in der Regel in Verbindung mit dem Wörtchen „nur“ - die Belanglosigkeit des eigenen Tuns hervorheben wollen: „Wir brauchen nur-…“ usw. 554 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 12,1-8,22; Hervorhebung W. E. 555 In ähnlichem Kontext weist M. Josuttis auf die „gesetzliche Verfälschung der Gesetzespredigt“ hin: „Die Sünde wird verharmlost und ihre Beseitigung zu einer Möglichkeit <?page no="278"?> 278 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt doch wohl auch das Schwierige hinbekommen: Lass es einfach geschehen.“ Mit dem homiletischen Lassiv wird zudem unterstellt, christlicher Glaube sei im Kern ein bloßer Zustimmungsakt, eine implizite Behauptung, die jedoch der Zu- und Aneignungspraxis des Glaubens nicht gerecht wird. „Christus spricht: ,Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.‘ […] Er tritt nicht einfach drohend die Tür ein, sondern klopft ganz leise an. Christus stürmt nicht die Tür, sondern überlässt es uns, ob wir ihm öffnen wollen oder nicht. […] Er bietet uns an, das Mahl mit ihm zu halten. Wir müssen also nichts weiter tun, als ihm die Tür öffnen, um mit ihm gemeinsam an einem Tisch zu sitzen. Unsere ganze Dickfelligkeit, Uninteressiertheit, Sattheit, die Angst unseres in sich verschlossenen, von Mauern umgebenen Wesens versucht er zu heilen, indem er zu uns kommt und klopft. Wir brauchen ihn nur einzulassen.“ 556 Aber wie macht man das? Bald verdunkelt eine solche Redeweise den Indikativ des Evangeliums, bald verharmlost sie die Positionierungen fordernde, in Auseinandersetzungen führende Kraft der Kommunikation des Evangeliums. Besonders häufig werden mit dem homiletischen Lassiv Appelle kaschiert. Entgegen dem Wortlaut („lassen“) geht es gerade nicht um ein Geschehen, an dem Hörer in christlicher Gelassenheit staunend partizipieren könnten, sondern in dem das an diesem Geschehen Entscheidende letztlich von ihnen gefordert wird: „Unsere Begabungen dürfen wir vertrauensvoll und selbstbewusst einsetzen. Auf diese Weise lassen wir den Heiligen Geist unter uns wirken.“ 557 Dass theologisch am „Geschehen-Lassen“, am Ereignis der Christusgeschichte im Leben von Menschen und an der Gelassenheit des Glaubens festzuhalten ist, wird mit der hier vorgetragenen Kritik am „homiletischen Lassiv“ nicht in Frage gestellt. Die mit jener Gelassenheit, mit jenem Geschehen verbundenen Erfahrungen werden aber nicht durch die Aufforderung ausgelöst, irgendetwas zuzulassen, sondern sind eine fundamentale homiletische Herausforderung: Die Predigt hat in diesem Zusammenhang zu verdeutlichen, wie ein Mensch unabhängig von Dauerinitiativen - unabhängig auch von einer als Tugend deklarierten Passivität - auf ein Geschehen bezogen ist, das seine Lebensumstände positiv beeinflusst. 558 des Menschen gemacht“ (M. Josuttis, 1995b, 121). 556 Predigtmanuskript mit Bezug auf Apk 3,4-22. 557 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. 558 Unter 5.3 und 5.4 wird sprachtheoretisch und theologisch auf diese Frage eingegangen. <?page no="279"?> 279 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 5.1.4 Geschenk-Metaphorik Wie ist das mit einem Geschenk? Ein Geschenk, vor allem eines, das man jemandem aus Liebe zugedacht hat, ist immer willkommen. Geschenke zu bekommen gehört nicht nur für Kinder zu den schönen Seiten des Lebens. Niemand kommt auf die Idee - ohne sich dem Verdacht der Heuchelei auszusetzen oder krankhafte Bescheidenheit für eine Tugend zu halten -, über die Annahme oder Nicht-Annahme eines mit Phantasie ausgewählten und aus Liebe zugedachten Geschenks zu debattieren. Kommentare wie „Das war aber nicht nötig“ oder „Hättest du es doch gelassen“ können höflich, aber auch verletzend wirken. Sie haben ihren Sitz im Leben eher bei noblen Trinkgeldzahlungen oder bei der Honorierung von Diensten, zu denen der Empfangende nur bedingt verpflichtet war. Ein wirkliches Geschenk aber, das Geber und Empfänger aufs Neue miteinander verbindet, muss man niemandem aufschwatzen. Im Gegenteil, wir sind hocherfreut, vielleicht überrascht, aber nicht abgeneigt - von infamen Geschenken (Bestechungen), die zur Gegenleistung verpflichten abgesehen. In der Geschenk-Metaphorik vieler Predigten ist von diesen Begleitumständen einer Schenkung wenig zu finden. Stattdessen trifft man in zahlreichen Variationen auf die stereotype Forderung, sich endlich dazu zu entschließen, das übergroße, wunderbare, unermessliche Geschenk der Gnade, der Vergebung, des Lebens, der Hoffnung, der Erlösung, der Rechtfertigung usw. anzunehmen. Dann - dann werde man schon sehen, was man davon habe. „Gott hat von seiner Seite aus alles getan, um uns vom Tod zu erretten. Er hat sogar seinen Sohn geopfert und uns dadurch das Leben geschenkt. Jetzt müssen wir dieses Geschenk nur noch annehmen.“ 559 Diese Forderung ist häufig mit dem Vorwurf gepaart, aus niederen Gründen die Annahme dieses Geschenks notorisch verweigert zu haben. 560 Predigt-Geschenke werden wie Sauerbier angeboten, eher nicht wie ein begehrtes Präsent dargereicht. Dass es sich um ein Geschenk handelt, wird wiederum vor allem behauptet. Bei „echten“ Geschenken erschließt sich allerdings die Bedeutung, der Wert, die Tragweite des Geschenks in der Regel von selbst. 559 Aus einer Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,31b-39. 560 In diesem Zusammenhang wäre grundsätzlich zu bedenken, was ein Mensch eigentlich tun müsste, um ein Geschenk Gottes - mit unmittelbarer Auswirkung auf die Wirklichkeit und das Sein des Menschen („Vergebung“, „Gnade“, „Zuwendung“) - nicht anzunehmen. Im Zusammenhang der Theologie der Predigt kommen wir auf die damit verbundenen homiletischen Prämissen zurück. <?page no="280"?> 280 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Sie ergibt sich aus den evidenten Möglichkeiten, Perspektiven und Chancen, um die der Beschenkte bereichert wird - und die er fraglos zu schätzen weiß. Vielleicht ist der häufig anzutreffende Verweis auf den hohen Preis, den Gott bezahlt hat (ohne dass mit der selben Intensität die Bedeutung dieses Geschenks „ausgepackt“ würde), ein unbewusst gesetztes Zeichen dafür, dass Prediger die Problematik ihrer Angebote selbst empfinden. Der Rückgriff auf diese Art der Geschenk-Metaphorik zielt häufig auf einen moralischen Appell, der freilich aufgrund seiner schwierigen Befolgbarkeit ebenso häufig resignative Reaktionen auslösen wird. „Gott schenkte uns drei Kräfte, nämlich erstens Demut […], und wir sind aufgefordert, die uns vorgegebene Demut zur Entfaltung kommen zu lassen. […] Neben Demut schenkte uns Gott auch Sanftmut, das schweigende Absehen-Können von sich selbst. Das dritte Geschenk Gottes an uns ist die Geduld, die der Liebe entspringende Vereinigung von Langmut und Großmut.“ 561 Wer könnte diese „Geschenke“ „einfach annehmen“? Natürlich ist es legitim, theologisch am Geschenkcharakter des in Christus ergangenen Heils festzuhalten und das Dasein Gottes um des Menschen willen als eine nicht zu erarbeitende Basis gelingenden Lebens zu plausibilisieren. Von der Plausibilität des Geschenks als etwas Begehrenswertes und Chancen-Eröffnendes hängt es freilich ab, ob der oben skizzierte Geschenkcharakter in der Kommunikation des Evangeliums auch aufscheint. Deshalb sollte ein Prediger, der mit der Geschenk-Metapher argumentiert, zumindest auf folgende Fragen für sich selbst eine Antwort gefunden haben: Worin besteht das Geschenk? Empfinde ich dieses Geschenk selbst als solches? Was fehlte mir, wenn ich nicht in den Genuss dieses Geschenks käme? Worüber kann ich mich angesichts dieses Geschenks freuen? Die Predigt selbst sollte etwas vom Charakter eines Geschenks haben, das der Prediger seiner Gemeinde macht. Das setzt voraus, dass er weiß, was sie „braucht“ bzw. was ihr „fehlt“, was ihr guttun könnte, womit sie umgehen können muss im Alltag. Ein Geschenk will aber nicht nur gut zu gebrauchen sein, es soll auch mit Bedacht zurechtgemacht, verpackt und verschnürt sein, was in einem homiletischen Kontext nicht zuletzt auf ernsthafte Bemühungen um die sprachliche Gestalt der Predigt hinausläuft - z. B. auf eine Erzählung. 561 Predigtmanuskript mit Bezug auf Eph 4,1-6. <?page no="281"?> 281 5.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 5.1.5 Gestörte Narrativität Das Erzählen erfüllt in einer Predigt ganz unterschiedliche Funktionen. 562 Durch eine Erzählung kann zum einen deutlich gemacht werden, wovon die Predigt ausgeht, was sie unterstellt und was „der Fall“ ist, der diese Predigt gleichsam nach sich zieht. Zum anderen kann das, was sich als Folge einstellen soll, narrativ antizipiert werden. In diesem Sinne kann sich in der Erzählung paradigmatisch ereignen, was dem Prediger als Wirkung seiner Rede vor Augen steht. Im Rahmen einer Geschichte wird erzählt, wozu die Predigt gewissermaßen „führen“ kann oder worauf sie zumindest zu beziehen ist. Das ist etwas anderes, als eine im Grunde nach Art einer Vorlesung konzipierte Predigt nur szenisch zu tünchen, wobei das, was man ohnehin sagen wollte, diversen Figuren in den Mund gelegt wird, die untereinander nur scheinbar in Zusammenhang stehen. Die in der Predigt hier und da Auftretenden reden und denken dann „wie gedruckt“ und ersetzen gewissermaßen die Suche nach guten Zitaten. So kommt kein wirklicher Erzählzusammenhang zustande. Es kommt nichts zum Vorschein, was nicht auch der üblichen Form von Erklärungen und Behauptungen anvertraut werden könnte. Nach dem Verlesen eines Predigttextes heißt es beispielsweise: „Mirjam war es, als spräche Gott ihr selbst zu: ,Fass’ doch wieder Mut - siehe, ich will der Grund deiner Hoffnung sein, will dir zeigen, wie es sein wird, wenn ich mein Reich endgültig aufrichte. Schon jetzt soll es hineinwirken in dein Leben, kann es dich und deine Wirklichkeit verändern! ‘“ 563 Erzählen in der Predigt ist etwas grundsätzlich anderes, als dogmatische Sätze in verteilten Rollen zur Sprache zu bringen. Oftmals wird das, was der Prediger offensichtlich selbst als zu formelhaft empfindet, in den Mund einer konstruierten Person gelegt, um die Predigt weniger blass erscheinen zu lassen. Recht verbreitet ist auch der Versuch, einer Predigt dadurch mehr Lebendigkeit zu geben, dass sie fiktiv in zeitlicher Nähe zur Person Jesu angesiedelt wird und die Jünger oder Zeitgenossen Jesu als Zeugen auftreten. Die dabei entstehenden Texte unterscheiden sich dabei kaum von der sonst üblichen Predigtsprache: Ein Jünger reflektiert in einer Predigt: „Jesus ist von Gott geschickt. Was er getan und gesagt hat, hat uns überzeugt: Er kommt von Gott. Und deshalb war uns sein Wort so wichtig. Wir wussten: Wenn wir den Ungerechtigkeiten, den Betrügereien, dem Hass 562 Vgl. dazu auch die Ausführungen unter I.4.3.2. 563 Predigtmanuskript mit Bezug auf Jes 35,3-10. <?page no="282"?> 282 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt untereinander entkommen wollten, […] um für alle Menschen in diesem Leben irgendwann einmal bessere Lebensbedingungen zu schaffen, […] müssen wir uns ganz genau merken, was er alles zu uns spricht. […] Jesus sagte immer wieder ganz eindringlich zu uns, wir sollten keine Angst haben. Wir sollten nicht aufhören, ihn zu lieben, dann würden wir auch seinen Vater lieben und er uns, […] sein Vater und er selbst würden bei uns Wohnung nehmen, wenn wir nur an seinem Wort festhielten. Außerdem werde er auch wiederkommen und uns zum Vater mitnehmen.“ 564 Schließlich sei auf solche Predigten verwiesen, in denen zunächst zwar wirklich erzählt wird, nachgeschobene Erklärungen jedoch die gegebenen Anstöße blockieren und ihr Weiterwirken lahmlegen. Die Verdeutlichungsleistung der Erzählung kann dadurch geschmälert werden, dass man am Schluss der Predigt mit einer „Moral von der Geschicht‘“ aufwartet und nicht auf die längst in Gang gekommene „Übersetzung“ der Geschichte durch die Hörer setzt. Damit wird die Rezeption der Predigt durch die Hörer untergraben: „Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. ,Ulrike Fiedler‘, meldete sie sich. ,Hallo Ulrike, wie geht’s? ‘, fragte ihre Freundin Pia. […] Pia war ganz fasziniert: ,Das klingt, als ob du eine Gotteserfahrung gemacht hättest! ‘ ,Wie kommst du denn darauf ? ‘, widersprach Ulrike. ,So etwas passiert doch nur Jakob oder Leuten, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, wie Frau Jürgens.‘ Pia hakte ein: ,Sicher ist doch, dass du diese Stimme gehört hast. Ich denke, es passiert nicht jedem Menschen auf diese Art und Weise. Aber durch andere Menschen kann man diese Form des Zuspruchs erfahren. Dazu muss man auch nicht besonders gläubig sein.‘ […] Langsam schien der Gedanke nicht mehr so befremdlich zu sein, fand Ulrike. ,Du meinst also, mir ist zugesagt, dass Gott mich begleitet? ‘, fragte sie zweifelnd. ,Ja, das hat Gott jedem Menschen versprochen. […] Vor allem dann, wenn ich in einer schwierigen Situation bin‘, versuchte Pia zu erklären. ,In einer schwierigen Situation-…‘, dachte Ulrike. ,Kann es mir dann helfen, endlich mit meinem Chef zu sprechen? ‘“ 565 Gute Erzählungen hingegen haben selbst die Qualität von Argumenten. Sie befassen sich mit Ursache und Wirkung, mit Hintergründen und Absichten, mit dem Scheitern von Hoffnungen ebenso wie mit erfüllten Erwartungen. Damit stehen sie für eine bestimmte „Sicht der Dinge“, für ein bestimmtes Gottesbild, bestärken den Hörer in bestimmten Haltungen und problematisieren andere. Soweit auch der Kanzelrede solche Funktionen zukommen, müssen einer kon- 564 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 14,23-27. 565 Predigtmanuskript mit Bezug auf Gen 28,10-19a; Hervorhebungen W. E. <?page no="283"?> 283 5.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik sequent narrativen Predigt keine „Auflösungen“ hinzugefügt werden, die die Erzählung nicht selbst schon enthielte. 5.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Dass die folgenden Seiten vor allem der pragmatischen Dimension der Predigtsprache gewidmet sind, hat seinerseits einen pragmatischen Grund: In I.4 sind bereits wichtige syntaktische (sprachliche Strukturen betreffende) und semantische (die Entstehung von Bedeutung berührende) Aspekte der Kommunikation des Evangeliums erörtert worden. 566 Pragmatische Aspekte kamen bisher nur punktuell zur Geltung. Die Erforschung der Möglichkeiten, Menschen mit Sprache bewegen zu können, sie anzurühren und Einfluss auch auf ihr Denken und Handeln zu nehmen, hat in der Rhetorik seit langem einen festen Platz. Neu an der sogenannten „Pragmatik“ ist, dass sie diese Wirkung nicht primär - wie die klassische Rhetorik - im Zusammenhang ausgefeilter Rede- und Textstrukturen erörtert, sondern an der Alltagssprache erforscht. Die Pragmatik befasst sich mit dem Reden als einer grundsätzlichen Form des Verhaltens, mit der Frage, „how to do things with words“ 567 . Ihr Interesse gilt der Leistung bestimmter kommunikativer Umgangsformen, der Interaktion durch Sprache, der auf gemeinsamem Sprachgebrauch basierenden Kooperation von Sprecher und Adressat. Dieser vor allem durch Arbeiten von Charles Morris, John L. Austin, John R. Searle entwickelte Ansatz der Semiotik 568 versucht zu erklären, unter welchen Bedingungen Sprache bewirkt, was sie intendiert - und wie Intentionen sich überhaupt mitteilen. Die eigentliche Absicht eines Sprechers lässt sich nicht einfach dem Wortlaut oder der äußeren Sprachgestalt eines Satzes selbst entnehmen. Vor diesem Hintergrund skizziere ich im Folgenden drei Probleme der Predigtlehre, die mit bestimmten Grundauffassungen über die Wirkung von Sprache zusammenhängen. 566 Vgl. auch die Verknüpfungen zwischen den Grundfunktionen der Sprache und den Dimensionen der Predigt (I.2.2.3) sowie die Interdependenz von Inhalts- und Beziehungsaspekten in der Predigtkommunikation (III.4.1). 567 So der Originaltitel von John L. Austins Sprechakttheorie, 1979. 568 Die Semiotik ist keine einzelne Reflexionsperspektive der Linguistik, sondern eine „Grundlagenwissenschaft“, die „für die Auseinandersetzung mit Sprache unverzichtbare Begriffe und übergreifende Konzepte liefert“ und daher als Oberbegriff auch für handlungsbezogene Betrachtungsweisen von Sprache gilt (vgl. A. Linke u. a., 1996, 7). <?page no="284"?> 284 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt a) Ein Grundproblem des Sprachverständnisses in der Geschichte der Homiletik bestand darin, dass Sprache nicht wirklich als Medium begriffen, sondern quasi als mechanisches Instrument, als Transportmittel objektiver Wahrheiten verstanden wurde. In den entsprechenden homiletischen Konzeptionen hat man vernachlässigt, dass Predigen ein Vermittlungsprozess ist, der - auch wenn richtig ist, was gesagt wird - scheitern kann. Es wurde übersehen, dass Sprache nicht nur Informationen übermittelt, sondern auch Informationen über die Information, Informationen über den Sprecher, über die Adressaten - und dass dies alles Einfluss hat auf die Wirkung der Predigt. Wenn solche sprachlichen Bedingungen der Predigtwirkung übergangen werden, besteht die Gefahr, dass der faktische Effekt einer Predigt alternativ als Ausdruck von Glauben oder Unglauben verstanden bzw. auf demütige Zustimmung oder hochmütige Ablehnung reduziert wird. Entsprechendes hatte Eduard Thurneysen offensichtlich im Blick, als er forderte, die ganze Predigt auf „das eine Notwendige“ anzulegen, „dass jeder Mund zugestopft und die ganze Welt vor Gott schuldig würde […], damit, wo alles Menschliche schweigt, Gott wieder das Wort nehmen kann“ 569 . Weil die Predigt auf eine Verständigung mit dem Hörer zielen muss, um Kommunikation des Evangeliums sein zu können 570 , kann die rechtfertigungstheologisch gebrauchte Metapher des „verstopften Mundes“ (vgl. Röm 3,19) keine homiletische Maxime sein. Um verstehen zu können, muss der Hörer in dem Sinne „mitreden“ können. Andernfalls kann er das Seine nicht mit dem in der Predigt Ausgesprochenen verbinden. Wer fordert, in die Kommunikation des Evangeliums nur „nichts Fremdes hineinrag(en)“ 571 zu lassen, macht dem in diesem Zusammenhang beschworenen „Wort Gottes“ den nötigen Bezug auf die Erfahrungs- und Lebenswelt des Menschen streitig, in die es doch hineinwirken soll. b) Ein weiteres Problem ergibt sich aus der religiösen und der theologischen Idiomatik 572 der Predigtsprache, gelegentlich als „Sprache Kanaans“ apostrophiert. Wortschatz und Wendungen dieses „Sprachcodes“ entstammen u. a. den Texten des Alten und Neuen Testaments, in einer Übersetzung, deren letzte Revision vor der Mitte des 20. Jahrhunderts liegen dürfte. Sie äußert sich in einem klischee- 569 E. Thurneysen, 1971, 116. 570 Vgl. die in I.1 dargestellten Voraussetzungen. 571 Vgl. K. Barth, 1986, 107. 572 Vgl. bereits die Problemanzeige I.5.1.1. <?page no="285"?> 285 5.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik haften, heute floskelhaft wirkenden Reden von Gott, vom Glauben und vom Menschen. Hans-Rudolf Müller-Schwefe resümierte schon 1957: „Es ist verräterisch, dass diese Sprache Kanaans meistens von Menschen gesprochen wird, die nicht eigentlich die moderne Welt angenommen haben. Das ist doch dann vielleicht ein Stück Verrat, nicht nur an sich, den Menschen, sondern ein Stück Verrat an dem Herrn, denn der Herr will in unserer Zeit lebendig werden.“ 573 Was im Rahmen theologischer Systeme plausibel ist, kann außerhalb dieses Systems völlig unverständlich sein. Auch solches Reden bleibt aber nicht ohne Wirkung, es kann zur faktischen Exkommunikation der Predigthörer führen und dadurch eine die Gemeinde verstörende, asoziale Note bekommen. Karl Barth geht in seiner Homiletik nicht auf die gestalterischen Möglichkeiten der Sprache, dafür aber auf „das Problem der Sprache“ ein. Den vom Hörensagen aufgegriffenen Einwand 574 gegen „abstrakte“, „theologische“ Predigten weist er mit dem Argument zurück, dass es in der Predigt schließlich um eine „ernste Sache“ gehe, für ihn Grund genug, vor abweichlerischer, individueller Sprache zu warnen: „Selbsterlebte Geschichten“ seien „besonders gefährlich“. „Vorsicht gilt auch für Eingriffe in das Leben der Hörenden.“ 575 Dass es für die Wirkung der Predigt positive Folgen haben könnte, „dass unsere Individualität und unser Ort zur Sprache kommen“ 576 , ist nicht im Blick. Gert Otto hat demgegenüber deutlich gemacht, dass die notorische Nonchalance und methodische Abstinenz Barths, Thurneysens und anderer gegenüber sprachlichen Bemühungen - gegen deren eigene theoretischen Maximen - in der Praxis durchaus mit höchst individueller und „expressionistischer Rhetorik“ 577 einhergehen konnte. c) Das Theorem der Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes hat andere theologische Prämissen der Homiletik lange Zeit so stark verdrängt, dass man der Predigtsprache als individueller Ausdrucksweise eines Einzelnen kaum Aufmerksamkeit schenkte. Man hat sogar gemeint, auf „persönliche Einfärbungen“ der Predigt gänzlich verzichten zu können. Stattdessen wurde den Predigern nahe- 573 H.-R. Müller-Schwefe, 1957, 46. 574 Die Probleme der Predigtsprache, v. a. ihre mangelnde Anschlussfähigkeit an die je zeitgenössische Lebenswelt, wurden seit den 40er Jahren in Theologie und Kirche intensiv diskutiert. Vgl. beispielsweise die aufschlussreichen Ausschnitte aus der Generaldebatte der Lutherischen Generalsynode (vgl. Lutherisches Kirchenamt Hannover, 1957, 59-78). 575 K. Barth, 1986, 107 f. 576 A. a. O., 108. Für Barth impliziert eine solche individuale Markierung nur ein großes „Kurven machen um die große Kurve des Textes“ (ebd.). 577 G. Otto, 1999, 73 f. <?page no="286"?> 286 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt gelegt, die „Wirkungsabsicht des Wortes Gottes“ - wie sie aus den biblischen Texten hervorgehe - nicht durch eigene Intentionen zu gefährden und stattdessen darauf zu bauen, dass dieses Wort sich auch im Predigtprozess „selbst in der Hand behält“ 578 . Demgegenüber sind die unter I.2 zur Person des Predigers und zur kommunikativen Kompetenz erörterten Probleme unter sprachlichen Gesichtspunkten noch einmal zuzuspitzen: Es sind - von außen betrachtet - zunächst sprachliche Merkmale, die eine Predigt als distanzschaffend, umarmend, zwanghaft oder schrankenlos erscheinen lassen. Das heißt nicht, dass man eine bestimmte Wirkung der Predigt mit ein paar rhetorischen Kniffen erzwingen könnte, aber man kann mit den Mitteln der Sprache für die Verständlichkeit der Predigt sorgen, die deren Wirkung entscheidend mitbedingt. Es ist eine Frage des Gebrauchs sprachlicher Mittel, den Inhalt einer Predigt und ihre Form, ihren Stil, ihre Gestaltung aufeinander abzustimmen, damit die faktische Wirkung der Kanzelrede ihrer Intention nicht zuwiderläuft, sondern zu ihr passt. Wer hingegen die Unerheblichkeit des Redenden für eine konstitutive Gegebenheit der Kommunikation des Evangeliums 579 und die Absichtslosigkeit des Predigers für eine Tugend hält, läuft Gefahr, unverständlich zu reden und infolgedessen auf der Kanzel unkontrolliert zu agieren. Vor diesem Hintergrund ist Albrecht Grözingers Forderung einer „theologischen Sprachlehre“ 580 verständlich. Er hält es für eine Aufgabe theologischer Anthropologie, die „menschliche Sprache in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und zu bewahren“. Wer sich nicht um „die Sprache des menschlichen Menschen“ bemühe, laufe Gefahr, sie letztlich in falscher Weise theologisch zu überhöhen. 581 Damit dies nicht geschieht, sollen nun einige der Perspektiven dargestellt werden, in denen die Sprache der Predigt reflektiert werden kann. 578 H. J. Iwand, 1979, 494 f. 579 Vgl. zu diesen und anderen homiletischen Mythen W. Engemann, 1993a, 142-149. 580 Vgl. A. Grözinger, 1991, 233-235. 581 A. a. O., 234. <?page no="287"?> 287 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 5.3.1 Predigen und Handeln Homiletisches Verhalten ist zu einem großen Teil ein Verhalten durch Sprache. Weil dieses Verhalten durch Sprache von einem bestimmten Interesse geleitet ist und auf Wirkungen zielt, kann man auch sagen, dass es um Verhalten im Sinne sprachlichen Handelns geht: Wer predigt, handelt, indem er spricht. Die Pragmatik fragt, wie Menschen durch den Gebrauch der Sprache agieren. Die Homiletik fragt dementsprechend nach den Konsequenzen, die sich aus der Einsicht in den Zusammenhang von Sprechen und Handeln für die Beurteilung und Gestaltung von Predigten ergeben. a) Die Grundthese und ihre Begriffe Ein verbreitetes Modell zur Erarbeitung homiletisch relevanter Maximen für sprachlich gelingendes Predigen ist die Sprechakttheorie. Ihre Urschrift, John L. Austins Buch How to do things with words 582 , geht von der Beobachtung aus, dass Menschen, indem sie etwas sagen, etwas tun. 583 Eine Äußerung kann also nicht nur im Hinblick auf das, was sie inhaltlich konstatiert, verstanden und für wahr oder falsch befunden werden. Man kann auch ihre Funktion bestimmen, indem man untersucht, wie das Gesagte auf den Kommunikationspartner wirkt und gestaltend in bestimmte Situationen eingreift. In diesem Sinne kann man von Äußerungen wie von Handlungen sprechen. Sie werden im Moment des Sprechens vollzogen und - weil der Sprechende der Agierende ist - häufig durch die 1. Person Präsens Indikativ Aktiv angezeigt: „Ich nehme die Wahl zum Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens an.“ „Wir erklären den Angeklagten für schuldig.“ „Ich ernenne Sie hiermit zum Minister für auswärtige Angelegenheiten.“ „Ich vermache dir für die nächsten vier Semester mein Zimmer.“ „Ich verpflichte Sie hierdurch, 3500-Euro Schadenersatz zu leisten.“ Wo solche Sätze gesprochen werden, geschehen entscheidende Dinge. Für einzelne Personen wie für Mitbetroffene ändert sich Grundlegendes. Ihre Wirklichkeit wird - zumindest in bestimmten Bereichen - eine andere. Eine wichtige 582 Dieser Text ist die Nachschrift einer Vorlesung Austins aus dem Jahr 1955 (dt. J. L. Austin, 1979). Bekannt und wirksam geworden ist die Sprechakttheorie vor allem durch John R. Searles Schrift Speech acts (dt. J. R. Searle, 1971). 583 Vgl. J. L. Austin, 1979, 112. <?page no="288"?> 288 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Pointe der Sprechakttheorie liegt in der Überzeugung, dass nicht nur dann mit Sprache agiert wird, wenn ein Wort wie hiermit oder ein bestimmtes Verb (ernennen, vermachen) die Handlung anzeigt. Sprechhandlungen liegen immer vor, wenn Menschen über das Medium der Sprache zueinander in Beziehung treten. Hierin zeigt sich die unauflösliche Verschränkung der Inhalts- und Beziehungsebene menschlicher Kommunikation: Wer redet, tritt nolens volens einem anderen Menschen gegenüber in Aktion. Dabei lassen sich drei Aspekte voneinander unterscheiden: 1. Lokution bzw. lokutionärer Akt: Als „locutionary act“ 584 bezeichnet Austin den Umstand, dass überhaupt etwas sprachlich ausgedrückt wird. Der lokutionäre Akt ist mithin die physikalisch aufweisbare Äußerung selbst. 2. Illokution bzw. illokutionärer Akt: Sätze werden immer in einer bestimmten Absicht mitgeteilt. Die Absicht eines Satzes geht nicht unbedingt aus seinem Wortlaut selbst hervor, kann dann aber in der Regel aus der Situation sowie aus bestimmten Kennzeichen der Äußerung wie z. B. dem Ton der Stimme oder dem Modus des Satzes (Frage, Wunsch, Befehl usw.) erschlossen werden. Der illokutive Aspekt macht also deutlich, wie die Äußerung gemeint ist. 585 3. Perlokution oder perlokutionärer Akt: Wo etwas in einer bestimmten Absicht geäußert und verstanden wird, wird eine bestimmte Wirkung erzielt und Einfluss auf Menschen genommen. Die Reaktion der Kommunikationspartner ist einkalkulierter Teil der Verständigung. Bei diesen Unterscheidungen handelt es sich nicht um verschiedene Sprechakte, sondern um Teilakte, die den Sprechakt als Ganzen konstituieren und simultan ablaufen. Dabei beeinflussen die illokutionären Akte den Verlauf der Kommunikation besonders stark. Sie definieren in gewisser Weise die eigentlichen Belange der Verständigung. Menschen reagieren in der Regel zunächst auf das, was sie (auf der illokutionären Ebene) als Motive und Ziele ihrer Kommunika- 584 Vgl. J. L. Austin, 1979, 110-116, 119-125, 131, 142 f. 585 Vgl. J. L. Austin, 1979, 116-125, 127-136 und J. R. Searle, 1972, 153 f., 159. Im Grunde geht es hier um die allgemeine semiotische Tatsache, dass Verstehensakte (soweit es um Verständigung durch Sprache geht) auf sprachlichen Zeichen als physischen Entitäten, also auf der Ebene der Signifikanten basieren. Man versteht, indem man die wahrgenommenen Ausdrucksformen (in diesem Fall die gesprochenen Worte) mit etwas verbindet, was die Lokution selbst nicht bietet (daher il-lokutiver Akt), was daher anhand von Codes erschlossen bzw. ergänzt werden muss. <?page no="289"?> 289 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven tionspartner erfassen, dann erst auf die Gegenstände, die auf der Inhaltsebene traktiert werden. 586 In diesem Zusammenhang müssen wir uns einen letzten wichtigen Aspekt vergegenwärtigen, der häufig in seinem Bezug zum illokutionären Akt dargestellt wird. Es handelt sich um die Proposition bzw. den propositionalen Akt: Im Rahmen einer Äußerung werden bestimmte Inhalte benannt. Wer etwas sagt, bezieht sich auf Gegenstände der Rede. Man nennt diesen Akt „Proposition“, weil es hier um die in der Kommunikation „vorgestellten“ Sachverhalte geht. Die Relation zwischen dem Inhalt (p) und der Funktion (F) einer Aussage bildet die Basis der Definition von Sprechakten: Ein Sprechakt ist eine sprachliche Äußerung, die einen Gegenstandsbezug mit einer kommunikativen Funktion aufweist: F(p). Man kann sich diese z. T. abstrakten Zuordnungen im Sinne einer Arbeitshypothese folgendermaßen vor Augen halten: Abb. 15: Die Teilakte eines Sprechakts Ein Beispiel soll die unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Teilakte vergegenwärtigen: Wer sagt, „Jesus kommt“, macht zunächst eine Äußerung (lokutionärer Akt) und beteiligt sich damit an einem bestimmten Diskurs. Der Satz hat einen abgrenzbaren Gegenstandsbereich, einen konkreten Inhalt, der anhand theologischer Lehrbücher und Lexika präzisiert werden kann (propositionaler Akt). Sobald dieser Inhalt nicht nur (z. B. in einem Buch oder im „stillen Kämmerlein“) konstatiert, sondern in lebendige Kommunikation eingebracht 586 Vgl. A. Linke u. a., 1996, 201. <?page no="290"?> 290 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt wird, also in eine „Rede zu jemandem hin“ 587 einfließt, tritt sein intentionaler Charakter hervor. Dabei wird angezeigt, wie der Satz, „Jesus kommt“, gemeint ist (illokutionärer Akt). Auch ohne die nachstehenden handlungsanzeigenden Verben kann mit diesem Satz gewarnt, getröstet, Hoffnung geweckt oder geklagt werden: „Ich bezeuge: Jesus kommt.“ „Ich warne euch: Jesus kommt! “ „Wie bin ich dankbar dafür, dass Jesus kommt.“ „Ich gebe zu bedenken: Jesus kommt.“ „Darauf setze ich meine Hoffnung: Jesus kommt! “ „Ich beklage: Jesus kommt - und keiner nimmt ihn wahr.“ „Ich behaupte, Jesus kommt, und damit basta! “ Dem illokutionären Akt kommt eine Weichenstellung im kommunikativen Handeln zu. Er gibt der Äußerung die Richtung vor, er entscheidet darüber, wie das Gesagte aufzufassen ist. Der letzte Teilakt, die Perlokution bzw. der perlokutionäre Akt, der im Fortwirken der Äußerung auf Seiten des Angesprochenen besteht, liegt nicht mehr allein in der Hand des Redenden. Der Spielraum zwischen illokutionärem und perlokutionärem Akt ist das Feld der zwischenmenschlichen Kommunikation. In der Regel - dies darf angesichts der kritischen Analysen, die man auch in der Homiletik mit Hilfe der Sprechakttheorie vorgenommen hat, nicht übersehen werden - kommt es dazu, dass eine Äußerung gemäß ihrer tatsächlichen Intention verstanden wird 588 , das heißt freilich: so, wie sie im illokutionären Akt zum Ausdruck kommt. Überwundene Differenzierungsprobleme: Austins Versuch, gesprochene Sätze in einerseits (nur) konstatierende Äußerungen und andererseits illokutionäre Handlungen einzuteilen 589 , hat sich nicht durchhalten lassen. Denn (1.) nicht Sätze an sich sind konstativ (wahr oder falsch) oder illokutiv (handlungsorientiert), sondern die Äußerung der Sätze in einer bestimmten Situation ist für ihre Beurteilung ausschlaggebend. (2.) Wer Handlungen vollzieht, kann gleichzeitig auch etwas konstatieren: Die Feststellung, „Sie predigen ohne Manuskript“ kann auf der unausgesprochenen, illokutionären Ebene z. B. bedeuten: „Sie sind offenbar nur zu faul, sich gewissenhaft auf den Gottesdienst vorzubereiten.“ Ebenso kann diese Feststellung Bewunderung für die Beherrschung der Kunst freie Rede zum Ausdruck bringen. Die Aussage, „Sie predigen ohne Manuskript“, 587 B. Casper unterscheidet in seiner Rezeption der Sprechakttheorie zwischen dem lokutionären Akt als „Rede einfachhin“ und dem illokutionären Akt als „Rede zu jemandem hin“ (B. Casper, 1975, 53). 588 Für das Predigtgeschehen wird dies durch entsprechende Befragungen bestätigt. Vgl. K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski u. a., 1983, 184. 589 Vgl. J. L. Austin, 1979, 164 f. Austin spricht hier von „konstativen“ und „performativen Äußerungen“, eine Unterscheidung, die sich freilich weitgehend mit der Unterscheidung in Lokutionen und Illokutionen deckt. <?page no="291"?> 291 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven kann auch - die Kommunikationssituation schafft hier in der Regel Klarheit - unter konstatierenden bzw. vergewissernden Gesichtspunkten getroffen werden und somit nicht als Beleidigung oder Lob, sondern als wahr oder falsch beurteilt werden. (3.) Man kann umgekehrt jede Feststellung in einen illokutionären Akt betten, sofern alles, was man sagt, je nach Redesituation eine Anerkennung oder einen Tadel, eine Aufforderung oder eine Mahnung usw. implizieren kann. Dass ich etwas Wahres oder Falsches über die Welt äußere, steht nicht im Widerspruch dazu, dass ich damit zugleich auch eine wertende Aussage über die Adressaten meiner Äußerung mache. Man kann demnach die Bedeutung und Funktion von Äußerungen nicht ausreichend erfassen, wenn man ausschließlich ihren Inhalt feststellt und ihn als falsch oder richtig beurteilt. Das liegt nicht nur daran, dass es zahlreiche Sätze gibt, die einen sehr vagen propositionalen Gehalt haben (wie z. B. ein Gruß, eine Gratulation - sprachliche Äußerungen, die für die Gestaltung menschlicher Beziehungen außerordentlich wichtig sind), sondern vor allem daran, dass eine Äußerung erst verstanden werden muss, bevor sie wirksam werden kann. Die Beurteilung eines Sprechaktes kann - analog zu den oben genannten vier Teilaspekten - auf vier Ebenen vorgenommen werden: Funktionen von Sprechakten nach ihren Teilaspekten Teilakt Ebene der Beurteilung Fragestellung Lokution (Äußerung selbst) Ebene der Gestaltung Wodurch erweckt das Gesagte Aufmerksamkeit? Proposition (Inhaltsbezug) Ebene der Wahrheit Ist das Gesagte wahr oder falsch? Illokution (Handlungsorientierung) Ebene der Intention Was wird mit dem Gesagten beabsichtigt? Perlokution (Wirkung) Ebene der Wirkung Zu welchem Verhalten führt die Äußerung? Abb. 16: Funktionen von Sprechakten nach ihren Teilaspekten Zu den ersten homiletischen Folgerungen aus der Sprechakttheorie gehört die Einsicht, dass sich ein Prediger nicht nur darüber im Klaren sein muss, was er zu sagen hat (Proposition) und wie er der Gemeinde die entsprechenden Inhalte nahebringt (Lokution). Er muss sich auch fragen, was er zu tun gedenkt. 590 Mit 590 Die Unverständlichkeit mancher Predigt rührt nach Henning Luther daher, dass sich Prediger oftmals nicht über Funktion und Wirkung der benutzten bzw. intendierten <?page no="292"?> 292 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt anderen Worten: Er muss die Funktion der Predigt klären und erwägen, wie er mit den Hörern umgehen soll (Illokution), welche Fortsetzung seine Predigt im Handeln der Gemeinde finden kann (Perlokution). Sofern wir, indem wir sprechen, Wirklichkeit gestalten, von der die Angesprochenen immer mitbetroffen sind, stellt sich auch die Frage nach einer hinreichend verantworteten Redeabsicht. Wenn Predigerinnen und Prediger auf der Kanzel zu Werke gehen, sollten sie bedenken, dass sie „in der Tat“ in Geschichten „eingreifen“ und vielleicht sogar auf Geschicke einwirken. Die illokutionären Akte der Predigt gehen jedenfalls nie spurlos am Hörer vorüber. b) Zur Einteilung und homiletischen Relevanz der Sprechakte An dieser Stelle müssen wir zunächst nach der eigentlichen Bezugsgröße der Sprechakttheorie fragen: Geht es um einzelne Sätze oder auch um größere sprachliche Einheiten? Kann also auch die Predigt als ganze als Sprechakt begriffen werden? Die Antwort von Seiten der Sprechakttheorie ist ziemlich eindeutig: „Die Sprechakttheorie kommt vom Satz her und dreht sich immer ungefähr um den Satz.“ 591 Dieses Fazit kann man natürlich kritisieren. 592 Schließlich ist es auch rhetorisch möglich, die sprachliche Gestalt einer Predigt als Ganze zu fassen. Dies geschieht, wenn man etwa lernpsychologische, narratologische, dialogische und andere Strategien bei der Erarbeitung oder Analyse einer Predigt konzeptionell in den Blick nimmt. Man sollte jedoch von einer Theorie nicht Lösungen für alle in Bezug auf die sprachliche Gestalt der Predigt anfallenden Fragen erwarten Sprechakte im Klaren sind (vgl. H. Luther, 1989, 227). 591 A. Linke u. a., 1996, 188. „Bis heute ist es mit dem Instrumentarium der Sprechakttheorie schwierig, die kommunikative Funktion von längeren Äußerungen zu bezeichnen“ (a. a. O., 195). Aufgrund der starken Orientierung an der konkreten Kommunikationssituation ist es zudem nur beschränkt möglich, die Erkenntnisse und Methoden der Sprechakttheorie auf geschriebene Texte (wie z. B. Predigtmanuskripte) zu übertragen. Im Grunde gehört zur konkreten Anwendung der Sprechakttheorie in der Homiletik die Wahrnehmung der originalen Sprechsituation. Angesichts der komplexen Einbettung von Sprechakten in ein ganzes Ensemble sprachlicher Zeichen und sie interpretierender Konventionen können aber immerhin einige Grundmuster bzw. Stereotypen der homiletischen Praxis, die Sprechakte betreffend, in den Blick genommen werden. 592 Zu den Homiletikern, die Kritik an Austins und Searles satzbezogener Behandlung der Sprechakte üben, gehört O. Fuchs (1978, 124, 132). <?page no="293"?> 293 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven wollen. Angesichts der begrenzten Fragestellungen entsprechender Modelle ist es angebrachter, die spezifische Leistung einzelner Modelle zur Analyse und Bewältigung ganz bestimmter Probleme sprachlicher Kommunikation in Anspruch zu nehmen. Auf einer anderen Ebene liegt die Frage, ob sich in einer Kette sprachlicher Äußerungen, wie sie z. B. in einer Predigt vorliegen, nicht Hierarchien und Dominanzen bezüglich der so wichtigen illokutionären Sprechakttypen nachweisen lassen, die das Kommunikationsgeschehen insgesamt prägen. Dies zu bejahen gehört zu den Voraussetzungen einer auf die Sprechakte bezogenen Form der Predigtanalyse. 593 Predigt ist u. a. ein Verhalten durch Sprechen, bei dem den Hörern auf der illokutiven Ebene ein Gesamteindruck vermittelt wird, auf den sie reagieren. Ein weiterer Streitpunkt bei der Rezeption der Sprechakttheorie in der Homiletik ist die Frage, ob man nicht besondere religiöse Sprechakte postulieren 594 oder wenigstens an einem „Sprechakt der Verkündigung“ 595 festhalten müsse. Ich halte beide Ansichten für problematisch. 596 Die faktische Unterteilung sprachlicher Aktionsformen in religiöse und profane kollidiert (1.) sowohl theologisch mit dem Wesen und Mitteilungscharakter der Predigt als Kommunikationsgeschehen als auch (2.) linguistisch mit dem Kern der Sprechakttheorie. Zu 1.: Die Kommunikation des Evangeliums basiert ebenso wenig wie die Kommunikation mit Gott auf „sondersprachlichen Anforderungen“: Wer predigt oder betet, tut dies z. B. in Akten des Bittens oder Dankens oder Erzählens, also in Handlungen, die generell zum Kommunikationsrepertoire eines Menschen gehören. Zu 2.: Einer der Vorzüge der Sprechakttheorie liegt gerade darin, dass 593 Vgl. dazu II.1.2. 594 Vgl. z. B. M. Kaempfert, 1972. 595 Vgl. J. Kleemann, 1973, 101 f. 596 Zu den Kritikern der hier problematisierten Unterscheidung gehört auch I. U. Dalferth: „Religiöse Sprechhandlungen sind […] nicht als konkrete Verwirklichungen religiöser Sprechhandlungsmuster, sondern als qualifizierte Realisierungen von Sprechhandlungsmustern des Behauptens, Befehlens, Fragens usw. zu erklären.“ Ihr religiöser Charakter „lässt sich nicht […] sprachlich spezifizieren“ (I. U. Dalferth, 1979, 108; Hervorhebungen W. E.). Unabhängig davon macht es durchaus Sinn, die besonderen Möglichkeitsbedingungen religiöser Sätze zu beschreiben und die Funktion der dabei zur Geltung kommenden Sprechakte zu bestimmen, wie S. Gärtner in seiner aufschlussreichen Studie zur „Gottesrede“ gezeigt hat (vgl. S. Gärtner, 2000, z. B. 213-221). Gärtner spricht in diesem Zusammenhang angemessenerweise nicht von Sprechakten, sondern von „elenchischen, paränetischen“ u. a. Sprachformen (220). <?page no="294"?> 294 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt sie universale Handlungsformen aufzuzeigen vermag, die unabhängig vom Inhalt deutlich machen, wie Menschen miteinander, mit sich selbst - und mit „Gott“ - umgehen. Folglich sollte man nicht von religiösen Sprechakten reden, sondern vielleicht von Sprechakten mit religiöser Dimension (wie z. B. eine Bitte im Rahmen eines individuellen Gebets) und in religiösen Kontexten (wie z. B. eine öffentliche Klage 597 im Rahmen eines politischen Nachtgebets). Nach diesen Vorverständigungen können wir uns nun der Frage nach der Einteilung der Sprechakte zuwenden. Es sind verschiedene Versuche unternommen worden, die in der menschlichen Kommunikation praktizierten Sprechakte zu klassifizieren. Die dabei erarbeiteten Typologisierungen beziehen sich wiederum auf die jeweiligen illokutionären Funktionen der Sprechakte. Wenn wir danach fragen, welcher Klasse ein Sprechakt zugeordnet werden muss, gilt unser Interesse also dem Aktionsspektrum des Redenden. Im Laufe der Entwicklung der Sprechakttheorie haben sich vor allem die Typologien von John R. Searle 598 und Jürgen Habermas 599 durchgesetzt. In dem gegenüberliegenden Schema werden die Gliederungsvorschläge beider Modelle aufeinander bezogen. 597 Vgl. grundsätzliche Überlegungen zur Relevanz der Klage in Liturgie und Predigt bei S. Brown, 2005. 598 Vgl. J. R. Searle, 1996, 17-79. 599 Vgl. J. Habermas, 1971, 101-141; 1972, 214-216 und 1976, 246. <?page no="295"?> 295 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Sprechakttypen nach J. R. Searle Sprechmodus Sprechaktklassen nach J. Habermas Gebrauch und Geltungsanspruch Assertiva Unterstellte Voraussetzung der Kommunikation: Der Sprecher geht davon aus, dass p 600 der Fall ist. Sagen, Fragen, Antworten, Zustimmen, Einwenden, Zitieren usw. Kommunikativa ermöglichen den Fortgang und die Strukturierung der Kommunikation überhaupt. pragmatischer Sprachgebrauch mit dem Interesse, Rede als solche kenntlich zu machen Behaupten, Berichten, Erzählen, Erklären, Beteuern, Bezweifeln, Verneinen, Versichern usw. Konstativa bringen Inhalte ins Spiel, indem sie sie in bestimmter Weise feststellen. kognitiver Sprachgebrauch mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit Direktiva Unterstellte Voraussetzung der Kommunikation: Der Sprecher will den Hörer dazu bewegen, p zu tun. Auffordern, Bitten, Ermahnen, Raten, Empfehlen, Versichern usw. Regulativa definieren insofern das Beziehungsverhältnis zwischen den Kommunikationspartnern, als diese bestimmte Regeln befolgen oder verletzen. interaktiver Sprachgebrauch mit dem Geltungsanspruch der Richtigkeit Kommissiva Unterstellte Voraussetzung der Kommunikation: Der Sprecher nimmt sich selbst in die Pflicht und will p entsprechend agieren. Versprechen, Entschuldigen, Verzeihen usw. Expressiva Unterstellte Voraussetzung der Kommunikation: Der Sprecher bringt seine Befindlichkeit im Blick auf p (bzw. mit p) zum Ausdruck. Denken, Meinen, Hoffen, Fürchten, Wünschen, Gestehen, Bekennen, Loben, Klagen usw. Repräsentativa dienen der Selbstkundgabe des Sprechers vor den Hörern. expressiver Sprachgebrauch mit dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit und Unglaubwürdigkeit Deklarationen Unterstellte Voraussetzung der Kommunikation: Der Sprecher ist institutionell eingebunden und stiftet mit p eine neue Wirklichkeit. Ernennen, Berufen, Taufen, Trauen, Verurteilen usw. Abb. 17: Einteilung der Sprechakte nach Searle und Habermas Sprechakte können grundsätzlich auf zweierlei Weise ausgedrückt werden, womit wiederum die oben erläuterte illokutive Ebene näher bestimmt wird: 600 Wie oben ausgeführt, steht „p“ für den Inhalt bzw. die Proposition einer Aussage. <?page no="296"?> 296 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Direkte Sprechakte sind solche, die formal - durch handlungsanzeigende Verben, durch den Modus der Äußerung (Optativ, Imperativ, Frage usw.) oder entsprechende Partikel (hiermit, hoffentlich, bitte usw.) - anzeigen, was sie intendieren. Indirekte Sprechakte sind solche, die mit dem Angesprochenen etwas anderes „anstellen“ können, als sie von den formalen Indikatoren her vorgeben: Sie hören sich an wie ein Rat, sind aber eine Drohung: „Ich rate dir, mich nicht für dumm zu verkaufen.“ Sie scheinen eine höfliche Bitte oder Frage zu sein, sind aber ein kategorisches Verbot: „Darf ich dich bitten, dich aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten? “ Die beabsichtigte Handlung, der illokutionäre Akt, deckt sich also nicht mit den Illokutionsindikatoren. Die indirekten Sprechakte sind für die Homiletik - insbesondere für die Predigtanalyse - von besonderem Interesse. Mit Bezug auf diese Art der Sprechakte kann man nachvollziehen, wie es kommt, dass die Äußerungen eines Predigers anders verstanden werden als ihre Propositionen es nahelegen. 601 Zur homiletischen Zwischenbilanz aus der Sprechakttheorie gehören zunächst drei Beobachtungen: 1. Von der reichen Palette an möglichen Sprechakten kann nicht auf entsprechend abwechslungsreiche Sprechhandlungen im allgemeinen Predigtgeschehen geschlossen werden. H. W. Dannowski analysiert auf der Basis umfassender Einzeluntersuchungen 602 „eine starke Dominanz der ,Behauptungsrede‘ in der heutigen Verkündigung“. Andere, für die Predigtkommunikation zumindest ebenso wichtige Akte (des Fragens, des Hoffens, des Klagens, des Bekennens usw.) finden kaum Verwendung. „Die Überbetonung der Konstativa zuungunsten der Regulativa schränkt die Handlungskompetenz der Predigt ein.“ 603 Dadurch gerät der Kommunikationsprozess Predigt in erhebliche Schwierigkeiten. Und zwar nicht nur, weil ein Sich-Verständigen und Verstehen, persönliches Zeugnis und notwendige Handlungsimpulse nur begrenzt auf bloßes Behaupten zurückgreifen können (von den pastoralpsychologischen Implikationen zwanghaft-dominanter Kanzelrede ganz zu schweigen), sondern auch, weil einer mündigen Gemeinde eine Einsicht in die Begründungen solcher Behauptungen zusteht. Bemerkenswerterweise war den 601 Das gleiche Phänomen wird in der Transaktionsanalyse als „verdeckte Transaktion“ (im Jargon: „Galgentransaktion“) bezeichnet. Vgl. W. Engemann, 1992a, 66 f. 602 Vgl. K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski u. a., 1983, 124-186. 603 H. W. Dannowski, 1985, 122 f. „Je weniger Fragen die Gemeindeglieder an die Verkündigung haben, umso mehr behauptet die Predigt. Behauptung aber wird dann zur Selbstbehauptung“ (a. a. O., 122). <?page no="297"?> 297 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Predigern, die sich auf eine sprechakttheoretische Analyse ihrer Predigten eingelassen hatten, nach eigenem Bekunden oftmals nicht bewusst, in welchem Maße sie im Behauptungsstil kommuniziert hatten. 604 Der vom Prediger intendierte Sprechakt stimmt also nicht zwangsläufig mit dem vom Hörer wahrgenommenen überein. 2. Die Predigt kann als Kommunikationsgeschehen nicht allein behauptend bewältigt werden, sondern bedarf des ganzen Spektrums von Sprechakten, um je unterschiedliche Mitteilungsabsichten personen-, sach- und situationsbezogen verdeutlichen zu können. Man kann in den Texten des Alten und Neuen Testaments - in denen es wie in der Predigt um Glaubenskommunikation geht - zahlreiche Muster für den quasi homiletischen Gebrauch unterschiedlichster Sprechakte finden. 605 Den expressiven Sprechakten kommt dabei eine hervorgehobene Bedeutung zu, weil sie der Zeugnisfunktion der Predigt in besonderem Maße dienen. 606 3. Als institutionsspezifische Rede steht die Predigt in einer Kommunikationssituation, in der seitens der Hörer spezifische Rezeptions-Gewohnheiten zur Geltung kommen. Dies kann sich im Einzelfall erschwerend auf die Realisierung des gesamten Spektrums der in einer Predigt zur Geltung kommenden Sprechakte auswirken. Zwar kann man die Predigt als Ganze nicht einfach als „institutionellen Sprechakt“ bezeichnen; dies setzte voraus, dass die Predigt qua Institution (1.) immer etwas Bestimmtes bewirkte, was (2.) nicht auch auf andere Weise als nur durch ordinierte Geistliche zuwege gebracht werden könnte. Andererseits trifft es zu, dass von der Predigt eine Wirklichkeit gestaltende Wirkung erwartet wird, 607 und dass Prediger dazu 604 Vgl. K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski u. a., 1983, 184. 605 Vgl. hierzu besonders die Psalmen, in denen ebenso gezweifelt wie Zuversicht geäußert, geklagt und gelobt, gewarnt wie ermutigt wird usw. Es ist bemerkenswert, dass man dieses Buch, in dem ausgesprochen belehrende Sprechakte keineswegs dominieren, auch als „Belehrungs- und Erbauungsbuch“ benutzt hat (vgl. H. Seidel, 1980, 60). In diesem Zusammenhang ist außerdem darauf hinzuweisen, dass das Beten, Verlesen und Meditieren der Psalmen von den Betern bewusst als „Sprachhandlung“ vollzogen wurde (vgl. ders., 1980, 45-57). 606 Hier zeigen sich deutliche Berührungspunkte zwischen der Sprechakttheorie und dem oben (I.2.3.3-I.2.3.5) für sprachliche Zeichen erörterten Organon-Modell von Karl Bühler. Zum Zusammenhang zwischen expressiven Sprechakten und Glaubwürdigkeit des Predigers bzw. der Predigt vgl. auch H. Luther (1989, 234). 607 Vgl. G. Hornig, 1982. <?page no="298"?> 298 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt neigen, dieser Wirkung mit entsprechend deklaratorischer Sprache nachzuhelfen bzw. dass Hörer auch nicht-deklaratorische Sätze gelegentlich als Behauptung hören, weil da eine Amtsperson redet. Angesichts der faktischen institutionellen Grundierung der Sprechakte der Predigt ist es wichtig, sich über das eigene Rollen- und Selbstverständnis Rechenschaft abzulegen. 608 In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie stark die sprachliche Wirkung der Predigt durch außersprachliche Faktoren mitbedingt wird. Die theologisch und sprachtheoretisch beschreibbare Wirkung der Predigt auf die menschliche Existenz wird nicht durch die Institution des Predigtamtes oder der Kirche erzwungen, sondern kann immer nur als Ziel der Kommunikation des Evangeliums angestrebt werden. Das ergibt sich schon aus der Definition der Perlokution als Teil eines vollständigen Sprechakts: Ohne das Interesse und Engagement des Hörers für das, was verstanden werden soll, geht die Predigt ins Leere. Das bedeutet z. B. für Sprechakte mit Verheißungs- und Zusage- Charakter, dass ihr Sinn sich erst erfüllt, wenn der Hörer sich „zu neuem und anderem Handeln“ ermutigen lässt, dessen Zukunft in der Verheißung vorweggenommen wird. 609 c) Zur Frage nach dem Gelingen von Sprechakten Vor diesem Hintergrund ist nun zu fragen, was im Einzelnen zum Gelingen von Sprechakten gehört. Zu den grundlegenden Voraussetzungen gelingender Sprechakte gehört es, dass die Bedingungen vor allem folgender Regeln 610 als erfüllt gelten können: 608 Vgl. K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski u. a., 1983, 91. Die in der Homiletik bislang kaum rezipierte Soziolinguistik untersucht u. a. den Zusammenhang zwischen den „Rollenbeziehungen“ der Kommunikationspartner und den zwischen ihnen sich etablierenden Sprechakten. Dabei spielen die „der Interaktion zugrunde liegenden Macht- und Statusverhältnisse“ eine besondere Rolle, wie man insbesondere bei auffordernden Sprechakten zeigen konnte (vgl. G. Hindelang, 1978, 106). Eine Besinnung auf die einerseits latenten, andererseits theologisch angemessenen Rollendefinitionen kann demnach durchaus ein Akt von Kommunikationshygiene sein. Eine prinzipiell noch immer relevante soziolinguistische Untersuchung stellt der homiletische Beitrag von Ernst Öffner (1979) dar. 609 Vgl. R. Wonneberger/ H. P. Hecht, 1986, 149-194, 207. 610 Hierbei handelte es sich um eine eigene Zusammenstellung aus verschiedenen Vorschlägen (vgl. z. B. A. Linke u. a., 1996, 190 und H. P. Grice, 1979b, 16-52). <?page no="299"?> 299 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 1. Propositionsregel: Das Gelingen eines Sprechaktes setzt voraus, dass der Inhalt (Proposition) einer Äußerung zu ihrem Handlungsvollzug (Illokution) passt: Ein Versprechen muss sich auf etwas Zukünftiges beziehen, ein Urteil auf etwas Geschehenes, ein Rat auf eine noch nicht in den Blick genommene Handlung. In vielen Fällen krankt die Predigtkommunikation daran, dass die dargestellten Inhalte nicht den sprachlich vollzogenen Handlungen entsprechen. So ist es z. B. nicht kommunizierbar, wenn Äußerungen, die die Funktion einer Verheißung haben und Erwartungen beteuern, in keiner Weise antizipatorisch sind, sich nur auf schon Geschehenes beziehen und nicht zu imaginieren vermögen, was es für die Zukunft bedeutet, heute aus Glauben zu leben - und sei es, dass die Zukunft im positiven Sinn offen, die Gegenwart also nicht eingefroren ist. 2. Initiationsregel 611 : Das Gelingen eines Sprechaktes setzt voraus, dass durch den Sprecher etwas bewegt, in Gang gesetzt, vollzogen wird, was sonst nicht in Gang käme bzw. nicht geschähe. Dazu bedarf es spezifischer personaler, institutioneller und kommunikativer Kompetenzen. Die Initiationsregel wird verletzt, wenn ein Prediger, wie man sagt, „Land auf dem Mond verteilt“ („Wer sich Gott anvertraut, wird die Himmelstür offen finden“), oder getauften Gemeindegliedern allsonntäglich ein neues „Ja zu Jesus“ abfordert: „Wenn ihr heute das ,Ja eures Lebens‘ sprecht, wird euer Name im Buch des Lebens aufgezeichnet werden.“ Demgegenüber ist es sowohl sprachlogisch als auch theologisch angemessen, wenn Prediger konkrete Hoffnungen zur Sprache bringen, die eine Aussicht eröffnen, Visionen, die den Charakter eines Bekenntnisses haben können, weil sie Mut erfordern und eine bestimmte, begründete Haltung erkennen lassen, die die Hörer zum Handeln anstiften kann. 3. Relevanzregel: Gelingende Sprechakte setzen voraus, dass der Sprecher etwas sagt, was für die Angesprochenen wirklich von Belang ist. Wer durch Reden in Aktion treten will, muss sich über den Zusammenhang zwischen anvisiertem Sprechakt und entsprechendem Bedarf - bzw. über ein entsprechendes Bewusstsein für den Sinn solchen Handelns - Rechenschaft ablegen. Wer biblische Texte vorzugsweise im Sprechakt der Erörterung ins 611 Der übliche, etwas missverständliche (deutsche) Begriff für diese Bedingung lautet sonst oft „Einleitungsregel“; vgl. A. Linke u. a., 1996, 190. <?page no="300"?> 300 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Spiel bringt, tut so, als ob die Hörer vor allem deshalb zum Gottesdienst kämen und eine Predigt hören wollten, weil sie an den theologischen Tiefen der jüdisch-christlichen Tradition interessiert seien. Trifft diese Voraussetzung nicht zu - was in der Regel anzunehmen ist -, werden die Hörer diesen Akt als fehlgeschlagene Kommunikation erleben. Wer zum Beispiel in bester Absicht einem Patienten im Krankenhaus verspricht: „Nächste Woche feiere ich mit Ihnen das Abendmahl“, kann bei dem Kranken u. U. Entsetzen auslösen, wenn dieser das Abendmahl vor allem als „Arznei der Unsterblichkeit“ angesichts des nahen Todes konnotiert. Indem die vom Sprecher unterstellte Relevanz beim Angesprochenen gleichsam „ausfällt“, kann das in jenem Satz liegende Versprechen sogar eine bedrohliche Komponente gewinnen. Die Liste solcher Regeln ließe sich noch erweitern, um die besonderen Bedingungen einzelner Sprechakte genauer in den Blick zu bekommen. Karl-Fritz Daiber hat sich beispielsweise näher mit überwiegend proklamierender Predigt befasst, die dem Hörer das Evangelium ausrichte, indem sie ihm die Vergebung der Sünden zuspreche. Dass sie als Kommunikation gelinge, hänge u. a. davon ab, „dass die Geltung derartigen religiösen Sprechens im Rahmen von vorgegebenen Institutionen nicht in Frage gestellt“ werde. Das heißt wiederum, dass dort, „wo religiöse Institutionen ihre Geltung verlieren, jedenfalls keine selbstverständliche Plausibilität mehr besitzen, die Vertrauenswürdigkeit des […] Predigers besondere Bedeutung gewinnt“ 612 . Daraus aber zu folgern, Prediger sollten in stärkerem Maße „die ihnen von den Hörern zuerkannte Autorität“ „für die Sprachhandlungen eines proklamatorischen Verkündigens“ nutzen, ist kein guter Rat. „Dass der dogmatisch bezeugende Predigttyp […] von den Hörern positiv erlebt werden kann“ 613 , ist nach allem, was zum Problem der personalen Kompetenz diskutiert wurde, kaum in eine Aufforderung zu mehr Proklamation umzuwerten. 614 Außerdem ist bezüglich des Involviert-Werdens in Sprachhandlungen zu unterstellen, dass bestimmte Wirkungen und Veränderungen nicht immer durch dieselben Sprechakte erzielt werden. Das heißt, dass beispielsweise die Erfahrung von Vergebung nicht nur aus von Amts wegen verlautbarten Deklarationen der Gnade hervorgeht. Menschen können auch im versöhnenden Gespräch und durch ein klärendes Wort untereinander oder durch eine narratologische Predigt einen anderen Blick auf sich selbst gewinnen und Vergebung erfahren. 612 K.-F. Daiber, 1991a, 249. 251. 613 A. a. O., 253 f. 614 M. Josuttis’ Bedenken hierzu haben ihre Gültigkeit behalten (vgl. 1988a, 81-87). <?page no="301"?> 301 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Die Hörer einer Predigt erfassen in jedem Fall nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch, warum es gesagt wird: um ihnen etwas zu erklären, um sie zu trösten, um sie zu etwas zu bewegen usw. Dies wiederum erkennen sie daran, wie es gesagt wird, am illokutionären Akt also. Das vom Prediger im Vorfeld der Kommunikation zu beantwortende Warum einer Äußerung impliziert eine Einschätzung der Hörer und definiert die Beziehung des Predigers zu ihnen mit. Insofern ermöglicht die Sprechakttheorie eine konkretere Erläuterung der Wirkung einer Predigt. Man kann die bewusste Intention des Predigers mit den tatsächlich ausgeführten Akten vergleichen und versuchen, die Ursachen für Diskrepanzen und Übereinstimmungen als Verletzung bzw. Befolgung einzelner Sprechaktregeln zu interpretieren. Die Kenntnis einschlägiger sprechakttheoretischer Zusammenhänge kann und soll dazu führen, dass wirkungsvoller gepredigt wird. Das bedeutet an dieser Stelle, dass auch ankommt, was der Prediger mitteilen will, dass die Predigt als Handlung gelingt. Henning Luther hat in diesem Kontext die Frage aufgeworfen, ob es angesichts der prinzipiellen Möglichkeit zur Manipulation nicht sprechakttheoretische Zusatzregeln im Sinne homiletischer Tugenden geben müsste. Er hat diese Frage bejaht, indem er für den Kommunikationsprozess Predigt „die Einsicht und die Zustimmung des Hörers fordert, […] aus der dann die angestrebte und gewünschte Reaktion des Hörers erfolgen mag“ 615 . d) Zur Wirkung homiletischer Handlungsmuster Die in den letzten drei Abschnitten vorgestellten Grundlagen einer homiletischen Anwendung der Sprechakttheorie lassen sich in verschiedene Richtungen vertiefen und präzisieren. Zu den fruchtbarsten Fortschreibungen der homiletischen Pragmatik gehört die Erforschung der Predigtwirkung auf der Basis spezifischer „Handlungsmuster“ in Predigten. Als Handlungsmuster bezeichnet man in der Sprachwissenschaft solche Sequenzen einer Rede, die sich durch eine standardisierte Abfolge spezifischer Sprechakte in typischen Situationen auszeichnen, verbunden mit bestimmten Intentionen und Themen, oft auch mit stereotypen Begriffen und signifikanten Sprechweisen. Handlungsmuster sind in der Alltagskommunikation unentbehrlich. Sie dienen der unaufwendigen, ohne besondere Kreativität möglichen Bewältigung alltäglicher Kommunikationssituationen. 615 H. Luther, 1989, 230 f. <?page no="302"?> 302 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Wer beispielsweise jemanden um Hilfe bittet, hält sich ungefähr an folgendes Muster, hier in einer etwas ausführlicheren Form: 1. Expressiver Sprechakt: Freundlicher Smalltalk mit höflicher Frage nach dem Wohlergehen des anderen. 2. Assertiver Sprechakt: Schilderung der Notlage, gegebenenfalls unter Beteuern von gescheiterten Versuchen, das Problem allein zu lösen. 3. Direktiver Sprechakt: Explizite Bitte an den anderen, bei der Lösung des Problems behilflich zu sein. 4. Kommissiver Sprechakt: Der Bittende verspricht, dem anderen in einer anderen Situation auch zu helfen oder erinnert daran (assertiver Sprechakt), dem anderen in einer ähnlichen Lage auch geholfen zu haben. In seiner Studie zur Absicht und Wirkung der Predigt 616 dokumentiert Frank Lütze etwa zwei Dutzend predigttypische Handlungsmuster, die sich im Laufe der Predigtgeschichte durchgesetzt haben und sich in der gegenwärtigen Predigtpraxis nachweisen lassen. Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob nicht bestimmte Handlungsmuster dem Anspruch der protestantischen Predigtlehre, nicht nur über Rechtfertigung zu reden, sondern das Predigtgeschehen selbst als Rechtfertigungskommunikation zu begreifen, besser entsprechen als andere. Lütze zweifelt an der homiletischen Leistung solcher Argumentationsmuster, die zwar fortwährend mit Begriffen wie Rechtfertigung, Gnade, Freiheit usw. hantieren, sprachpragmatisch jedoch z. B. im Gestus der Anklage verharren, die einfachsten Regeln gelingender Kommunikation verletzen oder sich als ordinäre Moralpredigt erweisen. Um die Probleme und Möglichkeiten einer solchen Homiletik zu untersuchen, analysiert Lütze die Handlungsmuster unterschiedlicher Predigten zu denselben theologischen Topoi (insbesondere zum Topos der Rechtfertigung) und zeigt, wie unabhängig vom Prediger dieselben rhetorischen Strukturen und sprechakttheoretischen Muster wiederkehren. Dabei gelingt es erstmals, die sprachliche Regelhaftigkeit homiletisch bereits in den Blick genommener Kanzelspiele 617 auf sprachwissenschaftlicher Ebene nachzuweisen, ihre Wirkungsweise im Detail zu beschreiben und theologisch zu kommentieren. In der Darstellung und Beurteilung von Handlungsmustern wie „Düstere Kulissen“, „Machen wir uns doch nichts vor! “, „Gott würde ja gerne“, „Fast geschenkt“ wird deutlich, wie stark bestimmte stereotype Muster mit theologischen Klischees 616 F. Lütze, 2006. 617 Vgl. unten II.2.1.2. <?page no="303"?> 303 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven über Gott und den Menschen verknüpft sind, ohne sprachlich denjenigen Funktionen zu entsprechen, die sie ihrem Inhalt nach erfüllen wollen. So zeigt beispielsweise das homiletische Handlungsmuster „Und die Bibel hat doch recht“ 618 , wie die Argumentationsstrategie einer Predigt ganz auf die antithetische Gegenüberstellung von biblischem Zeugnis und moderner Lebenswelt ausgerichtet ist, was darauf hinausläuft, dass der Hörer offenbar nur dann selig werden kann, wenn er sich irgendwie aus dieser Welt zu lösen bereit ist, was mit unheilvollen Erfahrungen verbunden sein dürfte. Ein solches Handlungsmuster kann im Einzelfall folgende Struktur haben: 1. Konstatierender Sprechakt: These über die Wichtigkeit von X (z. B. der Rechtfertigungslehre) 2. Regulativer Sprechakt: Der Prediger unterstellt, dass die Hörer (anders als er selbst) mit X nichts anfangen können. 3. Konstatierender Sprechakt: Der Prediger erklärt, wie falsch Menschen liegen, die mit X nichts anfangen können. 4. Konstatierender Sprechakt: Der Prediger zeigt die Folgen, die sich daraus ergeben, mit X nichts anfangen zu können. 5. Expressiver Sprechakt: Der Prediger beteuert, wie wichtig ihm X ist. 6. Direktiver Sprechakt: Der Prediger lädt dazu ein, X für wichtig zu halten. Was in diesem Muster völlig fehlt, ist v. a. eine Vision dafür, was es hieße, wenn X tatsächlich eine Bedeutung hätte, wobei es um die Antizipation einer Wirklichkeit ginge, in der X den Hörerinnen und Hörern durchaus wichtig wäre - oder vielleicht sogar schon ist. So kommt es „nicht selten zu einer Scheinlösung, die die Aufgabe rechtfertigender Predigt gerade verfehlt“ 619 . In diesem Zusammenhang werden auch die Gründe für die Überraschungslosigkeit bzw. Vorhersagbarkeit des Fortgangs entsprechender Kanzelreden dargelegt. Frank Lütze führt in diesem Kontext eine instruktive Unterscheidung homiletischer Sprachhandlungen in „unterbrechende“ und „eröffnende Handlungsmuster“ ein, die mehr als theologische denn als sprachtheoretische Differenzierung gemeint ist. Sie basiert auf der Prämisse, dass reformatorische Predigt eine Kommunikationskultur der Rechtfertigung impliziert. Als „unterbrechende Sprachmuster“ werden jene homiletischen Bemühungen klassifiziert, in denen das Leben unter dem Gesetz thematisiert wird. „Eröffnende Handlungsmuster“ 618 F. Lütze, 2006, 163-168. 619 A. a. O., 122. <?page no="304"?> 304 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt hingegen bezeichnen Versuche von Predigern, das Leben aus der Perspektive des Evangeliums zu verdeutlichen. 620 Mit der Analyse und Interpretation dieser Muster wird herausgearbeitet, wie der Idee der Rechtfertigung sprachlich und theologisch stimmig entsprochen werden kann. Dabei wird zum Beispiel der signifikante Unterschied zwischen dem Sprachmuster „Gott würde ja gerne“ 621 und „Entzauberung der Sünde“ 622 deutlich: Im zuletzt genannten Sprachmuster wird stark mit antizipatorischen Aussagen gearbeitet, die die Hörer nicht sündendiagnostisch auf eine bestimmte Haltung in der Vergangenheit festlegen, sondern die ihnen helfen, ihr Leben in der Gegenwart in einem neuen Licht zu sehen, ihren eigenen Glauben zu entdecken und neugierig zu bleiben auf sich selbst. Es geht um sprachliche Muster, die das Christsein der Hörerinnen und Hörer voraussetzen und ihnen den Blick auf die Wirklichkeit freizugeben suchen, in der sie bereits leben. Eine solche Predigt versucht sich sprachlich an der „kontrafaktischen Zuschreibung des Glaubens“ 623 : „Die Hörer werden als Christen imaginiert - und können sich im Spiegel dessen selbst als Christen entdecken. Es handelt sich, wie Isolde Karle zeigt, um das Verfahren einer ‚self-fulfilling prophecy‘ 624 , insofern die sprachliche Vorwegnahme möglicher Zukunft bereits die Gegenwart entsprechend verändern kann. Zu hören, wer wir in Gottes Augen schon sind, eröffnet die Chance, sich selbst als ebendiese wahrzunehmen.“ 625 Durch die auf die Sprachmuster der Predigt bezogene Reformulierung und Weiterführung linguistischer Einsichten auf dem Gebiet der homiletischen 620 Vgl. a. a. O., 131-209, 211-290. 621 Die Grundstruktur dieses Musters besteht aus abstrakten Indikativen und anschließenden vagen Appellen: Indikativ: „Gott möchte dich beschenken.“ Appell: „Das kann er nur, wenn du das Geschenk annimmst“, bzw. „das Geschenk nützt nur, wenn du es auspackst“ (a. a. O., 226). Ganz ähnlich strukturiert ist das Muster der „Rechtfertigung mit Animationsbedarf “. Zunächst eine Reihe Behauptungen im Sinne von „Gott hat X getan.“ Danach die Appelle, wie z.B.: „Mach’ dir X zu eigen! “ (A. a. O., 221). 622 A. a. O., 284-290. 623 A. a. O., 288. Inwieweit man „kontrafaktisch“ argumentiert, wenn man die Gemeinde ermutigt, auch ihrem eigenen Glauben etwas zuzutrauen („Dein Glaube hat dir geholfen“ ist ein Schlüsselsatz der Kommunikation des Evangeliums im Neuen Testament), ist allerdings einer theologischen Erörterung wert. Im Kapitel zur „Anthropologie der Predigt“ (III.2.2) kommen wir darauf zurück. 624 I. Karle, 2002, 340. 625 F. Lütze, 2006, 288. <?page no="305"?> 305 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Pragmatik eröffnen sich neue Möglichkeiten auch der Predigtanalyse, worauf in Teil II noch einzugehen ist. 5.3.2 Argumentieren und Antizipieren a) Voraussetzungen argumentationsbezogener Predigtsprache Die Wirkung einer Predigt kann, wie aus der Aufdeckung der Funktionsweise von Sprechakten hervorgeht, nicht schon an ihrem Inhalt oder ihrer Form abgelesen werden. Sie wird durch die Sprechakte ausgelöst, die im Predigtvortrag faktisch zur Geltung kommen. Ihre eigentliche Wirkung entscheidet sich also in der „Phase der Realisierung“ (vgl. Abb. 1, S. 27) bzw. in der perlokutiven Sequenz sprachlichen Handelns. Es geht um jenen Akt, durch den der Hörer in das vom Prediger vorstrukturierte Kommunikationsgeschehen einsteigt, in Interaktion tritt und ihm in gewisser Weise folgt. Daher ist zu fragen: Unter welchen Umständen bzw. Bedingungen beteiligen sich Hörerinnen und Hörer? In welcher Weise kann deren Interaktion in der Predigtvorbereitung mitbedacht werden? An analogen Fragestellungen im Bereich der Rhetorik interessiert, hat Joseph Kopperschmidt die Sprechakttheorie insofern zugespitzt, als er sie ganz auf die Überzeugung als (seiner Ansicht nach) entscheidende Dimension menschlicher Verständigung ausgerichtet hat. Waren die oben genannten Bedingungen die Voraussetzungen dafür, Illokutionen als solche erfassen zu können, geht es Kopperschmidt um den vollendeten Sprechakt einschließlich seiner perlokutiven Funktion. Konsequenterweise bezeichnet er den Sprechakt insgesamt als „persuasiven“ 626 Akt, als Kommunikation mit dem Interesse zu überzeugen. 627 Um Missverständnissen vorzubeugen, hebt Kopperschmidt jedoch hervor, dass eine entsprechende rhetorische Anleitung niemals zur Manipulation führen dürfe, also nicht das Überreden zu lehren habe. Schließlich können gemeinsame Überzeugungen niemals das Resultat dekretierender Kommunikation sein, sondern stellen sich im Zuge eines von Argumentation geleiteten Prozesses ein. Dementsprechend misst Kopperschmidt dem Argumentieren größte Bedeutung zu: 626 Von persuadere bzw. persuasio, hier ausschließlich in der Bedeutung von „überzeugen“ bzw. „Überzeugung“ verwendet. Im Lateinischen kann nur aus dem Kontext erschlossen werden, ob dieser Ausdruck „überzeugen“ oder „überreden“ bezeichnet. 627 Vgl. J. Kopperschmidt, 1976. <?page no="306"?> 306 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt „Die Verbindlichkeit des gelungenen Konsenses besteht in der Überzeugungskraft zustimmungsfähiger Argumente.“ 628 In einer Übersicht lassen sich die Überlegungen Kopperschmidts 629 folgendermaßen zusammenfassen: Voraussetzungen auf Seiten des Sprechers Voraussetzungen auf Seiten des Angesprochenen 1. Fähigkeit zu partnerschaftlicher Kommunikation Der Sprechakt kann gelingen, wenn der Sprecher willens und in der Lage ist, den Angesprochenen als gleichberechtigtes und entscheidungsfähiges Subjekt zu akzeptieren, auf das allein argumentativ Einfluss genommen werden darf. Der Sprechakt kann gelingen, wenn der Angesprochene in der Lage ist, sich mit den vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen, und wenn er prinzipiell überzeugbar, also lernfähig ist. 2. Bereitschaft zu konsensbildender Kommunikation Der Sprechakt kann gelingen, wenn der Sprecher selbst von der Plausibilität seiner Argumente überzeugt und bereit ist, über das Gesagte in einen von Argumenten geleiteten Verständigungsprozess einzutreten. Der Sprechakt kann gelingen, wenn der Angesprochene subjektiv am Konsens interessiert und bereit ist, sich aufgrund vorgetragener Argumente gegebenenfalls überzeugen zu lassen. 3. Respektierung von argumentationsgeleiteten Überzeugungen Der Sprechakt kann gelingen, wenn der Sprecher erkennen lässt, dass er das Ergebnis der kommunikativen Interaktion auch dann akzeptiert, wenn der Angesprochene seiner Argumentation nicht folgt. Der Sprechakt kann gelingen, wenn dem Verzicht auf außer-persuasive Mittel seitens des Sprechers aufseiten des Angesprochenen die Verbindlichkeit entspricht, im Falle überzeugender Rede auch entsprechend zu handeln. Abb. 18: Voraussetzungen gelingender Kommunikation Diese Überlegungen sind für die Homiletik unmittelbar von Belang. Eine Predigt, die insofern gelingt, als sie verantwortlich mit dem Hörer umgeht und „weiß, was sie tut“, ist nicht einfach Rede über dies und das. Sie ist Rede zu jemandem hin. Weil in der Kommunikation des Evangeliums nichts dekretiert werden kann, darf die Predigt nicht den Charakter eines Diktats haben, 630 sondern impliziert - obschon formal als Monolog gestaltet - die Struktur eines Dialogs. Diese dialogische Struktur ist umso deutlicher wahrnehmbar, je umsichtiger sich der Prediger auf argumentativem Wege um die Ein-Sicht des Hö- 628 J. Kopperschmidt, 1977, 215. 629 Vgl. hierzu J. Kopperschmidt, 1976, bes. 87-95. 630 Vgl. auch G. Otto, 1994, 108. <?page no="307"?> 307 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven rers in die Zustimmungsfähigkeit seiner Rede bemüht. Die Hörer sollen nicht zu Marionetten institutioneller Rede gemacht, sondern in die Lage versetzt werden, sich zu ihr zu verhalten. Damit sie dies in der Freiheit des Glaubens tun können, kommt ihnen die Predigt argumentativ zur Hilfe. Allerdings stellen die von Kopperschmidt aufgestellten Regeln auch vor spezifische Herausforderungen: Der Umstand, dass die Predigt als öffentliche Rede auch institutionelle Rede ist, kann leicht zu Kollisionen mit Regel 1 (Gebot partnerschaftlicher Kommunikation) führen. Ein überzogenes Amtsverständnis seitens des Predigers oder unangemessene Rollenerwartungen seitens der Gemeinde können den guten Willen zu einer auf Argumentation basierenden Predigt beeinträchtigen. „Das Misslingen von Predigt - im Sinne dialogischer, auf Verständnis und Verständigung dringender Kommunikation - mag vielfach darin begründet sein, dass der Prediger gar nicht fähig und in der Lage ist, den Hörer ,als gleichberechtigtes und entscheidungsfähiges Subjekt zu akzeptieren‘.“ 631 Ebenso können sich Schwierigkeiten in der Umsetzung von Regel 2 (Gebot konsensbildender Kommunikation) ergeben: Soweit die Glaubwürdigkeit der Kommunikation des Evangeliums durch die Authentizität des Predigers mitbedingt ist, wendet sich diese Regel gegen die schon mehrfach dargelegte konzeptionelle Ausgrenzung der Person des Predigers aus seiner eigenen Rede. Dass es erfahrungsgemäß oft schwierig ist, sich nach einer Predigt über deren Absicht und Inhalt zu verständigen, hängt wohl auch mit der unter I.2 erörterten, theologisch fragwürdigen Maxime zusammen, sich „persönlich aus ‚dem Wort Gottes‘ herauszuhalten“. In solchen Fällen gelingt es nicht, das zu Sagende als Bestandteil eigener Überzeugung zu plausibilisieren, weil es zu oft gar nicht Bestandteil eigener Überzeugung ist. Umgekehrt machen wir in der Alltagskommunikation die Erfahrung, dass man sehr gut versteht, wenn derjenige, der uns etwas mitteilt, selber zutiefst von der Dringlichkeit, Notwendigkeit und Tragweite des zu Sagenden überzeugt ist. Wir lassen uns von einer Nachricht, der wir eher skeptisch gegenüberstehen, unter Umständen dadurch überzeugen, dass eine bestimmte Person sie zur Sprache bringt. In Wendungen wie „Weil du es sagst“ [lasse ich mich darauf ein], kommt diese Erfahrung zum Ausdruck. Trotz des hohen Stellenwerts der Argumentation für die Predigt ist die Kategorie der „Überzeugung“ nicht das Nonplusultra dieses Handwerks schlechthin. Man kann sich Predigten vorstellen, die eine eher geringe „Überzeugungsarbeit“ leisten müssen, weil sie jenseits von Zustimmung und Ablehnung den Glauben 631 K. H. Bieritz (1990, 81) mit Bezugnahme auf J. Kopperschmidt. <?page no="308"?> 308 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt der Gemeinde artikulieren und ihn ihr damit gewissermaßen neu zueignen. Hier wäre besser davon zu reden, dass die Wirkung der Predigt in einer „Verständigung mit dem Hörer“ (und nicht in der Überzeugung des Hörers) besteht, wobei „die Freiheit des Gegenübers als Subjekt ernst und in Anspruch genommen“ wird. 632 Um diese Verständigung zu ermöglichen, müssen mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein: Der Hörer muss die Intention (Redeabsicht) des Sprechers bzw. Predigers kennen und verstehen. Der Prediger muss die Erwartungen der Hörer kennen und verstehen.“ 633 Schließlich noch ein Wort zu der in der Homiletik gelegentlich anzutreffenden Unterscheidung zwischen „gelingender“ und „erfolgreicher Predigt“ 634 . Die schon auf J. R. Searle zurückgehende Charakterisierung von Sprechakten als „gelungen“ und „erfolgreich“ besagt, dass ein Sprechakt gelingt, wenn der illokutionäre Akt seitens des Hörers intentionsgemäß realisiert wird, und dass er erfolgreich ist, wenn sich auch die beabsichtigte Wirkung der Rede einstellt. Auch eine Predigt muss unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden können, ob sie in dem Sinne erfolgreich ist, als sie ihr Kommunikationsziel (Trost, Ermutigung, Selbsterkenntnis usw.) auch erreicht - und nicht das Gegenteil von dem geschieht, was beabsichtigt war. Deshalb sollte man aber in Bezug auf den Predigtprozess nicht nur dann von „erfolgreicher Kommunikation“ reden, wenn die zugrundeliegende Intention befürwortend nachvollzogen, ein Konsens gestiftet und Übereinstimmung hergestellt 635 wurde: Nach Dannowski ist eine Predigt dann gelungen, „wenn der Hörer verstanden hat, worum es dem Prediger ging. […] Erfolgreich ist eine Kommunikation, wenn der Hörer dies auch innerlich bejaht. […] Erfolgreiche Predigt lässt sie [d. h. Prediger und Hörer] gemeinsam weitergehen. Der Erfolg der Predigt ist unverfügbar, ist - theologisch gesprochen - ein Werk des Heiligen Geistes.“ 636 Diese Auffassung impliziert zwei Probleme: Zum einen (1.) geht es in vielen Predigten um etwas anderes, als um Denk- und Glaubensvorgaben, die die 632 H. Luther traut und mutet dem Hörer die Kompetenz zur Bearbeitung folgender Fragen zu: „Welches Deutungsangebot macht der Prediger? Passt es zu meinem Leben? Welche Handlungsaufforderung enthält die Predigt? Womit wird sie begründet? “ H. Luther, 1989, 233. 633 H. Luther, 1989, 231 f. 634 Vgl. z. B. H. W. Dannowski, 1985, 124; K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski, 1983, 125. 635 So die Vorstellungen von K.-F. Daiber/ H. W. Dannowski, 1983, 91, 124-126. 636 H. W. Dannowski, 1985, 124. <?page no="309"?> 309 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Gemeinde vor allem zustimmend aufzunehmen hätte. Eine Predigt kann zu Einsichten führen, die selbst dem Prediger nicht im vollen Umfang gegenwärtig sind, wenn er seine Predigt hält. Die Predigt kann den Hörer in eine Geschichte verwickeln, in der dieser Segmente seiner eigenen Biografie wiederbzw. anders erlebt, und in der er Entdeckungen macht, die vorher für keinen Prediger auszudenken waren. Zum anderen (2.) ist darauf zu bestehen, dass Hörer gerade im Predigtprozess als Subjekte ernst genommen werden, deren Freiheit sich auch darin ausdrücken kann, dass sie dem Fazit der Predigt nicht zustimmen, aber dennoch durch die Predigt bewegt worden und in der Aneignung ihres Glaubens ein Stück weitergekommen sind. Die faktische Übersetzung von „gelungen“ und „erfolgreich“ in „machbar“ und „unverfügbar“ hat manches für sich, ist theologisch wenig verfänglich - bleibt aber unbefriedigend: Wie kann eine in der Predigt vollzogene Sprachhandlung als gelungen bezeichnet werden, wenn sie auf der perlokutiven Ebene nicht realisiert wird, also ohne die erwartete Wirkung bleibt? Und aus der anderen Perspektive gefragt: Ist es nicht doch schon als „Erfolg“ zu verstehen, wenn zwar die perlokutive Absicht einer Predigt - etwa das Engagement eines Hörers für die Mitarbeit in der Gemeinde - nicht realisiert wird, wenn der Hörer aber auf der illokutiven Ebene der Predigt einen Umgang mit sich erfährt, der seine Beziehungskonstellationen neu strukturiert? b) Phantasie für die Wirklichkeit Angesichts der Bedeutung der Sprache für den faktischen „Schöpfungscharakter“ der Predigt 637 ist zu fragen, was es im Blick auf den Gebrauch der Sprache heißt, dass von der Kommunikation des Evangeliums Impulse für die Erneuerung des Menschen in seiner gegenwärtigen Situation und für das Offenhalten seiner Zukunft zu erwarten sind. Die Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments halten an der Verbindung dieser beiden Perspektiven fest, indem sie ihre Zukunftserwartungen immer mit der Erfahrung des Glaubens in der Gegenwart verbinden. Dazu bedienen sie sich der bereits oben (I.5.3.1.d) angesprochenen antizipatorischen Sprachmuster. 638 Auf der Basis gesammelter Erfahrungen und 637 Vgl. unten III.4.3. 638 Für die jüdisch-christliche Tradition ist diese antizipatorische Struktur von elementarer Bedeutung. Was wird sein, „wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird? Dann wird uns zumute sein, als träumten wir: Dann wird unser Mund voll Lachens <?page no="310"?> 310 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt mit Bezug auf die Bilder, in denen sich Verheißungen eines Lebens aus Glauben manifestieren, gilt es auch in der Predigt sprachlich vorwegzunehmen, was zu erwarten und worauf zu hoffen ist. In diesem Zusammenhang kommen insbesondere Aspekte zum Tragen, die im Rahmen der virtuellen Perspektive der Predigtarbeit reflektiert wurden. 639 Antizipatorische Sprache ist nicht auf den Gebrauch des Futurs angewiesen. In die Gegenwart eingespielte Geschichten, die erzählen, wie beklemmende Situationen sich ändern, Träume, die oft in der Vergangenheitsform zur Sprache kommen, aber Visionen dafür bieten, wie das Reich Gottes unter den Bedingungen dieser Welt Konturen annimmt, kleine Szenen mit Schlaglichtern auf ein „Vorher“ und „Nachher“, in denen die Wandlung von Verhältnissen nachzuvollziehen ist - dies alles sind sprachliche Versuche zur Kommunikation dessen, was als Fern- oder Nahwirkung einer Predigt erwartet werden kann. Hierzu zwei Beispiele: „Wenn Gott Sie schon liebt - versuchen Sie es doch auch mal! Schrecken Sie nicht vor sich zurück: Der eingefleischte Egoist, der am glücklichsten ist, wenn er sein Leben ganz für sich allein verbrauchen kann - das sind Sie nicht. Der Egozentriker, der am liebsten um sich selbst kreist und dabei selig ist - er ist nicht ihr Modell. Christus, Ihr Bruder, hat es längst unbrauchbar gemacht. Es funktioniert nicht mehr.“ 640 „Lassen wir uns nicht davon abbringen, unser Leben im Rückblick auf den Tod zu führen. Das ist ein Leben auch im Rückblick auf befürchtete oder herbeigeredete Gottesgerichte. Das haben wir hinter uns. Ein Leben in der Kraft der Auferstehung und im Rückblick auf den eigenen Tod zu führen heißt, nicht mehr auf Geschichten des Scheiterns festgelegt zu sein. Wir befinden uns auf einem neuen Weg. Jenes ängstliche Leben, das einer Wallfahrt zum eigenen Grab glich, hat ein Ende gefunden. Der Deckel von dem Grab, in das wir uns aus Frustration zurückgezogen hatten, ist weggezogen worden. Jesus sagt: Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Lebt wie ich, lebt als Auferstandene, und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann werden die Gefangenen zurückkehren. Dann werden die, die mit Tränen gesät haben, mit Freuden ernten und ihre Garben einbringen“ (aus Ps 126). Erfahrung und Phantasie zugleich bestimmen den Glauben der frühen Christen: Sie sind in ihrem alltäglichen Tun und Lassen von etwas bestimmt, das gemeinhin mit „Naherwartung“ bezeichnet wird und auf eine Zukunft ausgerichtet ist, für die sie Vorstellungen entwickeln. Vgl. zu dieser Frage auch W. H. Ritter, 2000, 162-168. 639 Vgl. die Ausführungen im Exkurs nach Abschnitt 4.3.4.2: Die virtuelle Perspektive: Predigt als Konstruktion der Welt (S. 263-266). 640 Aus dem Schlusspassus eines Predigtmanuskripts mit Bezug auf Phil 4,10-13. <?page no="311"?> 311 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven lebt im Rückblick auf den Tod. Beschwört nicht die alten Tage, als wäre eure Gegenwart keine Zeit des Heils. Freut euch auf den morgenden Tag, fragt euch, wie er aussehen soll. Haltet euer Leben nicht zurück: Ihr könnt es nicht mehr verlieren.“ 641 Im Spektrum der Argumentation von Predigten kommen Antizipationen eher selten vor. Predigten sind häufiger retrospektivisch auf die Situation des Textes damals oder auf eine eher abstrakte Gegenwart bezogen. Der Versuch, in Worte zu fassen, was der Fall sein könnte, „wenn die Predigt Erfolg hat“, ist in weit geringerem Maße zu beobachten. Wer aber keine Vorstellungen dafür zu entwickeln vermag, worauf denn die in Predigten vielfach geforderten Änderungen von Haltungen und Gewohnheiten hinauslaufen sollen, lässt die Hörer im Unklaren darüber, woraufhin es sich (der Predigt zufolge) zu leben lohnte. Die Gemeinde soll eine Predigt auch um konkreter Vorstellungen, Bilder und Sprachmuster willen zu hören bekommen, die ihr helfen, sich bestimmte Erwartungen zu eigen machen zu können. Sie ist auf Zukunftsaussichten angewiesen, um existieren und handeln zu können. Unabhängig davon, ob in Sprache gefasste Erwartungen später im Einzelnen so eintreffen oder nicht: Sie sind für die Gegenwart wichtig. Eine weitere Bedeutung der Antizipation ist ihre situationsverändernde Kraft. Detaillierte Vorstellungen konkretisieren abstrakte Optionen und geben ihnen den Charakter von Aussichten, die bei Motivationsprozessen eine große Rolle spielen. Mit anderen Worten: Die sprachliche Antizipation bestimmter Zustände kann ein Beitrag zur Realisierung solcher Zustände sein. Die Anregung Friedrich Niebergalls, in einer Predigt zunächst von den in einer Gemeinde „vorausgesetzten Zuständen“, dann von den ganz anderen Zielvorstellungen („Normen“) des Evangeliums zu sprechen und dazu die passenden „objektiven und subjektiven Hilfsmittel“ anzuführen, 642 entspricht zunächst der Gestaltung einer Predigt nach dem konsekutiven Schema von Gesetz und Evangelium. Man kann diesen Gedanken jedoch auch in dem Sinne aufnehmen, dass man die „Normen“ des Evangeliums nicht nur als intervenierende Botschaft präsentiert, die das Gesetz aufhebt oder erübrigt, sondern als sprachliche Konstruktion der veränderten Rahmenbedingungen des Lebens. So gesehen ist in der Homiletik nicht, wie Niebergall empfiehlt, von zwei, sondern von drei Situationen zu handeln: Den Hörer interessiert nicht nur die Botschaft vor dem Hintergrund der Situation des Textes (die sollte vor allem der Prediger 641 Aus dem Schlusspassus eines Predigtmanuskripts mit Bezug auf Joh 5,39-47. 642 Vgl. F. Niebergall, 1929, 170-191. <?page no="312"?> 312 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt kennen), der Hörer darf auch nicht auf die Situation heute festgenagelt werden (die gilt es als gegebenen Bezugsrahmen bewusst zu machen), sondern es gilt vor allem, die sich eröffnende Situation sprachlich zu fassen. Dementsprechend versteht es Albrecht Grözinger als „Aufgabe der Predigt“, „den Menschen im Möglichkeitshorizont Gottes zu imaginieren“ 643 . Mit dem Begriff der Imagination kommt kein neuer Gesichtspunkt ins Spiel. In Literaturwissenschaft, Sprachphilosophie und Psychologie werden Imagination und Antizipation mit z. T. austauschbaren Funktionen beschrieben. Zu der These, dass die sprachliche Vorwegnahme künftiger Zustände und Situationen in der Predigt dazu führen kann, reale Zustände und Situationen zu beeinflussen, passt es, dass Antizipationen bzw. imaginierte Szenen und Bilder gemeinhin für subversiv gehalten werden: Sie sind - wie Jean-Paul Sartre formulierte - temporäre Nichtigkeitserklärungen gegenüber den Dingen, wie sie sind. 644 Sie setzen neue Weltverhältnisse und sind insofern notwendige „Akte der Freiheit“ 645 . Wie will man anders zu einer Predigt gelangen, die nicht bloß eine Vorgeschichte, sondern auch eine Wirkungsgeschichte hat? In ähnlichem Zusammenhang geht Grözinger auf die Möglichkeiten „anmutender Sprache“ ein: „Die Predigt behauptet die Gottesgeschichte nicht, sondern sie malt uns die Gottesgeschichte vor Augen. So können wir uns auf sie einlassen. Wir müssen es aber nicht. Die Sprache der Anmutung kennt keinen Zwang. Aber sie möchte Menschen dazu bewegen, sich auf diese Geschichte einzulassen. […] Die Anmut ist aber nicht gestaltlos. Als gestaltete Sprache enthält sie eine Verlockung, eine Einladung, vielleicht manchmal sogar eine Aufforderung. […] Anmutend meint: Predigt will etwas von ihren Hörerinnen und Hörern - aber nicht in Gestalt der Behauptung, des zwingenden Arguments oder gar des Befehls. Sondern die Predigt eröffnet einen bestimmten Sprachraum, der zum eigenen Denken und Sprechen einlädt. Die Sprache der Anmutung fügt deshalb der Wirklichkeit etwas hinzu - ein neues Bild, eine ungewohnte Perspektive, eine 643 A. Grözinger, 1995, 98. Vgl. auch die Rolle der Imagination - nicht zuletzt für den Glauben, den eine Predigt ihren Hörern ans Herz legt - im homiletischen Konzept von Paul S. Wilson, 1988, 16-18. 644 Nach J.-P. Sartre ist das Imaginierte - übrigens auch dann, wenn es nicht ausgesprochen wird - zwar Teil eines recht individuellen Vorstellungsprozesses, als „néantisation“ bestehender Verhältnisse stellt es aber eine in spezifischer Weise wirksame Realität dar. Vgl. J.-P. Sartre, 1948, 161. 645 R. Warning, 1976, 220. <?page no="313"?> 313 5.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven überraschende Wendung. Die Gleichnisse Jesu sind in dieser Hinsicht Sprachschule anmutender Rede.“ 646 Exkurs: Hörakte der Predigt. Zur auditiven Dimension des Mediums Sprache Um die Sprache als strukturbildendes Element und Medium der Kommunikation des Evangeliums in den Blick zu bekommen, sind wir in den Kapiteln I.4 und I.5 immer wieder auf den Verständigungsprozess zwischen Prediger und Gemeinde zurückgekommen. In einer weitergehenden homiletischen Vertiefung des medialen Gebrauchs der Sprache durch Hörerinnen und Hörer käme es darauf an, nicht nur nach der Wirkung von Sprechakten zu fragen, sondern auch die auf das Medium der Sprache bezogenen Hörakte einer Predigt zu verstehen. Thomas Nisslmüller hat sich dementsprechend unter medienästhetischen Gesichtspunkten mit dem Predigthören befasst und formuliert entsprechende Konsequenzen für die sprachliche Gestaltung von Predigten. 647 Seine Überlegungen verstehen sich als eine umfassende Ausarbeitung des homiletischen Modells des „Auredits“, in dem die je eigene Hermeneutik und Interpretationsleistung des Hörens im Sinne einer unausweichlichen Aktualisierung, Ergänzung und Aneignung der Predigt zur Geltung kommt. Er begründet sein Anliegen auf dem Klappentext seines Buches so: „Hören avanciert zum anthropologischen Eckdatum der Sinnbestimmung unserer Existenz, und auf der inneren Hör-Bühne gestaltet sich das Netz menschlicher Handlungs- und Lebenspräferenzen. Die verschiedenen Facetten des Hörens aus theologisch-philosophischer, psychologischer und ästhetischer Perspektive zu gewahren und von daher ein Forum von Hörqualitäten vor Augen zu haben, ist ein besonderer Aspekt der vorliegenden Arbeit, die nicht zuletzt auch die [Predigt als] Kategorie des Hörspiels coram Deo in den Blick rückt.“ Im Rahmen dieser Einführung ist es nicht möglich, diesen Ansatz ähnlich aufzubereiten wie das in diesem Kapitel für die Sprechakt- und Konversationstheorie erfolgt. Stattdessen sei zumindest auf die Konturen dieses auf Hör-Erfahrungen bezogenen Ansatzes hingewiesen. Nisslmüller versteht das „Hören 646 A. Grözinger, 2004, 238 f. sowie ders., 2008, 239-242. Zu den besonderen Aspekten einer Predigt mit Bezug auf Gleichnisse und zu den Chancen gleichnishafter Predigt vgl. D. Buttrick, 2000 (mit zahlreichen Beispielen). 647 Th. Nisslmüller, 2008. <?page no="314"?> 314 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt als [ein] ‚Eckdatum‘ des Lebens“ 648 . Er geht also vom Hören als einer anthropologischen Dimension aus. Theologisch wird gefragt, was es heißt, „in die Schrift hinein zu hören“ oder „Gott zu Gehör zu bringen“. 649 Als eine Vertiefung der homiletischen Methodenlehre erweist sich der Versuch, das Predigthören anhand von Hörspielkonzepten zu erörtern und dabei einen Zusammenhang zu „neutestamentlichen Hör-Erfahrungen“ und „biblischen Hörspielen“ herzustellen. Bei der auf dieser Basis skizzierten „auditiven Kultur“ wird die permanente Orientierungs- und Übersetzungsleistung des Hörens homiletisch reflektiert und unter anderem als „Simulation“, als „Fiktion“, als „bildhauerische Tätigkeit“, „Leiblichwerden des Wortes“ u. a. m. näher bestimmt. 650 In einer gewissen Analogie zur Klassifikation der Sprechakte, jedoch stärker differenziert, analysiert Nisslmüller insgesamt 95 Modi des Hörens, zu verstehen als bestimmte Sinn-Konstruktionsformen, wozu beispielsweise „anteilnehmendes Hören“, „reflexives Hören“, „kalkulierendes Hören“ oder „eucharistisches Hören“ zu rechnen sind. 651 Durch diese Kartographie des Hörens wird eine im bisherigen homiletischen Diskurs noch unterbelichtete Sequenz im Predigtprozess gebührend erhellt. Die bisherigen Erkenntnisse über die Rezeption von Predigten werden durch die Kommentierung des „Predigt-Hörens als Bühnenerfahrung“, durch die homiletische Standortbestimmung des „Hörers als Übersetzer“ und eine „Hörtheorie des Glaubens“ erweitert. 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen 5.4.1 Predigt als latente Konversation In den sprachtheoretischen Reflexionen der Homiletik geht es um die Erarbeitung und Anwendung von Regeln für eine gelingende Predigtkommunikation, in der nicht nur Botschaften kapiert werden, sondern Gemeindeglieder - zu denen natürlich auch der Prediger gehört - im Horizont des Evangeliums zueinander in Beziehung treten. Terminus technicus für eine auf einer gemeinsamen 648 A. a. O., 37-40. 649 A. a. O., 90-94, 131-133. 650 A. a. O., 141-214. 651 A. a. O., 215-376. <?page no="315"?> 315 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen Basis und gegenseitigem Verstehen beruhende sowie auf gegenseitiges Verstehen zielende Kommunikation ist der Begriff der Konversation. Er betrifft den Inhalts- und den Beziehungsaspekt menschlicher Kommunikation. Im Hinblick auf die dabei zu befolgenden Regeln kann man von „Konversationsmaximen“ oder - hinsichtlich der Analyse dieser Regeln - von „Konversationsanalyse“ 652 sprechen. Es ist kein Zufall, dass der Begriff Konversation unmittelbare semantische Entsprechungen zu (lat.) sermo bzw. (gr.) ὁμιλία aufweist. 653 Mit Bezug auf die beiden zuletzt genannten Begriffe ist über Jahrhunderte das Verständnis von „predigen“ erörtert worden. Es sind Bezeichnungen, die eine strenge Unterscheidung zwischen „Rede“ und „Gespräch“ nicht kennen, und die das Ereignis gemeinsamer Verständigung als Form des „Zusammenseins“, des „Verkehrs“, des „Miteinander-Umgehens“ betrachten. „Konversation“ zwischen Glaubenden dürfte auch in historischer Hinsicht als Urform der Kommunikation des Evangeliums gelten: Es liegt auf der Hand, dass sich die Lebenskunde des Jesus aus Nazareth nicht durch öffentliche Vorträge durchgesetzt hat, sondern dass sie unter den ersten Christen zunächst durch angeregte, wohl auch leidenschaftlich geführte Konversation in Umlauf kam. Die Kategorie der Konversation steht für eine umfassende Verständigung, bei der es nicht bloß um Effektivität und Klarheit geht, in der Absicht, eine bestimmte Wirkung auf die Hörer auszuüben. Eine an den Voraussetzungen der Konversation orientierte Predigt pflegt Umgangsformen, die ein Interesse der Kommunikationspartner aneinander voraussetzen, das über ein bloßes Interesse an bestimmten Lebensthemen oder Glaubensfragen hinausgeht. Das Interesse am Gemeinschaft zeigenden und bildenden Vorgang der Verständigung ist einer der entscheidenden Impulse, die in die Predigtsituation führen. Wovon ist sie bestimmt? 652 A. Linke u. a., 1996, 196, 259. 653 Unmittelbar hat der Ausdruck „Konversation“ (frz.: conversation bzw. ital.: conversazione) sein lateinisches Vorbild natürlich in (lat.) conversatio (Umgang, Verkehr). Im Gebrauch und in der Bedeutung aber fungiert „Konversation“ seit der Renaissance als äquivalente Übersetzung für sermo bzw. ὁμιλία. Zur facettenreichen Geschichte dieses Begriffs K.-H. Göttert, 1998. <?page no="316"?> 316 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt Zur homiletischen Konversation gehört es: - wirklichen Kontakt mit dem Kommunikationspartner anzustreben, das heißt, sich ihm auch zu „widmen“, wenn man zu ihm spricht, - den Takt nicht zu verletzen und dem anderen in seinem Sobzw. Anderssein mit Respekt und wertschätzender, anerkennender Höflichkeit zu begegnen, - das Prinzip der Gleichrangigkeit zu beachten, - im Darstellen einer eigenen Position - gerade im Blick auf wichtige Fragen, über die sich die Menschen schon seit Jahrhunderten den Kopf zerbrechen - nicht rechthaberisch aufzutreten, - sich um des anderen willen um größte Klarheit zu bemühen und das „Mitkommen“ des Gegenübers im Blick zu haben, - in der Suche um Wahrheit offen zu sein für die Entdeckung der Fraglichkeit eigener Auffassungen, - das Wohl des anderen im Blick zu haben, seine „Erbauung“, seine Freiheit - also nicht darauf abzuheben, am Ende selbst als überlegener Sieger bzw. Auskenner dazustehen, - die Balance zu halten zwischen allgemeinen Fragen des gesellschaftlichen, sozialen, kirchlichen und sonstigen öffentlichen Lebens einerseits, und Fragen, die den anderen als Individuum brennend interessieren dürften, andererseits. Auch wenn - wie bei der Erörterung der dialogischen Struktur der Predigt - davon auszugehen ist, dass in Bezug auf die faktische Verteilung der Rollen in einer Redesituation nur eingeschränkt von Konversation geredet werden kann, müssen an der homiletischen Relevanz der Haltung und der Sprache, die Dialoge und Konversationen gelingen lassen, keinerlei Abstriche gemacht werden. 654 654 Das in dem vorliegenden Werk seit der 1. Auflage (vgl. W. Engemann, 2002, 353-360; 2011, 248-251) dargestellte, an den Prinzipien der Konversation orientierte Predigtmodell wird analog in der amerikanischen Homiletik erörtert, jedoch unter etwas anderen Prämissen in die homiletische Didaktik einbezogen (vgl. O. Wesley Allen, 2005, bes. 3-15 und 38-57). Unter dem Titel „Sharing the Word“ stellt Lucy Rose wichtige Aspekte einer nicht-hierarchischen Predigt vor und bilanziert: „In such a nonhierarchal context, where power, leadership, and authority are shared, conversational preaching describes the whole of preaching as an ethos that surrounds the pulpit, traditionally a place of power. This nonhierarchical ethos perhaps leads those who are ordained to resist monopolizing the pulpit and to reenvision their role as ensuring that preaching occurs. <?page no="317"?> 317 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen Es ist den Grenzen einer solchen Einführung geschuldet, dass an dieser Stelle nicht das gesamte Spektrum konversationsbezogener Sprachforschung homiletisch reformuliert werden kann. Dabei wäre u. a. das Konversationsprinzip der „Referenz“ (bzw. des „Kompliments“) dem oben angesprochenen Problem der „Hörerschelte“ gegenüberzustellen. In diesem Zusammenhang ginge es - wie der Begriff der Referenz schon erkennen lässt - um das Interesse, sich wertschätzend auf die Anwesenheit, den Glauben und das Leben des anderen zu beziehen. Das hat nichts mit Lobhudelei oder nichtssagenden, einfach so hingeworfenen „positiven“ Aussagen zu tun, sondern vor allem mit einer engagierten, zuvorkommenden Wahrnehmung der Hörerinnen und Hörer. Ebenso wären die Bedeutungen von Muße und Geselligkeit als Begleitumstände der Konversation homiletisch zu reflektieren. Die Predigt findet nicht zufällig im Rahmen einer Feierstunde und sonntags statt. Dass die Predigt daher etwas „Unangestrengtes“ haben sollte, läuft nicht auf Abstriche an ihrer Ernsthaftigkeit und Streitbarkeit hinaus, sondern ergibt sich aus einem andernorts bereits erörterten homiletischen Prinzip: In der Predigt unter Christen geht es nicht darum, der Gemeinde binnen 20 Minuten „den Glauben“ oder „Gottes Wort“ bringen zu müssen (den bzw. das sie sonst nicht hätte), sondern eher darum, sich im Lichte dieses Glaubens, in dem sich Prediger und Hörer einander gegenüberstehen, von neuem über das Leben aus Glauben zu verständigen. 5.4.2 Sprachliche Kooperation mit dem Hörer Die Basis der oben skizzierten Kommunikationsprinzipien wird verlassen, wenn die Hörer - trotz ihres grundsätzlichen Interesses - durch die sprachlichen Hürden der Predigt faktisch exkommuniziert werden. Die Idee einer als Konversation (über Fragen des Lebens und Glaubens) gelingenden Predigt schließt demzufolge ein, dass Predigende das sprachliche Repertoire ihrer Kanzelreden hin und wieder auf dessen kommunikative Eignung hin prüfen. In Abbildung 1 (S. 27), die den Kommunikationsprozess Predigt in seinem inneren Zusammenhang zeigt, ist die Sprache das Medium, in dem sich Produktion und Rezeption der Predigt verschränken. Der eine Predigtvortrag schließt zwei Sprachbenutzer zusammen, Prediger und Hörer; ihre Verständigung beruht u. a. darauf, dass sie aus einem gemeinsamen Vorrat sprachlicher Zeichen This ethos perhaps leads the community of faith regularly to invite others, particularly laity, to preach. The term preacher, then, […] refers to the one whose function […] is to offer the sermon as one exchange in the ongoing conversations of the community“ (L. Rose, 1997, 123). <?page no="318"?> 318 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt schöpfen. Was wir im Rahmen der semiotischen Perspektive und im Hinblick auf die Kategorie der zeichenhaften Predigt festgehalten haben, ist an dieser Stelle zu elementarisieren: Dass der Einzelne auch wirklich die sprachlichen Ausdrucksformen der Predigt mit intentionsgemäßen Bedeutungen verknüpft und die notwendige Interpretationsleistung erbringt, setzt voraus, dass beide, Prediger und Hörer, bis zu einem gewissen Grade an einem gemeinsamen Konversationscode partizipieren. 655 Prinzipiell ist mit Differenzen zwischen den Codes der Kommunikationspartner Prediger und Hörer zu rechnen, die in jeder Predigt erneut zu bewältigen sind. In der Soziolinguistik hat man dieses Problem lange Zeit mit Hilfe der sogenannten Defizittheorie 656 beschrieben. Nach dieser Theorie sind die Verstehensschwierigkeiten zwischen Kommunikationspartnern auf schichtenspezifische Codes zurückzuführen, deren Differenz aus der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten mit je eigenen Konversations- und Diskursebenen resultiert. Während die gebildete Oberbzw. Mittelschicht einen elaborierten, an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten reichen Code benutze, verwende die Unterschicht einen eher restringierten, weniger differenzierten Code, der zwar kaum zur Bewältigung abstrakter Fragen tauge, dafür aber mit der Benutzung einer sehr konkreten Sprache einhergehe. Wenngleich die Begründung von Verständigungsbarrieren allein durch soziale Schichtungen in der Gesellschaft heute als überholt gilt und durch andere Theorien zumindest ergänzt wurde, 657 ist das von Bernstein untersuchte Problem auch unter geänderten Bedingungen immer noch aktuell: Dass es heute eher Erlebnismilieus 658 denn sozioökonomische Schichtungen der Gesellschaft sind, in denen sich je eigene Konversationscodes herausbilden, ändert nichts an der Tatsache, dass in einer Kultur gleichzeitig verschiedene Codes zirkulieren. Die empirisch gesehen dem „Hochkulturschema“ 659 zugehörende, oftmals abstrakte Predigtsprache ist nicht besonders geeignet, mit Hörern aus ganz unterschiedlichen Sozial- und Erlebnismilieus im Lichte des Evangeliums in eine Verständigung über ihr Leben zu treten. 655 Vgl. oben I.4.3.4 sowie die sich in vielen Punkten ähnelnden Modelle bei J. Kopperschmidt, 1976, 158 f., E. Öffner, 1979, 82, G. Schüepp, 1982, 44. 656 Der Hauptvertreter dieser Theorie ist Basil Bernstein (vgl. B. Bernstein, 1972). 657 Wichtige Korrekturen hat das Defizitmodell durch die Begriffe der Differenz („Differenzhypothese“) und der Varietät („Varietätenlinguistik“) erfahren. Eine leicht verständliche Einführung findet sich bei A. Linke u. a., 1996, 298-323. 658 Vgl. G. Schulze, 1993, 169-217, bes. 174 f. 659 Vgl. a. a. O., 142 f. <?page no="319"?> 319 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen Vor diesem Hintergrund ist es noch heute angebracht, die von Bernstein analysierte Grundunterscheidung zwischen elaboriertem und restringiertem Code im Blick zu haben. 660 Unterscheidungsebenen restringierter Code elaborierter Code Syntaktische Ebene Kurze, häufig unvollständige Sätze. Aktive Verbform dominiert. Direkte Rede überwiegt. Bestimmender Sprachmodus ist der Indikativ. Komplexe Satzkonstruktionen, auf Substantiven basierend. Viele Konjunktionen und Subordinationen. Häufiger Gebrauch indirekter Rede und des Konjunktivs. Abstraktionsgrad Geringer Abstraktionsgrad. Äußerungen beziehen sich auf konkrete Gegenstände und Sachverhalte. Hohe Anschaulichkeit. Unanschauliches ist kaum mitteilbar. Das Konkrete bleibt ohne Transparenz und Transzendenz. Hoher Abstraktionsgrad. Aussagen werden häufig zu Begriffen komprimiert. Kenntnis von diffizilen Zusammenhängen wird vorausgesetzt. Aussagen gewinnen durch das Beziehungsgeflecht, in dem sie stehen, Transzendenz. Restringiertes Verhältnis zur konkreten Realität. Argumentationsstruktur Situationsgebunden, emotional geprägt. Geringer Grad von Allgemeingültigkeit. Undistanziertes Argumentieren. Flexible Sprachmuster. Situationsbezogenheit der Argumente oft kaum erkennbar. Distanzierte, objektivierende Bezugnahme auf Sachverhalte möglich. Abb. 19: Restringierter und elaborierter Code im Vergleich In der m. W. ersten homiletischen Rezeption dieser Grundunterscheidung zwischen elaboriertem und restringiertem Code finden sich interessante Beispiele aus der Predigtpraxis. 661 Anhand der Gegenüberstellung „Arbeiter“ bzw. Hörer einerseits und „Akademiker“ bzw. Prediger andererseits soll das „Kommunikationsproblem“ als das „Problem der Kirche schlechthin“ 662 verdeutlicht werden. Obwohl die Einseitigkeit dieser quasi auf Stände fixierten Perspektive mittlerweile in der Soziologie und - wie schon angemerkt - in der Soziolinguis- 660 In der folgenden Übersicht fasse ich die zentralen Gesichtspunkte B. Bernsteins (1972, 216-231) zusammen. 661 E. Öffner, 1979, 65. 662 E. Öffner, 1979, 57. „Wer […] um Glauben werben will, wer das Evangelium als ,euangelion‘, als heilvolle Mitteilung, die allen gilt, allen verständlich machen will, der muss sich zunächst einmal verständlich ausdrücken. Darum ist das Kommunikationsproblem ,das Problem der Kirche schlechthin‘“ (a. a. O., 87). <?page no="320"?> 320 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt tik selbst überwunden ist, sind die Folgerungen Öffners auch unter geänderten Bedingungen ebenso relevant wie die Analysen Bernsteins. Sie laufen nicht auf die kurzschlüssige Konsequenz hinaus, ein Prediger dürfe sich nicht auch „elaboriert“ ausdrücken. Die Hörer brauchen ja Predigerinnen oder Prediger, die gegebenenfalls von einer bestimmten Situation oder einem konkreten Sachverhalt abstrahieren und zu Fragen vordringen können, die „über den Tag hinaus“ weisen. Dieser medialen Qualität von Sprache geht in der Regel das homiletische Ringen um den Abbau sprachlicher Verstehensbarrieren voraus. Dabei sollten folgende Gesichtspunkte einbezogen werden: 663 a. Erfahrungsbezogene Sprache: Die Predigtsprache sollte auf das Potential gemeinsamer Erfahrungen Bezug nehmen bzw. aus ihm regeneriert werden. Aus gemeinsamer Erfahrung erwächst gemeinsame Sprache. b. Erzählende Sprache: Erzählungen vermögen Erfahrung in spezifischer Weise zu versprachlichen, indem sie am konkreten Fall oder Problem etwas verdeutlichen, was über die Erzählung selbst hinausweist. Wenn erzählt wird, ergänzen und interpretieren sich restringierte und elaborierte Sprache gegenseitig. Der Zusammenhang von selbst Erlebtem und Gedeutetem in einer Erzählung kann dabei zur Erfahrung durch die Erzählung führen. c. Dialogische Grundhaltung: Indem der Prediger Fragen der Hörenden zur Sprache bringt und sich damit ihrer Wirklichkeitserfahrung stellt, nimmt er eine dialogische Grundhaltung ein. Dabei spielen Predigtvor- und -nachgespräche, in denen sich Gemeindeglieder mit ihrem Urteil zu Wort melden, eine wichtige, die Verständlichkeit der Predigt langfristig fördernde Rolle. 664 d. Übersetzende Sprache: Die Sprache der Predigt kann eine übersetzende Funktion bekommen und selbst zur Verstehenshilfe werden, wenn sie - statt auf Begriffe elaborierter Codes - auf Bilder, Metaphern, Parabeln, Symbole, unter Umständen auch auf Dialekte zurückgreift. 663 Vgl. auch E. Öffner, a. a. O., 86-110. 664 „Bekommt der Hörer keine Gelegenheit, sich zu dem vom Pfarrer Gesagten zu äußern, d. h. sich zu vergewissern, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er etwas Falsches hört - und behält.“ In einer Umfrage wurden „evangelische Kirchgänger nach dem Gottesdienst gefragt, was sie von der vorausgegangenen Predigt noch behalten haben: Nur 4 % konnten eine richtige Antwort geben, 69 % nur eine falsche oder gar keine Antwort“ (E. Öffner, 1979, 94). <?page no="321"?> 321 5.4 Zur Kategorie der konversativen Predigt. Sprachtheoretische Konsequenzen Sprachliche Kooperation ist eine Grundvoraussetzung der Kommunikation des Evangeliums, die an den Auftrag gebunden ist, verständlich zu predigen und der Gemeinde in der Haltung des Dialogs als leibhaftiger „Zeuge“ zur Verfügung zu stehen. Gemeinsame Verständigung bleibt nicht ohne Wirkung: Die Versprachlichung und Deutung gemeinsamer Erfahrung ist eine gewollte Form der Einflussnahme auf ein Leben aus Glauben. 5.4.3 Konsequenzen für kooperatives Handeln in der Predigt Die eben angesprochene Wirkung der Predigt ist keine, die - einmal „programmiert“ - fortan an ihr haftete, wo immer sie präsentiert würde, sondern sie wird, wenn es gut geht, in der sprachlichen Kooperation mit der Gemeinde freigesetzt. 665 Dementsprechend sollen im folgenden Abschnitt einige Konsequenzen benannt werden, die für ein kooperatives Handeln in der Predigt zu ziehen sind. Zunächst wird in einer Übersicht anhand der Konversationsmaximen nach H. P. Grice 666 auf die Konvergenzen zwischen den Bedingungen gelingender Sprechakte, Handlungsimpulsen an Sprecher und unverzichtbaren Werten sprachlicher Äußerungen hingewiesen. Maximen kooperativer Sprechhandlungen Grundmaxime: Sei kooperativ Maxime Wert Verhalten Quantität Information Sage so viel wie nötig, und sage nicht zu viel. Relation Relevanz Was du sagst, sei von Belang. Modalität Klarheit Sorge für die angemessene Form und notwendige Prägnanz dessen, was du sagst. Qualität Wahrheit Sage nur, was du für wahr hältst, oder mache deutlich, welchen Grad der Wahrscheinlichkeit das Geäußerte hat. Abb. 20: Maximen kooperativer Sprechhandlungen Für die Predigtkommunikation genügt es nicht, dass die Äußerungen des Predigers (nur) als wahrhaftig empfunden werden. Die genannten Maximen müssen gleichzeitig erfüllt sein, wenn die Predigt als kooperativer Akt gelingen soll. Das erfordert im Einzelnen: 665 Vgl. auch H. Luther, 1989, 229. 666 Vgl. H. P. Grice, 1979b, 16-52, sowie A. Linke u. a., 1996, 199. <?page no="322"?> 322 Teil I.5. Predigen zu den Bedingungen der Sprache. Die Frage nach dem Medium der Predigt 1. Die Kongruenz zwischen Mitteilungsabsicht und gewähltem Sprechakt: Allzu oft werden die Fragen einer Predigt auf der illokutiven Ebene als Vorwürfe an die Hörer geäußert, was dem Hörer das Mitgehen in der Rede erschwert. Aufforderungen werden unentschlossen als Möglichkeiten ausgesprochen oder gar als Erlaubnis erteilt, statt sie als das zu formulieren, was sie sind: Appelle. Imperative sind in der Predigt kein Tabu. 2. Die Überprüfung der Einstellung zu den Hörern: Wer von seinen Hörern keine gute Meinung hat und mit dem Selbstverständnis vor sie tritt, ihnen „geistlich voraus“ zu sein oder ihnen überwiegend „die Leviten lesen“ zu müssen, darf sich nicht wundern, wenn die vermeintliche Trostpredigt nicht ankommt. 3. Die Analyse des Sprechaktrepertoires eigener Predigten: Die Wahrnehmung von Hierarchien und Dominanzen im Gebrauch bestimmter Sprechakte ist ein wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung mit dem eigenen Predigtstil. Sie schließt die Frage nach den Gründen für das eventuelle Fehlen spezifischer Sprechakte ein. Die Klarheit der Rede hängt in starkem Maße von der Abgestimmtheit zwischen propositionalem Gehalt und illokutionärer Absicht ab. 4. Die Wahrnehmung der besonderen Funktion expressiver Sprechakte: Sie entsprechen der oben erläuterten Notwendigkeit, in der Predigt „Ich“ zu sagen. Es ist - vom Sprachgeschehen her - der Prediger, der mit seinem Zeugnis in Aktion tritt. Wenn er seiner Gemeinde gleichzeitig sein „Ich“ vorenthält, macht er es ihr schwer, zu seiner Predigt Stellung zu nehmen und in irgendeiner Weise zu „kooperieren“. 5. Begründung der Predigtintention: Um einer institutionsgläubigen Rezeption (Für-richtig-Halten der Predigt aufgrund ihrer „Amtsmäßigkeit“) entgegenzuwirken, sollte der Prediger zu erkennen geben, dass er nicht nur qua Amt sagt, was er zu sagen hat. Dazu gehört ein Bemühen darum, Hörenden auch einen Einblick in die Gründe für die Absicht bzw. die Aussage einer Predigt zu geben, sich also auch in dieser Hinsicht um Argumentation zu bemühen und der Gemeinde auf diese Weise die nötige Distanz einzuräumen, ohne die eine wirkliche Auseinandersetzung nicht möglich ist. 667 667 Eine wichtige Ergänzung zur phänomenologischen Erörterung der Wirkungsweise von Predigten bieten Michael Brothers Untersuchungen zur Predigt als „Raum (room) des Sprechens und als Raum (space) des Hörens“ (vgl. den entsprechenden Untertitel <?page no="323"?> 323 Vorbemerkungen 6. Rechenschaft über Relevanz und Informationsgehalt: Die Relevanz-Maxime bezieht sich nicht auf das kirchliche Leben intra muros, sondern auf die Tauglichkeit der Kanzelrede für ein Leben aus Glauben im Alltag. Das gilt analog für die Informations-Maxime. Es geht um die Frage, wofür die Informationen einer Predigt im Hinblick auf das Leben des Einzelnen gebraucht werden könnten. 7. Vielfalt in den Modi des Sprechens: Viele Predigten zielen mit ihren Sprachmustern vor allem auf den Akt der Einwilligung in eine bestimmte Sicht der Dinge. Das hat mit „Kommunikation“ des Evangeliums wenig zu tun. Durch eine breitere Palette sprachlicher Umgangsformen werden die Hörer eher zu „Tätern des Wortes“ (vgl. Jak 1,22), als wenn sie nur als Container zum Behalten theologischer Informationen beansprucht werden. 6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug der Predigt Vorbemerkungen Im oben entworfenen Schema, das die Struktur des Predigtprozesses abbildet (Abb. 1, S. 27), erscheint - nach den Schwerpunkten Text, predigende Person, Gestalt und Sprache der Predigt - nun auch der Hörer bzw. seine Situation als eigenes Untersuchungsfeld des Kommunikationsgeschehens Predigt. Die Überschrift dieses Kapitels - „Predigen für einen Menschen“ - impliziert nicht nur den Anspruch, dass das jeweils Gesagte für den Einzelnen glaubens- und lebensdienlich werden sollte. „Predigen für einen Menschen“ - diese Maxime ist auch ein Plädoyer für eine menschliche, für Menschen gemachte Predigt, die Ausdruck des Respekts und der Wertschätzung der Hörenden ist. Das schließt eine kritische Hinterfragung bestehender Glaubens- und Lebenseinstellungen ein. Eine „menschliche Predigt“ bezieht ihre Prämissen aber nicht nur aus der Soteriologie, der Christologie, der Glaubenslehre oder einer „Theologie bei M. A. Brothers, 2014). Sein Buch „Distance in Preaching“ bietet eine instruktive Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Verstehen (im Sinne sprachlich-hermeneutischer Kooperation) durch methodisch-konzeptionelle Einräumung einer kritischen Distanz - nicht zuletzt auf der Ebene der Gestaltung der Predigt - begünstigt wird. <?page no="324"?> 324 Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug der Offenbarung“, sondern in besonderem Maße aus einer zeitgenössischen Anthropologie. 668 Der Mangel an in diesem Sinne ad hominem gerichteten Predigten wird seit Generationen als eines der gravierendsten Defizite der Kommunikation des Evangeliums beklagt, ohne dass diese Klage sich durch einen grundlegenden Wandel der Predigtkultur erübrigt hätte: „Keine Form der Verkündigung verdient den Namen Predigt, die nicht ad hominem geht, die sich nicht an den Menschen richtet. Eine der schwersten theologischen Verwirrungen der Gegenwart besteht in dem eigentümlichen Hang zu einer sogenannten ‚objektiven‘ Predigtweise. Hier offenbart sich eine theologische Lieblosigkeit großen Stils, die nur noch durch ihre Wirkungslosigkeit übertroffen wird.“ 669 Die gezielte, leidenschaftliche Vergegenwärtigung zeitgenössischer Lebenswirklichkeit und die Auseinandersetzung mit ihr muss sowohl in der Vorbereitung der Predigt als auch in der Predigtkommunikation selbst fruchtbar werden, wenn die Predigt als Rede „für einen Menschen“ keine bloße Absicht bleiben soll. 670 Alle homiletische Kunst ist vergeblich, wenn sich der Einzelne aus der Predigtkommunikation nichts ersehen kann, wenn sie für seine Existenz keine Bedeutung gewinnt. Er wird sich diesem Geschehen früher oder später nicht mehr aussetzen. Dies hat dann nichts mit der Konkurrenz der modernen Medien zu tun: Uwe Pörksen überliefert einen charmanten Dialog aus dem Anfang der Fünfziger Jahre: „In meinem Elternhaus gab es eine Waschfrau, Tante Hedwig. Von meiner Mutter einmal gefragt: ‚Nicht wahr, Frau Hinrichsen, Sie gehen nicht zur Kirche? ‘ antwortete sie: ‚Ich kann mir nichts daraus besehen.‘ Meine Mutter war von dieser Antwort irgendwie entzückt - von dem Ausdruck.“ 671 Wesentlich differenzierter kann man sich in einer aufschlussreichen Arbeit von Kim Apel zu „Predigten in der Literatur“ über die facettenreich dokumentierten Zusammenhänge zwischen Predigtwirkung, Selbstwahrnehmung des Hörers und Hörerverhalten informieren. Die daraus resultierende Predigtkritik - in diesem Fall geht es um Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser - setzt „nicht an der Intention 668 Genaueres dazu unter III.2.2. 669 H. Lilje, 1957, 22. 670 Was Wolfgang Hegewald als „Refrain“ der poetisch-didaktischen Weise des Schreibens bezeichnet, ist analog auch als homiletische Maxime relevant: „Literatur ist, wie Kunst überhaupt, Vergegenwärtigungsvirtuosität“ (W. Hegewald, 1998, 43; Hervorhebung W.-E.). 671 U. Pörksen, 2006, 93. <?page no="325"?> 325 Vorbemerkungen oder am Inhalt der Predigt [an], sondern an ihrer faktischen Wirkung“ im Leben der Menschen, die einer Predigt folgen. 672 Vor diesem Hintergrund ist die Situation des Hörers als ein Bereich markiert 673 , der über die Predigt als Akt innerhalb des Gottesdienstes hinausreicht. Der Hörer steht nicht nur in der Situation, durch die er für eine gewisse Zeit mit der Gemeinde und dem Prediger verbunden ist. Der Gottesdienst ist nur ein Segment, ein bestimmter Lebens- und Erfahrungsbereich innerhalb einer komplexen, für jeden Menschen spezifischen Lebenssituation. Wer zum Gottesdienst kommt, um unter anderem eine Predigt zu hören, kommt daher mit bestimmten Erfahrungen und Überzeugungen, aber auch mit Befürchtungen und Fragen, die mit seiner Lebenssituation zu tun haben - und von denen er zu Recht erwarten kann, dass sie in Liturgie und Predigt eine Rolle spielen. Dieser Gesichtspunkt ist in der Geschichte der Homiletik immer wieder mit dem Namen Ernst Langes verbunden worden. Das ist insofern richtig, als sich an den Ende der 60er Jahre von Lange pointiert vorgetragenen, scheinbar leicht verständlichen Thesen, weitreichende theologische Auseinandersetzungen entzündet haben, die die Art der Wahrnehmung des Hörers in der Predigt betrafen. In der Fixierung auf die Thesen Ernst Langes werden freilich andere Impulse leicht übersehen, die für die homiletische Erörterung der Situation, in die hinein die Predigt gesprochen wird, nicht weniger belangvoll sind. Dazu gehören die richtungsweisenden Arbeiten von Manfred Mezger 674 , die zu diesem Thema vorliegenden homiletischen Erschließungen von Alfred Dedo Müller 675 , die Impulse der Tillich’schen Korrelationstheologie 676 oder die von Otto Haendler schon in den vierziger Jahren angeregten Fragestellungen: „Die Fragen und Gegebenheiten, die unsere Zeit und also die Gemeinden im Besonderen bedrängen, [müssen] erörtert werden hinsichtlich ihrer Einwirkung auf die Gestaltung der Predigt. Eine jede Zeit wird in ihrem inneren Leben bestimmt durch wesentliche Fragen und durch wesentliche Gegebenheiten. […] Zu den Grundfragen des Menschen […] gehört die nach der Bewältigung des Lebens. [… Wer predigt, muss] unbeschadet der Antwort und um ihretwillen, ebenso wie die Tausenden, die Frage nach der Bewältigung des Lebens als Frage der Tage und Frage der Nächte leben und mitlebbar zur Lösung führen. Erst vor 672 K. Apel, 2009, 448. 673 Vgl. wiederum Abb. 1, S. 27. 674 M. Mezger, besonders die Schriften aus den Jahren 1959, 1971 und 2009. 675 A. D. Müller, 1954. 676 Vgl. P. Tillich, 1956/ 1958. <?page no="326"?> 326 solcher Tatsache wird deutlich, wie fern der Gegenwart eine Verkündigung ist, die ein beziehungsloses Wahrheitsgebäude zeitlos (statt überzeugend) über dem gegenwärtigen Menschen aufrichtet.“ 677 Bevor diese Anregungen für eine homiletische Annäherung an die existentielle Dimension des Menschseins zur Sprache kommen, sollen ein paar Problemanzeigen die Dringlichkeit der damit verbundenen Perspektiven verdeutlichen. 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 6.1.1 Ausblenden lebensweltlicher Realität Der Hörer einer Predigt ist - theologisch gesprochen - Bürger des Reiches Gottes und Weltbürger zugleich. Seine Existenz lässt sich nicht prozentual auf zwei Welten aufteilen, wobei gar seine „geistliche Existenz“ mit höheren Anteilen bedacht werden könnte als die profane. Deshalb müssen Predigten generell auf lebensweltliche Erfahrungen bezogen sein. Wer predigt, kann sich nicht mit einem „geistlichen Überbau“ begnügen, sondern muss angesichts der Dinge, wie sie sind bzw. wie sie erfahren werden, das Wort ergreifen. Das setzt Wahrnehmungsfähigkeit, Sachkunde und - im Interesse von Konkretionen - Sonntag für Sonntag eine Reduktion von Komplexität voraus. Was den „Situationsbezug“ der Predigt angeht, kommt es darauf an, einen relevanten und daher auch signifikanten Ausschnitt aus dem Spektrum menschlicher Wirklichkeitserfahrungen abzustecken und ihn in den Fluchtpunkt der Predigt zu stellen. Wer irgendwie über alles mögliche Unangenehme, Schlechte, Schlimme und Traurige spricht, um dann davon zu reden, dass - mit etwas Glauben - der Zugang zu allem Guten, Erfreulichen und Wünschenswerten offen sei, läuft Gefahr, nichts wirklich in den Blick zu bekommen. Die notwendige Auseinandersetzung mit der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen, denen die Predigt gilt, wird häufig als eine nur der Homiletik bzw. der Praktischen Theologie geltende Aufgabe missverstanden. 678 Es ist jedoch Aufgabe der gesamten Theologie - und in spezifischer Weise ist es auch Angelegenheit der Dogmatik und der Ethik -, sich mit jener Frage zu beschäf- 677 O. Haendler, [1941] 2017b, 529. 678 „Die praktische Theologie entlastet die übrigen theologischen Disziplinen von der speziellen geschichtlichen Verantwortung gegenwärtiger Wiederholung des Wortes Gottes“ (E. Jüngel, 1968, 44). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="327"?> 327 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen tigen, die Dietrich Bonhoeffer zur Leitfrage allen theologischen Nachdenkens erhob, mit der Frage nämlich, „wer Christus heute für uns eigentlich ist“ 679 . Dietrich Bonhoeffer erörtert diese Frage in einem Zusammenhang, in dem er die Leistung bzw. Tauglichkeit der „theologischen oder frommen Worte“ problematisiert. Bonhoeffer bezweifelt, dass man Menschen gegenüber, die „nicht mehr religiös“ seien (auch wenn diese Menschen das für sich bestreiten würden), verständlich von Gott reden könne, indem man bei ihnen weiterhin das „religiöse Apriori“ der abendländischen „christlichen Verkündigung und Theologie“ voraussetze. Demgegenüber komme es darauf an, eine sich gegen die Welt immunisierende Sprache und „religiöse Terminologie“ zu überwinden und sich der Frage zuzuwenden, „wie wir ,weltlich‘ von ,Gott‘ reden“. 680 Die Systematische Theologie hat also im Rahmen ihrer eigenen Reflexionsperspektiven ihrerseits zu leisten, was gern im Sinne einer Arbeitsteilung der Praktischen Theologie überlassen wird. Dabei geht es nicht darum, zu erörtern, wer Christus an und für sich sei - so kann von Christus grundsätzlich nicht geredet werden -, sondern es geht darum, wer er für die Menschen ist, da sein Auftreten, Reden und Handeln immer in konkretem Bezug zu jenen stand, mit denen er zu tun hatte. Eine zeitgenössische Theologie hat dementsprechend zu klären und zu plausibilisieren, wer wir heute in Bezug auf Christus sind, was diese Beziehung für uns am Beginn des 3. Jahrtausends bedeutet und wie wir unter den Geschicken und Geschichten unseres Lebens das Kommen der Gottesherrschaft wahrnehmen, erleben und bezeugen können. Indem ich das Problem der Ausblendung der Lebenswirklichkeit aus der Predigt an den Anfang dieses Kapitels stelle, möchte ich auf ein Generalproblem der Predigt bzw. eines landläufigen Predigtverständnisses aufmerksam machen: Im Vergleich zu den auf der Kanzel reichlich dargebotenen exegetischen Erörterungen sowie im Vergleich zur treuen Reproduktion standardisierter theologischer Argumentationsfiguren, nimmt die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Hörer einen auffallend spärlichen Raum ein. Häufig wird die Erfahrungsdimension menschlicher Existenz auf das Leben in der Gemeinde oder gar auf Fragen des Gottesdienstes reduziert: „Unsere Gemeinde würde nach außen ein viel besseres Bild abgeben, wenn es uns gelänge, mehr aufeinanderzuzugehen und praktische Lebenshilfe nicht dem Sozialstaat zu überlassen. Wir sollten uns mehr und mehr als Familie begreifen, in der einer für 679 D. Bonhoeffer, 1957, 144. 680 A. a. O., 145 f. <?page no="328"?> 328 den anderen Verantwortung tragen muss.“ 681 „Hat unsere aus der Tradition gewachsene Gottesdienstform noch etwas mit dem Gottesdienst der frühen christlichen Gemeinde Korinth zu tun? Sind die charismatischen Gemeinden in Afrika und hier in Deutschland in ihrem Verlangen, Gottesdienst mit seinen gerade auch ekstatischen Geistesgaben zu erleben, nicht viel näher an dem Ideal des urchristlichen Gottesdienstes? Diese Fragen bewegen mich immer aufs Neue. […] Vielleicht sind dies ja auch Ihre Fragen, liebe Gemeinde.“ 682 Die Hörer werden zu selten als Menschen wahrgenommen, die von den 168 Stunden einer Woche allenfalls eine und eine halbe in der Kirche sind, die Auseinandersetzungen auszuhalten haben, Widerspruch einlegen wollen oder klein beigeben müssen. Sie wissen, was Lebensfreude ist, sie könnten aber auch ihren je eigenen Klagepsalm schreiben. Stattdessen werden sie in der Predigt zu oft mit exegetischen „Fündlein“, mit Theologenthemen und -problemen konfrontiert, denen sich der Prediger zwar in der Vorbereitung auf seine Predigt stellen muss, die er aber seiner Gemeinde nicht zumuten sollte, erst recht nicht, wenn er die damit verbundenen Motive nur „ventiliert“: „Was ist Gott? Wenn ich diese Frage gestellt bekomme, fallen mir erst nach einigem Zögern und Nachdenken Antworten ein: Gott ist der Schöpfer. Gott ist der Allmächtige. Gott ist die letzte Instanz, vor der wir uns verantworten müssen. Gott ist höher als unsere Vernunft, er ist der gänzlich Andere […] Gott ist der Herr der Heerscharen […] Gott ist Liebe - das sind drei Worte, doch diese Worte enthalten eine kraftvolle Botschaft, deren Sprengkraft ungeheuer ist. Merken wir das noch? […] Johannes lässt uns wissen, dass Gott Liebe ist. Er meint damit, dass unser Vater im Himmel uns liebt, ja, dass sein Wesen selbst die Liebe ist. Der Schöpfer liebt seine Geschöpfe, Gott liebt die Menschen. […] Wir dürfen uns sagen lassen: Ihr werdet geliebt. Gott liebt euch. Gott ist die Liebe. […] Wenn wir uns auf die Zusage Gottes besinnen, können wir Mut schöpfen und die Furcht besiegen.“ 683 Beim Hören mancher Predigt lässt sich auch mit gesteigerter Aufmerksamkeit nicht ermitteln, welche Frage, welches Problem, welche Lebensnotwendigkeit den Prediger auf die Kanzel gebracht hat, denn er hat sich eine grundlegende Frage nicht gestellt: Wozu trete ich heute auf die Kanzel? Aus dieser Frage erwächst der Bedarf an weiteren Klärungen: Welche Gegebenheiten realer 681 Predigtmanuskript mit Bezug auf Gal 6,1-3.7-10. 682 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. 683 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Joh 4,16b-21. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="329"?> 329 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen menschlicher Existenz und des christlichen Glaubens unterstelle ich, wenn ich predige? Was habe ich dazu zu sagen? Was müsste der Fall sein, wenn meine Predigt von Belang sein soll - und was könnte die Predigt in diesem Zusammenhang bewirken? 684 Solchen Fragestellungen halten Auskünfte wie diese kaum stand: „Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Mensch und Gott, wenn eine jeweils andere Sprache gesprochen wird? Paulus spricht vom Heiligen Geist, der mit wortlosem Seufzen für uns eintritt. Der Heilige Geist tritt sozusagen als Dolmetscher ein. Was der Mensch Gott nicht zu sagen vermag, übersetzt der Heilige Geist für Gott. Im heutigen Zeitalter der Technik könnte man auch überzogen sagen, dass der Geist Gottes dem Menschen ,als Sender‘ ins Herz gegeben ist und ,Funkkontakt‘ mit Gott hält, wozu der Mensch aus eigenen Kräften nicht in der Lage ist. Doch ganz so einfach ist es auch nicht. […] Der Sender lässt sich nicht einstellen, sondern stellt sich selber ein. Der Mensch kann ,den Sender‘ nicht bestimmen. […] Worte, die ich in meinem Gebet spreche, gelangen nur über den Heiligen Geist zu Gott. [… Predigtschluss: ] Liebe Gemeinde, ob Sie danken oder klagen, loben oder tadeln, bekennen oder schweigen - wir wissen alle nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt - jedes gesprochene oder nicht gesprochene Wort gelangt nur durch den Heiligen Geist in Gottes Ohr.“ 685 Häufig scheint die Tatsache, dass ein Text aufgrund des Voranschreitens des Kirchenjahres „an der Reihe“ ist, der einzige wahrnehmbare Grund dafür zu sein, dass er ins Gespräch gebracht wird: „Weil aber heute Pfingsten ist, das Fest des Heiligen Geistes, möchte ich in dieser Predigt einmal über den Geber der Gaben reden, über den Heiligen Geist.“ 686 Doch auch ein Gottesdienst zum Pfingstfest ist ein „Service“, ein Dienst an den Hörerinnen und Hörern. Er wird um ihres Lebens willen angeboten und dient nicht (in erster Linie) ihrer dogmatischen Aufklärung oder gar der Ruhigstellung einer trinitarischen Gottheit. Jeder Gottesdienst stellt eine Form des Dienstes Gottes an seiner Kirche dar. Deshalb sollte auch im Kontext der Predigt die anthropologische Dimension des Kirchenjahres und seiner liturgischen Variationen wahrgenommen werden. 687 Ein Gottesdienstbesucher sollte sich jedenfalls nicht deshalb in der Perspektive der biblischen Tradition einen Sonntagvormittag lang „mit dem Heiligen Geist 684 Vgl. die Funktion der ähnlich ausgerichteten vier W-Fragen S. 202 f. 685 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,16 f. 686 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Kor 12,4-11. 687 Näheres dazu unter I.7.3.1. <?page no="330"?> 330 befassen, weil Pfingsten ist“, sondern weil die Überlieferungen zum Thema „Heiliger Geist“ seinen wirklichen Alltag betreffen und eine zentrale Dimension religiöser Praxis bzw. christlicher Lebenskunst erschließen. (Die umgekehrte Perspektive, in der der Alltag nur punktuell zur Sprache käme, nur um theologische oder kirchliche Begriffe des Textes zu erklären, wäre letztlich inhuman.) Rudolf Bohren hat den Begriff der „inhumanen Predigt“ benutzt, um damit eine andere problematische Predigtstrategie zu charakterisieren: 688 „Inhuman“ sei eine Predigt, die ihre Hörer - auf der Suche nach „Anknüpfungspunkten“ für das Wort Gottes - von der Kanzel her mit ihren Alltagsproblemen konfrontiere und sie damit nur auf ihre eigenen Sorgen zurückwerfe. Bohren führt zwar keine Beispiele für diese Predigtweise an, aber es liegt auf der Hand, woran er dabei denkt: An jene kühnen Auflistungen von Problemen, angefangen bei A wie „Arbeitslosigkeit“ über L wie „Lieblosigkeit unter den Menschen“ bis Z wie „Zerstörung der Umwelt“. Der Hörer bekommt diese Dinge jedoch nicht wesentlich anders dargeboten als in der Zeitung. Er bekommt sie vor die Füße geworfen, ohne dass sie sich nach dem Hören der Predigt anders darstellten als zuvor. Die Inhumanität solcher Predigt besteht nicht daran, dass sie sich auf Probleme bezieht, sondern darin, dass sie alle möglichen Probleme ventiliert, ohne dies mit einer veränderten Sicht auf die eigene Existenz zu verbinden, geschweige denn, durch die Kommunikation des Evangeliums ein komplexeres Verständnis von Wirklichkeit bzw. eine erweiterte Wirklichkeitswahrnehmung zu eröffnen. Es gibt jedoch außer dieser Form inhumaner Predigt, die man als Typ I bezeichnen könnte, auch den oben angesprochenen Modus, einen Typ II: Er wird in jenen Predigten manifest, die sich gegen jeglichen Bezug auf Lebenswirklichkeit immunisieren, über den Text informieren und darüber Auskunft geben, was zu den theologischen Problemstellungen „unserer Perikope“ zu vermelden ist. Diese Form inhumaner Predigt ist wenigstens ebenso häufig anzutreffen wie jene vom Typ I. „Unser Text erinnert uns daran, dass der Glaube ein Geschenk ist, das wir nur annehmen müssen. Paulus legt großen Wert darauf, dass wir mit dem Glauben keine Leistungen vollbringen oder untereinander konkurrieren wollen, sondern ihn, den Glauben, als Gnade verstehen. Mit dem, was wir tun, können wir Gott nicht beeindrucken, nur der Glaube zählt.“ 689 Einmal abgesehen von der floskelhaften Charakterisierung des Glau- 688 R. Bohren, [1971] 1993, 446. 689 Aus einem Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 3,21-28. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="331"?> 331 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen bens und des menschlichen Handlungsvermögens bleibt völlig offen, welchen Bezug der Glaube zu dem hat, was ein Mensch schließlich tun oder lassen kann (immerhin „muss“ er „ein Geschenk annehmen“), und welche Konsequenzen dieser Glaube für das Leben des Hörers hätte, das dieser eben doch selber zu führen hat. Eine solche Predigtweise markiert ein homiletisches Grundproblem, das sich nicht auf eine zu klischeehafte Annäherung an vermeintliche Lebenswirklichkeit reduzieren lässt. Wenn die unangenehmen Seiten des Lebens nur als Anknüpfungspunkte, als „Aufhänger“ zitiert werden, um in der Predigt dann doch bei diesem und jenem Aspekt des Textes zu verweilen (statt umgekehrt Situationen und Erfahrungen menschlichen Lebens im Lichte des Evangeliums und gegebenenfalls mit Bezug auf einen Text in den Blick zu bekommen), ist die Aufgabe der Predigt grundsätzlich falsch verstanden. Die in der Geschichte der Homiletik zunächst kritisch konnotierte Rede vom „Anknüpfungspunkt“ unterstellte, dass man, nachdem man auf menschliche Situationen eingegangen sei, schließlich auch noch bzw. wieder zum „Eigentlichen“ kommen könnte, zu einer „Anknüpfungspunkt-bereinigten“ Auslegung des Textes, zum Wort Gottes. 690 Der zur bloßen Anknüpfung abqualifizierte Situationsbezug der Predigt gehört aber substantiell zur Praxis der Kommunikation des Evangeliums. Eine theologisch humane Predigt - um einmal bei dieser Begrifflichkeit zu bleiben - bedarf der konzeptuellen Einbindung alltäglicher Lebenswirklichkeit, deren Wahrnehmung und Interpretation keine geringere Aufmerksamkeit erfordert als die exegetisch engagierte Lektüre dessen, was in den Texten steht. Es geht um eine Abkehr von der Instrumentalisierung von Lebenswirklichkeit zum Zwecke der Textillustration hin zu einer Respektierung von Lebenswirklichkeit als Erfahrungswelt, aus der die Hörer aufbrechen, um eine Predigt zu hören und für die sie die Predigt auch brauchen. In vergleichbarem Zusammenhang hat Gerhard Ebeling die Wirkung der Schrift darauf bezogen, dass sie „nicht am Leben vorbei-, sondern in das Leben hineingeht“ 691 . Dementsprechend betont er unter Verweis auf Luthers „sola autem experientia facit theologum“ 692 , dass die Ausblendung von Erfahrung nicht etwas der Theologie Inhärentes sei, sondern Ausdruck schlechter Theologie: „Solange das christliche Wort nicht erfahrungsgriffig und der christliche 690 Eine ausführliche Kommentierung des homiletischen Topos des „Anknüpfungspunktes“ folgt unter I.6.2. 691 G. Ebeling, 1979, 42. 692 M. Luther, 1531, WA TR 1, 16, 10-13 (Nr. 46). <?page no="332"?> 332 Glaube nicht erfahrungsverändernd gelebt wird, besteht allerdings Anlass zur Beunruhigung, ob die Theologie ihrer Mitverantwortung für den Erfahrungsbezug von Wort und Glaube gerecht wird.“ 693 6.1.2 Ignorieren des Christseins und Glaubens der Hörer Manche Predigt scheint mit ihren Hörern - die man doch als Gottesdienstbesucher in der Regel zu den kirchlich Sozialisierteren rechnen muss - wie mit Konfirmanden zu verfahren, die mit den Grundfragen des christlichen Glaubens bekanntgemacht werden sollen. Dies geschieht häufig auf einer recht niedrigen Informationsebene, die sich vom Aussagegehalt her vielleicht für den Klappentext der Bibel eignen würde. Teilweise wird die Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens auf einem Niveau geführt, das weder dem Problembewusstsein noch dem Reifegrad einer zum Gottesdienst versammelten Gemeinde gerecht wird. 694 „Der gute Hirte kennt jedes Schaf mit Namen. Das muss man sich einmal vorstellen bei einer Herde mit 100 Schafen und mehr! Und er weiß auch genau: Das Schaf mit dem kurzen Schwanz, das ist Berta. Und Florian, das ist das Schaf mit dem schwarzen Ohr. Er passt auf, dass nicht das eine Schaf hierhin, das andere dorthin läuft […]. Jesus lädt uns ein zu prüfen, ob er der gute Hirte ist […]. Er will uns unsere Angst nehmen und uns Leben geben, das trotz der Bedrohung durch den Wolf schon hier und jetzt beginnen kann […]. Der Hirte, Jesus, der gefällt mir wohl. Aber wenn ich diese anderen Schafe um mich herum sehe […]. Eigentlich ist es ja auch schön, dass jeder Mensch eine ganz individuelle Beziehung zu Jesus haben darf […]. Ob ich einfach den Mut haben sollte, mit Jesus darüber zu reden? Ich werde ihm sagen, dass ich auch gern zu ihm und seiner Gemeinde gehören möchte.“ 695 Mit der oben geäußerten Kritik wird nicht einfach bestritten, dass eine Predigt, die sich mit Grundaspekten des christlichen Glaubens auseinandersetzte, keine 693 G. Ebeling, 1975, 16. 694 Predigerinnen und Prediger reden nicht etwa aufgrund eines erfahreneren, stärkeren, größeren oder bewährteren Glaubens zur Gemeinde, sondern u. a. aufgrund einer geprüften theologischen Kompetenz, und weil die Gemeinde aus einem erklärten Bedürfnis an der Kommunikation des Evangeliums heraus ausdrücklich wünscht, „dass das Wort im Schwang gehe“. Zur homiletischen Kompetenz vgl. I.2.3, S. 65-70 und zum Verständnis des Predigtauftrags vgl. III.4.5.2 und III.4.5.3, S. 603-618. 695 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 10,11-16.27-30. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="333"?> 333 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen existentielle Dimension berge. Im Gegenteil, die immer wiederkehrenden Evangelien- und Epistel-Lesungen der einzelnen Sonntage sind ja auch deshalb ausgewählt worden, weil sie von elementarer Bedeutung für den Zusammenhang von Existenz und Glauben sind. Im Unterschied zu der gerade zitierten Predigt handeln sie aber von Leben und Tod, von Schuld und Vergebung, von Zwängen und Freiheit, von Verzweiflung und Hoffnung - kurz, von einer Wirklichkeit, der man mit „Milchspeisen“ allein nicht gewachsen ist, sondern die zu bestehen es „fester Speise“ bedarf (vgl. 1 Kor 3,1f.). Gerade angesichts der Tatsache, dass viele Ältere zum Gottesdienst kommen, die dem Prediger in Bezug auf dessen geistliche Reife - wie immer man sie definiert - in nichts nachstehen dürften, wirkt der Appell, es nun endlich mit Jesus zu versuchen, bizarr und überheblich. Schließlich handelt es sich bei den hier Angesprochenen um Menschen, die sich - zum Teil im Rückblick auf einen Weltkrieg - unter dem „Einbrechen der Wölfe“ sehr Konkretes vorstellen können und in verschiedensten Situationen sehen mussten, wie weit sie mit ihrem Glauben kamen. Statt dass die Gemeinde auf dem von ihr bereits beschrittenen Weg Ermutigung und Begleitung erfährt, wird sie häufiger dafür gescholten, dass sie auf dem „Weg der Nachfolge“ zu bequem sei: „Gegen Nachfolge haben wir Menschen ja von Natur aus etwas. Wir wollen lieber tun, wozu wir Lust haben oder was uns vernünftig erscheint; Gehorsam halten wir für eine Tugend aus vergangenen Jahrhunderten. Wer aber nicht nachfolgt, wohin Gott ihn ruft, geht an seinem Leben vorbei.“ 696 In dieser Predigt kommen gleich mehrere, sich z. T. widersprechende Stereotypen zum Tragen, auf die hier nicht en detail eingegangen werden kann. Problematisch ist vor allem der Begriff der Nachfolge. Nachfolge wird nicht nur als richtungsloser Gehorsam interpretiert, sondern außerdem gegen errungene Einsicht ausgespielt. Demgegenüber kann Nachfolge durchaus Ausdruck von Einsicht (z. B. im Sinne von Umkehr) sein und auf die Aneignung von Freiheit hinauslaufen. Fatal ist im Predigtbeispiel auch die Radikalität, mit der der Gemeinde abgesprochen wird, auf diesem Wege gute Erfahrungen gemacht zu haben, ohne dabei besondere Gehorsamsübungen vollzogen zu haben. In diesem Zusammenhang ein weiteres Zitat: „Der sonntäglichen Kerngemeinde hat man zuerst den Ernst der Nachfolge zu predigen. […] Darum wollen wir zunächst den Einzelnen auffordern, persönliche Veränderungen in seinem Leben vorzunehmen.“ Diese Absichtserklärungen finden dann in der Predigt selbst folgenden Niederschlag: 696 Predigtmanuskript mit Bezug auf Lk 14,25-33. <?page no="334"?> 334 „Es ist wichtig, auf welchen Grund wir unser Leben bauen. Leben und handeln wir nach der Bergpredigt, werden wir im Jüngsten Gericht gerettet. […] Wenn ich Jesus gehorchen will, muss ich anfangen, in den kleinen Dingen des Lebens Veränderungen anzustellen.“ 697 Dass die Gemeinde sowohl den Ernst als auch die Freiheit der Nachfolge schon erfahren haben könnte und deshalb auch auf Bestätigung und „Erbauung“ angewiesen ist, kommt in beiden Predigten nicht in den Blick. Selbst wenn in der Frage der Nachfolge kritische Töne angesprochen werden sollen, darf die Gemeinde erwarten, dass die Predigt eine Argumentationsebene erreicht, die der Lebens- und Glaubenskompetenz ihrer Hörer entspricht. Ein Prediger, der sich erklärtermaßen an eine evangelikal-missionarische Gemeinde wendet, in der „zahlreiche Veranstaltungen“, „Bibelkreise“, „Hauskreise“, „offene Abende“, gar „Samstagsgottesdienste“ zusätzlich zum Sonntagsgottesdienst u. a. m. selbstverständlich sind, predigt seiner Gemeinde: „Wir haben keine Vorstellung davon, wer oder wie dieser Jesus in Wirklichkeit ist. […] Wir sollen erkennen, dass Jesus Christus in diese Welt gekommen ist, um uns unsere Sünden, unsere Lasten und Sorgen abzunehmen. […] Ich weiß nicht, was Sie vielleicht im Einzelnen hindert, Christus zu erkennen, zu ihm zu kommen. Ich weiß nicht, welche Barrieren dazwischenstehen oder warum sie da sind. […] Wenn wir uns wirklich ernsthaft auf Jesus einlassen, dann werden wir selbst […] zu Zeugen für Christus.“ 698 Der Prediger erwartet also, dass die Gemeindeglieder erst dann zu „Zeugen für Christus“ werden, wenn sie sich - nach der Predigt - endlich „ernsthaft auf Jesus einlassen“. Dem ist insofern zu widersprechen, als sich die Gemeindeglieder zum Gottesdienst versammelt haben, weil sie diesen Schritt gegangen sind. Friedrich Schleiermacher hat mehrfach gefordert, beim Predigen zu bedenken, dass jeder einzelne Glaubende am Priestertum aller Gläubigen partizipiere, also an der „selbständigen Ausübung des Christenthums“ 699 teilhabe. Dies verlangt nicht nur eine dialogischere Kommunikationsebene anstelle eines hierarchischen Predigtgefälles, sondern erfordert darüber hinaus, beim Predigen inhaltlich abzuwägen, was die Gemeinde für die „Ausübung“ der Praxis ihres Christseins im Alltag wirklich braucht. 697 Predigtmanuskript mit Vorarbeiten zu Mt 7,24-29. 698 Predigtmanuskript mit Vorarbeiten zu Joh 1,29-34. 699 F. D. E. Schleiermacher, 1850, 62. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="335"?> 335 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen 6.1.3 Hörerschelte Die mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Vorfeld der Predigt bzw. mit der eigenen Subjekthaftigkeit im Predigtprozess geht häufig mit dem Unvermögen einher, die Hörer ihrerseits als Subjekte ernst zu nehmen. Dabei sind sie es schließlich gewesen, die sich den Prediger als eine Person aus ihrer Mitte sich selbst gegenübergestellt haben. 700 Im Rahmen dieser Gegenüber-Funktion hat zwar auch eine in Frage stellende Predigt ihren Platz, niemals aber in Form von Hörerschelte. Ein rügender Prediger geht mit den Hörern wie mit unerzogenen Kindern um, die - wenigstens für die Dauer der Predigt - zum Opfer einer tumben Glaubenspädagogik werden: Sie müssen sich inquisitorische Moralpredigten anhören und werden zur Exemplifizierung all dessen missbraucht, worüber sich der Prediger (immer wieder gern) ärgert. Solche Hörerschelte geht meist mit vagen Unterstellungen und Mutmaßungen einher. „Wir berauschen uns am Konsum. Wünsche, Wünsche, Wünsche. Ich frage mich: Wer braucht da noch den Himmel, wenn die Erde alle Wünsche erfüllt? Wir reden vom ,himmlischen Vergnügen‘, vom ,siebten Himmel der Liebe‘ oder einem ,Geschenk des Himmels‘. Der Himmel scheint angesiedelt zu sein inmitten der kleinen und großen Freuden des Alltags. […] Der Himmel, den wir so erwerben können, ist ein Trugbild. Was haben wir aus dem Himmel gemacht? Wir haben ihn immer näher herangeholt, immer näher heran an unsere täglichen Freuden, wir haben ihn berechenbar, bezahlbar, käuflich gemacht, und gerade so haben wir den Himmel verloren.“ 701 Generalisierende Unterstellungen wirken umso deplatzierter, je genauer man darüber nachdenkt, zu wem der Prediger eigentlich spricht: Er redet zu einer vergleichsweise kleinen Gruppe 702 (evangelischer) Christen, die sich deutsch- 700 Zum theologischen Hintergrund dieser Betrachtungsweise vgl. III.4.5.2 und III.4.5.3. 701 Predigtmanuskript mit Bezug auf 1 Petr 1,9. 702 Wer sonntags in einer evangelischen Kirche predigt, hat es mit Menschen zu tun, die zu den knapp 5 Millionen (von 81.198.000 Einwohnern, vgl. den Zensus von 2011) gehören, die sonntags eine Predigt hören. „Rund 808.000 Menschen besuchen in Deutschland jeden Sonntag einen evangelischen Gottesdienst“ (Kirchenamt der EKD, 2016, 14). Dazu kommen ca. 3.564.000 katholische Christen (15 % von ca. 23,76 Millionen in Deutschland lebenden Katholiken), vgl. Kirchenamt der EKD, 2016, 14, www. evangelisch.de/ inhalte/ 113471 (letzter Zugriff 18.4.2018). Darüber hinaus verfolgen etwa 600.000 Christen „mit einem Marktanteil von 6,4 Prozent […] die sonntäglichen Übertragungen evangelischer und ökumenischer Gottesdienste im Fernsehen“ (ebd). Das alles - ohne die „Besuche in den unzähligen Gottesdiensten in Senioreneinrich- <?page no="336"?> 336 landweit im Sonntagsgottesdienst versammeln und nicht nur „die Kirche im Dorf lassen“ wollen, sondern sich auch selbst als Glieder dieser Kirche verstehen. Der Prediger hat also eher die Engagierten vor sich, die, wie Martin Luther sich ausdrückte, „mit Ernst Christen sein wollen“. „Die Bilder vom schrecklichen Ende einer Christmette in Frankfurt-Sindlingen sitzen noch tief in mir. Eine Frau geht in die Kirche und bringt sich im Laufe des Weihnachtsgottesdienstes mit zwei Handgranaten um. Auch hier: Die Betroffenheit war stark, währte aber nicht lange. Schnell ging man zur Tagesordnung über. […] Auch wir haben diesen Vorfall schnell zu den Akten gelegt. […] Leid ist ein Ort, an dem Gott sich offenbaren will. Auch das Leben der Attentäterin von Sindlingen war ein solcher Ort, und wir als Mitmenschen müssen uns eingestehen: Wir haben in diesem Fall versagt, haben diesen Ort des Kreuzes nicht gesucht, nicht wahrgenommen.“ 703 Gewiss, bei solch einem diffusen Argumentationszusammenhang bleibt auch in logischer Hinsicht vieles im Dunkeln. Aber deutlich wird gleichwohl, dass den Hörern mangelnde Sensibilität für das Leid unterstellt wird. Doch woher weiß der Prediger das? Vielleicht sind all die Menschen, die da unter seiner Kanzel sitzen, auch deswegen zur Predigt gekommen, um in ihrem Leid - und angesichts ihres Betroffenseins von fremdem Leid - ermutigt und unterstützt zu werden. Es ist nicht nur theologisch problematisch, sondern auch kommunikationspraktisch ungeschickt, diesen Menschen vorzuhalten, dass sie weder trösten könnten - „Wer kann schon trösten? Wir sind selbst hilflos! “ - noch bereit seien, sich ihre eigene Trostbedürftigkeit einzugestehen, denn das klinge ihnen doch „viel zu sehr nach Hilflosigkeit“ 704 . Statt dass der Prediger sich solidarisch und kooperativ 705 mit nachvollziehbaren, authentischen Facetten der Eigenerfahrung von Leid in seiner Gemeinde auseinandersetzte, mokiert er sich darüber, dass er bei ihr keine tiefere Betroffenheit nach einem Handgranaten-Attentat wahrnimmt. Hierbei dürfte es sich weniger um eine Fehlleistung der Hörerinnen und Hörer beim Besuch eines Gottesdienstes handeln, der ca. 600 km vom Tatort in Sindlingen entfernt stattfindet, sondern um eine mantungen oder Krankenhäusern“ - ergibt etwa 6,12 % der Bevölkerung, eine beachtliche Quote für eine im Wochenrhythmus wiederkehrende Veranstaltung. 703 Predigtmanuskript mit Bezug auf Mt 27,33-50. 704 Predigtmanuskript mit Bezug auf Jes 40,1-11. 705 Zu weiteren Kriterien der Predigt - die Person des Predigers betreffend - vgl. I.5.4, S.-314-323. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="337"?> 337 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen gelnde Wahrnehmung leidgeprägter Lebenswirklichkeit im Umkreis von fünf Kilometer auf Seiten des Predigers. 6.1.4 Fragwürdige Identifikationsangebote Predigen hat unter anderem damit zu tun, „Identifikationsangebote“ zu unterbreiten. Der Begriff „Identifikationsangebot“ ist in diesem Zusammenhang der terminus technicus für die den Einzelnen mit einem neuen Selbstverständnis konfrontierende Kommunikation des Evangeliums. Der Ausdruck „Identifikationsangebot“ ist nicht in dem Sinne wörtlich zu nehmen, als sei die Daseins- und Lebensweise, die dabei in den Blick kommt, eine Art Sonderangebot aus einem Katalog christlicher Optionen mit Redaktionsschluss im 4. Jahrhundert nach Christus, auf den man von Fall zu Fall zurückgreifen könnte, um bestimmte Situationen zu meistern. Der Begriff bezeichnet exemplarische Konzepte wünschenswerten Menschseins, Entwürfe einer bestimmten Art und Weise, sich selbst zu verstehen, sich im Bezug auf Gott und die anderen wahrzunehmen, ein eigenes Leben zu führen und als Mensch zum Vorschein zu kommen. Durch bloßes Zitieren bestimmter Leitbegriffe christlicher Existenz, wie sie zum Beispiel im Briefkorpus des Neuen Testaments zur Sprache kommen, werden in einer Predigt noch keine Identifikationsangebote unterbreitet. Dazu bedarf es zusätzlicher hermeneutischer Bemühungen. 706 Gleichwohl finden sich christliche Identifikationsangebote natürlich auch in der biblischen Tradition selbst, etwa in der Bergpredigt Jesu. Dort ist von „Sanftmütigen“, von Menschen „reinen Herzens“, „Leidtragenden“ und „Friedensstiftern“ die Rede. Die so Angesprochenen werden sich dabei als andere zu verstehen gegeben, d. h. als andere als die, als die sie sich zu kennen glauben. Sie werden nicht auf ihrem Sosein behaftet und erst recht nicht darauf zurückgeworfen, sondern kommen gleichsam als Menschen zum Vorschein, für die die Seligpreisungen (um bei diesem Beispiel zu bleiben) Paradoxien gelingenden Lebens sind. Es ist wichtig, eine Predigt auf zumutbare, lohnende, aussichtsreiche Identifikationsangebote auszurichten und das Leben aus Glauben nicht als Alternative zu einem erfüllten Leben anzubieten. Viele Predigten scheitern an der damit verbundenen Herausforderung homiletischer Imagination. 707 706 Vgl. I.6.3.3, S. 361-368. 707 Auf die Relevanz der Kategorie der Imagination, ergänzend bzw. kontrapunktisch zur Kategorie der Erfahrung, hat zuletzt Konrad Müller (2015) hingewiesen. Auch wenn <?page no="338"?> 338 Eine Predigt lässt auf negative Identitätsbeschreibungen einen massiven Appell zur Heiligung folgen, wodurch die Hörer zu ihrer eigentlichen Identität finden sollen: „So können wir uns nicht satt und selbstzufrieden ins Gras legen wie Max und Moritz. Der Ruf Gottes, der jeden Tag neu an uns ergeht, muss von uns gehört werden - und Hören heißt, im Glauben an die in Christus ergangene Verheißung Gott zu antworten und Gott zu lieben von ganzem Herzen. Amen! “ 708 Den Hörern wird im Laufe der Predigt nicht deutlich gemacht, was ihnen - wenn schon nicht Sättigung und eine Ruhepause auf der Wiese - denn sonst „erlaubt“ wäre, was sie „erquicken“ könnte, welche Aussicht auf das Leben wünschenswert wäre, welche Perspektive im Zuge der Kommunikation des Evangeliums eröffnet werden soll - kurz: wer sie sein könnten. Den Hörern wird nicht nur die Erfahrung der Sättigung und der Lebenszufriedenheit madig gemacht, sondern als einzige Alternative eine vage, bitter-saure Nachfolge in Aussicht gestellt, in der es vor allem gilt, des ständigen Rufs Gottes gewärtig zu sein, das Antworten nicht zu verpassen und dies obendrein als Ausdruck von Liebe zu empfinden. In manchen Predigten werden dem Hörer temporäre, nur für die Dauer der Predigt relevante Identifikationsangebote unterbreitet, die sich auf eine irgendwie defizitäre Gestalt oder auf eine bedauernswerte Figur des jeweiligen Predigttextes beziehen. Damit sollen problematische Haltungen und Verhaltensweisen vor Augen gestellt werden. Der Hörer sieht sich dann in bestimmter Hinsicht als „am Rande Stehender“ oder als „arm“ oder „reich“, „aussätzig“, „fremd“, „verkrüppelt“, „blind“, „gelähmt“ usw. Diese prinzipiell legitimen temporären Identifikationsangebote 709 verlieren jedoch ihre v. a. bewusstmachende Funktion, wenn die Hörenden in diesen Rollen gleichsam eingefroren werden, wenn also kein Rollenwechsel in den Blick kommt. diese Dissertation darin zu weit geht, die Tugend der Imagination gegen das Erfahrungsprinzip im homiletischen Prozess auszuspielen (vgl. ebd., 368), ist ihr Plädoyer für eine imaginierende, Bilder entwerfende und darin Wirklichkeit antizipierende Sprache der Predigt durchaus zu begrüßen. Zur Relevanz der Bergpredigt für das Verständnis von der Aufgabe der Predigt vgl. auch D. Buttrick, 2002. 708 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,26-30. 709 Mit dieser Strategie arbeiten viele Erzählungen, Romane und Filme, indem sie ihre Protagonisten in allerlei Schwierigkeiten geraten und Schicksalsschläge erleiden lassen, Figuren, deren Leben auf eine Weise verwickelt ist, dass wir unser Leben in der Geschichte dieser Menschen wiedererkennen können, obwohl sie in ganz anderen Koordinaten von Raum und Zeit spielt. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="339"?> 339 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen „Genaugenommen hat der törichte Mann gar nicht wirklich gehört. Hätte er verstanden, worum es im Angebot der Nachfolge geht, würde er sich nicht weigern, entsprechend zu handeln. Das rechte Hören auf die Worte Jesu schließt das Gehorchen ein. Der Gehorsam ist aber immer etwas Konkretes. […] Da gibt es viele kleine Dinge, denen ich schon dauernd aus dem Weg gehe. Ich glaube, jedem fällt hier spontan etwas ein, wo er sein Leben verändern müsste. Wir müssen Ernst machen. Persönliche Konsequenzen ziehen, uns nicht immer nur in Gedankenspielen bewegen. […] Solange wir als Christen in dieser Stadt genauso leben wie alle anderen Menschen auch, wird keiner merken, dass es überhaupt noch Christen gibt. Selbst, wenn jemand bemerkt, dass wir uns Christen nennen, wird er sich berechtigterweise fragen, was ihn und uns denn unterscheidet.“ 710 Der Hörer fragt sich natürlich erst recht, welche lohnenden Aussichten sich für sein Leben eröffnen, wenn er als Christ lebt. Der permanente Aufruf, Vorbild zu sein, und der latente Vorwurf, es doch nicht zu schaffen, ist in dieser Kombination ein denkbar ungeeignetes Identifikationsangebot. In diesem Zusammenhang sei auch auf die problematische Gewohnheit verwiesen, bestimmte Merkmale einer Gestalt des Textes bzw. negative Verhaltensweisen oder Laster, die er beschreibt, geradezu als prototypisch für den „heutigen Menschen“ 711 herauszustellen, der dann für alles das herhalten muss, was an Schlechtem über unsere Zeit gesagt werden soll. Ein Prediger thematisiert den Gehorsam gegenüber Gott sowie die In-Anspruch-Nahme des Menschen durch Gott und bringt den „modernen Menschen“ dabei folgendermaßen ins Spiel: „Der, der uns beansprucht, ist Gott. […] Doch es fällt uns nicht schwer - weil man ja ein moderner Mensch ist - diesen Anspruch sogleich wegzuschieben.“ 712 - Immerhin: Jona und andere Propheten konnten das auch, ohne „moderne Menschen“ zu sein. Gehört es nicht seit Adam und Eva zu den Schwierigkeiten des Menschen, sich von Gott beanspruchen zu lassen? Solche Identifikationsversuche erwecken den Eindruck, die Relevanz eines Textes hinge jeweils davon ab, dass die Hörer adäquat in einer Gestalt des Textes abgebildet werden können. Abgesehen davon, dass solche Identifikationsangebote allzu oft an Hörerschelte grenzen, gehen sie in ihren kurzschlüssigen Analogien an den tatsächlichen Defiziterfahrungen der Hörer vorbei. Das ist dann umso problematischer, wenn die Vagheit des Identifikationsangebots die Verweigerung eines Lösungsangebots impliziert, wenn also die zur Sprache 710 Predigtmanuskript mit Bezug auf Mt 7,24-29. 711 Vgl. dazu W. Engemann, 1996 sowie unter „Predigtklischees“ in I.6.1.6. 712 H. Lindenmeyer, Predigt zu Röm 6,16-23, in: Kirche im Rundfunk, Jg. 1965, Nr. 33. <?page no="340"?> 340 gebrachten Gravamina über „den Menschen und seine Zeit“ einfach im Raum stehen bleiben oder allenfalls mit Bibeltext-Zitaten angegangen werden. So gewiss die Predigt nicht primär als sozialtherapeutische Gelegenheit missverstanden werden soll, ist von der Kommunikation des Evangeliums zu erwarten, dass sie an einem christlichen Vorstellungen entsprechenden Bild einer modernen Gesellschaft mitarbeitet, indem sie Visionen dafür entwickelt, wie diese aussehen könnte. 6.1.5 Anempfohlene Gefühle Wie andere sprachliche Äußerungen zeigen Predigten unter anderem auch Empfindungen des Redenden an, zugleich lösen sie auf Seiten der Hörer Empfindungen aus. Allerdings besteht zwischen dem semantischen Gehalt eines Satzes und dem Gefühl, das sich beim Sprechen oder Hören dieses Satzes einstellt, kein unmittelbarer, gleichsam durch seinen Inhalt erzwungener Zusammenhang. Die Doppelbödigkeit menschlichen Kommunizierens auf einer Inhaltsebene einerseits und einer Beziehungsebene andererseits führt dazu, dass dem Inhalt nach scheinbar Tröstliches keineswegs immer tröstet, dass die „frohe Botschaft“ keineswegs immer erfreut oder dass zur Ermutigung abgefasste Texte keineswegs immer ermutigen. 713 Die Häufigkeit, mit der von der Kanzel her den Hörern bestimmte Befindlichkeiten nahegelegt und unvermittelt aus der eigenen Rede abgeleitet werden, lässt auf das Missverständnis schließen, eine Predigt könne schon qua Aussage oder Appell auch auf der emotiven Ebene das Ergebnis herbeiführen, von dem sie handelt. Entsprechende Äußerungen sind umso problematischer, je appellativer sie gestaltet werden: „Ich möchte euch Mut machen, gemeinsam zu hoffen und Freude auszustrahlen.“ 714 „Wir sollten es als tiefe Erleichterung empfinden, dass wir nichts tun müssen, um die Erfahrung der Liebe Gottes machen zu können.“ 715 Aus der Kritik an dem Versuch, den Hörern auf Basis von Empfehlungen und Appellen Emotionen beibringen zu wollen, ist nicht zu folgern, Gefühle und Empfindungen sollten aus der Predigt herausgehalten werden oder seien als 713 Zum Doppelaspekt von Inhalt und Beziehung vgl. I.2.3.3, S. 85-91, sowie zum Mitteilungscharakter der Predigt III.4.1, S. 581 f. 714 Predigtmanuskript mit Bezug auf Apk 3,1-6. 15. 715 Predigtmanuskript mit Bezug auf Joh 3,16. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="341"?> 341 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Thema der Homiletik ungeeignet. Im Gegenteil: Da sie immer im Spiel sind, ist zu fragen, wie man ihr Wirken integrieren kann. Weil sich erwünschte Gefühle grundsätzlich nicht als Resultat einer Instruktion einstellen - da Empfindungen immer Folge von Wahrnehmungen auf der Beziehungsebene sind - ist es wichtig, einige Grundregeln der Rezeption menschlicher Rede zu kennen und um das Beziehungsgefälle der eigenen Predigtweise zu wissen. 716 Die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen hat Einfluss darauf, aus welcher Grundbefindlichkeit heraus er vorzugweise zu anderen in Kommunikation tritt, aus welcher Gefühlslage heraus bzw. in welcher Grundstimmung er lebt und welches „Klima“ er dementsprechend verbreitet, wenn er zu anderen spricht. Daher ist zu fragen, ob es nicht Kriterien und Kontrollmechanismen gibt, die den Prediger davor schützen, die Kommunikation mit dem Hörer - bei ganz unterschiedlichen Texten und Themen - immer in die gleiche (z. B. depressive, zwanghafte oder euphorische) Grundstimmung einzutauchen. 717 6.1.6 Predigtklischees In der Predigt der Gegenwart ist das alte, in der Zeit der Prosperität nach dem 2. Weltkrieg aufgekommene Klischee vom modernen Menschen noch immer lebendig. Und wie „der moderne Mensch“ damals auf „unsere Vernunft, unsere Wissenschaft, unsere Technik“ 718 vertraut und alles dies an die Stelle Gottes gesetzt haben soll, so wird er auch heute noch ins Feld geführt, wenn der Prediger ein „Mängelwesen“ oder einen „Gegentyp“ für seine Lösungsmodelle braucht. 719 Nach Ansicht vieler Predigten ist der Mensch bis heute „von dem Gedanken besessen, […] dass doch alles machbar sei.“ 720 Alles, was man Menschen überhaupt anlasten kann - und zwar zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte - wird dem „modernen Menschen“ angelastet. Er wird - ebenfalls wie zu allen Zeiten - als „dem Zeitgeist verfallen“ diskreditiert, und die bevorzugte Art 716 Vgl. die Problembeschreibungen in I.2.3.4, S. 91-105. 717 Ausführlicher in W. Engemann, 1992a, bes. 37-56. 77-84. 718 Th. Knolle: Predigt mit Bezug auf Joh 3,1-5, in: Das Zeugnis der Kirche in der Gegenwart, Nürnberg 1951, 370. 719 Zur Analyse des Topos vom „modernen Menschen“ in der Predigt vgl. W. Engemann, 1996, bes. 448-453. 720 G. Kugler: Predigt mit Bezug auf Jes 5,1-7, in: Kirche im Rundfunk. Ev. Ansprachen im Bayerischen Rundfunk, 1994, 76. <?page no="342"?> 342 seiner Zeitgenossenschaft wird im Allgemeinen als gefährliche Anpassung diagnostiziert: Die „modernen Menschen heute […] sind irritiert durch die unzähligen, von Menschen gemachten Wüsten, von Kriegen, Terror, Klimakatastrophen, wirtschaftlicher Ausbeutung und Hunger. Sie irren durch die Wüsten ihres eigenen Lebens, das isoliert und einsam, ziellos und wertlos ist. Sie irren […] durch die Wüsten ihrer eigenen Frustration und ihrer Auflehnung gegen Gott“ 721 . „Der moderne Mensch glaubt nur noch an sich selbst. Er hat es verlernt, zu vertrauen, und ist auch noch stolz darauf. Er sonnt sich in seiner Unabhängigkeit und geht Bindungen nur noch ein, wenn sie ihm etwas bringen.“ 722 „Der moderne Mensch hat Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde längst abgeschafft. Er glaubt an die Evolution, also an eine Höherentwicklung ‚von unten‘. Er bemüht sich, mit technischen Mitteln die Logik der Schöpfung zum vorgeblich Besseren zu wenden.“ 723 „Der moderne Mensch und der westliche Lebensstil sind davon bewegt, das pure Leben auszukosten, möglichst viele Facetten zu erleben und die Tage zu genießen, als gäbe es kein Ende.“ 724 Klischees entwickeln sich aus stereotypen Wahrnehmungen, wobei die Wahrnehmung von realen Vorgängen und Ereignissen ebenso zu Buche schlägt wie die medial vorgefertigten und suggerierten Wahrnehmungen. Es spricht in jedem Fall einiges dafür, dass Klischees sich gar nicht entwickeln könnten, wenn sie nicht - zumindest eine Zeitlang - durch unmittelbare Wahrnehmungen genährt würden. Wahrnehmungen werden erst dann zum Klischee, wenn sie an die Stelle originären Gewahr-Werdens von Wirklichkeit treten und zu Stereotypen erstarren. Sie sind dann nicht mehr das Ergebnis eigener Beobachtung, sondern ersetzen diese. Sie stärken dann ein bestimmtes Ensemble von Vorurteilen über die Wirklichkeit, über Verhältnisse, über die Welt. In dem 721 P. Heribert Graab S. J.: Predigt zu 1 Kö 19,4-8. Letzter Download am 13.8.2018: www. heribert-graab.de/ texte/ predigten/ jahreskreis. 722 Predigtmanuskript mit Bezug auf Heb 10,35-36 (37-38) 39. Im Hinblick auf beide voranstehenden Predigtzitate ist einerseits einzuwenden, dass sie Wahrnehmungen und Probleme ansprechen, die zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte zum Leben von Gläubigen gehörten. Andererseits huldigen sie einem Zerrbild des Beziehungsverhaltens des Menschen und unterschätzen sein Bedürfnis, Liebe sowohl zu gewähren als auch zu empfangen. 723 M. Widl: Predigt mit Bezug auf Gen 11,1-9. Letzter Download am 7.4.2018: www. predigten.uni-goettingen.de/ archiv-7/ 050516-2.html. 724 J. Block: Predigt mit Bezug auf Gal 2,16-21. Letzter Download am 7.4.2018: www. predigten.uni-goettingen.de/ archiv-8/ 060827-3.html. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="343"?> 343 6.1 Momentaufnahmen vor Ort. Empirische Problemanzeigen Moment aber, in dem sich wiederholende Wahrnehmungen einen längeren Prozess durchlaufen haben und Klischees geworden sind, stimmen sie häufig nicht mehr mit der Realität überein, die sie angeblich auf den Punkt bringen wollen. Das spezifische Klischee von der Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit des Menschen kann für die Postmoderne so nicht mehr beansprucht werden. Die Werte und Erwartungen heute lebender Menschen, ihr Selbst- und Weltbild sowie ihre „Krankheiten“ und „Süchte“, die in Predigten beharrlich diagnostiziert werden, liegen auf anderen Ebenen. Die „Postmodernität“ des Menschen drückt sich u. a. darin aus, dass er sich zwar durchaus der Probleme der Moderne bewusst ist; aber er erwartet nicht mehr, dass deren Lösung durch eine konsequentere Durchsetzung ihrer Ideale, durch technischen Fortschritt usw. erreicht werden kann. In der Predigt kommt dem „modernen Menschen“ häufig eine Art Entlastungsbzw. Sündenbock-Funktion zu. Es entlastet zunächst den Prediger, der - ohne die Insignien des modernen Menschen auf sich selbst beziehen zu müssen - seine Strafreden „zum Fenster hinaus“ an „die Menschen im Allgemeinen“ richten kann. Der verschwörerische Ton, in dem vor der Gemeinde oft in der dritten Person über den „modernen Menschen“ gehandelt wird, entlastet in gewisser Weise auch die Hörer, die möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass sie ja gar nicht zu „den modernen Menschen“ zu rechnen sind: Die gehen ja angeblich nicht zur Kirche und hören auch nicht auf Gottes Wort. Nachstehend zum Vergleich ein älteres und ein jüngeres Zitat: „Wen von uns packte nicht immer wieder das Grauen vor dem, was sich uns heute darbietet? Wer hätte nicht mit der Versuchung zur Menschenverachtung zu kämpfen, wenn wir [sic! ] einerseits die Menschen [sic! ] in ihrer Haltlosigkeit und in ihrer platten, nur nach Essen und Trinken verlangenden Begehrlichkeit sehen? […] Ganz anders Jesus.“ 725 In einer aktuellen Predigt wird beklagt, dass „sich heute deswegen viele Menschen nicht mehr zur Kirche hingezogen fühlen, weil sie nichts mehr begeistert“. Der Sinn für den Heiligen Geist und das Pfingstfest drohe „mehr und mehr verloren zu gehen“, weil „uns als modernen Menschen der dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses“ nichts mehr sage. 726 Die Kehrseite einer unreflektierten Anwendung von Klischees ist eine verstellte Wahrnehmung aktueller kultursoziologischer Entwicklungen. Entsprechende 725 B. H. Forck, Predigt zu Mt 9,35-38, in: Das Zeugnis der Kirche in der Gegenwart, Nürnberg 1951, 301. 726 Predigtmanuskript mit Bezug auf Röm 8,26-30. <?page no="344"?> 344 Predigten reden nicht nur am „Zeitgeist“ vorbei, der ja für keine Epoche in Abrede zu stellen ist. Sie sind auch nicht wirklich an den Hörern interessiert. Es genügt ihnen, die Welt in vertrauten Stereotypen zu betrachten und dementsprechend mit immer denselben Lösungsvorschlägen aufzuwarten. Dazu gehört in der Predigt auch das Klischee der „kleinen Dinge“ und „kleinen Schritte“. „Gab es auch in meinem Leben Momente, in denen ich etwas von dem Kontakt Gottes zur Erde und zu den Menschen erfahren habe? […] Ich meine Orte, an denen vielleicht etwas ganz Kleines und Unscheinbares passiert ist, wobei ich eine Ahnung der Nähe Gottes zu mir bekommen habe. […] Ich gebe zu, dass man die Orte, an denen Gott im eigenen Leben ist, meistens übersieht. Erst als die anderen [Anwesenden] ganz alltägliche Dinge erzählten, fielen auch mir kleine Begebenheiten ein, bei denen ich für mich etwas von Gott bemerkt hatte. Es waren […] die Momente, in denen ich plötzlich mit einem Menschen ins Gespräch kam und er mir ein guter Freund wurde.“ 727 Wozu müssen exklusiv die als angenehm empfundenen und als klein apostrophierten Dinge - ein gutes Gespräch, eine Blume am Wegrand, ein freundliches Gesicht am Tisch gegenüber - zur Gottesbegegnung hochstilisiert werden? Der in Predigten häufig begegnende Verweis auf die „kleinen Dinge“ ist wohl nicht selten ein Anzeichen einer großen Verlegenheit: Man hat sich offenbar gerade nicht mit den kleinen Dingen, den konkreten Details menschlicher Lebenswirklichkeit und religiöser Erfahrung auseinandergesetzt. Deshalb gibt man kurzerhand alles als Gottesbegegnung aus. Wir sollen uns „mit Jesus gemeinsam auf den Weg machen, auf den Weg weiter, nach vorn, über den Tod hinaus, hin zum Leben und nicht zurück. […] Diesen Weg können wir in vielen kleinen Schritten gehen. Wenn wir in den Medien von den hungernden Menschen erfahren und nicht nur am Heiligabend brav etwas Geld in die Kollekte für ,Brot für die Welt‘ werfen, wenn wir im Sommer wieder vom Ozon geplagt werden und Schreckensnachrichten über das Waldsterben hören und nicht schon stolz sind, wenn wir den Weg zum Bäcker diesmal nicht mit dem Auto zurückgelegt haben, wenn wir zu Weihnachten einmal nicht den Verlockungen des Kommerzes erliegen und […] Zeit finden für Freunde und Verwandte, […] immer dann sind wir wieder ein Stück weitergekommen auf dem Weg zum Leben.“ 728 727 Predigtmanuskript mit Bezug auf Gen 28,10-19a; Hervorhebung W.E. 728 Predigtentwurf mit Bezug auf Mk 16,1-8. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="345"?> 345 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Die „kleinen Schritte“ erweisen sich spätestens dann als Klischee, wenn sie bloße Applikationen von Stereotypen und Selbstverständlichkeiten christlich-bürgerlicher Wohlanständigkeit auf den „großen Schritt“ der Auferstehung Jesu darstellen. Auch hier kommen die buchstäblich von Ostern ausgehenden, erschrockenen Schritte 729 , die sich erst ihren Weg suchen müssen, nicht in den Blick. Die „kleinen Schritte“ sind in diesen Fällen ein großer Schritt an den potentiellen Ostererfahrungen der Hörer vorbei. 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Bereits in den Kapiteln über die Aufgabe der Predigt und über den Umgang mit biblischen Texten haben wir uns mit der Frage nach der Situation auseinandersetzen müssen. Indem wir diese Frage nun zum zentralen Thema machen, tragen wir der Tatsache Rechnung, dass die Auseinandersetzung um die Situation im Predigtprozess nicht nur zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Predigtansätze in der Geschichte der Homiletik beigetragen hat, sondern auch für die Erörterung neuer homiletischer Gesichtspunkte von grundlegender Bedeutung ist. Zudem hat sich der „Situationsbezug der Predigt“ etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer eigenen homiletischen Reflexionsperspektive entwickelt, die eine gesonderte Abhandlung notwendig erscheinen lässt. 6.2.1 Die „Situation“ in der Geschichte der Predigt und der Homiletik Befasst man sich mit dem Predigtcharakter der biblischen Texte, mit den Anfängen der Kommunikation des Evangeliums in frühchristlicher Zeit und mit den homiletischen Prämissen reformatorischer Predigt nach Martin Luther, stellt sich die Frage, wieso überhaupt ein Problem aus der Frage gemacht werden konnte, ob und inwiefern die Situation des Hörers Gegenstand der Homiletik sei. Immerhin stehen die biblischen Texte aufgrund von Situationen gleichsam unter Hochspannung. Sie sprechen in konkrete Lebenslagen hinein. Sie formulieren Überzeugungen mit Bezug auf konkrete Situationen. Die Situation ist für das Verständnis der biblischen Zeugnisse von so großer Bedeutung, dass man die meisten Texte überhaupt erst verstehen kann, wenn man verstanden hat, für welche Situationen sie gedacht waren. 729 Bemerkenswerterweise endet das Osterevangelium nach Mk 16 damit, dass die Frauen am Grabe eine Erschütterung ihres Weltbildes erleben und entsetzt davonlaufen. <?page no="346"?> 346 Die Gründe, die Martin Luther dazu veranlassten, eine verständliche evangelische Predigt für „Hänslein und Elslein“ zu fordern, sind als wichtige Problemanzeige in dieser Sache zu verstehen: Wo Gottesdienst und Predigt ihren mitteilenden Charakter und damit ihre Relevanz verlieren, verkommen sie zu Veranstaltungen ohne ‚Benefiz‘ 730 . Sie entsprechen dann nicht mehr dem Dienst Gottes am Menschen und verfehlen ihre Bestimmung. Dementsprechend begründet Luther sein Plädoyer für die Katechismuspredigt mit dem angestrebten Adressatenbezug: „Christus, da er Menschen ziehen wollte, musste er Mensch werden. Sollen wir Kinder ziehen, so müssen wir auch Kinder mit ihnen werden.“ 731 An anderer Stelle heißt es: „Man soll auf der Kanzel die Zitzen herausziehen und das Volk mit Milch tränken, denn es wächst alle Tage eine neue Kirche auf, quae indiget primis principiis. Ich will Doctorem Pomeranum, Jonam, Philippum in meiner Predigt nicht wissen, denn sie wissens vorhin baß den ich. Ich predige ihnen auch nicht, sondern meinem Hänslein und Elslein, illos observo“ 732 - ihnen gilt meine ganze Aufmerksamkeit. Dieses „illos observo“, die aufmerksame Beobachtung zeitgenössischer Lebensumstände, ist die homiletische Selbstverpflichtung zur Wahrnehmung der Adressaten einer Predigt, eine Rücksichtnahme auf die Situation der Hörer aus hermeneutischem Interesse. Schon in der Zeit der Orthodoxie zeichnen sich die Folgen einer Luther in entscheidenden Punkten nur bruchstückhaft rezipierenden Predigtlehre ab: „Von den eigentlichen Grundanliegen Luthers findet sich hier nur das dogmatisch-pädagogische aufgenommen.“ 733 Die Predigt konzentriert sich auf die dogmatische Entfaltung vermeintlicher Heilswahrheiten. Deren Verortung bzw. Verbindung mit Erfahrung gerät weitgehend aus dem Blickfeld. Ausdifferen- 730 Nach Martin Luther ist der Gottesdienst kein sacrificium hominis, kein Opfer, das der Mensch zur Besänftigung Gottes in Szene setzt, sondern umgekehrt ein beneficium dei, eine Wohltat und Segenshandlung Gottes an den Gläubigen. 731 M. Luther, Deutsche Messe, WA 19, 78. 732 M. Luther, Tischreden, WA TR 3, 310, 12 (Nr. 3421); Hervorhebung W. E. In gleicher Weise ist Luthers Devise beim Übersetzen der Bibel zu verstehen: „Dem Volk aufs Maul zu schauen“ ist keine pseudo-rhetorische Maxime, die es dem Prediger ermöglichte, sich bei den Hörern einzuschleichen, um als einer von ihnen wahrgenommen zu werden. Das Evangelium soll in der Sprache von „Hänslein und Elslein“ entfaltet werden, weil ihnen nur auf diese Weise ihre eigene Wirklichkeit zu verstehen gegeben werden kann, und zwar auch ihre Wirklichkeit unter den Bedingungen der Freiheit und der Liebe Gottes. Vgl. zu Luthers Predigtverständnis, was deren Verständlichkeit angeht, auch M. Doerne, 1940, bes. 40. 733 A. D. Müller, 1954, 180. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="347"?> 347 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik zierte systematisch-theologische Erklärungsmuster und erfahrene Lebens- und Weltwirklichkeit stehen einander unvermittelt gegenüber. In der Praxis der Predigt fallen Theologie und Religion auseinander. Es entspricht dem verbreiteten Verständnis von der Aufgabe der Predigt in der Zeit der Aufklärung, dass man den Situationsbegriff weithin auf die Kasus des täglichen Lebens reduziert. In dem Maße, in dem man die menschliche Existenz selbst nicht mehr als Problem wahrzunehmen versteht, nimmt man die - mit etwas Anstrengung und gutem Willen scheinbar vermeidbaren - Probleme in den Blick, die die menschliche Existenz unnötigerweise beschweren: Unannehmlichkeiten des Alltags und Schwierigkeiten im Befolgen guter Grundsätze werden gewissermaßen in den Rang von Situationen erhoben. Die Predigt hat in dem Sinne nützlich zu sein, als sie lehrt, wie man mit den Zwischenfällen und insbesondere mit den moralischen Anfechtungen des Lebens fertig wird. Auf diese Weise - so die allgemeine Erwartung - leistet die Predigt einen Beitrag zum Aufbau der Gemeinde und zur Besserung der Gesellschaft. Die Predigt in der Zeit des Pietismus und der Erweckungsbewegung hat als „Situation“ vor allem die innere Verfasstheit des Menschen, den Zustand seiner „Seele“ bzw. des „Herzens“ des Hörers im Blick. Was die Inhalte der Predigt bestimmt, ist die Sorge um die Bewältigung solcher Situationen, in denen die Seele des Hörers von der Abkehr vom Glauben bedroht ist: „Ihr Seelen, sagt mir, wie gewinne ich euch? Sind kräftiger an euch die Lockungen des Evangeliums als die Drohungen des Gesetzes, ergreifender die Schilderungen der Tugend als die des Lasters? Saget es mir.“ 734 Fallen in der Orthodoxie die empirische Welt und die für theologisch belangvoll erklärte Welt auseinander, stehen im Pietismus - gegen die erklärte Absicht entsprechender Prediger - Alltagserfahrung und religiöse Erfahrung oft unverbunden nebeneinander. Ohne sich mit den wirklichen Existenzbedingungen, mit den realen Lebensumständen auch eines enttäuschten oder überforderten Glaubens zu befassen, empfiehlt man dem Hörer, einfach hinter sich zu lassen, was ihn zerstreut: „Brüder, so sei der Vorsatz heut’ befestigt: wir wollen seltener zusammensein mit Menschen und öfter mit Gott! - Es wird das auch ein Segen sein für unser Kirchengehen. Ihr werdet sehen, ein unzerstreutes Herz in das Gotteshaus hineingebracht, bringt in der 734 C. Harms, zitiert nach E. Winkler, 1990, 602. Vgl. auch die Klage August Tholucks über die „Zerstreuungen“, die bei den Herzen der Gläubigen oft „ein leichtes Spiel haben“ (a. a. O., 605). <?page no="348"?> 348 Regel einen Gottesschatz mit hinaus.“ 735 Ein Prediger, der dies zur Maxime erhebt und es für eine Tugend hält, Hörer nur in der „Situation der Gemeinde“ zu sehen und sie als Kirchenglieder oder Gottesdienstbesucher im Blick zu haben, braucht sich um „Situationen sonst“ nicht zu kümmern. Er bedarf keiner Anknüpfungen an Erfahrungen, Fragen und Probleme seiner Gemeinde. Im Zeitalter der Dialektischen Theologie hat man dies sogar zum Tabu erklärt. Der Prediger, so Karl Barth, verfehle seinen Auftrag, die göttliche Botschaft auszurichten, wenn er nach Anknüpfungspunkten für diese Botschaft sucht, denn „die Offenbarung [schafft] selbst und von sich aus den nötigen ,Anknüpfungspunkt‘ im Menschen“ 736 . In der dialektisch-theologischen Phase der Homiletik entsteht wiederum ein einseitiger Begriff von „Situation“: Der Hörer wird wahrgenommen als ein Wesen, das nur in der Situation steht, von Gottes Wort angesprochen zu werden - und sich dazu verhalten zu müssen. Die komplexe Situation des Menschen wird zurückgeschnitten auf eine konstruierte, sich stets wiederholende Entscheidungssituation, auf Gottes Anrede mit einem Ja oder einem Nein zu antworten. 6.2.2 Der Streit um den Anknüpfungspunkt Obwohl der Streit um den Anknüpfungspunkt nicht nur im Bereich der Praktischen Theologie ausgetragen wurde, hat er sich gerade an der Frage nach der Aufgabe der Predigt immer wieder neu entzündet. Liest man die entsprechenden Streitschriften heute nebeneinander, mag man sich über ein so gründliches Fehlverstehen wundern. Eingeführt wurde der Begriff der „Anknüpfung“ von Friedrich Schleiermacher. Er brachte mit diesem Ausdruck die Notwendigkeit auf den Punkt, dass man um vorgegebene Situationen, Erwartungshaltungen und Entwicklungen im Leben von Zeitgenossen wissen und auf sie Bezug nehmen müsse. Man sollte ein nachdenklicher Zeitgenosse sein, wenn man sich auf dem pastoralen Handlungsfeld bewegt. Hinter dieser Auffassung steht u. a. die Einsicht, dass der Mensch als responsorisches Wesen geschaffen wurde und situationsträchtige Fragen mit sich herumträgt, die auf einen Dialog hinauslaufen. 737 Es ist jedoch nicht Schleiermacher, sondern Emil Brunner gewesen, der - wie später auch Rudolf Bultmann und Paul Tillich - die Frage nach der 735 A. Tholuck, zitiert nach E. Winkler, 1990, 605. 736 K. Barth, KD I/ 1, 1955, 27 f.; vgl. auch 250-253. 737 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, 1960 (1830), § 108, 5. 6. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="349"?> 349 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik „Anknüpfung“ zu einer Grundsatzfrage verantwortlicher Theologie erklärt und sie damit populär gemacht hat. Brunner bringt dabei ein schöpfungstheologisches Argument ins Spiel: Der Mensch ist in seinem geschöpflichen Menschsein grundsätzlich ansprechbar. Diese Ansprechbarkeit erfordert ein Eingehen auf seine (zum Beispiel sprachlichen) Bedingungen und konkreten Situationen. 738 Indem die Predigt am Bestehenden, auch an Erfahrungen des Scheiterns und der Fragwürdigkeit des eigenen Lebens anknüpft, gewinnen die Vorstellungen von der verändernden Kraft der Kommunikation des Evangeliums an Konkretion. 739 Deshalb ist für R. Bultmann „der Mensch in seiner Existenz, als Ganzer, […] der Anknüpfungspunkt“ 740 . Das Wort Gottes beziehe sich folglich immer auf einen Lebenszusammenhang, „in dem der Verstehende und das Verstandene von vornherein zusammengehören“. Dabei können die zu Bewusstsein kommende Sünde bzw. die Erfahrungen des Scheiterns als „Anknüpfungspunkt für das widersprechende Wort von der Gnade“ gelten. 741 Es ist also kein Widerspruch, sich mit der Welt des Hörers zu befassen, sich im Interesse einer konkreten Predigt mit konkret gegebener Wirklichkeit auseinanderzusetzen - und diese Wirklichkeit gleichzeitig in Frage zu stellen. Die Vertreter des Gedankens der Anknüpfung gehen davon aus, dass ein Mensch, dem gepredigt werden soll, als Geschöpf in Raum und Zeit wahrgenommen werden muss. Schließlich sind Predigthörer keine geschichtslosen Wesen, und die Kommunikation des Evangeliums ist kein geschichtsloses Offenbarungsgeschehen. 742 Demgegenüber liegt es in der Erwartung der Predigt, dass Gott Geschichte macht in der Geschichte des Hörers. Wer diese Geschichte nicht mit im Blick hat, hat die künftige Geschichte Gottes unter den Menschen nicht im Blick. Gemessen an diesen Prämissen geht die Kritik der Dialektischen Theologie fehl, wenn sie unterstellt, die Idee homiletischer Anknüpfung ziele darauf ab, die Kommunikation des Evangeliums durch das Ventilieren von Lebenserfahrung zu ersetzen. 743 Ebenso falsch ist es, das Bemühen um Anknüpfungen mit einem 738 Vgl. E. Brunner, 1932. W. Trillhaas nimmt diesen Gedanken später auf (vgl. unten I.6.3.1, S. 353-358, bes. 357). 739 Vgl. E. Brunner, 1932, 510. 740 R. Bultmann, 1972, 120 f. 741 Vgl. R. Bultmann, 1964, 296 und 1972, 120. Das bedeutet für Bultmann „Anknüpfung im Widerspruch“ (ebd.). 742 Zur „Wiederentdeckung der Anknüpfung im Zeichen der Geschichtlichkeit der Offenbarung“ vgl. H.-R. Müller-Schwefe, 1993, 748 f. 743 E. Thurneysen, 1971 (1921), 113. <?page no="350"?> 350 „Schaufeln und Graben“ gleichzusetzen, das davon bestimmt wäre, „die Offenbarung von der anderen Seite herbei[zuzwingen]“ 744 . Diese stereotype Kritik der Dialektischen Theologie lässt erkennen, dass deren bisweilen schroffe Fehlrezeption theologischer Impulse mit dem Beharren auf wenigen offenbarungstheologischen Prämissen zusammenhing. Das führte immer zur Ablehnung von Einsichten, die auf anderen Voraussetzungen basierten. Georg Merz zieht gegen die Idee der „Anknüpfung“ in der Predigt zu Felde, nachdem er dieses Prinzip als psychologisches Ausfindig-Machen des Punktes der „Überredung des Hörers“ umgedeutet hat. Die Ablehnung jeder Anknüpfung wird - der Situationsbezogenheit des Textes selbst zum Trotz - damit begründet, dass das Evangelium schließlich auch nichts darüber sage, „warum dieser oder jener aus diesen oder jenen Voraussetzungen für das Wort Christi in besonderer Weise reif war, aber es tut kund, dass allen Völkern Heil widerfahren ist“. Darum sei es falsch, zu glauben, „man müsste zu besonders empfänglichen Menschen, empfänglichen Völkern, empfänglichen Schichten, empfänglichen Zeiten reden. Mit alledem würde ich ein Handeln Gottes vorschreiben wollen, während ich nur die Aufgabe habe, das große Handeln Gottes nachzusprechen“ 745 . Dies muss nach dem bisher Gesagten nicht mehr en detail richtiggestellt werden. Die krassen Missverständnisse liegen auf der Hand: Weder sind die biblischen Texte ein raum- und zeitloses „Nachsprechen des großen Handelns Gottes“ - ein Widerspruch in sich - noch heißt „Anknüpfung“, nach besonders empfänglichen Hörern zu suchen und sie zu etwas zu überreden, was für sie ohne Relevanz ist. Es zeugt von weitreichenden Missverständnissen in der Rezeption praktisch-theologischer Diskurse durch die kerygmatische Theologie 746 , dass Karl Barth seine strikte Ablehnung von Predigteinleitungen - die er für bloße Anknüpfungsversuche hält - damit legitimiert, dass er ganz auf die „Anknüpfung von oben her durch das Wunder Gottes“ verweist. Dementsprechend hebt er hervor: „Der theologische Schaden der Predigteinleitungen ist jedenfalls ungeheuer groß, und man steht regelrecht auf dem Boden der Irrlehre, wenn man sie übt. Denn was geht da eigentlich im tiefsten Grund vor sich? Nichts anderes, als dass nach einem Anknüpfungspunkt, nach einem Analogon im Menschen gesucht wird, wo das Wort Gottes hinkommen könnte.“ 747 744 Ebd. 745 G. Merz, 1992 (1931), 125 f. 746 Vgl. hierzu auch die Analysen von H. Leipold, 1993, 745. 747 K. Barth, 1986, 104 f. Richtig an dieser Betrachtungsweise ist lediglich, dass Anknüpfungen - selbstverständlich! - häufig mit Analogiebildungen einhergehen: Dabei Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="351"?> 351 6.2 Problemanzeigen und Impulse aus der Geschichte der Homiletik Wie intensiv und wie lange schon das (sich natürlich auch an der Frage von Einleitungen entzündende) Problem des Verzichts auf Anknüpfungen empfunden wurde, macht eine Rede des Hannoverschen Landesbischofs D. Hanns Lilje aus dem Jahre 1957 deutlich: „Wer ohne ‚Einleitung‘ predigt und damit meint, dass er nicht verpflichtet sei, als Prediger eine Brücke zwischen dem Text und dem Hörer zu schlagen, wer auf applicatio, die echte Konkretisierung und Anwendung verzichtet, der verzichtet auf die Predigt. […] Die hölzerne Befangenheit, der man in mancher Predigt begegnet, ist die unvermeidliche Folgeerscheinung eines theologischen Denkstils, der nur noch die theologische ‚Schule‘ und den zu ihr gehörenden Wortschatz kennt, aber die Welt, in der wir leben, längst aus dem Blickfeld verloren hat.“ 748 Gegenüber der Kritik Barths ist richtigzustellen: Die Frage nach der Anknüpfung ist der Sache nach keine den Predigtanfang betreffende Formalie, keine verzweifelte pragmatische Notlösung, sondern bezieht sich auf das Grundverständnis und das leitende Interesse der Predigt überhaupt. Es geht in der Frage der Anknüpfung um die Erkundung relevanter Ausgangspunkte für einen zu eröffnenden Dialog, in den sich die Hörenden vor dem Hintergrund ihrer Lebenswirklichkeit einbringen können. Ohne diese das Verstehen der Predigt mitbegründende Basis verkommt die Kommunikation des Evangeliums zu einem fatalen Einbahnverkehr, bei dem zwar einer spricht, aber niemand hört. Auch einige Arbeiten Hans-Joachim Iwands sind im Kontext der Anknüpfungspunkt-Debatte zu lesen. Sie markieren allerdings ein allmähliches Umdenken in dieser Sache. In ihnen kommt ein ganzes Spektrum von „wissenschaftliche[r], geistige[r] und politische[r] Wirklichkeit“ 749 in den Blick, und sie nehmen punktuell auf „die besondere geschichtliche Situation“ 750 Bezug. Bemerkenswerterweise ist diese Bezugnahme jedoch mit der Konstruktion einer doppelten Wirklichkeit verbunden: Die eigentliche Wirklichkeit scheint für Iwand die „in Jesus Christus“ zu sein; die andere Wirklichkeit ist allenfalls „Traumwelt“. Die eigentliche Wirklichkeit wird nur von denen betreten, die glauben - indem geht es freilich nicht um plumpe Gleichsetzungen (etwa von Bildern, Figuren oder Vorkommnissen in den Texten damals mit Situationen heute), sondern es geht um Analogien zwischen den in den Texten deutlich werdenden Beziehungen von Menschen untereinander bzw. zu Gott einerseits und entsprechenden Beziehungen in Situationen heute andererseits. Zur Funktion von (Beziehungs-)Analogien vgl. I.3.3.2, S. 174-180. 748 H. Lilje, 1957, 22 f. 749 H. J. Iwand, 1984, 419. 750 Ders., 1979, 240. <?page no="352"?> 352 sie z. B. aus der Vergebung leben. „Wer aus ihr lebt, […] der lebt aus der Wirklichkeit.“ Wer es nicht tut, gerät in die „Nicht-Wirklichkeit, in die gnadenlose Welt seiner eigenen Pläne und Ideen.“ 751 Die Predigt zielt aber nicht in diese Wirklichkeit, sondern in jene. Das heißt, in der Weltwirklichkeit gewonnene Erfahrungen werden gemacht, um „Gottes Wort und Wirklichkeit [zu] ergreifen“ 752 - und nicht umgekehrt. Iwand unterscheidet bei der Formulierung seiner homiletischen Prinzipien nicht zwischen notwendiger Wahrnehmung menschlicher Wirklichkeit und undistanzierter Wirklichkeitsgläubigkeit. Dementsprechend fordert er: „Dieser falsche Glaube an die Wirklichkeit, die man ,siehet‘ und die darum immer eine hoffnungslose, trügerische, eben nicht von Gott und seinem Wort her erfasste Wirklichkeit ist, muss dann Schritt für Schritt aus unserem Herzen weichen.“ 753 Hier droht die Entgegensetzung von gegebener Lebens- und Erfahrungswirklichkeit einerseits und erfahrener Gotteswirklichkeit andererseits. Lebenswirklichkeit droht als eine Art „Widerstandswirklichkeit“ gegen die Wirklichkeit Gottes missverstanden zu werden, wodurch wiederum die Erfahrung der Gnade Gottes „im Widerspruch zur Wirklichkeit und zu aller menschlichen Erfahrung steht“ 754 . Das Hantieren mit solchen Wirklichkeits- und Erfahrungsalternativen ist Ausdruck eines noch nicht hinreichend geklärten Verständnisses des homiletischen Topos der Anknüpfung. Die in der Geschichte der Homiletik aus unterschiedlichen Gründen immer wieder arrangierte Trennung der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen entspricht bis zu einem gewissen Grade antiken Vorstellungen von einer in Oben und Unten geteilten Welt. Sie „führt zu gespaltener Existenz, zur zwiespältigen Predigt, zum doppelten Kanzelboden. Man hat die absurde Beweislast, dem Hörer anzudemonstrieren, es gebe zunächst jeweils eine Wirklichkeit: das, was grobsinnenfällig zur Hand ist samt allem menschlich Erreichbaren; dann aber, darüber hinaus, die zweite, die Überwelt, die eigentliche; sie ist das erwünschte Dermaleinst, nach dem wir uns sehnen. Wie soll der Hörer das zusammenbringen? Er ist ja eine Person, nicht zwei. Er probiert’s, in einem andauernden Hin und Her, wird auf diese Weise niemals er selbst und meint, das gerade sei das Christliche, von einer Ebene nach Belieben auf eine andere 751 A. a. O., 458, 479; Hervorhebung W. E. 752 H. J. Iwand, 1984, 419. 753 A. a. O., 122. 754 J. Hermelink, 1992, 46. Vgl. auch dessen differenzierte Kritik an H. J. Iwands Predigtverständnis, a. a. O., 31-95. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="353"?> 353 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven umzusteigen. Hier der Werktag, in dem’s nach Ursache und Folge, Motiv und Tat zugeht; dort der Sonntag, indem unerhörte Sachen möglich sind, die - eben deshalb - auf den Werktag keinen Einfluss haben.“ 755 Mit diesen Problemanzeigen aus der Geschichte der Homiletik stehen wir vor der Frage, welche Reflexionsperspektiven dafür in Betracht kommen, die homiletische Zurückhaltung gegenüber der alltäglichen Lebenswirklichkeit des Menschen zu überwinden und sie als Ort der Erfahrung der Wirklichkeit Gottes zu verstehen. 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Der homiletisch-hermeneutische Hintergrund des Bemühens, im Predigtprozess auf zeitgenössische Lebenswirklichkeit Bezug zu nehmen und die Situation des Einzelnen in den Blick zu bekommen, soll zunächst mit einem systematisch-theologischen Vorstoß in der Frage nach dem „Anknüpfungspunkt“ aufgezeigt werden. 6.3.1 Das Prinzip der Korrelation und die Wiedergewinnung der Situation Es ist in besonderer Weise das Verdienst Paul Tillichs, jegliche als Alternative entwickelte Vorstellungen von einer entweder durch das Wort Gottes oder durch die Situation des Menschen bestimmten Anknüpfung als theologisch irreführend identifiziert zu haben. In seinen Arbeiten wird deutlich, inwiefern es zur Sachgemäßheit der Theologie gehört, die Kommunikation des Evangeliums als Eingehen auf Situationen 756 zu verstehen und Situationen als notwendig vorauszusetzendes und zu verstehendes Fragepotential auch der Predigtarbeit zu begreifen. Dementsprechend hat Tillich eine ausgesprochene Anknüpfungstheologie entwickelt. Sie geht davon aus, dass „Anknüpfungen“, die das Wort Gottes mit der Situation verbinden, nicht erst zu konstruieren sind, sondern schon bestehen und nur entdeckt werden müssen. „Theologische Antworten“, die nicht in einer Wechselbeziehung zu „existentiellen Fragen“ 757 stehen, können nicht beanspruchen, dem Geschäft der Theologie zu dienen. „Die Theologie formuliert die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen, und die 755 M. Mezger, 2009, 21. 756 Weiterführendes zu dieser These bei W. Engemann, 2007b, bes. 161-170. 757 Vgl. P. Tillich, 1958, 19-22. <?page no="354"?> 354 Theologie formuliert die in der göttlichen Selbstbekundung liegenden Antworten in Richtung der Fragen, die in der menschlichen Existenz liegen.“ 758 Dieser selbstbewussten These ist der Duktus dialektisch-theologischen Argumentierens immer noch abzuspüren: Für Tillich gehört es zum Tagesgeschäft der Theologie, sich in die „göttliche Selbstbekundung“ einschalten zu können, um gewissermaßen aus Gottes Sicht der Dinge die Existenzfragen des Menschen zu beantworten. Problematisch daran ist nicht nur die drohende Überschätzung der akademischen Theologie. Was Tillich hier in den Blick nimmt, reicht weit in das Feld religiöser Erfahrung hinein. Bemerkenswert ist auch der implizite Überlegenheitsanspruch der Theologie im Blick auf das Verständnis der menschlichen Existenz. Auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses wäre eine stärkere Konvergenz der geisteswissenschaftlichen Disziplinen angezeigt. Die war Tillich ‚im Prinzip‘ zwar geläufig, im Rekurs auf „Gottes Wort“ geraten die in diesem Zusammenhang gewonnenen Argumentationsprinzipien jedoch - wie in anderen systematisch-theologischen Konzepten auch - immer wieder in den Hintergrund. Für die Predigt bedeutet das von Paul Tillich in den theologischen Diskurs eingebrachte Prinzip der Korrelation, dass in der Kommunikation des Evangeliums Fragen aufzunehmen sind, die die Situation stellt, Fragen, die sich nicht der Lieblingstheologe des Predigers erdacht hat. Andernfalls besteht die Gefahr, Antworten nur auf selbst gestellte Fragen zu ventilieren, die der Einzelne - ohne Anhalt an der Situation - „nicht entgegennehmen“ kann, weil er die entsprechenden Fragen „niemals gestellt hat“. 759 Aus einem ähnlichen Interesse heraus hat Gerhard Ebeling deutlich gemacht, dass man nicht verantwortlich Theologie treiben kann, solange man den Menschen nur abstrakt als „den Menschen vor Gott“ im Blick hat. Den Menschen in seiner „Grundsituation“ wahrzunehmen heißt immer auch, ihn „in seiner strittige[n] und darum bedrängte[n] Situation“ wahrzunehmen. 760 Vor dem Hintergrund der je und je zu explizierenden Korrespondenzen zwischen den aus Situationen sich ergebenden Fragen einerseits und dem Antwort- und Argumentationspotential der Theologie andererseits spricht Tillich von der Methode der Korrelation. Sofern Korrelationen, also Wechselbeziehungen zwischen Evangelium und Situation oder zwischen Religion und Kultur nicht 758 P. Tillich, 1956, 75. 759 A. a. O., 79. 760 G. Ebeling, 1979, 189 f. Anschauliche Beispiele für die Umsetzung dieses Prinzips finden sich sehr zahlreich u. a. in der Praxis des “Black Preaching”. Vgl. dazu die Publikationen von Cleophus J. LaRue (1999, 2010). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="355"?> 355 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven nur zu ermitteln, sondern immer auch schon vorauszusetzen sind, sollte man - auch in Anbetracht der vagen Bestimmtheit des „methodischen“ Elements der Tillich vorschwebenden Korrelation - weniger missverständlich vom Prinzip (statt der Methode) der Korrelation sprechen. 761 Wenngleich das Korrelationsmodell nicht alle Probleme zu lösen vermag, die mit der Frage nach der Situation des Hörers verbunden sind, hat es der Homiletik entscheidende Impulse gegeben. Allerdings ist die diesem Modell zugrundeliegende These zu hinterfragen, dass ein Mensch nicht mit Antworten auf Fragen behelligt werden sollte, „die er niemals gestellt hat“ 762 . Zumindest muss zur Erklärung dieser Position darauf hingewiesen werden, dass es auch zur Aufgabe der Predigt gehört, dem Hörer Fragehaltungen zuzumuten bzw. zuzuspielen: Predigten können ein Beitrag zum Erlernen bzw. zur Aneignung einer Fragehaltung sein, indem sie Menschen für die Fragwürdigkeit ihres Lebens sensibilisieren und ihnen dabei helfen, Situationen „komplexer“ wahrzunehmen. Wahrscheinlich würde Tillich auf diesen Einwand entgegnen, dass genau dies mit dem Formulieren der „in der Existenz des Menschen beschlossenen Fragen“ als einer Aufgabe der Theologie gemeint sei. Dass diese Existenz gleichwohl mit Fragen - nicht nur mit Antworten - konfrontiert werden kann, die von außen an sie herangetragen werden, wird nicht mit der gleichen Deutlichkeit zur Sprache gebracht. Stark rezipiert wurde der Gedanke einer in dieser Hinsicht korrelativ angelegten homiletischen Arbeit u. a. von Alfred Dedo Müller: „Anknüpfung kann also nie heißen, dass der empirische Mensch zum Inhalt der Predigt gemacht und an die Stelle des Gotteswortes gestellt werden soll. Es handelt sich vielmehr gerade um das Wunder, dass Gott […] seine [d. h. des Menschen] Fragen hört - und unablässig darauf antwortet. […] Insofern muss der Prediger um alle Fragen wissen, die in seiner Gemeinde, die in seiner Zeit lebendig sind. Es muss in der Predigt vernehmbar werden, dass Gott ein hörender und ein antwortender, ein redender Gott ist - und kein stummer Götze und kein abstrakter Begriff. Die Gemeinde fragt. Die Predigt antwortet. So ist es richtig.“ 763 Bei Müller treten nun die Grenzen eines solchen, auf Frage und Antwort basierenden Predigtmodells deutlich hervor: 761 Tillich betrachtet die korrelative Zusammengehörigkeit von Kultur und Religion im Übrigen als Ausdruck von „Theonomie“. Wird die eine oder die andere Seite dieses Wechselverhältnisses ignoriert, fällt die Gesellschaft entweder unkontrolliertem Autonomiestreben oder verhängnisvoller Heteronomie anheim (vgl. P. Tillich, 1962, 60-65). 762 P. Tillich, 1956, 79. 763 A. D. Müller, 1954, 202. <?page no="356"?> 356 1. Es kann paradoxerweise gerade zu einem verengten Blick auf die Situation Hörender führen, wenn man sie immer nur auf Fragen abklopft, zu denen die Predigt dann die Lösungen liefert. Die Gefahr, hier nolens volens zu selektieren und die Welt des Hörers letztlich doch auf das Antwortpotential der Theologie zurechtzuschneidern, sollte nicht unterschätzt werden. 2. Die Predigt primär in eine Antwortsituation zu stellen, wird auch den vielschichtigen Funktionen der Redegattung Predigt nicht gerecht. Eine Predigt wird für den Einzelnen nicht vor allem dadurch wichtig, dass sie in erster Linie Fragen beantwortet, sondern auch dadurch, dass sie ihm Fragen erschließt, dass sie ihm den Glauben, den er schon hat, neu zu verstehen gibt, dass sie ihm Gelassenheit vermittelt, ihn zuversichtlich stimmt u. a. m. 3. Schließlich birgt die Wahrnehmung der Predigtsituation als ein großes Loch aus Fragen die latente Gefahr der Überforderung sowohl des Predigers als auch der Theologie. 764 Es gibt Fragen, für die - obschon sie im Tillich’schen Sinne aus der Existenz des Menschen erwachsen sind, den Menschen brennend interessieren und umtreiben - weder ein Prediger noch irgendeine Theologie befriedigende Antworten liefern können, nur weil eben gerade Sonntag ist und wieder eine Predigt ansteht. Darüber hinaus muss man sich klarmachen, dass Situationen, soweit sie reflektiert in die Kommunikation Eingang finden - also erfasste, durch bestimmte Wahrnehmungen strukturierte und mit einem bestimmten (homiletischen) Interesse zurechtgelegte Situationen -, Interpretationen sind. 765 Wer hermeneutisch, theologisch, kommunikativ auf Situationen Bezug nimmt, nimmt notwendigerweise auf ein Konstrukt der realen Situation Bezug. Dementsprechend ist zwischen abstrakten und realen Situationen zu 764 In diesem Zusammenhang sei nochmals an den Grundsatz erinnert, der bereits im Kapitel über die Person des Predigers erläutert wurde: Pfarrerinnen und Pfarrer werden nicht aufgrund eines Vorsprungs im Glauben ordiniert, oder weil sie mit dem Leben besser zurechtkämen als Nicht-Ordinierte. Was sie zum Predigtamt qualifiziert, ist unter anderem eine geprüfte und zertifizierte theologisch-hermeneutische Kompetenz, sind Kenntnisse in Bezug auf die Interpretationsregeln biblischer Texte usw., deren Brauchbarkeit sich erst von Fall zu Fall erweisen muss. Was sie aufgrund ihrer geisteswissenschaftlichen Bildung den nicht akademisch gebildeten Gemeindegliedern unter Umständen „voraus“ haben, ist keine Überlegenheit im Leben aus Glauben, sondern häufig eine größere Kompetenz im Entdecken und Formulieren der Fragen, die sich beim Führen des Lebens stellen oder gestellt werden sollten. 765 Vgl. J. Barwise/ J. Perry, 1987, 1-9, 75 f. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="357"?> 357 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven unterscheiden. Diese Unterscheidung kann helfen, das in der Predigtarbeit entworfene Gesamtbild einer Situation, auf die man sich in der Predigt beziehen will und in die hinein man zu sprechen gedenkt, nicht für ein adäquates „Abbild der Tatsachen“ zu halten. Bestenfalls ist einem eine geeignete Annäherung an die wirkliche Situation gelungen. Der wohl wichtigste Gewinn aus dieser Debatte ist ein verändertes homiletisches Bewusstsein: „Es gibt keine zeitlose Predigt.“ Wer predigt, muss „in die Zeit hinein“ 766 sprechen. Für Müller war mit dieser Forderung gleichsam eine prophetische Dimension der Predigt verbunden. Demnach habe die Predigt nicht „die Zeit zu predigen“, sondern „in die Zeit hinein[zu]reden“ 767 . Dazu gehört das Nein zu einer missverstandenen Anpassung an Moden oder an das, was man den „Zeitgeist“ nennen mag: ein diffuses Gemisch von Empörungen, Standardmeinungen und Tabus. Eine zeitgenössische Predigt wird diese Stimmungslage gleichwohl gut kennen und als eine der Gegebenheiten oder als Bewusstseinslage in Rechnung stellen müssen. Die im engeren Sinne anknüpfungstheologisch bestimmte Einbeziehung des Situationsbegriffs und der damit verbundenen Lebenswirklichkeit in die theologische bzw. homiletische Arbeit ist in unterschiedlicher Weise weiter theologisch vertieft worden. Zunächst sind es schöpfungstheologische Überlegungen gewesen, aus denen heraus die Notwendigkeit situationsbezogener Predigt begründet wurde: Die theologische Legitimität der Anrede einer jeden Predigt basiert demzufolge gesehen darauf, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist. Die Anknüpfung an der Geschöpflichkeit des Menschen wird von Trillhaas als Anknüpfung an der Situation des Einzelnen verstanden. 768 Indem die Predigt auf die Geschöpflichkeit des Menschen Bezug nimmt, nimmt sie auf seine Erfahrungen Bezug, auch auf Erfahrungen des Schuldig-Werdens und des Scheiterns, auf Erfahrungen, die die Präsenz des „Gesetzes“ zum Ausdruck bringen. Eine Predigt, die nicht in diesem Sinne an der Situation anknüpft, wird schwerlich deutlich machen können, weshalb sie dem Hörer etwas von der 766 A. D. Müller, 1954, 202. 767 A. a. O., 202 f. 768 „Auf diese Geschöpflichkeit hin, und auf alle damit gegebenen Folgerungen und Tatbestände hin wird der Mensch angeredet, denn damit, dass der Mensch Geschöpf ist, sind Sachverhalte gegeben, Ordnungen gesetzt, die ihn vor Gott verpflichten, deren Nichtbeachtung ihn vor Gott schuldig macht. So werden wir als Geschöpfe, und zwar als vor Gott schuldig werdende oder gewordene Geschöpfe von der Predigt angeredet“ (W. Trillhaas, 1954, 50 f.). Vgl. ergänzend zur Gottesbildlichkeit III.2.2, S. 535-543, bes.-536 f.. <?page no="358"?> 358 „Freiheit vom Gesetz“ erzählt. Eine Predigt ohne Situationsbezug ist eine das „Gesetz“ - als eine Dimension der Lebenswirklichkeit des Menschen - nicht kennende und damit unevangelische Predigt. Sind aber reale Situationen die Orte, in denen der Mensch sowohl sein Scheitern erfahren als auch das heilvolle Handeln Gottes in seinem Leben wahrnehmen kann - ist also seine konkrete Wirklichkeit die Welt, in der Gott ihm begegnet -, kann ein Prediger sich gar nicht engagiert genug mit dieser Welt auseinandersetzen, sich im Interesse des Hörers ihren sprachlichen Verstehensbedingungen stellen und sich in „Vergegenwärtigungsvirtuosität“ üben. 6.3.2 Die Überwindung der Zweiteilung der Predigtwirklichkeit Die Wiedergewinnung eines Bewusstseins für die Situation als Bezugspunkt der Predigt war anfangs kaum mit methodischen oder konzeptionellen Konsequenzen verbunden. Auf dem Weg dorthin mussten erst einmal die Ursachen dafür geklärt werden, weshalb der Lebens- und Wirklichkeitsbezug einer Predigt - auch bei einem entwickelten Bewusstsein für die Notwendigkeit situationsbezogener Predigtvorbereitung - oft so schwer zu bestimmen ist. Die von Mezger und anderen vorgelegte Problembeschreibung 769 weist auf ein Problem hin, das die Verankerung der Predigt in der Lebenswelt der Hörer immer wieder beschwert hat: Es handelt sich um die Hypothek der bereits angesprochenen theologischen und homiletischen „Zweiteilung“ der jeweils unterstellten Wirklichkeit. Eine Predigt, die die Wirklichkeit des Menschen nur aufgreift, um ein negatives Urteil über sie zu fällen, statt dem Einzelnen darin beizustehen, unter den konkreten Bedingungen dieser Wirklichkeit ein Leben aus Glauben zu führen, verfehlt ihr Ziel. Eine Predigt, die nicht sprachlich über-setzt in die Lebenswirklichkeit des Hörers und stattdessen mit theologischen Chiffren hantiert, erschwert einen verstehenden Mitvollzug und perpetuiert die verhängnisvolle Zweiteilung der Predigtwirklichkeit in eine dogmatisch in Ordnung gebrachte Modellwelt und eine notgedrungen erduldete empirische Wirklichkeit. In diesem Fall wird „die Wirklichkeit“ nur gebraucht, um die Erklärungsleistung der Modellwelt im sprachlichen Laborversuch Predigt zu beglaubigen. Dabei müsste es umgekehrt sein: Die Erfahrungen des Menschen sind nicht das Material, auf das man zu Demonstrationszwecken zurückgreift, sondern sie stellen die 769 M. Mezger, 2009. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="359"?> 359 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven eigentliche Herausforderung an die theologische Reflexion bzw. an eine Theologie der Predigt dar. Demgegenüber beobachtet Mezger bei vielen Predigern die Angst, „biblische Leitbegriffe“ auszuwechseln oder neuzufassen 770 . Man befürchtet anscheinend, mit den Begriffen zwangsläufig auch die Sache und die hinter ihnen stehende Wirklichkeit aufzugeben. Mezger sieht in der fortgesetzten Zweiteilung der Predigtwirklichkeit und in der Unverständlichkeit vieler Predigten ein häufig unbewusstes Festhalten an „antiken Vorstellungen“. Situationsbezogene Predigt setze daher zunächst die „Redlichkeit“ voraus, die Hörer nicht in eine metaphysische Wahrscheinlichkeitswelt abdrängen zu wollen. Der Prediger soll sie nicht in „ausgesparte Räume“ locken, in denen z. B. die Gesetze der Physik nicht so ganz zu funktionieren scheinen, sondern er soll sich mit den Hörern der einen Wirklichkeit stellen. 771 „‚Es gibt nur eine Wirklichkeit, nicht etwa eine Wirklichkeit Gottes plus eine Wirklichkeit der Welt oder gar des Teufels.‘ … Mit der Menschwerdung Jesu Christi ist es uns verboten, Gott und Mensch, Göttliches und Weltliches, Heiliges und Profanes, Übernatürliches und Natürliches, Christliches und Unchristliches in zwei Räume zu trennen. […] Es gibt keine untere und keine obere Instanz der Wahrheit; es gibt nur Wahrheit und Unwahrheit, dargestellt in den Sachen oder Vorgängen, wie sie tatsächlich sind.“ 772 Die Hörer werden mit ihrem Wissen und Glauben nicht ernst genommen, wenn die Predigt eines verständlichen Sachbezugs entbehrt und damit situationsbezogene Anhaltspunkte verweigert. Es käme einer Preisgabe bzw. Aufweichung des Situationsbezugs der Predigt gleich, wenn ausgerechnet „naturwissenschaftliche Absurditäten und mirakulöse Sonderereignisse“ so in den Mittelpunkt des Interesses gerückt würden, dass sie schließlich als „eigentlich beinahe doch schon so gut wie möglich - wer weiß, am Ende sogar ,Tatsache‘ sein könnten“. So zu verfahren heißt, „die beste Kraft an falscher Stelle“ einzu- 770 A. a. O., 19. 771 A. a. O., 20. Vgl. auch Mezgers eindringliche Ausführungen unter der Überschrift „Das Problem der Profanität: Die Gemeinde in der Welt“, in: M. Mezger, 1971, 402-406. 772 M. Mezger, 2009, 21 f. Der erste Teil des Zitats (in einfachen An- und Ausführungszeichen) wird Dietrich Bonhoeffer zugeschrieben, zitiert nach Gerhard Schnath, 1982, 52. Der Sache nach - insbesondere, was die darin enthaltene Dualismus-Kritik anbelangt - haben Schnath und Mezger natürlich recht. Korrekt heißt das Zitat jedoch: „Es gibt nur eine Wirklichkeit, und das ist die in Christus offenbar gewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit“ (D. Bonhoeffer, 1963, 62 [= DBW 6, 210]). <?page no="360"?> 360 setzen und dem Hörer einzureden, „der Text habe recht - in Dingen, in denen er gar nicht recht haben möchte“ 773 . Das bedeutet keineswegs, dass es die Predigt den Hörern ,leicht‘ machen soll. Wenn sie sich mit der Wirklichkeit des Einzelnen auseinandersetzt, schließt das „die Bearbeitung gesellschaftlicher Tabus ein“ 774 . Die Kraft des Evangeliums dient dementsprechend auch nicht der Rechtfertigung Gottes gegenüber bestehenden Verhältnissen oder der Verteidigung antiker Weltbilder, sondern sie zeigt sich darin, dass bedrückende Verhältnisse sich ändern können, dass Situationen entworfen und damit angebahnt werden, aus denen befreite Menschen hervorgehen. Jan Hermelink hebt das hermeneutische Interesse Mezgers hervor und unterstreicht, dass die Besinnung auf die Situation des Hörers nicht bedeutet, die Vernehmbarkeit des Wortes Gottes zu garantieren. 775 Die verächtlich als bloße „Situationshomiletik“ diskreditierten Impulse einer an der Wirklichkeit des Menschen orientierten Predigtlehre sind oft in dieser Richtung missverstanden worden. Die Anknüpfung an die Existenz des Menschen gewährleistet auch nicht automatisch bestimmte Wirkungen der Predigt wie etwa ein Sich-als-von-Gott-angesprochen-Erfahren oder Nicht-anders-Könnenals-Glauben. Als Teil eines Kommunikationsgeschehens unterliegt die Rezeption einer Predigt nicht der Kontrolle des Predigers. Dieser kann aber einiges dafür tun, dass die Bedingungen gelingender Kommunikation und existentiellen Verstehens nach bestem Wissen und Gewissen für die Predigt berücksichtigt werden. Ein solcher Blick auf die Situation hat Konsequenzen auch für das Glaubensverständnis, das eine Predigt prägt. Heinz Zahrnt bringt dies in seinem Beitrag „Glauben unter leerem Himmel“ 776 treffend zum Ausdruck: „Fortan gibt es nicht mehr zweigeteilte, gegensätzliche Welten - eine jenseitig-übernatürliche ‚oben‘ und eine diesseitig-natürliche ‚unten‘ -, sondern nur noch die eine ungeteilte Welt, in der wir leben. […] Es handelt sich beim Glauben an Gott mithin nicht um die Hinzufügung einer zweiten, göttlichen Wirklichkeit zur vorhandenen Wirklichkeit der Welt - vielmehr erschließt der Glaube die sichtbar vorhandene Wirklichkeit der Welt in ihrer Tiefe: dass sie Gottes Welt ist und immer mehr werden soll. Entweder erfahren wir Gott in der Wirklichkeit der hiesigen Welt - oder wir erfahren ihn überhaupt nicht.“ 777 773 A. a. O., 25. 774 J. Hermelink, 1992, 99. 775 A. a. O., 100. 776 H. Zahrnt, 2000. 777 A. a. O., 31 f., 35. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="361"?> 361 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven 6.3.3 Die Lebenswirklichkeit des Hörers und die homiletische Situation Es ist kein Zufall, dass Ernst Langes leidenschaftliches Plädoyer für eine vom Zeugnis des Evangeliums erfüllte und in der Lebenswirklichkeit des Hörers verankerte Predigt in einer Zeit formuliert wird, in der die institutionalisierte Verkündigung der Kirche massiven Angriffen einer theologischen Protestgeneration ausgesetzt ist. Die Predigt, so lautete die Kritik, bestätige nur theologische (Herrschafts-)Systeme. Sie führe zu keinerlei Veränderung und gehöre daher abgeschafft. Ernst Lange schlägt sich weder auf die Seite der Verschwörung witternden Verteidiger noch pflichtet er den Forderungen nach einer Demontage des Predigtamtes bei. Er stellt sich zwischen die streitenden Parteien. Treffend resümiert Jürgen Henkys die Leistung Ernst Langes in jener Zeit: „In immer neuen Anläufen versucht er, erfahrene Wirklichkeit und geglaubte Verheißung so zusammenzudenken, dass eine sich gegen die Welt isolierende Kirche und eine sich gegen die Sozialwissenschaften verschließende Theologie zu riskanter Öffnung herausgefordert würden.“ 778 In die Argumentationsweise Ernst Langes muss man sich erst einlesen, um ihn hinreichend verstehen zu können: Seine Gedankenführung gleicht einem Pfad, der um einen Berg angelegt ist, in immer neuen Umrundungen langsam ansteigt und schließlich zur Spitze führt. Aus den zahlreichen Fehlinterpretationen in homiletischen Seminararbeiten und gelegentlich auch in der Fachliteratur 779 ist zu schließen, dass Langes Texte eher wenig gelesen werden. Seine Thesen scheinen populär und seine Argumente schlicht zu sein, so dass, wenn auf Lange Bezug genommen wird, oftmals nur etwas von „Wiederentdeckung der Bedeutung des Hörers im Predigtgeschehen“ 780 zu lesen ist, was immer das im Einzelnen heißen mag. Von daher erscheint es mir angemessen zu sein, seinen Ansatz etwas genauer in den Blick zu nehmen. 778 J. Henkys, 1990, 50. 779 Auf das vielzitierte - nach nunmehr fast 30 Jahren klassisch zu nennende - Missverständnis R. Bohrens (R. Bohren, 1981) komme ich unten zu sprechen. 780 Ch. Bunners, 1990, 144. In den Ausführungen Bunners’ wird empfohlen, „dass man die Möglichkeiten spezieller Hörererkundung […] zur Einfühlung in die jeweilige ,homiletische Situation‘ fleißig und engagiert nutzen“ soll (a. a. O., 170). Hier geht die existentiale Pointe des Begriffs der homiletischen Situation verloren. Als ob die „homiletische Situation“ etwas für den Prediger zunächst Fremdes, den Hörern aber Geläufiges wäre. Nach Lange erwächst die Notwendigkeit zur Klärung dieser Situation in hohem Maße aus den Anfechtungen des Predigers selbst. Sie ist kein wohlmeinender Einfühl-Akt um des anderen willen (vgl. E. Lange, 1976, 25). <?page no="362"?> 362 a) Zur Begründung situationsbezogener Predigt Ich beginne mit der Frage, warum Ernst Lange eine Homiletik fordert, die den Hörer nicht nur aus Gründen einer kerygmatisch plausiblen applicatio in den Blick nimmt, sondern die zu einer Verständigung über sein Leben führen soll. Zwar haben schon andere vor Ernst Lange die Situation für theologisch relevant erklärt, aber „nie zuvor [ist] mit solcher Entschiedenheit die Herausforderung betont worden, die der Predigtarbeit erwächst, will die Predigt wirklich das Gespräch mit ihren Hörern führen. Soll es zu einem solchen Gespräch kommen, soll die Predigt also einen impliziten Dialog mit ihren Hörern führen, dann müssen die Predigerinnen und Prediger ganz anders, als die bisherige Homiletik es ihnen abverlangt hat, sich um deren Wahrnehmung bemühen.“ 781 „Erst, wenn den Hörer angeht, was ich sage, geht ihn auch an, dass und inwieweit ich es aufgrund der Heiligen Schrift, im Einklang mit der Überlieferung des Glaubens, im Auftrag meiner Kirche und persönlich überzeugend sage. […] Für den Hörer entscheidet sich die Relevanz der Predigt mit der Klarheit und der Stringenz ihres Bezuges auf seine Lebenswirklichkeit, auf seine spezifische Situation. Dabei ist der Ausdruck ,Wirklichkeitsbezug‘ eigentlich noch zu schwach. Denn der eigentliche Gegenstand christlicher Rede ist eben nicht ein biblischer Text oder ein anderes Dokument aus der Geschichte des Glaubens, sondern nichts anderes als die alltägliche Wirklichkeit des Hörers selbst - im Lichte der Verheißung. Darum ist das homiletische Schema von explicatio und applicatio so unbefriedigend. Es erweckt den Anschein, als wäre da zunächst der Text und sein Verständnis und dann die Frage, wie das Verständnis des Textes zu beziehen sei auf dieses Leben des Hörers. Aber diese Vorstellung ist nicht nur hermeneutisch falsch, weil es Verstehen ohne Betroffenheit nicht gibt. […] Sie ist auch homiletisch falsch: Sie macht die Predigt zur popular-theologischen Vorlesung, den Prediger zum Geschichtslehrer oder zum autoritativen Verwalter einer kodifizierten Wahrheit. Sie stellt der Predigt die falsche Aufgabe.“ 782 Dass hier im Hinblick auf die Hörer vom „Gegenstand“ der Predigt die Rede ist, ist oft dahingehend missverstanden worden, als sei damit eine Inhaltsangabe gemeint. Aus diesem oben aufgeführten Zitat geht hervor, dass damit nicht der Inhalt, sondern ein Akt der Bezugnahme gemeint ist, eine Adressierung - 781 W. Gräb, 1997a, 499. 782 E. Lange, 1976, 57 f. Der Text, aus dem hier zitiert wird, trägt den Titel „Zur Aufgabe christlicher Rede“, erstmals erschienen in E. Lange, 1968, 78-94. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="363"?> 363 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven kurz: die Ausrichtung der Predigt. 783 Durch die Predigt soll das „Licht der Verheißung“ auf die „alltägliche Wirklichkeit“ des Hörers ausgerichtet werden. Es gilt, diese Wirklichkeit nicht einfach nur theologisch zu ventilieren, religiös zu sakralisieren oder gegen eine abstrakte Dunkelheit zu verteidigen. Der Grund situationsbezogener Predigt ist also nicht der Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wortes Gottes, auch nicht Ratlosigkeit angesichts ausbleibender Verheißungen des Evangeliums, auch nicht Gleichgültigkeit gegenüber der Tradition. Der Grund situationsbezogener Predigt liegt in der Praxis der Kommunikation des Evangeliums selbst: Sie kann ohne intendierten, gewollten, durchdachten Bezug auf die konkrete Lebenswelt von Zeitgenossen nicht stattfinden. Predigerinnen und Prediger sollen sich mit Situationen befassen, um dem Einzelnen kommunizieren zu können, inwiefern „der Gott, für den Jesus spricht, der Herr […] auch seiner spezifischen Lebenssituation ist“ 784 . b) Zur Aufgabe situationsbezogener Predigt Nachdem wir uns (a) mit der Begründung einer situationsbezogenen Predigt befasst haben, kann nun (b) erörtert werden, inwieweit diese Vorstellungen den neutestamentlichen Prämissen, den reformatorischen Schwerpunktsetzungen und den Erfordernissen eines publice docere entsprechen 785 , womit die Aufgabe der Predigt in den Blick kommt: „Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. Ich rede mit ihm über seine Welt und seine Verantwortung in dieser Welt, über die Bedrohungen und Chancen seines Daseins. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; freilich, er, der Hörer vor Gott. Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeit seines Lebens, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieser Wirklichkeit auf.“ Das heißt: „Ich rede mit dem Hörer über sein Leben nicht aus dem Fundus meiner Lebenserfahrung, meiner größeren Bildung, 783 Wenn Ernst Lange vom Inhalt der Predigt spricht, hat er immer das „Evangelium“, die „Verheißungen“, das „Wort Gottes“ oder die „Überlieferung“ im Blick. An einer Stelle gebraucht er hierfür auch den Begriff des „Gegenstandes“, und zwar wiederum inhaltsbezogen: „Gegenstand dieser Bemühung ist die christliche Überlieferung in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Situation“ (1976, 20). 784 A. a. O., 62. 785 Vgl. III.3.1-III.3.3, S. 553-579. <?page no="364"?> 364 […] ich rede mit ihm über sein Leben im Licht der Christusverheißung, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Und das heißt letztlich: Ich rede mit ihm aufgrund von biblischen Texten. […] Der Hörer soll verstehen, wie der Gott, für den Jesus spricht, der Herr der Situation, der Herr auch seiner spezifischen Lebenssituation ist. Er soll verstehen, wie das Vertrauen auf diesen Gott und seine gegenwärtige Herrschaft vom Bann des ,Gesetzes‘, das heißt von der Zwangsgewalt der […] sogenannten ,Realität‘, von Schuld und Verzweiflung befreit und entlastet (Absolutio), das Leben mit Verheißung erfüllt und also seiner Zukunft gewiss macht (Promissio) und den Menschen zu einem neuen Leben in Liebe und Hoffnung konkret ermächtigt (Missio). Das ist das Ziel der Predigtbemühung. […] Dass die Verheißung Glauben findet, kann die Predigt nicht bewirken. Sie muss aber zeigen, dass und warum die Verheißung Glauben ,verdient‘ und wie die geglaubte Wirklichkeit die Situation des Hörers verändert.“ 786 Dieses Predigtverständnis knüpft deutlich an der neutestamentlichen Verkündigungspraxis an, zu der die Einsicht gehört, dass sich in der Kommunikation des Evangeliums die Machtfrage stellt. Vor diesem Hintergrund sollte eine Predigt dem Einzelnen glaubhaft verdeutlichen, dass „der Gott, für den Jesus spricht, der Herr auch seiner spezifischen Lebenssituation ist“, so dass nicht die Erfahrung der Fremdbestimmung, des Systemzwangs, des Unterliegens und der Ohnmacht zu Grundmotiven des Lebens werden müssen. Basis und inhaltlicher Bezugspunkt solcher Predigt ist die „Christusverheißung, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt ist“. Dieses Verheißungspotential ist jedoch keine Ansammlung abstrakter Dogmen, sondern hat Konsequenzen bis in die Lebenswirklichkeit des Einzelnen hinein: Ähnlich wie Luther die Erarbeitung des pro me zu einem entscheidenden Punkt in der Rezeption des Christuszeugnisses erklärt hat, hebt Lange hervor, dass der Einzelne in seiner spezifischen Lebenssituation zum Leben ermächtigt werden soll, was die Kommunikation der Vergebung und die Plausibilisierung von Verheißungen einschließt. 787 Predigt ist demnach mehr als ein Akt der bloßen „Ankündigung dessen, was sie [die Menschen] von Gott selbst zu hören haben“ 788 . Sie ist konkrete Fortwirkung des Heilsgeschehens in unsere Zeit hinein. 786 A. a. O., 58. 62 f. 787 Inwieweit sich Predigerinnen und Prediger dieser Herausforderung bewusst sind, wird in starkem Maße darüber mitentscheiden, in welche Richtung sich die Kultur der Predigt entwickeln wird. In seinem Beitrag zur Notwendigkeit und bleibenden Relevanz der „Glaubenskommunikation“ erörtert Heye Heyen, „warum die Predigt das 21. Jahrhundert überleben wird“ (H. Heyen, 2007). 788 K. Barth, 1986, 30. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="365"?> 365 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven Die in II.2.3 ausführlich erörterte Frage nach dem Öffentlichkeitscharakter der Predigt nimmt Lange insofern auf, als er den drohenden Relevanz- und Öffentlichkeitsverlust der Predigt als Kommunikationsproblem der Kirche analysiert und zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Aufgabe der Predigt macht. Es ist Langes Eindruck von einer fehlenden Zeitgenossenschaft im Predigen, der ihn nach der „homiletischen Situation“ fragen lässt: „Der Prediger kann sich nicht verständlich machen. Er kann die gläserne Wand nicht durchbrechen, die ihn […] vom Zeitgenossen trennt. Die Worte, die er spricht, stiften weder Ja noch Nein, weder den Aufbruch der Gemeinde noch den Abbruch verfehlter Beziehungen zu ihr. Drinnen und draußen bleibt alles beim alten, als spräche man nicht.“ 789 Diese Feststellung führt nun unmittelbar zur Frage nach dem Verständnis der homiletischen Situation. c) Zum Verständnis der homiletischen Situation Die Bestimmung der „homiletischen Situation“ ist der Schlüssel zum Verständnis der Predigttheorie von Ernst Lange. Während der Begriff der Situation alltagssprachlich zumeist die „Lage der Dinge“ im Sinne bestehender Zustände bezeichnet, ist die homiletische Situation durch spezifische Spannungen qualifiziert, die es (spätestens) in der Vorbereitung auf die Predigt wahrzunehmen, zu interpretieren und in ihren lebensweltlichen Konsequenzen zu verstehen gilt. Solche Spannungen liegen manchmal an der Oberfläche menschlicher Erfahrung und sind mit wenigen Strichen markiert. Sie können aber auch unbewusst bestehen und die Alltagserfahrung latent prägen, sie können geleugnet und tabuiert werden. Das oben benannte Spannungspotential ergibt sich insbesondere aus den Abweichungen zwischen bestimmten Erwartungen und tatsächlichen Widerfahrnissen, aus der Abfolge von Hoffnung und Enttäuschung, aus der Erfahrung, etwas aus ganzem Herzen gewünscht zu haben, und mit der Zeit zu spüren, dass nicht nur das erwartete Glücksgefühl ausbleibt, sondern dass auch der Wille nicht mehr trägt, der einen Wunsch einst handlungsleitend werden ließ. In theologischer Hinsicht geht es unter anderem um die Spannung zwischen Verheißung und Erfahrung, eine Spannung, die nicht nur allgemein die Grundsituation des Glaubens mitbestimmt, sondern sich auch in konkreten Einzel- 789 E. Lange, 1976, 18. <?page no="366"?> 366 erfahrungen niederschlägt. An dieses Spannungspotential muss eine Predigt anknüpfen, um Kommunikation des Evangeliums im konkreten Bezug auf Situationen sein zu können. Ernst Lange nimmt die homiletische Situation mit folgenden Worten in den Blick: „Unter homiletischer Situation soll diejenige spezifische Situation des Hörers bzw. der Hörergruppe verstanden werden, durch die sich die Kirche, eingedenk ihres Auftrags, zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert sieht. Und die Aufgabe des homiletischen Aktes ist, von daher gesehen und formal ausgedrückt, die Klärung dieser homiletischen Situation.“ Kennzeichnend für diese Situation ist, „dass in ihr Schicksale, Erfahrungen, Erwartungen, Konventionen […] dem Auftrag der Kirche, die Relevanz der christlichen Überlieferung in dieser Situation und für sie zu bezeugen, einen bestimmten Widerstand leisten, aber auch bestimmte besondere […] Kommunikationschancen eröffnen.“ 790 Die homiletische Situation ist also „die von Fall zu Fall spezifische Situation, die mit den in ihr enthaltenen Widerständen und Kommunikationschancen […] die eigentliche Herausforderung der Predigt darstellt“ 791 . Mit „Widerstand“ ist hier „das Ensemble der Enttäuschungen, Ängste, der versäumten Entscheidungen, der vertanen Gelegenheiten, […] der Verweigerung von Freiheit und Gehorsam“ gemeint. „Er verkörpert die Resignation des Glaubens angesichts der Verheißungslosigkeit des alltäglichen Daseins […] - die Kapitulation des Glaubens vor der Unausweichlichkeit der Tatsachen. […] Im Kern ist also, biblisch gesprochen, die homiletische Situation die Situation der Anfechtung“, insbesondere „für den Prediger, der in dieser Situation relevant von Gott reden soll.“ 792 Erst aufgrund der Analyse der homiletischen Situation kann die „Verständigungsaufgabe“ 793 einer einzelnen Predigt konkretisiert werden. Um diese Aufgabe anzunehmen, ist nach spezifischen Erfahrungen aus dem „Ensemble der Enttäuschungen, Ängste“ usw. zu fragen, die mit den nicht weniger spezifischen Erfahrungen korrespondieren, die in einem biblischen Text ausgedrückt werden. Dabei geht es um Widerstände und Erfahrungen, die die konkrete Predigt ebenso notwendig machen wie relevant werden lassen. In der Terminologie Paul Tillichs formuliert: Es kommt darauf an, dass die prinzipiell zu unterstellende Korrelation zwischen den Fragen und den Antworten des Lebens - die natür- 790 A. a. O., 22 f. 791 A. a. O., 23. Hervorhebungen W. E. 792 A. a. O., 24 f. 793 A. a. O., 22. Ähnlich wie Mezger versteht also auch Lange den homiletischen Akt primär als Verständigungsbemühung (vgl. a. a. O., 20). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="367"?> 367 6.3 Gegenwärtige Reflexionsperspektiven lich wiederum Fragen sein oder zu Fragen führen können - Predigt für Predigt konkretisiert wird. Es ist das besondere Verdienst Langes, die Erfahrung der Erschütterung des Glaubens angesichts widersprüchlicher Erfahrungen als eigene Tatsache ernst genommen und nicht moralisiert oder mit „Tatsachen aus einer anderen Welt“ bagatellisiert zu haben. Seines Erachtens hat eine Predigt die Aufgabe, angesichts von Anfechtungen 794 die Relevanz des Glaubens zu bezeugen. Sein Plädoyer für die unverstellte Wahrnehmung dessen, was es dem Menschen schwer machen kann zu leben, zu glauben, bzw. aus Glauben zu leben, hat seinen Rückhalt in der Gewissheit, dass diese Erschwernisse der eigentliche Ort sind, an dem die Kommunikation des Evangeliums ihre Wirkung so entfalten kann, dass auch Verhältnisse sich ändern. Angesichts der differenzierten Auskünfte Ernst Langes über die Gründe seines Verständnisses von der Aufgabe der Predigt erweist sich Rudolf Bohrens Bewertung des damit verbundenen Ansatzes als erstaunlich grobes Missverständnis: Bohren resümiert, die homiletischen Prinzipien Ernst Langes seien von einer „kerygmatischen Schwindsucht“ 795 gekennzeichnet. Wer „mit der Situation beginnt“, der - so behauptet Bohren - mache sich „zu ihrem Gefangenen“. 796 Im Übrigen reklamiert Rudolf Bohren für sein eigenes Interesse an der Predigt: „Ich bin mir als Hörer nicht so interessant, dass ich meinetwegen zur Predigt gehen möchte. Ich bin als Hörer ein allzu mieses Thema.“ 797 Seine Einwendungen lassen sich anhand der oben zitierten Texte jedoch in Frage stellen: Es ist nicht Nonchalance gegenüber dem „Kerygma“, die Lange nach der homiletischen Situation fragen lässt, sondern gerade die Vernehmbarkeit des Evangeliums: Der Hörer soll verstehen, „wie der Gott, für den Jesus spricht, der Herr […] auch seiner spezifischen Lebenssituation ist“. 798 Unter „kerygmatischer Schwindsucht“ stellt man sich doch etwas anderes vor. 799 Falsch ist ebenso die Unterstellung Bohrens, dass Lange eine Predigt 794 Weiterführend zum persönlichen Umgang mit Anfechtungen ist die von W. Jentsch vorgenommene Unterscheidung zwischen „anfechtbarer Anfechtung“ (die keine Anfechtung des Glaubens ist, sondern Ausdruck einer „dünnen Haut“) und „durchzufechtender Anfechtung“, durch die der Einzelne wachsen kann. Vgl. W. Jentsch, 1978, 52-57. 795 Vgl. R. Bohren, 1981, 416. 796 A. a. O., 424. 797 R. Bohren, [1971] 1993, 451. 798 E. Lange, 1976, 62. 799 Weiterführende Aufschlüsse zur theologischen Relevanz des Langeschen Predigtansatzes finden sich bei W. Gräb, 1991. Vgl. zur Kritik an der Rezeption E. Langes durch R. <?page no="368"?> 368 vorschwebe, in der der Hörer zum Predigtinhalt werden müsse. Dieser Vorwurf wurde bereits oben entkräftet: Lange nimmt den „Hörer vor Gott“ in den Blick, um dessen Lebenswirklichkeit „im Lichte der Christusverheißung“ darstellen zu können. Wer, wie Rudolf Bohren, sogleich das Evangelium in Gefahr sieht, nur weil der Einzelne um seiner selbst willen, um seines angefochtenen Glaubens willen und im Hinblick auf sein Leben zum Predigthören motiviert werden soll, übersieht, dass Gott - der jüdisch-christlichen Tradition zufolge - um des einzelnen Menschen willen gesprochen hat. Gott wurde um des Menschen willen Mensch, und redet zu Konditionen, in denen Menschen hören und verstehen. Hinter der dezidierten Ablehnung einer Anknüpfung der Predigt an die Situation des Hörers steht übrigens durchaus nicht immer theologische Bescheidenheit oder die Tugend der Demut: Wer es ablehnt, um seiner selbst willen eine Predigt hören zu sollen, scheut sich möglicherweise auch davor, mit dem eigenen Selbstbild konfrontiert zu werden, das sich immer auch in der Alltagssituation abbildet, in der man zu leben gewohnt ist. Das von Bohren angesprochene Problem der „inhumanen Predigt“ 800 wendet sich gegen dessen eigenes Konzept, wenn der Einzelne nicht einmal mehr um seiner selbst willen eine Predigt hören darf. Um wessentwillen sollte er sonst eine Predigt hören wollen? Ernst Lange ist nicht der erste Praktische Theologe gewesen, der die Situation des Hörers als Kategorie der Homiletik begriffen hat. Er war auch nicht der letzte. Jan Hermelink stellt in einer repräsentativen Auswahl die „Varianten der pragmatisch-empirischen Wende zur homiletischen Situation“ anhand der predigttheoretischen Impulse von Hans-Dieter Bastian, Gert Otto und Werner Jetter dar. 801 Diese Variationen setzen das Grundthema und die Grundentscheidungen Langes in kybernetischer, rhetorischer und dialogischer Hinsicht um, indem sie die Fraglichkeit (H.-D. Bastian), die Geschichtlichkeit (G. Otto) und die Sprachlichkeit der homiletischen Situation (W. Jetter) thematisieren. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen werden im Folgenden drei Dimensionen der Predigt nachgezeichnet, die im Einzelfall auch den Typ einer Predigt bestimmen können und in besonderer Weise aus der Auseinandersetzung mit der homiletischen Situation erwachsen. Bohren auch H. W. Dannowski, 1985, 98, J. Hermelink, 1992, 12, W. Gräb, 1997a, 510. 800 Vgl. R. Bohren, [1971] 1993, 446 und meine Ausführungen zur „inhumanen Predigt Typ II“ unter I.6.1.1. 801 J. Hermelink, 1992, 223-255. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="369"?> 369 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Vorbemerkungen An dieser Stelle müssen wir noch einmal die Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Situationen bemühen: Abstrakte Situation können z. B. das Ergebnis von Zeitdiagnosen oder von sozialwissenschaftlichen Analysen sein, die versuchen, bestimmte Verhältnisse in einer Gesellschaft in den Blick zu bekommen und der komplexen vorgefundenen Situation eine Struktur geben. Abstrakte Situationen sind also schon interpretierte Situationen, die auf typische Voraussetzungen und Bedingungen des Lebens der Menschen in einer Gesellschaft hinweisen. Sie markieren die Rahmenbedingungen bestimmter Einzelsituationen, in denen sich Lebenswirklichkeit auf spezifische und kontingente Art und Weise - eben in konkreten Situationen - manifestiert. Diese konkreten Situationen widerspiegeln nicht einfach soziologisches Lehrbuchwissen, sondern fordern zur Stellungnahme, zum Partei-Ergreifen heraus. Sie verlangen nach anschaulichen Bildern, gedanklichen Impulsen und substantiellen Ideen dafür, an der Lage eines Menschen etwas zu ändern oder zumindest eine zumutbare Haltung der Situation gegenüber einnehmen zu können. Die Annäherung an beide Ebenen der Situation, an die abstrakte und die konkrete, ist für einen adäquaten Sachbezug der Predigt unabdingbar. Prediger benötigen daher einerseits Grundkenntnisse in Bezug auf die Bedingungen gegenwärtiger Lebenswelt und sollten in einschlägigen „Gesamtdeutungen der gesellschaftlichen Lage“ bewandert sein. Andererseits erfordert ihre Arbeit ein reges Interesse an den Konkretisationen abstrakter Situationen in den Wechselfällen menschlichen Lebens. Dabei ist zu bedenken, dass Situationen nicht erst durch Deutungen gegenwärtig wirksam werden, sondern den Verlauf von Kommunikationsprozessen von vornherein mitbestimmen. 802 Als Gesamtheit der realen Umstandsbedingungen der Kommunikation haben Situationen - allein schon durch ihre Materialität - Einfluss darauf, wie sich Kommunizierende aufeinander beziehen, wann und wie sie aufeinander hören usw. Reale Gegebenheiten wirken sich daher auch auf die Richtung aus, in der etwas verstanden wird. Die „Umstände“ können Kommunikationsabsichten unterlaufen und automatisierten Verständigungsprozessen eine andere Richtung geben. 803 Zu diesen objektiven Gegebenheiten 802 Gegen J. Barwise/ J. Perry, 1987, 24. 803 Vgl. die Ausführungen zum Kommunikationsumstand als Intention, Intervention und Innovation in: W. Engemann, 1993, 180-185. <?page no="370"?> 370 zählen die kulturellen und sozialpolitischen Verhältnisse in einem Land, das Verhältnis der Ärmeren zu den Reicheren, die Zahl der Arbeitslosen in einer bestimmten Region oder Stadt, in der gepredigt wird, die Zusammensetzung der Gemeinde nach Alter und Geschlecht, die Schicksale, die Einzelne durch Krieg, Flucht, persönliche Trennungen erlitten haben und anderes mehr. 804 All das konstituiert die realen Umstandsbedingungen der Predigtkommunikation mit und kann gar nicht aus dem Predigtgeschehen ausgeklammert werden. Natürlich macht es einen großen Unterschied, ob diese Realität - im Fall einer ausgesprochenen Realitätsferne der Predigt - den Verstehensprozess nur stört, boykottiert oder scheitern lässt, oder ob diese Realität in der Predigt selbst vorgesehen ist, ob sie buchstäblich eingeräumt wird und auf diese Weise zur Relevanz und Wahrhaftigkeit der Kommunikation beiträgt. Diesem Anliegen dienen die folgenden drei - exemplarisch zu verstehenden - Kapitel über die Predigt angesichts des Wahns und der Angst 805 sowie der Bedürftigkeit. Ernst Lange weist zur Verdeutlichung der „von Fall zu Fall spezifischen Situation“ auf die Voraussetzungen der „Kasualrede“ hin. Er meint, dass im Grunde für jede Predigt bestimmte Kasus zu beschreiben seien. Dabei hat er „besondere Situationen“ vor Augen, „in denen die Kirche, aus welchen Motiven auch immer, einberufen [wird], um zu handeln und zu reden“ 806 . Wenn im Weiteren auf die Kategorien politischer, seelsorglicher und diakonischer Predigt eingegangen wird, sind zwar keine so konkreten Problemkonstellationen im Blick, dass man schon von spezifischen „Situationen“ reden könnte; es handelt sich jedoch um drei Reflexionsperspektiven, die naturgemäß einen starken Situationsbezug implizieren und Klärungen erfordern, die der Annäherung an einzelne Kasus immer vorausgehen sollten. 804 Leonora T. Tisdale plädiert für eine regelrechte „Exegese der Gemeindesituation“ (L. T. Tisdale, 2008), die verschiedenste soziale, kulturelle, auch ethnographische Aspekte einschließt und vom Prediger fordert, sich in seiner Gemeinde wenigstens genauso gut auszukennen wie in den biblischen Texten. “Congregational interpretation is a necessary ‘first step’ (as well as an ongoing process) through wich the pastor can listen attentively on order to deepen his/ her understanding of the congregation on its own terms” (L. T. Tisdale, 1997, 25). 805 Das Begriffspaar „Angst“ und „Wahn“ bezeichnet zwei klassische Möglichkeiten der Fokussierung abstrakter Situationen. Historische Anregung hierfür ist u. a. Martin Luthers Versuch, „neben der Angst auch den Wahn als elementaren psychischen Bezugspunkt christlicher Verkündigung“ wahrgenommen zu haben. Vgl. M. Josuttis, 1986, 40. 806 E. Lange, 1976, 22. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="371"?> 371 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt 6.4.1 Predigen angesichts des Wahns. Politische Aspekte a) Voraussetzungen und Probleme In der Debatte um die Legitimität und Reichweite politischer Predigt sind verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht worden. Ich möchte versuchen, die damit verbundenen Diskurse anhand dreier Aspekte zusammenzufassen und zuzuspitzen. Der Aspekt des Schöpfungscharakters: Eine Predigt ist zunächst aufgrund ihres Schöpfungscharakters politisch. Biblisch ausgedrückt: Wo Gott redet, werden Machtworte gesprochen. Aus dieser überlieferten religiösen Erfahrung ergeben sich gewisse Erwartungen im Blick auf die Predigt: Sollten sich nicht Verhältnisse ändern können - auch Machtverhältnisse - wo gepredigt wird? Hat die Predigt nicht Teil am Schöpfungsgeschehen, indem sie Geschichte macht im Raum und in der Zeit konkreter menschlicher Existenz, indem sie einwirkt auf Menschengeschichte, indem sie betreibt, wovon sie spricht? Eine Predigt zu halten ist untrennbar mit dem Versuch verbunden, das Wort des Schöpfers unter den Daseinsbedingungen der Geschöpfe in die Sprache der Geschöpfe zu fassen. Es gilt, das „Es werde-…“ (vgl. Gen 1,3 ff.) von Neuem zu sprechen. Die Hörer sollen Zeuge davon werden, wie unter den Bedingungen ihrer Existenz Spielräume des Lebens entstehen und wie sich neue Aussichten auf ihre Zukunft eröffnen, Perspektiven, die auch ihr Handeln in der Gegenwart orientieren. In diesem Sinne kann eine Predigt nicht unpolitisch sein. Indem sie bestimmte Optionen des Miteinander- und In-der-Welt-Seins favorisiert und andere kritisiert, indem sie dem Menschen als Geschöpf Gottes die Gabe der Schöpfung neu begreiflich macht und ihn auf seine Verantwortung für die Schöpfung anspricht, macht sie ihn sensibel und geradezu ,anfällig‘ für das Politische. 807 Dabei sind zwei weitere Aspekte von besonderer Bedeutung: Der Aspekt des Öffentlichkeitscharakters: Eine Predigt ist außerdem aufgrund ihres Öffentlichkeitscharakters politisch. Die Kirche kann nicht das publice do- 807 Wie diese Unausweichlichkeit politischer Predigt sich im Einzelfall entwickeln und profilieren kann, hat S. Kuhlmann mit Bezug auf die prophetische Dimension der Predigtweise Martin Niemöllers verdeutlicht. Niemöller selbst hat zwar nie beansprucht, prophetisch zu predigen oder auf der Kanzel Politik zu machen. Gleichwohl wurden seine Kanzelreden als politisch relevant und prophetisch aufrüttelnd empfunden. Vgl. S. Kuhlmann, 2008, 20, 263-276. <?page no="372"?> 372 cere 808 propagieren, die Aufgabe der Predigt mit dem Königs-, Propheten- und Priesteramt Christi begründen, und ihren Predigern gleichzeitig abfordern, nicht politisch zu wirken. Es hängt mit dem Wesen der Kommunikation des Evangeliums zusammen, dass eine Predigt nicht nur in die Wirklichkeit des Menschen hineinspricht, sondern sie auch - öffentlich - beeinflusst, beurteilt und zur Verhaltensänderung anstiftet. Die in der Öffentlichkeit eines Gottesdienstes anvisierte, reflektierte, definierte und bewertete Wirklichkeit darf nicht auf „fromme“ Wirklichkeit, nicht auf irgendeine Innenansicht des Menschen reduziert werden. Eine Predigt trägt gleichsam auch zur Veröffentlichung der Außenansicht der Welt als (unter Umständen lädierter) Schöpfung Gottes bei, ohne sich damit zum Oberlehrer politischer Machthaber aufzuspielen. Auch unter diesem Aspekt sind Martin Niemöllers brisante „Dahlemer Predigten“ aufschlussreiche Lehrstücke. 809 Sie verdeutlichen, in welchem Sinne das Evangelium als „Angriff “ empfunden werden kann, nämlich als Konfrontation mit der Tatsache, „dass Jesus Christus der Herr ist. Niemöller hat diese Botschaft als Ruf zur täglichen Entscheidung verstanden. Das Evangelium fordert jeden Tag neu dazu heraus, zu kämpfen und anzugreifen, insofern es den Herrn über alle und alles proklamiert. Dadurch führt es unausweichlich in den Widerstreit mit der Welt. Niemöller spitzt diese Einsicht etwa in dem Satz zu: ‚Evangelium ist nicht Verteidigung, sondern Angriff ‘“ 810 . Dieser „Angriff “ besteht für Niemöller nicht zuletzt in einer gleichsam prophetischen, öffentlichkeitswirksamen Kommentierung politischer Ereignisse. Seine Predigten führen exemplarisch vor Augen, was es mit dem Genre „politischer Predigt“ auf sich hat und lassen erkennen, dass die prophetische Dimension einer Predigt nicht in einer treffsicheren Zukunftsbeschreibung, sondern in ihrer aufdeckenden Gegenwartsdeutung liegt. Der Aspekt der Parteilichkeit: Eine Predigt ist auch aufgrund ihrer faktischen Parteilichkeit politisch. Diese Parteilichkeit ist nicht abhängig vom Grad der Übereinstimmung mit politischen Programmen. Sie ist Ausdruck der Parteinahme Gottes für das Leben des Menschen und gegen den Tod, für seine Freiheit gegen die Unterdrückung, für sein Heil gegen sein Verderben, für den Frieden gegen die Gewalt. Eine Predigt, die den Versuch unternähme, um all diese Dinge 808 Vgl. unten III.3.3, S. 568-579, zur Aufgabe der Predigt im Lichte ihrer Öffentlichkeit. 809 Niemöllers „Dahlemer Predigten“ sind von Michael Heymel (2011) erstmals vollständig herausgegeben worden. Dieses Buch führt anhand von Niemöllers Kanzelreden detailliert in das damalige Spannungsfeld von Religion und Politik, Kirche und Staat, Bekenntnis und Ideologie, priesterlicher und prophetischer Funktion von Pfarrern ein. 810 A. a. O., 35. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="373"?> 373 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt herumzureden, stellte den Versuch dar, das Schöpfer-, Erlöser-, und Heilshandeln Gottes niederzuringen bzw. ihm seine Bezugspunkte zu entziehen. Wer dieser Versuchung nachgibt, sanktioniert die bestehenden Verhältnisse. „Dann aber bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, das Höchste aber ist der Status quo.“ 811 Nach M. Josuttis kann sich solche Parteinahme nicht einfach auf christlich-humanistische Grundwerte beschränken. Sie hat im Einzelfall damit zu tun, bestimmte politische Positionen zu problematisieren, andere hingegen als begrüßenswert zu verdeutlichen. In diesen Fällen muss der Prediger voraussetzen bzw. sich dafür einsetzen, dass die Gemeinde von ihrer Mündigkeit Gebrauch macht. Die Urteilsfähigkeit der Gemeinde, ihre Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen diskutablen Positionen und indiskutablen Grundhaltungen (der Solidarität, der Toleranz usw.) sollte sich auch in der Form der Predigt niederschlagen, z.B. in Predigten, die den Charakter von „Zeichenhandlungen“ haben, in „Dialogpredigten“ oder in „öffentlichen Gesprächen im Anschluss an die Predigt“. 812 Die Hauptgefahr politischer Predigt besteht im Abgleiten in Gesetzlichkeit. Die Probleme politischer Predigt wachsen jedenfalls nicht proportional mit der Offensichtlichkeit ihres politischen Engagements. (Das würde zu der fatalen Folgerung führen, dass eine Predigt, die kaum oder gar nicht auf politische Fragen Bezug nähme, der Gemeinde und der sonstigen Öffentlichkeit keine Probleme bereitete.) Homiletische Probleme erwachsen politischer Predigt immer dann, wenn die vom Prediger wahrgenommenen und definierten Missstände mit dem Tenor zur Sprache gebracht werden, dass die dabei vorgetragenen politischen Analysen und Lösungsvorstellungen pures Evangelium seien. Hörer, die vor die Wahl gestellt werden, sich entweder als Christen verstehen zu dürfen und die Ansichten des Predigers zu akzeptieren, sie zu exekutieren und dabei das Evangelium umzusetzen - oder eben falsch zu glauben -, geraten gleichsam unter das Gesetz 813 , statt in die Kommunikation des Evangeliums verwickelt zu werden. So werden die Prinzipien der Leistungsgesellschaft 811 O. Keel, 1985, 254. „Niemand kann sich […] dagegen wehren, dass sein Schweigen zu politischen Streitfragen als Einverständnis mit der Überzeugung der regierenden Mehrheit gewertet wird. […] Die Predigt entzieht sich der Parteilichkeit nicht, indem sie zu politischen Fragen die Stellungnahme verweigert“ (M. Josuttis, 1969, 514). Zur Plausibilitätsproblematik politischer Stellungnahmen in der Predigt vgl. auch G. Kugler, 1983, 9. 812 Vgl. M. Josuttis, 1969, 517 f. 813 Wenn die Predigt die „Entscheidungsfreiheit des Hörers“ auszuhebeln sucht, ist sie „Gesetzes- und nicht Evangeliumspredigt“ (W. Schütz, 1981, 125). <?page no="374"?> 374 ausgerechnet dort wiederbelebt, wo der Einzelne nicht auf Grund seiner Erfolge etwas gilt, sondern wo er als der Mensch, der er ist, zum Vorschein kommen und Wertschätzung erfahren sollte 814 - im Gottesdienst. Wenn Predigten außer einer politischen auch eine prophetische Dimension haben, ist das ihrer deutenden Kraft, ihrem Klärungsvermögen, ihrem Mut zu verdanken, den Finger in eine Wunde zu legen. Dass eine Predigt sich zu Zeit- und Gesellschaftsdeutungen entschließt und bestehende Verhältnisse bewertet, heißt nicht, dass sie zugleich auch programmatische Vorschläge zur Umgestaltung bestehender Verhältnisse und der sie ermöglichenden Gesetze und Ordnungen unterbreiten müsste. 815 „Prophetie ist auf der situationsdeutenden Seite zu finden und fundiert Gesellschaft von dort aus. Sie wehrt sich gegen Vereinnahmungen der situationsgestaltenden Bereiche, oft unter Ausschlagung scheinbar günstiger Allianzen: Paradoxerweise muss sie sich gegen Bevorzugung oder Monopolisierung durch die Politik zur Wehr setzen, um nicht zur weltanschaulichen Legitimierung einer politischen Fundierung des Gemeinwesens zu werden. […] Das Handeln des Menschen ist nur dort Thema prophetischer Predigt, wo der Mensch neben Gott andere höher- oder gleichwertige Autoritäten anerkennt.“ 816 814 „Das wirkliche Evangelium dagegen, das sich von jedem moralischen und politischen Weltverbesserungsprogramm unterscheidet, ,enthüllt- …, worin eigentlich unsere Schuld liegt: nicht in unserem Versagen gestern, sondern in dem Wahn, trotz und mit dieser unserer Vergangenheit und auf ihren Wegen die Zukunft gewinnen zu können, nämlich dadurch, dass wir jetzt endlich den Anforderungen gerecht werden‘“ (M. Josuttis, 1973, 563 mit Bezug auf ein Zitat von G. Harbsmeier). 815 Von den Möglichkeiten prophetischer Predigt her gedacht ist es z. B. angemessen, in einer Predigt darauf aufmerksam zu machen, dass in Afghanistan „nichts gut“ ist (wie die damalige Ratsvorsitzende der EKD Margot Käßmann 2009 in einer Weihnachtspredigt erklärte), ohne gleichzeitig und detailliert darlegen zu können, wie die in diesem Land anzutreffenden Probleme - einschließlich der Folgeprobleme in Deutschland - politisch im Rahmen einer Kunst des Möglichen zu bewältigen seien. 816 S. Kuhlmann, 2008, 334, 338. Karl-Fritz Daiber verweist dagegen neben der „epideiktischen politischen“ (zum Lob oder zur Klage aufrufenden) und der „urteilsbildenden politischen Predigt“ auf das Genre der „handlungsanweisenden politischen Predigt. […] Geht es im ersten Fall um Ermächtigung zur Sprache in Klage und Lob, so im zweiten um das Situationsverstehen. Nur im Rahmen der dritten Möglichkeit geht es um politisches Handeln im engeren Sinne. […] Die Handlungsaufforderung bedarf in jedem Fall des gemeindlichen Gesprächs“ (K.-F. Daiber, 1991b, 176). Ein Versuch zur Vermittlung zwischen den Positionen Daibers und Kuhlmanns findet sich am Ende des Abschnitts c) in diesem Kapitel. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="375"?> 375 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Eine weitere Gefahr der politisch ambitionierten Predigt besteht in der Verfehlung der anwesenden Adressaten. Politische Predigt, die im Gestus der Empörung vor allem die nicht-anwesenden Anderen ins Gebet nimmt, denen überdies alle Schuld an den bestehenden Verhältnissen angelastet wird, kann vielleicht mit der Zustimmung eines größeren Teils der Anwesenden rechnen. Ein gepflegter Konsens darüber, wo „die wahren Schuldigen“ sitzen, verfehlt jedoch die Gegenüberstruktur der Predigtsituation 817 , die gerade im Fall einer pointiert politischen Kanzelrede nicht aufgegeben werden darf: Die politische Predigt soll die anwesende Gemeinde angesichts bestehender politischer Verhältnisse orientieren, ermutigen, motivieren, warnen, trösten. 818 Auch in einer politischen Predigt steht zur Debatte, was die implizit oder explizit thematisierten politischen Fragen für das Leben und den Glauben des Einzelnen bedeuten, der - wie Ernst Lange es ausdrückte - zum „Christendienst in der Welt“ 819 berufen ist. Die Verfehlung der Adressaten hat viele Formen. Sie reichen vom verzerrten Gemeindebild eines Predigers, der seiner Gemeinde keinen „christlichen Weltdienst“ zutraut und sie zum „Kosmos der sich zu Gott und den religiösen Idealen in Opposition befindlichen Welt“ 820 rechnet, bis hin zu unüberlegten und „überfordernden Konkretionen“ politischer Predigten, in denen „von Einzelnen die Veränderung der gesamten Gesellschaft gefordert“ 821 und das Herbeiführen des Reiches Gottes erwartet wird. Schließlich sei auf das Problem der ideologischen Überfremdung der Kommunikation des Evangeliums verwiesen, die vom Prediger nicht mehr wahrgenommene Ineinssetzung des aus einer bestimmten politischen Sicht Opportunen mit der jeweiligen Botschaft eines Textes. So gewiss „Gleichheit“, „Sensibilität“, „Gewaltlosigkeit“, „Weltverantwortung“, „Geschlechtergerechtigkeit“ usw. in bestimmten Kontexten der alten und neueren Geschichte des Glaubens eine je besondere Rolle gespielt haben, ist die selektive Rezeption dieser Werte immer auch Ausdruck derjenigen Werteskala, die gerade in einer Gesellschaft zirkuliert und sich z. B. „im Zuge der ökologischen und technischen Krisen der Gesellschaft“ 822 herausgebildet hat. Diese Werte und Errungenschaften haben 817 Genaueres dazu unter III.4.5.2.c, S. 604 f. 818 W. Engemann, 1993b, 7 f. 819 E. Lange, 1976, 82. 820 Ch. Burbach, 1990, 167. 821 A. a. O., 108 f. 822 A. a. O., 84. <?page no="376"?> 376 ihr eigenes Recht und bedürfen es gar nicht, „schon in den biblischen Texten enthalten“ zu sein, die zum Teil ganz andere, auch konträre sozial- und kultursoziologische Prämissen haben. Die grundsätzliche politische Relevanz der biblischen Texte liegt nicht darin, dass sie durchweg unsere heutigen Vorstellungen von einer gerechten Welt überträfen, sondern darin, dass sie die Welt des Glaubens konsequent mit der realen Welt verschränken und sie nicht auf eine Insel der Seligen reduzieren. Sie sind darin politisch, dass sie die Gottesbeziehung des Einzelnen in ihrer Konsequenz für andere Beziehungen zur Sprache bringen. Damit kommen wir zur Frage nach der Funktion der politischen Predigt. b) Zur Funktion politischer Predigt Politische Predigt trägt der Verantwortung des Menschen für die Welt Rechnung. Sie ist Ausdruck der Hoffnung, dass es geboten und verheißungsvoll ist, in dieser Welt Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn bzw. gerade weil die in den Schriften des Alten und Neuen Testaments überlieferten, auf die Verantwortung des Menschen setzenden Verheißungen 823 nicht auf die Herbeiführung des Reiches Gottes zielen, sondern die Konsequenzen von Zeugnis und Dienst in der Welt thematisieren, sind sie politisch. Das sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinde überfordernde Projekt, den Himmel auf die Erde zu bringen, steht gar nicht zur Debatte. Der Einzelne kann aber ebenso wie die Gemeinde auf die Konsequenzen hin angesprochen werden, die sich aus dem Glauben an Gott bzw. aus der Erwartung des Kommens der Gottesherrschaft ergeben. Wer aus diesem Glauben und dieser Erwartung lebt, kann und soll sich ideologischen Manipulationen widersetzen, kann und soll gewaltlosen, aber notwendigen Widerstand gegen das Unrecht leisten, kann und soll für Frieden und Gerechtigkeit eintreten, auch wenn es Nachteile und Leid mit sich bringt. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung des Christen für die Welt hat die Rezeption der lutherischen Lehre von den zwei Regimenten eine besondere Rolle gespielt. Nur eine simplifizierende Interpretation kann zu dem Resultat kommen, dass dieses Modell politische Verhältnisse verkläre und dem Interesse diene, „den Status quo aufrechtzuerhalten“ 824 . Dem ist entgegenzuhalten, dass der, der Gottes Wort weiterzusagen hat, dieses Wort nicht nur im „Reich Gottes zur Rechten“ (der Kirche) verdeutlicht, 823 Vgl. z. B. die Zumutungen der Seligpreisungen Mt 5,3-11. 824 Vgl. A. Schönherr, 1990, 385 f. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="377"?> 377 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt sondern - weil Gott über beide Regimente herrscht - dieses Wort auch gegenüber dem „weltlichen Reich zur Linken“ zu vertreten hat. Dass die Kirche nicht Obrigkeit spielen soll, heißt nicht, dass sie dem Tun der Obrigkeit indifferent gegenüberzustehen hätte. Im Gegenteil, die Kirche soll dem weltlichen Reich gegenüber das Gesetz Gottes aufrechterhalten. Die Behauptung, Luther habe ein friedlich-schiedliches Einander-Gewährenlassen des geistlichen und des weltlichen Reiches im Blick, widerspricht der reformatorischen Option für den Widerstand in allen Fragen, die die Gewissen der einzelnen Gläubigen korrumpieren. 825 Dieser Widerstand ist jedoch nicht mit Gewalt, nicht mit „weltlichen Mitteln“ aufzubieten. Die beiden Grundformen des Widerstandes der Kirche sind das Wort und das - für die jederzeit riskante Kommunikation des Evangeliums in Kauf genommene - Leiden. 826 Was das heißt, lässt sich nicht zuletzt an der Biografie Luthers verdeutlichen. 827 Auch seine Theologie und Predigt sind sowohl vom Inhalt als auch von ihrer Wirkung her gesellschaftspolitische Ereignisse, kämpferisch gestimmte Auseinandersetzungen mit Fragen des Lebens und der Zeit. So betrachtet ist die politische Verantwortungsreife einer Predigt nicht am Grad der Entrüstung und Empörung 828 gegen andere oder „die da oben“ abzulesen, 825 Vgl. hierzu die Vorreden zur Augsburgischen Konfession und zur Apologie der Konfession, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 1978, Bd. I, 47, 141. 826 Besonders eindrücklich hat Eivind J. Berggrav entfaltet, worin die Aufgabe der Kirche besteht, „wenn der Kutscher trunken ist“. In seiner Arbeit Der Staat und der Mensch erörtert er aus verschiedenen (u. a. rechtsphilosophischen, sozialwissenschaftlichen, kirchengeschichtlichen) Perspektiven, was der Satz, „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, bedeutet. Seiner Ansicht nach fordert dieses Gehorsamsprinzip eine Kirche und eine Predigt, die die Gewissen stärkt und schärft. Denn ein Mensch mit einem getrösteten und geschärften Gewissen ist sich seiner „Verantwortung gegenüber dem Heiligen“ bewusst. Es geht Berggrav letztlich um die Frage, „an wen man die höchste Forderung stellen kann. […] Wer sich aber der stärksten Verbundenheit rühmt, muss sich als erster verantworten. […] Entscheidend ist, ob sich […] ein ,Entweder-Oder-Christentum‘ findet“ (E. J. Berggrav, 1946, 81-84, 248-274, 307-319). 827 „Hier stehe ich - ich kann nicht anders! “ Luthers Auftritt in Worms ist die Schlüsselszene einer aus religiösen Gründen „politischen Haltung, in der der Einzelne ungeachtet aller bedrohlichen Konsequenzen seinem Gewissen folgt und dennoch offen bleibt für Gründe aus der Schrift und Argumente der Vernunft“ (M. Josuttis, 1986, 39). In gleicher Weise geht E. J. Berggrav auf die Risikobereitschaft eines besonnenen, dem Heiligen verpflichteten Gewissens ein und nimmt dabei seinerseits auf Luthers Auftritt in Worms Bezug (vgl. E. J. Berggrav, 1946, 274-286). 828 Da seit dem Zeitalter der Moderne „die Empörung eine Lizenz als Grundhaltung hat - on a raison de se révolter“, wie Peter Sloterdijk (2005, 36) beobachtet, ist gegenüber dieser Masche besondere Zurückhaltung geboten. <?page no="378"?> 378 und ihre politische Relevanz ergibt sich nicht aus der Quantität oder Qualität der Forderungen, die sie erhebt. Politisch wirksam ist eine Predigt insbesondere dadurch, dass sie die Gewissen der Anwesenden erreicht, die zur Veränderung der „Dinge, wie sie sind“, etwas beitragen können: Die Gemeinde soll unduldsam werden gegen den Wahn, man müsse den Menschen perfektionieren, man könne die Schöpfung zerstören und sie immer wieder ad integrum restituieren, man müsse die Fremden vertreiben, um die Heimat zu behalten. Eine politisch wirksame Predigt wird weniger für einzelne politische Parteien unbequem sein, sofern sie überhaupt davon erfahren; sie wird vor allem von der Gemeinde wenig Applaus erwarten dürfen. Wenn sie andernfalls nur wiederholte, was sich als Zeitungsmeinung durchzusetzen schiene, wäre sie ein Akt bloßer Selbstgefälligkeit. Politische Predigt vermag zum Beispiel zu verdeutlichen, unter welch wahnwitzigen Verhältnissen Menschen bereit sind, in der Gegenwart zu leben, unter welchen Bedingungen sie dazu neigen, ihre Vergangenheit zu vergessen oder ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen. Politische Predigt erhellt das Ausmaß der sogenannten strukturellen Sünden der Gesellschaft und kann sie als menschliche Schuld zur Sprache bringen. Politische Predigt macht gewohnheitsmäßige Arrangements mit Machtstrukturen bewusst und stellt persönliche Nutzeffekte in Frage. Von daher ist es auch zu verstehen, weshalb Josuttis in seinen Äußerungen zu Fragen der politischen Predigt wiederholt die Funktion des Gesetzes für die Predigt thematisiert: Man kann die politische Predigt durchaus „als eine moderne Form der aufdeckenden Gesetzespredigt verstehen“ 829 . Eine Predigt, die in diesem Sinne ihre politische Verantwortung wahrnimmt, ist zweifelsohne eine moralische Instanz. Das bedeutet nicht, dass von dieser Instanz Moralpredigten zu erwarten sind. Eine Moralpredigt läuft ja paradoxerweise immer darauf hinaus, die Gewissen zu beruhigen, indem sie vorgibt, mit etwas gutem Willen und etwas mehr Engagement könne man das Gesetz schon in den Griff bekommen. Als moralische Instanz hat die Predigt die Aufgabe, entgegen der dumpfen Erwartung, dass schon alles irgendwie seinen Gang gehe und zu machen sei, auf die je und je akute Differenz zwischen der (in den Visionen des Glaubens) möglichen Welt und den bestehenden (Un-)Ordnungen und ihren Prinzipien 829 M. Josuttis, 1973, 566. Josuttis nimmt hier zwar zum „Politischen Nachtgebet“ Stellung, seine Argumentation hat an dieser Stelle gleichwohl grundsätzlichen Charakter. Sie bezieht sich auch auf die generelle Funktion der „Gesetzespredigt“ (ebd.). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="379"?> 379 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt hinzuweisen. In diesem Zusammenhang muss die Predigt „in der Öffentlichkeit die moralische Frage stellen“ und „Mut zum begründeten moralischen Urteil beweisen“ 830 . Die politische Predigt kann ihre ideologiekritische Funktion auch im Gegenüber zur Institution Kirche ausüben. Wenn es der Predigt gelingt, die oben gekennzeichneten Fallen zu umgehen, ist sie „ein Akt der Religionskritik an jener Religion, die in ideologischer Form die Identifizierung von Natur und Geschichte vornimmt und damit politisches Denken im Ansatz lähmt.“ Eine solche Predigt ist imstande, „offizielle Problemverdrängungen in ihrer ideologischen Funktion“ aufzudecken, den „politischen Missbrauch theologischer Sätze“ bewusst zu machen und zur „Differenzierung zwischen Gott und Welt, Gott und Geschichte, Gott und Kirche“ beizutragen. 831 Dass Helmut Thielicke davor warnte, politisch zu predigen, und für sich selbst reklamierte, als Prediger keine politische Motivation zu kennen, implizierte faktisch eine Vernachlässigung der prophetischen Dimension der Predigt. Thielickes Predigtpraxis zeigt allerdings, dass er durchaus politisch war und zudem einer ganz bestimmten Ideologie folgte, nach der z. B. die „deutsche Passion“ in der Semantik von Kreuz und Karfreitag als sachgemäße Analogie zur Passion Jesu Christi erscheint. 832 Solche Predigt steht in der Gefahr, „das Ereignis des Kreuzes in den Mythos deutscher Geschichte zu verwandeln“ 833 . Die Schwierigkeit der Aufdeckung solcher ideologischer Predigt besteht darin, dass, wo ideologisch gepredigt wird, in der Regel nicht absichtlich gelogen wird, sondern in die Predigt fließen Begriffe, Bilder und Vorstellungen ein, die, weil sie selbst das Resultat eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses sind, nicht mehr dazu taugen, den entsprechenden Entwicklungen von außen gegenüber zu treten. Nolens volens werden bestimmte, gesellschaftspolitisch populäre semantische Oppositionen und Achsen zu Rastern einer vermeintlich von Gottes Wort her argumentierenden Gegenwartsdeutung und Zukunftserwartung. 834 Ein wichtiges, wenn auch nicht ausschließliches Leitbild politischer Predigt ist daher die prophetische Rede, die sich dadurch auszeichnet, dass sie niemals in den bestehenden gesellschaftspolitischen Gegebenheiten aufgeht, nicht in sie hineinpasst, sondern kritisch auf sie Bezug nimmt und einen aufdeckenden 830 M. Josuttis, 1986, 40. 831 M. Josuttis zur Funktion des Politischen Nachtgebets, 1973, 569, 577. 832 Vgl. H. Thielicke, 1947, bes. III f. 833 A. Richter-Böhne, 1989, 109. 834 Vgl. W. Engemann, 1993, 127-135. <?page no="380"?> 380 Charakter hat. 835 Sie allein kann die politisch gerechten Verhältnisse weder herstellen noch muss sie erläutern, wie dies im Einzelnen zu geschehen hat. Sie kann aber die oben benannten Differenzen zwischen den Ordnungsvorstellungen des Glaubens und den unordentlichen Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft immer wieder zur Sprache bringen. Die Forderung nach der Berücksichtigung der Situation läuft also nicht auf eine Predigt hinaus, die reibungslos in der Lebenswirklichkeit ihrer Hörer verschwände, sondern deren Relevanz sich auch in den spezifischen Widerständen und Einsprüchen zeigt, die die Kommunikation des Evangeliums provoziert. 836 Sebastian Kuhlmann nähert sich in 28 Thesen an entsprechende „Kriterien prophetischer Predigt“ 837 an. Darin heißt es: „Prophetische Predigt ist einseitig. Ihr Anliegen ist so elementar und fundamental, dass manche Bereiche des Glaubens und auch des Lebens unterrepräsentiert sind. Prophetie ist keine Pädagogik: Sie gibt keine Anleitung, duldet keine Umleitung und ist darin äußerst riskant - für Prediger und Gemeinde.“ 838 […] „Prophetische Predigt setzt sich gegen Unglauben und Unkenntnis ein, indem sie die Öffentlichkeit sucht. Über die faktische Öffentlichkeit der anwesenden Gemeinde hinaus zielt Predigt auf eine intendierte [d. h. die insgesamt mitgemeinte, aber im Gottesdienst nicht anwesende] Öffentlichkeit. Dabei orientiert sie sich am Bild des Sauerteigs: Die faktische Öffentlichkeit setzt in der intendierten Öffentlichkeit die Verkündigung durch ihr alltägliches Handeln fort. Somit kann prophetische Predigt nie eine Verurteilung oder Verdammung ‚der anderen‘ sein, sondern will etwas bei den Anwesenden verändern.“ 839 835 Vgl. in diesem Sinne zur Funktion der politischen Predigt auch G. Theißen, 1994, 117. 836 L. T. Tisdale (2010) hat spezifische Strukturmuster eines prophetischen Predigtprofils analysiert, in denen die Kategorie des Zeugnisses eine besondere Rolle spielt. Glaubwürdigkeit und Integrität des prophetischen Charakters der Predigt hängen nach Ansicht der Vfn. u. a. davon ab, ob Wort und Verhalten beim Prediger eine Einheit bilden. In der Arbeit Preaching Fools von Ch. Campbell und J. Cilliers (2012) wird vor allem das Widerständige und Irritierende der prophetischen Dimension der Predigt zur Geltung gebracht. Demnach gehört es zur Predigt, so ist aus der Lektüre zu folgern, bestehende Auffassungen zu erschüttern, die Hörer mit ihrem Gewissen zu konfrontieren und sie gleichsam vor die Wahl zu stellen, wer sie angesichts des Wortes vom Kreuz sein wollen - wobei von diesem Wort eine letztlich befreiende Wirkung zu erwarten ist. 837 S. Kuhlmann, 2008, 336-340. 838 A. a. O., 340. 839 A. a. O., 338 f. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="381"?> 381 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Die Unterscheidung zwischen der Deutungsfunktion prophetischer Predigt und der Gestaltungsfunktion politischer Rede ist freilich keine absolute. Sie markiert zwei Pole eines kontinuierlichen bzw. einheitlichen homiletischen Spektrums. In dessen Brennpunkt stehen durch die Predigt angesprochene Haltungen von Menschen (gegenüber Menschen, Dingen und Zuständen). Eine politische Predigt fokussiert also Selbst-Positionierungen der Hörer gegenüber Fragen der Zeit, gegenüber Konflikten der Gesellschaft und gegenüber sich selbst. Daraus ergeben sich nicht nur Appelle an das Ethos und Gewissen der Gemeinde. Eine Predigt wird das daraus resultierende Verhalten auch imaginieren oder antizipieren, jedenfalls zu artikulieren versuchen, wie sich menschliches Verhalten im Prozess der Kommunikation des Evangeliums ändern kann. 840 6.4.2 Predigen angesichts der Angst. Seelsorgliche Aspekte a) Voraussetzungen und Probleme Die im Wesentlichen durch Martin Luther angestoßene Umprofilierung der gottesdienstlichen Rolle des spätmittelalterlichen Priesters in Richtung eines Predigers weist eine bemerkenswerte Besonderheit auf: Dass die Möglichkeit der Erfahrung von Heil nicht mehr an das sakramentale Handeln eines Priesters gekoppelt ist, sondern als Kommunikation des Evangeliums (unter anderem) zwischen Prediger und Hörer begriffen wird, verleiht dem Amt des Predigers neue Bedeutung. Gleichwohl wird der Ausdruck „Prediger“ nicht zur eigentlichen Berufsbezeichnung oder zum Korrelat für „Pfarrer“ - wie später gelegentlich in der Zeit der Aufklärung, sondern Luther nimmt den aus vorreformatorischer Zeit geläufigen Begriff der cura animarum (Seelen-Sorge) auf und macht ihn zu einem zentralen Begriff seiner Pastoraltheologie. Der pfarramtliche Dienst wird insgesamt als Seelsorge verstanden. 841 Auch in einer Predigt geht es um „die Seelen“, freilich nicht im Sinne eines besonders qualifizierten, abgrenzba- 840 Vgl. dazu die Anregungen in dem von Helmut Schwier herausgegebenen Band „Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung“ (2015), insbesondere die Beiträge von Manuel Stetter mit einer Skizze von Konzepten ethischer Predigt (ebd., 159-183) und von Kathrin Oxen mit Überlegungen zur Didaktik politischer Predigt (ebd. 184-195). 841 Die reformierte Pastoraltheologie schließt sich mit Huldrych Zwingli dieser Auffassung an: Seelsorge „geschieht in allem Wirken, Reden und Handeln, das am Evangelium seinen Ansporn nimmt, oder sie geschieht überhaupt nicht“ (S. Lutz, 1995, 71). <?page no="382"?> 382 ren, frommen Bereichs im Ödland des menschlichen Wesens, sondern es geht um Seelsorge als eine das ganze Leben eines Menschen betreffende pastorale Herausforderung. Seelsorge ist also ein Dienst, der nicht nur im seelsorglichen Einzelgespräch unter vier Augen zur Geltung kommt. Seelsorge ist eine Dimension kirchlichen Handelns mit vielfältigen Ausdrucksformen. Ob ich zwischen Tür und Angel in die Erzählung eines ganzen Lebenslaufs verwickelt werde oder mit Konfirmanden im Unterricht über Versagensängste spreche, ob ich per Telefon von einem Menschen mit tränenerstickter Stimme um Beistand angesichts eines Todesfalls gebeten werde oder unter den Mitarbeitern der Gemeinde einen Streit zu schlichten habe, ob ich einen Geburtstagsbesuch mache oder nach einer Aufräumaktion mit Freiwilligen auf dem Friedhof in der Kaffeepause zusammensitze - die seelsorgliche Dimension ist im Kontext des pastoralen Dienstes immer präsent. Pfarrer sind nicht nur als Gratulanten, Katecheten, Grabredner oder Schlichter gefragt, sondern immer auch in ihrer seelsorglichen Kompetenz gefordert. Dass diese Kompetenz im professionell gestalteten Zweiergespräch, in dem Seelsorge ausdrücklich gewünscht und gewissermaßen abgerufen wird, in besonderem Maße gefordert ist und durch spezifische Qualifikationen erst entwickelt werden muss, wird durch die eben charakterisierte seelsorgliche Dimension des pastoralen Dienstes nicht in Frage gestellt. Eine Predigt, die im Sinne der Kapitel I.1 bis I.5 verständlich, schriftbezogen und persönlich ist, die sich nicht allein in Sprechakten der Behauptung ergeht, sondern einladend, ermutigend, erläuternd, von Argumenten begleitet und dialogisch konzipiert ist, eine Predigt, in der ein Mensch wahrzunehmen ist, der in der Zeit lebt und im Führen seines Lebens vor denselben Herausforderungen steht wie alle anderen usw. - eine solche Predigt wird zweifellos auch ihrem seelsorglichen Auftrag näher kommen als eine Predigt, die Texte oder theologische Fachbegriffe ventiliert. In diesem Zusammenhang ist die seelsorgliche Dimension der Predigt nicht als gelegentliche Extrazugabe zu verstehen, sondern als eine Grundkomponente, die aus ihrem Situationsbezug resultiert bzw. die dieser erfordert. In Anbetracht dieses weiten, faktischen Horizonts von Seelsorge 842 mag es befremdend wirken, seelsorgliche Predigt ausgerechnet als „Predigt gegen die 842 Von der Frage nach der seelsorglichen Dimension der Predigt völlig unberührt ist die Tatsache, dass Seelsorge eine hochkomplexe Wissenschaft zur professionellen Gestaltung und kritischen Begleitung seelsorglicher Praxis ist. Diese Praxis, deren Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="383"?> 383 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Angst“ zu apostrophieren. Bei dieser Charakterisierung wird natürlich nicht unterstellt, Seelsorge sei vor allem etwas für Geängstigte. Von Angst ist hier zunächst im Kierkegaard’schen Sinn als von der Grundsituation des Menschen die Rede, in „Furcht und Zittern“ 843 leben und gegen den Zweifel glauben zu müssen. Es geht um die Angst als die „impertinente Unruhe“ 844 , mit den eigenen Plänen und Hoffnungen Schiffbruch zu erleiden bzw. um die Grundangst des Menschen, am Dasein überhaupt zu scheitern. 845 Dem entspricht es, dass die Grundfunktion von Seelsorge in der lutherischen Tradition häufig unter dem Begriff des „Trostes“ zusammengefasst wird. Dabei ist nicht die Ruhigstellung des Menschen angesichts gerade bestehender Bedrohungen gemeint, sondern die grundsätzliche - und dennoch immer wieder nötige - Befreiung des skrupulösen Gewissens von der Angst, vom „Gesetz“ überfordert und von Gott verurteilt zu werden. 846 Etwas verallgemeinernd könnte man also sagen: Die „Angst“, mit deren Realität seelsorgliche Predigt rechnet, ist die unausweichliche Folge von Wirklichkeitserfahrung, einschließlich von Erfahrungen des Schuldigwerdens, des Verlustes von Beziehungen, von Schwäche, Frustrationen u. a. m. Eine Predigt, die angesichts dessen, was ist, „trösten“ will, wird diese Realität nicht glattbügeln oder bagatellisieren, sondern sich ihr stellen müssen, was ohne einen reflektierten Situationsbezug nicht möglich ist. Grundparadigma das Gespräch unter vier Augen ist und in deren Blickpunkt letztlich der Einzelne steht, wird in unterschiedlichen Perspektiven erforscht und mit Bezug auf spezifische psychologische, philosophische und soziologische Konzepte methodisch vermittelt (vgl. W. Engemann, 2016a). 843 So der Titel einer Schrift von S. Kierkegaard (1843), in der u. a. die konstruktive Funktion der christlichen Angst gegenüber der (weltlichen) Furcht vor bestimmten Ereignissen verdeutlicht wird. 844 So W. Müller-Lauter (1993, 726) in seiner Kierkegaard-Interpretation. 845 M. Heidegger spricht von der Erfahrung des „Unzuhause“ und von der „Unheimlichkeit“ der Angst, die das Dasein des Menschen latent bestimme. Vgl. M. Heidegger, 1963, § 40. 846 Vgl. J. Ziemer, 2015, 67-72 sowie - stellvertretend für den Zusammenhang von Angst und Trost bei M. Luther - das Lutherlied Nun freut euch, lieben Christen g’mein von der Überwindung der Angst (Evangelisches Gesangbuch, 1996, Nr. 341, bes. V. 3). Von hier aus wird verständlich, weshalb die Predigt als seelsorglicher Akt nicht nur von Vergebung handeln, sondern sie auch zusprechen und der Vergebung gewiss machen soll. <?page no="384"?> 384 b) Zur Funktion seelsorglicher Predigt Was aber heißt es, solche Realität in der Predigt ernst zu nehmen? Der Chronologie der Themen dieser Einführung folgend, möchte ich auf einige Ansatzpunkte hinweisen: 1. Indem der Prediger den Voraussetzungen und Anforderungen personaler Kommunikation 847 Rechnung trägt, kann sich im Predigtprozess eine Beziehungsebene etablieren. Sie ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die Hörenden sich überhaupt auf ein Stück Wegbegleitung einlassen und positiv emotional - also nicht nur mit Abwehr oder Unverständnis - auf die Predigt reagieren können. Das Zustandekommen einer solchen Beziehungsebene ist für die Erfahrung der Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität der Predigt - womit zugleich klassische seelsorgliche Tugenden benannt werden - unabdingbar. 2. Seelsorgliche Predigt und persönliche Predigt sind nicht generell, aber in einer ganz bestimmten Hinsicht korrelate Begriffe, insofern nämlich, als Hörer durch ein glaubwürdiges und persönliches Zeugnis des Predigers in besonderer Weise zum Leben aus Glauben ermutigt werden können. Das setzt voraus, dass der Prediger als Subjekt sichtbar wird, sich „Anfechtungen“ eingesteht und zu erkennen gibt, welche Haltung er zu den damit verbundenen Erfahrungen hat. Eine entsprechende Predigt hat Rückwirkungen auf die Selbstwahrnehmung des Hörers. Sie kann sie auslösen, schärfen, korrigieren usw. und damit eine wichtige seelsorgliche Funktion erfüllen. 3. Seelsorgliche Relevanz kann eine Predigt auch durch ihre komplexe, vielschichtige Bezogenheit auf die Potentiale der jüdisch-christlichen Tradition gewinnen, zu der die biblischen Texte in ihrer konfrontierenden, kreatorischen und konfirmierenden Funktion 848 gehören. Als zu Texten geronnene Lebens- und Glaubenserfahrungen können sie paradigmatisch vor Augen führen, wie Situationen erfahren, ertragen, definiert, bewältigt, verändert werden. Schließlich geht es in den biblischen Traditionen um konkrete geschichtliche Situationen, die im Rahmen von Analogien Situationserfahrungen heute beeinflussen können. Im Rezeptionsprozess einer Predigt können die Hörer gewissermaßen zu aktuellen Zeitzeugen der Heilserfahrungen werden, von denen die Texte handeln. 847 Vgl. I.2.3.3 und I.2.3.4, S. 85-105. 848 Vgl. I.3.3.3., S. 180-184. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="385"?> 385 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt 4. Dabei geht es um die seelsorgliche Relevanz dieses Potentials für Erfahrungen, die nicht auf bloße Heilsbejahung oder Heilsgewissheit zielen, sondern die das Leben-Können aus Glauben unterstützen. Ohne zu belehren, ohne die Bibel zu zitieren und ohne sich den Katechismus vornehmen zu müssen, hat die Predigt in ihrer seelsorglichen Funktion immer auch mit der Vermittlung der Kunst namens Leben als einer Form der Vermittlung von Freiheit zu tun. 849 Dadurch unterstützt sie die Hörenden dabei, sich als Subjekte ihres Lebens und eines sie tragenden Glaubens zu erfahren, was mit der Stärkung ihrer Lebenskompetenz einhergeht. 5. Seelsorglich ist eine Predigt durch ihre dialogische Struktur. 850 Im implizit oder explizit geführten Dialog kommt der Erfahrungshintergrund bestimmter Fragen, Positionen und Erwartungen der Gemeinde zur Geltung. 851 Indem die Predigt auf die Inszenierung dogmatisch durchtränkter Frage- und Antwort-Spiele verzichtet und sich - durchaus im Rückbezug auf die christliche Glaubenslehre - mit den Fragen und Erfahrungen befasst, die Menschen bewegen, beteiligt sie die Gemeinde an der Kommunikation des Evangeliums und leitet sie dabei zur gegenseitigen Seelsorge an. 852 6. Die seelsorgliche Akzentuierung einer Predigt setzt eine sorgfältige und wiederholte Annäherung an zeitgenössische Lebenswirklichkeit voraus. 853 Dies ist nicht nur der Relevanz und Plausibilität der Rede geschuldet. Die geduldige, klischeefreie Auseinandersetzung mit der homiletischen Situation ist auch ein Zeichen notwendiger Solidarität, die die grundsätzliche „Annahme“ des Menschen durch Gott zwar weder herbeiführt noch dokumentiert, dieser aber durch eine bestimmte Haltung analogisch entspricht. Zur Wahrnehmung zeitgenössischer Lebenswirklichkeit im Interesse der 849 Vgl. W. Engemann, 2007a. 850 Vgl. I.4.3.4., S. 254-263. 851 Vgl. in diesem Zusammenhang die aufschlussreichen Fallstudien von J. S. McClure/ R. J. Allen u. a. (2004), die deutlich machen, in welchem Maße die Auseinandersetzung mit den konkreten Erfahrungen und Erwartungen der Hörer bzw. der Gemeinde (bis hin zu Interviews im Vorfeld der Predigt) dazu beiträgt, in einen wirklichen Dialog einzutreten und ohne Rückgriff auf Klischees in der Predigt auf authentische Lebenskontexte Bezug nehmen zu können. Zum Vorgehen vgl. bes. 7-20. 852 Vgl. dazu die Anregungen von G. L. Ramsey, der in seiner programmatischen Schrift „Care-full Preaching“ an praktischen Beispiele ausführt, wie dieser Erwartung an die Predigt entsprochen werden könnte (G. L. Ramsey, 2000, bes. 119-200). 853 Vgl. I.6.3.3., S. 361-368. <?page no="386"?> 386 seelsorglichen Dimension der Predigt gehört eine verschärfte Aufmerksamkeit in Bezug auf die sich von Zeit zu Zeit wandelnden Strukturmuster, in denen Menschen Unfreiheit, Beziehungsverlust, Fremdheit usw. erleben. Von Generation zu Generation gibt es Veränderungen hinsichtlich der sozialpsychologischen Kontexte, in denen Menschen z. B. die Erfahrung machen, frei oder unfrei zu sein, in einer tragenden oder belastenden Beziehung zu leben bzw. überhaupt ein lebenswertes Leben zu führen. 854 7. Weitere Aspekte der seelsorglichen Dimension ergeben sich aus der noch zu umreißenden Theologie der Predigt: 855 Die Predigt nimmt insofern eine seelsorgliche Aufgabe wahr, als die Kommunikation des Evangeliums nicht nur als Lehre stattfindet, sondern mit Heilung, Vergebung, Versöhnung und Erlösung verbunden ist. Eine Predigt, die um ihre seelsorgliche Funktion weiß, wird daher nicht nur auf Information zielen, sondern das Hören einer Predigt als partizipatorischen Akt im Blick haben: Menschen sollen in einer Predigt in erster Linie nicht über Heilsgeschichte informiert, sondern in die - in ihr eigenes Leben hineinreichende - Fortsetzung der Heilsgeschichte verwickelt werden. 8. Seelsorgliche Predigt ist in christologischer Hinsicht auf das „Priesteramt Christi“ bezogen, das heißt, sie ist eine „geistliche Dienstleistung“ für die Hörer: In gewisser Weise kann man sagen, dass die Gemeinde, in dem sie einen Pfarrer ordiniert, ihn damit beauftragt, sie an ihr „Heil“ zu erinnern. Die Predigt erfüllt gewissermaßen einen regelmäßigen Dienst geistlicher und geistiger Hygiene. 856 Sie ist eine Institution, durch die die Gemeinde dafür sorgt, dass sie um ihres Lebens und Glaubens willen regelmäßig nach ihrem Ergehen gefragt wird. Dabei hat sich die Predigt einer Sprache zu befleißigen, die nicht die Sprache des akademischen Vortrags, sondern der Konversation 857 ist. 854 Vgl. W. Engemann, 2006b. Vgl. auch Dale Andrews Vorstöße zu einer konsequent solidarischen Predigt und Gemeindepraxis (D. Andrews, 2002, 11, 23, 37, 43, 53, 60-67, 89-100). 855 Vgl. I.5.4., S. 314-323. 856 Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob oder dass Menschen überhaupt oder wieder oder stärker glauben können, sondern ebenso um die Frage, wie sie glauben, mit welchem Selbst- und Gottesbild sie ihr Leben führen, was sie unter Nachfolge verstehen usw. Speziell zur Relevanz der Predigt für das sich bei Hörern konstituierende Gottesbild vgl. H. Schaap-Jonker (2008). 857 Vgl. dazu oben S. 316. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="387"?> 387 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Christian Möller beantwortet die Frage nach der „seelsorglichen Predigt“ anhand einer semantischen Zerlegung des biblischen Paraklese-Begriffs. 858 Von einer seelsorglichen Predigt wird demnach „parakletisches Reden“ erwartet, dem drei Funktionen zugeschrieben werden. 1. Die Predigt nimmt den Hilferuf „der Mühseligen und Beladenen, der Erniedrigten und Beleidigten“ auf und setzt auf Seiten des Predigers eine entsprechende Hörbereitschaft voraus. 859 2. Durch die Paraklese seelsorglicher Predigt wird „das Gebot des Notwendigen“ als ebenso werbender wie dringlicher Ruf zum Innehalten und Einlenken zur Sprache gebracht. Diese eher bittende denn anordnende Paraklese kann sowohl die Form von Trost als auch von Ermahnung annehmen. Es ist dasselbe verbindliche Wort Gottes, das den Verhärteten einlenken lässt und den Trostbedürftigen ermutigt. 860 3. Schließlich gehört zur seelsorglichen Predigt „der getröstete Trost“, das vergewisserte Vertrauen als prinzipielles Grundanliegen der Predigt. Parakletisches Reden soll deutlich machen, „dass Gott die Ursache wahren Trostes ist“. Es gelte, im Horizont der gesamten Schrift aufzuzeigen, dass auf den „Gott des Trostes“ (2 Kor 1) Verlass sei. 861 Der Versuch, den Kern seelsorglicher Predigt von der biblischen Paraklese her zu bestimmen und daraus Folgerungen für die angestrebte Wirkung einer Predigt abzuleiten, hat vieles für sich. Dabei ist die Herauslösung des Paraklese-Begriffs aus seiner autoritativ-bevormundenden und moralisch-sanktionierenden Verengung, die er durch die Pastoraltheologie vergangener Jahrhunderte erfahren hat, besonders zu würdigen. Allerdings weisen die Erläuterungen Möllers keine spezifisch seelsorglichen Handlungsimpulse auf. Sie sind - ähnlich wie die oben unter „Funktionen seelsorglicher Predigt“ formulierten sieben Thesen - eher ein poimenischer Kommentar zu homiletischen Tugenden wie Situationsbezogenheit (den Hilferuf vernehmen), Schriftgemäßheit (den Trost der ganzen Schrift zur Sprache bringen) und Wegweisung (Gebot des Notwendigen). 862 Von daher ist zu fragen, ob zur Erörterung der seelsorglichen Dimension der Kanzelrede nicht auch die Frage gehört, in welchem Maße bzw. wie konkret sich eine 858 Ch. Möller, 1983, 72-78. 859 Vgl. a. a. O., 73 f. und 78. 860 Vgl. a. a. O., 75 f. und 78. 861 Vgl. a. a. O., 76-78. 862 Die von Ch. Möller benannten drei Aspekte parakletischen Redens lassen sich auch auf die oben erörterten drei Grundfunktionen der Predigt beziehen (vgl. I.2.3.3 sowie Abb. 5, S. 88): Den „einladenden Ruf “ auf die Zeugnisfunktion, das „Gebot des Notwendigen“ auf die Paraklese, den „Trost der Schrift“ auf die Lehrfunktion der Predigt. <?page no="388"?> 388 Predigt mit Erfahrungen und Problemen auseinandersetzen sollte, die üblicherweise in der speziellen Seelsorge zur Sprache kommen. Was Jürgen Ziemer als „Lebensthemen der Seelsorge“ entfaltet, kann in gewissem Sinne auch als homiletischer Themen-Leitfaden gelten und für das Vernehmen des von Möller angesprochenen „Hilferufs“ sensibilisieren: Ist von einer seelsorglichen Predigt nicht zu erwarten, dass sie einem Menschen hilft, „in Beziehungen zu leben“, „mit eigener Schuld umzugehen“ oder „auf der Suche nach Sinn“ ein Stück voranzukommen? 863 Wie die Seelsorge sollte auch die Predigt Glaubens- und Lebenshilfe sein. 864 Die Vorstellungen H. Tackes, die Ch. Möller ansatzweise für die Homiletik rezipiert hat 865 , könnten hierfür leitend sein. Schließlich ist zu fragen, wie viel von dem weitgefächerten Repertoire seelsorglicher Verhaltensgrundsätze nicht auch unmittelbar predigtrelevant ist. Die wiederum von Jürgen Ziemer vorgeschlagenen Maximen scheinen jedenfalls auch für den Akt des Predigens von Belang zu sein 866 : 1. Verstehendes Verhalten ist der Versuch, in der Predigtvorbereitung und beim Predigen selbst eine empathische Grundhaltung einzunehmen, die sich durch die Fähigkeit zur Einfühlung in konkrete Lebenssituationen sowie durch die Wahrnehmung und das Aushalten von Fremdheit auszeichnet. Letzteres führt zu der Einsicht, nicht alles verstehen und mit der Predigt schon gar nicht alle Probleme lösen zu können. 2. Annehmendes Verhalten in der Predigt drückt sich darin aus, dass der Prediger den Hörer „als eine eigenständige Person“, „als einen Menschen mit eigenem Wert“ und „eigener Würde“ ansieht und achtet. Der Hörer ist nicht das „Problem“. Er kann auch nicht auf das Etikett „armer Sünder“ reduziert werden. Er ist - genau wie der Prediger - „eine Person: einmalig, unersetzbar“. Seelsorgliche Predigt eröffnet einen Prozess, in dem „die Beteiligung an den heute mehr denn je üblichen Stigmatisierungen und Abwertungsritualen strikt verweigert wird“ 867 . Annehmendes Verhalten 863 Vgl. zu den folgenden Verhaltenskategorien J. Ziemer, 2015, 235-300. Auch H. v. d. Geest plädiert expressis verbis für „seelsorgerliche Themen“ (H. v. d. Geest, 1991, 34-43). 864 Vgl. H. Tacke, 1975. 865 Vgl. Ch. Möller, 1983, 74. 866 Vgl. J. Ziemer, 2015, 192-201. 867 A. a. O., 159. Vgl. dazu auch W. Engemann (1996a) zum Klischee vom „modernen Menschen“. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="389"?> 389 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt darf nicht mit Vereinnahmung verwechselt werden. Der Hörer darf nicht in Rollen gezwängt werden, die das Menschenbild des Predigers bestimmen. 868 3. Ermutigendes Verhalten bedeutet, den Hörer „auf seine Möglichkeiten hin anzusprechen“ 869 und nicht nur an seinen Schwierigkeiten „anzuknüpfen“, sondern auch an dem, was Menschen gelingt, was sie gut können (z. B. lieben) und worin sie im biblischen Sinne des Wortes „Zeugen“ sein können. Die Predigt hat niemals ganz von vorn anzufangen, sondern trifft auf Seiten der Hörer auf vorhandene Ressourcen des Glaubens und Potentiale des Lebens, die - obwohl und gerade weil sie nicht die Potenz zur Selbsterlösung implizieren - weder bagatellisiert noch bekämpft, sondern bestätigt und entwickelt werden sollen. 4. Authentisches Verhalten in der Predigt wurde oben mit Kategorien der persönlichen Predigt umschrieben, wozu die Authentizität und Plastizität eigener Glaubensaussagen und „innere Kongruenz im Empfinden, Auftreten und Argumentieren“ gehören. Ziemer gibt berechtigterweise zu bedenken, dass eine „hundertprozentige Übereinstimmung dessen, was ich zu erkennen gebe, mit dem was ich fühle, […] ein kaum erreichbares Ideal“ sei. Aber auch ohne „überzogene Echtheitsforderungen“ im Hinterkopf kann der Prediger versuchen, „so echt wie möglich zu sein. […] Vollkommene Authentizität, also die Wahrheit selbst, ist theologisch gesprochen ein Hoffnungsgut“, dem man auch in der Predigt „immer nur mehr oder weniger nahe sein“ 870 kann. Solche Verhaltenskategorien können helfen, die seelsorgliche Dimension der Predigt besser im Blick zu behalten und ihr mit bestimmten Haltungen und Handlungen zu entsprechen. 868 J. Ziemer, 2015, 197 f. 869 A. a. O., 199. 870 A. a. O., 201. <?page no="390"?> 390 6.4.3 Predigen angesichts der Bedürftigkeit. Diakonische Aspekte a) Voraussetzungen und Probleme In der Antwort auf die berühmte, an Jesus gerichtete Frage Johannes des Täufers - „Bist du, der da kommen soll, oder müssen wir noch auf einen anderen warten? “ - heißt es am Schluss der sich in ihrer Bedeutung stets noch steigernden Indizien: „Und den Armen wird das Evangelium gepredigt.“ 871 Das heißt: Menschen, die - aus welchen Gründen und in welcher Weise auch immer - zu den Armen, Bedürftigen und Entmutigten gehören, haben von Gott immer noch etwas zu erwarten. Ihnen wird die Erfahrung erfüllten Lebens zugetraut. Ihr Leben ist nicht verloren, nicht vergebens, nicht aussichtslos. Sie haben eine Zukunft. Die theologische Pointe der Rede von Armut, berücksichtigt man die biblische Überlieferung zu diesem Thema insgesamt, liegt nicht in der Adressierung der beiden Testamente auf die sozial Schwächsten in der Gesellschaft. Die Armut, die etwa in den Psalmen oder in den Seligpreisungen zur Sprache kommt, schließt vielmehr die Erfahrung ein, vor Gott letztlich immer mit leeren Händen dazustehen und auf ihn angewiesen zu sein. „Wir sind Bettler, das ist wahr“, 872 fasste Luther am Ende seines reichen Lebens diese Erfahrung zusammen. Andererseits werden die Erfahrungen handfester Bedürftigkeit (physische Krankheit, seelischer Schmerz, erlittene Unterdrückung, Obdachlosigkeit, Hunger, Fremdheit usw.) in der jüdisch-christlichen Tradition der Bibel nie romantisiert oder gar als symbolische Erinnerung an eine „eigentliche“ geistliche Not degradiert. Vielmehr nahmen und nehmen die Gemeinden die Herausforderung an: Die Kommunikation des Evangeliums mit den Bedürftigen ist in der Geschichte des Christentums immer auch in Form von konkretem Beistand zur Geltung gekommen. Wer sich dafür einsetzen will, dass Arme und Kranke und Elende am Leben partizipieren können, muss sich an die Orte bzw. in die Situationen begeben, an bzw. in denen ihr Leben stattfindet, in Krankenhäuser, Pflegeheime, in Gefängnisse usw. „In, mit und unter“ Nahrung, Kleidung, Heilung, Pflege und Gesprächsmöglichkeiten findet so die Kommunikation des Evangeliums statt - manchmal auch in Form von Gottesdienst und Predigt. 871 Vgl. Mt 11,2-6. 872 Zu M. Luthers „letztem Wort“ s. WA TR 5, Nr. 5677, vgl. WA 48, 241. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="391"?> 391 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Ein Schlüsseltext für den Charakter der diakonischen Dimension der Predigt - man könnte auch von einem diakonischen Paradigma sprechen - ist die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen nach Markus 2, 1-12: 1. Jesus ist vor Ort. Er predigt nicht im Tempel, nicht vor den Toren der Stadt auf einem Berg, sondern unter den konkreten Bedingungen des Daseins von Menschen. 2. Menschen kommen bereits in der Erwartung bzw. in der Überzeugung, dass die Lehre Jesu für das Leben insgesamt von Bedeutung ist, dass seine Predigt nicht nur auf seelisches Wohlbefinden zielt, sondern das Heilsein des ganzen Menschen im Blick hat. 3. Zumindest die Begleiter des Kranken - vielleicht ist das auch für den Gelähmten selbst zu unterstellen - kommen bereits als Glaubende. Ihr Problem ist gerade nicht eine indifferente Haltung gegenüber Gott, sondern die Krankheit eines Einzelnen. 4. Zugleich ist der Glaube der Anwesenden, die hohe Erwartung seiner Begleiter, ein Potential für die Veränderung der Situation. Jesus ergreift die Initiative, als er ihren Glauben „sieht“: Am Ende der Geschichte hätte auch stehen können: „Euer Glaube hat ihm geholfen.“ Vielleicht auch: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ 5. Der Kranke wird auf eine liebevolle und freundliche Weise auf seine Bedürftigkeit und Abhängigkeit hin angesprochen: Jesus wendet sich mit dem Wort „Kind“ an ihn. 6. Das Wesentliche wird zuerst angesprochen - auch um Missverständnisse zu klären: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Mit anderen Worten: Zwischen dir und Gott steht nichts. Was Gott angeht, sind keine Rechnungen offen. Wenn hier jemand denkt, deine Krankheit sei ein Ausdruck dafür, dass Gott ein Problem mit dir habe, irrt er. 7. Die Daseinsbedingungen haben sich geändert, zunächst natürlich für den Kranken: Er geht aufrecht davon. Die anderen sind - obschon sie eine Heilung offenbar „im Prinzip für möglich“ gehalten haben, als sie den Gelähmten vom Dach herabließen - dennoch überrascht. Ihr Welt- und Gottesbild wankt. Aber es macht ihnen keine Angst. Sie werden wiederkommen. Dass die diakonisch zu nennende Dimension - wie die politische und die seelsorgliche - faktisch für jede Predigt relevant ist, hat zunächst damit zu tun, dass Menschen und Gruppen, die man in irgendeiner konkreten Hinsicht als arm, bedürftig oder krank bezeichnen könnte, natürlich auch zum normalen Gemeindegottesdienst kommen. 873 Wir treffen nur einen geringen Teil von ihnen 873 Vgl. den sozialdiakonischen Akzent, den A. Bieler und H.-M. Gutmann mit ihren Überlegungen zur „Rechtfertigung der ‚Überflüssigen‘“ in die homiletische Debatte eingezeichnet haben (A. Bieler/ H.-M. Gutmann, 2008). <?page no="392"?> 392 in Pflegeheimen, Krankenhäusern oder anderen sozialen Einrichtungen an. Daraus ergibt sich, dass das Prinzip des barmherzigen Samariters, für eine begrenzte Zeit mit allem, was er tun kann, für das Wohl des anderen einzustehen, auch eine homiletische Komponente hat. Diese ist für Predigten, die im Kontext von diakonischen Einrichtungen gehalten werden, von besonderer Bedeutung. Um die damit verbundenen Herausforderungen und Konsequenzen soll es im Folgenden gehen. b) Zur Funktion diakonischer Predigt Kirche und Gemeinde verdanken ihrem diakonischen Auftrag ein hohes Maß an Sachlichkeit. Dies jedoch nicht im Sinne einer von persönlichem oder seelischem Empfinden gereinigten Erkenntnis, sondern umgekehrt im Sinne menschenbezogener Sachkunde als einer wichtigen Voraussetzung dafür, mit der Not von Menschen angemessen umgehen zu können. Dementsprechend wird „Sachlichkeit“ zu einem der „Schlüsselbegriffe der Diakonie des 20. Jahrhunderts“ 874 . Das zeigt sich u. a. darin, dass es im Sprachgebrauch der Diakonik und dementsprechend in Predigten im diakonischen Kontext heute keine „Schwachsinnigen“, „Krüppel“, „Idioten“ und „Trinker“ mehr gibt, sondern dass die sachlichere und in gewisser Weise entdramatisierende medizinische Redeweise allenthalben Einzug gehalten hat. Dass mit dem explizit diakonischen Blick der Homiletik unter anderem um mehr Sachlichkeit in der Predigt geworben wird, läuft auch auf eine stärkere Ausarbeitung der Lebensnähe einer Predigt hinaus: Diakonische Predigten haben häufig ein ähnliches Profil wie Predigten mit solchen alttestamentlichen Texten, deren unmittelbare Lebensbezogenheit und Erdverbundenheit oben 875 ausdrücklich gewürdigt wurden. „Im Vergleich mit anderen Predigten in der Kirche“ werden in „Predigten aus dem Erfahrungsfeld der Diakonie […] zum Beispiel folgende Themen oder Fragestellungen angesprochen: Leben mit einer körperlichen Krankheit, einem seelischen Leiden; Erfahrungen behinderter oder kranker Menschen mit ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen; Fragen nach gesund werden und/ oder krank und behindert bleiben; helfen - und sich helfen lassen; Umgang mit Wertmaßstäben wie ‚Leistung‘, ‚schwach‘ oder ‚stark‘ sein; Arbeit und Lohn, […] Probleme einzelner Randgruppen, zum Beispiel von Obdach- 874 Vgl. H. Wagner, 1978, 269-274. 875 Vgl. I.3.4.2, S. 187-192. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="393"?> 393 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt losen, AIDS-Kranken, psychisch Kranken, Ausländern, Arbeitslosen, Armen, Kindern; weltweite Krisen, Hunger, Kriegsgebiete; internationale Partnerschaften; […] Grundlagen der Diakonie und des diakonischen Handelns; gesellschaftliche Wertschätzung diakonischer Arbeit; Finanzprobleme, Pflegesätze und Spenden; […] Grenzerfahrungen im professionellen Helferdienst […], also lauter Themen, die hart an der Wirklichkeit des Lebens entstehen, da, wo Menschen leben und leiden, wo gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse das Leben des Einzelnen bestimmen. Sie kommen aus der unmittelbaren Erfahrung im Alltag, aus der Konfrontation mit der Wirklichkeit.“ 876 Vielleicht wird man nicht alle diese Themen immer als unmittelbar lebensrelevant und erdnah kommunizieren können. Predigten, die kurzerhand die Geschichte der Diakonie oder das Selbstverständnis diakonischer Gemeinschaften traktieren, dürften Menschen, die mit Krankheit oder Behinderungen leben müssen, eher als Zumutung erscheinen. Gleichwohl wird in der Zusammenstellung dieses Themenspektrums und der entsprechenden Predigten 877 deutlich, in welch starkem Maße sie - das ist eine ihrer Stärken - den Glauben der Anwesenden bereits voraussetzen, an ihm anknüpfen, den Hörenden etwas zutrauen und sie nicht bei ihren Leiden behaften. Das Rezitieren der allseits bekannten Problemlisten und Ausmalen der leidigen Notkataloge kann man sich - nicht nur im Falle diakonischer Predigt, aber hier erst recht - „schenken“. Die Not ist da. Die Menschen bringen sie mit. Aber ihren Glauben bringen sie auch mit. Die Predigt nimmt auf beides Bezug. Das gilt in abgestufter Weise auch für die Sonntagspredigt in der Normalgemeinde. Daher lohnt es sich, an der diakonischen Predigt zu studieren, was es heißt, die faktische Bedürftigkeit des Menschen homiletisch als eine Facette der Grundsituation des Menschen zu respektieren. 878 So kann die diakonisch fokussierte Predigt gleichsam wie ein Vergrößerungsglas menschliche Not - oft genug im Verborgenen erlitten, fernab von Kameras und Mikrophonen durchstanden - zur Sprache bringen. Das ist mehr, als nur den Bedarf an heilenden oder 876 Aus dem Vorwort von J. Gohde in: Ders., 2004, 13. 877 Vgl. bereits M. Fischer, 1957. 878 Das impliziert auf der liturgischen Ebene eine besonders bewusste Verzahnung der Predigt mit dem Ganzen des Gottesdienstes, der als Dienst Gottes an den Menschen verstanden und empfunden werden soll. Der Gottesdienst bietet insbesondere im Abendmahlssowie im Segnungs- und Sendungsteil zahlreiche Elemente, die die diakonische Dimension der Predigt aufnehmen und verstärken können. <?page no="394"?> 394 helfenden Interventionen signalisieren. Die Predigt selbst ist als eine solche Intervention zu verstehen. Diakonische Predigt vermag exemplarisch aufzuzeigen, dass Menschen - obschon sie in ihrer Bedürftigkeit ernstzunehmen und aufzusuchen sind - nicht auf Defizite reduziert werden können. Es ist zwar wichtig, in der Vorbereitung der Predigt um Hilfsbedürftigkeit sowie um Schmerzen und Nöte jeglicher Art zu wissen, sie im Detail zu kennen und in ihrer Tragweite für das Lebensgefühl von Menschen beurteilen zu können. Aber das ist etwas grundsätzlich anderes, als Menschen von der Kanzel her ungewollt in dieser Wirklichkeit einzufrieren oder ihnen gar einen falschen Umgang mit dieser Wirklichkeit vorzuhalten. „Die Hilfsbedürftigkeit von Menschen ist keine Abnormität, die uns das Recht gäbe, vor Gott und den Menschen zu klagen und uns abzugrenzen. Sie ist ein Teil unseres Lebens, eines jeden Einzelnen. Die Hilfsbedürftigkeit ist die Vervollständigung unseres Lebens. Jeder Mitarbeiter im Diakonischen Werk, jeder Lehrer in einer Schule weiß, wie viel er von denen lernt, denen er begegnet. Jede Helferfrau weiß um die Hilfe, die sie selbst bei ihren Besuchen und den Gesprächen erfährt. Jeder Pfarrer weiß, wie viel ihm die Begegnungen in der Gemeinde helfen, die Grenzen des Lebens, denen er oft begegnet, zu verstehen. Im ersten Jahr, als ich in der Gemeinde hier war, wurde ich ins Altenheim zu einer sterbenden Frau gerufen. Ich habe sie dann eine Woche jeden Tag besucht, bis zum Ende. Sie hatte keine Angst. Sie wollte nur jemanden dabeihaben. In diesen Tagen habe ich von dieser Frau, der ich helfen sollte, unendlich viel über das Leben und das Sterben gelernt. Wer hat wem geholfen? Diakonie ist eine Chance für unser Leben. […] Letztlich erfahren wir dabei nur, wie sehr wir Gott brauchen.“ 879 Diakonische Predigt insistiert auf der Unteilbarkeit und Komplexität des Lebens. Menschliche Existenz lässt sich nicht nur nicht aufspalten in „bloß geistlich relevante“ und „bloß alltagsrelevante“ Fragen. Ebensowenig lässt sich das Leben eines Menschen anhand einer Gesund-Krank-Skala als lebenswert oder -unwert klassifizieren. Leben mit Krankheit, Gebrechen und den Schwächen des Alters ist Leben im vollgültigen Sinn. Dies auch homiletisch zu verdeutlichen und das Leben selbst als großartiges Geschenk zu plausibilisieren, ist auch noch Jahrzehnte nach der - in der Zeit des Nationalsozialismus längst etablierten - Euthanasie-Ideologie eine große Herausforderung. Die Konzentration auf konkrete, notwendige Fragen des Lebens, das Interesse an einer sachkundigen Analyse leidvoller Situationen, und das Bemühen, 879 U. Blank, 2004, 49. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="395"?> 395 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt das Ganze des Lebens in den Blick zu bekommen, gibt der diakonischen Predigt einen deutlich kritischen Wesenszug. 880 Die Kritik diakonischer Predigten richtet sich - analog zur prophetischen Dimension der Predigt - sowohl auf gesellschaftliche wie kirchliche Missstände, bezieht sich daher auch auf die Praxis und Prinzipien diakonischer Einrichtungen. „Gerade weil die Diakonie so stark vom Engagement bestimmt und tatsächlich mit dem Herzen bei der Sache ist, muss sie angeleitet werden, sich immer wieder selbstkritisch in Frage zu stellen. […] Das diakonische Handeln muss immer wieder durch den Filter der Reflexion hindurch. […] Es ist also die Interpretation diakonischer Vorgänge gefordert. Dazu gehört vor allem die Frage nach dem Proprium: Was macht die Diakonie zur Sache Jesu Christi? […] Überall sind Bemühungen im Gange, den Menschen zu Hilfe zu eilen. Die Motive dieser Nächstenhilfe sind höchst unterschiedlich. Die Diakonie ist jedenfalls nicht mehr allein auf dem Plan, sie hat eine heilsame ‚Konkurrenz‘ bekommen. Umso stärker wird sie ihren Charakter beweisen und ihr Profil gewinnen müssen“ 881 - was natürlich auch für die diakonische Predigt selbst gilt. Last but not least markiert jede diakonisch bewusste Predigt die Gemeinschaftlichkeit des menschlichen Lebens und die Relationalität seiner Freiheit durch die Anwesenheit der anderen. Sie haben an der Ermöglichung seiner Freiheit teil, indem sie den Einzelnen an Leib, Seele und Geist fördern und ihm helfen, auf eine bestimmte, ihm mögliche Weise für sich zu sorgen. Zugleich bilden diese anderen Menschen den Referenzrahmen der Lebens- und Beziehungsräume mit, innerhalb deren der Einzelne sein Leben führt. So betrachtet trägt sowohl der implizite als auch der - beispielsweise in einer Predigt vor den Mitarbeitern eines Pflegeheims herausgearbeitete - explizite diakonische Charakter einer Predigt dazu bei, die Gemeinde von Neuem an ihre Wurzeln heranzuführen. 880 Sämtliche der in dem Band von J. Gohde (2004) herausgegebenen Predigten weisen diesen kritischen Zug auf. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Studie von Ch. L. Campbell und S. P. Saunders, die die Relevanz des Evangeliums aus der Perspektive gravierender sozialer Notstände (z. B. Obdachlosigkeit) heraus zu artikulieren sucht (Ch. L. Campbell/ S. P. Saunders, 2006). 881 H. Wagner, 1978, 272; Hervorhebungen original. <?page no="396"?> 396 6.4.4 Predigen angesichts der Wechselfälle des Lebens. Kasualtheoretische Aspekte a) Zur Debatte um die Funktion von Kasualpredigten Dass die Frage nach den „Kasualpredigten“ an dieser Stelle in den homiletischen Diskurs eingefügt wird, wo sie die Auseinandersetzung mit der Situation als einer homiletischen Kategorie abschließt, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen geht die Vertiefung situationsrelevanter Aspekte der Homiletik im 19. Jahrhundert historisch gesehen mit einem erneuerten Verständnis der traditionellen „Amtshandlungen“ einher. Die Lebenswelt des Einzelnen und die Familie werden mehr und mehr als notwendiger Bezugsrahmen der Praktischen Theologie begriffen. Zum anderen kann das in den vorausgehenden Kapiteln beschriebene homiletische Ringen um eine sachgemäße Annäherung an die Lebenswelt durch eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Kasualien noch einmal zugespitzt werden. Denn Ausgangspunkt der Kasualien ist „nicht eine aus kirchlicher Ordnung oder Lehrauffassung resultierende amtliche Aufgabe, sondern die persönliche Situation von Menschen. Sie suchen Begleitung durch die Kirche bzw. einen Pfarrer oder eine Pfarrerin. Konkret geht es um das Begehen von Übergängen im Leben, in denen Menschen Gewohntes verlassen und sich neuen Herausforderungen stellen müssen“ 882 . Somit ist zunächst festzuhalten, dass alles bisher in diesem Kapitel Gesagte im Kontext von Kasualien - jenen kirchlichen Feiern angesichts neu einsetzender Phasen bzw. der Wechselfälle des Lebens - unverändert gilt. Die Tatsache, dass Predigten im Kontext von Kasualien explizit auf konkrete persönliche bzw. familiale Ereignisse und Prozesse zugeschnitten sind, macht es aber notwendig, die vorliegende Darstellung um ein paar Aspekte zu ergänzen. Zu diesen Ergänzungen gehören die implizit mit jeder Predigt verbundenen und in der Kasualhomiletik immer wieder explizierten „kerygmatischen“, „missionarischen“ und „rituellen“ Aspekte der Predigt. In der in diesem Zusammenhang geführten Auseinandersetzung wurde unter anderem die unfruchtbare Alternative „Kerygma oder- …“ ins Feld geführt: In diesem Fall lautete die Scheinalternative „Kerygma oder Ritual? “ Dabei wurde sowohl die kerygmatische bzw. missionarische als auch die rituelle Dimension der Kasualien verkürzt und verzerrt. 882 Ch. Grethlein, 2007, 17. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="397"?> 397 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt Im Folgenden werden einige der Positionen skizziert, die in dieser Debatte eine Rolle gespielt haben und in der kasualpraktischen Argumentation bis heute nachwirken. Anhand dieser Beobachtungen folgen dann einige kasualhomiletische Thesen. 1. Rudolf Bohren konstruiert im Blick auf die Kasualien die Alternative von „Wort des Evangeliums“ und „Handlung“. Dabei unterstellt er, dass das bei Kasualien erscheinende Volk „im Normalfall“ nur auf das Ritual, nicht auf die Verkündigung aus sei. Während es dem Pastor „um die Ausrichtung des Evangeliums“ ginge, würden die Anwesenden nur deshalb einer Predigt folgen, weil das Reden des Geistlichen zur Handlung gehöre. Hier werde, so Bohren, „Christus zum Baal“ gemacht, „zu dem Gott, der das kreatürliche Leben segnet“ 883 . In seiner ironischen Abrechnung mit der Kasualpraxis in den Gemeinden resümiert er: „Wer amtshändlerisch sich bedienen lässt, liegt richtig; denn er wächst christlich auf, heiratet christlich und liegt endlich christlich im Grabe. Der Ritus macht den Christen. […] Die Mechanik der Amtshandlungen produziert laufend Christen, die ohne Christus leben.“ 884 Bohren will damit durchaus nicht für eine entschlossenere Missionierung bei Kasualien plädieren, sondern er fordert eine Konzentration auf das Wort Gottes, wie es vor Glaubenden üblich sei. „Kasualpraxis setzt […] die Teilhabe und Teilnahme an der Gemeinde Christi voraus.“ 885 2. Bohren bezieht - in dieser Hinsicht - eine Zwischenposition: Er wendet sich zum einen gegen missionarische Erwartungen, wie sie noch bei Friedrich Niebergall und in der Kasualpraxis bis heute begegnen: „Welche Gelegenheit, unaufdringlich Evangelium an den Mann zu bringen, wenigstens einmal zu sagen, was Evangelium ist und welchen Wert es für das Leben hat.“ 886 Zum anderen wendet er sich gegen eine Überschätzung der rituellen Elemente der Kasualien. Manfred Josuttis hat diese Ritualkritik weiter vertieft und auf seine Weise „die Konkurrenz zwischen Ritual und Kerygma“ betont: „Das Ritual macht das Kerygma überflüssig. Es leistet das, was das Kerygma zu leisten verspricht, es gibt Trauernden Trost, Hoffnung und Lebensmut, […] nur dass Trost, Hoffnung und Lebensmut sich dabei aus dem Vollzug der religiösen Handlung ergeben, unbeeinflusst von dem Charakter der göttlichen und politischen Macht, in deren Namen die Handlung ergeht. […] Weil das Ritual 883 R. Bohren, 1968, 18 f. 884 A. a. O., 25. 885 A. a. O., 12. 886 F. Niebergall, 1917, 23. <?page no="398"?> 398 als solches Heilsfunktionen erfüllt 887 , muss das Evangelium, das den Gott Jesu als das einzige Heil der Welt behauptet, ritualdistanziert, ja ritualkritisch sein.“ 888 3. Immer noch bipolar denkend und die „Doppelrolle“ von Ritualleiter und Prediger weiter in einer theologischen Spannung haltend, hat sich Walter Neidhart um eine Vermittlung dieser Rollen bemüht. Es gelte, sie sich bewusst zu machen und die Herausforderung anzunehmen, die „Grenzen des Rituellen“ zu überschreiten, den Angehörigen im Rahmen des Rituals „als Mensch“ und in der Verkündigung „als Zeuge“ zu begegnen: „Was er [der Prediger] inhaltlich zu ihrer Situation zu sagen hat, muss vom Glauben und dessen Gegenstand aus gefunden werden und lässt sich nicht aus der menschlichen Situation ableiten. Aber erst, wenn sich die Leidtragenden vom Pfarrer verstanden fühlen, merken sie, dass er sich ihnen menschlich zuwendet und dass er nicht nur Beamter des Zeremoniells ist.“ 889 Nach den bisher in diesem Buch entfalteten Beobachtungen, Thesen und Konsequenzen liegt es auf der Hand, dass kasualtheoretische Erwägungen der Homiletik denselben Prinzipien folgen müssen wie denen, die für die „Predigt im Normalfall“ gelten. Dazu gehören (1.) der im Charakter öffentlicher Rede gründende Respekt vor den je konkreten Bedingungen der Predigt als Kommunikation, (2.) die Bereitschaft, als Person, als erkennbares, solidarisches Gegenüber in Erscheinung zu treten, (3.) Bemühungen um eine „Anknüpfung“ sowohl an den Glaubenstraditionen des Christentums als auch (4.) an der Lebens- und Glaubenssituation der Zeitgenossen, (5.) eine dialogische Grundhaltung, die insbesondere der Argumentation nicht entraten kann, sowie (6.) der Anspruch sprachlicher Kooperation mit den Anwesenden. 890 Im Rahmen von Überlegungen zur Kasualpredigt sind im Grunde alle diese Punkte zu spezifizieren. Ich beschränke mich aber im Rahmen dieser Einführung auf einzelne Kategorien und Aspekte, die für das Verständnis des Charakters und der Funktionen einer Kasualpredigt von besonderem Belang sein dürften. 887 M. Josuttis formuliert dies aus der Warte einer sozialpsychologischen Bewertung des Rituals, derzufolge „das Gefühl gegenwärtigen Heils“ als ein Grundelement des Rituals angesehen wird. Vgl. E. H. Erikson, 1968, 484. 888 M. Josuttis, 1974, 196 f. 889 W. Neidhart, 1968, 233. 890 Diese Punkte stellen keine Hierarchie dar, sondern widerspiegeln die einzelnen Kapitel dieses Buches. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="399"?> 399 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt b) Nonverbale Aspekte der Kommunikation des Evangeliums Die Reduktion der Kommunikation des Evangeliums auf den Redeteil innerhalb einer Kasualhandlung und damit die konstruierte Spannung zwischen Botschaft und Ritual ist unangebracht und verstellt den Blick auf das Ganze und auf den Prozesscharakter einer Kasualie. Wir müssen an dieser Stelle nicht erneut den Diskurs um die Begriffe Verkündigung und Kommunikation aufrollen oder - angefangen beim Auftreten, Reden und Handeln Jesu bis hin zu den Glaubenszeugen des 20. und 21. Jahrhunderts - eine Analyse der Mittel und Medien vornehmen, „in, mit und unter“ denen Menschen in eine ihr Leben heilsam „verstörende“, „rettende“ oder „tröstende“ Kommunikationssituation verwickelt worden sind. Bedeutungsträger sind jedenfalls nicht nur Worte, sondern auch Handlungen, Gesten, Blicke, Berührungen. „Das Evangelium“ ist kein Substrat, das von Fall zu Fall - bzw. von Kasus zu Kasus - mit ein paar Worten in eine ansonsten unevangelische, „nur“ Emotionen anrührende oder sie kanalisierende Zeremonie eingestreut werden könnte. Die die Kommunikation des Evangeliums bestimmenden Dimensionen der Freiheit und der Liebe sind in höchstem Maße mit Emotionen verbunden, die gerade bei Kasualien im Ensemble von Sprache und Sprechen, Haltung und Handlung, Gestik und Mimik zur Geltung kommen und gleichermaßen emotionale, kognitive und pragmatische Bedeutung gewinnen. Dass sie auch Emotionen betreffen, ist kein zu vernachlässigender, weil angeblich nicht kerygmatischer Effekt, sondern gehört aufgrund der Bedeutung der Gefühle für die Erfahrung von Freiheit und Liebe zu den zentralen Anliegen kasualhomiletischer Bemühungen. c) Die Kasualpredigt als Sequenz des Rituals Die Kasualpredigt ist einerseits selbst Teil des Rituals, andererseits ist sie in diesem Ritual dasjenige Element, das - freilich im Rahmen der Regeln des Rituals - frei zu gestalten ist. Daraus ergibt sich, dass das Gesamtritual einer Taufe, Trauung, Beerdigung usw. legitimerweise Funktionen übernimmt, die auch der Kasualansprache selbst zukommen: In einer aufgrund einer Geburt, eines Eheversprechens oder eines Todes emotional hoch aufgeladenen und gespannten Situation, zu deren Bewältigung die Sprache und das übrige Ausdrucksrepertoire der Alltagskommunikation nicht auszureichen scheinen, ist das Ritual eine entscheidende Hilfe. <?page no="400"?> 400 Um nur einige seiner Funktionen zu nennen: Es entlastet davon, angesichts dessen, was geschehen ist oder geschehen könnte, eine Zeremonie zu erfinden, die den aufkeimenden Hoffnungen und Sorgen entspräche. Das Ritual artikuliert überschießende Erwartungen und bedrückende Ängste. Es vermag sie zu kanalisieren und ihnen Raum und Zeit zu gewähren. Darüber hinaus haben die rituellen Elemente von Kasualien eine bestätigende Funktion: Sie begleiten, markieren und schützen Übergänge im menschlichen Leben. Sie bändigen die Angst vor Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit und bieten Halt. 891 Aus der rituellen Einbindung der freien Kasualansprache folgt nun allerdings, dass sie, je nach Kasus, ihre Funktion nur erfüllen kann, wenn sie sich - sozusagen abgesichert, geschützt und legitimiert durch einen sie „haltenden“ rituellen Rahmen - gerade nicht in vorgefertigten Sprachmustern erschöpft, sondern „etwas riskiert“. Die Kasualpredigt muss den für sie vorgesehenen und durchaus erwarteten Spiel- und Interpretationsraum nutzen, um auch in nicht-ritueller Sprache auf die Möglichkeiten und Grenzen eines Lebens aus Glauben Bezug zu nehmen. d) Zum Adressatenbezug der Kasualien Der Streit hinsichtlich der besonderen Identität der Adressaten von Kasualpredigten klingt in den oben skizzierten Positionen schon an. Sie sind hoch problematisch, denn sie gehen im Grunde alle von der fragwürdigen Prämisse aus, man könne (und müsse! ) „voll Glaubende“, also echte Gemeindeglieder, von den nur ein bisschen (oder beinahe fast gar nicht oder nur „aus Tradition“) Glaubenden unterscheiden. Dabei werden üblicherweise auch gänzlich unterschiedliche, sogar konträre Interessen bei „aktiven Gemeindegliedern“ einerseits und bei „Randsiedlern“ andererseits unterstellt: Während - auf die Taufe bezogen - die einen vor allem ihr Kind Gott anvertrauen wollten, ginge es den anderen nur um eine schöne Feier, zu der nun einmal ein bisschen Öffentlichkeit gehöre. Die Erwartungen der Familien sind wesentlich subtiler und 891 Vgl. W. Jetter, 1986. Im Rahmen seiner stark an soziologischen Voraussetzungen und Konsequenzen der Kasualien orientierten Beiträge bestimmt Lutz Friedrichs deren Quasi-Funktion als eine Art überlebensnotwendiges „rituelles Exil“, in dem Biografien „aus dem Fluss der Zeit herausgehoben und […] mit der Ahnung gefeiert [werden], dass Leben mehr ist als die Summe einzelner biografischer Fakten“ (L. Friedrichs, 2008, 50, 53). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="401"?> 401 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt auch in religiöser Hinsicht weiter gespannt, als solche blinden Diagnosen unterstellen. Wilhelm Gräb hat an ein ganzes Ensemble theologisch relevanter Gründe erinnert, aus denen Betroffene Kasualgottesdienste wünschen. Er verweist insbesondere auf das legitime Bedürfnis der „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“, das durchaus zur Kirche und in die Öffentlichkeit einer Gemeinde passe. Auch die der Sonntagsgemeinde eher Fernstehenden, die ihre Kirchenmitgliedschaft nicht mit einem aktiven Partizipationsmuster verbinden, wissen, „dass die Kirche Gründe hat für die Anerkennung individuellen Lebens“, die im Ritual von Fall zu Fall vertieft und entfaltet werden können. 892 Die Auffassung, man könne bei einer Kasualfeier zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden unterscheiden, steht hinter dem Wunsch, Kasualien als missionarische Gelegenheit zu profilieren, weil da - notgedrungen - vermehrt auch die Ungläubigen präsent seien, sozusagen unmittelbar an der Grenze zur Gemeinde. Die für möglich gehaltene Trennbarkeit der potentiellen Adressaten in Christen und Heiden steht auch hinter der Aufforderung, vom Missionsgedanken Abstand zu nehmen und so zu tun, als wären (nur) Christusgläubige da. (Die Anderen kämen ja angeblich doch nur wegen des Rituals.) Dabei wird die Kasualpraxis freilich gerade von der „Nahtstelle Kirche - Welt“ 893 abgerückt und auf diejenigen zugeschnitten, die aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen. Diese und andere Adressatenbestimmungen setzen explizit oder implizit eine klare Grenzlinie zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden bzw. zwischen Gemeinde und Welt voraus: Friedrich Niebergall empfiehlt, die Chance zu nutzen, dass die Ungläubigen so dicht vor der Grenze stehen und darauf zu setzen, wenigstens ein paar von ihnen für die Gemeinde zu gewinnen. 894 Bohren sieht diese Grenze auch, erklärt sie aber für kasualhomiletisch irrelevant. Einen differenzierteren Vorstoß unternimmt Michael Nüchtern, in dem er die Möglichkeiten und Grenzen von Kasualien anhand des Modells einer „Kirche bei Gelegenheit“ erörtert. Zwar geht auch Nüchtern von einer „Spannung zwischen dem Gemeindeaufbauinteresse und dem volkskirchlichen Teilnahmeverhalten an Kasualien aus“, aber er sieht in den punktuellen Begegnungen der Kirche mit denen, die sich auf eine kontinuierliche Partizipation am Gemeindeleben nicht einlassen, eine spezifische Chance. Diese Chance liegt jenseits der Alternativen, den Radius der Kerngemeinde zu verlän- 892 W. Gräb, 1987, 32 f. 893 R. Bohren, 1968, 12. 894 Vgl. F. Niebergall, 1917, 23. <?page no="402"?> 402 gern und Randständige einzugemeinden oder sich in missionarischer Resignation mit rituellen Transferleistungen zu begnügen. „Kirche bei Gelegenheit“ meint im Hinblick auf Kasualien, dass deren Bedeutung über „Gelegenheiten“ zur Kontaktaufnahme, in deren Folge die Distanzierten in die Kerngemeinde integriert werden könnten, weit hinausgeht: Punktuelle Begegnungen einer Kirche bei Gelegenheit sind bereits dadurch sinnvoll, dass Menschen in dem Bemühen unterstützt werden, sich angesichts der Übergänge des Lebens zu orientieren und verantwortlich zu handeln. „In diesem Konzept finden sich in dem, was die Kirche auftragsgemäß tut, die Erwartungen des Menschen wieder, und zwar so, dass sie weitergeführt werden, etwas zu denken und zu hoffen bekommen. In diesem Konzept erkennt auch die Kirche in dem, was die Menschen von ihr erwarten, die konkrete Relevanz ihrer Botschaft, ihrer Bilder und Symbole wieder. Ein solches Verhältnis wechselseitiger Erschließung ist die inhaltliche Bedingung von ‚Kirche bei-Gelegenheit‘.“ 895 In diesem Sinne sind Kasualien Gelegenheiten sowohl für die Kirche als auch für die - aus der Sicht der Kerngemeinde - „am Rande siedelnden Glaubenden“. In der Debatte um das vermeintliche Dilemma, entweder der „praktizierenden Gemeinde“ oder den „Distanzierten“ kasualpraktisch gerecht zu werden, begegnet man implizit immer wieder der Annahme, dass der Glaube ordentlicher Gemeindeglieder (einschließlich ihrer religiösen Erwartungs- und Vorstellungswelt sowie ihres „theologischen Denkens“ im Hinblick auf Begriffe wie Auferstehung, ewiges Leben, Gnade, Gericht usw.) kategorisch vom Glauben unordentlicher zu unterscheiden wäre - bzw. bei den Letzteren überhaupt nicht zu finden sei. Das ist weder empirisch noch theologisch schlüssig. Starkes und schwaches Glauben, viel und wenig Glauben können erfahrungsgemäß nicht 1: 1 auf Kerngemeindeglieder und Randsiedler aufgeteilt werden. Das gilt analog für die Frage nach einzelnen Glaubensinhalten. 896 Auch theologisch führt es in Aporien, wenn man diejenigen, die es „nur“ mit der Volkskirche halten, 895 M. Nüchtern, 1991, 42. Er resümiert an späterer Stelle: „‚Kirche bei Gelegenheit‘ entsteht, wenn sich Kirche durch die Lebenswelt herausfordern lässt und den christlichen Glauben als Orientierung und Vergewisserung in konkrete Lebenssituationen einbringt. Orientierung meint eher eine verstandesmäßige und auf Handeln und Veränderung bezogene Wirkweise, Vergewisserung eher eine emotionale und stabilisierende“ (a. a. O., 109). 896 Vgl. dazu die Untersuchung Was die Menschen wirklich glauben von Klaus-Peter Jörns und Carsten Großeholz (1998). Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="403"?> 403 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt nicht als Glieder einer „latenten Geistgemeinschaft“ 897 gelten lässt und sie als Menschen behandelt, die nur aus „uneigentlichen“, also „eigentlich falschen“ Gründen bei Kasualien zugegen sind oder sie in Anspruch nehmen. Eine viel wichtigere Rolle als der vermeintlich wahre und große Glaube eines Kirchvorstehers oder der vermeintlich diffuse Glaube eines „Volkskirchlers“ spielt die Tatsache, dass wir es in beiden Fällen mit Menschen in ganz bestimmten Situationen zu tun haben, für die bestimmte Fragen im Erleben, Bewältigen und Führen des eigenen Lebens wichtig sind. Angesichts des Todes oder der Geburt eines Kindes oder der verbindlichen Entscheidung für einen Partner usw. stehen alle Menschen vor ähnlichen Herausforderungen. Es geht z. B. um Situationen, in denen Menschen „durch die Realität des Sterbenmüssens bewegt sind und als Fragende Antwort erwarten“ 898 . Bei Kasualpredigten sind Pfarrerinnen und Pfarrer in ganz besonderem Maße mit Grundfragen des Lebens und zentralen anthropologischen Themen konfrontiert, die allein oder vor allem mit einem „kerygmatischen Bewusstsein“ nicht zu bewältigen sind. Daraus ergibt sich ein weiterer kasualhomiletischer Aspekt: e) Der besondere Sachbezug der Kasualpredigt Wer angesichts von Geburt und Tod, gelebtem Leben, Aufbruch in die Zukunft oder Partnerschaft das Wort ergreift, sollte in Bezug auf die damit verbundenen Fragen einen theologisch reflektierten Standpunkt haben: Was bedeutet es, dass ein Mensch stirbt? Wie beurteile ich den Tod theologisch? Was denke ich über „das Jüngste Gericht“? Was bedeutet es, einen Menschen zu taufen - abgesehen davon, dass er damit offizielles Mitglied der Kirche wird? Welche Haltung habe ich in der Debatte um die Zukunft der Kinder und der Welt? Welchen Begriff, welche Idealvorstellung von Partnerschaft habe ich, wenn ich mit einem Paar eine Trauung vorbereite? Welchen Stellenwert hat das Glück eines Menschen in meiner Kasualtheorie? 897 Vgl. hierzu die klassischen Positionen zur „manifesten und latenten Kirche“ bei Paul Tillich (1987, bes. 156, 179 f., 182, 427 f.), zum „impliziten“ oder „anonymen Christentum“ bei Karl Rahner (1967, bes. 187-190) sowie die Argumentation Edward Schillebeeckx’: Jeder Mensch sei „auf Christus hin“ erschaffen und lebe insofern aus der Gnade. In diesem Sinne komme der gesamten Menschheit eine latente „Kirchlichkeit“ zu, unabhängig davon, wie sich der einzelne zur Gnade und zur manifesten Kirche verhalte, weshalb „die Grenzen zwischen Kirche und Menschheit […] verfließen“ (E. Schillebeeckx, 1964, 37, 39). 898 H.-J. Thilo, 1986, 224. <?page no="404"?> 404 Was gehört dazu, ein Leben in Freiheit zu führen und sich in Freiheit an Gründe und an Menschen zu binden? Natürlich geht es bei allen diesen Fragen um ein Leben aus Glauben, aber eben: um das Leben, das zu führen ein „Können“ verlangt, Lebenskunst, bei der Christen vor denselben Herausforderungen stehen wie Nicht-Christen. Gerade im Blick auf die von Kasualien begleiteten „Vorfälle“ des Lebens ist zu bedenken, dass Jesus nicht einfach nur Heilsnachrichten in Umlauf bringt und den Botschafter Gottes spielt, sondern dass er das Evangelium als Lebens-Kunde kommuniziert, die er vorzugsweise lehrt. Er tritt mit einer Lebens-Lehre auf, die man nicht nur zu glauben hat, sondern die man auch lernen kann. Das ist gerade bei Kasualpredigten höchst relevant, wobei die Grenzen zwischen Kerngemeinde und Volkskirche vollends zerfließen. Zu dieser Sachkunde gehört auch das Wissen um gravierende Veränderungen hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhangs der Inanspruchnahme von Passage-Riten und den mehr und mehr prozessualen, kaum mehr punktuellen „Übergängen“ in Biografien und Familiengeschichten. 899 f) Zur Frage der „Mission“ So wie der Predigtprozess sich nicht darin erschöpft, „das Evangelium“ in einer Kanzelrede unterzubringen, sondern auf ein selbständiges Leben aus Glauben zielt, mithin auf einen Aneignungsprozess auf Seiten der Hörer, kann auch der Missionsgedanke nicht auf einen Verkündigungsauftrag reduziert werden, der durch die Aussendung von Glaubenden zu Halb- oder Nicht-Glaubenden erfüllt würde. Nicht nur im Kontext von Kasualien, aber gerade dort liegt es nahe, mit einem Begriff von Mission zu arbeiten, der seinen Fluchtpunkt nicht in potentiellen Missionsobjekten hat, sondern auf die Ankunft des Einzelnen in seinem eigenen Leben zielt. In der Kommunikation des Evangeliums werden Menschen nicht „einfach so“ zum Glauben gerufen, weil Gott oder die Kirche wünschten, dass geglaubt wird und neue Glaubende gewonnen werden, sondern Menschen werden um ihres Lebens willen zum Glauben - bzw. als Glaubende ins Leben - gerufen. Sie werden in ihre eigene Gegenwart als eine Zeit des Heils geschickt (missio) und sind in diesem Sinne selbst als Missionare unterwegs. Sie werden ermutigt, sich in Gelassenheit und Neugier ihrem Leben zuzuwenden 899 Vgl. dazu Ch. Grethlein, 2007, 33-36, 74-87. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="405"?> 405 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt und ihren Weg zu finden - aus Glauben, im Glauben. Die Kommunikation des Evangeliums hat den Glauben nicht als Selbstzweck im Blick, sondern als die spezifisch christliche Erfahrung des Ins-Leben-Gerufen-Seins. g) Zur Doppelfunktion des biografischen Elements der Kasualpredigt Zu den besonderen Möglichkeiten einer situationsgerechten Verortung von Kasualpredigten gehört ihr biografischer Bezug. Bei einer Taufe, Trauung oder Trauerfeier 900 handelt es sich um eine Zeremonie, die anlässlich einer konkreten Lebensgeschichte zu einem brisanten Zeitpunkt dieser Geschichte stattfindet, an einem „Übergang“, wie er in vielen Fällen durchaus noch erlebt wird. Dieser Übergang wird für die Angehörigen und die Gemeinde gewissermaßen zu einem Anschauungsmodell, anhand dessen sie sich Fragen, Probleme und Hoffnungen vergegenwärtigen, die auch in anderen Kontexten ihres Lebens auf der Tagesordnung stehen. Bei biografischen Konkretisationen innerhalb einer Kasualpredigt geht es also nicht um die Stilisierung eines Lebensweges zu einem „Vorbild“ - als hätten die Verstorbenen oder Heiratswilligen irgendetwas grundsätzlich besser gemacht als alle anderen. Es geht vielmehr um ein Exempel dafür, was es unter den (bei einem konkreten Menschen) gegebenen, von Risiken behafteten Umständen heißt, aus Glauben zu leben. Durch den von jedermann mitvollziehbaren, lebensnahen, authentischen, in gewissem Sinne überprüfbaren Situations- und Biografie-Bezug steht bei Kasualien in hohem Maße die Plausibilität der Kommunikation des Evangeliums auf dem Spiel. Ein solcher rituell begangener Übergang ist natürlich nicht nur ein willkommenes Exempel für die Gemeinde. Er ist zuerst die aktuelle Lebenswirklichkeit konkreter Menschen, in deren Leben etwas auf dem Spiel steht und die sich - bevor sie dieses Spiel spielen - der Chancen vergewissern und die Risiken vergegenwärtigen wollen. Sie lassen sich in dem Glauben, den sie haben, auf dieses Spiel ein - ohne sich vollständig darüber im Klaren sein zu können, was auf sie zukommt, ob und wie sie sich angesichts dessen, was jetzt geschieht, verändern. Dies in Form und Inhalt einer Ansprache zu würdigen, ist keine ritualkonfor- 900 Zum Kanon klassischer und sich neu etablierender kasueller Gottesdienste an Übergängen des Lebens vgl. Ch. Grethlein, 2007, 323-328. <?page no="406"?> 406 me Lobhudelei, sondern zentraler Anknüpfungspunkt der Kasualpredigt. 901 Sich mit den Betreffenden im Vorgespräch und in der Predigt darüber zu verständigen, was es heißen könnte, sich unter den gegebenen Umständen in der Gelassenheit und Neugier des Glaubens von Neuem auf das Geschenk des Lebens einzulassen, gehört zu den „missionarischen Gelegenheiten“ in oben (vgl. f) genanntem Sinn. h) Zum Textbezug der Kasualpredigt Geht es schon in einer normalen Predigt nicht darum, sich an Texten abzuarbeiten oder schwierige Texte als ganz besonders willkommene Herausforderung zu verstehen, aus ihnen die genau an diesem Tag benötigte Botschaft herauszufiltern, wird bei Kasualien meist von vornherein nach Texten gesucht, die zum „Fall“ passen. Soweit die Menschen, die sich auf eine Kasualfeier vorbereiten, nicht selbst einen konkreten Textwunsch äußern, ist es an den Pfarrerinnen und Pfarrern, geeignete Vorschläge zu unterbreiten. Meist geht es dabei um kurze Bibeltexte im Sinne von Kernsätzen, die den Charakter von Wahlsprüchen und Mottos haben können. Gut gewählt, lassen sie schlaglichtartig eine Perspektive aufscheinen, die für die Lebensgeschichte eines Menschen oder für die Situation eines Paares wichtig ist, die Beteiligten ernst nimmt und eine Aussicht auf die Zukunft einschließt. Die im Vorfeld einer Taufe, Trauung oder Beerdigung geführten Gespräche bieten hierfür eine Fülle von Anhaltspunkten. Ob die Texte nun aus der Familientradition stammen (z. B. bei der bewussten Wiederverwendung des Hochzeitspruchs der Eltern bei der Trauung der Kinder) oder vom Pfarrer ausgewählt werden, in beiden Fällen gilt es, mit Bezug auf dieses Wort zur Sprache zu bringen, was an diesem konkreten Übergang in diesem konkreten Leben grundsätzlich zu sagen ist. Es bedeutet durchaus keine Nonchalance gegenüber der Eigenaussage eines Textes (meist eines Einzelverses), wenn die Ansprache inhaltlich über dessen meist sehr begrenzte Aussage hinausgeht und dem Fragepotential der Situation gebührende Aufmerksamkeit schenkt. Dem entspricht es, dass Tauf-, Trau- und Beerdigungstexte - und zwar nicht nur vom Prediger - stärker symbolisiert werden als Texte in normalen Predigten: Texte in Kasualpredigten werden auch seitens der Hörerinnen und Hörer mit Erwartungen ver- 901 Vgl. die kasualhomiletische Dimension der Biografie (neben den Dimensionen „Gemeinde“ und „Theologie“) in der Arbeit von Ch. Stebler, 2006, 81-116. Teil I.6. Predigen für einen Menschen. Zur Frage nach dem Situationsbezug <?page no="407"?> 407 6.4 Zur Kategorie situationsbezogener Predigt bunden, mit starken Emotionen aufgeladen und mit spezifischen Bedeutungen ausgestattet, die diese Texte möglicherweise so noch nie hatten. Häufig wird die exegetisch unglückliche Wahl biblischer Texte beklagt, die - gerade bei Kasualien - auf einen verfremdenden Gebrauch der jüdisch-christlichen Überlieferung hinauslaufe. Ein verfremdender, damit jedoch noch nicht inadäquater Gebrauch, wiederholt sich freilich bei jeder Predigt. 902 Keiner der biblischen Texte wurde dazu verfasst, dass ein Pfarrer an einem bestimmten Sonntag im Kirchenjahr damit zu seinen Zeitgenossen spricht. Im Blick auf die von einer Familie gefeierten Übergänge kommt daher den Beziehungsanalogien 903 eine besondere Bedeutung zu, d. h. der Vergleichbarkeit der in den alten Texten geschilderten Beziehungskonstellationen (