Europäische Integration
Einführung für Ökonomen
0914
2020
978-3-8385-5300-9
978-3-8252-5300-4
UTB
Hans Adam
Peter Mayer
Der Europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Das Wissen um die Europäische Integration ist deswegen für Studierende der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sehr wichtig.
Das Lehrbuch führt zu Beginn in die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses ein und stellt die institutionelle Struktur der EU vor. Europäische Politikfelder werden in Theorie und Praxis dargestellt und die Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Die 3. Auflage wurde vollständig überarbeitet und erweitert: Sie berücksichtigt die aktuellen politischen Debatten über die Zukunft der Europäischen Union und über die Weiterentwicklung der zentralen Politikfelder.
Jedes Kapitel zeichnet sich durch Lernziele, Zusammenfassungen und Literaturtipps aus. Ein Glossar rundet das Buch ab.
Das Lehrbuch richtet sich an Bachelorstudierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre.
<?page no="0"?> Hans Adam | Peter Mayer Europäische Integration 3. Auflage <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 4110 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 1 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 1 19.10.2020 12: 32: 43 19.10.2020 12: 32: 43 <?page no="2"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 2 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 2 19.10.2020 12: 32: 43 19.10.2020 12: 32: 43 <?page no="3"?> Hans Adam, Peter Mayer Europäische Integration Einführung für Ökonomen 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 3 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 3 19.10.2020 12: 32: 44 19.10.2020 12: 32: 44 <?page no="4"?> 3. Auflage 2020 2. Auflage 2016 1. Auflage 2014 © UVK Verlag 2020 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4110 ISBN 978-3-8252-5300-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5300-9 (ePDF) Umschlagabbildung: © kamisoka · iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 4 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 4 19.10.2020 12: 32: 44 19.10.2020 12: 32: 44 <?page no="5"?> 13 17 19 21 1 23 1.1 23 1.2 24 1.3 26 1.3.1 26 1.3.2 29 1.3.3 34 1.3.4 35 1.3.5 38 1.3.6 40 1.3.7 46 1.3.8 48 1.4 53 1.5 55 1.6 55 59 2 61 2.1 61 Inhalt Daten und Fakten zur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 1: Das Entstehen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 . . . . . Die 1950er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1960er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1970er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1980er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1990er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts . . . . . Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 2: Institutionelle Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 5 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 5 19.10.2020 12: 32: 44 19.10.2020 12: 32: 44 <?page no="6"?> 2.2 62 2.3 68 2.3.1 68 2.3.2 72 2.3.3 74 2.3.4 79 2.3.5 83 2.3.6 84 2.3.7 85 2.3.8 86 2.3.9 87 2.4 88 2.5 88 3 91 3.1 91 3.2 92 3.2.1 92 3.2.2 96 3.2.3 99 3.3 101 3.4 103 3.5 105 3.6 107 3.6.1 107 3.6.2 111 3.7 113 3.8 113 3.9 113 119 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Organe und Institutionen der Europäischen Union . . Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäischer Rechnungshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ . . . . . . . . . . . . Der Einfluss von Interessengruppen . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Finanzverfassung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Haushalt der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union Die Ausgabenseite des EU-Haushalts . . . . . . . . . . . Die Einnahmeseite des EU-Haushalts . . . . . . . . . . . Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Haushaltspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungsansätze auf der Ausgabenseite . . . . . . . . . . Lösungsansätze auf der Einnahmeseite . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 3: Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb . . . . . . . . . Inhalt 6 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 6 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 6 19.10.2020 12: 32: 44 19.10.2020 12: 32: 44 <?page no="7"?> 4 121 4.1 121 4.2 124 4.2.1 124 4.2.2 126 4.3 129 4.4 131 4.4.1 131 4.4.2 138 4.4.3 142 4.4.4 145 4.5 148 4.6 149 4.7 149 5 155 5.1 155 5.2 156 5.2.1 156 5.2.2 159 5.3 162 5.4 162 5.4.1 163 5.4.2 164 5.4.3 166 5.5 182 5.6 183 5.7 183 Der europäische Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freier Dienstleistungsverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen - anstehende Aufgaben . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitbilder der Wettbewerbspolitik . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik . . . . . . . . Wettbewerbspolitik der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union . . Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 7 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 7 19.10.2020 12: 32: 44 19.10.2020 12: 32: 44 <?page no="8"?> 6 187 6.1 187 6.2 188 6.2.1 188 6.2.2 190 6.3 190 6.3.1 190 6.3.2 192 6.3.3 192 6.3.4 194 6.3.5 196 6.4 197 6.4.1 197 6.4.2 198 6.4.3 201 6.4.4 203 6.4.5 205 6.4.6 206 6.4.7 206 6.5 206 6.6 207 6.7 208 211 7 213 7.1 213 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen - Zur Vorteilhaftigkeit des Handels und den Implikationen für die Handelspolitik . . Ein Überblick über die wichtigsten theoretischen Überlegungen zum internationalen Handel . . . . . . Öffnung für die Integration in die internationale Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends . . . . . . . . . Der Binnenhandel der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der EU-Handel mit europäischen Ländern innerhalb und außerhalb des EWR . . . . . . . . . . . . . Der Handel der EU in der Gesamtperspektive . . . . Handelsbeziehungen und Zahlungsbilanz . . . . . . . Die Bewertung der Handelsstruktur und der Handelsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handelspolitik der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die handelspolitischen Optionen zur Ausgestaltung der Handelspolitik - multilateral, regional, bilateral oder unilateral . . . . . . . . . . . . . . Die Handelspolitik der EU in der Praxis . . . . . . . . . Der Abschluss von Freihandelsabkommen . . . . . . Die EU und der Abschluss von Abkommen mit Nachbarländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die EU und Abkommen mit anderen regionalen Verbünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präferenzen für Entwicklungsländer . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 4: Die ausgabenträchtigen EU-Politiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 8 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 8 19.10.2020 12: 32: 45 19.10.2020 12: 32: 45 <?page no="9"?> 7.2 215 7.2.1 215 7.2.2 217 7.2.3 219 7.2.4 220 7.3 221 7.4 222 7.5 228 7.6 231 7.7 232 7.8 233 7.9 233 8 237 8.1 237 8.2 244 8.3 250 8.3.1 250 8.3.2 250 8.3.3 251 8.3.4 251 8.3.5 254 8.4 255 8.5 258 8.6 258 8.7 258 261 9 263 9.1 263 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt . . . . . . Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter . . . . . . Abweichende Produktionsbedingungen . . . . . . . . . Externalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der GAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente der GAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die GAP 2014-2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die GAP post-2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union . Kohäsion und Regionalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionalpolitik und Marktprozesse . . . . . . . . . . . . Gezielte Regionalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturfonds und Konditionalitäten . . . . . . . . . . . Evaluation der Kohäsionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 5: Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungspolitik und Europas Weg vom Bretton-Woods-System bis zum Europäischen Währungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 9 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 9 19.10.2020 12: 32: 45 19.10.2020 12: 32: 45 <?page no="10"?> 9.2 264 9.3 269 9.4 270 9.5 273 9.6 275 9.6.1 275 9.6.2 277 9.7 281 9.8 281 9.9 281 10 283 10.1 283 10.2 283 10.3 285 10.4 290 10.5 291 10.5.1 291 10.5.2 293 10.5.3 293 10.5.4 294 10.6 295 10.6.1 296 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bretton-Woods-Regime - eine einfache Lösung für die Währungszusammenarbeit der europäischen Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer europäischen Nachfolgeregelung für das Bretton-Woods-Regime . . . . . Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 - Europas Präferenz für feste Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa . . Die Theorie optimaler Währungsräume . . . . . . . . . Die Kriterien für den Beitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente Die Wechselkurspolitik der Eurozone . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidungsstruktur des Euro-Währungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mandat der EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ziel der Preisstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Außenwert des Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Euro im Weltwährungssystem . . . . . . . . . . . Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht des Euro-Währungsgebietes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 10 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 10 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 10 19.10.2020 12: 32: 45 19.10.2020 12: 32: 45 <?page no="11"?> 10.7 297 10.7.1 298 10.7.2 305 10.7.3 306 10.8 306 10.9 307 10.10 307 11 311 11.1 311 11.2 312 11.3 314 11.3.1 314 11.3.2 318 11.3.3 320 11.3.4 321 11.3.5 323 11.4 325 11.5 327 11.6 327 12 331 12.1 331 12.2 332 12.3 337 12.3.1 338 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet . . Geldpolitische Strategie - Die Kontroverse um die Zinspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzen der Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die EZB als „lender of last resort“ - Liquiditätsgeber der letzten Instanz . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirtschaftsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortungsvolle Haushaltspolitik und die Begrenzung der Staatsverschuldung . . . . . . . . . . . . Die Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik - Stabile Wirtschaftssysteme . Die Stabilisierung der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . Fiskalpolitik in der Wirtschafts- und Währungsunion - die Aufgabe der Koordinierung Das europäische Semester und die Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Genese der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 11 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 11 19.10.2020 12: 32: 45 19.10.2020 12: 32: 45 <?page no="12"?> 12.3.2 339 12.3.3 340 12.3.4 342 12.3.5 344 12.3.6 345 12.4 345 12.4.1 346 12.4.2 361 12.5 364 12.6 365 12.7 366 12.8 366 369 13 371 379 387 Die Bankenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Staatsverschuldungskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . Die makroökonomische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verknüpfung der Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungsansätze innerhalb der Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion . . . . . . . . . . . . . Lösungen außerhalb der bestehenden Ordnung - Alternative Formen der Währungszusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 6: Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven der europäischen Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 12 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 12 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 12 19.10.2020 12: 32: 45 19.10.2020 12: 32: 45 <?page no="13"?> Daten und Fakten zur Europäischen Union 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 13 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 13 19.10.2020 12: 32: 51 19.10.2020 12: 32: 51 <?page no="14"?> Land Hauptstadt Beitritt Bevölke‐ rung 2019 (in Mio.) Pro-Kopf-Ein‐ kommen 2018 in Kaufkraftparitä‐ ten (EU-28 = 100) (Sta nd: 1.12.2019) Belgien Brüssel 1952 11,5 117 Bulgarien Sofia 2007 7,0 51 Dänemark Kopenhagen 1973 5,8 128 Deutschland Berlin 1952 83,0 122 Estland Tallinn 2004 1,3 82 Finnland Helsinki 1995 5,5 111 Frankreich Paris 1952 67,0 104 Griechenland Athen 1981 10,7 68 Irland Dublin 1973 4,9 189 Italien Rom 1952 60,4 96 Kroatien Zagreb 2013 4,1 63 Lettland Riga 2004 1,9 69 Litauen Vilnius 2004 2,8 80 Luxemburg Luxemburg 1952 0,6 261 Malta Valletta 2004 0,5 98 Niederlande Amsterdam 1952 17,3 129 Österreich Wien 1995 8,9 127 Polen Warschau 2004 38,0 70 Portugal Lissabon 1986 10,3 77 Daten und Fakten zur Europäischen Union 14 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 14 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 14 19.10.2020 12: 32: 51 19.10.2020 12: 32: 51 <?page no="15"?> Rumänien Bukarest 2007 19,4 65 Schweden Stockholm 1995 10,2 120 Slowakei Bratislava 2004 5,5 73 Slowenien Ljubljana 2004 2,1 87 Spanien Madrid 1986 46,9 91 Tschechische Republik Prag 2004 10,6 91 Ungarn Budapest 2004 9,8 71 Vereinigtes Königreich* London 1973 66,6 105 Zypern Nikosia 2004 0,8 89 *Austritt aus der Europäischen Union zum 31.01.2020 Quelle: Eurostat (2019): online Daten und Fakten zur Europäischen Union 15 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 15 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 15 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="16"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 16 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 16 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="17"?> Vorwort Das britische Referendum über einen EU-Austritt stellt eine Zäsur in der Entwicklung der europäischen Union dar. Auch der veränderte Blick der USA auf Europa sowie die wirtschaftliche und politische Dynamik in Asien stellen Europa vor neue Herausforderungen. Zustand und Perspektiven der EU stehen auf dem Prüfstand. In dieser Situation ist die Besinnung auf die Ideen, die den Entstehungsprozess der Union geleitet haben, und die Kennt‐ nis des Weges, den die Union bis in die Gegenwart hinein gegangen ist, unabdingbar. Auf dieser Grundlage können tragfähige Vorstellungen über die Zukunft der EU entwickelt werden. Die 3. Auflage wurde grundlegend überarbeitet, die Struktur des Lehrbuchs weitgehend beibehalten. Die bisher in einem gemeinsamen Kapitel behan‐ delte Geld- und Währungspolitik wurde getrennt. Osnabrück, im März 2020 Hans Adam und Peter Mayer 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 17 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 17 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="18"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 18 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 18 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="19"?> Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration Lehrbücher Mit der Thematik der Europäischen Integration beschäftigen sich zahlreiche Lehrbücher unterschiedlichen Anspruchsniveaus und Erklärungsumfangs, die als ergänzende Literatur in Lehrveranstaltungen herangezogen werden können. Dazu zählen: Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2019): The Economics of European Integration, 6. Auflage, London, McGraw-Hill Borchardt, Klaus-Dieter (2017): Das ABC des Rechts der Europäischen Union, Lu‐ xemburg Brasche, Ulrich (2017): Europäische Integration. Wirtschaft, Erweiterung und re‐ gionale Effekte, 4. Auflage, München, Oldenbourg Verlag De Grauwe, Paul (2018): Economics of Monetary Union, 12. Auflage, Oxford Uni‐ versity Press El-Agraa, Ali (Hrsg.) (2011): The European Union: Economics and Policies, 9. Auf‐ lage, Cambridge Jovanović, Miroslav N. (2013): The Economics of European Integration, 2. Auflage, Cheltenham, Northampton 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 19 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 19 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="20"?> McCormick, John (2017): Understanding the European Union - A Concise Intro‐ duction, 7. Auflage, Palgrave-Macmillan Nugent, Neill (2017): The Government and Politics of the European Union, 8. Auf‐ lage, Palgrave-Macmillan Ohr, Renate (2013): Fit für die Prüfung: Europäische Integration, Konstanz/ München, UVK-Lucius/ UTB Pelkmans, Jacques (2006): European Integration. Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz/ Frischhut, Markus (Hrsg.) (2015): Einführung in das EU-Recht - Institutionen, Recht und Politiken der Europäischen Union, 3. Auflage, Wien, facultas Ribhegge, Hermann (2011): Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin, Hei‐ delberg, 2. Auflage, Springer Verlag Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang (Hrsg.) (2019): Jahrbuch der Europäischen Integration 2019, Baden-Baden, Nomos Verlag Wurzel, Eckhard (2019): Europäische Integration wohin? Zu Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik sowie Reformen der EU, Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer Wichtige Internetquellen EU: www.europa.eu Eurostat: www.eurostat.eu Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration 20 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 20 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 20 19.10.2020 12: 32: 52 19.10.2020 12: 32: 52 <?page no="21"?> Teil 1: Das Entstehen der Europäischen Union 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 21 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 21 19.10.2020 12: 32: 53 19.10.2020 12: 32: 53 <?page no="22"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 22 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 22 19.10.2020 12: 32: 53 19.10.2020 12: 32: 53 <?page no="23"?> 1 Geschichte der europäischen Integration Leitfragen Welche politischen Entwicklungen und Ereignisse haben die europäi‐ sche Einigung geprägt? Wie hat sich die europäische Wirtschaft seit Beginn der europäischen Integration verändert? Welche idealtypischen Vorstellungen haben die Diskussion über die Zukunft Europas bestimmt? 1.1 Einführung Die europäische Einigung seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein einzigartiger Prozess, mit dem sich das Zusammenleben der Völker Europas gegenüber den vorherigen Jahrhunderten fundamental geändert hat. Aus einem Kon‐ tinent des Krieges wurde ein Kontinent des Friedens, wie es in der Erklärung des Nobelpreiskomitees anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union im Jahr 2012 heißt. Die Entwicklung der europäischen Einigung der letzten Jahrzehnte war stets eng verbunden mit Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaft‐ 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 23 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 23 19.10.2020 12: 32: 53 19.10.2020 12: 32: 53 <?page no="24"?> lichen Rahmendaten. Im folgenden Kapitel wird die Verknüpfung dieser Entwicklungstrends herausgearbeitet. 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Die europäische Einigung war von Anfang an ein von politischen Motiven geprägter Prozess. Sie war eine Antwort auf die Jahrhunderte alte Realität ständig wiederkehrender Kriege auf europäischem Boden. Eine Auswahl aus der langen Liste der innereuropäischen militärischen Auseinandersetzun‐ gen zeigt die Dimensionen (vgl. Simms 2013): England und Frankreich be‐ kriegten sich im Hundertjährigen Krieg 1337-1453. In den Italienischen Kriegen 1494-1559 kämpften unter anderem italienische, französische und habsburgische Truppen. Russische und schwedische Truppen standen sich wiederholt in den Rus‐ sisch-Schwedischen Kriegen 1495-1497, 1590-1595 und 1611-1617 gegenüber. Im Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 waren unter anderem deutsche, schwedi‐ sche, spanische, niederländische und französische Truppen involviert. Im Gro‐ ßen Nordischen Krieg 1700-1721 kämpften Truppen aus Russland, Schweden und Polen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763 war ein internationaler Konflikt auf deutschem Boden mit Beteiligung Englands, Frankreichs und Österreichs. In den napoleonischen Kriegen 1803-1815 waren mehr als 20 Kriegsparteien einbezogen. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71 war eine Auseinander‐ setzung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Ersten Weltkrieg 1914-1918 waren rund 40 Staaten involviert, 17-20 Millionen Menschen verloren ihr Le‐ ben. Schließlich kamen in dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Zwei‐ ten Weltkrieg 1939-1945 allein in Europa mehr als 50 Millionen Menschen ums Leben. Die Verluste an Menschenleben all dieser Kriege waren hoch und wuch‐ sen mit der Entwicklung der Technik, die Lebensgrundlage der Menschen wurde wiederholt vernichtet. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war das Bedürfnis groß, die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern Europas und die Machtpolitik europäischer Nationen zulasten anderer europäischer Nationen hinter sich zu lassen und eine Ordnung für ein friedliches Zusammenleben, für Völ‐ kerverständigung, für Demokratie und die Beachtung der Menschenrechte zu finden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft kann nur vor die‐ 1 Geschichte der europäischen Integration 24 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 24 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 24 19.10.2020 12: 32: 53 19.10.2020 12: 32: 53 <?page no="25"?> sem historischen Hintergrund verstanden werden. Und auch die vielen Ver‐ änderungen innerhalb der Europäischen Union, die Erweiterung der Ge‐ meinschaft von sechs Mitgliedern auf 28 Mitgliedsländer waren ganz wesentlich von politischen Motiven geprägt, dem Ende der Diktaturen im Süden Europas, der Auseinandersetzung im Kalten Krieg und den Umwäl‐ zungen in Osteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts. Wirtschaftlich war Europa in vielerlei Hinsicht bis in das 19. Jahrhundert fragmentiert: Hohe Transportkosten begünstigten die lokale Produktion. Unterschiedliche Maßsysteme und unterschiedliche Währungen machten den Handel beschwerlich. Die für den Tausch erforderlichen Informationen über Angebot und Nachfrage auf der Seite des Handelspartners waren nur begrenzt verfügbar. Selbst der Handel zwischen Regionen und Städten in‐ nerhalb der Staaten war durch Zölle und Abgaben für Güter belastet. Die im Mittelalter dominierende Philosophie des Merkantilismus sah den wirt‐ schaftlichen Austausch generell nicht als für beide Seiten vorteilhaft an. Warenaustausch zwischen den Nationen war über Jahrhunderte auf wenige Güter und Dienstleistungen beschränkt. Die Migration der Menschen war in Friedenszeiten durch das Feudalsystem begrenzt. Erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert änderten sich die wirt‐ schaftspolitischen Vorstellungen, Handel wurde nicht als ein „Null- Sum‐ men-Spiel“ begriffen, sondern als potenziell vorteilhaft für exportierende und importierende Staaten. Die wirtschaftlichen Rahmbedingungen änder‐ ten sich, Transportkosten sanken, Informationen standen schneller zur Ver‐ fügung. Der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt europäischer Län‐ der, im Jahr 1810 auf 3 % geschätzt, stieg auf 16 % im Jahr 1913. Dieser Wert fiel aber wieder auf 6 % im Jahr 1938 (vgl. Molle 2006), die Entwicklung in Europa in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts war durch Desintegration geprägt. Niedrige Wachstumsraten und hohe Arbeitslosigkeit waren die wirtschaftlichen Folgen, die Neigung der Bevölkerung, totalitäre Systeme zu unterstützen eine andere verheerende Konsequenz. Das Bruttoinlands‐ produkt pro Kopf von 15 europäischen Ländern, welches 1913 noch 57 % des Wertes der USA betragen hatte, sank auf 47 % im Jahr 1950 ab (vgl. Eichen‐ green 2007, S. 18). Obgleich die europäischen Völker aufgrund der politischen und wirtschaftli‐ chen Parzellierung durchaus eigenständige kulturelle Gewohnheiten entwi‐ ckelten, war Europa gleichwohl ein gemeinsamer Kulturraum (vgl. Thiede 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 25 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 25 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 25 19.10.2020 12: 32: 54 19.10.2020 12: 32: 54 <?page no="26"?> 2010). Ein wesentlicher Grund waren die verbindenden religiösen und philoso‐ phischen Wurzeln. Die griechische und römische Philosophie hat Europa nach‐ haltig geprägt. Auch die Baukunst der Antike strahlte Jahrhunderte in ganz Europa aus. Der christliche Glaube fand seinen Weg in alle europäischen Län‐ der und mit ihm auch die christlich geprägte Kultur. Die engen Beziehungen der europäischen Aristokratie trugen zu einem Austausch der kulturellen Werte bei. Die meist kriegs- und verfolgungsbedingte Migration brachte kulturelle Vorstellungen in andere Länder. Philosophen, Musiker, Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts suchten europaweit den Austausch. Die Gedanken der Französi‐ schen Revolution und Aufklärung verbreiteten sich schnell und beeinflussten die geistige Entwicklung in ganz Europa. Vor diesem Hintergrund wurden immer wieder Ideen zur europäischen Ei‐ nigung entwickelt: Das Reich Karls des Großen kann als Versuch der Herstellung eines geeinten Europas interpretiert werden. Der Jurist Pierre Dubois schlug im Jahr 1306 eine regelmäßige „Zusammenkunft des euro‐ päischen Adels“ vor, der Quäker William Penn veröffentlichte 1693 eine Schrift mit der Forderung für ein europäisches Parlament, der Philosoph Jeremy Bentham regte eine „Europäische Versammlung“ an. Der Abt Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre schlug die Schaffung einer „europäi‐ schen Union“ vor. Jean-Jacques Rousseau entwickelte das Konzept einer „Europäischen Föderation“. Der Österreicher Richard Graf Coudenhove-Ca‐ lergi forderte eine „Paneuropäische Bewegung“ (vgl. Eichengreen 2007, S. 41), der französische Premier und Außenminister Briand empfahl 1927 die Schaffung eines „föderativen Bandes unter den europäischen Nationen“. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 1.3.1 Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Nachkriegszeit Die dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Jahre waren eine Zeit der umfassenden Transformation der politischen Weltordnung. 1945 gründeten 51 Staaten die Vereinten Nationen, die zentrale der Erhaltung des Friedens und der Zusammenarbeit der Nationen verpflichtete internationale Orga‐ nisation. Im gleichen Jahr schufen 29 Staaten den Internationalen Wäh‐ 1 Geschichte der europäischen Integration 26 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 26 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 26 19.10.2020 12: 32: 54 19.10.2020 12: 32: 54 <?page no="27"?> rungsfonds, der die Währungszusammenarbeit der Mitgliedsländer koordi‐ nieren sollte. Und mit der Unterzeichnung des „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) dokumentierten die wesentlichen Handelsnatio‐ nen der damaligen Zeit ihre Bereitschaft, den internationalen Handel zu li‐ beralisieren und gemeinsame Regeln zu beachten. Auch in Europa kam es zu einer politischen Neuordnung. Westeuropäische Staaten orientierten sich an Demokratie und Marktwirtschaft, in Osteuropa wurde eine kommunistische staatliche Ordnung eingeführt, wirtschaftspo‐ litisch entschied man sich für zentralverwaltungswirtschaftliche Strukturen. Und da bereits die Besetzung der Tschechoslowakei durch sowjetische Trup‐ pen im Jahr 1948 signalisierte, dass die Politik der Sowjetunion auf Expan‐ sion angelegt war, betrachteten beide Seiten Europa (und andere Kontinente) im Kontext des Kampfes um Einflusssphären. Die Bipolarität, die sich bereits während des Zweiten Weltkrieges abgezeichnet hatte, mündete auf westli‐ cher Seite in der Truman-Doktrin, die für die US-amerikanische Außenpo‐ litik das Ziel formulierte, den „freien Völkern“ beizustehen, diese zu unter‐ stützen, sich der „angestrebten Unterwerfung“ zu widersetzen (vgl. Brunn 2017). Angesichts dessen gründeten zwölf Staaten im April 1949 die „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO), ein Bündnis europäischer und nord‐ amerikanischer Staaten zur gegenseitigen Unterstützung im Verteidigungs‐ fall. Im Jahr 1949 wurde der Europarat geschaffen, eine parlamentarische Versammlung zur Stärkung der demokratischen Entwicklung in den Mit‐ gliedsländern (vgl. Brunn 2017). Die USA unterstützten den Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen in Westeuropa. Mit der Gründung der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) im Jahr 1948 wurde eine Institution geschaffen, die erhebliche Finanztransfers für den Wiederaufbau Europas bereitstellte. Vor dem Hintergrund der Bedrohung Westeuropas wurde die in den USA zu‐ nächst geführte Debatte, ob ein schwaches Deutschland im Interesse der USA liegen könne, schnell zugunsten eines stabilen demokratischen, pro‐ sperierenden, in europäische Strukturen eingebundenen Deutschlands be‐ endet (vgl. Brunn 2017). In den Jahren unmittelbar nach Ende des Krieges 1945 war das wirtschaft‐ liche Wachstum zunächst gering. Die Unsicherheit über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen war groß. Am Ende des Jahrzehnts änderte sich dies, die Eckdaten der neuen Wirtschaftsordnung wurden klarer. Die von den 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 27 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 27 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 27 19.10.2020 12: 32: 54 19.10.2020 12: 32: 54 <?page no="28"?> USA zur Verfügung gestellten Marshall-Plan-Mittel zeigten Wirkung, ins‐ besondere die Auflagen, die mit den Mitteln verknüpft waren, führten zu einer besseren Ressourcenallokation. Die Reorganisation der Volkswirt‐ schaften zugunsten ziviler Zwecke ermöglichte sichtbare Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen in Europa. Die Anwendung der techno‐ logischen Neuerungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubte deut‐ liche Fortschritte in der Arbeits- und Kapitalproduktivität. Zwischen 1947 und 1951 wuchs die Produktion in den Ländern Westeuropas, die Mar‐ shall-Plan-Mittel erhielten, um 55 % (vgl. Eichengreen 2007, S. 57). Die Entwicklung der europäischen Einigung in der Nachkriegszeit In vielen europäischen Ländern mehrten sich die Stimmen, dass eine nachhal‐ tige Lösung der wiederkehrenden Auseinandersetzungen in der Überwindung nationalstaatlicher Denkweisen besteht. Noch vor Ende des Krieges, im Jahr 1943, betonte einer der späteren Architekten der Europäischen Gemeinschaft, der Franzose Jean Monnet, dass die Staaten Europas einzeln nicht stark genug sein würden, Prosperität und soziale Entwicklung für die Menschen zu garan‐ tieren. Er forderte die Einigung Europas, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, er wünschte die Einführung einer föderalen politischen Ordnung (vgl. Gasteyger 2006, S. 52-85). Winston Churchill, von 1940-1945 und erneut von 1951-1955 Premierminister Großbritanniens, appellierte in einer Rede in Zü‐ rich 1946 an die europäischen Staaten, einen neuen Weg zu beschreiten und ein vereintes Europa zu schaffen. Churchill forderte die Etablierung „einer Art Ver‐ einigte Staaten von Europa“ (vgl. Gasteyger 2006, S. 43-45). Frankreich und Deutschland sollten die wesentlichen Treiber der europäischen Einigung sein, Großbritannien sah er allerdings nicht als Teil eines solchen Bündnisses (vgl. Schmidt 2000, S. 123-124). Auch die Auseinandersetzung zwischen Ost und West förderte auf beiden Seiten des Atlantiks die Vorstellung, dass Westeuropa nur gemeinschaftlich die Zukunft gestalten kann: In Westeuropa wuchs die Angst vor der sowje‐ tischen Bedrohung. Hinzu kam, dass kommunistische Parteien in vielen Ländern Westeuropas einflussreich waren. Vor diesem Hintergrund nahm auch in den USA die Unterstützung für ein europäisches Einigungsprojekt zu, sie wurde Teil der US-amerikanischen „Containment-Politik“. Die Idee einer europäischen Gemeinschaft gewann an Kraft und blieb doch umstritten: Die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen war (und ist) 1 Geschichte der europäischen Integration 28 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 28 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 28 19.10.2020 12: 32: 54 19.10.2020 12: 32: 54 <?page no="29"?> für Gesellschaften ein revolutionärer Schritt, zumal die Nationalstaaten meist mit einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur verknüpft sind. Auch war völlig unklar, welche Form eine Gemeinschaft annehmen könnte. Verständnisfrage Welche Veränderungen der Weltordnung und der europäischen Ord‐ nung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben den Cha‐ rakter der europäischen Einigung bestimmt? 1.3.2 Die 1950er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1950er-Jahren Gleich zu Beginn der 1950er-Jahre erinnerte der Koreakrieg von 1950 bis 1953 an die Herausforderungen, die aus der Konfrontation des Westens und Ostens erwuchsen. Die wachsende Bedrohung durch die militärische Macht der Sowjetunion wurde auch durch die Niederschlagung von Aufständen in der DDR im Jahr 1953 und in Ungarn im Jahr 1956 unterstrichen. Wirt‐ schaftlich waren die 1950er-Jahre eine Zeit des Aufschwungs, eine Zeit der „goldenen Jahre“. Das durchschnittliche Produktivitätswachstum je Arbeit‐ nehmer in den europäischen Staaten war hoch, wie die folgende Abb. 1 zeigt (vgl. Eichengreen 2007, S. 88): Abb. 1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Prozent, 1950-1960 6,4 5,89 4,31 3,98 2,51 Deutschland Italien Frankreich Niederlande Großbritannien Abb. 1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Pro‐ zent, 1950-1960. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 29 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 29 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 29 19.10.2020 12: 32: 55 19.10.2020 12: 32: 55 <?page no="30"?> Bessere institutionelle Rahmenbedingungen und die Vorteile aus der grund‐ sätzlich marktwirtschaftlichen Ressourcenallokation trugen ebenso zu dem Erfolg bei wie hohe private und öffentliche Investitionen, der Einsatz mo‐ derner Technologien und funktionsfähige industrielle Beziehungen (vgl. Ei‐ chengreen 2007, S. 85-88). Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1950er-Jahren Nach intensiven Vorarbeiten Jean Monnets schlug der französische Außen‐ minister Robert Schuman am 9. Mai 1950, exakt fünf Jahre nach Kriegsende in Europa, eine europäische Gemeinschaft vor, die zunächst auf eine sekto‐ rale Zusammenarbeit beschränkt werden sollte: Europa lasse sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammen‐ fassung. Es werde durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Er forderte eine enge europäische Kooperation der Kohle- und Stahlindustrie. Damit sollte die europäische Zusammenarbeit in einem für die Energieversorgung und den Wiederaufbau wichtigen Sektor beginnen. Hinzu kam, dass damit auch eine multilaterale Kontrolle der Waf‐ fenproduktion in den Mitgliedstaaten möglich war, eine mit Blick auf eine mögliche Wiederbewaffnung Deutschlands wichtige Komponente. Am 18. April 1951 wurde in Paris von den sechs Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) unterzeichnet. Die EGKS, auch als Montanunion bezeichnet, nahm offiziell am 01. 01. 1952 ihre Arbeit auf und sollte für die folgenden 50 Jahre die Rechtsbasis für die Zusam‐ menarbeit in diesem Sektor regeln. Eine „Hohe Behörde“ und ein „Minister‐ rat“ waren mit der Beschlussfassung betraut, während eine Parlamentarische Versammlung beratende Funktion hatte Die Mitglieder unterwarfen sich su‐ pranationaler Kontrolle, d. h. die geschaffenen Organe konnten verbindliche Beschlüsse fassen, denen sich die Mitgliedsländer beugen mussten. Nach diesem Erfolg der Integrationsbefürworter blieb der Weg zu weiteren aussichtsreichen Gemeinschaftsinitiativen jedoch beschwerlich: Im Jahr 1950 hatte Jean Monnet auch die Schaffung einer Europäischen Verteidi‐ gungsgemeinschaft vorgeschlagen, eine von der französischen Regierung unterstützte Idee einer gemeinsamen europäischen Armee (während die Mitgliedsländer mit Ausnahme Deutschlands weiterhin das Recht haben sollten, eine eigene Armee zu stellen). Der Vertrag zur Gründung wurde im 1 Geschichte der europäischen Integration 30 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 30 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 30 19.10.2020 12: 32: 55 19.10.2020 12: 32: 55 <?page no="31"?> Jahr 1952 von denselben sechs Mitgliedstaaten unterzeichnet, die auch die EGKS gebildet hatten. Die Initiative scheiterte jedoch, als im Jahr 1954 die französische Nationalversammlung die Ratifizierung verweigerte (vgl. Ba‐ che/ Bulmer/ George/ Parker 2015). Damit kam auch die Initiative zur Schaf‐ fung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zu einem abrupten Ende, ein von dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak vorangetriebenes und schon weitgediehenes Projekt. Dieses sollte die Europäische Verteidi‐ gungsgemeinschaft und die Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl eng verknüpfen und sah die gemeinsame Zuständigkeit für außenpolitische Belange und die Errichtung eines Gerichtshofes vor. Erfolg beschieden war jedoch dem Projekt der Schaffung einer engen Ko‐ operation in Wirtschaftsfragen. Im Jahr 1955 wurde im Rahmen einer Au‐ ßenministerkonferenz in Messina auf Sizilien die Arbeit an einem Vertrags‐ werk vereinbart, für das der belgische Außenminister Spaak verantwortlich zeichnete. Am 25. März 1957 wurde schließlich der Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichnet. Durch die Bildung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sollten, so heißt es in Artikel 2 des Vertrages, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine ausgewogene Wirtschaftsentwicklung, eine größere Stabilität und eine An‐ hebung des Lebensstandards erreicht werden. Und weiter heißt es in Artikel 3, dass Zölle abgeschafft und Hindernisse für den freien Personen-, Dienst‐ leistungs- und Kapitalverkehr beseitigt werden sollen. Eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurde verabredet, so auch die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Der Vertrag von Rom enthielt zahlreiche ambitionierte Zielvereinbarungen. Gleichzeitig und ebenfalls in Rom wurde in einem weiteren Vertrag die Gründung der Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) vereinbart. Die Mitgliedstaaten versprachen sich davon einen engen Austausch in Kern‐ energiefragen, höhere Versorgungssicherheit und ein gemeinsames Schul‐ tern der hohen Kosten der Entwicklung der Nukleartechnologie. Auch hier spielte der Gedanke eine Rolle, durch die enge Kooperation einen Miss‐ brauch der Technologie für militärische Zwecke zu verhindern. Mit der Schaffung der EGKS, der EWG und der EURATOM wurde ein Prozess der „Europäisierung“ in Gang gesetzt: Die Verhaltensweisen in den Mit‐ 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 31 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 31 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 31 19.10.2020 12: 32: 55 19.10.2020 12: 32: 55 <?page no="32"?> gliedstaaten nähern sich einem einheitlichen europäischen Standard an, den sie gemeinsam entwickeln und prägen. Die Entwicklung Europas in den 1950er-Jahren zeigte gleichzeitig den be‐ schwerlichen Weg der europäischen Integration, der auch in den folgenden Jahrzehnten den Ausbau prägen sollte: Kräften für mehr Integration standen starke Kräfte gegen die Ausweitung der Zusammenarbeit entgegen, Schrit‐ ten hin zu mehr Integration folgten Rückschläge. Integration war sowohl das Ergebnis internen Drucks als auch Ergebnis des Drucks von außen. Ob gewollt oder nicht, der Weg der europäischen Integration war durch Gra‐ dualismus geprägt. Hinzu kam, dass es keinen Konsens über die optimale Form der Kooperation gab. Box 1 | Idealtypische Vorstellungen über die Kooperation: ein föderales Europa oder intergouvernementale Zusammenarbeit europäischer Staaten Seit Beginn der europäischen Zusammenarbeit gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die beste Form und Intensität der Kooperation, speziell über die Organisation der Hoheitsgewalt, d. h. die Kompetenz‐ verteilung zwischen den Teileinheiten und dem sie umgreifenden Ge‐ samtverband, welche mit dem Gegensatzpaar Föderalismus und Inter‐ gouvernementalismus beschrieben wird. Der intergouvernementale Ansatz in der europäischen Integration sieht den Integrationsprozess als eine Zusammenarbeit von Staaten, bei der die Nationalstaaten im Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse verblei‐ ben. Entscheidungskompetenzen werden nicht an die oberhalb der Staa‐ ten angesiedelte europäische Ebene abgegeben, die Hoheitsrechte ver‐ bleiben bei den Staaten. Die Nationalstaaten können gemeinsame Entscheidungen treffen, Entscheidungen müssen aber einstimmig fal‐ len, die Souveränität wird nicht an die europäische Ebene delegiert. Es handelt sich hierbei nicht um einen Bundesstaat („federal state“), son‐ dern um einen Staatenbund („federation“). In einem intergouvernemental gestalteten System treiben die National‐ staaten die Entwicklung voran (vgl. Nugent 2017, Schmidt/ Schünemann 2013, S. 379-402). 1 Geschichte der europäischen Integration 32 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 32 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 32 19.10.2020 12: 32: 55 19.10.2020 12: 32: 55 <?page no="33"?> Der föderale Integrationsansatz zur europäischen Integration sieht hin‐ gegen das Ziel der Integration in einem europäischen Bundesstaat: Sou‐ veränität ist geteilt, einige staatliche Aufgaben werden von der euro‐ päischen, der dann „supranationalen“ Ebene wahrgenommen und verantwortet, es kommt zu einer Abtretung ausgewählter Hoheits‐ rechte, andere verbleiben bei den Nationalstaaten. Eine föderale politi‐ sche Ordnung schreibt eine bestimmte Form der vertikalen Gewalten‐ teilung fest. In einer Verfassung oder einem ähnlichen Dokument wird die Aufgabenverteilung zwischen der supranationalen und der natio‐ nalstaatlichen Ebene niedergeschrieben. Föderale Staaten wie Deutschland, die USA, Kanada oder die Schweiz haben die Aufgabenteilung zwischen den Ebenen sehr unterschiedlich geregelt. Allgemeine wirtschaftspolitische Aufgaben, außen- und si‐ cherheitspolitische Aufgaben werden typischerweise von der überge‐ ordneten Ebene verantwortet. Wie weit die Variabilität auf der zweiten Ebene geht, zeigen die unterschiedlichen Regelungen der Todesstrafe in den US-Staaten, Unterschiede in der Steuerpolitik, der Verkehrs- oder der Bildungspolitik der Gliedstaaten. Einige föderale Staaten waren das Ergebnis des Zusammenschlusses ur‐ sprünglich unabhängiger Staaten (z. B. Schweiz im Jahr 1848), in anderen Fällen sind sie das Ergebnis der gezielten Devolution wie etwa in Kanada oder Indien (vgl. Cini/ Solorzano-Borragan 2019). Schon die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft hatten unter‐ schiedliche Vorstellungen, wie diese ausgestaltet werden sollte. Jean Monnet war expliziter Befürworter eines föderalen Europas, die Überwindung na‐ tionalstaatlichen Denkens war ein wichtiges Motiv seines Handelns. Andere sahen die Zukunft Europas stets im Rahmen einer intergouvernementalen Zusammenarbeit. Die Verträge von Paris und Rom enthielten Elemente beider politischer Ord‐ nungsprinzipien. Dies gilt auch für die späteren Gemeinschaftsverträge. Die Europäische Union ist eine Institution „sui generis“. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 33 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 33 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 33 19.10.2020 12: 32: 56 19.10.2020 12: 32: 56 <?page no="34"?> 1.3.3 Die 1960er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1960er-Jahren Auch die 1960er-Jahre waren durch den Ost-West-Konflikt geprägt. Im Au‐ gust 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut, die Kubakrise 1962 brachte die Weltmächte an den Rand eines Atomkrieges, der Prager Frühling 1968 zeigte erneut, wie weit die Sowjetunion im Kampf um Dominanz in Osteuropa gehen würde, der Vietnamkrieg wurde als Stellvertreterkrieg verstanden, in Afrika und Asien kämpften die Großmächte mit Beginn der Dekolonialisie‐ rung um Einflusssphären (vgl. Laqueur 1992, S. 373-450). Gleichzeitig waren die 1960er-Jahre in Westeuropa weiter durch hohe Wachstumsraten geprägt, die Arbeitslosigkeit war in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gering. Die Handelsverflech‐ tung innerhalb der Gemeinschaft wuchs, auch der Handel mit den Ländern außerhalb der Gemeinschaft der sechs Staaten gewann an Bedeutung und ermöglichte erhebliche Wohlfahrtsgewinne. Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1960er-Jahren Während erneute Initiativen zur Vertiefung der politischen Integration scheiterten (Fouchet-Plan von 1961), entschieden die sechs Mitgliedstaaten der EWG, EGKS und EURATOM, die institutionellen Strukturen der drei Gemeinschaften zusammenzuführen. Am 8. April 1965 wurde in Brüssel der Vertrag zur Fusion der Exekutivorgane der drei Gemeinschaften unterzeich‐ net. Ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission wurden geschaffen, der Vertrag trat am 1. Juli 1967 in Kraft. Die Europäische Wirt‐ schaftsgemeinschaft bildete den Mittelpunkt der europäischen Zusammen‐ arbeit. Eine große Rolle spielte dabei die gemeinsame Agrarpolitik. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit der EWG war die Handelspolitik: 1968 wurden zwei wichtige Etappen auf dem Weg zur Zollunion geschafft. Am 1. Juli 1968 entfielen die Binnenzölle und ermöglichten damit den Freihandel zwischen den Mitgliedstaaten. Und gleichzeitig wurden der gemeinsame Zolltarif und damit eine echte Zollunion eingeführt (siehe auch das Kapitel zur Handelspolitik). Von handelspolitischer Bedeutung war ebenfalls das Abkommen mit den 18 sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) aus dem Jahr 1963, ein Schritt zur Vertiefung der Integration. 1 Geschichte der europäischen Integration 34 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 34 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 34 19.10.2020 12: 32: 56 19.10.2020 12: 32: 56 <?page no="35"?> Während Belgien, Deutschland, Italien, Frankreich, Luxemburg und die Nie‐ derlande, die Gründungsstaaten der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EURATOM, zunehmend anspruchsvollere Ziele formulierten, schlossen sich andere europäische Staaten zu einer Freihandelszone zusammen. Box 2 | Die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (European Free Trade Association EFTA) Sieben europäische Staaten gründeten 1960 die Europäische Frei‐ handelsassoziation (EFTA). Diese war dezidiert als reine Freihandels‐ zone geplant. Zölle für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten wur‐ den abgeschafft, Außenzölle für den Handel mit Nichtmitgliedern blieben im Verantwortungsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Gründungsmitglieder waren Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz, Finnland trat 1961 dem Bündnis bei, Island 1970. Irland, Großbritannien, Dänemark und Norwegen stellten 1961 bzw. 1962 den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft. Wegen grundsätzlicher Bedenken von französischer Seite gegen eine Mitgliedschaft Großbritanniens kam es in den 1960er-Jahren allerdings nicht zu einem Beitritt. 1.3.4 Die 1970er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1970er-Jahren Die 1970er-Jahre bedeuteten für drei Länder Westeuropas eine Hinwendung zu einer demokratischen Ordnung. In Griechenland endete die sogenannte Obristenherrschaft, eine von 1967 bis 1974 regierende Militärdiktatur. Auch in Portugal verlor die autoritäre Regierung im Jahr 1974 die Macht, die Nel‐ kenrevolution beendete die lange Phase des sogenannten Salazar-Regimes (Salazar selbst war bereits 1970 gestorben). Und der Tod Francos 1975 machte auch in Spanien den Weg für eine demokratische Ordnung frei (vgl. Laqueur 1992, S. 515-537). 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 35 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 35 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 35 19.10.2020 12: 32: 56 19.10.2020 12: 32: 56 <?page no="36"?> Die drastische Begrenzung der Produktionsmengen durch die erdölexpor‐ tierenden Länder im Nahen und Mittleren Osten in der Nachfolge zu dem Jom-Kippur-Krieg 1973 führten zu schweren Erschütterungen der Wirt‐ schaft Westeuropas und Nordamerikas. Der Anstieg der Ölpreise traf die Volkswirtschaften unvorbereitet. Die Inflationsraten stiegen in ganz Europa (Abb. 2). Die Ölpreissteigerungen erklären einen Teil dieser Entwicklung, die Aufgabe der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in den meisten europäischen Ländern war ein weiterer wichtiger Grund. Abb. 2: Inflationsrate in Westeuropa 1970 - 1980 (BIP-Deflator). Quelle: Darstellung auf Basis von Daten von UN Data (www.unstats.un.org) 5,5 6,7 6,9 8,7 11,8 13,2 10,8 8,9 9 7,9 11,5 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 Abb. 2: Inflationsrate in der Europäischen Union 1970-1980 in Westeuropa (BIP-De‐ flator) Quelle: Darstellung auf Basis von UN Data (www.unstats.un.org) In den 1970er-Jahren schien das Wachstumsmodell Europas an seine Gren‐ zen zu stoßen. Die hohen Kapitalrenditen der Nachkriegszeit, Ergebnis des Wiederaufbaus, der Bereitstellung zusätzlicher Produktionsfaktoren und des Einsatzes vorhandenen Wissens kamen genauso zu einem Ende wie die Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Im Ergebnis flachte das Wachstum in den 1970er-Jahren deutlich ab. Während zwischen 1962 und 1969 die Volkswirtschaften der 15 europäischen Länder (Mitglieds‐ länder der EU seit 1995) durchschnittlich real um 4,8 % gewachsen waren, stieg die Leistung in der Zeit von 1970 bis 1982 im Jahresdurchschnitt nur um 2,8 %. Die Arbeitslosigkeit nahm zu: Noch in den 1960er-Jahren lag die Quote bei rund 2 % und stieg in den 1970er-Jahren sukzessive auf mehr als 5 % an. 1 Geschichte der europäischen Integration 36 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 36 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 36 19.10.2020 12: 32: 56 19.10.2020 12: 32: 56 <?page no="37"?> Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1970er-Jahren 1973 kam es zur ersten Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft. Großbritannien, Irland und Dänemark traten der Gemeinschaft bei. Auch Norwegen hatte den Antrag gestellt, in einem Referendum lehnte al‐ lerdings die Bevölkerung des Landes die Mitgliedschaft mehrheitlich ab. Mit dem Beitritt wuchs die Gemeinschaft auf neun Mitgliedsländer. Damit kam die Mitgliedschaft Großbritanniens, Irlands und Dänemarks in der EFTA zu einem Ende, die Assoziation verlor als Alternativmodell zur europäischen Gemeinschaft an Bedeutung. In ausgewählten Bereichen kam es in den 1970er-Jahren zu einer Vertiefung der Zusammenarbeit. Gleichzeitig wurden der Europäischen Wirtschafts‐ gemeinschaft neue Aufgaben übertragen: Die EWG zeichnete fortan für umweltpolitische Fragen verantwortlich, ein Regionalfonds zur Förderung des Lebensstandards in unterentwickelten Regionen war 1974 ein wichtiger Schritt zur Schaffung einer Regional- oder auch Kohäsionspolitik. Die Au‐ ßenbeziehungen mit 46 Entwicklungsländern wurden im Rahmen des Lomé-Vertrages geordnet. Insbesondere im Bereich der Währungspolitik war die EWG gefordert, die Zusammenarbeit neu zu ordnen. Der Zusammenbruch des über 25 Jahre währenden Systems fester Wechselkurse mit gegenüber dem US-Dollar fixierten Paritäten führte in Europa zu intensiven Diskussionen über Vor‐ teile und Nachteile flexibler Kurse und Möglichkeiten einer europäischen Währungskooperation. Erste Ideen für eine einheitliche Währung wurden erarbeitet (Werner-Plan). Die Mitgliedsländer der Europäischen Wirt‐ schaftsgemeinschaft entschieden sich 1972 für eine Koordination der Pa‐ ritäten ihrer Währungen im Rahmen des Europäischen Wechselkursver‐ bundes. Zentralbanken der beteiligten Länder garantierten die fest vereinbarten Paritäten und unterstützten sich gegenseitig bei den not‐ wendigen Interventionen und der Verteidigung der Kurse. Dies mündete schließlich in der Errichtung des Europäischen Währungssystems im Jahr 1979. Die europäische Währungseinheit ECU wurde geschaffen und war Bezugspunkt für die Berechnung der Paritäten, von denen die Währungen im Normalfall um 2,25 % nach oben oder unten abweichen konnten, bevor Interventionen ausgelöst wurden. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 37 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 37 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 37 19.10.2020 12: 32: 56 19.10.2020 12: 32: 56 <?page no="38"?> 1.3.5 Die 1980er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1980er-Jahren Auch die 1980er-Jahre waren vom Kalten Krieg geprägt. Sowjetische Trup‐ pen waren im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert. Die Rüstungs‐ ausgaben nahmen auf beiden Seiten des Ost-West-Konfliktes zu. In Polen zeigten sich mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc deutliche Spannungen des totalitären Systems. Ende des Jahrzehnts kam es schließlich zum Kollaps der kommunistischen Ordnung. Währenddessen war das Wirtschaftswachstum in Westeuropa weiter abge‐ flacht. Die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes zwischen 1980 und 1990 lag bei 2,3 %, während jene Veränderungsraten für die USA und Japan deutlich höher lagen. Das Jahrzehnt war von der Diskussion über die Rolle des Staates geprägt: Mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien standen Personen an den Spitzen der beiden Länder, die umfassende Refor‐ men der marktwirtschaftlichen Ordnung einforderten. Weniger staatliche Koordinierung, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Senkung der Steu‐ erlast waren wesentliche Themen der Debatte, mit erheblichen mittelfristi‐ gen Auswirkungen auf die Umgestaltung der Wirtschaftspolitik in westli‐ chen Industrieländern. Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1980er-Jahren 1981 kam es zur zweiten Erweiterung der EWG. Griechenland wurde neues Mitglied. In der dritten Erweiterung kamen am 1. Januar 1986 Spanien und Portugal hinzu, die Zahl der Mitglieder war somit auf 12 angestiegen. Zwar hatten die Mitgliedstaaten der EWG den Freihandel auf den Güter‐ märkten grundsätzlich verwirklicht und auch die Zölle für den Warenver‐ kehr mit Drittländern vereinheitlicht, die europäischen Länder hatten sich jedoch bereits im Vertrag von Rom anspruchsvollere Ziele gesteckt, die Ko‐ operation sollte weit über eine Freihandelszone hinausgehen. 1 Geschichte der europäischen Integration 38 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 38 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 38 19.10.2020 12: 32: 57 19.10.2020 12: 32: 57 <?page no="39"?> Im Jahr 1986 verabredeten die Mitgliedsländer der Europäischen Wirt‐ schaftsgemeinschaft in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ einen echten Binnenmarkt zu schaffen, d. h. einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem die „vier Freiheiten“, der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet sind. Das Zieldatum für die Erreichung dieser Freiheiten war der 31. Dezember 1992. Durch die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel sollten die nationalen und bis dahin fragmentierten Märkte zu einem einheitlichen gemeinsamen Markt verschmelzen. In der Folge wurden zahl‐ reiche Maßnahmen beschlossen, physische, technische und steuerliche Hin‐ dernisse wurden beseitigt. Verknüpft mit der Idee des freien Personenverkehrs war das Ziel der Ab‐ schaffung der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen das nach dieser Stadt bezeichnete Schen‐ gen-Abkommen unterzeichnet, an dem sich einige, aber nicht alle Mitglieder der europäischen Gemeinschaft beteiligten: Das Abkommen gilt als ein Bei‐ spiel für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Box 3 | Europa der zwei Geschwindigkeiten Die Grundidee der Europäischen Gemeinschaft bestand in dem Aus‐ handeln gemeinsamer Integrationsschritte, die von allen Mitgliedslän‐ dern grundsätzlich gleichzeitig vollzogen werden. Je mehr Länder Mit‐ glieder einer Gemeinschaft und je heterogener die Gegebenheiten und Interessen sind, desto schwieriger ist es, Integrationsvorhaben zu ver‐ abreden, die den Präferenzen und Möglichkeiten aller Mitgliedsländer entsprechen. Seit den 1980er-Jahren mehren sich die Vorschläge, in aus‐ gewählten Bereichen Mitgliedern der Gemeinschaft die Entscheidung zu überlassen, einen Integrationsschritt später zu vollziehen, und damit zwei oder mehr Gruppen zu haben, welche die Integration mit unter‐ schiedlicher Geschwindigkeit vollziehen. Das Schengen-Abkommen und die Einführung des Euros sind die bekanntesten Beispiele für die Vereinbarung einer vertieften Integration, die aber zunächst nur von einer kleineren Gruppe umgesetzt wird. Getrennt davon handelt es sich bei dem Konzept „Europa à la carte“ um die Idee, dass Mitgliedstaaten auch dauerhaft unterschiedliche Integrationswege beschreiten. Statt 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 39 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 39 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 39 19.10.2020 12: 32: 57 19.10.2020 12: 32: 57 <?page no="40"?> stets gemeinsam voranzuschreiten, wählen Länder jene Bereiche aus, in denen die Integration gewollt wird. Dem gegenüber steht die Möglichkeit, eine einmal vorgenommene In‐ tegration wieder rückgängig zu machen und im Extrem sogar den Aus‐ tritt aus der EU (Art. 50 EUV) vorzusehen. Die Heterogenität der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Europäi‐ schen Wirtschaftsgemeinschaft, von Unterschieden in der Ausstattung mit Produktionsfaktoren, der Einbindung in die Weltwirtschaft und der wirt‐ schaftspolitischen Ausrichtung hatte erhebliche Spannungen innerhalb des Europäischen Währungssystems zur Folge. Währungsparitäten wurden temporär ausgesetzt, Paritäten wurden wiederholt angepasst, Regierungen stritten über die richtige Wirtschaftspolitik, wie dies Anfang der 1980er-Jahre zwischen Deutschland und Frankreich der Fall war, bevor schließlich der Franc abwertete, die DM aufwertete und die französische Regierung zu einer fiskalisch konservativen austeritätsorientierten Politik wechselte (vgl. Eichengreen 2007, S. 286-290). Verständnisfrage Was sind die Vorteile eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, was sind die Nachteile? 1.3.6 Die 1990er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1990er-Jahren Die 1990er-Jahre waren durch die historische Umwälzung in Osteuropa ge‐ prägt (Delouche 2012, S. 416-430). Staaten, die bis dahin kommunistisch regiert wurden, erhielten die Freiheit, sich für Demokratie und Marktwirt‐ schaft zu entscheiden. Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit voll‐ zogen, die Zahl der Bürger der Gemeinschaft wuchs um 20 Millionen. In Polen wurde 1990 der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende Lech Walesa zum Präsidenten des Landes gewählt. Auch Litauen, Lettland und Estland, die ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, entschieden sich für Demokratie und Rechtsstaat. Die Tschechoslowakei spaltete sich 1993 in die Slowakei 1 Geschichte der europäischen Integration 40 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 40 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 40 19.10.2020 12: 32: 57 19.10.2020 12: 32: 57 <?page no="41"?> und die Tschechische Republik auf, beide Länder führten demokratische Strukturen ein. Ungarn ging einen friedlichen Weg zur Demokratie. Die Aufteilung Jugoslawiens verlief hingegen dramatisch. Nur nach heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch die Außenpolitik der Euro‐ päischen Union an die Grenzen der damaligen Leistungsfähigkeit führte, entstanden schrittweise die Staaten Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Maze‐ donien, Montenegro, Serbien und Slowenien und mit großer zeitlicher Ver‐ zögerung Kosovo (vgl. Delouche 2011, S. 424-431). Mit den Veränderungen in Osteuropa und dem Ende der sowjetischen Vor‐ herrschaft in Osteuropa war der Kalte Krieg beendet. Rüstungsausgaben konnten in allen Ländern zurückgefahren werden, der Anteil der Rüstungs‐ ausgaben am BIP sank in der Europäischen Union von 2,7 % im Jahr 1990 auf 1,9 % im Jahr 2000. Das Wachstum der Volkswirtschaften der Europäischen Union schwächte sich währenddessen weiter ab. Der Abstand zwischen den Ländern der EU und den USA weitete sich aus, die Wachstumsraten der USA waren in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren höher als in Westeuropa. In der Folge wurde in den 1990er-Jahren intensiv über die Zukunft des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells diskutiert. Box 4 | Diskussion über „Spielarten der Marktwirtschaft“ Es gibt verschiedene Varianten der Marktwirtschaft. Sie unterschei‐ den sich hinsichtlich ihrer Corporate-Governance-Systeme und des Selbstverständnisses des unternehmerischen Sektors, der industriellen Beziehungen, der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung, der Rolle des Finanzsystems, der Koordination zwischen dem Staat und der Zivil‐ gesellschaft und anderes mehr. Der Franzose Albert brachte dies auf die häufig zitierte Formel „angelsächsische Form des Kapitalismus“ oder „Rheinischer Kapitalismus“ (vgl. Turowski 2006, S. 32-35). Das angelsächsische Modell basiert auf einer eindeutigen liberalen Orien‐ tierung. Ihm wird eine Offenheit für radikale Innovationen und schnelle strukturelle Änderungen zugeschrieben. Das Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ hingegen wird als ein System beschrie‐ ben, welches gesellschaftliche Kompromisse aushandelt, durch eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Orientierung geprägt ist und dem Staat 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 41 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 41 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 41 19.10.2020 12: 32: 57 19.10.2020 12: 32: 57 <?page no="42"?> und der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle in der Koordination der Politik zuweist. Ihm wird eine Neigung zu inkrementellen Innovatio‐ nen nachgesagt (vgl. Eichengreen 2007). Eine andere Unterscheidung, die ebenfalls eine Dichotomie kapitalis‐ tischer Ordnungen betont, stellt „liberale Marktwirtschaften“ wie die USA oder Großbritannien den „koordinierten Marktwirtschaften“ wie Deutschland, Frankreich oder Japan gegenüber. In dem „varieties of capitalism“-Konzept werden die vielfältigen Ausgestaltungsmöglich‐ keiten marktwirtschaftlicher Systeme untersucht (vgl. Hall/ Soskice 2001). Wichtig, aber gegenwärtig unbeantwortet bleibt die Frage, ob es die ge‐ nerelle Überlegenheit des einen oder anderen Systems gibt, und wie die Systeme in Zeiten der Globalisierung mit den Herausforderungen um‐ gehen (vgl. Hall 2015). Obgleich eine gewisse Konvergenz der Systeme unbestritten ist, bleibt offen, wie weit diese Konvergenz gehen soll bzw. gehen wird. In Westeuropa war diese Diskussion Ergebnis der Wachstumsraten der Volkswirtschaften, der Arbeitslosigkeit in vielen Ländern und wachsender Belastungen für öffentliche Haushalte (vgl. Eichengreen 2007, S. 382-384). In Osteuropa mussten sich die Staaten nach der Öffnung entscheiden, wie sie ihre Sozialsysteme, Unternehmensverfassungen, Finanzsysteme, ihr Staatswesen ordnen wollten. Die staatlichen Strukturen waren grundlegend diskreditiert (gleichwohl in vielen Ländern weiterhin sehr einflussreich) und wurden von der Bevölkerung mit großer Skepsis gesehen. Andererseits wa‐ ren die Erwartungen an die soziale Absicherung in vielen Ländern groß, zumal das Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu westeuropäischen Ländern im Durchschnitt weniger als 30 % betrug und durch die Transformation zu‐ nächst weiter einbrach. 1 Geschichte der europäischen Integration 42 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 42 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 42 19.10.2020 12: 32: 58 19.10.2020 12: 32: 58 <?page no="43"?> Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1990er-Jahren Das Binnenmarktprojekt, welches Mitte der 1980er-Jahre gestartet wurde, zeigte Erfolge, der Abbau weiterer Hemmnisse, die Umsetzung der vier Frei‐ heiten kam voran und wurde offiziell als erreicht verkündet (vgl. Brunn 2017). Die Länder der Europäischen Gemeinschaft reagierten auf die politischen Umwälzungen in Europa mit einer umfassenden Reform der Institution. In dem Vertrag von Maastricht, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde und 1993 in Kraft trat, wurde das Spektrum der gemeinschaftlich verantworteten Politikfelder ausgeweitet. Die Kooperation im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde ebenso wie jene im Bereich der Innenpolitik und Justiz in den Aufgabenkatalog des Integrationsbünd‐ nisses aufgenommen („Drei-Säulen-Struktur“). Mit dem Vertrag von Maas‐ tricht wurde „Europäische Union“ der offizielle Name (vgl. Delouche 2012, S. 418-431). Der Maastricht-Vertrag enthielt auch den Beschluss, eine gemeinsame Wäh‐ rung zu schaffen. In kurzer Zeit wurde dieses anspruchsvolle Integrations‐ projekt umgesetzt. Das Europäische Währungsinstitut und schließlich das Europäische System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank (EZB) wurden geschaffen und die gemeinsame Währung am 1. Januar 1999 eingeführt. 1995 kam es zur vierten Erweiterungsrunde. Österreich, Finnland und Schweden wurden am 1. Januar 1995 Mitglieder der Europäischen Union. Vor dem Hintergrund der historischen Transformation in Osteuropa stellten zehn Länder Osteuropas in den Jahren 1994 bis 1996 Anträge auf Mitglied‐ schaft in der Europäischen Union. Box 5 | Gibt es eine optimale Größe der EU? Auch wenn ein numerischer Wert für die ökonomisch wünschenswerte Zahl an Mitgliedsländern der EU nicht a priori angegeben werden kann, können aus der Theorie der Clubs (vgl. Buchanan 1965) Hinweise ab‐ geleitet werden, wie die optimale Größe einer Gemeinschaft bestimmt werden kann. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 43 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 43 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 43 19.10.2020 12: 32: 58 19.10.2020 12: 32: 58 <?page no="44"?> N, K N‘, K‘ Mitgliederzahl (M) Mitgliederzahl (M) N K M 0 M* M* K‘ N‘ Abb. 3: Clubtheorie - optimale Mitgliederzahl bei gegebener Clubgröße In Abb. 3 wird dies am Beispiel eines Tennisvereins für eine gegebene Ausstattung (Clubhaus, Anzahl an Tennisplätzen) illustriert (vgl. Leach 2006, S. 188 ff.). Ist die Mitgliederzahl (M) noch gering, wird sich der individuelle Nutzen (N) eines Clubmitglieds mit zunehmender Mitglie‐ derzahl zunächst erhöhen, da die Chance steigt, geeignete Partner ver‐ gleichbarer Spielstärke zu finden. Bei Überschreiten eines bestimmten Schwellenwertes (M 0 ) für die Mitgliederzahl vermindert sich der Nutzen jedes Clubmitglieds, weil etwa Plätze zu den gewünschten Spielzeiten schon reserviert sind. Für eine gegebene Anzahl an Vereinsmitgliedern gilt umgekehrt, dass der Nutzen jedes Mitglieds mit zunehmender Club‐ ausstattung steigt: Ein Ausweichen auf weniger präferierte Termine ist nicht erforderlich, je mehr Tennisplätze zur Verfügung stehen. Der Nut‐ 1 Geschichte der europäischen Integration 44 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 44 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 44 19.10.2020 12: 32: 58 19.10.2020 12: 32: 58 <?page no="45"?> zenzuwachs eines weiteren Tennisplatzes für ein Clubmitglied dürfte allerdings mit zunehmender Clubgröße abnehmen. Hängen die Kosten des Tennisclubs proportional von der Clubausstat‐ tung ab, gilt bei gleicher Aufteilung der Clubkosten auf die Mitglieder‐ zahl, dass die auf jedes Mitglied entfallenden Kosten (K) mit zunehmen‐ der Mitgliederzahl sinken. Die optimale Mitgliederzahl (M* ) eines Clubs gegebener Größe ist er‐ reicht, wenn die Differenz zwischen den individuellen Nutzen und Kos‐ ten maximal ist. Dies ist im Schnittpunkt von Grenznutzen (N') und Grenzkosten (K') der Fall (vgl. Klump 2013, S. 294-297). Der Ansatz lässt sich modifiziert für die beiden Dimensionen optimale Mitgliederzahl und optimale Integrationstiefe auf die EU übertragen. Die Union bietet Clubgüter (z. B. Handelsintegration) an, die ausschließlich den Mitgliedern zur Verfügung stehen. Die Vorteile der Bereitstellung dieser Güter sind umso ausgeprägter, je mehr Mitgliedsländer beteiligt sind. Ist die Handelsintegration schon weit fortgeschritten, dürften nur noch geringere Handelszuwächse aus einer Erweiterung der Union er‐ wartet werden. Demgegenüber stehen die Kosten der Aufnahme weite‐ rer Mitgliedsländer, da der Abstimmungsprozess innerhalb der EU kom‐ plizierter wird und die Entscheidungskosten umso höher sind, je stärker die Präferenzen der Mitgliedsländer divergieren. Da das Clubgut Han‐ delsintegration die Form der Zollunion wie darüber hinaus auch des Binnenmarktes annehmen kann, lässt sich für alternative Vertiefungs‐ grade eine optimale Mitgliederzahl wie für alternative Mitgliederzahlen eine optimale Integrationstiefe bestimmen (vgl. Ohr 2007, Schemm-Gre‐ gory 2010). Die EU beschloss auf einem Gipfel in Dänemark die anzuwendenden Krite‐ rien für die Aufnahme neuer Mitglieder, die „Kopenhagen-Kriterien“: Erfüllt sein müssen das ■ Politische Kriterium: institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderhei‐ ten. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 45 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 45 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 45 19.10.2020 12: 32: 58 19.10.2020 12: 32: 58 <?page no="46"?> ■ Wirtschaftliche Kriterium: funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften inner‐ halb der Union standzuhalten. ■ Acquis-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsen‐ den Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu ma‐ chen. Sogenannte Europaabkommen, die zwischen 1995 und 1998 in Kraft traten, regelten die Zusammenarbeit mit den Ländern Osteuropas und mit einer Vielzahl von Hilfsprogrammen begleitete die EU den Transformationspro‐ zess. 1.3.7 Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts Die politische und wirtschaftliche Entwicklung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes gehörte die alte politische Ordnung und Konfrontation der Vergangenheit an, Staaten und Bündnisse suchten nach einem adäquaten Rollenverständnis. Dass aber nicht nur traditionelle militärische Konflikte, sondern auch terroristische Akte bedrohlich werden können, machte der Anschlag am 11. September 2001 deutlich. Auch Europa war gefordert, die eigene Rolle in der Weltpolitik zu klären. Dies galt ins‐ besondere für die eigenen Nachbarregionen wie Russland, Zentralasien, Na‐ her Osten und Nordafrika. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 führte zu den höchsten Rückgängen der Wirtschaftsleistung in den Industriestaaten seit der großen Depression 1929. Die Wirtschaftsleistung in der EU-27 sank im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr um 4,3 %, in den Ländern des Baltikums gar um mehr als 14 %. Allein Polen konnte eine positive Wachstumsrate verzeichnen. Die Rettung der Banken bzw. Bankensysteme, die Ausweitung fiskal- und sozialpolitischer Programme trieb die Staatsverschuldung in die Höhe. In zwölf Staaten der Europäischen Union lag die Staatsverschuldung im Jahr 2010 über dem Schwellenwert von 60 % des BIP. 1 Geschichte der europäischen Integration 46 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 46 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 46 19.10.2020 12: 32: 59 19.10.2020 12: 32: 59 <?page no="47"?> Die Entwicklung der europäischen Einigung in dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Europäische Union erkannte einen erheblichen Reformbedarf der Wirt‐ schafts- und Sozialordnung an. Im Jahr 2000 wurde daher die „Lissabon-Stra‐ tegie“ verabschiedet, ein Strategiepapier, das die Maßnahmenbereiche be‐ schrieb, welche angegangen werden sollten, um die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu erhöhen. Das Ziel war wenig bescheiden be‐ schrieben. Die Union sollte zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ werden, ein Wirtschafts‐ raum sollte entstehen, „der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zu‐ sammenhalt zu erzielen“ (Europäischer Rat 2000). Gleichzeitig enthielt die Lissabon-Strategie ein eindeutiges Bekenntnis zu einem Europa, welches grundsätzlich an den gewachsenen Wertvorstellungen und institutionellen Strukturen festhält, diese aber weiterentwickelt. Am 1. Mai 2004 schließlich erfolgt die große Osterweiterung der Europäi‐ schen Union. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, die fünf mitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn, Slowenien, die Slowakei und Tschechien und die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern wurden Mitglied der Europäischen Union. Im Jahr 2007 stießen die beiden osteuro‐ päischen Staaten Bulgarien und Rumänien ebenfalls hinzu. Die EU umfasste damit 27 Mitgliedsländer, die Zahl der Einwohner betrug 500 Millionen. Die Reform der Europäischen Union im Rahmen des Vertrages von Nizza, am 26. Februar 2001 unterzeichnet und am 1. Februar 2003 in Kraft getreten, war nur ein kleiner, generell als unzureichend eingeschätzter Schritt auf dem Weg, die Europäische Union den neuen Herausforderungen anzupassen. Im Jahr 2003 entschieden sich die Mitglieder für die Einberufung eines Konvents zur Zukunft der Europäischen Union. Dieser schlug nach intensiven Bera‐ tungen eine Reform der Europäischen Union vor. Eine „Europäische Ver‐ fassung“ wurde von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Diese wurde jedoch in der Nachfolge in den zwei Gründerstaaten Frankreich und Niederlande von der Bevölkerung abgelehnt. Eine Überarbeitung der ge‐ planten Strukturen und Dokumente führte schließlich zum Lissabon-Ver‐ trag, der unterzeichnet wurde und seit 2009 die rechtliche Grundlage für die Kooperation darstellt. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 47 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 47 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 47 19.10.2020 12: 32: 59 19.10.2020 12: 32: 59 <?page no="48"?> Die Einführung des Euros wurde zu Beginn des Jahrzehnts als erfolgreich eingeschätzt, der Tenor der Feierlichkeiten anlässlich des zehnjährigen Ju‐ biläums der Einführung im Jahr 2009 war überwiegend positiv. Die Inflati‐ onsrate in der Eurozone lag zwischen 2000 und 2010 stets unter 2,5 %. Auch der Außenwert erwies sich als stabil, die anfängliche Abwertung gegenüber dem US-Dollar im Jahr 2000 war von kurzer Dauer. Ende des Jahrzehnts zeigte sich jedoch, dass externe Schocks, die Mitgliedstaaten ganz unter‐ schiedlich treffen, eine Zone mit einheitlicher Währung an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führen. 1.3.8 Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Im Zuge der Ukraine-Krise mit der russischen Invasion der Krim im März 2014 erreichen die Ost-West-Beziehungen einen neuen Tiefpunkt. Wechsel‐ seitige Schuldzuweisungen, Visaverbote, Vermögenseinfrierungen, gegen‐ seitige Wirtschaftssanktionen und weitere Schritte wie der Ausschluss Russ‐ lands von den G8-Treffen kennzeichnen das schwierige Verhältnis; vor einer Rückkehr zur Epoche des Kalten Krieges wird gewarnt. Box 6 | Östliche Partnerschaft der EU Im Zuge der im Jahr 2009 beschlossenen „Östlichen Partnerschaft“ zwi‐ schen der EU und den Nachbarstaaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan kam es seit 2013 zu schweren Verwerfungen mit Russland. Der Verzicht auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine nach russischer Einflussnahme führte dazu, dass sich in Kiew und den pro westlichen Landesteilen Widerstand gegen die Regierung formierte („Euromaidan“). Den Umsturz in der Ukraine nahm Russland zum Anlass, die Krim zu annektieren und durch Unterstützung der Sepa‐ ratisten die Ostukraine zu destabilisieren. Nach dem Scheitern der Frie‐ densbemühungen auf der Grundlage des Protokolls von Minsk (Minsk I) wurde mit dem Abkommen vom 12. Februar 2015 (Minsk II) erneut ver‐ einbart, den Kriegszustand in der Ostukraine zu beenden. Der Waffen‐ stillstand ist allerdings brüchig (vgl. Europäisches Parlament 2015). 1 Geschichte der europäischen Integration 48 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 48 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 48 19.10.2020 12: 32: 59 19.10.2020 12: 32: 59 <?page no="49"?> Auch aktuell ist eine Verständigung zwischen den Konfliktparteien nicht absehbar. Das wichtigste Instrument der Annäherung zwischen der Ukraine und der EU stellt das Assoziierungsabkommen dar, dessen wirtschaftlicher Teil das vertiefte und umfassende Freihandelsabkom‐ men (deep and comprehensive free trade area) ist. Das Abkommen ist am 1. September 2017 vollständig in Kraft getreten. Entsprechende Ver‐ träge mit Georgien und der Republik Moldau sind seit 1. Juli 2016 in Kraft. Über eine Vertiefung der Beziehungen mit den anderen Partner‐ ländern, die keine EU-Assoziierung anstreben, wird verhandelt. Mit Ar‐ menien, das 2015 der Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten ist, wurde ein erweitertes Rahmenabkommen 2017 unterzeichnet. Verhand‐ lungen über ein Rahmenabkommen mit Aserbaidschan haben Anfang Februar 2017 begonnen. Gegenüber Belarus findet eine behutsame Ver‐ tiefung der „Politik des kritischen Engagements“ durch die EU statt (vgl. Auswärtiges Amt 2019, Europäischer Rat/ Rat der Europäischen Union 2019). Durch die Unruhen in mehreren nordafrikanischen Ländern, Unterdrü‐ ckung und Gewalt in einigen Subsahara-Staaten, den Bürgerkrieg in Syrien und die Bedrohung durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ sieht sich Eu‐ ropa wachsenden Flüchtlingsströmen gegenüber. Die Flüchtlinge gelangen ungesteuert und unkontrolliert auf dem Landweg über die Türkei, Grie‐ chenland und über die Balkanroute in die Zielländer oder auf dem in Schlepperbooten lebensgefährlichen Seeweg über das Mittelmeer vor allem nach Italien und Malta. Unterschiedliche Interessen zwischen den östlichen und westlichen Mitgliedsländern der EU wie innerhalb der westlichen Staa‐ ten erschweren eine einvernehmliche und solidarische Lösung der Flücht‐ lingskrise. Grenzziehungen und Grenzkontrollen innerhalb Europas bedro‐ hen die Freizügigkeit des Personenverkehrs in der EU und fördern die Renationalisierung Europas. Mit dem Ziel, die illegale Migration über die Ägäis nach Europa einzudämmen, wurde zwischen der EU und der Türkei ein Flüchtlingsabkommen (Erklärung EU-Türkei vom 18. März 2016) getrof‐ fen, das insbesondere Vereinbarungen zur Rückführung und Verteilung bzw. Austausch von Flüchtlingen enthält. Im Gegenzug wurden der Türkei Zu‐ geständnisse bei Visa-Liberalisierungen sowie den EU-Beitrittsgesprächen in Aussicht gestellt und Finanzhilfen zur Versorgung der Menschen in den 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 49 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 49 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 49 19.10.2020 12: 32: 59 19.10.2020 12: 32: 59 <?page no="50"?> Flüchtlingslagern zugesichert. Für eine dauerhafte Bewältigung der Migra‐ tionskrise, die an den Fluchtursachen ansetzt, ist die Kooperation der EU mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge und den Transitstaaten unerlässlich. In der Türkei scheitert Mitte des Jahres 2016 ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen die Regierung, der mit der Verhängung des Ausnahmezu‐ stands weitreichende Durchgriffsrechte zur Verfügung stehen. Angesichts der massiven Verhaftungs- und Entlassungswelle in weiten Teilen der Gesell‐ schaft wird angemahnt, Rechtsstaatlichkeit und die Prinzipien der Europäi‐ schen Menschenrechtskonvention einzuhalten. Mit Annahme des Referen‐ dums zur Verfassungsänderung (16. April 2017) ist der Umbau des politischen Systems in der Türkei zu einem autokratischen Präsidialsystem beschlossen. Mit der Inauguration des neuen amerikanischen Präsidenten im Januar 2017 ist eine Wende in den transatlantischen Beziehungen verbunden. Die Strate‐ gie des „Amerika zuerst“ beinhaltet, dass die Interessen von Amerikanern und Europäern nicht mehr deckungsgleich sind. Dies betrifft sowohl die Positio‐ nen in der Außen- und Sicherheitspolitik, was die USA als globale Ordnungs‐ macht oder die Relativierung der NATO angeht, wie in der Wirtschaftspoli‐ tik, wenn anstelle von Freihandel mehr auf Isolation und Protektionismus gesetzt wird. Auch in anderen Politikfeldern wie z. B. in der Klimapolitik mit dem Ausscheren der USA aus dem Pariser Klimaabkommen (zum Ende 2020) wird die internationale Zusammenarbeit erschwert. In Reaktion auf diese Entwicklungen wird ein stärkerer Zusammenhalt in Europa beschworen. Box 7 | „America first“ We assembled here today are issuing a new decree to be heard in every city, in every foreign capital, and in every hall of power. From this day forward, a new vision will govern our land. From this moment on, it’s going to be America First. Every decision on trade, on taxes, on immigra‐ tion, on foreign affairs, will be made to benefit American workers and American families. We must protect our borders from the ravages of other countries making our products, stealing our companies, and destroying our jobs. Protection will lead to great prosperity and strength. Quelle: The White House President Donald J. Trump (2017) 1 Geschichte der europäischen Integration 50 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 50 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 50 19.10.2020 12: 33: 00 19.10.2020 12: 33: 00 <?page no="51"?> Im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel haben sich 195 Vertragspart‐ ner im Übereinkommen von Paris darauf geeinigt, langfristig den Anstieg der Erderwärmung auf deutlich unter 2 ° C (möglichst 1,5 ° C) zu begrenzen. Dies geht einher damit, den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid zu reduzieren. So ist der Ausbau regenerativer Energien und eine effiziente Energieversorgung ebenso erforderlich wie Maßnahmen insbesondere in den Sektoren Verkehr, Land- und Forstwirtschaft oder Bauwesen. Anders als die USA hat die EU im Vorfeld der Klimakonferenz 2019 in Madrid das Erreichen von Klimaneutralität (European Green Deal) bis Mitte des 21. Jahrhunderts angekündigt (vgl. Europäische Kommission 2019). Weltwirtschaftlich bildeten sich Staaten, die noch in den 1980er- und 1990er-Jahren durch Schuldenkrise, niedrige Wachstumsraten und Unter‐ entwicklung geprägt waren, zu machtvollen Volkswirtschaften heraus. Be‐ sonders China ist bestrebt, mit seiner Strategie der „Neuen Seidenstraße“ ein über Kontinente übergreifendes Handelsnetzwerk zwischen Asien, Afrika und Europa zu schaffen und seinen geopolitischen Einfluss auszubauen. Das Treffen der G8-/ G7-Staaten wurde um das Treffen der G20-Staaten ergänzt, da zunehmend internationale Übereinkommen nicht mehr ohne einige er‐ folgreiche Schwellenländer konsensfähig waren und sind. Währenddessen kämpften die westlichen Industrieländer mit den Folgen der Wirtschafts‐ krise. In den USA gab es massive fiskalpolitische und geldpolitische Inter‐ ventionen: Die Staatsverschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt wuchs stark an. Die Zentralbank der USA stützte mit massiven Käufen von Staatsanleihen die konjunkturelle Entwicklung. In Europa war der fiskal‐ politische Impuls geringer, auch die geldpolitische Intervention war zu‐ nächst deutlich zurückhaltender und änderte sich erst im Verlauf der Krise, die zu einer Krise der gemeinsamen Währung mutierte. Um der schnell weltweit erfolgten Ausbreitung des im Dezember 2019 in China erstmals beobachteten Corona-Virus (SARS-COV-2) zu begegnen, wurden in vielen Ländern einschneidende gesundheitspolitische Maßnah‐ men beschlossen, die eine allgemeine Einschränkung des sozialen Lebens („social distancing“) mit gravierenden Auswirkungen für die Volkswirt‐ schaften zur Folge hatten. Erwartet wird eine globale Wirtschaftskrise, die das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise 2008/ 2009 zu übertreffen droht. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 51 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 51 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 51 19.10.2020 12: 33: 00 19.10.2020 12: 33: 00 <?page no="52"?> Entwicklungen der europäischen Einigung Die siebte Erweiterungsrunde erfolgte im Jahr 2013 mit der Aufnahme Kroa‐ tiens. Die Staaten Albanien, die ehemalige jugoslawische Republik Maze‐ donien, Montenegro, Serbien und die Türkei haben Kandidatenstatus. Mit Montenegro, Serbien und der Türkei finden Verhandlungen statt. Bosnien- Herzegowina und Kosovo sind potenzielle Kandidaten, ihnen wurden Aus‐ sichten auf einen Beitritt bei Erfüllung bestimmter Bedingungen zugesagt. Island zog den 2009 beantragten Beitritt zur EU am 12. März 2015 offiziell wieder zurück. Mit Albanien und insbesondere der Republik Nordmazedo‐ nien, die durch Umbenennung den langwierigen Namensstreit mit Grie‐ chenland beigelegt hat, wurde die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Frühjahr 2020 beschlossen. Die stärkste Zerreißprobe ihrer Geschichte erlebte die Union mit der Euro‐ krise, die in der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ihren Aus‐ gangspunkt hatte, zunächst die Banksysteme mehrerer Länder erschütterte, und aufgrund der Rettung der Banken durch die Regierungen der betroffe‐ nen Staaten schließlich auch die Staaten in Bedrängnis brachte. Zweifel an der Zahlungsfähigkeit besonders hoch verschuldeter Länder führten zu Spe‐ kulationen über das Ende des Euros. Insbesondere die politische und öko‐ nomische Entwicklung in Griechenland kulminierte in der Frage nach dem Austritt dieses Landes aus der Eurozone. Die Unsicherheit ob der zukünfti‐ gen Entwicklung in Griechenland bleibt hoch. Angesichts der Corona-Pan‐ demie mit nationalen Alleingängen und Grenzschließungen zur Virusein‐ dämmung zeigen sich Spannungen innerhalb der EU, die sich auch in der Auseinandersetzung um die Aufteilung der Krisenlasten („Corona-Bonds“) offenbaren. Da vor allem die Volkswirtschaften in Südeuropa (Italien, Spa‐ nien, Griechenland) durch die Epidemie besonders hart betroffen sind, wird eine Wiederholung der Eurokrise befürchtet. Die größte Herausforderung für die Zukunft der Union stellt das Ausschei‐ den des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (Brexit) zum 31. Januar 2020 dar. Grundlage dieser Entscheidung war ein Referendum, das am 23. Juni 2016 durchgeführt wurde und dessen Ergebnis mit 51,9 % Stim‐ menanteil zugunsten des Austritts („leave“) ausfiel. Mit Großbritannien ver‐ liert die EU ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und das Land mit der dritt‐ größten Bevölkerung (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2017). Das Vereinigte Königreich hat häufig den föderalen Vorstellungen der Weiter‐ entwicklung skeptisch gegenübergestanden, ist aber gleichwohl den ge‐ 1 Geschichte der europäischen Integration 52 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 52 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 52 19.10.2020 12: 33: 00 19.10.2020 12: 33: 00 <?page no="53"?> meinsamen europäischen Weg mitgegangen. Andere betonen, dass ohne den ständigen Widerstand der Briten gegen mehr Integration viele wichtige In‐ tegrationsschritte möglich wären, die mit den Briten unmöglich sind. Nach dem formalen Austritt ist eine Übergangsphase vorgesehen, in der noch die Regeln des Binnenmarktes gelten. Bis zum Ende des Jahres 2020 wird Groß‐ britannien versuchen, mit der EU ein umfassendes Freihandelsabkommen zu vereinbaren. Sofern dies angesichts der knappen Frist nicht erfolgreich sein wird, könnte es in der Folge zu einem harten Brexit kommen. 1.4 Schlussbemerkung Die Entwicklung der heutigen Europäischen Union ist nur vor dem Hinter‐ grund politischer und wirtschaftlicher Ereignisse und Trends zu verstehen. Box 8 | Die schrittweise Entwicklung der Europäischen Union 1952/ 58 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande 1973 Beitritt von Dänemark, Vereinigtes Königreich, Irland 1981 Beitritt von Griechenland 1986 Beitritt Portugal und Spanien 1995 Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden 2004 Beitritt von Litauen, Lettland, Estland, Polen, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Zypern, Malta 2007 Beitritt von Bulgarien und Rumänien 2013 Beitritt von Kroatien 2020 EU-Austritt des Vereinigten Königreichs Politisch stand die Friedenssicherung in Europa im Vordergrund. Auch der größere weltpolitische Einfluss, der mit einem geeinten Europa einhergeht, die Stärkung der Verhandlungsposition der Europäer waren stets hand‐ lungsleitend. Gesellschaftspolitische Ziele waren gleichfalls relevant: Die Union hat sich immer explizit zu gesellschaftlichen Werten und sozialen Zielen bekannt. Das Bekenntnis gegen die Todesstrafe, das Bekenntnis zur Freizügigkeit innerhalb der EU und der Schutz der sozialen Minderheiten stehen beispielhaft dafür. Wirtschaftlich hat der Binnenmarkt erhebliche Vorteile gebracht, die insbesondere für kleinere Länder mit starken Effizi‐ 1.4 Schlussbemerkung 53 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 53 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 53 19.10.2020 12: 33: 01 19.10.2020 12: 33: 01 <?page no="54"?> enzgewinnen durch Spezialisierung und Skaleneffekte verknüpft waren. Der intensive Wettbewerb innerhalb Europas ist langfristig für Konsumenten und Produzenten von Vorteil, er regt Innovationen an. Der Prozess der Integration war nie einfach und schwer vorhersehbar. Viele Reforminitiativen scheiterten zunächst, etwa die engere politische Zusam‐ menarbeit, wurden aber später in anderer Form aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt. In dem historischen Rückblick war die Entwicklung eine Abfolge vieler kleiner Schritte, die Entwicklung hin zu mehr Integration war meist eine graduelle („Gradualismus“) in Richtung Erweiterung und in Richtung Vertiefung der Kooperation. Die Politik orientierte sich an dem Erreichen kleiner Veränderungen („Inkrementalismus“). Im Ergebnis ist die Zusam‐ menarbeit der Mitgliedstaaten heute deutlich schwieriger als zu Beginn des Integrationsprozesses. Die Komplexität, das Vor und Zurück, die politische Auseinandersetzung über die richtigen Instrumente sind häufig schwer ver‐ mittelbar. Innerhalb Europas gibt es keinen Konsens über die zukünftige Gestalt der EU, weder geografisch, politisch noch wirtschaftlich. Es gibt kein allgemein akzeptiertes Verständnis der „Finalität Europas“. Soll die EU auf mehr als 30 Mitglieder wachsen? Sind die USA ein Modell auch für Europa (Vereinigte Staaten von Europa)? Ist ein vom Volk gewählter Präsident wünschenswert? Bedarf es klarerer und weiterreichender Befugnisse der supranationalen Ebene? Oder passt dies nicht angesichts der Heterogenität der gewachsenen europäischen Kulturen? Sollten weitere Bereiche vergemeinschaftet wer‐ den, soll also der Prozess der „Vertiefung“ weitergehen? Soll es mehr Berei‐ che geben, in denen Mehrheitsentscheidungen akzeptiert werden, oder ist es vorteilhaft für die Weiterentwicklung der europäischen Integration, wenn konsensuale Entscheidungen gefunden werden? Wäre ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ besser? Der Brexit hat den Anstoß gegeben, über die Zukunft der Union nachzu‐ denken. In einem Weißbuch der Europäischen Kommission (2017) sind fünf Szenarien vorgestellt, wie die Union aussehen könnte, je nachdem, welche Entscheidungen in Europa getroffen werden: ■ Weiter wie bisher: Die Europäische Union konzentriert sich auf die Umsetzung ihrer positiven Reformagenda. ■ Schwerpunkt Binnenmarkt: Die EU27 wird schrittweise wieder auf den Binnenmarkt zurückgeführt. 1 Geschichte der europäischen Integration 54 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 54 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 54 19.10.2020 12: 33: 01 19.10.2020 12: 33: 01 <?page no="55"?> ■ Wer mehr will, tut mehr: Die Europäische Union ermöglicht es Mitgliedstaaten, in bestimmten Bereichen mehr gemeinsam zu ma‐ chen, wenn sie dies wünschen ■ Weniger, aber effizienter: Die EU27 fokussiert sich auf ausgewählte Politikbereiche, rascher mehr Ergebnisse zu erzielen, unternimmt in anderen Bereichen dafür weniger. ■ Viel mehr gemeinsames Handeln: Die Mitgliedstaaten beschlie‐ ßen, auf allen Politikfeldern ihr gemeinsames Handeln zu intensivie‐ ren. Während die Europaidee in der Nachkriegszeit in einigen Ländern Euphorie auslösen konnte, ist dies heute nicht mehr der Fall. Für den langfristigen Erfolg des Integrationsprojektes stellt dies eine Herausforderung dar, da ein Projekt dieser historischen Dimension der demokratischen Legitimation be‐ darf. 1.5 Wichtige Begriffe EWG, EURATOM, Europarat, Vereinigte Staaten von Europa, Födera‐ lismus, Intergouvernementalismus, EFTA, EGKS, Werner-Plan, Europa der zwei Geschwindigkeiten, Spielarten der Marktwirtschaft, Clubthe‐ orie, Kopenhagen-Kriterien, Europäische Verfassung, Friedensnobel‐ preis, Erweiterung, Vertiefung. 1.6 Literatur Auswärtiges Amt (2019): Die östliche Partnerschaft, Internet: https: / / www.auswaer tiges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ europa/ erweiterung-nachbarschaft/ nachbarschaft spolitik/ oestliche-partnerschaft-node Bache, Ian/ Bulmer, Simon/ George, Stephen/ Parker, Owen (2015): Politics in the Eu‐ ropean Union, 4. 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Jahrhundert, Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 1233, Bonn Eichengreen, Barry (2007): The European Economy since 1945, Princeton University Press, Princeton und Oxford Europäische Kommission (2017): Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 - Überlegungen und Szenarien, COM(2017) 2025, Brüssel Europäische Kommission (2019): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final, Brüssel Europäisches Parlament (2015): Ukraine: Folow-up of Minsk II, EPRS/ European Par‐ liamentary Research Service, PE 565.874, 16. Juli 2015 Europäischer Rat (2000): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lis‐ sabon), 23. und 24. 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Wie wirkt sich das Europarecht auf den Bürger und die Unternehmen in der Europäischen Union aus? Welche Aufgaben haben die Organe der Europäischen Union und wel‐ che Stärken und Schwächen werden ihnen zugeschrieben? 2.1 Einführung Die Europäische Union ist durch eine besondere rechtliche Konstruktion geprägt. Die Unionsverträge bilden den zentralen Rahmen für die Zusam‐ menarbeit der Mitgliedstaaten. Die Verträge, früher Gemeinschaftsverträge genannt, welche seit 1951 bzw. 1957 immer wieder angepasst und aktuali‐ siert wurden, inklusive ihrer Anhänge, Anlagen und Protokolle, sind das rechtliche Fundament der Europäischen Union, sie bilden in der jeweils gül‐ tigen Fassung das Primärrecht der Union (vgl. Borchardt 2017, S. 96). Auch die völkerrechtlichen Verträge, welche die Gemeinschaft und später die 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 61 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 61 19.10.2020 12: 33: 02 19.10.2020 12: 33: 02 <?page no="62"?> Union mit anderen Staaten unterzeichneten, und allgemeine Rechtsgrund‐ sätze können dem Primärrecht zugeordnet werden. Zielsetzung, Organisa‐ tion der Arbeit der Union, das konkrete Handeln der Organe und Institu‐ tionen der Europäischen Union müssen sich an dem Primärrecht ausrichten (vgl. Krimphove 2014, S. 18-32). Auf Basis der im Primärrecht geregelten Rechte und Verfahren verabschieden die Organe der Union Vorschriften, die ebenso Teile des rechtlichen Rahmens innerhalb der Union sind und als „sekundäres Unionsrecht“ bezeichnet werden. Diese Rechtsakte sind abge‐ leitetes Recht. 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union Der seit 2009 gültige „Vertrag von Lissabon“ besteht im Wesentlichen aus zwei rechtlich gleichrangigen Verträgen und deren Anhängen: In dem „Ver‐ trag über die Europäische Union (EUV)“ sind vor allem die demokratischen Grundsätze, die grundlegende rechtliche Ordnung der Union und das aus‐ wärtige Handeln der Union und die gemeinsame Außen- und Sicherheits‐ politik beschrieben. Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ behandelt insbesondere die internen Politiken der Union. Wesentliche Elemente des institutionellen Europarechts (Regelung der rechtlichen Ordnung, der Institution und Prozesse) finden sich somit im EUV, der Großteil des materiellen Europarechts (Vorschriften, die Politik‐ felder und Inhalte festlegen) findet sich im AEUV. Abb. 4 zeigt die historische Entwicklung der zentralen Verträge seit 1951 (vgl. Borchardt 2017, S. 15-19, Europäische Union 2019). Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ( Vertrag von Paris) , unterzeichnet am 18. April 1951, in Kraft getreten am 23. Juli 1952 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) ( Rö‐ mische Verträge ), unterzeichnet am 25. März 1957, in Kraft getreten am 1. Ja‐ nuar 1958 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 62 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 62 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 62 19.10.2020 12: 33: 03 19.10.2020 12: 33: 03 <?page no="63"?> Fusionsvertrag ( Vertrag von Brüssel) , unterzeichnet am 8. April 1965, in Kraft ge‐ treten am 1. Juli 1967 Einheitliche Europäische Akte (EEA), unterzeichnet am 17. und 28. Februar 1986, in Kraft getreten am 1. Juli 1987 Vertrag über die Europäische Union ( Maastricht-Vertrag) , unterzeichnet am 7. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger da‐ mit zusammenhängender Rechtsakte ( Vertrag von Amsterdam) , unterzeichnet am 2. Oktober 1997, in Kraft getreten am 1. Mai 1999 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte ( Vertrag von Nizza), unterzeichnet am 26. Fe‐ bruar 2001, in Kraft getreten am 1. Februar 2003 Vertrag über die Europäische Union (EUV), Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ( Vertrag von Lissabon), unterzeichnet am 13. De‐ zember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009 Abb. 4: Chronologie der wichtigen Gemeinschaftsverträge Unter das sekundäre Unionsrecht subsumiert man vor allem die rechtskräf‐ tig verabschiedeten Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (vgl. Bor‐ chardt 2017, Ranacher/ Staudigl/ Frischhut 2015, S. 57-63): ■ Eine „Verordnung“ ist ein verbindlicher Rechtsakt. Sie hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und regelt unmittelbar eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten generell und abstrakt. Sie gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Artikel 288 AEUV). Es bedarf keiner weiteren Umsetzung in einzelstaatliches Recht. Verordnungen sind gewissermaßen europäische Gesetze. ■ Eine „Richtlinie“ ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, in Bezug auf das zu erreichende Ziel verbindlich. Die Mitgliedstaaten 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 63 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 63 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 63 19.10.2020 12: 33: 03 19.10.2020 12: 33: 03 <?page no="64"?> sind allerdings in der Wahl der Form und Mittel, diese Ziele zu reali‐ sieren, frei (Artikel 288 AEUV). Mitgliedstaaten haben einen Rege‐ lungsspielraum, sie können selbst entscheiden, wie sie das verabre‐ dete Ziel erreichen. ■ „Beschlüsse“ sind „in all ihren Teilen verbindlich. Sind sie an be‐ stimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich“ (Artikel 288 AEUV). Die Organe der EU veröffentlichen „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“, die aber keine rechtliche Bindungswirkung haben. Inhalt, Grundsätze und Ziele der Verträge, die Rechtsvorschriften, die Er‐ klärungen und andere rechtliche Regelungen bilden den „gemeinschaftli‐ chen Besitzstand“ („Acquis communautaire“). Dieser umfasst alle Rechte und Pflichten, die für jedes Mitglied verbindlich sind. Box 9 | Besonderheiten des Unionsrechts Direkter Effekt - Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unions‐ rechts im nationalen Recht: Das Unionsrecht hat einen direkten Ef‐ fekt für die Bürger. Staaten müssen die vertraglichen Verabredungen umsetzen, die Einhaltung ist einklagbar. Verträge haben die gleiche Wir‐ kung wie Gesetze in den Mitgliedstaaten, Bürger können sich darauf berufen. Primat des Europäischen Rechts: Das europäische Recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Im Fall einer Kollision zwischen europäischem und nationalem Recht gilt das europäische Recht. Der Vorrang des EU-Rechts ist einer der Grundpfeiler des Unionsrechts. Autonomie: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist unabhängig von dem Gerichtssystem der Mitgliedsländer. Der Gerichtshof entschei‐ det eigenständig auf Basis der Rechtsordnung der Union, der Verträge und der allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. Borchard 2017, S. 48). Mit der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung hat die Europäische Union einen im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Weg beschritten. Die Gesetzgebungshoheit der Staaten wurde beschränkt, aus dem Unionsrecht entstehen eindeutige Rechte für die Bürger der Union (direkter Effekt des 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 64 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 64 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 64 19.10.2020 12: 33: 03 19.10.2020 12: 33: 03 <?page no="65"?> Unionsrechts), das Unionsrecht hat Vorrang vor nationalem Recht (Primat des Unionsrechts) und schließlich ist der Gerichtshof der Europäischen Union unabhängig und autonom (Autonomie). Das Recht der Europäischen Union, welches im Lissabon-Vertrag formuliert ist, ist „supranationales Recht“: Es ist internationales Recht, welches die Mitgliedstaaten bindet. Nachdem sich die Mitgliedstaaten dem unterworfen haben, müssen sie Ent‐ scheidungen, die gemäß den Regeln des Vertrages zustande kommen, auch akzeptieren und beachten. Für das Verständnis der rechtlichen Struktur ist die im Vertrag von Lissabon explizit genannte Unterscheidung nach „ausschließlicher“ und „geteilter“ Zuständigkeit wichtig. „Übertragen die Verträge der Union für einen be‐ stimmten Bereich eine ausschließliche Zuständigkeit, so kann nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen“ (Artikel 2 AEUV). Die Union hat gemäß Artikel 3 des AEUV die ausschließliche Zu‐ ständigkeit für die Zollunion, für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, für die Währungspo‐ litik, die Erhaltung der Meeresschätze, die gemeinsame Handelspolitik und bestimmte internationale Übereinkünfte. In anderen Politikfeldern teilt die Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten, so z. B. für den Binnen‐ markt, die Sozialpolitik, die wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusam‐ menarbeit, die Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze und Energie (Artikel 4 AEUV). In diesen Bereichen können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten gesetzge‐ berisch tätig werden. Und schließlich gilt gemäß Artikel 4 AEUV, dass alle in den Verträgen nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaa‐ ten liegen. Diese vertraglich fixierten Aufgabenabgrenzungen dürfen nur die Mitgliedstaaten ändern, nur ihnen steht zu, die Kompetenzen der Union anders zu regeln, ein mit dem Begriff „Kompetenzkompetenz“ bezeichnetes Prinzip. Ein wichtiges Element der Rechtsordnung ist darüber hinaus der Grundsatz der Subsidiarität. Gemäß diesem Prinzip „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitglied‐ staaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausrei‐ chend verwirklicht werden können“ (Artikel 5 EUV). 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 65 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 65 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 65 19.10.2020 12: 33: 03 19.10.2020 12: 33: 03 <?page no="66"?> Das Prinzip der Subsidiarität ist ein in der Sozialethik entwickeltes Prinzip, welches die Notwendigkeit der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung betont: Das Individuum ist zunächst für sich selbst verantwortlich, diese Selbstverantwortung ist Recht und Pflicht zugleich und gehört zur Menschen‐ würde. Die übergeordnete Einheit, z. B. die Familie, sollte nur dann eingrei‐ fen, wenn das Individuum zur Problemlösung nicht in der Lage ist. Reichen weder die Möglichkeiten des Einzelnen noch der Familie aus, so ist die Hilfe‐ stellung durch öffentliche Stellen sinnvoll und vertretbar. Bezogen auf ein politisches Mehrebenensystem bedeutet Subsidiarität, dass Leistungen der höheren Ebene nur dann erforderlich sind, wenn die tiefere hierarchische Ebene damit überfordert ist. In Politikfeldern, in denen die geteilte Zustän‐ digkeit gilt, ist eine Regelung auf der EU-Ebene nur dann zulässig, wenn klare Kriterien zeigen, dass eine Regelung auf nationaler Ebene schlechter ist. Ge‐ mäß der Regelung im Primärrecht der Union können hierarchisch niedrigere Ebenen gegen die Union klagen, wenn eine EU-Regelung gegenüber einer Regelung auf nationaler oder regionaler Ebene keinen Mehrwert im Sinne eines Effizienzgewinns erbringt (vgl. Pelkmans 2006, S. 36-52). Ob in einer Gemeinschaft eine einheitliche zentrale Lösung oder differen‐ zierte dezentrale Lösungen sinnvoll sind, ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren (vgl. Berger/ Harendt/ Heinemann/ Moessinger/ Schwab/ Weiss 2017, Stehn 2017). Die Berechenbarkeit und Verantwortlichkeit der politi‐ schen Ebene, das Vorliegen externer Effekte und Skaleneffekte bei der Ge‐ staltung von Politik sind häufig wichtig. In der ökonomischen Theorie wer‐ den drei Aspekte besonders beleuchtet: die Heterogenität der Präferenzen, die Informationsasymmetrie und der Wettbewerb um Ideen. Box 10 | Ökonomische Argumente zur Entscheidung über die optimale Verantwortungsebene Ein erstes Argument bezieht sich auf die Heterogenität der Präferenzen der Menschen aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher, politischer oder sozio-kultureller Bedingungen. Wenn diese Unterschiede erheblich sind, kann eine dezentralisierte und differenzierte Bereitstellung von öf‐ fentlichen Leistungen die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen, eine zentral entschiedene und einheitlich angebotene staatliche Leistung würde umgekehrt in einigen Teilen ein zu hohes und in anderen Teilen ein zu geringes Angebot an staatlichen Leistungen erbringen. 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 66 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 66 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 66 19.10.2020 12: 33: 04 19.10.2020 12: 33: 04 <?page no="67"?> X Z X B GK marginale Zahlungsbereitschaft (MZB), Grenzkosten (GK) A B E X A Menge des öffentlichen Gutes N A N Z N B C D Abb. 5: Wohlfahrtsgewinn durch Aufteilung eines Zentralstaates in zwei Regionen Abb. 5: Wohlfahrtsgewinn durch Aufteilung eines Zentralstaats in zwei Regionen Abb. 5 veranschaulicht das Dilemma. Es wird angenommen, dass die Be‐ völkerung der Region A eine hohe, durch die Nachfragekurve NA beschrie‐ bene Zahlungsbereitschaft (MZB) hat und die niedrige Zahlungsbereit‐ schaft in Region B durch NB beschrieben werden kann. Wenn die Zentralebene das Angebot in der Union an der Nachfrage der Region A ausrichtet, ist dies aus Sicht der Bevölkerung in Region B ein Überangebot. Umgekehrt wäre eine Ausrichtung an der Nachfrage in der Region B aus Sicht der Region A unbefriedigend. Auch die Ausrichtung des Angebotes an einem Durchschnitt der Zahlungsbereitschaft (NZ) löst das Problem nicht, da für beide Teile der Bevölkerung wohlfahrtssteigernde Lösungen möglich sind. Ein zweites wichtiges Argument basiert auf der Existenz asymmetrisch vorliegender Informationen. Die Zentrale und die dezentrale Ebene sind unterschiedlich gut informiert über die wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Bedingungen und möglichen Handlungsalternativen. Wenn die dezentrale Ebene genauere Kenntnisse besitzt, kann sie mit ihrer Politik eher auf die besonderen Bedingungen der Region eingehen. 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 67 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 67 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 67 19.10.2020 12: 33: 04 19.10.2020 12: 33: 04 <?page no="68"?> Ein drittes, aus Sicht des Liberalismus besonders wichtiges Argument ist der Wettbewerb zwischen Regionen um die optimale Lösung gesell‐ schaftlicher Probleme oder Herausforderungen. Dezentrale Entschei‐ dungskompetenz erlaubt es den Mitgliedstaaten oder Regionen, eigene Wege zu gehen, der Wettbewerb der Regionen produziert aus dieser Perspektive gesellschaftspolitische Innovationen. Wettbewerb ist nicht nur für Produzenten von privaten Gütern und Dienstleistungen, son‐ dern auch für staatliche Institutionen ein sinnvoller kreativitäts- und produktivitätsfördernder Mechanismus. Die Frage der Subsidiarität stellt sich nicht nur auf der Ausgabenseite der Union oder der Mitgliedstaaten, sondern auch bezüglich der Besteuerung (vgl. Lipatov/ Weichenrieder 2016). 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 2.3.1 Parlament Das Europäische Parlament ist zusammen mit dem Rat der Europäischen Union für die Gesetzgebung in der Europäischen Union zuständig (vgl. Eu‐ ropäische Kommission 2014, Borchardt 2017, S. 63-70, Nugent 2017, Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur 2019, S. 133-143). Das Parlament ist gemeinsam mit dem Rat für den Haushalt der EU verantwortlich und genehmigt am Ende des Haushaltsverfahrens den Gesamthaushalt. Das Parlament übt die poli‐ tische Kontrolle über alle Organe der EU aus. Die Ernennung des Kommis‐ sionspräsidenten und der Mitglieder der Kommission bedarf der Zustim‐ mung des Europäischen Parlamentes (Artikel 14 EUV). 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 68 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 68 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 68 19.10.2020 12: 33: 04 19.10.2020 12: 33: 04 <?page no="69"?> Vereinigtes Königreich vor EU-Austritt nach EU- Austritt Mitgliedstaaten Anzahl der MdEP Anteil an allen MdEP in % Anteil an EU-Bevölke‐ rung in % Anzahl der MdEP Belgien 21 2,8 2,2 21 Bulgarien 17 2,3 1,4 17 Dänemark 13 1,7 1,1 14 Deutschland 96 12,8 16,1 96 Estland 6 0,8 0,3 7 Finnland 13 1,7 1,1 14 Frankreich 74 9,9 12,9 79 Griechenland 21 2,8 2,2 21 Irland 11 1,5 0,9 13 Italien 73 9,7 11,7 76 Kroatien 11 1,5 0,9 12 Lettland 8 1,1 0,4 8 Litauen 11 1,5 0,6 11 Luxemburg 6 0,8 0,1 6 Malta 6 0,8 0,1 6 Niederlande 26 3,5 3,3 29 Österreich 18 2,4 1,7 19 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 69 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 69 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 69 19.10.2020 12: 33: 04 19.10.2020 12: 33: 04 <?page no="70"?> Polen 51 6,8 7,6 52 Portugal 21 2,8 2,0 21 Rumänien 32 4,3 4,2 33 Schweden 20 2,7 1,9 21 Slowakei 13 1,7 1,1 14 Slowenien 8 1,1 0,4 8 Spanien 54 7,2 9,1 59 Tschechische Re‐ publik 21 2,8 2,1 21 Ungarn 21 2,8 2,0 21 Vereinigtes König‐ reich 73 9,7 12,5 0 Zypern 6 0,8 0,1 6 Insgesamt 751 100 100 705 Abb. 6: Anzahl der MdEP je Mitgliedstaat für die Wahlperiode 2019-2024 Quelle: Europäisches Parlament 2019 Sitz des Europäischen Parlamentes ist Straßburg, dort finden die Plenarsit‐ zungen statt. In Brüssel finden Sitzungen der Ausschüsse und Fraktionen und kürzere Plenarsitzungen statt und auch in Luxemburg sind parlaments‐ bezogene Aktivitäten angesiedelt. Die EU-Bürger wählen alle fünf Jahre die Abgeordneten des Parlamentes in freier direkter Wahl. Die Abb. 6 zeigt die Verteilung der Sitze im Europäi‐ schen Parlament. Diese sind in Anlehnung an den Anteil der Mitgliedstaaten an der EU-Bevölkerung, nicht aber direkt proportional aufgeteilt; die Vertei‐ lung wird als „degressiv proportional“ bezeichnet, wobei jeder Mitgliedstaat mindestens sechs und maximal 96 Abgeordnete hat (Artikel 14 EUV). 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 70 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 70 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 70 19.10.2020 12: 33: 05 19.10.2020 12: 33: 05 <?page no="71"?> Gemäß Beschluss des Europäischen Rats (2018) über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments hat die aktuelle Regelung (751 Abgeordnete) bis zum rechtswirksamen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union Bestand; danach ist die neue Sitzverteilung mit 705 Abgeordneten gültig. Von den 73 Sitzen des Vereinigten Königreichs entfallen 27 auf andere Mitgliedstaaten; die restlichen 46 Sitze werden für mögliche EU-Erweite‐ rungen in der Zukunft zurückgehalten. Verständnisfrage Was spricht für und gegen eine degressiv-proportionale Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament? Parlamentarier bilden in der Regel zur Organisation ihrer Arbeit Fraktionen. Die größte Fraktion ist die Fraktion der Europäischen Volksparteien (Christ‐ demokraten), gefolgt von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialde‐ mokraten im Europäischen Parlament und der Renew Europe Fraktion. Das Europäische Parlament arbeitet mit den nationalen Parlamenten der Mit‐ gliedstaaten zusammen. Die Bedeutung der nationalen Parlamente für die Ar‐ beit der Union wird im Artikel 12 EUV herausgehoben, dort wird die aktive Mitwirkung der nationalen Parlamente an der Arbeitsweise der Union betont. In einem gesonderten Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union wird das Ziel formuliert, eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der EU zu fördern. Regeln für die rechtzeitige Unterrichtung der Parlamente werden festgeschrieben. Box 11 | Europäisches Parlament kontrovers Die positive Sicht: Durch den Lissabon-Vertrag wurde die Kompetenz des Parlamentes gestärkt: In dem Gesetzgebungsverfahren hat das Par‐ lament wichtige Rechte erhalten. Das Parlament, welches zunächst nur für wenige Arbeitsfelder Mitentscheidungsrechte hatte, hat heute um‐ fassende Befugnisse über alle zentralen Arbeitsbereiche der Union, in 95 % aller Vorhaben ist das Parlament gleichberechtigt mit dem Rat der Gesetzgeber. Es übt die demokratische Kontrolle nicht nur über die Kommission aus, sondern auch über andere Organe der EU. Auch viele internationale Abkommen erfordern die Zustimmung des Parlamentes. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 71 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 71 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 71 19.10.2020 12: 33: 05 19.10.2020 12: 33: 05 <?page no="72"?> Das Parlament hat in den vergangenen Jahren seine Macht genutzt, um die Entwicklung der EU mitzugestalten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker fehlt dem Parlament noch immer die für Parlamente typische Macht, eigenständig Gesetzesinitia‐ tiven einzubringen (das „Initiativrecht“) und ist damit kein echter Ge‐ setzgeber. Es wählt keine Regierung, ein wesentliches Recht der Parla‐ mente in Demokratien. Das Parteiensystem ist nach wie vor national und nicht europäisch geprägt; transnationale Listen fehlen (vgl. Müller/ Richter 2017). Kritiker bemängeln die hohen Kosten für das Europäische Parlament, für die Sitzungen und Beratungen an drei Standorten (Straß‐ burg, Brüssel, Luxemburg), für die hohe Zahl an Abgeordneten und de‐ ren Gehälter. Sie monieren, dass in den Wahlen zum Europäischen Par‐ lament häufig eher weniger wichtige Politiker antreten. Die Anwendung unterschiedlicher Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten wird als proble‐ matisch angesehen. Die Aufmerksamkeit für die Arbeit des Parlamentes sei gering, die Wahlbeteiligung niedrig: 1979, bei der ersten Wahl zum Europaparlament lag die Wahlbeteiligung europaweit bei 63 % und sank bis zur Europawahl 2014 sukzessive bis auf knapp 43 %. Die EU-weite Wahlbeteiligung belief sich im Jahr 2019 allerdings auf 50,62 % (vgl. Eu‐ ropäisches Parlament 2019). Die regelmäßige Befragung der Bürger der Europäischen Union zur Wahrnehmung und Wertschätzung des Parla‐ mentes zeigt, dass in vielen Ländern Vertrauen in die Institution und die Arbeit der Abgeordneten auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken und daher der Reformbedarf groß ist. 2.3.2 Europäischer Rat Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mit‐ gliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Prä‐ sidenten der Kommission zusammensetzt, ist das zentrale Organ für die po‐ litische Gestaltung der Integration (vgl. Europäische Kommission 2014, Borchardt 2017, S. 70-71, Nugent 2017, Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur 2019, S. 143-144). Der Europäische Rat „gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellun‐ gen und Prioritäten hierfür fest“ (Artikel 15 EUV). Grundsätzliche strategi‐ 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 72 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 72 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 72 19.10.2020 12: 33: 05 19.10.2020 12: 33: 05 <?page no="73"?> sche Entscheidungen werden im Europäischen Rat getroffen, obgleich dieses Organ selbst nicht gesetzgeberisch tätig wird. Der Europäische Rat kommt mindestens viermal pro Jahr zusammen („Gipfel-Treffen“). Entscheidungen fallen gemäß Artikel 15 EUV in der Regel im Konsens. Die Arbeit des Europäischen Rates wird von dessen Präsidenten koordiniert. Der Vertrag von Lissabon sah diese Neuerung vor, um die Arbeit dieses Or‐ gans und die Kontinuität der Arbeit zu stärken. Der Präsident wird für zwei‐ einhalb Jahre gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Box 12 | Der Europäische Rat kontrovers Die positive Sicht: Dem Europäischen Rat fällt im Integrationsprozess eine oder gar die zentrale Rolle zu, da die Staats- und Regierungschefs in ihren Heimatländern demokratisch legitimiert sind und damit das Mandat haben, Prioritäten der europäischen Einigung zu verabreden und die stra‐ tegische Ausrichtung der Union festzulegen. Der Verzicht auf Souveräni‐ tätsrechte, ein der Entwicklung einer supranationalen Institution inhären‐ ter Prozess, bedarf der Legitimation durch diese Repräsentanten der Mitgliedstaaten. Diese sind in der Lage, tragfähige politische Kompro‐ misse zu schmieden und in den Heimatländern zu vertreten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker sollten die zentralen Ideen im Parlament verhandelt werden und nicht im Europäischen Rat. Die Macht des Europäischen Rates sei ein Zeichen der wenig demokrati‐ schen Konstruktion der Union. Zudem wird darauf hingewiesen, dass das Treffen häufig von einigen wenigen Ländern, insbesondere Deutsch‐ land und Frankreich, dominiert werde (vgl. Menasse 2012, S. 57). Für Unmut sorgen Mitgliedstaaten, die ihre Verhandlungs- und Vetomacht nutzen, um Vorteile für das eigene Land zu erzwingen, der in Ratssit‐ zungen erstrittene Rabatt für Großbritannien oder Polens höheres Stimmgewicht im Rahmen der qualifizierten Mehrheit (bis 2014) stehen beispielsweise für solche Kompromisse. Der Europäische Rat sei vielfach nichts anderes als ein Bollwerk der Verteidigung nationaler Interessen. Treffen stünden stets unter hohem Zeitdruck, die Beratungen und Ent‐ scheidungen ließen die Nähe zur Bevölkerung vermissen (vgl. Menasse 2012, S. 90-94). 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 73 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 73 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 73 19.10.2020 12: 33: 06 19.10.2020 12: 33: 06 <?page no="74"?> 2.3.3 Rat der Europäischen Union Der „Rat“ oder „Rat der Europäischen Union“, der in den Medien auch als „Ministerrat“ bezeichnet wird, ist gemeinsam mit dem Europäischen Parla‐ ment Gesetzgeber und Beschlussorgan der Union (vgl. Europäische Kom‐ mission 2014, Borchardt 2017, S. 71-77, Nugent 2017, Bieber/ Epiney/ Haag/ Kotzur 2019, S. 145-153). Er ist für Haushaltsangelegenheiten der Union zuständig und genehmigt den Haushaltsplan der Union. Er koordiniert die Politik der Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen der Union die Zuständigkeit übertragen wurde. In der Außen- und Sicherheitspolitik, seit der Unterzeichnung des Maas‐ tricht-Vertrages offiziell ein Bereich der gemeinsamen Zusammenarbeit, entwickelt er Vorgaben und Strategien. Der Rat schließt internationale Übereinkünfte ab (vgl. Europäische Kommission 2014, S. 15). Der Rat der Europäischen Union besteht aus je einem Vertreter jedes Mit‐ gliedstaates auf Ministerebene. Der Rat tritt gegenwärtig (2019) in zehn Konstellationen zusammen: ■ Allgemeine Angelegenheiten, ■ Auswärtige Angelegenheiten ■ Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz ■ Bildung, Jugend, Kultur und Sport, ■ Justiz und Inneres, ■ Landwirtschaft und Fischerei, ■ Umwelt, ■ Verkehr, Telekommunikation und Energie, ■ Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Inno‐ vation, Raumfahrt), ■ Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN). Der Europäische Rat kann gemäß Artikel 236 AEUV andere Zusammenset‐ zungen vorsehen. Formale Beschlüsse des Rates der Europäischen Union werden meistens mit Mehrheitsentscheidung getroffen. Bei einigen Fragen wie z. B. der Steuerpolitik ist Einstimmigkeit gefordert. Dies bedeutet, dass das Veto eines Landes, welches Nachteile aus einem Beschluss erwartet, ausreicht, eine zur Abstimmung stehende Maßnahme abzulehnen. Dem Vorteil der Einstimmigkeitsregel, eine Entscheidung nicht gegen die eigene Überzeugung mittragen zu müssen, steht der Nachteil gegenüber, dass bei 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 74 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 74 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 74 19.10.2020 12: 33: 06 19.10.2020 12: 33: 06 <?page no="75"?> häufiger Verwendung dieser Wahloption der Status quo dominiert und Fort‐ schritte erschwert werden. In Abb. 7 wird eine Ausgangssituation betrachtet, in der die Wohlfahrtsposition für zwei Länder mit Ū A und Ū B angegeben ist. Von X ausgehend sind Reform‐ maßnahmen nur auf und innerhalb der Begrenzungslinien des Quadranten I möglich, da dann mindestens ein Land bessergestellt wird, ohne dass das an‐ dere Land schlechter gestellt wird oder beide Länder Vorteile erzielen. In den anderen drei Quadranten erfährt mindestens ein Land eine Schlechterstellung, das Veto verschafft dem Land die Möglichkeit, das eigene eng definierte Inter‐ esse mit der Vetoandrohung zu verteidigen. Da es Reformen, die alle Länder nur begünstigen, im politischen Prozess aber kaum gibt, kommt es durch das Ein‐ stimmigkeitserfordernis zu einer Beibehaltung des Status quo. U A II III X IV I Ū A Ū B U B Abb. 7: Problematik der Einstimmigkeitsregel Pragmatisch-politisches Handeln setzt damit in vielen Bereichen einen Übergang von der Einstimmigkeitsregel zur Mehrheitswahl voraus. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 75 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 75 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 75 19.10.2020 12: 33: 06 19.10.2020 12: 33: 06 <?page no="76"?> Box 13 | Mehrheitswahl und Kosten der Entscheidungsfindung Bei der Mehrheitswahl muss festgelegt werden, mit welchem Zustim‐ mungserfordernis (Quorum) die Entscheidungen getroffen werden sol‐ len. Aus ökonomischer Sicht wird dasjenige Quorum (q* ) bestimmt, bei dem die Kosten der Entscheidungsfindung am geringsten sind (Abb. 8). Mehrere Arten von Kosten werden unterschieden. Auf der einen Seite sind die Konsensfindungskosten (Zeitaufwand, Informationsbeschaf‐ fung, Kompromisssuche) anzuführen, die mit der Höhe der notwendigen Mehrheit zunehmen. Das Einstimmigkeitserfordernis weist die höchs‐ ten Einigungskosten auf. Auf der anderen Seite sind die externen Kosten zu nennen, die dann auftreten, wenn eine Entscheidung gegen die ei‐ genen Präferenzen erfolgt. In diesem Fall sind die Konsequenzen der Maßnahme mitzutragen, die man selbst so nicht getroffen hätte. Bei Einstimmigkeit sind die externen Kosten Null, da per Veto jede gegen die eigene Überzeugung gerichtete Entscheidung zu Fall gebracht wer‐ den kann. Je geringer das Zustimmungserfordernis zugunsten einer Maßnahme aber ist, desto höher sind die externen Kosten. Insgesamt ist das Quorum ausschlaggebend, bei dem die Summe aus Einigungskosten und externen Kosten ein Minimum aufweist (vgl. Frey/ Kirchgässner 2002, S. 46-48.) 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 76 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 76 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 76 19.10.2020 12: 33: 06 19.10.2020 12: 33: 06 <?page no="77"?> Abb. 8: Minimale Kosten der Entscheidungsfindung bei absoluter Kosten Kosten Kosten gesamt externe Kosten Einigungskosten Zustimmungserfordernis 0 % 100 % q* Kosten Kosten Kosten gesamt externe Kosten Einigungskosten Zustimmungserfordernis 0 % 100 % 50 % Einigungskosten Abb. 8: Minimale Kosten der Entscheidungsfindung bei absoluter Mehrheit 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 77 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 77 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 77 19.10.2020 12: 33: 07 19.10.2020 12: 33: 07 <?page no="78"?> Im Falle eines Zustimmungserfordernisses von unter 50 % können die Einigungskosten sehr hoch sein, da es infolge der Möglichkeit gleich‐ zeitiger Annahme und Ablehnung einer Maßnahme zu widersprüchli‐ chen Ergebnissen käme (Abb. 8). Nehmen die Einigungskosten bei einem Quorum von 50 % allerdings abrupt ab, weil inkonsistente Entscheidun‐ gen verhindert werden, so vermindern sich bei gegebenem Verlauf der externen Kosten entsprechend auch die gesamten Kosten der Entschei‐ dungsfindung. Liegt das Kostenminimum gerade an dieser Sprungstelle, ist die Entscheidungsregel mit absoluter Mehrheit optimal (vgl. Wei‐ mann 2009). In der EU wird in der überwiegenden Zahl der Entscheidungen die Mehr‐ heitswahl angewendet. Dabei ist nicht die relative oder absolute Mehrheit der Stimmen, sondern eine „qualifizierte Mehrheit“ notwendig. Eine quali‐ fizierte Mehrheit, viele Jahrzehnte wegen der Stimmgewichte der Länder ein höchst kontroverses Thema, ist ab dem 1. November 2014 grundsätzlich dann gegeben, wenn 55 % der Mitglieder des Rates, deren Staaten mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren, einem Vorhaben zu‐ stimmen. Umgekehrt liegt eine Sperrminorität bei 45 % der Zahl der EU-Staa‐ ten und 35 % der zugehörigen Bevölkerung vor. Hinzu kommt, dass für eine Sperrminorität mindestens vier Mitglieder im Rat erforderlich sind (Artikel 16, Absatz 2 EUV). Während die „nordeuropäischen“ Länder Deutschland, Finnland, die Niederlande und Österreich zusammen mit dem Vereinigten Königreich den entsprechenden Bevölkerungsanteil gerade aufwiesen, ist die Sperrminorität durch das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ver‐ loren gegangen. Welche Implikationen diese Verschiebung der Machtba‐ lance im Rat haben wird, bleibt abzuwarten (vgl. Sinn 2016, S. 53-60). Box 14 | Der Rat der Europäischen Union kontrovers Die positive Sicht: Der Rat der Europäischen Union ist das Fachgre‐ mium und arbeitet effektiv: In den verschiedenen Zusammensetzungen des Ministerrates werden die Rechtsakte der EU beschlossen. Mit der Einführung der doppelten Mehrheit in der Großzahl der behandelten Verfahren wird zukünftig die Arbeit entscheidend vereinfacht. Die Zu‐ 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 78 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 78 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 78 19.10.2020 12: 33: 07 19.10.2020 12: 33: 07 <?page no="79"?> sammenarbeit mit dem Europäischen Parlament funktioniert gut. Häu‐ fig wird der Rat zu Unrecht gescholten, vielfach treffen Regierungsver‐ treter in Brüssel auf der EU-Ebene Entscheidungen, die sie im eigenen Land kritisch bewerten (vgl. Fischer 2010, S. 3, Barroso 2014). Die kritische Sicht: Für Kritiker ist der Ministerrat eine Institution, in der die konkrete Politik wenig transparent gestaltet wird. Aus deren Sicht werden die nationalen Parlamente zu wenig und zu spät einge‐ bunden. Die Effizienz der Arbeit ist häufig abhängig davon, welches Mitgliedsland die Präsidentschaft innehat. Für Föderalisten ist der Anteil der Entscheidungen, die einstimmig fallen müssen, zu hoch, für Vertre‐ ter des Konzeptes eines Staatenbundes ist er zu niedrig. Häufig würden im Ministerrat sachfremde politische Kompromisse geschmiedet: Die Zustimmung eines Landes zu einer Verordnung zur Regelung des Kapi‐ talverkehrs wird beispielsweise mit der Zustimmung der anderen Län‐ der zur Begünstigung eines Landes im Agrarbereich erkauft und ertrotzt, eine sachgerechte Politik sei kaum möglich. 2.3.4 Europäische Kommission Die Europäische Kommission ist das Exekutivorgan der Europäischen Union (vgl. Europäische Kommission 2014, Nugent 2017). Die Kommission sorgt für die Anwendung der Verträge und der beschlossenen Maßnahmen, sie überwacht die Einhaltung der Vereinbarungen, Regelbrüche werden von ihr geahndet, wie beispielsweise die lange Liste der Vertragsverletzungsverfah‐ ren gegen Mitgliedstaaten zeigt. Die Kommission wird daher häufig als „Hüterin der Verträge“ bezeichnet. Sie verwaltet den Haushalt und vertritt die Europäische Union in der Welt. Die Kommission darf politische Initiativen ergreifen, um die Integration voranzubringen. Sie schlägt hierzu Rechtsvorschriften, Strategien und Pro‐ gramme vor und wird daher vielfach als „Motor der Integration“ gesehen. Sie ist bei ihrer Aufgabenerfüllung politisch unabhängig. Dies muss auch für die einzelnen Kommissare gelten, sie dürfen von Regierungen keine Wei‐ sungen entgegennehmen. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 79 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 79 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 79 19.10.2020 12: 33: 07 19.10.2020 12: 33: 07 <?page no="80"?> Die Kommission besteht aus dem Kollegium der Kommissare, die aus allen Mitgliedstaaten stammen. Artikel 17 EUV sieht vor, dass diese Zahl ab dem 1. November 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten reduziert wird (sofern nicht der Europäische Rat einstimmig eine andere Zahl be‐ schließt). Die Kommission wird alle fünf Jahre neu zusammengesetzt. Dabei einigen sich die Regierungen zunächst auf einen Präsidenten der Kommis‐ sion. Box 15 | Kontroverse um die Wahl des Kommissionspräsidenten In der Nachfolge zur Wahl zum Europäischen Parlament 2014 wurde der Modus der Bestimmung des Kommissionspräsidenten kontrovers dis‐ kutiert. Im Lissabon-Vertrag (EUV) heißt es in Artikel 17, Absatz 7: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entspre‐ chenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Aus Sicht der Mehrheit der Parlamentarier bedeutet dies, dass der Spitzenkandidat der Fraktion, welcher die meisten Stimmen erhalten hat, zum Kommissi‐ onspräsidenten gewählt werden soll. Andere Europapolitiker argumen‐ tieren, dass eine solche Festlegung auf einen Spitzenkandidaten nicht verabredet wurde. Vielmehr kann vom Europäischen Rat auch eine an‐ dere Person vorgeschlagen werden, solange die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament dabei Beachtung finden. Im Jahr 2019 wurde das Spitzenkandidaten-Modell durchbrochen, da sich die Staats- und Regie‐ rungschefs und das EU-Parlament nicht auf einen der Spitzenkandidaten haben einigen können. Vom Europäischen Rat wurde eine im Europa‐ wahlkampf zuvor nicht in Erscheinung getretene Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen, die schließlich mit knapper Mehrheit gewählt wurde. Dieser designierte Kommissionspräsident sucht gemeinsam mit den Mit‐ gliedstaaten die übrigen Mitglieder des Kollegiums aus. Die Kommission wird als Gesamtheit von dem Europäischen Parlament in einem Zustim‐ mungsvotum gewählt und vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehr‐ heit ernannt. Der Präsident der Europäischen Kommission hat eine zentrale Stellung in der Wahrnehmung der Arbeit der Europäischen Union. 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 80 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 80 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 80 19.10.2020 12: 33: 07 19.10.2020 12: 33: 07 <?page no="81"?> Jedes Mitglied des Kollegiums der Kommissare steht einer Generaldirektion oder einem Dienst vor. Die Gesamtheit aller Generaldirektionen und Dienste wird ebenfalls als „Kommission“ bezeichnet. Die Kommission hat ihren Hauptsitz in Brüssel, einige Dienststellen sind in Luxemburg angesiedelt. In der Kommission arbeiten insgesamt über 30.000 Mitarbeiter. Die Kommission ist gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union und dem Parlament der Europäischen Union an den Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Dabei unterbreitet die Kommission dem Rat und dem Parlament einen Gesetzgebungsvorschlag, der dem in der Abb. 9 beschriebenen Ablauf folgend behandelt wird. Ein Gesetzgebungsvorhaben beginnt in der Regel mit einem Vorschlag der Kommission. Zunächst werden Stellungnahmen der nationalen Parlamente eingeholt. Im Anschluss erfolgt die erste Lesung, deren Ergebnisse an den Rat der Europäischen Union übermittelt werden. Wenn kein Dissens besteht und der Rat den vorgeschlagenen Änderungen zustimmt, ist der Rechtsakt erlassen. Kommt es zu Änderungsvorschlägen des Rates, erfolgt eine zweite Lesung im Parlament und nachfolgend eine zweite Lesung im Rat der Europäischen Union. Falls im Ministerrat die Än‐ derungsvorschläge des Europäischen Parlamentes akzeptiert werden, gilt der Rechtsakt als erlassen. Andernfalls wird das Vorhaben im Vermittlungs‐ ausschuss beraten, entweder am Ende mit einem Kompromiss, der dann als erlassen gilt, oder ohne Kompromiss, womit das Vorhaben als gescheitert gilt. Dieses „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“, welches früher „Mitentschei‐ dungsverfahren“ genannt wurde, gilt in der großen Mehrzahl der Gesetz‐ gebungsverfahren. Darüber hinaus gibt es besondere Verfahren, das Kon‐ sultationsverfahren und das Zustimmungsverfahren. In einigen Fällen können der Rat und die Kommission allein Rechtsakte erlassen (vgl. Euro‐ päische Kommission 2014, S. 7). 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 81 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 81 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 81 19.10.2020 12: 33: 08 19.10.2020 12: 33: 08 <?page no="82"?> 4. Erste Lesung des Europäischen Parlaments: Das Parlament legt seinen Standpunkt (mit Änderungsvorschlägen) fest. 7. Der Rat billigt den Standpunkt des Parlaments. Der Rechtsakt ist erlassen. 8. Rat und Parlament sind nicht einig über die Änderungsvorschläge. Der Rat legt seinen „Standpunkt in erster Lesung“ fest. 11. Zweite Lesung im Rat (*) 12. Der Rat billigt alle Änderungsvorschläge des Parlaments am“Standpunkt des Rates in erster Lesung“. Der Rechtsakt ist erlassen. 14. Der Vermittlungsausschuss wird einberufen. 15. Der Vermittlungsausschuss einigt sich auf einen gemeinsamen Text. 5. Die Kommission kann ihren Vorschlag entsprechend ändern. 16. Parlament und Rat stimmen dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu: Der Rechtakt ist erlassen. 17. Parlament und/ oder Rat lehnen den Vorschlag des Vermittlungsausschusses ab: Der Rechtsakt ist nicht erlassen. 13. Der Rat und das Parlament sind sich nicht einig über die Vorschläge des Parlaments zur Änderung des „Standpunkts des Rates in erster Lesung“. 10. Stellungnahme der Kommission zu den Änderungsvorschlägen des Parlaments 9. Zweite Lesung des Europäischen Parlaments: Entweder billigt das Parlament den „Standpunkt des Rates in erster Lesung“ - der Rechtsakt ist dann in „früher zweiter Lesung“ erlassen - oder es schlägt Änderungen vor. 6. Erste Lesung im Rat (*) 3. (falls vorgeschrieben) Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und/ oder des Ausschusses der Regionen 1. Vorschlag der Kommission 2. Stellungnahmen der nationalen Parlamente ERSTE LESUNG ZWEITE LESUNG (*) Der Rat legt seinen Standpunkt mit qualifizierter Mehrheit fest (Einstimmigkeit ist im Vertrag nur wenigen Ausnahmefällen vorgesehen). Möchte der Rat jedoch vom Vorschlag oder der Stellungnahme der Kommission abweichen, so muss er seinen Standpunkt einstimmig festlegen. VERMITTLUNGSVERFAHREN Abb. 9: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Abb. 9: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Quelle: Europäische Kommission 2014, S. 6 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 82 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 82 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 82 19.10.2020 12: 33: 08 19.10.2020 12: 33: 08 <?page no="83"?> Box 16 | Die Europäische Kommission kontrovers Die positive Sicht: Für die Vertreter eines föderalen Europas hat die Kommission in der Vergangenheit erfolgreich die Rolle der Hüterin der Verträge ausgefüllt. Sie hat das eigeninteressierte Handeln der Mitglied‐ staaten korrigiert, die Vertragsverletzungsverfahren, welche die Kom‐ mission angestrengt hat, sind unvermeidlich und positiv zu bewerten. Die Kommissionsmitarbeiter sind hochqualifiziert, es handelt sich um einen „aufgeklärten Beamtenapparat“, die Mitarbeiter sind idealistisch und im wahren Sinne europäisch. Die Zahl der Mitarbeiter ist kleiner als die mancher Stadtverwaltungen in europäischen Hauptstädten (vgl. Menasse 2012, S. 26). Die kritische Sicht: Kritiker werfen der Kommission verschachtelte Strukturen, Intransparenz und eine überzogene Neigung zur Bürokratie vor. Die Regelungen zur Glühlampe oder zur Krümmung der Gurken stehen aus Sicht der Kritiker pars pro toto. Die Kommission mit aktuell 27 Mitgliedern sei zu groß, die Behörde habe zu viele Mitarbeiter, die Bezahlung der Beamten der Kommission sei zu hoch. Der Kommission mangele es an Kostenbewusstsein, das Kostencontrolling sei schwach, nicht-erfolgreiche Programme würden fortgeführt statt beendet. Jene, die den Europäischen Rat im Zentrum der Politik sehen, wünschen sich die Kommission eher als eine Art Verwaltungsstelle des Rats und weni‐ ger als Motor der Integration. 2.3.5 Europäischer Gerichtshof Ein weiteres zentrales Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. Europäische Kommission 2014, Nugent 2017). Dieser „sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Artikel 19 EUV). Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in Rechtsfragen, welche die EU betreffen, die höchste Instanz, er steht über den nationalen Gerichten. Der Gerichtshof der Europäischen Union, der seinen Sitz in Luxemburg hat, besteht aus zwei Hauptorganen, dem „Ge‐ richtshof “, der für Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, be‐ stimmte Nichtigkeitsklagen und Rechtsmittelanträge zuständig ist, sowie dem „Gericht“, das in allen Nichtigkeitsklagen von Privatpersonen und Un‐ 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 83 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 83 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 83 19.10.2020 12: 33: 08 19.10.2020 12: 33: 08 <?page no="84"?> ternehmen sowie in bestimmten ähnlichen Klagen von Mitgliedstaaten ent‐ scheidet. Beide Organe setzen sich aus genauso vielen Richtern zusammen wie die EU Mitgliedstaaten hat. Der Gerichtshof der EU gewährleistet, dass das europäische Recht einheit‐ lich ausgelegt und angewandt wird. Auf Ersuchen der nationalen Gerichte legt er das EU-Recht aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union befasst sich mit vier Verfahrensarten: Vertragsverletzungsverfahren bei Verstößen von Mitgliedsländern gegen Vertragsverpflichtungen; Nichtigkeitsklagen bei Klagen gegen Rechtsakte von Organen und Einrichtungen der EU; Un‐ tätigkeitsklagen bei Klagen gegen Organe der EU, wenn diese hätten tätig werden müssen; Dienstrechtsklagen bei Streitangelegenheiten zwischen Organen der EU und Bediensteten. Box 17 | Der Europäische Gerichtshof kontrovers Die positive Sicht: Der Europäische Gerichtshof genießt von allen eu‐ ropäischen Organen die stärkste Zustimmung. Aus Sicht der Anhänger eines föderalen Europas war der Gerichtshof in der Vergangenheit ein mutiger Vertreter der europäischen Einigung und hat die Entwicklung der Union ganz wesentlich vorangebracht. Er wurde zum eigentlichen Wächter der Verträge (vgl. Brunn 2017). Die kritische Sicht: Kritiker bemängeln, dass der Gerichtshof in der Vergangenheit häufig die Grenzen seiner Kompetenzen überschritten hat. Gesetzeslücken seien ohne ausdrückliches eigentliches Mandat ge‐ schlossen worden. 2.3.6 Europäischer Rechnungshof Der Europäische Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg ist als Organ der Eu‐ ropäischen Union für die externe Rechnungsprüfung zuständig (vgl. Euro‐ päische Kommission 2014). Er überprüft gemäß Artikel 285-287 AEUV, ob die Ausführung des Haushaltsplans ordnungsgemäß erfolgt ist. Dies bein‐ haltet die Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Aus‐ gaben, die Beachtung von Rechtsvorschriften und die Prüfung der Wirt‐ schaftlichkeit der Mittelverwendung. Dazu überprüft er Zahlungsvorgänge 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 84 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 84 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 84 19.10.2020 12: 33: 08 19.10.2020 12: 33: 08 <?page no="85"?> und allgemein das Finanzmanagement der Organisationen der Union. „Der Rechnungshof legt dem Parlament und dem Rat eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie die Rechtmäßigkeit und Ord‐ nungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge vor“ (Artikel 287 AEUV). Der Jahresbericht zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union, be‐ sondere Jahresberichte zur Prüfung in einzelnen Organisationen der EU, Sonderberichte und Stellungnahmen gehören zu den Instrumenten, die dem Rechnungshof zur Verfügung stehen. Die Mitglieder des Rechnungshofes (ein Staatsangehöriger je Mitgliedstaat) üben ihre Aufgaben in voller Unab‐ hängigkeit aus, sie dürfen während ihrer Tätigkeit für den Rechnungshof keinerlei Anweisungen von einer Regierung entgegennehmen, sie dürfen keine andere ent- oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben (Artikel 285- 286 AEUV). Box 18 | Der Europäische Rechnungshof kontrovers Die positive Sicht: Der Rechnungshof ist ein zentraler Baustein in der Sicherstellung verantwortlichen Regierungshandelns. Die Berichte des Rechnungshofs führen zu wichtigen Änderungen des Verwaltungshan‐ delns, die Organisation genießt hohe Glaubwürdigkeit. Die kritische Sicht: Einige Male stand der Rechnungshof selbst in der Kritik, da dem Verdacht auf Fehlverwendung von öffentlichen Mitteln nicht hartnäckig nachgegangen wurde, es hätte eine Kultur des Ver‐ schweigens von Missständen gegeben. Die Abstimmung mit anderen Organisationen, die sich dem Thema der Berechenbarkeit („Accounta‐ bility”) widmen, wie etwa dem Amt für Betrugsbekämpfung, sei nicht optimal. 2.3.7 Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) bildet zusammen mit den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten der EU das Europäische System der Zen‐ tralbanken (ESZB). Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zen‐ tralbanken jener Staaten, die den Euro eingeführt haben, bilden das Euro‐ system. Die vorrangige Aufgabe der EZB ist die Sicherung der Preisstabilität. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 85 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 85 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 85 19.10.2020 12: 33: 09 19.10.2020 12: 33: 09 <?page no="86"?> Die EZB ist auch dazu verpflichtet, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union zu unterstützen (Artikel 282 AEUV). Box 19 | Die Europäische Zentralbank kontrovers Die positive Sicht: Die Europäische Zentralbank hat die Geschicke des Euros erfolgreich gemeistert. Der Sachverstand ist hoch, die Ziele wur‐ den erreicht. Die größte Krise der Währungsunion ließ die Zentralbank an den Herausforderungen wachsen. Die neuen Instrumente, die ein‐ gesetzt wurden, haben Wirkung gezeigt und das Instrumentarium der Geldpolitik erweitert. Die kritische Sicht: Die Zentralbank hat in der Krise ihr Mandat über‐ schritten. Die Governance-Struktur lässt deutliche Defizite erkennen. Die demokratische Legitimation für die weitreichenden geldpolitischen Entscheidungen, welche die EZB insbesondere in der Krise getroffen hat, ist nicht vorhanden. 2.3.8 Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ In die Entscheidungsprozesse der Organe der EU sind weitere Ausschüsse eingebunden, die beratende Aufgaben übernehmen (vgl. Europäische Kom‐ mission 2014). Der „Ausschuss der Regionen“ setzt sich zusammen aus Ver‐ tretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ im Wesentlichen aus Vertretern der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Beide Ausschüsse haben höchstens 350 Mitglieder, sie sind in die sie betreffenden Gesetzgebungsverfahren einge‐ bunden und können mit Stellungnahmen Beratungen beeinflussen. Box 20 | Die Ausschüsse kontrovers Die positive Sicht: Regionen sind für die Identität der Menschen es‐ senziell, insbesondere auch vor dem Hintergrund mehrerer europäi‐ scher Länder, in denen in Regionen mehr Autonomie eingefordert wird. Den Regionen mehr Gehör zu verschaffen, ist konsequent und verbes‐ 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 86 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 86 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 86 19.10.2020 12: 33: 09 19.10.2020 12: 33: 09 <?page no="87"?> sert die Arbeit der Union. Die Einbindung der Arbeitgeber- und Arbeit‐ nehmervertreter in Entscheidungsprozesse der EU reflektiert das euro‐ päische Modell industrieller Beziehungen, der Schaffung von Orten des Dialogs, der Suche nach sozialem Ausgleich. Die Beteiligung dieser bei‐ den Ausschüsse dokumentiert das Streben der EU, demokratische Teil‐ habe zu ermöglichen. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker ist die Arbeit der Ausschüsse wenig transparent. Die Schaffung ständig weiterer Einrichtungen der Europäischen Union verkompliziert die Abläufe. Statt die Qualität des Handelns der Union zu verbessern, kommt es zu schwierigen und lang‐ wierigen Prozessen der Kompromisssuche. 2.3.9 Der Einfluss von Interessengruppen Planung und Umsetzung der Politiken erfolgen zunehmend unter Einbezie‐ hung nationaler und europäischer Interessengruppen. Dies entspricht dem Ziel der EU, mit der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft über Europa‐ fragen stärker zu kommunizieren. Sie werden im Rahmen des als „Komito‐ logie“ bezeichneten Systems der Ausschüsse aus Regierungsvertretern und Experten, die Initiativen der Union vorbereiten oder die Umsetzung beglei‐ ten, in die Arbeit der EU-Institutionen einbezogen. In einigen Fällen erfolgt die Mitarbeit fallbezogen („selektives Konsultationsmodell“), in anderen Fäl‐ len systematisch durch die institutionalisierte Einbindung („prozedurales Kommunikationsmodell“) (vgl. Knodt/ Corcaci 2012, S. 219-220). Ihre Mit‐ wirkung soll die Legitimation des europäischen Regierens und den Rückhalt in der Bevölkerung erhöhen. Box 21 | Die Einbeziehung von Interessengruppen kontrovers Die positive Sicht: Die Öffnung der EU für die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft gilt vielen als sinnvoll und not‐ wendig und als positives Beispiel für die Offenheit der supranationalen Strukturen. Modernes Regierungshandeln erfordert aus dieser Perspek‐ tive neue Formen der Partizipation, die Legitimation der EU-Politik wird 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 87 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 87 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 87 19.10.2020 12: 33: 09 19.10.2020 12: 33: 09 <?page no="88"?> damit erhöht. Die Verbesserung der Qualität der Entscheidungen und Politiken sei auch dieser Öffnung zu verdanken. Die kritische Sicht: Kritiker verweisen darauf, Interessengruppen seien in der Lage, die Regulierungen zu ihren Gunsten zu verändern, das Ge‐ meinwohlinteresse bleibe häufig auf der Strecke. Die Macht der Lobbyor‐ ganisationen sei kontraproduktiv, die zunehmende Intransparenz der Ar‐ beit der Ausschüsse sei in diesem Zusammenhang der Legitimation der Politik abträglich. Kleine gut organisierte Gruppen wären, wie die Neue Politische Ökonomie zeigt, im Vorteil, die nicht-symmetrische Interessen‐ vertretung würde die Qualität der Arbeit der Union beeinträchtigen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde ein solides rechtliches Fundament für die Arbeit der Europäischen Union geschaffen. So wie in der Vergangenheit wird allerdings auch zukünftig die Anpassung der institutionellen Struktur erforderlich sein, um neuen Herausforderungen optimal zu begegnen. 2.4 Wichtige Begriffe Lissabon-Vertrag, Europäische Verfassung, Primärrecht, Sekundär‐ recht, Verordnung, Richtlinie, Kommission, Europäischer Rat, Euro‐ päisches Parlament, Europäischer Gerichtshof, Europäischer Rech‐ nungshof, Ausschuss der Regionen, Wirtschafts- und Sozialausschuss, Europäische Zentralbank, Interessengruppen, Acquis Communautaire, ausschließliche Zuständigkeit, Subsidiarität, Einstimmigkeit, Mehr‐ heitswahlrecht, Hüterin der Verträge 2.5 Literatur Barroso, José M. (2014): „Wer Entscheidungen trifft, muss auch dazu stehen“, in: Die Welt, 12. Dezember 2014 Berger, Melissa/ Harendt, Christoph/ Heinemann, Friedrich/ Moessinger Marc-Da‐ niel/ Schwab, Thomas/ Weiss, Stefani (2017), How Europe can deliver: Optimising 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 88 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 88 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 88 19.10.2020 12: 33: 10 19.10.2020 12: 33: 10 <?page no="89"?> the division of competences among the EU and its member states, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Bieber, Roland/ Epiney, Astrid/ Haag, Marcel/ Kotzur, Markus (2019): Die Europäische Union - Europarecht und Politik, 13. Auflage, Baden-Baden, Nomos Verlagsge‐ sellschaft Borchardt, Klaus-Dieter (2017): Das ABC des Rechts der Europäischen Union, Lu‐ xemburg Brunn, Gerhard (2017): Die europäische Einigung von 1945 bis heute, 4. Auflage, Ditzingen, Stuttgart, Reclam Europäische Kommission (2014): So funktioniert die Europäische Union - Ihr Weg‐ weiser zu den EU-Institutionen, Luxemburg Europäisches Parlament (2019): Ergebnisse der Europawahl 2019, Internet: http: / / eu ropawahlergebnis.eu/ Europäischer Rat (2018): Beschluss (EU) 2018/ 937 des Europäischen Rates vom 28. Juni 2018 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, in: Amtsblatt der Europäischen Union, L 165 I/ 1, 2. 7. 2018 Europäische Union (2019): EU-Verträge, Internet: https: / / europa.eu/ european-union / law/ treaties_de Fischer, Joschka (2010), “Europa 2030 - Global power or hamster on a wheel”, in: Benjamin, Daniel (Hrsg.): Europe 2030, Washington, Brookings Institute Press, S. 1-10 Frey, Bruno. S./ Kirchgässner, Gebhard. (2002): Demokratische Wirtschaftspolitik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Knodt, Michele/ Corcaci, Andreas (2012): Europäische Integration - Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse, Konstanz/ München, UVK Verlagsgesellschaft Krimphove, Dieter (2014): Europarecht, 2. aktualisierte Auflage, Stuttgart, Kohl‐ hammer Verlag Lipatov, Vilen/ Weichenrieder, Alfons (2016): A Decentralization Theorem of Taxa‐ tion, CESifo Economic Studies, CESifo, vol. 62(2), S. 289-300 Menasse, Robert (2012): Der Europäische Landbote - Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien, Paul Zsolnay Verlag 2.5 Literatur 89 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 89 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 89 19.10.2020 12: 33: 10 19.10.2020 12: 33: 10 <?page no="90"?> Müller, Henrik/ Richter, Wolfram F. (2017), „Europa am Scheideweg - ein Vorschlag zur politischen Weiterentwicklung“, in: Wirtschaftsdienst, H.7, S. 484-489 Nugent, Neill (2017): The Government and Politics of the European Union, 8. Auf‐ lage, Palgrave Macmillan Pelkmans, Jacques (2006): European Integration. Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz/ Frischhut, Markus (Hrsg.) (2015): Einführung in das EU-Recht - Institutionen, Recht und Politik der Europäischen Union, 3. Auf‐ lage, Wien, facultas Sinn, Hans-Werner (2016): Der Schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-De‐ saster - Wie die Neugründung Europas gelingt, Freiburg, Verlag Herder Stehn, Jürgen (2017): Das Kern-Problem der EU, Kiel Policy Brief, No. 106 Weimann, Joachim (2009): Wirtschaftspolitik. Allokation und kollektive Entschei‐ dung, 5. Auflage, Berlin, Heidelberg, Springer-Verlag 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen 90 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 90 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 90 19.10.2020 12: 33: 10 19.10.2020 12: 33: 10 <?page no="91"?> 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union Leitfragen Wie hoch ist das Volumen des EU-Haushalts? Wofür werden die Ausgaben der EU getätigt? Wie werden die Haushaltsmittel veranschlagt und der Haushalt der EU geplant? Wie ist die Stellung des EU-Haushalts zum mehrjährigen Finanzrah‐ men? Welche Einnahmen dienen der Finanzierung der EU-Ausgaben? Wer ist Nettozahler und Nettoempfänger der EU? Welchen Herausforderungen sieht sich der EU-Haushalt gegenüber? 3.1 Einführung Zentrales Instrument der Haushaltspolitik ist der Haushaltsplan, in dem für jedes Haushaltsjahr sämtliche als erforderlich erachteten Ausgaben und Einnahmen der Europäischen Union veranschlagt werden (vgl. Europäische Kommission 2019a). Während in den Mitgliedstaaten der EU das Budget‐ 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 91 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 91 19.10.2020 12: 33: 10 19.10.2020 12: 33: 10 <?page no="92"?> recht den nationalen Parlamenten zusteht, beschließen in der EU hingegen der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament gemein‐ schaftlich über den Haushalt. Maßgeblich für die jährliche Haushaltspla‐ nung ist der Mehrjährige Finanzrahmen, mit dem für einen mittelfristigen Zeitraum vorab die Haushaltsprioritäten festgelegt werden (vgl. Europäi‐ sche Kommission 2014). 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 3.2.1 Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union Die grundlegenden Normen für den Prozess der Erstellung, den Haushalts‐ vollzug, die Kontrolle und Prüfung des Haushaltes finden sich im Primär‐ recht der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag) in den Artikeln 310 bis 324 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Wei‐ tere Regeln finden sich im Sekundärrecht (Verordnungen und Richtlinien) der Union. Das Verfahren zur Aufstellung des Haushaltsplans beginnt mit der Erstellung des jährlichen Haushaltsentwurfs durch die Europäische Kommission, der vom Rat und Parlament als Haushaltsbehörde geprüft und über den nach weiteren Verhandlungen entschieden wird. Die Schrittfolge zur Abstimmung zwischen Parlament und Rat (vgl. Abb. 10) ist in Artikel 314 AEUV detailliert geregelt. Angesichts unterschiedlicher Vorstellungen über Höhe und Struktur des EU-Budgets ist verständlich, dass die Einigung zwischen den beteiligten Akteuren nicht immer einfach ist. 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 92 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 92 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 92 19.10.2020 12: 33: 11 19.10.2020 12: 33: 11 <?page no="93"?> Entwurf des Haushaltsplans Kommission * Die Kommission ist bestrebt, den Haushaltsentwurf vor Ende April/ Anfang Mai vorzulegen. ** Das heißt, das Parlament billigt den gemeinsamen Entwurf und beschließt binnen 14 Tagen nach der Ablehnung durch den Rat (mit der Mehrheit seiner Mitglieder und drei Fünftel der abgegebenen Stimmen), alle oder einige der Änderungen aus der ersten Lesung zu bestätigen. Haushaltsverfahren - Zeitplan 1. September* 1. Oktober Ratsposition zum Haushaltsentwurf Rat Abänderung des Europäischen Parlaments (EP) bzgl. Ratsposition Parlament 13. November (42 Tage) EP stimmt zu oder fasst keinen Beschluss (Mehrheit der abgegebenen Stimmen) EP verabschiedet Abänderungen (Mehrheit der dem Parlament angehörenden Mitglieder) Rat akzeptiert die Änderungen des Parlaments innerhalb von 10 Tagen Haushalt verabschiedet Vermittlungsverfahren 13. November bis 4. Dezember (21 Tage) Gemeinsamer Entwurf Parlament und Rat 18. Dezember (14 Tage) Ja innerhalb von 14 Tagen Nein innerhalb von 14 Tagen Parlament und Rat stimmen zu (oder treffen keinen Beschluss) Rat lehnt Entwurf ab. Parlament hat das letzte Wort.** Rat stimmt zu, Parlament lehnt ab. Rat und Parlament lehnen Entwurf ab. Haushalt verabschiedet Entwurf abgelehnt Kommission reicht neuen Entwurf ein. Abb. 10: Das Haushaltsverfahren in der Europäischen Union Quelle: Europäische Kommission 2012, S. 20 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 93 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 93 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 93 19.10.2020 12: 33: 11 19.10.2020 12: 33: 11 <?page no="94"?> Die Bedeutung des Haushaltsplans ergibt sich aus den Funktionen, die dem öffentlichen Haushalt zugewiesen werden (vgl. Zimmermann/ Henke/ Broer 2017, S. 215-219, Brümmerhoff/ Büttner 2018, S. 130-131): ■ Die finanzwirtschaftliche Funktion: mit dem Haushalt soll die Sicher‐ stellung des finanziellen Gleichgewichts durch Übereinstimmung von Ausgabenbedarf und Deckungsmitteln gewährleistet werden; ■ die administrative Lenkungsfunktion: der Haushalt stellt die Bewirt‐ schaftungsgrundlage für das Handeln der Exekutive dar; ■ die Programmfunktion (parlamentarische Funktion): die politischen Ziele finden im Haushalt ihren budgetären Niederschlag; ■ die volkswirtschaftliche Funktion: der öffentliche Haushalt soll dazu beitragen, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu realisieren. Über die automatische Stabilisierungswirkung hinaus kann diese Funktion vom EU-Haushalt allerdings nur eingeschränkt wahrge‐ nommen werden, da eine antizyklische Fiskalpolitik (deficit spending) den öffentlichen Haushalten der Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt. In der Haushaltsordnung sind die Vorschriften und Grundsätze (Einheit, Haus‐ haltswahrheit, Jährlichkeit, Haushaltsausgleich, Rechnungseinheit, Gesamtde‐ ckung, Spezialität, Wirtschaftlichkeit und Transparenz) festgelegt. Im Einzel‐ nen werden die Mittel nach Tätigkeitsbereichen differenziert aktivitätsbezogen veranschlagt („activity-based budgeting“). Damit unterscheidet sich diese Art der Haushaltsaufstellung von der tradierten inputorientierten Haushaltspla‐ nung, die eine effiziente Mittelverwendung erschwert. Im Unterschied zum EU-Haushalt wird z. B. der deutsche Bundeshaushalt seit dem Jahr 2012 im Top-Down-Verfahren anstelle des bisherigen Bot‐ tom-Up-Ansatzes geplant. Auf der Grundlage der projizierten mittelfristigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der Schätzung der zukünftigen Steuereinnahmen werden zu Beginn der regierungsinternen Haushaltsauf‐ stellung (Eckwertebeschluss der Bundesregierung) eine Ausgabenobergrenze für den Bundeshaushalt und verbindliche Vorgaben für die Haushalte der Ministerien (Einzelpläne) festgelegt. Im Zuge des weiteren regierungsinter‐ nen Verfahrens haben die Ministerien einen beträchtlichen Spielraum („Schichtungsfreiheit“), die Haushaltseckwerte auf die einzelnen Ausgabeti‐ tel herunter zu brechen. Um die regierungsinterne Haushaltsplanung stärker inhaltlich auszurichten, ist die Einführung von einnahme- und ausgabeseiti‐ gen Haushaltsanalysen („Spending Reviews“) zu ausgewählten Politikberei‐ 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 94 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 94 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 94 19.10.2020 12: 33: 11 19.10.2020 12: 33: 11 <?page no="95"?> chen vorgesehen. Gleichwohl ist der Bundeshaushalt mit seiner Schwer‐ punktsetzung auf die zu verausgabenden Mittel (Inputs) „noch sehr klassisch strukturiert“ (Bundesministerium der Finanzen 2014a, S. 11). Zu überlegen ist daher, wie die ergebnisorientierte Haushaltsplanung verbessert und die Leis‐ tungen (Outputs) des öffentlichen Haushalts deutlicher hervorgehoben wer‐ den können. Der Haushaltsplan der Europäischen Union gliedert sich in den Gesamtein‐ nahmenplan und in die Einnahmen und Ausgaben nach Einzelplänen für die Organe (ohne Europäische Zentralbank) und Einrichtungen der EU. Eine besondere Bedeutung kommt dem Einzelplan der Kommission zu, der 95 % aller Unionsausgaben enthält. Während des Haushaltsjahres kann es notwendig sein, dass die Kommission Berichtigungshaushaltspläne zum Gesamthaushalt erstellt, wenn Verände‐ rungen im Haushalt aufgrund neuer Informationen oder unerwarteter Er‐ eignisse erforderlich werden. Die Kommission führt zusammen mit den Mitgliedstaaten den Haushalts‐ plan aus. Nach Abschluss der Haushaltsperiode und dem Haushaltvollzug muss das Europäische Parlament der Kommission Entlastung erteilen (Ar‐ tikel 319 AEUV). Box 22 | Die ethische Herausforderung: Rationalität der Haushaltsplanung Ineffizienz der Mittelverwendung im öffentlichen Sektor impliziert, dass der Gesellschaft erreichbare Möglichkeiten vorenthalten werden. Allerdings muss der Rahmen auch so gesetzt sein, dass wirtschaftliches Handeln prin‐ zipiell machbar ist. Für die Haushaltsplanung bedeutet dies, anstelle der inputeine stärker ergebnisorientierte Steuerung der Ressourcen vorzu‐ nehmen, so dass Unwirtschaftlichkeiten vermieden werden. Grundlage der inputorientierten Haushaltsplanung für das Jahr t ist das Budget des Vorjahres B t-1 . Jeder Ressortminister versucht in den Haus‐ haltsverhandlungen mit dem Finanzminister sein bisheriges Budgetvo‐ lumen mindestens zu halten. Wird erwartet, dass es zu einer Kürzung der Mittelforderungen kommen könnte, werden gegenüber dem laufen‐ den Budget entsprechend höhere Mittel beantragt (B t * ). Unter Berück‐ 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 95 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 95 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 95 19.10.2020 12: 33: 12 19.10.2020 12: 33: 12 <?page no="96"?> sichtigung einer Zufallskomponente (u t ) kann dieses Verhalten durch Gleichung (1) beschrieben werden: (1) B t * = α B t-1 +u t (mit α > 1). Werden die beantragten Mittelzuwächse für das Jahr t durch den Fi‐ nanzminister wenigstens anteilig beschnitten, erhält man für die bewil‐ ligten Mittel (B t ) unter Einbeziehung der Zufallsgröße v t die Gleichung (2): (2) B t = β B t * + v t (mit β < 1). Nach Einsetzen von Gleichung (1) in Gleichung (2), Ersetzen des Pro‐ dukts βα durch γ und Zusammenfassung der beiden Zufallsvariablen zu w t , erhält man Gleichung (3): (3) B t = γ B t-1 + w t . Wenn ausschließlich das Vorjahresbudget die Basis für die Mittelzutei‐ lung des folgenden Jahres darstellt, ergibt sich für die Ressorts die Not‐ wendigkeit, die einmal bewilligten Mittel auch ausgeben zu müssen, will man höhere Mittel im folgenden Jahr durchsetzen. Dies begünstigt ein verschwenderisches Verhalten im öffentlichen Sektor („Novemberfie‐ ber“) (vgl. Davis/ Dempster/ Wildavsky 1966). 3.2.2 Die Ausgabenseite des EU-Haushalts In Abb. 11 ist das Ausgabenvolumen der EU gemäß Haushaltsentwurf für das Jahr 2020 dargestellt (vgl. Europäische Kommission 2019b). Die Mittel zum Eingehen von Verpflichtungen (Mf V) betragen 168,7 Mrd. €; die Mittel für zu leistende Zahlungen (MfZ) belaufen sich auf 153,6 Mrd. €. Dies ent‐ spricht 0,99 % bzw. 0,90 % des Bruttonationaleinkommens der EU in Höhe von knapp 17 Bill. €. 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 96 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 96 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 96 19.10.2020 12: 33: 12 19.10.2020 12: 33: 12 <?page no="97"?> Ausgaben nach Rubriken (in Mio. EUR) Mf V MfZ 1. Intelligentes und integratives Wachstum 83.931 72.351 1a. Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung 25.285 22.308 1b. Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt 58.646 50.046 2. Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen darunter: marktbezogene Maßnahmen und Direktbeihilfen 59.907 43.410 57.904 43.380 3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft 3.729 3.685 4. Europa in der Welt 10.262 8.929 5. Verwaltung 10.272 10.275 6. Ausgleichsbeträge 0 0 Besondere Instrumente 588 419 Gesamtbetrag 168.689 153.566 in % des BNE 0,99 0,90 Abb. 11: Ausgaben der EU 2020 Anmerkung: Die Einigung beruht auf der Prämisse, dass das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der Europäischen Union spätestens am 31. Januar 2020 noch bis Ende 2020 denselben Beitrag wie ein Vollmitglied zum Unionshaushalt und zur Durchführung der EU-Haushaltspläne leisten wird. Die Unterteilung der Ausgaben nach Rubriken zeigt, dass die 1. Rubrik „Intelli‐ gentes und integratives Wachstum“ die Ausgaben für Wettbewerbsfähigkeit und die Ausgaben für die Kohäsion in der Union, d. h. den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt umfasst. Die nächste Rubrik „Nach‐ haltiges Wachstum: natürliche Ressourcen“ enthält die Ausgaben für die Land‐ wirtschafts- und Fischereipolitik und für die Entwicklung des ländlichen Raums. Die 3. Rubrik „Sicherheit und Unionsbürgerschaft“ stellt auf die Ausga‐ 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 97 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 97 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 97 19.10.2020 12: 33: 12 19.10.2020 12: 33: 12 <?page no="98"?> ben für Asyl-, Migrationspolitik, Gesundheit, Recht der Verbraucher und sons‐ tige Maßnahmen ab. Die Rubrik „Europa in der Welt“ fasst die Ausgaben für Europas Wirken international zusammen. Unter der 5. Rubrik werden die Ver‐ waltungsausgaben der jeweiligen Organe und Einrichtungen der EU erfasst. In der 6. Rubrik werden die Ausgleichszahlungen berücksichtigt, die mit einer EU-Erweiterung zusammenhängen. Zu den besonderen Instrumenten zählt der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung, der Hilfestellung für Arbeitnehmer bietet, die infolge von Veränderungen des Welthandelsgefü‐ ges arbeitslos geworden sind. Durch den Solidaritätsfonds der Europäischen Union können Mitgliedstaaten unterstützt werden, in denen Naturkatastro‐ phen größeren Ausmaßes aufgetreten sind. Box 23 | Transparenz der Ausgaben der EU Ist die Darstellung des Budgets der EU als Signal der Transparenz oder doch eher als geschicktes Public-Relation-Unterfangen einzustufen? Die beiden zentralen Rubriken „Natürliche Ressourcen“ und „Intelli‐ gentes und integratives Wachstum“ beschreiben wichtige Ziele der Union. In Artikel 3 des EUV heißt es: Die Union „wirkt auf die nachhal‐ tige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirt‐ schaftswachstums […] sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Ver‐ besserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“. Die Darstellung gemäß dieser Rubriken ist somit konsequent und weist die Prioritäten der Union aus. Kritiker verweisen darauf, dass die unter „Natürliche Ressourcen“ sub‐ sumierten Ausgaben eher die Prioritätensetzung der Vergangenheit re‐ flektieren, vor allem Ausgaben für Landwirtschaft und ein großer Teil der Ausgaben unter der Rubrik „Intelligentes und integratives Wachs‐ tum“ in der Vergangenheit nicht Innovation und Wachstum unterstütz‐ ten, sondern Infrastrukturprojekte in ärmeren EU-Ländern ermöglich‐ ten, die häufig keine Wachstumsimpulse setzten. Die Rubriken sind aus dieser Sicht eher PR-orientierter Etikettenschwindel. 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 98 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 98 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 98 19.10.2020 12: 33: 13 19.10.2020 12: 33: 13 <?page no="99"?> 3.2.3 Die Einnahmeseite des EU-Haushalts Abgesehen von den übrigen Einnahmen (Steuern und sonstige Abzüge von den Gehältern der EU-Bediensteten, Saldo aus dem vorhergehenden Haus‐ haltsjahr, Beiträge von Drittländern zu bestimmten EU-Programmen etc.) erfolgt die Finanzierung der EU-Ausgaben über das System der Eigenmit‐ tel, das mit dem Eigenmittelbeschluss des Rates vom 21. April 1970 einge‐ führt wurde und in der Zwischenzeit verschiedene Änderungen erfahren hat (vgl. D’Alfonso 2016). In Abb. 12 sind die (geschätzten) Einnahmen der EU für das Jahr 2020 aus‐ gewiesen (vgl. Europäische Kommission 2019c). Einnahmen in Mio. EUR in % 1. Eigenmittel 151.647,4 98,72 Traditionelle Eigenmittel 22.156,9 14,42 Mehrwertsteuer-Eigenmittel 18.945,2 12,33 Bruttonationaleinkommen-Eigen‐ mittel 110.545,3 71,96 2. Übrige Einnahmen 1.973,3 1,28 Insgesamt* 153.620,7 100,0 Abb. 12: Einnahmen der EU 2020 * Rundungsabweichungen Die traditionellen Eigenmittel, bei denen es sich um Zölle und Zuckerabga‐ ben handelt, stellen originäre Einnahmen der EU dar, die mit der Bildung der Zollunion im Jahr 1968 gemeinschaftsrechtlich begründet sind. Für die Erhebung dieser Mittel zugunsten der EU behalten die Mitgliedstaaten einen Anteil von 20 % des Aufkommens ein. Im Jahr 2020 belaufen sich die tradi‐ tionellen Eigenmittel auf 14,42 % der Gesamteinnahmen der EU. Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel bestimmen sich durch Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten gleichen Abrufsatzes in Höhe von 0,3 % auf eine nach einheitlicher Regelung abgegrenzte MwSt-Bemessungsgrundlage, damit die 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 99 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 99 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 99 19.10.2020 12: 33: 13 19.10.2020 12: 33: 13 <?page no="100"?> Unterschiede in den MwSt-Systemen der Mitgliedsländer bereinigt werden. Um die Regressionswirkung der MwSt für die ärmeren Mitgliedsländer zu begrenzen, die aus der Abnahme der durchschnittlichen Konsumquote mit höherem Wohlstand resultiert, wird die theoretische MwSt-Bemessungs‐ grundlage auf die Hälfte des Bruttonationaleinkommens eines Mitglieds‐ landes begrenzt. Im Jahr 2020 macht der Anteil der MwSt-Eigenmittel an den Gesamteinnahmen der EU gut 12 % aus. Mit einem Wert von ca. 72 % der Einnahmen insgesamt tragen die Brutto‐ nationaleinkommen-Eigenmittel im Jahr 2020 wesentlich zur Deckung der EU-Ausgaben bei. Die Finanzierung ist damit stark proportional zum Wohl‐ standsniveau der Mitgliedstaaten. Zur Ermittlung der BNE-Einnahmen wird das Bruttonationaleinkommen jedes Mitgliedslandes mit einem einheitli‐ chen Prozentsatz multipliziert, der im Zuge der jährlichen Haushaltsplanung aus der Differenz zwischen den EU-Ausgaben und den anderen Einnahme‐ arten in Relation zum Bruttonationaleinkommen der EU bestimmt wird und in aufeinanderfolgenden Haushaltsjahren variieren kann. Verständnisfrage Wie ist das Bruttonationaleinkommen gemäß volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung definiert? Zum Eigenmittelsystem der EU gehören auch die für einige Mitgliedsländer geltenden Ausnahmeregelungen. Bedeutsam ist der Korrekturmechanismus zugunsten des Vereinigten Königreichs, der mit dem Eigenmittelbeschluss 1985 (85/ 257/ EWG, Euratom) eingeführt und seitdem mehrfach geändert wurde. Dem Vereinigten Königreich werden rund zwei Drittel der Differenz zwischen den Zahlungen an die EU und den Leistungen, die aus dem EU-Haushalt zurückfließen, erstattet. Dieser „Briten-Rabatt“ wurde damit begründet, dass überproportional hohe Beträge an die Gemeinschaft bei Zöllen (Commonwealth-Importe) und der Mehrwertsteuer (hohe Konsum‐ quote) erbracht wurden, während aufgrund des kleinen landwirtschaftli‐ chen Sektors im Vereinigten Königreich nur unterproportionale Rückflüsse aus dem damals noch sehr starken Agrarhaushalt der Union auftraten (vgl. Wagener/ Eger 2014, S. 306). Der Korrekturbetrag zugunsten des Vereinigten Königreichs wird von den übrigen Mitgliedsländern entsprechend ihrem je‐ weiligen Anteil am Bruttonationaleinkommen der EU aufgebracht. Der Beitrag, den Deutschland, die Niederlande, Österreich und Schweden zum 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 100 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 100 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 100 19.10.2020 12: 33: 13 19.10.2020 12: 33: 13 <?page no="101"?> Britenrabatt leisten, wird gekürzt und auf ein Viertel des an sich aufzubrin‐ genden Finanzierungsanteils begrenzt („Rabatt vom Rabatt“). Weitere Ad-hoc-Korrekturen betreffen die auf die Hälfte reduzierten Ab‐ rufsätze bei der MwSt., die Deutschland, den Niederlanden und Schweden bis zum Jahr 2020 gewährt werden. Andere Länder (Dänemark, die Nieder‐ lande, Österreich und Schweden) werden durch Pauschalabzüge bei den BNE-Eigenmitteln begünstigt. Im Jahr 2020 beträgt der Anteil der Eigenmittel am BNE 0,89 % (151,6 Mrd. €/ 16.988 Mrd. €). Damit wird die geltende EU-Eigenmittel-obergrenze von 1,20 % der Summe der Bruttonationaleinkommen aller Mitgliedstaaten eingehalten. Hervorzuheben ist, dass der EU die öffentliche Verschuldung als Instrument der allgemeinen Haushaltsfinanzierung prinzipiell nicht zusteht. Nach Arti‐ kel 311 AEUV sind die Ausgaben der EU unbeschadet der sonstigen Einnah‐ men vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren. Zwar kann die Kommission ermächtigt werden, im Namen der EU auf den Kapitalmärkten Kredite aufzu‐ nehmen. Die Mittel dienen etwa dazu, Darlehen zur Stützung der Zahlungs‐ bilanzen an Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone zu gewähren sowie Makrofinanzhilfen an Drittstaaten zu leisten, die der EU nahestehen. 3.3 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU Aus den Regelungen auf der Ausgabenseite und den Bestimmungen auf der Einnahmeseite des EU-Haushalts resultiert die Nettoposition der Mitglied‐ staaten gegenüber der EU. Nettoempfängerländer (Nettozahlerländer) wei‐ sen einen positiven (negativen) Saldo aus Mittelrückflüssen von der EU und finanziellen Leistungen an die EU auf. Von der Europäischen Kommission werden sog. operative Haushaltssalden ermittelt, für die auf der Ausgabenseite eine Bereinigung um die Verwal‐ tungsausgaben („nicht zurechenbare Kollektivleistung“) erfolgt und auf der Einnahmeseite die traditionellen Eigenmittel („Rotterdam-Antwerpen-Ef‐ fekt“) unberücksichtigt bleiben. Wenn die operativen Ausgaben und die na‐ tionalen Beiträge in ihren Summen übereinstimmen, addiert sich der Ge‐ samtsaldo aus den Nettopositionen aller Mitgliedsländer zu Null. Die Summe aus den Nettozahlungen aller Mitgliedstaaten, die mit dem Betrag identisch ist, den die Empfängerländer insgesamt erhalten, stellt die budgetäre Um‐ 3.3 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU 101 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 101 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 101 19.10.2020 12: 33: 13 19.10.2020 12: 33: 13 <?page no="102"?> verteilung dar. In Abb. 13 sind die operativen Haushaltssalden in absoluten Werten und in Prozent des Bruttonationaleinkommens für das Jahr 2018 wiedergegeben (vgl. Europäische Kommission 2019d). Mitgliedsländer in Mio. EUR in v.H. des BNE Mitgliedsländer in Mio. EUR in v.H. des BNE Belgien (BE) -487,6 -0,11 Luxemburg (LU) +18,5 +0,04 Bulgarien (BG) +1.670,1 +3,01 Ungarn (HU) +5.207,4 +4,11 Tschechische Republik (CZ) +2.390,0 +1,22 Malta (MT) +46,2 +0,41 Niederlande (NL) -2.460,5 -0,31 Dänemark (DK) -1.198,6 -0,39 Österreich (AT) -1.346,5 -0,35 Deutschland (DE) -13.405,9 -0,39 Polen (PL) +12.343,1 +2,59 Estland (EE) +540,3 +2,15 Portugal (PT) +3.268,6 +1,66 Irland (IE) -314,5 -0,12 Rumänien (RO) +3.194,2 +1,61 +1,61 Griechenland (EL) +3.352,0 +1,83 Slowenien (SI) +532,2 +1,17 Spanien (ES) +1.856,9 +0,15 Slowakei (SK) +1.683,4 +1,90 Frankreich (FR) -6.192. 6 -0,26 Finnland (FI) -580,3 -0,25 Kroatien (HR) +661,1 +1,31 Schweden (SE) -1.524,8 -0,32 Italien (IT) -5.059,4 -0,29 Vereinigtes Königreich (UK) -6.946,1 -0,29 Zypern (CY) +77,9 +0,39 Lettland (LV) +969,1 +3,31 Litauen (LT) +1.705,5 +3,96 Abb. 13: Operative Haushaltssalden 2018 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 102 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 102 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 102 19.10.2020 12: 33: 14 19.10.2020 12: 33: 14 <?page no="103"?> Die Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten beträgt im Jahr 2018 gut 39,5 Mrd. €. Bei Betrachtung der absoluten Zahlen ist Deutschland mit 13,4 Mrd. € der größte Nettozahler der EU, gefolgt vom Vereinigten Königreich mit 6,9 Mrd. € und von Frankreich mit knapp 6,2 Mrd. €. Größtes Netto‐ empfängerland ist Polen (12,3 Mrd. €) vor Ungarn (5,2 Mrd. €) und Grie‐ chenland (3,4 Mrd. €). Werden die operativen Haushaltssalden in Prozent des Bruttonationaleinkommens herangezogen, liegen Deutschland und Dä‐ nemark (-0,39%) als Zahlerländer vor Österreich (-0,35%) und Schweden (-0,32%), während Ungarn (+4,11%) vor Litauen (+3,96%) und Lettland (+3,31%) den höchsten Nettovorteil erreicht. Mit den Zahlungssalden wird allerdings nur die fiskalische Sicht eines Lan‐ des gegenüber der EU eingenommen (formale Inzidenz); nicht zu vernach‐ lässigen sind ökonomisch die handelsschaffenden Effekte und die mit den Freiheiten des Binnenmarktes einhergehenden Wirkungen der Europäi‐ schen Union (effektive Inzidenz) (vgl. Feld 2006, Bertelsmann-Stiftung 2013, Schratzenstaller 2019). 3.4 Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 Für die Haushaltsplanung der EU ist der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) als Rahmenplan für die jährlichen EU-Haushalte verbindlich, der die politi‐ schen Prioritäten der Union über einen mindestens fünfjährigen Zeitraum reflektiert (Artikel 312 AEUV). Mit dem MFR werden Obergrenzen für die Ausgaben insgesamt und je Politikbereich (Rubrik) vorgegeben. Es handelt sich um eine Verordnung, die vom Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner Mitglieder einstimmig beschlossen wird. Aus Abb. 14 ist die Gesamtstruktur des (angepassten) MFR 2014 -2020 zu entnehmen (vgl. Europäische Kommission 2019e). Mit einem Anteil von knapp 39 % dominieren die Ausgaben im Agrarbereich (Rubrik 2) gefolgt von den Ausgaben im Rahmen der Kohäsion (Rubrik 1b) mit rund 34 %. Die Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung (Rubrik 1a) belaufen sich auf einen Anteil von etwa 13 %. Nicht unter die Obergrenzen für die Verpflichtungen fallen die Mittel außerhalb des MFR für zusätzliche Ausgabenprogramme wie die Reserve für Soforthilfe und weitere Instrumente oder Fonds, um eine höhere Flexibilität bei der Mittel‐ verwendung zu erreichen. 3.4 Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 103 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 103 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 103 19.10.2020 12: 33: 14 19.10.2020 12: 33: 14 <?page no="104"?> Mittel für Verpflichtungen in Mio. EUR Preise von 2011 jeweilige Preise 1. Intelligentes und integratives Wachstum 454.554 513.563 1a: Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Be‐ schäftigung 125.614 142.130 1b: Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zu‐ sammenhalt 328.940 371.433 2. Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressour‐ cen 372.925 420.034 davon: Marktbezogene Ausgaben und Direktzah‐ lungen 273.709 307.998 3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft 15.673 17.725 4. Europa in der Welt 58.704 66.262 5. Verwaltung 61.629 69,584 6. Ausgleichszahlungen 27 29 Mittel für Verpflichtungen insgesamt 963.512 1.087.197 in Prozent des BNE 1. 00 1. 02 Mittel für Zahlungen insgesamt 909.566 1.027.151 in Prozent des BNE 0. 95 0. 96 Verfügbarer Spielraum 0. 27 0. 26 Eigenmittelobergrenze in Prozent des BNE 1. 22 1. 22 Abb. 14: Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 104 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 104 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 104 19.10.2020 12: 33: 14 19.10.2020 12: 33: 14 <?page no="105"?> 3.5 Problemfelder der Haushaltspolitik Auf beiden Seiten des Haushalts der EU stellen sich verschiedene Heraus‐ forderungen (vgl. Adam/ Mayer 2016). Wie jeder öffentliche Haushalt ist auch der EU-Haushalt Resultat eines politischen Ringens um Positionen, von wirtschaftspolitischen Überzeugungen und Zukunftserwartungen, insbe‐ sondere wenn eine Einigung über den mehrjährigen Finanzrahmen gefun‐ den werden muss. Angesichts des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU und anderer Prioritäten, was Migration, Terrorismus, regionale Konflikte, Klima oder digitale Wirtschaft betrifft (vgl. ESPAS 2019, Angel/ Bacian/ Drachenberg/ Vucovic 2019), steht nicht nur das Volumen des Ge‐ samthaushalts, sondern auch dessen Struktur zur Disposition. Schon lange wird die Dominanz der vollständig aus dem EU-Haushalt fi‐ nanzierten Agrarausgaben (Marktbezogene Maßnahmen und Direktzahlun‐ gen) bemängelt, mit denen die EU den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht wird. Für die Stärke der europäischen Volkswirtschaften sind viel‐ mehr die Bereiche wie Bildung und Qualifizierung, Innovation und Tech‐ nologie von Bedeutung. Hinterfragt werden auch die Ausgaben im Rahmen der europäischen Regional- und Strukturpolitik (Kohäsion), die nicht auf die Länder mit dem höchsten Entwicklungsrückstand konzentriert werden; auch wird eine Förderung von Projekten bemängelt, die der nationalen Ebene vorbehalten bleiben könnten. Als wünschenswert wird eine noch stärkere Verknüpfung der Kohäsionsmittel mit den wirtschaftspolitischen Reformempfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters gesehen. Durch die sich über die Eigenmittelfinanzierung ergebende Verbindung des EU-Haushalts mit den nationalen Haushalten liegt für die Mitgliedsländer aus fiskalischer Sicht die Frage nach der Nettoposition gegenüber der EU nahe. Die Gegenüberstellung von rechnerischen Einnahmen und Ausgaben der Mitgliedsländer in Form der operativen Haushaltssalden fördert ein „just retour“-Denken, das darauf gerichtet ist, hohe Mittelrückflüsse aus dem EU-Budget zu realisieren. Die Maximierung des fiskalischen Nettonutzens einer Mitgliedschaft in der EU ist schon deshalb nicht zielführend, da weder die Zuordnung der Einnahmen eines Landes eindeutig ist noch regionale Externalitäten berücksichtigt werden. 3.5 Problemfelder der Haushaltspolitik 105 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 105 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 105 19.10.2020 12: 33: 14 19.10.2020 12: 33: 14 <?page no="106"?> Box 24 | EU-Haushalt und Common pool-Problem Das Common pool-Problem des EU-Haushalts verweist auf die Allmen‐ deproblematik der Überbeanspruchung einer gemeinsam genutzten Ressource. Nationale Repräsentanten haben Anreize, Ausgabenpro‐ gramme zugunsten der eigenen Region zu beschließen, während die Fi‐ nanzierung dieser Maßnahmen europaweit erfolgt. Dies begünstigt in‐ effiziente Allokationsentscheidungen und erschwert, den Haushalt auf die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter auszurichten (vgl. Heinemann 2006). Damit der EU-Haushalt besser als bisher die makroökonomische Stabilisie‐ rungsfunktion wahrnehmen und bei asymmetrischen Schocks die nationalen Haushaltsstabilisatoren ergänzen kann, ist angeregt worden (vgl. Europäische Kommission 2015, 2017a, 2017b), verschiedene Ausgestaltungsformen der Sta‐ bilisierungsfunktion wie eine Schutzregelung für Investitionen, eine europäi‐ sche Arbeitslosenrückversicherungsregelung oder ein Rainy-Day-Fonds zu prüfen. Deutlich weitergehend sind Vorstellungen zur Einrichtung eines eige‐ nen Haushalts für den Euroraum (vgl. Französische Botschaft 2017). Abgesehen von der Problematik im Umgang mit überschuldeten EU-Staaten muss sicher‐ gestellt sein, dass bei all diesen Maßnahmen Fehlanreize vermieden werden und derartige Regeln ausschließlich dem intendierten Ziel entsprechen. Die Haushaltsplanung auf der Basis des mehrjährigen Finanzrahmens gewähr‐ leistet zwar eine langfristige Planbarkeit von EU-Ausgabenprogrammen und bietet Voraussicht für die Mitgliedsländer, was die auf sie zukommende Mittel‐ bereitstellung betrifft, schränkt aber die Planungsspielräume für die EU ein, auf unvorhergesehene Entwicklungen flexibel zu reagieren. Eine Verkürzung der Planungsperiode auf fünf Jahre wäre im Übrigen mit der Wahlperiode des Eu‐ ropäischen Parlaments und der Amtsperiode der Kommission kompatibel. Al‐ ternativ könnte auf einen Zeitraum von 5+5-Jahre mit einer verpflichtenden Halbzeitbewertung übergegangen werden (vgl. Kengyel 2017). Um eine flexi‐ blere Haushaltsplanung zu ermöglichen, ist vorgeschlagen worden, im mehr‐ jährigen Finanzrahmen auf die Vorgaben von Ausgabenobergrenzen nach Ru‐ briken zu verzichten und nur das Haushaltsvolumen zu limitieren. Die Entscheidung über die konkrete Mittelverwendung könnte dann im jährlichen Haushaltsverfahren getroffen werden. Dies würde allerdings mit einer Stär‐ 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 106 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 106 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 106 19.10.2020 12: 33: 15 19.10.2020 12: 33: 15 <?page no="107"?> kung des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat einhergehen (vgl. Fu‐ est/ Heinemann/ Ungerer 2015). Auf der Einnahmeseite wird beklagt, dass eine (wenigstens anteilige) finan‐ zielle Autonomie der EU nicht gegeben ist. Obwohl es in Artikel 311 AEUV heißt, dass sich die EU mit den erforderlichen Mitteln ausstattet, um ihre Ziele zu erreichen und ihre Politik durchführen zu können, werden vor allem die BNE-Eigenmittel als nationale Beiträge zum EU-Haushalt wahrgenom‐ men, die einen Kostenfaktor darstellen, ohne wirklich echte eigene Einnah‐ men der EU zu sein (vgl. D’Alfonso 2016). Auch wenn das Eigenmittelsystem die Finanzierung der Ausgaben der EU si‐ cherstellt, wird auf dessen Intransparenz und den Mangel an Rationalität ver‐ wiesen und darauf, dass für den Bürger die Verbindung zwischen Ausgaben und Einnahmen der EU nicht erkennbar wird. Daher trägt das Finanzsystem nicht dazu bei, die politischen Ziele der EU, etwa was die Bekämpfung des Klimawandels oder die Vertiefung des Binnenmarktes angeht, zu erreichen. Durch die Komplexität des Einnahmesystems können schließlich inkonsis‐ tente Ergebnisse verdeckt werden, wenn die Vorteile bestimmter Ausgaben‐ programme für einkommensschwache Mitgliedsländer dadurch unterlaufen werden, dass diese Länder zur Finanzierung der Korrekturmechanismen für reichere Mitgliedstaaten herangezogen werden (vgl. Europäische Kommission 2011). 3.6 Reformvorstellungen 3.6.1 Lösungsansätze auf der Ausgabenseite Die Kritik an Höhe und Struktur der EU-Ausgaben wäre weniger stark aus‐ geprägt, wenn europaweite öffentliche Güter angeboten oder Leistungen mit einem europäischen Mehrwert erbracht würden (vgl. Sachverständi‐ genrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2016, Fu‐ est/ Pisani-Ferry 2019). Europaweite öffentliche Güter sind dadurch charak‐ terisiert, dass keinem Mitgliedsland die Vorteile aus der Leistungserstellung vorenthalten werden kann und der Konsum solcher Güter nicht rivalisiert. Dies gilt für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik wie für eine gemeinsame Entwicklungspolitik. Ein europäischer Mehrwert liegt im Fall 3.6 Reformvorstellungen 107 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 107 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 107 19.10.2020 12: 33: 15 19.10.2020 12: 33: 15 <?page no="108"?> des Binnenmarktes, Forschung und Technologie oder der Wettbewerbs- und Umweltpolitik vor, soweit durch regionale Externalitäten (spillovers) ein positiver Effekt auf die Wohlfahrt auch der anderen Mitgliedstaaten auftritt. Box 25 | Effizientes Leistungsangebot bei Nutzen-Spillovers Angenommen, ein Land A stellt ein öffentliches Gut (X) zu konstanten Grenzkosten (GK) her, von dem auch Land B profitiert. Orientiert sich Land A nur an der eigenen marginalen Zahlungsbereitschaft (MZB A ) wird im Zuge des Vorteil-Nachteilsvergleichs die Menge (X A ) bereitge‐ stellt (MZB A = GK). Unberücksichtigt bleibt die Tatsache, dass auch Land B einen Vorteil (MZB B ) aus dem Leistungsangebot des öffentlichen Gutes durch Land A aufweist. Da der gemeinsame Vorteil (MZB A + MZB B ) die Grenzkosten übersteigt, ist die Menge X A nicht optimal. Effizient ist die Menge X A+B , bei der die Summe der Zahlungsbereitschaften den Grenz‐ kosten entspricht: (MZB A + MZB B ) = GK X A X A+B MZB GK MZB A +MZB B GK X MZB B MZB A Abb. 15: Güter mit europäischem Mehrwert Abgesehen von Kooperationen kann die Internalisierung bei stark aus‐ geprägten Spillover-Effekten durch Übertragung der Aufgabe auf eine übergeordnete Ebene erfolgen (vgl. Cansier/ Bayer 2003, Kap. XII). 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 108 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 108 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 108 19.10.2020 12: 33: 15 19.10.2020 12: 33: 15 <?page no="109"?> In Abb. 16 ist der Kommissionsentwurf des mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 für die EU 27 angegeben (vgl. Europäische Kommission 2018a). Mit einem Volumen von 1.279,4 Mrd. € (1.246,3 Mrd. €) für Mittel für Ver‐ pflichtungen (Mittel für Zahlungen) in jeweiligen Preisen beträgt der Anteil am BNE 1,11 % (1,08%). Die Änderung der Nomenklatur der Rubriken sowie die Anhebung von fünf auf sieben Rubriken verdeutlichen die beabsichtigte Prioritätenverschiebung in der Mittelverwendung. Im Vergleich mit einem sog. „virtuellen“ MFR 2014-2020 ohne Beteiligung des Vereinigten König‐ reichs sind im MFR 2021-2027 zwar Mittelkürzungen in den Bereichen Landwirtschaft (um 15 %) und Kohäsion (um 10 %) vorgesehen, die vom Europäischen Parlament (2018) allerdings kritisch beurteilt wurden (vgl. Parry/ Sapala 2018). Insbesondere radikale Ausgabenschnitte, die sich auf die Verwirklichung der Ziele in diesen beiden Politikbereichen negativ auswir‐ ken würden, werden abgelehnt. Eine Erhöhung der Haushaltsflexibilität soll durch stärkere Mittelübertra‐ gung innerhalb der MFR-Rubriken erreicht werden. Dazu dienen auch die außerhalb der MFR-Obergrenzen angesiedelten speziellen Instrumente (vgl. Sapala/ Members‘ Research Service 2020). Mit der Europäischen Investitionsstabilisierungsfunktion wird versucht, im Falle exogener Schocks der volkswirtschaftlichen Funktion eines Staats‐ haushalts nachzukommen. Zusätzlich zu den bestehenden Mechanismen sollen Mitgliedstaaten des Eurogebiets und unter bestimmten Bedingungen auch nicht dem Euroraum angehörende EU-Staaten insgesamt bis zu 30 Mrd. € an Mitteln in Form von Darlehen im MFR-Zeitraum bereitgestellt werden können. Schließlich ist vorgesehen, den EU-Haushalt enger mit der Einhaltung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in den Mitgliedsländern zu verknüpfen. (vgl. Europäische Kommission 2018c). Staaten, die gegen die in Artikel 2 EUV festgeschriebenen Werte verstoßen, müssen mit Konsequenzen bei der EU-Mittelvergabe rechnen. Die Entscheidung darüber wird auf Vorschlag der Kommission vom Rat mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit beschlos‐ sen. 3.6 Reformvorstellungen 109 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 109 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 109 19.10.2020 12: 33: 16 19.10.2020 12: 33: 16 <?page no="110"?> Mittel für Verpflichtungen in Mio. EUR Preise von 2018 Jeweilige Preise 1. Binnenmarkt, Innovation und Digitales 166.303 187.370 2. Zusammenhalt und Werte 391.974 442.412 davon: wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt 330.642 373.000 3. Natürliche Ressourcen und Umwelt 336.623 378.920 davon: marktbezogene Ausgaben und Direktzah‐ lungen 254.247 286.195 4. Migration und Grenzmanagement 30.829 34.902 5. Sicherheit und Verteidigung 24.323 27.515 6. Nachbarschaft und die Welt 108.929 123.002 7. Europäische öffentliche Verwaltung 75.602 85.287 Mittel für Verpflichtungen insgesamt 1.134.583 1.279.408 in Prozent des BNE 1,11 1,11 Mittel für Zahlungen insgesamt 1.104.805 1.246.263 in Prozent des BNE 1,08 1,08 Verfügbarer Spielraum 0,21 0,21 Eigenmittelobergrenze in Prozent des BNE 1,29 1,29 Außerhalb der MFR-Obergrenzen Besondere Instrumente Reserve für Soforthilfen 4.200 4.734 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 110 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 110 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 110 19.10.2020 12: 33: 16 19.10.2020 12: 33: 16 <?page no="111"?> Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) 1.400 1.578 Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF) 4.200 4.734 Flexibilitätsinstrument 7.000 7.889 Europäische Investitionsstabilisierungsfunktion Europäische Friedensfazilität 9.223 10.500 Außerhalb der MFR-Obergrenzen insgesamt 26.023 29.434 MFR + Außerhalb der MFR-Obergrenzen insge‐ samt 1.160.606 1.308.843 in Prozent des BNE 1,14 1,14 Abb. 16: Entwurf des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027, EU-27 3.6.2 Lösungsansätze auf der Einnahmeseite Im Vordergrund einer Reform des Einnahmesystems der EU stehen im We‐ sentlichen zwei Optionen, die sich durch die integrationspolitischen Ziel‐ vorstellungen unterscheiden (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2014, Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2016, Bütt‐ ner/ Thöne 2016, High Level Group on Own Resources 2016). Nach der ersten Option könnte die Finanzierung aus den BNE-Eigenmitteln gestärkt werden, wenn die administrativ komplexen Mehrwertsteuer-Eigenmittel substituiert würden. Allein damit könnte schon die Effizienz des Eigenmittelsystems erhöht werden. Dies träfe umso mehr zu, wenn auch noch die Korrektur‐ mechanismen auf der Einnahmeseite zur Disposition gestellt würden. Käme es jenseits der aktuellen Situation bei langfristiger Perspektive zu einer zu‐ nehmenden Liberalisierung des Welthandels, die mit einer Verminderung der traditionellen Eigenmittel einherginge, wären im Extrem die BNE-Ei‐ genmittel die ausschließliche Finanzierungsquelle des EU-Haushalts. Mit dem Bruttonationaleinkommen als Bemessungsgrundlage orientierten sich die Finanzierungsanteile der Mitgliedstaaten an deren ökonomischer Leis‐ 3.6 Reformvorstellungen 111 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 111 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 111 19.10.2020 12: 33: 16 19.10.2020 12: 33: 16 <?page no="112"?> tungsfähigkeit, was dem Gerechtigkeitsprinzip bei der Finanzierung öffent‐ licher Ausgaben entspräche. Hinzu kommt, dass kein Präjudiz geschaffen wird, wie die „innere Finanzierung“ der Eigenmittel durch die Mitgliedstaa‐ ten zu erfolgen hat. Dieser Vorteil ginge bei EU-weiter Vorgabe einzelner Steuern verloren. Aus Sicht der EU nähme allerdings deren Abhängigkeit von den Zahlungen der Mitgliedsstaaten zu, was dem Selbstverständnis der EU widerspräche und ihrer Präsenz als Union der Bürger entgegenstünde. Um eine stärkere finanzielle Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten zu erreichen und die Sichtbarkeit der EU zu erhöhen, zielt die zweite Option einer Reform des Eigenmittelsystems darauf ab, den Anteil der Direktein‐ nahmen zu steigern und eine eigene EU-Steuer einzuführen. Diverse Alter‐ nativen, die anhand der Grundsätze der Besteuerung evaluiert werden kön‐ nen, stehen zur Wahl. Da es keine Steuer gibt, die allen gewünschten Anforderungen entspricht, könnte eine Reform des Eigenmittelsystems auch aus einem Finanzierungsmix bestehen. Dies würde dem Problem vor‐ beugen, dass bei einer vollständigen Steuerfinanzierung des EU-Haushalts die infolge eines wirtschaftlichen Abschwungs sinkenden Einnahmen nicht ausreichen könnten, die EU-Ausgaben zu decken. Die Einführung einer EU-Steuer wäre dann das Einfallstor, der EU eine Verschuldungsbefugnis zugestehen zu müssen. Daher ist die Frage einer eigenen EU-Steuer nicht nur eine fiskalpolitische Frage, sondern stellt viel weitergehend auch ein Bekenntnis zur weiteren europäischen Integration dar. Zusammen mit dem MFR-Entwurf 2021-2027 wurde von der Kommission (2018b) ein Vorschlag für ein neues Eigenmittelsystem der Union unterbrei‐ tet, das aus mehreren Komponenten besteht: ■ Die traditionellen Eigenmittel werden unverändert gelassen, der von den Mitgliedstaaten einbehaltene Anteil wird auf 10 % abgesenkt. Die MwSt-Eigenmittel werden vereinfacht und der Abrufsatz auf 1 % er‐ höht. Die BNE-Eigenmittel, die weiter dem Haushaltsausgleich die‐ nen, werden in ihrer Bedeutung relativ zu den anderen Einnahmen abnehmen. ■ Ergänzt werden diese Instrumente durch die Einführung von drei neuen Eigenmitteln: durch die gemeinsam konsolidierte Körper‐ schaftsteuer-Bemessungsgrundlage soll die Finanzierung der EU mit dem Binnenmarkt verknüpft werden. Ein Anteil der Versteigerungs‐ einnahmen aus dem Emissionshandelssystem der EU hätte ebenso 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 112 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 112 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 112 19.10.2020 12: 33: 16 19.10.2020 12: 33: 16 <?page no="113"?> Bezug zum Umweltbereich wie die vorgesehenen Eigenmittel auf der Grundlage von Verpackungsabfällen aus Kunststoff. ■ Die Komplexität des Einnahmesystems der EU wird durch Abschaf‐ fung der Korrekturmechanismen vermindert. Um den Anstieg der dann an die EU zu leistenden Zahlungen einiger Mitgliedsländer zu kompensieren, ist ein anderes System von Pauschalbeträgen vorge‐ sehen, die auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens ermittelt werden und in der Folge schrittweise auslaufen. ■ Die bisher bei 1,20 % des BNE liegende Eigenmittelobergrenze wird wegen des geringeren Bruttonationaleinkommens in der EU-27 auf 1,29 % angehoben. 3.7 Ausblick All diese Vorschläge bedürfen der abschließenden Diskussion. Eine Reform des Haushaltssystems gelingt nur dann, wenn die Machtverhältnisse eine solche Änderung zulassen. Rat und Parlament müssen sich daher abstim‐ men, um für die nächsten Jahre eine gemeinsam tragfähige Position finden. Die politische Gesamtlage ist im Blick zu behalten. 3.8 Wichtige Begriffe Haushaltsplan, mehrjähriger Finanzrahmen, Rubriken, Ausgabenprio‐ ritäten, Ausgabentransparenz, Eigenmittel, Haushaltskorrekturmecha‐ nismus, Nettozahlerposition, EU-Steuer 3.9 Literatur Adam, Hans/ Mayer, Peter (2016): „Das Finanzsystem der Europäischen Union“, in: wisu - das Wirtschaftsstudium, H. 7, S. 820-827 Anghel, Suzana/ Bacian, Izabella/ Drachenberg, Ralf/ Vucovic, Marko (2019): Key is‐ sues in the European Council. State of play in October 2019, EPRS, PE 631.766 D'Alfonso, Alessandro (2016): Reforming the financing of the EU budget: Outlook, in: Perspectives on Federalism, vol. 8, issue 2, E- 46-83 3.7 Ausblick 113 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 113 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 113 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="114"?> Bertelsmann-Stiftung (2013): How Germany Benefits from the Euro in Economic‐ Terms, Policy Brief 2013/ 01, Gütersloh Brümmerhoff, Dieter/ Büttner, Thies (2018): Finanzwissenschaft, 12. Auflage, de Gruyter Oldenbourg, Berlin/ München/ Boston Bundesministerium der Finanzen (2014a): „Budget Review der OECD für Deutsch‐ land“, in: Monatsbericht des BMF Dezember 2014, S. 6-12 Bundesministerium der Finanzen (2014b): „Zukunft der EU-Finanzen. Bericht von einem Expertenworkshop des BMF“, in: Monatsbericht des BMF September 2014, S. 37-44 Büttner, Thiess/ Thöne, Michael (Hrsg.) 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Finanzbericht, Luxemburg Europäische Kommission (2014): European Union. Public Finance, 5. Auflage, Lu‐ xemburg Europäische Kommission (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden. Vorgelegt von Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Do‐ nald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz, 22. Juni 2015 Europäische Kommission (2017a): Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, COM(2017) 291, 31. 5. 2017, Brüssel 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 114 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 114 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 114 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="115"?> Europäische Kommission (2017b): Reflexionspapier über die Zukunft der EU-Finan‐ zen COM(2017), 28. 6. 2017, Brüssel Europäische Kommission (2018a): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Ein moderner Haushalt für die Union, die schützt, stärkt und verteidigt. 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COM(2019) 600, 5. 7. 2019 Europäische Kommission (2019d): EU Budget 2018. Financial Report, Luxemburg Europäische Kommission (2019e): Anhang der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Technische Anpassung des Finanzrahmens für 2020 an die Entwicklung des BNE (ESVG 2010), (Artikel 6 der Verordnung Nr. 1311/ 2013 des Rates zur Festlegung des mehrjährigen Finanzrahmens für die Jahre 2014-2020), COM(2019) 310 final, 15. 5. 2019 Europäisches Parlament (2018): Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027 und Eigen‐ mittel. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 30. Mai 2018 zu den Themen „Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027“ und „Eigenmittel“ (2018/ 2714(RSP)), P8_TA(2018)0226, Internet: https: / / www.europarl.europa.eu/ d oceo/ document/ TA-8-2018-0226_DE.html. 3.9 Literatur 115 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 115 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 115 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="116"?> Feld, Lars (2006): „Nettozahler Deutschland? Eine ehrliche Kosten-Nutzen-Rech‐ nung“, in: Wessels, W., Diedrichs, U. (Hrsg.), Die neue Europäische Union: im vitalen Interesse Deutschlands? Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin, S. 94-113 Französische Botschaft (Hrsg.) (2017): Rede von Staatspräsident Macron an der Sor‐ bonne. Initiative für Europa, Paris, den 26. 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(K)ein Nullsummenspiel um Salden“, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg., H. 11, S. 744 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union 116 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 116 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 116 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="117"?> Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik. 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2016): Reform der EU-Finanzierung: Subsidiarität und Transparenz stärken. Gutachten 01/ 2016, Berlin Zimmermann, Horst/ Henke, Klaus-Dirk/ Broer, Michael (2017): Finanzwissenschaft. Eine Einführung in die Staatsfinanzen, 12. Auflage, Franz Vahlen Verlag, Mün‐ chen 3.9 Literatur 117 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 117 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 117 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="118"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 118 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 118 19.10.2020 12: 33: 17 19.10.2020 12: 33: 17 <?page no="119"?> Teil 3: Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 119 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 119 19.10.2020 12: 33: 18 19.10.2020 12: 33: 18 <?page no="120"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 120 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 120 19.10.2020 12: 33: 18 19.10.2020 12: 33: 18 <?page no="121"?> 4 Der europäische Binnenmarkt Leitfragen Welche Argumente liefert die Handelstheorie zur Analyse von Zoll‐ unionen? Warum wird der Binnenmarkt als „Herzstück der Integration“ bezeich‐ net? Welche Schwierigkeiten stellen sich bei der Umsetzung der vier Frei‐ heiten des Binnenmarktes? 4.1 Einführung Bereits im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde in Artikel 2 als erste Aufgabe der Gemeinschaft die Errichtung eines gemeinsamen Marktes genannt. Und in Artikel 3 folgt die Konkretisierung dieses Ziels: Freihandel innerhalb der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft soll ebenso gewährleistet werden wie die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Der Prozess der Abschaffung der Binnenzölle und der Einführung eines ge‐ meinsamen Außenzolls war bis 1968 abgeschlossen. Allerdings blieben Ex‐ porte und Importe innerhalb der Gemeinschaft deutlich komplizierter als der Handel innerhalb eines Landes. Quantitative Beschränkungen, unterschiedli‐ 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 121 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 121 19.10.2020 12: 33: 18 19.10.2020 12: 33: 18 <?page no="122"?> che technische Normen, gesundheitliche Vorschriften, Umweltauflagen und weitere Regelungen erschwerten den Handel. Auch von einem freien Dienst‐ leistungs-, Personen- und Kapitalverkehr wie in einem Binnenmarkt waren die Mitgliedstaaten noch weit entfernt: Die Arbeitsaufnahme in einem ande‐ ren Mitgliedsland als dem Heimatland war vielfältig beschränkt, grenzüber‐ schreitende Kapitalbewegungen wurden streng kontrolliert. In den 1970er-Jahren gab es vor dem Hintergrund makroökonomischer Kri‐ sen in den Mitgliedstaaten keine wesentlichen Fortschritte mit Blick auf eine Öffnung der nationalen Märkte. Im Zuge der in den 1980er-Jahren geführten Diskussion über die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit Europas wuchs die Offenheit für neue Initiativen. Das Weißbuch der Union, welches 1985 den Weg zur Vollendung eines echten Binnenmarktes aufzeigte, wurde positiv aufgenommen. Box 26 | Grünbücher und Weißbücher der Union Die Kommission veröffentlicht in wichtigen Bereichen sogenannte „Grünbücher“: Dokumente, die einen europaweiten Diskurs zu einem spezifischen Thema anregen sollen. Sie sind in der Regel der erste Schritt in einem strukturierten Konsultationsprozess. Diesem folgt häufig die Vorlage eines „Weißbuches“, in dem denkbare Rechtsvorschriften vor‐ gestellt und erläutert werden. Im Anschluss kann es dann zu gesetzge‐ berischen Maßnahmen oder Aktionsprogrammen der Union kommen. In dem Weißbuch zum Binnenmarkt und in einem von der Union in Auftrag gegebenen Bericht (dem „Cecchini-Report“) wurden die wirtschaftlichen Vorteile aus der Fortführung der Integration, der Reduzierung der Kosten der Bürokratie, der Beseitigung des Protektionismus im öffentlichen Auf‐ tragswesen, der Abschaffung der Barrieren für grenzüberschreitende Un‐ ternehmenstätigkeit, der Beseitigung der Probleme infolge abweichender technischer Normen und Vorschriften aufgezeigt (vgl. Cecchini 1988). Dem damaligen Kommissionspräsidenten Delors gelang es, die Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Anstrengung zur Schaffung eines echten Binnenmark‐ tes zu gewinnen, die Einheitliche Europäische Akte zeugte von der Ent‐ schiedenheit der Mitgliedstaaten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Brunn 2017). Bis zum 31. Dezember 1992 sollte die Mobilität der Pro‐ 4 Der europäische Binnenmarkt 122 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 122 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 122 19.10.2020 12: 33: 19 19.10.2020 12: 33: 19 <?page no="123"?> duktionsfaktoren vollständig gewährleistet werden und der Handel zwi‐ schen den Mitgliedstaaten wie der Handel innerhalb eines Landes funktio‐ nieren. Damit unternahm die Gemeinschaft einen weiteren Schritt im stufenweise vollzogenen Prozess der wirtschaftlichen Integration. Abb. 17 zeigt die schematisierte Abfolge von Integrationsschritten von der Freihandelszone zur Wirtschafts- und Währungsunion: freier Binnen‐ handel gemein‐ same Außen‐ zölle Mobilität der Produk‐ tionsfakto‐ ren, Abbau administra‐ tiver Be‐ schränkun‐ gen gemein‐ same Wirt‐ schaftspolitik gemeinsame Wirtschafts‐ politik und gemeinsame Währungs‐ politik Freihandelszone ● Zollunion ● ● Binnenmarkt ● ● ● Wirtschaftsunion ● ● ● ● Wirtschafts- und Währungsunion ● ● ● ● ● Abb. 17: Stufen der Integration Nach umfangreichen Arbeiten und Hunderten von Einzelmaßnahmen wurde 1993 die erste große Etappe auf dem Weg zur Schaffung eines Bin‐ nenmarktes als erreicht bezeichnet. Da jedoch auch weiterhin Beschrän‐ kungen den Handel erschwerten, wurden regelmäßig Strategien und Maß‐ nahmen identifiziert, um wirtschaftliche Hürden für den gemeinsamen Markt zu beseitigen (vgl. Europäische Kommission 2011, 2012). Der negati‐ ven Integration mit dem Abbau von Hindernissen steht die positive Inte‐ gration mit der Abstimmung und Koordinierung gemeinsamer politischer Maßnahmen in Schlüsselbereichen der Politik gegenüber (vgl. Bertelsmann Stiftung 2013). Die Realisierung des Binnenmarktes, der Kern des Integra‐ 4.1 Einführung 123 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 123 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 123 19.10.2020 12: 33: 19 19.10.2020 12: 33: 19 <?page no="124"?> tionsprozesses, bleibt auch zukünftig das zentrale wirtschaftliche Projekt der Europäischen Union (vgl. Economist 2019). 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes Der Schaffung eines Binnenmarktes werden mehrere Effekte zugeschrieben, die sich unter anderem nach wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kul‐ turellen, nach kurz- und langfristigen, einmaligen und dauerhaften, mikro- und makroökonomischen, statischen und dynamischen Effekten vielfältig unterscheiden lassen und für eine genaue Analyse wichtig sind. Die Vor- und Nachteile des europäischen Binnenmarktes wurden intensiv diskutiert, eine Vielzahl empirischer Studien wurde erstellt. Dabei spielten die statischen und dynamischen wirtschaftlichen Effekte infolge des ver‐ mehrten Handels innerhalb der Gemeinschaft in der öffentlichen Debatte eine besondere Rolle (vgl. Adam/ Mayer 2016). 4.2.1 Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung Als „statische Effekte“ bezeichnet man in der Handelstheorie jene Wohl‐ fahrtswirkungen, die entstehen, wenn durch Veränderungen der Rahmen‐ bedingungen eine ineffiziente Allokation von Ressourcen beseitigt wird. Die messbaren Effekte der Veränderung der Produktion, des Konsums und der Terms of Trade werden hierunter erfasst (vgl. Ohr 2013, S. 49). Durch die Schaffung einer Zollunion wird einerseits in der Regel der Handel zwischen den Mitgliedern der Zollunion zunehmen, ein als Handelsschaf‐ fung bezeichneter Prozess. Andererseits kommt es durch die Begünstigung der Produzenten innerhalb der Zollunion zu einer Verdrängung der Produ‐ zenten von außerhalb der Zollunion, ein als Handelsumlenkung bezeichne‐ ter Prozess. Welcher der beiden Effekte dominiert, ist abhängig von den konkreten Umständen. Eine Zollunion kann in der Summe sowohl positive als auch negative stati‐ sche Wohlfahrtseffekte für die Wirtschaftssubjekte innerhalb der Zollunion haben. In Abb. 18 sind die Wohlfahrtseffekte für den Fall eines Landes A veranschaulicht, das ein bestimmtes Produkt nicht selbst erstellt und es zum 4 Der europäische Binnenmarkt 124 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 124 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 124 19.10.2020 12: 33: 19 19.10.2020 12: 33: 19 <?page no="125"?> jeweils festen Preis P aus dem Land B bzw. dem Land C (mit P C < P B ) beziehen kann. P B + Z 1 P P C + Z 4 5 6 N A X C ′ X B X C X 2 3 P B P C Abb. 18: Zollunion und Wohlfahrtsgewinn Erhebt Land A in der Ausgangssituation einen identischen Außenzoll (Z) auf die Importe aus beiden Ländern, wird wegen des geringeren Preises (P C + Z) die Menge X C ′ aus Land C nachgefragt. Die soziale Wohlfahrt besteht für Land A aus der Konsumentenrente (Fläche 1) und dem Zollaufkommen (Flä‐ chen 2 und 4). Entschließt sich Land A, mit dem Land C eine Zollunion zu bilden, wird der Zoll gegenüber dem Partnerland abgebaut. Beim Preis P C steigen die Importe auf die Menge X C an. Im Ausmaß dieser Handelsschaffung erhöht sich die soziale Wohlfahrt, die bei Wegfall des ursprünglichen Zollaufkommens der gesamten Konsumentenrente (Flächen 1 bis 6) entspricht. Eine Handelsumlenkung findet statt, wenn Land A mit Land B eine Zoll‐ union eingeht. Im Vergleich zur Ausgangssituation importiert Land A auf‐ grund P B < P C + Z die Menge X B nun aus dem Land B. Der Nettowohlfahrts‐ effekt für das Land A ist positiv, wenn die Zunahme an Konsumentenrente (Flächen 2 und 3) den Verlust an Zolleinnahmen (Flächen 2 und 4) übersteigt und per Saldo Fläche 3 daher größer ist als Fläche 4. 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 125 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 125 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 125 19.10.2020 12: 33: 19 19.10.2020 12: 33: 19 <?page no="126"?> Verständnisfrage Prüfen Sie die Wohlfahrtsänderungen einer Zollunion zwischen Land A und Land B, wenn in Land A eine klassisch verlaufende Angebots‐ funktion (eigenes Angebot) vorliegt. Die Senkung der Bürokratiekosten grenzüberschreitender Handelsströme Schließlich erleichtert die Schaffung eines Binnenmarktes auch die Beseiti‐ gung bürokratischer Hindernisse: Die volkswirtschaftlichen Ressourcen, die für Zollformalitäten, für Wartezeiten beim Zoll und damit zusammenhän‐ gende Kosten entstehen, können eingespart werden. 4.2.2 Dynamische Effekte Als „dynamische Effekte“ werden jene Effekte bezeichnet, welche die Markt‐ dynamik verändern, also nicht nur einen einmaligen Wachstumsschub im‐ plizieren. Die Wirkung positiver Skalenerträge Durch die Realisierung eines Binnenmarktes tritt ein einheitlicher Markt an die Stelle der einzelnen abgegrenzten Volkswirtschaften. Unternehmen in‐ nerhalb des Binnenmarktes haben damit ein größeres Absatzpotential. Ist die Produktion durch positive Skalenerträge und damit Einsparungen bei der Massenproduktion infolge von Fließbandproduktion, verbesserter Or‐ ganisationsabläufe, wachsender Erfahrungen der Arbeitnehmer oder Fix‐ kostendegression gekennzeichnet, dann können zusätzliche Wohlfahrtsef‐ fekte der Zollunion auftreten (vgl. Hitiris 2002). Abb. 19 zeigt die jeweiligen Nachfragefunktionen nach einem Gut in den beiden Ländern A und B sowie deren aggregierte Nachfrage N A + N B . Im Unterschied zu Land A ohne eigenes inländisches Angebot erfolgt die Pro‐ duktion im Land B zu fallenden Durchschnittskosten, die durch die Kurve DK repräsentiert werden. Der gegebene Weltmarktpreis für dieses Gut be‐ trägt P W , so dass bei Freihandel die nachgefragten Mengen X'' A + X'' B durch Einfuhren gedeckt werden können. 4 Der europäische Binnenmarkt 126 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 126 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 126 19.10.2020 12: 33: 20 19.10.2020 12: 33: 20 <?page no="127"?> P A = P W + Z A P U P W X A X' A X'' A X 1 2 3 4 5 N A 6 7 8 N B N A + N B P B = P W + Z B P U P W X B X' B X'' B X' A +X' B X'' A +X'' B X Land A Land B DK Abb. 19: Skalenerträge in einer Zollunion 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 127 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 127 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 127 19.10.2020 12: 33: 20 19.10.2020 12: 33: 20 <?page no="128"?> In der Ausgangssituation ohne Zollunion sei angenommen, dass Land A einen Mengenzoll (Z A ) erhebt, der zu einem Inlandspreis für das Gut von P A und einer Importmenge in Höhe von X A führt. Im Land B wird der Zoll gerade so gesetzt, dass die Nachfrage nach dem Gut exakt mit der inländi‐ schen Produktion übereinstimmt und bei Stückkostenkalkulation die Preis-Mengen-Kombination P B , X B realisiert wird. Bilden die Länder A und B eine Zollunion, in der sich der unionsinterne Produktpreis P U (mit P W < P U < P B ) herausbildet, so kann die Gesamtnach‐ frage X' A + X' B durch die Produktion in Land B vollständig gedeckt werden. Über den Nettowohlfahrtseffekt für das Land A (Fläche 3 abzüglich Fläche 4) aus Handelsumlenkung (X A ) und Handelsschaffung (X A X' A ) hinaus kommt es im Land B zu einer Zunahme der Konsumentenrente (Flächen 6 und 7), die auf die Preissenkung infolge der positiven Skalenerträge zurück‐ zuführen ist. Die Fläche 8 im Land B, die den beiden Flächen 4 und 5 im Land A entspricht, stellt einen Vorteil („Transfer“) zugunsten von Land B dar, da für die Importmenge X' A des Landes A der höhere unionsinterne Preis an‐ stelle des geringeren Weltmarktpreises gilt. Höherer Wettbewerb und die Beseitigung der X-Ineffizienz Die Schaffung einer Zollunion erweitert den Markt und die Wettbewerbsin‐ tensität. In der neoklassischen Theorie wird angenommen, dass Unternehmen auch in geschützten Märkten mit geringer Wettbewerbsintensität mit gegebe‐ nen Inputs den maximalen Output produzieren, die Unternehmen technisch effiziente Lösungen realisieren. Das Konzept der X-Effizienz basiert demge‐ genüber auf der Annahme, dass in Märkten mit geringem Wettbewerbsdruck Unternehmen häufig ineffiziente Lösungen realisieren, Verbesserungsmög‐ lichkeiten nicht konsequent gesucht und Ressourcen verschwendet werden (vgl. Leibenstein 1978). Solche Ineffizienzen (X-Ineffizienzen) können durch erhöhten Wettbewerbsdruck beseitigt werden. Sinkt beispielsweise der Au‐ ßenschutz eines Marktes oder steigt die Zahl der Unternehmen in einem Markt und damit die Wettbewerbsintensität, werden Unternehmen effizienter wirt‐ schaften, es kommt nicht mehr zu einer Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen. 4 Der europäische Binnenmarkt 128 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 128 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 128 19.10.2020 12: 33: 20 19.10.2020 12: 33: 20 <?page no="129"?> Die Bedeutung der statischen und dynamischen Effekte Die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen der Schaffung eines Binnen‐ marktes sind abhängig von spezifischen Bedingungen wie der Größe der Märkte, der Handelsverflechtung der einzelnen Märkte miteinander und mit dem Rest der Welt, der Spezialisierung vor Öffnung des Binnenmarktes und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der beteiligten Länder (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 5). Box 27 | EU-Integrationsindex Zur Messung der ökonomischen Integration in der EU wird ein Index ermittelt, der anzeigt, wie stark ein Mitgliedsland mit den anderen EU‐ Staaten vernetzt ist. Über die institutionelle Integration (vgl. Dorrucci/ Ioannou/ Mongelli/ Terzi 2015) hinaus werden von König/ Ohr (2013) drei weitere Integrationsebenen unterschieden: ■ EU-Binnenmarktverflechtung, mit der die marktmäßige Integration eines Landes auf den Güter- und Faktormärkten (Grundfreiheiten des Binnenmarktes) erfasst wird; ■ EU-Konvergenz, die auf die Annäherung gesamtwirtschaftlicher Zielgrößen wie das Pro-Kopf-Einkommen im Zuge des Integrati‐ onsprozesses abstellt; ■ EU-Konjunktursymmetrie, die darauf abzielt, inwieweit es zu einer Angleichung der Konjunkturzyklen in den einzelnen EU-Staaten kommt. Der Integrationsindex erleichtert die quantitative Beurteilung des In‐ tegrationsstandes und des Fortschritts der Integration für die Mitglieds‐ länder innerhalb der Union. 4.3 Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen In Artikel 3, Absatz 3 des EUV heißt es, dass die Union einen Binnenmarkt errichtet. Im AEUV werden die Binnenmarktziele konkretisiert. Die Union hat das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten, der als ein Raum beschrieben wird „ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Wa‐ 4.3 Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen 129 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 129 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 129 19.10.2020 12: 33: 20 19.10.2020 12: 33: 20 <?page no="130"?> ren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Artikel 26, Absatz 2 des AEUV). Damit sind die vier Freiheiten benannt, die seit Mitte der 1980er-Jahre im Mittelpunkt der Binnenmarktpolitik standen. Die Artikel 26-66 des AEUV spezifizieren die Politik der Union in diesem Bereich. Artikel 28-37 befassen sich mit dem freien Warenverkehr und Artikel 45-66 mit der Freizügigkeit, dem freien Dienstleistungsverkehr und dem Kapitalverkehr. Im Zuge der umfangreichen Maßnahmen zur Schaffung des Binnenmarktes haben die Organe der Union gegenüber nationalen Institutionen an Bedeutung gewonnen. Dies galt zunächst für den Europäischen Rat, der das politische Ziel der Schaffung und Weiterentwicklung des Binnenmarktes vertrat und über die prioritären Schritte entschied. Mit dem Binnenmarktprojekt gewann auch die Kommission an Macht, die mit konkreten Vorschlägen für die Entwürfe der Verordnungen, Richtlinien und Initiativen verantwortlich zeichnete. In dem nachfolgenden Gesetzgebungsprozess bestimmen der Ministerrat und das Par‐ lament die konkrete Ausgestaltung der Vorhaben. In der Umsetzung spielt die Kommission wiederum eine zentrale Rolle: Sie überwacht die Einhaltung der verabredeten Regeln, die Verfahren gegen Mitgliedsländer zeigen beispielhaft ihre Rolle als „Hüterin der Verträge“. Besondere Bedeutung für die Binnen‐ marktpolitik hatte stets auch der Gerichtshof, der in seinen Entscheidungen häufig nationalen Interessen entgegentrat und Wege zur Weiterentwicklung der Integration aufzeigte. Die nationalen Behörden und nationalen Parlamente hingegen gaben faktisch Macht an die europäischen Institutionen ab. Das Bin‐ nenmarktprojekt steht sinnbildlich für den Prozess der „Europäisierung“. Für die nationalen Akteure bedeutete dies gleichzeitig, dass neue Wege der Ein‐ flussnahme auf die Gesetzgebungsprozesse und Verfahren der Erarbeitung neuer Initiativen sukzessive etabliert werden mussten. Die umfassende Bedeutung der Binnenmarktpolitik schlägt sich auch in der Organisationsstruktur der Kommission nieder. Die Generaldirektion Bin‐ nenmarkt und Dienstleistungen ist die wichtigste Organisationseinheit für die Weiterentwicklung des Binnenmarktes. Ebenfalls mit diesbezüglichen Aufgaben befasst sind die Generaldirektionen „Steuern und Zollunion“, „Unternehmen und Industrie“ und „Wettbewerb“. 4 Der europäische Binnenmarkt 130 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 130 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 130 19.10.2020 12: 33: 21 19.10.2020 12: 33: 21 <?page no="131"?> 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes Die Ziele der Binnenmarktpolitik wurden öffentlichkeitswirksam stets mit Be‐ zug auf die Realisierung der „vier Freiheiten“ und dem damit verbundenen ge‐ samtgesellschaftlichen Nettonutzen kommuniziert. Diverse empirische Studien ergaben einen positiven Wachstumsbeitrag (vgl. Deutsche Bank 2013, Bertels‐ mann-Stiftung 2014). So könnte nach einer Untersuchung für das Europäische Parlament (2019a) die Erschließung bisher noch ungenutzter Potentiale des ge‐ meinsamen Binnenmarktes zu einem Anstieg der Wirtschaftsleistung in Eu‐ ropa um 713 Mrd. € bzw. knapp 5 % bis 2029 führen, würden die vom Europäi‐ schen Parlament empfohlenen Maßnahmen innerhalb des politischen 5-Jahres- Zyklus von 2019-2024 von den Organen der EU angenommen und umgesetzt. Sofern weitergehend die Vorschläge des Europäischen Parlaments in insge‐ samt 10 Politikfeldern realisiert werden, könnte in Europa insgesamt eine „2-Billionen-Euro-Dividende“ erzielt werden. Allerdings weisen die Schätzun‐ gen erhebliche Unterschiede hinsichtlich des ökonomischen Effektes auf, ein kaum verwunderliches Ergebnis angesichts der komplexen Wirkungen und den mit Ex-ante-Schätzungen verknüpften Problemen der Unsicherheit und der zahlreichen Annahmen der Modelle. Die Berechnung eines Nutzenzuwachses für die Gesellschaft konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Gewinnern der Öffnung der Märkte in der Regel auch Verlierer gegenüberstanden. Vor diesem Hintergrund wurden die Initiativen und Maßnahmen der Union zur Umsetzung meist auch kontrovers diskutiert. 4.4.1 Warenverkehr Freier Warenverkehr bedeutet, dass die Mitgliedstaaten der Union neben der Gründung einer Zollunion und der Verfolgung einer gemeinsamen Zollpolitik gegenüber Drittländern keine Zölle und mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhr‐ beschränkungen für den Handel innerhalb der Union anwenden. Die Beseiti‐ gung der Zölle war Ende der 1960er-Jahre für den innergemeinschaftlichen Handel erfolgt. Mit der Realisierung eines wirklich freien Warenverkehrs und der Beseitigung der tarifären und nicht-tarifären Beschränkungen sind Wohl‐ fahrtsgewinne für die Gesellschaften verknüpft. In Abb. 20 lässt sich der Wohl‐ fahrtseffekt aus der Abschaffung von Zöllen ablesen. Wird in dem betreffenden 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 131 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 131 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 131 19.10.2020 12: 33: 21 19.10.2020 12: 33: 21 <?page no="132"?> Land der Zoll Z abgeschafft, sinkt der inländische Preis von P W + Z auf P W , die Konsumentenrente steigt um die Flächen (1 + 2 + 3 + 4). Die Produzentenrente sinkt um die Fläche 1 und die Zolleinnahmen um die Fläche 3. Der Nettowohl‐ fahrtsgewinn besteht in den beiden Dreiecken 2 und 4. A N 1 2 3 4 X A X' A X' N X N P W + Z P W X Abb. 20: Wohlfahrtseffekte der Abschaffung von Zöllen Vergleichbare Effekte wie bei dem Mengenzoll treten bei einer Importquote (I q ) auf, die zu einer Rechtsverlagerung der Angebotsfunktion von A nach A Iq führt (Abb. 21). Infolge der Mengenrestriktion ergibt sich beim Aus‐ gangspreis P W ein Nachfrageüberhang (X N - X' A ), der den Preis auf P Iq treibt. Entspricht dieser Anstieg in seiner Höhe dem Mengenzoll Z, vermindert sich bei Aufhebung der Importbeschränkung die Produzentenrente um die Flä‐ che 1. Die Importeure, die die Ware zum Weltmarktpreis P W günstig kaufen und im Inland zum höheren Preis P Iq verkaufen, verlieren ihre Quotenrente (3a + 3b), die mit der Fläche des Zollaufkommens beim Mengenzoll identisch ist. Da die Konsumentenrente um die Fläche des Trapezes 1 bis 4 ansteigt, kommt es per Saldo auch hier zu einer Wohlfahrtssteigerung im Ausmaß der Teilflächen 2 und 4. 4 Der europäische Binnenmarkt 132 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 132 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 132 19.10.2020 12: 33: 21 19.10.2020 12: 33: 21 <?page no="133"?> Abb. 21: Wohlfahrtseffekte der Aufhebung einer Importquote P A Iq A 3a 1 2 3b 4 X A X' A X’ N X N P Iq P W X Iq N Abb. 21: Wohlfahrtseffekte der Aufhebung einer Importquote Unter Vernachlässigung langfristiger und dynamischer Effekte, von Exter‐ nalitäten und politischen Ökonomieaspekten ergibt die partialanalytische statische Betrachtung, dass die Öffnung der Märkte für Länder insgesamt einen Nettowohlfahrtsgewinn verspricht. In Artikel 28-37 des AEUV sind Fragen des freien Warenverkehrs geregelt. In Artikel 28 wird das Ziel der Schaffung einer Zollunion, der Abschaffung von Zöllen und Abgaben und der Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs benannt. Mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen sind gemäß Artikel 34 und 35 AEUV verboten. Legitim und möglich sind jedoch in be‐ stimmten Fällen Beschränkungen aus „Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstleri‐ schem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ (Artikel 36 AEUV). Die Ausnahmeregeln waren wichtig, um in konkreten Fällen wie z. B. bei Tierseuchen vertragskonform notwendige Beschränkungen vorzunehmen. Gleichzeitig war die Regelung des Artikels 36 AEUV auch das Einfallstor für protektionistische Politik: Staaten widerstanden häufig nicht der Versu‐ chung, die eigene Industrie mit wohlklingenden Argumenten zu schützen. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 133 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 133 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 133 19.10.2020 12: 33: 22 19.10.2020 12: 33: 22 <?page no="134"?> Eine besondere Herausforderung für den Binnenmarkt ergibt sich aus der Existenz unterschiedlicher Steuersysteme. Dies gilt sowohl für direkte Steu‐ ern wie die Einkommen- und Körperschaftsteuer als auch für indirekte Steuern wie die Umsatzsteuer und die Verbrauchsteuern. Angesichts der den Mitgliedstaaten zustehenden Steuerhoheit verfügt die EU nur über be‐ grenzte Steuerkompetenzen (Art. 110 bis 113 AEUV), die darauf gerichtet sind, steuerlich bedingte Hindernisse bei grenzüberschreitenden Transak‐ tionen zu beseitigen, verzerrenden Steuerwettbewerb zwischen den Mit‐ gliedstaaten (Abwanderung nationaler Bemessungsgrundlagen) zu über‐ winden und Steuerumgehung und Steuerhinterziehung zu verhindern (vgl. Europäisches Parlament 2019b). Vor allem die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) war dabei Gegenstand der Harmonisierungsbestrebungen (gemeinsames Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug, Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage, Diskussion über Bandbreiten für den Normalsatz wie für den ermäßigten Satz der Mehr‐ wertsteuer) (Richtlinie 2006/ 112/ EG). Mit der Richtlinie 92/ 77/ EWG wurde ein Mindestsatz für den Normaltarif von 15 v. H. festgelegt, ein Höchstsatz ist nicht vorgesehen. (aktuell: Richtlinie 2010/ 88/ EU); die tatsächlichen Mehrwertsteuersätze liegen beim Normalsatz zwischen 17 v. H. und 27 v. H. und beim ermäßigten Steuersatz zwischen 5 v. H. und 18 v. H. in den Mit‐ gliedstaaten der EU (vgl. Europäische Kommission 2019a). Beim Ex- und Import von Gütern und Dienstleistungen stellt sich vor allem deswegen die Frage, ob ein Produkt mit der Mehrwertsteuer des Ursprungslandes oder mit der des Bestimmungslandes belegt werden soll. Die Entscheidung für die konsequente Anwendung des einen oder anderen Systems ist noch nicht gefallen (vgl. Homburg 2015, S. 320-322). Mit der Absicht, einen einheitli‐ chen europäischen Mehrwertsteuerraum zu schaffen, wurde von der Euro‐ päischen Kommission (2016a) ein Aktionsplan präsentiert, um das gegen‐ wärtige Mehrwertsteuersystem einfacher, weniger betrugsanfällig und unternehmensfreundlich zu gestalten. Nach den in der Folge vorgelegten Vorschlägen zum „endgültigen Mehrwertsteuersystem“ (vgl. Europäische Kommission 2017a, 2018a) ist die Besteuerung des grenzüberschreitenden Handels nach dem Bestimmungslandprinzip vorgesehen. 4 Der europäische Binnenmarkt 134 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 134 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 134 19.10.2020 12: 33: 22 19.10.2020 12: 33: 22 <?page no="135"?> Box 28 | Bestimmungsland- und Ursprungslandprinzip Bei der Anwendung des Bestimmungslandprinzips kommt die Umsatz‐ steuer des importierenden Landes zur Anwendung. Es kommt daher nicht zu einer Auswahl der Produkte nach dem niedrigeren Mehrwert‐ steuersatz des Erzeugerlandes und damit auch nicht zu einem Steuer‐ wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten. Mit dem Bestimmungsland‐ prinzip ist aus dieser Perspektive „Wettbewerbsneutralität“ verknüpft. Die Anwendung des Bestimmungslandprinzips ist allerdings adminis‐ trativ aufwändig. Gemäß dem Ursprungslandprinzip wird die Umsatz‐ steuer im Exportland erhoben und verbleibt dort. Kommt es zu erhebli‐ chen Ungleichgewichten im Handel, hat die Entscheidung für das eine oder andere System deutliche Auswirkungen auf die Verteilung der Steuereinnahmen. Darüber hinaus gilt, dass der Export jener Länder ge‐ fördert wird, deren Umsatzsteuersatz niedrig ist. Dies stellt einerseits eine Wettbewerbsverzerrung dar und erhöht andererseits den Druck auf die Mitgliedstaaten, sich an den niedrigen Umsatzsteuersätzen anderer EU-Staaten zu orientieren. Für Reisende und Lieferungen an den End‐ verbraucher gilt bei Einkäufen prinzipiell das Ursprungslandprinzip. Für den normalen gewerblichen Wirtschaftsverkehr gilt einstweilen grund‐ sätzlich das Bestimmungslandprinzip. Neben der Mehrwertsteuer hat die EU auch die Verbrauchsteuern auf Al‐ kohol und Tabak (partiell) harmonisiert. Darüber hinaus wurden nach Art. 192 AEUV Regelungen der Besteuerung von Energieerzeugnissen zum Schutz von Umwelt, Gesundheit und natürlichen Ressourcen (Art. 191 AEUV) vorgenommen. Im Rahmen der direkten Besteuerung geht es vor allem um eine Koordinie‐ rung der Unternehmensbesteuerung. Im Vordergrund stehen die Körper‐ schaftsteuer, deren Bemessungsgrundlage (Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage) harmonisiert werden soll (vgl. Europäische Kommission 2016b) und Maßnahmen, um missbräuchlicher Steuergestaltung entgegenzuwirken (vgl. Europäische Kommission 2018b). Eine weitere Herausforderung für den Binnenhandel war die Existenz ver‐ schiedener technischer Vorschriften und Normen, die meist in unterschied‐ 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 135 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 135 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 135 19.10.2020 12: 33: 22 19.10.2020 12: 33: 22 <?page no="136"?> lichen Regelungstraditionen ihren Ursprung hatten und faktisch eine Be‐ hinderung des Handels darstellten. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs sorgte hier für Klarheit. Box 29 | Das Cassis-de-Dijon-Urteil Das Cassis-de-Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1979 hatte für die Entwicklung des freien Warenverkehrs wegweisende Bedeutung. Das deutsche Unternehmen Rewe-Zentral AG hatte gegen ein Importverbot von Cassis, einem in Frankreich regulär gehandelten Likör, geklagt, nachdem deutsche Behörden die fehlende Beachtung der deutschen Branntweinverordnung bemängelt und die Einfuhr bzw. den Verkauf in Deutschland untersagt hatten. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass ein Gut, welches in einem Land zugelassen ist, in einem anderen Mitgliedstaat ebenfalls in den Verkehr gebracht werden darf und eine differenzierte Behandlung der Güter innerhalb der Gemein‐ schaft somit grundsätzlich nicht statthaft ist (vgl. Schmidt/ Schünemann 2013, S. 143-145). In der Union setzte sich somit das „Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt“ durch, welches für die Mehrzahl der Warengruppen An‐ wendung findet. Dank dieses Prinzips ist die Harmonisierung der einzel‐ staatlichen Rechtsvorschriften, ein aufwändiger Prozess, wenn es in den Mitgliedstaaten bereits Regelungen gibt, nicht erforderlich. Vorschriften ei‐ nes anderen EU-Landes oder eines Mitglieds des Europäischen Wirtschafts‐ raumes müssen von den anderen Mitgliedstaaten der EU anerkannt werden. Ausnahmeregelungen gibt es nur für jene Bereiche, in denen der Schutz der Gesundheit, besondere schutzwürdige Interessen der Verbraucher oder Um‐ weltfragen berührt werden. Für neue Regelungen allerdings gilt, dass eine Vereinheitlichung der technischen Produktanforderungen angestrebt wird. Mit der Verordnung (EU) 2019/ 515 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung weiter präzisiert worden, um den freien Verkehr von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind, zu ge‐ währleisten. 4 Der europäische Binnenmarkt 136 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 136 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 136 19.10.2020 12: 33: 23 19.10.2020 12: 33: 23 <?page no="137"?> Box 30 | Pro und Kontra Öffnung des öffentlichen Auftragswesens Angesichts der Größe des öffentlichen Sektors ist die Öffnung des öffent‐ lichen Auftragswesens auch für Anbieter aus anderen EU-Ländern ein be‐ sonderes Anliegen der Binnenmarktpolitik. Immerhin beläuft sich das öf‐ fentliche Auftragswesen EU-weit pro anno auf rd. 14 % des BIP (vgl. Europäische Kommission 2017b). Nationale Anbieter dominieren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: Nur 3,4 % aller öffentlichen Aufträge in der EU gingen in den Jahren 2006 bis 2010 an ausländische Bieter (vgl. Deut‐ sche Bank 2013, S. 14). Zwischen 2009 und 2015 hat sich der Umfang der direkten und indirekten grenzüberschreitenden Auftragsvergabe sowohl im Verhältnis zum Gesamtwert der vergebenen Aufträge als auch im Ver‐ hältnis zur Gesamtzahl der vergebenen Aufträge moderat erhöht. Aller‐ dings deutet der hohe Anteil an Aufträgen mit nur einem einzigen Ange‐ bot auf unzureichenden Wettbewerb im öffentlichen Auftragswesen hin (vgl. Europäische Kommission 2017b, S. 3-4). Vergaberichtlinien definie‐ ren Schwellenwerte für öffentliche Aufträge, ab deren Erreichen eine EU -weite Bekanntmachung des Auftrags erforderlich ist. Für bestimmte Sek‐ toren („Sektorenrichtlinien“) sind genaue prozedurale Anforderungen for‐ muliert, um den Zugang ausländischer Anbieter zu sichern. Pro Öffnung: Die Ausschreibung öffentlicher Aufträge in Europa ist konsequent und notwendig, um den Binnenmarkt zu vollenden. Der be‐ sonders niedrige Anteil der an ausländische Unternehmen vergebenen Aufträge in Ländern wie Spanien, Frankreich und Deutschland weisen auf das Potential hin, Kosten für den öffentlichen Sektor und damit für die Steuerzahler zu sparen. Eine größere Offenheit würde eine Reallo‐ kation von Ressourcen bewirken, die Europa zugutekäme. Kontra Öffnung: Die europaweite Ausschreibung von Aufträgen ist häufig nicht zielführend. Die Komplexität der EU-weiten Ausschreibung verursacht hohe Kosten und erhebliche Verzögerungen. Die regionale Nähe der Anbieter und Nachfrager hat zahlreiche Vorteile, die nicht übersehen werden dürfen und bei einer eng definierten Kostenbetrach‐ tung keine ausreichende Beachtung finden. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 137 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 137 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 137 19.10.2020 12: 33: 23 19.10.2020 12: 33: 23 <?page no="138"?> Die Binnenmarktpolitik hat den Offenheitsgrad der Volkswirtschaften im Warenhandel erhöht, auch die Transparenz über alternative Angebote ist gestiegen, der Wettbewerbsdruck ist gewachsen, Arbitragegeschäfte ver‐ hindern größere Preisunterschiede. Ein Indikator für die tatsächlich er‐ reichte Freiheit ist die durchschnittliche Preisdifferenz der identischen Güter auf unterschiedlichen Märkten der Union. Hier ist es in den letzten Jahren zu einem kontinuierlichen Prozess der Preiskonvergenz auf den nationalen Märkten des Binnenmarktes gekommen (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 11). 4.4.2 Freier Dienstleistungsverkehr Die Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte für ausländische Anbie‐ ter soll wie auch im Bereich des Güterhandels zu einer Erhöhung des Le‐ bensstandards führen. Der freie Verkehr von Dienstleistungen umfasst eine große Vielfalt wirtschaftlicher Aktivitäten (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2020). Die folgende Abb. 22 macht diese Heteroge‐ nität deutlich (vgl. Pelkmans 2006, S. 127). Lokale Dienstleistung (Friseur) alle Dienstleistungen nicht handelbar handelbar nicht-reguliert reguliert netzwerkbasiert nicht netzwerkbasiert finanzieller Sektor Konsum realer Sektor Tourismus Beratung Logistik Marktforschung staatliche Dienstleistungen Bildung Öffentliche Gesundheit Rundfunk Post Telekommunikation Schienentransport Autovermietung Bau Reinigung Marketing Banken Versicherungen Hotel Bildung Gesundheit Abb. 22: Schematische Darstellung der Heterogenität von Dienstleistungen Abb. 22: Schematische Darstellung der Heterogenität von Dienstleistungen 4 Der europäische Binnenmarkt 138 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 138 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 138 19.10.2020 12: 33: 23 19.10.2020 12: 33: 23 <?page no="139"?> In den meisten Mitgliedstaaten trägt der Dienstleistungssektor 70 % und mehr zu BIP und Beschäftigung bei, das Wachstumspotential vieler Dienst‐ leistungsbranchen wird als hoch eingeschätzt, die Bedeutung des grenz‐ überschreitenden Handels mit Dienstleistungen hat zugenommen. Die Öff‐ nung des europäischen Dienstleistungsverkehrs ist daher ein zentrales Politikfeld der Binnenmarktpolitik. In den Artikeln 49-62 und einer großen Zahl von Verordnungen und Richtlinien finden sich die grundlegenden Re‐ gelungen zur Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Vor dem Hintergrund der Natur vieler Dienstleistungen, welche die Anwesenheit des Dienstleis‐ tungserbringers im Land des Nutzers der Dienstleistung erfordert, spielt die Niederlassungsfreiheit eine besondere Rolle: Die Mitgliedstaaten garantie‐ ren Dienstleistungserbringern aus anderen EU-Ländern das Recht, Dienst‐ leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlas‐ sung zu erbringen. Angehörige eines Mitgliedstaates können sich gemäß Artikel 49 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen. Die Nieder‐ lassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Er‐ werbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen. Ge‐ werbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten können von dem Leistenden zwecks Erbringung seiner Leistungen vorüber‐ gehend in dem Mitgliedstaat ausgeübt werden, in dem die Leistung erbracht wird, „und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Artikel 57 AEUV). Verständnisfrage Weshalb stellt die Liberalisierung des Dienstleistungshandels innerhalb der Union eine besondere Herausforderung dar? Viele Dienstleistungen werden in regulierten Sektoren erbracht (vgl. Deut‐ sche Bundesbank 2019, S. 88-89). Regulierungskonzepte und -traditionen un‐ terscheiden sich in europäischen Ländern. Die Öffnung für grenzüberschrei‐ tende Dienstleistungen wirft daher die Frage auf, ob die Regulierung aus dem Herkunftsland des Anbieters oder dem Land des Nachfragers der Dienstleis‐ tung anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt auch im Dienstleistungssektor das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt. Von der relativen Klarheit der Regelungen im Warenverkehr ist der Dienstleistungsverkehr je‐ doch entfernt. Die Liste der Ausnahmen (Finanz-, Gesundheits-, Beförde‐ rungs- und öffentliche soziale Dienstleistungen, Dienstleistungen auf dem 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 139 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 139 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 139 19.10.2020 12: 33: 24 19.10.2020 12: 33: 24 <?page no="140"?> Gebiet der elektronischen Kommunikation), die von der für die Öffnung des Dienstleistungssektors zentralen Dienstleistungsrichtlinie 2006/ 123/ EG nicht abgedeckt werden, weist beispielhaft auf die Komplexität des Dienstleistungs‐ sektors hin: Wenn Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Inter‐ esse, wenn die kulturelle oder sprachliche Vielfalt oder der Medienpluralis‐ mus oder wenn bestimmte arbeitsrechtliche Fragen tangiert sind, dann greifen die auf Liberalisierung ausgerichteten Regelungen der Dienstleistungsrichtli‐ nie nicht und Sonderregelungen kommen zum Tragen. Box 31 | Das Für und Wider der Öffnung des Marktes für Versicherungen aus EU-Ländern Die Anwendung der Regelungen der Freiheit des Dienstleistungsver‐ kehrs, verbunden mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, impliziert auch die Zulassung von Versicherungen aus anderen Mit‐ gliedstaaten. Pro Öffnung: Die Öffnung der nationalen Versicherungsmärkte ist sinnvoll, da die Wahlfreiheit der Konsumenten verbessert wird. Die An‐ gebote ausländischer Versicherungen, z. B. französischer Versicherun‐ gen in Deutschland oder deutscher Versicherungen in Spanien sind in diesem Sinne sinnvolle Erweiterungen des Dienstleistungsangebotes. Der Preis- und Qualitätswettbewerb stärkt den Wirtschaftsstandort Eu‐ ropa, die Dynamik des Marktes wird gesteigert, X-Ineffizienzen werden beseitigt. Insbesondere in kleinen Ländern werden die Vorteile für die Konsumenten groß sein, da kleine beschränkte Märkte hohe Durch‐ schnittskosten und damit Preise für Konsumenten zur Folge haben. Kontra Öffnung: Trotz Konvergenz der Versicherungsaufsichtssys‐ teme gibt es deutliche Unterschiede in der Stabilität der Systeme und der Bonität der Versicherungen verschiedener EU-Staaten, die der Verbrau‐ cher häufig nicht erkennt. Konsumenten sind mit der Einschätzung der Qualität der Dienstleistung aufgrund der spezifischen Natur der Leis‐ tung (in der Zukunft) überfordert. Die Öffnung für dieses Dienstleis‐ tungsangebot setzt weitreichende Homogenität der Standards in diesem Bereich voraus. 4 Der europäische Binnenmarkt 140 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 140 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 140 19.10.2020 12: 33: 24 19.10.2020 12: 33: 24 <?page no="141"?> Ein weiteres Problem ergab sich durch die Regelung einiger Dienstleis‐ tungsbereiche in Form nationaler Monopole. Eine potenzielle Öffnung für Dienstleistungsangebote aus dem Ausland erzwingt somit sowohl die Öff‐ nung des Marktes für Wettbewerb als auch die Öffnung für internationale Anbieter. Die Märkte für Telekommunikations- und Postdienstleistungen, für den Lufttransport und für den Schienenpersonenverkehr oder für Ener‐ gie sind beispielhaft zu nennen. Die EU war ganz wesentlicher Treiber der Öffnung dieser Märkte. Wichtig war die Richtlinie (96/ 71/ EG) zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Diese regelt, dass die Unter‐ nehmen ihren entsandten Arbeitnehmern bestimmte Schutzbestimmungen garantieren müssen, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sie tätig werden, verbindlich sind. Dies umfasst Arbeitszeitregelungen, Urlaubsrege‐ lungen, Mindestlohnbestimmungen, Arbeitsschutzbestimmungen und anderes mehr. Bedingt auch durch den EU-Beitritt weiterer Mitgliedsländer sind Ent‐ sendungen von Arbeitnehmern innerhalb der EU deutlich angestiegen, wäh‐ rend sich die Arbeits- und Sozialordnungen in den Mitgliedstaaten unter‐ schiedlich entwickelt haben. Um Lohn- und Sozialdumping weitgehend auszuschließen, wurde 2018 eine Änderungsrichtlinie (EU) 2018/ 957 zur EU-Entsendrichtlinie beschlossen, deren Umsetzung in nationales Recht bis zum 30. Juli 2020 erfolgen muss. Angesichts der zunehmenden Verschmelzung von Informations- und Kom‐ munikationstechnologien mit traditionellen Wirtschaftszweigen und der rasanten Digitalisierung aller Lebensbereiche sind in Europa Rahmenbedin‐ gungen zu schaffen, um die Chancen dieser Entwicklung nutzen zu können (vgl. Europäische Kommission 2015a). „Ein Europa für das digitale Zeitalter“ gehört zu den sechs Prioritäten der Kommission 2019-2024. Aufgrund un‐ terschiedlicher nationaler Verbraucherschutz- und Vertragsrechte bietet ein gemeinsamer Ordnungsrahmen für digital bereitgestellte und online ver‐ mittelte Angebote den europäischen Unternehmen die Möglichkeit, die aus positiven Skalenerträgen resultierenden Vorteile auszuschöpfen. Dies be‐ deutet aber auch, den Risiken aus mangelnder Datensicherheit und Cyber‐ kriminalität vorzubeugen (vgl. Europäische Kommission 2019b). 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 141 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 141 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 141 19.10.2020 12: 33: 24 19.10.2020 12: 33: 24 <?page no="142"?> 4.4.3 Personenverkehr Eine der vier Freiheiten ist die Freiheit des Personenverkehrs. Jenseits der kulturellen, sozialen und politischen Dimension dieser Freiheit werden von der Öffnung der Märkte für temporäre oder dauerhafte Migration auch wichtige wirtschaftliche Effekte erwartet: Die Migration zu dem Ort, an dem das Grenzprodukt der Arbeit maximal gesteigert werden kann, ist sowohl für den Arbeitnehmer als auch für die Volkswirtschaft als Ganzes vorteilhaft. Die Reallokation der Produktionsfaktoren steigert den Output in der Union. Die Öffnung des Arbeitsmarktes ist mithin gesamtwohlfahrtsteigernd. Ge‐ mäß Artikel 45 AEUV ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU ge‐ währleistet. Jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäfti‐ gung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen ist nicht zulässig (Ar‐ tikel 45, Absatz 2 AEUV). Wesentlich für die Realisierung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer war die Lösung der Frage der Anerkennung der Berufsqualifikationen, die in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurden (Richtlinie 2005/ 36/ EG; geändert durch Richtlinie 2013/ 55/ EU). Europäische Länder haben ganz unterschied‐ liche Berufsausbildungssysteme. Die Akzeptanz der Berufsausbildung in ei‐ nem anderen EU-Mitgliedsland als Grundlage der Aufnahme der Beschäfti‐ gung war daher stets kontrovers gesehen worden. Trotz Maßnahmen wie der automatischen Anerkennung von Universitätsabschlüssen, der Einrich‐ tung eines europäischen Rahmens für reglementierte Berufe oder eines eu‐ ropäischen Berufsausweises ist das Hindernis für die Arbeitskräftemobilität in Europa noch nicht vollständig ausgeräumt (vgl. Europäischer Rechnungs‐ hof 2018). Ein bedeutender praktischer Schritt auf dem Weg zur Freiheit des Perso‐ nenverkehrs war auch die Einigung auf ein Abkommen zum Abbau der Grenzkontrollen für Personen, dem sogenannten „Schengen-Abkommen“, welches 1985 unterzeichnet wurde und seit 1995 den Grenzübertritt zwi‐ schen den Unterzeichnerstaaten des Abkommens ohne Vorlage von Pass‐ dokumenten ermöglicht. Sukzessive traten weitere Länder dem Abkommen bei. Migration innerhalb der Europäischen Union zum Zweck der Arbeitsauf‐ nahme in anderen Ländern hat es in Europa stets gegeben. In den 1970er-Jah‐ ren gab es eine erhebliche Migration von Arbeitskräften aus südeuropäi‐ 4 Der europäische Binnenmarkt 142 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 142 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 142 19.10.2020 12: 33: 25 19.10.2020 12: 33: 25 <?page no="143"?> schen Ländern in nordeuropäische Länder. Mit der politischen Öffnung in Osteuropa verliefen die Migrationsströme von Ost nach West. In Abb. 23 werden einige Daten zur Intra-EU-Mobilität ausgewiesen (vgl. Europäische Kommission 2019c). Danach lebten im Jahr 2017 gut 12 Millio‐ nen mobile Arbeitskräfte länger als ein Jahr („langfristig“) in einem anderen EU-Land als in dem ihrer Staatsangehörigkeit. Bei rund 302 Millionen Ein‐ wohnern im erwerbsfähigen Alter innerhalb der EU entspricht dies einem Anteil von 4,1 %. 1,4 Millionen Personen arbeiten in einem anderen EU-Staat als in dem Land, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Dieser Grenzgängeranteil an den Beschäf‐ tigten in der EU insgesamt (217 Millionen) beträgt knapp 0,7 %. Mit 680.000 Personen beläuft sich die Rückkehrmobilität in der EU auf rund 66 % des Zuzugs an mobilen Arbeitskräften im Jahr 2016. Art der Mobilität Umfang „Langfristig“ mobile Arbeitskräfte aus der EU-28 im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre), die in der EU-28 leben (in Mio.), Jahr 2017 12,4 EU-28-Grenzgänger (20-64 Jahre) (in Mio.) 1,4 Mobile Arbeitskräfte, die in ihr Heimatland zurückgekehrt sind (in Mio.), Jahr 2016 0,68 Abb. 23: Mobilität der Arbeitskräfte in der EU, 2016/ 2017 Die ökonomische Bewertung einer erheblichen Migration hängt ganz we‐ sentlich davon ab, ob die Zunahme des Arbeitsangebotes substitutiver oder komplementärer Natur zu dem Arbeitsangebot im Inland ist (vgl. Ohr 2013, S. 73). Ist das Arbeitsangebot substitutiv, kommt es zu einer Absenkung der Löhne oder bei Erreichen eines Mindestlohnes zur Zunahme der Arbeitslo‐ sigkeit. Ist hingegen das Arbeitsangebot komplementär zu dem existieren‐ den Arbeitsangebot bzw. Kapitalangebot, sind die Wohlfahrtseffekte der Zu‐ wanderung anders zu beurteilen. Die heimischen Arbeitnehmer erleiden keinen Wohlfahrtsverlust, es kann gar durch die Zunahme der Arbeitsnach‐ frage zu einem Anstieg der Löhne kommen. Die Initiativen zur Anwerbung 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 143 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 143 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 143 19.10.2020 12: 33: 25 19.10.2020 12: 33: 25 <?page no="144"?> von hochqualifizierten Spezialisten aus aller Welt sind vor diesem Hinter‐ grund zu sehen. Box 32 | Pro und Kontra der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU Zu Beginn des Jahres 2014 wurde in Großbritannien und Deutschland intensiv über das Pro und Kontra der Öffnung für Immigranten aus Bul‐ garien und Rumänien diskutiert, die mit Auslaufen einer Übergangsre‐ gelung ab 1. 1. 2014 möglich wurde. Pro: Befürworter heben die Vorteile der Immigration hervor. Industrie‐ länder benötigen demografisch bedingt junge Einwanderer, Defizite in manchen Qualifikationsprofilen sind nur durch Immigration kurz- und mittelfristig zu beheben. Auch aus der Perspektive der europäischen So‐ lidarität ist dies für die Befürworter geboten. Hinzu kommt, dass durch die Rücküberweisung der Einkommen aus der Tätigkeit in reicheren Ländern wichtige Impulse im Heimatland der Migranten ermöglicht werden. Viele Migranten sammeln berufliche Erfahrung und gehen nach Jahren der Tätigkeit im Gastland wieder zurück in ihr Heimatland und transferieren wichtiges Know-how. Kontra: Kritiker behaupten, dass der Anteil der Immigranten aus diesen Ländern, die keinen Arbeitsplatz finden oder annehmen, hoch ist. Die In‐ tegration mancher Bevölkerungsgruppen sei schwierig, deren Konzentra‐ tion an manchen Orten behindere die Integration. Ihr Arbeitsangebot sei häufig substitutiv, Arbeitnehmer, die ohnehin aufgrund eines niedrigen Qualifikationsprofils Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben, werden verdrängt. Die Löhne in diesem Bereich werden auf ein sozial nicht akzep‐ tables Niveau gedrängt, die Migration führt direkt oder indirekt zu einer erhöhten Zahlung von Sozialleistungen. Im Falle hochqualifizierter Arbeits‐ kräfte kann es zu einem „brain-drain“ im Heimatland kommen. Der Gesamtwohlfahrtseffekt der Migration lässt sich schwer bemessen, er ist ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Natur, muss das Ziel‐ land und das Heimatland einschließen und muss wegen vielfältiger lang‐ fristiger Effekte lange Zeiträume umfassen. 4 Der europäische Binnenmarkt 144 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 144 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 144 19.10.2020 12: 33: 25 19.10.2020 12: 33: 25 <?page no="145"?> 4.4.4 Kapitalverkehr Die Kapitalverkehrsfreiheit soll die optimale Allokation der knappen Res‐ source Kapital ermöglichen. Beschränkungen des Kapital- und Zahlungs‐ verkehrs innerhalb der Union sind verboten. Dies betrifft sowohl Direktin‐ vestitionen als auch Finanzkapital und ist unabhängig von der Nationalität des Eigentümers des Kapitals (vgl. Ranacher/ Staudigl/ Frischhut (Hrsg.) 2015, S. 108-109). Die folgende Abb. 24 beschreibt an einem einfachen Modell des Gleichge‐ wichts von Kapitalnachfrage und -angebot den Wohlfahrtsgewinn aus der Öff‐ nung des Binnenmarktes für Kapital (vgl. Pelkmans 2006, Wagener/ Eger 2014). F G 4 E i* 5 o B i* i B 6 i AA i A o A i BB H C 10 8 7 9 3 1 2 D I Abb. 24: Wohlfahrtseffekte der Öffnung von zwei Kapitalmärkten Abb. 24: Wohlfahrtseffekte der Öffnung von zwei Kapitalmärkten Der Kapitalbestand in Land A beträgt O A G, in Land B entsprechend O B G. Die Nachfrage nach Kapital bestimmt sich gemäß der Funktion des (Wert-)Grenzprodukts CE in Land A und HI in Land B. Wenn die Märkte durch Kapitalverkehrskontrollen voneinander getrennt sind, ergibt sich in jedem Land der Zinssatz, der durch Gleichheit von Kapitalnachfrage und -angebot charakterisiert ist. Im Land A liegt der Gleichgewichtszins bei i AA , in Land B bei i BB . Erfolgt die Güterproduktion unter Einsatz der beiden Fak‐ toren Kapital und (konstanter) Arbeit, entspricht das Kapitaleinkommen in Land A den Flächen 1 und 2 und in Land B den Flächen 3 und 4. Das jeweilige 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 145 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 145 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 145 19.10.2020 12: 33: 25 19.10.2020 12: 33: 25 <?page no="146"?> Arbeitseinkommen wird durch die Flächen 5 bis 7 in Land A und durch die Fläche 8 in Land B dargestellt. Durch die Öffnung der beiden Kapitalmärkte, die für eine Reallokation der Ressourcen im Ausmaß der Strecke FG zugunsten des Landes B sorgt, kommt es zu einem einheitlichen Gleichgewichtszinssatz in Höhe von i* . Die In‐ vestitionsprojekte aus Land A, die durch den mit DE bezeichneten Teil der Kapitalnachfragekurve des Landes A erfasst sind, werden nicht mehr durch‐ geführt. Stattdessen werden die Projekte des Landes B realisiert, die mit dem Segment ID der Kapitalnachfragekurve des Landes B gekennzeichnet sind. Infolge der höheren Zinserträge auf das dem Land B zur Verfügung gestellte Kapital steigt das Nationaleinkommen im Land A an (Fläche 9), auch wenn das Inlandsprodukt sinkt (Flächen 2 und 7). Die höhere Produktion in Land B bewirkt eine Zunahme des Nationaleinkommens um die Fläche 10. In bei‐ den Ländern ändert sich die Relation zwischen Arbeits- und Kapitaleinkom‐ men zugunsten des Faktors Kapital in Land A und zugunsten des Faktors Arbeit in Land B. Insgesamt erlaubt die Öffnung der beiden Kapitalmärkte eine effizientere Nutzung des Faktors Kapital und führt zu Vorteilen (Flächen 9 und 10) für beide Länder. Der am Modell erläuterte Nutzen aus der Liberalisierung beschreibt die grundsätzliche Rationalität der Öffnung der Kapitalmärkte: Wenn Portfoli‐ oinvestitionen, Direktinvestitionen und Kredite grenzüberschreitend getä‐ tigt werden können, gewinnt die Gesellschaft als Ganzes. Im Jahr 2015 wurde im Rahmen eines Grünbuches die Idee einer Kapital‐ marktunion als „klassisches“ Element des Binnenmarktes vorgestellt (vgl. Europäische Kommission 2015b), um die in Europa noch überwiegend von den Banken abhängige Unternehmensfinanzierung stärker kapitalmarktge‐ stützt auszurichten und durch Diversifizierung der Finanzierungsquellen zu einem stabileren Finanzsystem beizutragen. Die grundlegenden Regelungen für den Kapitalverkehr im Binnenmarkt finden sich in Artikel 63-75 AEUV. „Alle Beschränkungen des Kapitalver‐ kehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ sind verboten (Artikel 63 AEUV). Tatsächlich wurden zahlreiche Schranken abgebaut, sowohl Portfolioanlagen als auch Direktin‐ vestitionen sind heute im Binnenmarkt ohne wesentliche Beschränkungen möglich. 4 Der europäische Binnenmarkt 146 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 146 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 146 19.10.2020 12: 33: 26 19.10.2020 12: 33: 26 <?page no="147"?> Box 33 | Kontroverse über Kapitalverkehrsfreiheit Die Öffnung der Märkte für Kapital in Europa wurde sowohl vor als auch nach erfolgter Liberalisierung kontrovers diskutiert. Die Politik der EU im Bereich der Finanzdienstleistungen umfasst Regelungen für den Ban‐ ken-, den Versicherungs- und den Wertpapiersektor. Pro Öffnung: Vertreter der Öffnung erwarten davon eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Finanzsektors und einen Innovationsimpuls für den Binnenmarkt. Das Ende der Abschottung kleiner nationaler Märkte produziert deutliche Wohlfahrtsgewinne. Die regulativen Instrumente stehen zur Verfügung, um die Basis für einen wohlstandssteigernden Finanzsektor zu schaffen. Kontra Öffnung: Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass zahlrei‐ che Effekte der Finanzmarktintegration nicht ausreichend berücksich‐ tigt wurden. Die Finanzmarktintegration erfordert vor dem Hintergrund der externen Effekte von Finanzmarktproblemen in europäischen Län‐ dern funktionsfähige Aufsichtsstrukturen für Finanzintermediäre, ge‐ meinsame Standards für den Umgang mit bestimmten Finanzprodukten oder Risiken. Die Entwicklung einer adäquaten Aufsicht ist bisher nicht erfolgt und ein komplexes Unterfangen. Der Verbraucherschutz fordert ebenso Vorsicht und Augenmaß bei der Integration der Finanzmärkte wie das Anliegen, den Steuerzahler zu schützen, die in Krisen gefordert sind, den Zusammenbruch des Finanzsektors zu verhindern. Ein besonderes Problem der Öffnung des Binnenmarktes für Kapitalmobi‐ lität war und ist das Problem der Steuergestaltung und Steuerhinterzie‐ hung. In vielen Ländern wurde die Freiheit des Kapitalverkehrs missbraucht, um Steuern dem Heimatland vorzuenthalten. Die Regelungen des Lissa‐ bon-Vertrages als auch die besonderen Verordnungen und Richtlinien er‐ lauben es den Mitgliedstaaten, mit geeigneten Maßnahmen Zuwiderhand‐ lungen gegen steuerrechtliche Vorgaben zu begegnen. Die Normen waren stets kontrovers, da in vielen Ländern der Finanzsektor genau auf die Ziel‐ gruppe abstellte. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 147 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 147 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 147 19.10.2020 12: 33: 26 19.10.2020 12: 33: 26 <?page no="148"?> Box 34 | Die Besteuerung von Zinseinkünften - das ethische Problem Die Besteuerung von Zinseinkünften stellt für viele Länder in der Union ein besonderes Problem dar, da die Kombination aus Kapitalverkehrs‐ freiheit und strikter Beachtung des Bankgeheimnisses in Ländern wie Luxemburg den Transfer von Geldern beflügelte. Welche Druckmecha‐ nismen sind legitim, um dieses Problem anzugehen? Ist der Kauf illegal gehandelter Daten-CDs akzeptabel, ist der Druck auf Aufweichung des Bankgeheimnisses sinnvoll, müssen Länder innerhalb der EU gezwun‐ gen werden, eine Mindestbesteuerung anzuwenden? Verständnisfrage Diskutieren Sie die Problematik des staatlichen Aufkaufs von Steuer-CDs und erstellen Sie eine Pro- und Kontra-Liste der Argumente für die Frage der Beschaffung illegal gehandelter Daten-CDs. Wie auch in den anderen Binnenmarktpolitikfeldern war eine Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien erforderlich, um die Integrationsziele zu er‐ reichen. Mit einer Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt aus dem Jahr 2007 zielte die EU auf die Erleichterung der Transaktionen innerhalb der EU ab. Durch den einheitlichen europäischen Zahlungsraum („Single Euro Pay‐ ments Area“) wurde ein gemeinsamer Rechtsrahmen für bargeldlose Über‐ weisungen geschaffen, der die Durchführung von Zahlungsvorgängen be‐ schleunigt und Standardisierungen im europaweiten Zahlungsverkehr ermöglicht. 4.5 Herausforderungen - anstehende Aufgaben Die Verwirklichung des Binnenmarktes bleibt die zentrale Aufgabe für die Union. Die Themen der von der Europäischen Kommission (2015c) initiier‐ ten Strategie für einen vertieften und faireren Binnenmarkt zeigen die Viel‐ falt der Herausforderungen: So wird die Förderung der partizipativen Wirt‐ schaft und von Start-ups angekündigt, die Ungleichbehandlung von online- 4 Der europäische Binnenmarkt 148 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 148 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 148 19.10.2020 12: 33: 26 19.10.2020 12: 33: 26 <?page no="149"?> Kunden aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten soll abgeschafft werden; das Normungssystem soll modernisiert und die öffentliche Auftragsvergabe transparenter und effizienter gestaltet werden. Zukunftsweisende Regelun‐ gen der geistigen Eigentumsrechte wie Maßnahmen zur Stärkung der Re‐ gelcompliance in der Union sind vorzunehmen. Einige Initiativen wie das Geoblocking wurden schon umgesetzt, weitere Maßnahmen werden folgen (vgl. Europäische Kommission 2018c, Europäischer Rat 2019). Auch wenn das Potential des Binnenmarktes noch nicht vollständig ausge‐ schöpft ist, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Binnenmarkt‐ politik der vergangenen Jahrzehnte die Realität des wirtschaftlichen Han‐ delns in Europa substantiell in die gewollte Richtung verändert hat. Die Binnenmarktpolitik ist häufig kontrovers gewesen und wird dies auch in Zukunft sein. Die Artikulation unterschiedlicher Interessen und Positionen, auch der Streit um den richtigen Weg, sind vielfach unvermeidlich. Der öf‐ fentliche Diskurs über Vorschläge der Kommission, die Suche nach guten Lösungen, das Aushandeln von Kompromissen, dies alles gehört zu dem demokratischen Prozess, dem sich die EU verschrieben hat. Und selbst wenn Reformen netto einen Wohlfahrtsgewinn für die Bürger der EU bringen, bedeutet dies nicht, dass es nicht auch gesellschaftliche Gruppen gibt, deren Wohlfahrt beeinträchtigt wird. Es ist Aufgabe der EU und der Mitgliedstaa‐ ten, Wege zu finden, damit sich der Binnenmarkt zum Nutzen der Gesell‐ schaft weiterentwickeln kann. 4.6 Wichtige Begriffe Vier Freiheiten, Handelsschaffung, Handelsumlenkung, Skalenerträge, X-Ineffizienz, Bestimmungslandprinzip, Ursprungslandprinzip, Cassisde-Dijon-Urteil, öffentliches Auftragswesen, Dienstleistungsrichtlinie 4.7 Literatur Adam, Hans/ Mayer, Peter (2016): „Der europäische Binnenmarkt“, in: wisu - das Wirtschaftsstudium, H. 5, S. 604-612 Bertelsmann Stiftung (2013): Soziale Marktwirtschaft in Europa? - Indexergebnisse, Policy Brief 2013/ 03, Gütersloh 4.6 Wichtige Begriffe 149 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 149 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 149 19.10.2020 12: 33: 27 19.10.2020 12: 33: 27 <?page no="150"?> Bertelsmann Stiftung (2014): 20 Jahre Binnenmarkt - Wachstumseffekte der zuneh‐ menden EU-Integration, Policy Brief 2014/ 02, Gütersloh Brunn, Gerhard (2017): Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 4. 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September 2019, S. 13 Europäische Kommission (2011): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Binnenmarktakte. Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen. „Gemeinsam für neues Wachstum“, SEK(2011) 467 endgültig, Brüssel 2011 Europäische Kommission (2012): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Binnenmarktakte II - Gemeinsam für neues Wachs‐ tum, Brüssel Europäische Kommission (2015a): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa, SWD (2015) 100 final, Brüssel 4 Der europäische Binnenmarkt 150 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 150 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 150 19.10.2020 12: 33: 27 19.10.2020 12: 33: 27 <?page no="151"?> Europäische Kommission (2015b): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, (SWD (2015) 183 final), Brüssel Europäische Kommission (2015c): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Den Binnenmarkt weiter ausbauen: mehr Chancen für die Menschen und die Unternehmen, COM (2015) 550 final, Brüssel. 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Dezember 2018, Brüssel Europäische Kommission (2018c): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Der Binnenmarkt in einer Welt im Wandel - Ein wert‐ 4.7 Literatur 151 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 151 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 151 19.10.2020 12: 33: 27 19.10.2020 12: 33: 27 <?page no="152"?> voller Aktivposten braucht neues politisches Engagement, COM(2018) 772 final, 22. 11. 2018, Brüssel Europäische Kommission (2019a): VAT rates applied in the Member States of the European Union. Situation at 1st July 2019, Taxud. c.1 (2019), Internet: https: / / ec .europa.eu/ taxation_customs/ sites/ taxation/ files/ resources/ documents/ taxation/ vat/ how_vat_works/ rates/ vat_rates_en.pdf Europäische Kommission (2019b): Verordnung (EU) 2019/ 881 des Europäischen Par‐ laments und des Rates vom 17. April 2019 über die ENISA (Agentur der Europäi‐ schen Union für Cybersicherheit) und über die Zertifizierung der Cybersicherheit von Informations- und Kommunikationstechnik und zur Aufhebung der Verord‐ nung (EU) Nr. 526/ 2013 (Rechtsakt zur Cybersicherheit), Internet: https: / / eur-lex .europa.eu/ legal-content/ DE/ TXT/ PDF/ ? uri=CELEX: 32019R0881&from=EN Europäische Kommission (2019c): 2018 Annual Report on intra-EU Labour Mobility. Final Report December 2018, Brüssel Europäisches Parlament (2019a): Europe’s two trillion Euro dividend. 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Welchen besonderen Herausforderungen sieht sich die europäische Wettbewerbspolitik gegenüber? 5.1 Einführung In den Medien wird regelmäßig über wettbewerbspolitische Maßnahmen der Europäischen Union berichtet: „Razzia bei der …“, „Umstrittene Beihilfe - EU-Wettbewerbshüter stoßen sich an …“, „EU verhängt Millionenstrafe ge‐ gen …“, „EU kritisiert hohe Gehälter bei …“, „EU erwartet Milliardenersparnis bei Wegfall der Monopole im Bereich …“. Die Schlagzeilen beleuchten die Breite und Bedeutung der in Brüssel verantworteten Wettbewerbspolitik. Zu‐ 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 155 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 155 19.10.2020 12: 33: 28 19.10.2020 12: 33: 28 <?page no="156"?> nächst werden die theoretischen Grundlagen der Wettbewerbspolitik erläu‐ tert, um anschließend die konkreten rechtlichen Instrumente der europäischen Wettbewerbspolitik vorzustellen und zu diskutieren. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 5.2.1 Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren Der Preismechanismus ist ein leistungsfähiges Instrument zur Allokation knapper Güter. Eine dezentral organisierte Volkswirtschaft mit wettbewerb‐ lich organisierten Märkten ermöglicht in der Regel wirtschaftliche Ergeb‐ nisse, die alternativen Verfahren der Koordination der Produktions- und Konsumentscheidungen für private Güter deutlich überlegen sind. Unter‐ nehmen müssen sich an den Präferenzen der Verbraucher orientieren, diese bestimmen über ihre Nachfrage auch über das Güterangebot. Konsumenten genießen die Freiheit, sich gemäß ihren Vorstellungen für Produkte und Dienstleistungen zu entscheiden („Konsumentensouveränität“). Die Preise, die sich in Wettbewerbsmärkten ergeben, werden durch die Konkurrenz der Unternehmen um Konsumenten niedrig gehalten. Box 35 | Polypol versus Monopol Anhand Abb. 25 lassen sich die Vorzüge des Wettbewerbs im Kontrast zwischen Polypol und Monopol illustrieren. Auf dem Wettbewerbs‐ markt ist der Preis für ein Unternehmen ein Datum (Preisnehmerver‐ halten), so dass bei Gewinnmaximierung die Optimalbedingung Preis = Grenzkosten realisiert wird. Auf dem Markt ergibt sich die Preis-Mengen-Kombination (p W , x W ) im Schnittpunkt von Nachfrage- und Angebotsfunktion. Demgegenüber ermittelt der Monopolist (Preis‐ setzer) seine gewinnmaximale Preis-Mengen-Kombination gemäß der Bedingung Grenzumsatz = Grenzkosten und realisiert den Cournot‐ schen Punkt (p M , x M ). Der Preis im Monopol ist höher als der Wettbe‐ werbspreis (p M > p W ) und die Menge, die der Monopolist bereitstellt, ist geringer als die Wettbewerbsmenge (x M < x W ). 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 156 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 156 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 156 19.10.2020 12: 33: 28 19.10.2020 12: 33: 28 <?page no="157"?> U' x W p W p M X A = K' p b c a e d N x M Abb. 25: Vergleich Wettbewerb und Monopol Gegenüber dem Wettbewerb vermindert sich die Konsumentenrente im Monopol infolge des gestiegenen Preises und der Mengenreduktion um die Flächen b + c. Die Produzentenrente im Monopol steigt um die Fläche b (Umverteilung) und sinkt um die Fläche d (suboptimaler Output). Ins‐ gesamt ergibt sich ein Wohlfahrtsverlust (deadweight-loss) durch das Monopol gegenüber dem Wettbewerb um die Flächen c + d, der alloka‐ tive Ineffizienz widerspiegelt. Um die Marktmacht eines Unternehmens zu erfassen, ist vorgeschlagen worden, Lerners Monopolgrad zu bestimmen: L = (p - K')/ p = - 1/ εx,p. Je kleiner der Preissetzungsspielraum eines Unternehmens als Abwei‐ chung des Preises von den Grenzkosten relativ zum Preis des Produktes ist bzw. je elastischer die nachgefragte Menge auf Preisveränderungen reagiert, desto geringer ist die Marktmacht eines Unternehmens. Auf den Lerner-Index wird in empirischen Studien zunehmend zurückge‐ griffen, um die Wettbewerbsintensität in einer Branche zu beschreiben (vgl. Monopolkommission 2014, S. 242-245). Entsprechend lassen sich 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 157 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 157 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 157 19.10.2020 12: 33: 29 19.10.2020 12: 33: 29 <?page no="158"?> auch Preisaufschläge bzw. ökonomische Gewinnmargen als Spanne zwi‐ schen den Grenzkosten der Erstellung eines Gutes und dessen Preis er‐ fassen: µ = P/ K'. Je höher der Preisaufschlag ist, desto eher ist Markt‐ macht zu vermuten (vgl. Monopolkommission 2018, S. 164-176). Der Wettbewerb der Anbieter hat positive Wirkungen auf die Vielfalt und Qualität der angebotenen Produkte. Die Produktionsfaktoren werden dort eingesetzt, wo sie die höchsten wirtschaftlichen Vorteile erbringen: Die Al‐ lokation der Produktionsfaktoren ist effizient. Unternehmen passen die Pro‐ duktion und die Produktionskapazitäten an die sich ständig ändernde Nach‐ fragestruktur und Produktionstechnik an, es bedarf hierzu keiner staatlichen Eingriffe, die „unsichtbare Hand“ des Marktes lenkt die Produktionsfaktoren (Anpassungsflexibilität). Unternehmen sind ständig gezwungen, durch In‐ novationen ihre Marktpräsenz und ihren Markterfolg zu verteidigen, der Markt ist der Treiber von technischem und sozialem Fortschritt. Der Wett‐ bewerb belohnt produktive und innovative Unternehmen. Diese dem Wettbewerb zugeschriebenen Vorteile und die grundsätzliche Überlegenheit des Marktes bei der Steuerung der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen können jedoch nur unter bestimmten Be‐ dingungen realisiert werden: ■ Der Wettbewerb ist nur dann ein taugliches Instrument, wenn es sich nicht um das Angebot öffentlicher Güter handelt. Das Ausschluss‐ prinzip und das Rivalitätsprinzip müssen gelten. ■ Positive oder negative externe Effekte auf der Konsum- oder der Pro‐ duktionsseite dürfen nicht zu einer Fehlallokation der Ressourcen führen. ■ Die Steuerung durch den Markt erfordert die Fähigkeit des Verbrau‐ chers, Aspekte wie Produktsicherheit adäquat einschätzen zu können. Informationsasymmetrie kann zu suboptimalen Ergebnissen führen. ■ Anbieter stehen im Wettbewerb und konkurrieren um Nachfrager. Es liegt weder ein natürliches Monopol vor noch wird der Wettbewerb durch Unternehmen ausgeschaltet. 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 158 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 158 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 158 19.10.2020 12: 33: 29 19.10.2020 12: 33: 29 <?page no="159"?> 5.2.2 Leitbilder der Wettbewerbspolitik Wenn auch weitgehend Übereinstimmung über die grundsätzliche Vorteil‐ haftigkeit des Wettbewerbs herrscht, so bleibt zu klären, ob dieser durch eine besondere Marktstruktur gekennzeichnet ist und des Schutzes durch den Staat bedarf. Die theoretische Befassung mit den systemischen Bedingungen für Wettbewerb, mit den Charakteristika wettbewerblichen Verhaltens und den Ergebnissen wettbewerblicher Prozesse führte in der Wettbewerbsthe‐ orie zu der Entwicklung von „Leitbildern“, die einen geschlossenen und in sich widerspruchsfreien Zusammenhang von wettbewerbspolitischen Zie‐ len sowie zielkonformen Instrumenten und Trägern der Wirtschaftspolitik beschreiben (vgl. Schmidt/ Haucap 2013). Drei Leitbilder sind von besonderer Bedeutung für das Verständnis der realen Wettbewerbspolitik in Europa: das Leitbild des vollkommenen Marktes, das Leitbild des funktionsfähigen Wett‐ bewerbs und das Leitbild der Konsumentenwohlfahrt (die Chicago School of Anti-Trust Analysis). Das Leitbild der vollständigen Konkurrenz Die „Soziale Marktwirtschaft“, welche Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges prägt, ist eng mit der Idee des Wettbewerbs, der Kon‐ kurrenz einer Vielzahl von Unternehmen und gleichzeitig dem aktiven Schutz und der Förderung des Wettbewerbs verknüpft (vgl. Wissenschaft‐ licher Beirat beim Ministerium für Wirtschaft und Technologie 2010, S. 11- 14). Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und andere entwickelten die wettbewerbspolitische Konzeption, die mit dem „Leitbild der vollständigen Konkurrenz“ beschrieben werden kann, vor dem Hintergrund der wirt‐ schaftspolitischen Erfahrung Deutschlands vor 1945. Die gezielte Ausschal‐ tung des Wettbewerbs gehörte zum Alltag in Deutschland. Wettbewerbspo‐ litik muss nach Müller-Armack Wettbewerbsbeschränkungen verhindern, Marktkontrolle durch Unternehmen, Marktabsprachen durch Oligopole und Kartelle verhindern und den Wettbewerb im Sinne des Verbrauchers schüt‐ zen (vgl. Müller-Armack 1966). Ein funktionsfähiges Preissystem und voll‐ ständige Konkurrenz wurden zum „wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundprinzip“ erklärt, eine umfassende und konsequente staatliche Wett‐ bewerbspolitik wurde als erforderlich erachtet. Das Idealbild der vollstän‐ digen Konkurrenz prägte somit die Konzeption der Wettbewerbspolitik. Die Argumentation ist Teil des Ordoliberalismus, der von der Freiburger Schule vertreten wurde. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 159 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 159 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 159 19.10.2020 12: 33: 29 19.10.2020 12: 33: 29 <?page no="160"?> Das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs Das in den USA von John Maurice Clark entwickelte und bald in Deutschland und Europa aufgegriffene Leitbild des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ („workable competition“) stellte das Leitbild des vollkommenen Wettbe‐ werbs grundsätzlich infrage. Marktunvollkommenheiten, die aus Sicht des Leitbilds der vollständigen Konkurrenz zu beseitigen sind, können aus dieser Perspektive sogar den Wettbewerb beleben. Wettbewerb ist nicht nur in der Marktstruktur des Polypols anzutreffen, auch in Oligopolen kann die Wett‐ bewerbsintensität hoch sein. Für die Beurteilung, ob Wettbewerb stattfindet, reicht aus Sicht dieses Leitbildes der Blick auf die Marktstruktur nicht aus. Vielmehr sind die Marktstruktur, das Marktverhalten und das Marktergeb‐ nis zu würdigen. Die in der Realität beobachteten Wettbewerbsprozesse sol‐ len anhand konkreter Kriterien beurteilt werden. Die Marktstruktur kann beispielsweise anhand der Zahl und der relativen Größe der Anbieter und Nachfrager, dem Ausmaß der Produktdifferenzierung, dem Grad der Markt‐ transparenz und dem Vorhandensein von Marktzutrittsbeschränkungen be‐ urteilt werden. Das Marktverhalten lässt sich durch die Beobachtung der Preisstrategien und Innovationsaktivitäten bewerten. Das Marktergebnis kann durch die Analyse der allokativen und produktiven Effizienz, des tech‐ nischen Fortschritts und weiterer Größen erfasst werden. Gemäß diesem Modell ist beispielsweise ein Markt mit wenigen Anbietern, aber sehr kon‐ kurrenzorientiertem Verhalten der Unternehmen, mit vielen Innovationen, niedrigen Preisen und Gewinnen als wettbewerbsorientiert zu beschreiben und wettbewerbspolitisch nicht zu bekämpfen. Das Konzept beeinflusste die Gesetzgebung in vielen Ländern. Die Wettbewerbspolitik ist vorsichtiger, sie muss differenzierter argumentieren, die Einschätzung von Wettbewerbssi‐ tuationen ist nicht mehr rein marktformorientiert. Das Leitbild einer Steigerung der Konsumentenwohlfahrt - Die Chicago School Das Leitbild der Steigerung der Konsumentenwohlfahrt, das auch als Kon‐ zept der „Chicago School“ oder auch „Chicago School of Antitrust Analysis“ bekannt ist, ist durch ein Grundvertrauen in die Kräfte des Marktes geprägt und skeptisch gegenüber dem Staat. Aus Sicht der Chicago School muss Wettbewerbspolitik durch große Zurückhaltung des Staates geprägt sein. Wettbewerbsfreiheit ist erforderlich, das Vertrauen des Staates in die Markt‐ kräfte ist geboten, der reflexartige Blick vieler Wirtschaftspolitiker auf die 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 160 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 160 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 160 19.10.2020 12: 33: 29 19.10.2020 12: 33: 29 <?page no="161"?> Marktstruktur führt in die Irre. Wenn Unternehmen Skalenvorteile ausnut‐ zen, ihre produktive Effizienz erhöhen und in der Folge der Konzentrati‐ onsgrad steigt, ist dies aus dieser Perspektive nicht grundsätzlich negativ zu beurteilen und soll von Wettbewerbsbehörden nicht unterbunden werden. Pioniergewinne sind gut, sie stellen Anreize für Innovationen dar und locken Wettbewerber an. Eine Bestrafung kreativer und erfolgreicher Unterneh‐ men, die für eine gewisse Zeit eine Monopolstellung einnehmen und ent‐ sprechende Monopolgewinne erwirtschaften, ist nicht nur nicht nötig, son‐ dern kontraproduktiv. Ein Nachlassen der produktiven Effizienz im Monopol, also X-Ineffizienz, werde von anderen Unternehmen, welche die Marktchancen erkennen, bestraft. Der Staat soll nur bei klaren fortdauern‐ den wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen eingreifen. Solange ein Markt „bestreitbar“ (contestable) ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Wohlfahrt der Konsumenten gesteigert wird. Grundsätzlich ist nicht der Eingriff in Marktprozesse, sondern Entbürokratisierung, Liberalisierung und Deregulierung die prioritäre Aufgabe der Wettbewerbspolitik. Eine großzügige Einstellung gegenüber Zusammenschlüssen und Monopolen ist die aus diesem Leitbild abgeleitete Empfehlung. Eng damit verknüpft ist auch die Argumentation des Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek, der die Rolle des Marktes als Ort des Entdeckens von Wissen beschrieb. Das Ergebnis des Entdeckungsprozesses sei nicht bekannt, das auch der Staat nicht einschätzen kann. Im Vergleich zum Marktversagen sei das Staatsver‐ sagen die größere Gefahr, der Staat sei nicht allwissend und unterliege Fehl‐ anreizen, die zur Vorsicht gegenüber öffentlicher Beaufsichtigung mahnen (vgl. Klausinger 2013, S. 113-116). Auch die politische Dimension der Freiheit spielte eine wichtige Rolle, Freiheit von staatlicher Einmischung, Anordnung und Bevormundung sei ein wesentliches Ziel einer Wirtschafts‐ ordnung, Wettbewerb erfordert Selbstverantwortung und schafft Selbstach‐ tung. Verständnisfrage Erörtern Sie, welche Aufgaben dem Staat in dem jeweiligen wettbe‐ werbspolitischen Leitbild zukommen. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 161 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 161 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 161 19.10.2020 12: 33: 30 19.10.2020 12: 33: 30 <?page no="162"?> 5.3 Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik Die Leitbilder prägen grundsätzlich die Sicht auf das Marktgeschehen, auf die Marktformen und das Vertrauen in die Dynamik der Märkte. Allen Leit‐ bildern gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Staat einheitliche Rah‐ menbedingungen für den Wettbewerb („level playing field“) schaffen muss. Das Leitbild des vollkommenen Marktes empfiehlt jedoch für den Staat eine starke wettbewerbsschützende Rolle, während das Leitbild der Chicago School auf der anderen Seite des Kontinuums der Handlungsoptionen an‐ gesiedelt ist und dem Staat größte Zurückhaltung nahelegt. Das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs nimmt diesbezüglich eine Zwischenposition ein. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU Die EU bekennt sich im Vertrag von Lissabon zur Schaffung einer wettbe‐ werbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die „economic governance“ der EU beruht auf dem Prinzip einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Eine marktwirtschaftliche Ordnung wird als Grundlage für Wachstum und hohen Lebensstandard für die Bevölkerung gesehen. Die Union verpflichtet sich zur Unterstützung des Wettbewerbsprozesses im Binnenmarkt, innerhalb dessen der Wettbewerb unverfälscht sein soll. Die Unternehmen sollen zu einem wettbewerbsorientierten Verhalten veranlasst werden, womit dyna‐ misches, effizienzsteigerndes Verhalten und Innovation verknüpft wird. Wettbewerbspolitik, d. h. die Gesamtheit der rechtlichen Regeln und staat‐ lichen Maßnahmen, die Wettbewerbsbeschränkungen verhindern sollen, kann verschieden weit beschrieben werden: Wettbewerbspolitik im weite‐ ren Sinne umfasst zunächst die Definition von Spielregeln und die Schaffung von Rahmenbedingungen für das Handeln der Unternehmen. Wettbewerbs‐ politik im engeren Sinne beinhaltet die Politik gegenüber Monopolen, die Verhinderung von wettbewerbsbedrohenden Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüssen, und die Politik gegenüber Kartellen und Abspra‐ chen der Unternehmen. Da staatliche Beihilfen den Wettbewerb zwischen Unternehmen verzerren können, ist die Wettbewerbspolitik auch mit der Schaffung fairer Bedin‐ gungen hinsichtlich der selektiven Eingriffe des Staates befasst. Die Wett‐ 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 162 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 162 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 162 19.10.2020 12: 33: 30 19.10.2020 12: 33: 30 <?page no="163"?> bewerbspolitik muss schließlich auch die Frage beantworten, wann die Be‐ grenzung des Wettbewerbes in Form von Patenten und Markenschutz legitim und angezeigt sein kann (vgl. Schmidt 2001). Das vorherrschende Paradigma der Wettbewerbspolitik der EU war lange Zeit das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, das mehr und mehr vom Leitbild der Chicago-School abgelöst wurde. Zu Beginn der 2000er-Jahre ent‐ wickelte sich unter dem Begriff des „more economic approach“ ein neues Ver‐ ständnis der Wettbewerbspolitik (die „Neue Wettbewerbspolitik“): Die Dyna‐ mik der Märkte, die Berücksichtigung auch potenziellen Wettbewerbs, die Betrachtung der langfristigen Wirkungen der Marktprozesse, die Konsequen‐ zen für die gesamte Wohlfahrt der Gesellschaft finden stärker Beachtung als dies zuvor der Fall war (Gual/ Hellwig/ Perrot/ Polo/ Rey/ Schmidt/ Stenbacka 2005, Monopolkommission 2008, S. 341-394, Christiansen 2010). Box 36 | Die Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik Die Wettbewerbspolitik trägt zu einer effizienten Ressourcenallokation, technischem und sozialen Fortschritt und damit zu einem hohen Le‐ bensstandard bei. Neben diesem wirtschaftlichen Ziel ist Wettbewerbs‐ politik aber auch ein Instrument zur Sicherung der Freiheit der Wirtschaftssubjekte und der Etablierung einer durch dezentrale Ent‐ scheidungen geprägten Gesellschaft (vgl. Europäische Kommission 2019a). 5.4.1 Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik Zu Beginn der europäischen Einigung gab es in den Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Wettbewerbspolitik gestaltet werden soll. In Deutsch‐ land gab es die von dem Ordoliberalismus geprägte Wettbewerbspolitik, sie war ein zentrales Element der „Sozialen Marktwirtschaft“. Auch Frankreich blickte auf eine Tradition wettbewerbspolitischer Maßnahmen zurück und verfügte in der Nachkriegszeit über ein wettbewerbspolitisches Instrumen‐ tarium, allerdings mit einer stärkeren industriepolitischen Akzentsetzung als in Deutschland: Der Staat sollte durch wettbewerbspolitische Eingriffe die Restrukturierung der Wirtschaft begleiten oder gestalten. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 163 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 163 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 163 19.10.2020 12: 33: 30 19.10.2020 12: 33: 30 <?page no="164"?> Der 1952 in Kraft getretene Vertrag zur Gründung der Europäischen Ge‐ meinschaft für Kohle und Stahl enthielt klare Regeln für den Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft. Und der 1958 in Kraft getretene Vertrag von Rom betonte das Ziel der Einführung eines gemeinsamen Marktes mit ge‐ meinsamen Vorgaben. Damit war der Grundstein für eine gemeinsame Wettbewerbspolitik gelegt. Bis in die 1970er-Jahre war die Wettbewerbspo‐ litik der Gemeinschaft jedoch kein zentrales Politikfeld. Die nationalen wettbewerbspolitischen Konzeptionen dominierten. Dies änderte sich erst mit der Entwicklung eines echten Binnenmarktes, dem Abbau diverser Bar‐ rieren für den Handel in der Gemeinschaft, dem Wachstum der grenzüber‐ schreitenden Investitionen innerhalb Europas und damit der verstärkten Notwendigkeit, innerhalb der Union faire Bedingungen zu schaffen. Die Wettbewerbspolitik ist zunehmend in das Zentrum des wirtschaftspo‐ litischen Instrumentariums der Gemeinschaft bzw. Union gerückt, sie gehört heute zu den wichtigsten Politikfeldern der Union. Zentrale Instanz für die Ausführung der Wettbewerbspolitik ist die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission. Auch Entscheidungen des Europäischen Ge‐ richtshofs haben das wettbewerbspolitische Handeln der Union wesentlich beeinflusst. 5.4.2 Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union Die Mitgliedstaaten haben im Vertrag von Lissabon die ausschließliche Zu‐ ständigkeit für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln“ (Artikel 3 AEUV) an die Union übertra‐ gen. Nur die Europäische Union kann gesetzgeberisch tätig werden, insofern Wettbewerbsregeln bestimmt werden, die für den Binnenmarkt gültig sind. Die Kompetenzübertragung an die Union ist eindeutig, die Union hat die ausschließliche Kompetenz, allerdings beschränkt auf jenen Wettbewerbs‐ bereich, der für das Funktionieren des Binnenmarktes relevant ist. Wettbe‐ werbsfragen, die eine rein nationale Bedeutung haben, verbleiben im Kom‐ petenzbereich der Mitgliedstaaten, die mittlerweile alle über nationale wettbewerbsrechtliche Regeln verfügen. Die Union folgt damit dem Prinzip der Subsidiarität. Die zentralen primärrechtlichen Regelungen finden sich in Artikel 3 EUV und Artikel 101-109 AEUV: 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 164 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 164 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 164 19.10.2020 12: 33: 31 19.10.2020 12: 33: 31 <?page no="165"?> ■ In Artikel 3 des EUV wird als zentrales Ziel der Union formuliert: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt“. Im dritten Teil des AEUV (Titel I-IV) werden hierzu detaillierte Regeln bezüglich des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (die „vier Frei‐ heiten“) festgeschrieben. Für das Grundverständnis der Wettbewerbs‐ politik ist diese Verpflichtung zur Öffnung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten der Union von herausragender Bedeutung: Die Si‐ cherung des Wettbewerbs ist für das Funktionieren des Binnenmark‐ tes essenziell. Nationale Märkte sollen geöffnet und bestehende Wett‐ bewerbsbeschränkungen abgebaut werden. ■ In den Artikeln 101-109 des AEUV finden sich die Regeln zur Förde‐ rung des wirksamen Wettbewerbs in der Union. Das Kapitel ist in Vorschriften für Unternehmen (Abschnitt I) und für staatliche Beihil‐ fen (Abschnitt II) unterteilt. □ Verboten sind gemäß Artikel 101 alle Vereinbarungen zwischen Un‐ ternehmen, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu bein‐ trächtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Absprachen über An- oder Verkaufs‐ preise, Vereinbarungen über die Absatzmengen, die Aufteilung von Märkten sind nicht zulässig. Gemäß Artikel 102 ist die missbräuch‐ liche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnen‐ markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben verboten. □ Auch öffentliche Unternehmen und Unternehmen, denen in ei‐ nem Mitgliedsland besondere Rechte gewährt werden, müssen sich an den Wettbewerbsregeln des Lissabon-Vertrages orientie‐ ren. Dies gilt auch für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind. □ Die Artikel 107-109 AEUV regeln die Gewährung staatlicher Beihil‐ fen. Grundsätzlich sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln ge‐ währte Beihilfen mit dem Binnenmarkt unvereinbar, wenn sie den Wettbewerb im Binnenmarkt zu verfälschen drohen. Absatz 2 und 3 des Artikels 107 regeln eine Reihe von Ausnahmetatbeständen. □ Neben diesen primärrechtlichen Regelungen finden sich die wichtigen rechtlichen Regelungen zur Fusionskontrolle im Se‐ kundärrecht der Europäischen Union. Die Fusionskontrollver‐ ordnung regelt beispielsweise den Umgang der Union mit Zu‐ sammenschlüssen und Unternehmensübernahmen. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 165 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 165 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 165 19.10.2020 12: 33: 31 19.10.2020 12: 33: 31 <?page no="166"?> 5.4.3 Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis Öffnung der Märkte Die Wettbewerbssituation in Europa wird ganz entscheidend von der Of‐ fenheit der nationalen Märkte beeinflusst. Die Handelspolitik der EU und die Binnenmarktpolitik tragen dazu bei, eine hohe Wettbewerbsintensität auf den europäischen Märkten zu sichern. Größere, offene Märkte mindern tendenziell das Problem der Konzentration und Marktmacht. Wettbewerbsbeschränkungen Ein zentrales Aktionsfeld der Wettbewerbspolitik ist die Bekämpfung von Absprachen zwischen Unternehmen, gleichgültig ob diese in schriftlicher oder mündlicher Form, direkt oder nur indirekt, sehr konkret oder nur lose erfolgen. Entscheidend für die Bewertung sind die Intention und die Wir‐ kung der Absprachen. Im Mittelpunkt stehen die Vereinbarungen über Preise, Konditionen und Marktabgrenzungen. Dies gilt sowohl für Unter‐ nehmen auf horizontaler Ebene, also Unternehmen, die auf der gleichen Produktionsstufe stehen, als auch für Unternehmen, die vertikal verbun‐ den sind, also Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Produktions‐ stufen. Box 37 | Kooperation versus Eigeninteresse im Duopol Absprachen zwischen Unternehmen etwa über den Preis des Produktes, die angebotene Gesamtmenge und deren Aufteilung stellen wettbe‐ werbsbeschränkende Maßnahmen dar. Die Spieltheorie bietet ein In‐ strument zur Analyse der Dynamik der Preissetzung im Oligopol. Ge‐ geben sei der spezielle Fall eines Duopols, das aus den beiden Anbietern A und B besteht. Einigen sich die beiden Unternehmen auf die Produktion einer gerin‐ geren Menge, so sei ihr Gewinn jeweils 8.000 Geldeinheiten. Erstellen beide eine größere Menge, so betrage der Gewinn für jedes Unterneh‐ men 7.000 Geldeinheiten. Produziert ein Unternehmen eine größere Menge als der Konkurrent, so sei der Gewinn 9.000 Geldeinheiten und der Gewinn des Unternehmens mit der kleineren Menge 6.000 Geldein‐ 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 166 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 166 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 166 19.10.2020 12: 33: 31 19.10.2020 12: 33: 31 <?page no="167"?> heiten. Die folgende Matrix beschreibt die Entscheidungssituation, die das Dilemma der Unternehmen verdeutlicht: das Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb (vgl. Bofinger 2019). Verhalten sich beide Anbieter kooperativ, maximieren sie ihren Ge‐ samtgewinn (16.000 Geldeinheiten). Die in der Spieltheorie als domi‐ nante Strategie bezeichnete Verhaltensweise, d. h. jene, die unter Be‐ rücksichtigung des Verhaltens der Gegenseite optimal ist, ist jedoch die Produktion einer größeren Menge. Im Bestreben, den individuellen Ge‐ winn zu maximieren, kommt in diesem Fall das für die Duopolisten schlechtere Ergebnis zustande. Absprachen sind grundsätzlich verboten, allerdings regelt Artikel 101, Ab‐ satz 3 AEUV eine Reihe von Ausnahmen, die ökonomisch begründet und als gesellschaftlich vorteilhaft angesehen werden (können). In solchen Fällen sind Freistellungen von dem Verbot von Absprachen möglich, die in Form einer Einzelfreistellung oder häufig pauschal im Rahmen einer Gruppen‐ freistellung genehmigt werden. Wird das Vorliegen unzulässiger Kartelle nachgewiesen, kann die Euro‐ päische Kommission hohe Strafen verhängen und hat hierbei einen wei‐ ten Ermessensspielraum. Maßgeblich für die Festlegung der Geldbuße ist die Orientierung an dem Gesamtumsatz (bis zu 10 % des Jahresumsatzes), an der Dauer der Zuwiderhandlung und an dem Gedanken der Abschre‐ ckung. Wesentliche Merkmale, die bei der Bemessung der Strafe berück‐ 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 167 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 167 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 167 19.10.2020 12: 33: 33 19.10.2020 12: 33: 33 <?page no="168"?> sichtigt werden, sind in Abb. 26 beschrieben (vgl. Europäische Kommis‐ sion 2011). Grundbetrag der Geldbuße Prozentualer Anteil des relevanten Umsatzes (0 %-30%) x Dauer ( Jahre oder Zeiträume von weniger als einem Jahr) +15 % bis 25 % des relevanten Umsatzes: zusätzliche Abschreckung Erhöhung Erschwerende Umstände z.B. Rolle als Anführer oder Anstifter des Verstoßes, „Wiederho‐ lungstäter“, Behinderung der Ermittlungen Ermäßigung Mildernde Umstände z.B. geringfügige Beteiligung, Vorschriften oder Verhalten von Behörden, die die Zuwiderhandlung begünstigten Höchstbetrag 10 % des Umsatzes (pro Zuwiderhandlung) Weitere mög‐ liche Ermäßi‐ gungen Kronzeugenregelung 100% für das Unternehmen, das als erster Kartellbeteiligter Be‐ weismittel vorlegt; bis zu 50% für das nächste Unternehmen, 20% bis 30% für das dritte Unternehmen und bis zu 20% für alle wei‐ teren Unternehmen Vergleichsverfahren : 10% Ermäßigung bei Zahlungsunfägigkeit Abb. 26: Kriterien für die Bemessung von Kartellstrafen Die von der Kommission verhängten und in manchen Fällen von dem Eu‐ ropäischen Gerichtshof später angepassten Geldbußen sind in der Summe beträchtlich (vgl. Abb. 27). Die höchsten Geldbußen wurden für Kartelle auf dem Markt für Lastkraftwagen und Fernseh- und Computerbildschirme aus‐ gesprochen (vgl. Europäische Kommission 2019b). 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 168 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 168 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 168 19.10.2020 12: 33: 33 19.10.2020 12: 33: 33 <?page no="169"?> Abb. 27: Kartellstrafen von 1990- 2019 (nach Korrektur durch den Europäischen Gerichtshof) 344 271 3.157 7.863 7.605 8.238 1990-1994 1995-1999 2000-2004 2005-2009 2010-2014 2015-2019 Abb. 27: Kartellstrafen von 1990-2019 (nach Korrektur durch den Europäischen Ge‐ richtshof) Strafzahlungen sollen geeignet sein, die rein ökonomische Kosten-Nut‐ zen-Überlegung zu beeinflussen: Mit steigenden Strafzahlungen sinkt der aus ökonomischer Perspektive relevante Barwert der erwarteten Kartell‐ gewinne minus der Aufdeckungswahrscheinlichkeit multipliziert mit der Höhe der Geldbuße. Mit den hohen Strafzahlungen ist die Erwartung verbunden, dass der Nutzen der Teilnahme an Kartellen deutlich redu‐ ziert wird. Die Kommission untersucht auf eigene Veranlassung oder Hinweisen von Wettbewerbern, Verbänden oder Verbrauchern ein Vorliegen von Abspra‐ chen. Häufig wurden auch Kartelle aufgrund der Kronzeugenregelung auf‐ gedeckt, die Straffreiheit für jenes am Kartell beteiligte Unternehmen vor‐ sieht, welches das Kartell der Kommission anzeigt. Um Absprachen zu erschweren, setzt die Kommission auch auf die Erhöhung der Transparenz auf Märkten. So veröffentlichte sie beispielsweise über viele Jahre Preisver‐ gleiche für Personenkraftwagen in Europa, um Druck auf die Beendigung der Trennung der nationalen Märkte auszuüben. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 169 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 169 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 169 19.10.2020 12: 33: 33 19.10.2020 12: 33: 33 <?page no="170"?> Box 38 | Ethische Herausforderung: Die Kronzeugenregelung in der Wettbewerbspolitik Die Kronzeugenregelung in der Wettbewerbspolitik wird kontrovers gesehen. Die Kronzeugenregelung ist richtig Die Regelung hat sich als effektives Instrument zur Beendigung der Kartellkultur erwiesen. Nur dank dieser Regelung konnten viele Kartelle nachgewiesen werden. Die Akzeptanz der Kronzeugenregelung im Wettbewerbsrecht ist hoch. Die Kronzeugenregelung ist falsch Die Kronzeugenregelung passt nicht in die Rechtstradition Europas. Die rechtsstaatliche Absicherung ist nicht unumstritten. Die Straffreiheit für das Unternehmen, welches das Kartell aufdeckt, ist ungerecht und führt zu illegitimen Vorteilen. Das Zusammenwirken des Staates mit den Un‐ ternehmen, die Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht begangen haben, ist unmoralisch. Marktbeherrschung Artikel 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer markt‐ beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt. Nicht die Marktbeherr‐ schung selbst ist verboten, sondern die Ausnutzung der Marktmacht für die Durchsetzung besonders hoher Preise (oder auch temporär besonders nied‐ riger, um Wettbewerber aus dem Markt zu drängen). Verboten sind die Ein‐ schränkungen der Erzeugung bzw. des Absatzes und die Diskriminierung von Handelspartnern. Durch die Schaffung des Binnenmarktes ist die Konzentration in vielen Branchen im Vergleich zu den vorher national geprägten Märkten gesunken. Gleichwohl gibt es nach wie vor eine Reihe von Branchen mit hoher Kon‐ zentration (Flugzeugbau, Herstellung von Kraftfahrzeugen, Produktion von Computern). 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 170 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 170 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 170 19.10.2020 12: 33: 33 19.10.2020 12: 33: 33 <?page no="171"?> Box 39 | Messung der Branchenkonzentration - Die Konzentrationsrate und der Herfindahl-Hirschman-Index Zur Bestimmung der Marktbeherrschung ist die Erfassung der Konzen‐ tration in einer Branche wichtig. Die Konzentrationsrate CR n ist ein häufig genutzter und intuitiv eingän‐ giger Ansatz: Die Summe der Marktanteile x der n größten Unternehmen wird berechnet: CR n = Σx i , mit x i = Marktanteil des Unternehmens i. Die Berechnung des CR1, CR3, CR4 und CR5 ist in der Literatur und der öf‐ fentlichen Diskussion gebräuchlich (im deutschen Kartellrecht wird von einer Marktbeherrschung ausgegangen, wenn der CR1 größer 33,3 %, wenn der CR3 größer 50 % und der CR5 größer als 66,67 % ist). Der Herfindahl-Hirschman-Index HHI ergibt sich aus der Summe der für alle Unternehmen quadrierten Marktanteile x i : HHI = Σx i2 . Für den Wertebereich gilt: 1/ n ≤ HHI ≤ 1 bzw. 0 ≤ HHI ≤ 10.000 (bezogen auf Prozent). Liegt der HHI unter 1500, ist von keiner Konzentration aus‐ zugehen, bei einem Wert zwischen 1500 und 2500 ist die Konzentration mäßig. Ab einem Wert oberhalb von 2500 wird von einer starken Kon‐ zentration ausgegangen (vgl. U.S. Department of Justice and the Federal Trade Commission 2010, S. 19). In ihren Leitlinien zur Bewertung hori‐ zontaler Zusammenschlüsse werden von der Europäischen Kommission (2004) Werte von 2000 als ein hoher HHI festgelegt. Die Verwendung solcher quantitativen Indikatoren ist hilfreich, jedoch auch mit Schwächen behaftet. Die Messung wird ganz entscheidend von der Markt- und Produktabgrenzung beeinflusst (vgl. Europäische Kommission 1997). Auch gibt es zahlreiche Branchen, in denen die größten n Unterneh‐ men erhebliche Marktanteile hatten, die Unternehmen in dieser Gruppe im Zeitablauf aber wechselten. Der reine Blick auf einen gleichbleibend hohen Wert würde die Dynamik und den Wettbewerb auf einem solchen Markt ausblenden (vgl. Monopolkommission 2018, S. 162-178). Im Primärrecht der Union gibt es keine klare Spezifizierung der „beherr‐ schenden Stellung“. In Verordnungen und Erläuterungen der Kommission wird präzisiert, welche Kriterien zur Beurteilung der „Marktbeherrschung“ herangezogen werden. Auch in Entscheidungen des Europäischen Gerichts‐ 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 171 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 171 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 171 19.10.2020 12: 33: 34 19.10.2020 12: 33: 34 <?page no="172"?> hofes, der häufig angerufen wird, wird präzisiert, wann Marktbeherrschung angenommen wird. Ein CR1 von 40 % stellt einen wichtigen Schwellenwert für Marktbeherrschung dar. Unterhalb eines Marktanteils von 40 % ist auf‐ grund der Erfahrung der Vergangenheit von Ausnahmen abgesehen eine Dominanz des Unternehmens nicht anzunehmen. Auch der Herfin‐ dahl-Hirschman-Index wird zur Einschätzung einer Wettbewerbssituation genutzt. Bei einem HHI von weniger als 1000 wird nicht von einer Markt‐ beherrschung ausgegangen. Danach setzt eine differenzierte Bewertung un‐ ter Einbeziehung der Änderung des HHI (ΔHHI) ein. Die EU macht ihre konkrete Einschätzung der wettbewerblichen Situation auch von weiteren Faktoren abhängig, z. B. der Verhandlungsstärke der Konsumenten und der glaubwürdigen Existenz potenzieller Wettbewerber. Entscheidend ist, dass das marktbeherrschende Unternehmen in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, „unabhängig“ von anderen Wettbewerbern Preise zu setzen. Insofern Marktbeherrschung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentli‐ chen Teil desselben vorliegt, greift die Verhaltenskontrolle der marktbe‐ herrschenden Unternehmen. Die Kommission kann die Änderung der Preis- oder Konditionenpolitik oder anderer Variablen erzwingen. Die auferlegten Geldbußen richten sich ähnlich wie bei den Absprachen nach mehreren Kriterien wie z. B. Umsatz der Unternehmen, der Dauer der Ausnutzung der Marktbeherrschung und der Notwendigkeit der Abschreckung. Box 40 | Die EU geht gegen die Marktbeherrschung von Google vor Mitte 2017 wurde gegen Google eine Geldbuße in Höhe von 2,42 Mrd. EUR wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung der Goo‐ gle-Suchmaschine durch unzulässige Bevorzugung des eigenen Preis‐ vergleichsdienstes ausgesprochen. Ein Jahr später wurde das Internetunternehmen mit einer Strafzahlung in Höhe von 4,34 Mrd. EUR belegt. Von den Herstellern von Android-Mobil‐ geräten und Mobilfunknetzbetreibern wurde als Bedingung für die Lizen‐ sierung von Apps wie Google Play verlangt, auf ihren Geräten die Anwen‐ dung Google-Suche und den Browser Google Chrome vorzuinstallieren. Anfang 2019 verhängte die Kommission gegen Google eine Geldbuße von 1,49 Mrd. EUR wegen des Missbrauchs von Marktmacht im Bereich 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 172 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 172 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 172 19.10.2020 12: 33: 34 19.10.2020 12: 33: 34 <?page no="173"?> der Suchmaschinenwerbung. Betreibern von websites, die den Google- Dienst AdSense for Search nutzten, wurden vertragliche Beschränkun‐ gen auferlegt, um andere Unternehmen daran zu hindern, auf dem Markt für die Vermittlung von Suchmaschinenwerbung mit Google konkur‐ rieren zu können (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilungen vom 27. Juni 2017, 18. Juli 2018 und 20 März 2019). Fusionskontrolle Fusionen, d. h. Zusammenschlüsse von Unternehmen, bei denen zwei oder mehr bisher voneinander unabhängige Unternehmen oder Unternehmens‐ teile fusionieren, waren in den letzten Jahrzehnten weltweit ein bestim‐ mendes Thema im Wirtschaftsgeschehen. Die EU begrüßt grundsätzlich den Strukturwandel und die Umstrukturierung der Unternehmen, dies wird als Teil eines dynamischen Wirtschaftsgeschehens gesehen. Die Union muss allerdings sicherstellen, dass dieser Prozess nicht dauerhaft den Wettbewerb schädigt. Die europäische Wettbewerbspolitik hat daher Regelungen für Fu‐ sionen von gemeinschaftsweiter Bedeutung verabschiedet. Eine erste wich‐ tige Regelung stammt aus dem Jahr 1989, im Jahr 2004 trat die novellierte EG-Fusionskontrollverordnung in Kraft. Auch hier greift das Subsidiaritäts‐ prinzip: Fusionen von rein nationaler Bedeutung fallen in den Verantwor‐ tungsbereich der nationalen Wettbewerbsbehörden. Ein Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung wird dann als gegeben angesehen, wenn der Gesamtumsatz der beteiligten Unternehmen bestimmte Schwellenwerte überschreiten. So muss beispielsweise der welt‐ weite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammengenommen mehr als 5 Mrd. EUR und der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von min‐ destens zwei beteiligten Unternehmen mehr als 250 Millionen EUR betragen. Falls die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres ge‐ meinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedsland er‐ zielen, greift die Verordnung nicht. Artikel 2, Absatz 3 der Fusionskontrollverordnung 2004 enthält die Verbots‐ regelung: „Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb im Ge‐ meinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich be‐ hindert würde, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 173 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 173 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 173 19.10.2020 12: 33: 34 19.10.2020 12: 33: 34 <?page no="174"?> beherrschenden Stellung, sind für mit dem Gemeinsamen Markt unverein‐ bar zu erklären.“ Die Beurteilung der „erheblichen Behinderung“ durch die Einführung des SIEC-Tests („significant impediment of effective competi‐ tion“) als materielles Untersagungskriterium hat die Effektivität der Fusi‐ onskontrolle auf EU-Ebene gestärkt (vgl. Europäische Kommission 2014, S. 4-5, Duso/ Szücs 2014, Jaag/ Rutz/ Jacober 2017). Explizit wird in den Er‐ läuterungen zur Verordnung benannt, dass die Kommission nicht nur die aus einer Fusion erwachsenden möglichen Nachteile für die Verbraucher berücksichtigt, sondern auch die Effizienzvorteile eines Zusammenschlusses in die Entscheidung einfließen lässt. Das Trade-off-Modell von Oliver Williamson Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ist zunächst ein Zusammenschluss, wenn dieser zu Preiserhöhungen führt, wegen des Verlustes an gesamtge‐ sellschaftlicher Wohlfahrt negativ zu beurteilen. Differenzierter fällt das Ur‐ teil aus, wenn durch den Zusammenschluss Skaleneffekte der Produktion entstehen (vgl. Williamson 1968). Abb. 28 zeigt für das „naive Trade-off-Mo‐ dell“ den denkbaren Effekt eines Zusammenschlusses zweier Unternehmen mit der Folge größerer Marktmacht und der Möglichkeit zur Durchsetzung des höheren Monopolpreises. Im Wettbewerb, so sei angenommen, fordern die Unternehmen den Preis, der ihren (identischen) Grenzkosten entspricht. Nach dem Zusammen‐ schluss fordern sie einen höheren Preis: Dieser ergibt sich aus dem Schnitt‐ punkt der Grenzerlös- und Grenzkostenkurve. Damit sind folgende Verän‐ derungen der Wohlfahrt zu beobachten: Die Fläche unterhalb des Preises im Monopol und oberhalb der (niedrigeren) Grenzkosten beschreibt den Ge‐ winn an Produzentenrente. Die Konsumenten zahlten im Wettbewerb den niedrigeren Preis und zahlen nun einen höheren Monopolpreis. Damit ver‐ lieren sie die Konsumentenrente, die durch die Fläche (a + c) gekennzeichnet ist. Die Fläche a ist als Verlust der Konsumentenrente und gleichzeitiger Gewinn an Produzentenrente wohlfahrtsökonomisch neutral, so dass für die Beurteilung des Zusammenschlusses die beiden Felder b und c entscheidend sind: Ist die Fläche b größer als die Fläche c, also der Gewinn an produktiver Effizienz größer als der Verlust infolge der allokativen Ineffizienz, so ist der Zusammenschluss wohlfahrtssteigernd. 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 174 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 174 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 174 19.10.2020 12: 33: 34 19.10.2020 12: 33: 34 <?page no="175"?> p Wettbewerb X p X m p Monopol X Grenzkosten nach Fusion Grenzkosten vor Fusion P Nachfrage Grenzerlös a b c Abb. 28: Wohlfahrtswirkung eines Zusammenschusses Abb. 28: Wohlfahrtswirkung eines Zusammenschlusses Überträgt man diese theoretische Überlegung auf die praktische Politik, so folgt, dass die Union in konkreten Fusionsverfahren prüfen muss, welche Wohlfahrtswirkungen mit dem Zusammenschluss verbunden sind. Die Be‐ drohung des Wettbewerbs, die beispielsweise auch von der Offenheit des Marktes für Importe, von den Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Ab‐ nehmer, dem Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten beeinflusst wird, und der potenzielle Effizienzgewinn werden gegenübergestellt. Die folgende Abb. 29 zeigt eine Klassifikation von Branchen mit Blick auf potenzielle Effizienzgewinne und der Gefahr für den Wettbewerb (vgl. Han‐ sen/ Nielsen 1997, S. 105-106). In diesem vereinfachten Schema wären Fusionen von Unternehmen in Gruppe 1 abzulehnen, bei Gruppe 2 wären sowohl positive als auch negative Entscheidungen vertretbar. Fusionen in Gruppe 3 wären akzeptabel, Fusio‐ nen in Gruppe 4 wären zu prüfen. 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 175 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 175 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 175 19.10.2020 12: 33: 35 19.10.2020 12: 33: 35 <?page no="176"?> Gruppe 1: Industrien, in denen durch Fusionen wenig Effizienzgewinne realisiert werden und die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gefahr reduzierten Wettbewerbs Gruppe 4: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen, aber die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gruppe 2: Industrien, in denen Fusionen wenig oder keine Effizienzgewinne erwarten lassen, und wenig Gefahr für den Wettbewerb gegeben ist. potentielle Effizienzgewinne Gruppe 3: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen, und die Gefahr für den Wettbewerb niedrig ist. stark schwach stark schwach Abb. 29: Effizienz und Wettbewerb in Folge von Fusionen Abb. 29: Effizienz und Wettbewerb infolge von Fusionen Die Kommission kann eine Fusion von gemeinschaftsweiter Bedeutung, die bei der Kommission gemäß Artikel 4 der Fusionskontrollverordnung ange‐ meldet werden muss, ohne weitere Vorgaben oder mit Auflagen genehmigen oder untersagen. Das Fusionskontrollverfahren ist mehrstufig. Häufig be‐ ginnt ein Verfahren mit einer vertraulichen Konsultation mit der Kommis‐ sion, bevor die offizielle Mitteilung erfolgt und die erste Phase der Prüfung beginnt. Sowohl in der Vorphase als auch in der ersten Phase können Un‐ ternehmen im Fall möglicher Probleme Abhilfemaßnahmen vorschlagen, um eine Zustimmung der Kommission zur Fusion zu erlangen. Drei Entscheidungen der Kommission aus dem Jahr 2013 zeigen die Hand‐ lungsmöglichkeiten: Die Kommission untersagte den Aufkauf von Aer Lin‐ gus durch Ryanair. Die Kommission genehmigte den Aufkauf von Net4gas aus Tschechien durch die Allianz Infrastructure Luxemburg und Boerealis aus den Niederlanden. Sie genehmigte mit Auflagen den Zusammenschluss von US Airways und der Holding AMR Corporation, die Eigentümer von American Airlines ist. Der zuletzt genannte Beschluss demonstriert, dass die 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 176 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 176 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 176 19.10.2020 12: 33: 35 19.10.2020 12: 33: 35 <?page no="177"?> Kommission auch Zusammenschlüsse von Unternehmen außerhalb der EU, die potenziell auf den europäischen Markt Auswirkungen haben, prüfen und untersagen kann („Auswirkungsprinzip“ = „effects doctrine“). Beihilfekontrolle Staatliche Beihilfen sind geeignet, den Wettbewerb der Unternehmen in‐ nerhalb des Binnenmarktes zu verzerren. Grundsätzlich sind „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wett‐ bewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt un‐ vereinbar“ (Artikel 107 AEUV). Allerdings gibt es eine umfangreiche Liste von Ausnahmen: Beihilfen sozialer Art, Beihilfen zur Beseitigung von Schä‐ den, die durch Naturkatastrophen entstanden sind, Beihilfen für einzelne Regionen und ausgewählte Wirtschaftszweige sind beispielsweise unter be‐ stimmten Umständen mit dem Binnenmarkt vereinbar. Beihilfen für die durch die Teilung Deutschlands betroffenen Gebiete sind im Vertrag explizit als weiterer Ausnahmebereich genannt. Und der Rat der Europäischen Union kann auf Vorschlag der Kommission weitere Arten von Beihilfen ge‐ nehmigen (Artikel 107, Absatz 3 e). Liegen außergewöhnliche Umstände vor, kann der Rat einstimmig auf Antrag eines Mitgliedstaates eine geplante Beihilfe gestatten (Artikel 108, Absatz 2, AEUV). Die Kommission überprüft regelmäßig die Beihilferegelungen der Mitglied‐ staaten. Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass bestimmte Beihilfen mit dem Wettbewerb im Binnenmarkt unvereinbar sind, kann sie die Staaten zwingen, die Beihilfen zu beenden oder zu ändern. Die Union setzt teilweise auch auf die Substitution nationaler Hilfen durch EU-Hilfen und die Koor‐ dinierung und Harmonisierung der innerstaatlichen Beihilfepraxis. Die Schaffung eines fairen Wettbewerbs in der Union ist eine große Herausforderung für die Kommission, da Mitgliedstaaten häufig versuchen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen, das Entscheidungsverfahren ist politisiert. Die „Neue Politische Ökonomie“, die die Eigeninteressen der Po‐ litiker und der Bürokratie in die Analyse einbezieht, wird verschiedentlich herangezogen, um die weiterhin bestehende Vielfalt an Beihilfen zu erklä‐ ren; der diskretionäre Spielraum der Kommission bzw. des Rates, der auch mit Vorteilen verbunden sein kann, hat in diesem Bereich und aus dieser Perspektive seine Schattenseiten (vgl. Schmidt/ Schmidt 2006, S. 236-242). 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 177 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 177 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 177 19.10.2020 12: 33: 35 19.10.2020 12: 33: 35 <?page no="178"?> Regelungen für mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen In den Sektoren Energie, Post, Telekommunikation, Wasserversorgung und Transport sind häufig öffentliche Unternehmen mit der Erbringung der Dienstleistungen betraut. Der Lissabon-Vertrag verleiht der Union das Recht und die Pflicht, auch in diesem Bereich für die Beachtung von Regeln zu sorgen, die dem Wettbewerbsverständnis im Binnenmarkt nicht widerspre‐ chen. Der Lissabon-Vertrag ist neutral hinsichtlich privaten oder öffentli‐ chen Eigentums, fordert aber Wettbewerbsneutralität, wenn ein Staat sich entscheidet, bestimmte Dienstleistungen durch öffentliche Unternehmen erbringen zu lassen. Die Kommission hat in den vergangenen Jahren in den genannten Bereichen die Liberalisierung der Märkte vorangebracht. Der Telekommunikations‐ sektor ist ein Beispiel für das positive Wirken der Wettbewerbskräfte nach Öffnung des Marktes. Bei Postdiensten hat die Kommission mit eigenen Vorschlägen den Strukturwandel befördert. Im Bankensektor spielt die Kom‐ mission im Rahmen der Restrukturierung eine starke Rolle, insbesondere vor dem Hintergrund der häufigen staatlichen Beihilfen und Schutzmecha‐ nismen. 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 178 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 178 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 178 19.10.2020 12: 33: 35 19.10.2020 12: 33: 35 <?page no="179"?> Box 41 | Natürliches Monopol Bei leitungsnetzabhängigen Gütern besteht eine Monopolisierungsten‐ denz, weil die Stückkosten mit zunehmender Ausbringungsmenge sin‐ ken („natürliches Monopol“). Ursächlich dafür können Größenvorteile (Fixkostendegression) oder Verbundvorteile (Kuppelproduktion) sein. X P X’ X* Abbildung 30: Natürliches Monopol P’ P* K’=d K/ X=(c/ X) + d N Abb. 30: Natürliches Monopol Gegeben sei die normal verlaufende Nachfragefunktion N nach einem Gut, für dessen Erstellung die lineare Kostenfunktion K = c + d X gilt (mit c = Fixkosten, d = konstante variable Kosten/ Stück, X = Ausbringung). Die Ausdehnung der Produktion geht mit einem Fallen der Durch‐ schnittskosten einher: K/ X = (c/ X) + d. Die effiziente Preis- = Grenzkos‐ ten-Regel (P* = K´) versagt, da die Grenzkosten in diesem Fall stets klei‐ ner als die Durchschnittskosten sind (K' = d < K/ X) und bei der Menge X* ein Defizit realisiert wird. Bei maximaler Konsumentenrente könnte von einem einzigen Unternehmen allerdings die Menge X' zum niedrigst möglichen Preis P' angeboten werden, ohne dass ein Verlust erwirtschaftet wird. Um der 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 179 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 179 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 179 19.10.2020 12: 33: 36 19.10.2020 12: 33: 36 <?page no="180"?> Gefahr der Monopolpreisbildung (Cournotscher Punkt) entgegenzuwir‐ ken, ist eine Preisregulierung vorzunehmen. Im Übrigen ist sicherzu‐ stellen, dass die Leistungserbringung des Unternehmens auf Qualitäts‐ steigerung, Umsetzung des technischen Fortschritts und Ausschöpfung von Kostensenkungspotentialen ausgerichtet bleibt. Wettbewerbsrahmen für die digitale Ökonomie Die rasante Entwicklung der Digitalisierung in der Wirtschaft und das Her‐ ausbilden großer Internetkonzerne machen eine Anpassung der EU-Wett‐ bewerbsregeln erforderlich. Digitale Güter zeichnen sich durch einige Be‐ sonderheiten aus (vgl. Monopolkommission 2015; Urbach 2017; Cremer/ de Montjoye/ Schweitzer 2019), zu denen extreme Skalenerträge und positive Feed-back-Effekte gehören. Sinken die Stückkosten eines etablierten Unter‐ nehmens bei steigendem Output schneller als bei möglichen Wettbewerbern, kann dieses Unternehmen durch eine stärkere Preisreduktion seinen Markt‐ anteil erhöhen, was mit einer weiteren Verminderung seiner Stückkosten einhergeht. Während die Wettbewerber Marktanteile verlieren, wird das etablierte Unternehmen in seiner Marktposition gestärkt. Im Ergebnis wer‐ den die Märkte in der Internetökonomie daher von wenigen Anbietern do‐ miniert. Hinzu kommen Netzwerkeffekte, da das Gut für den Nutzer umso wertvoller ist, je mehr Mitglieder ein soziales Netzwerk aufweist. Netzwer‐ kexternalitäten wirken selbstverstärkend und begünstigen Konzentrations‐ tendenzen. Dies gilt auch dann, wenn Nutzer nicht zwischen verschiedenen Netzwerken kommunizieren können oder digitale Güter vermehrt in Ge‐ schäftsprozesse von Unternehmen integriert werden. Die Kosten eines An‐ bieterwechsels sind hoch, da Kontakte und Inhalte nicht einfach transferiert werden können, was zu einem „lock-in“-Effekt führt. Besondere Relevanz kommt in der Digitalökonomie den Daten zu, die in großen Mengen („big data“) gesammelt, gespeichert und wirtschaftlich verwertet werden. Auch wenn Leistungen im Internet unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, zahlen Nutzer für deren Inanspruchnahme vielfach einen Preis, indem sie Daten von sich und ihrem Nutzungsverhalten offenbaren (vgl. Bundesmi‐ nisterium für Wirtschaft und Energie 2016, S. 32). Der Zugriff auf Daten, die als Inputs für Produkte und Dienste bedeutsam sind, ist zunehmend wett‐ bewerbsrelevant. 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 180 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 180 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 180 19.10.2020 12: 33: 36 19.10.2020 12: 33: 36 <?page no="181"?> Angesichts der Marktdominanz der großen Digitalunternehmen ist von der Kommission Wettbewerbsrecht 4. 0 vorgeschlagen worden, dem Missbrauch von Marktmacht über das geltende Wettbewerbsrecht hinaus dadurch zu begegnen, dass den marktbeherrschenden Online-Plattformen klare Verhal‐ tensregeln (Verbote mit Rechtfertigungsvorbehalt) vorgegeben werden. Dies betrifft das Verbot der Selbstbegünstigung wie die Tatsache, den Nutzern ihre Daten in Echtzeit zu übermitteln und die Interoperabilität mit Komple‐ mentärdiensten zu gewährleisten. Auch im Rahmen der Fusionskontrolle ist etwa Sorge dafür zu tragen, dass der Aufkauf junger, dynamischer Unter‐ nehmen mit wirtschaftlichem Potential, die noch unterhalb der Umsatz‐ schwellen des EU-Wettbewerbsrechts liegen, nicht dazu dient, die Macht‐ stellung der marktbeherrschenden Digitalunternehmen zu stärken (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019a). Verhältnis von Wettbewerbspolitik zu Industriepolitik Die Wettbewerbspolitik wird sich auch in Zukunft dem Spannungsfeld mit industriepolitischen Überzeugungen stellen müssen. Selektive industriepo‐ litische Interventionen stellen Eingriffe in ein von privatwirtschaftlichen Interessen dominiertes Wettbewerbssystem dar. An vielen Stellen des Lis‐ sabon-Vertrages ist eine Offenheit für die Förderung bestimmter Industrien erkennbar: Kleine und mittlere Unternehmen, Unternehmen im Bereich Umwelt, Raumfahrt etc. finden explizit Erwähnung. Die europäische Unter‐ stützung für den Aufbau von Airbus ist das Standardbeispiel für eine aktive Industriepolitik. Die Abwägung zwischen Wettbewerbsgrundsätzen und industriepolitischen Überlegungen ist komplex (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2019, S. 140-197). Einerseits ist aus der kritischen Perspektive Industriepolitik ein Beispiel für die von Hayek kriti‐ sierte „Anmaßung des Wissens“ auf Seiten des Staates und häufig fokussiert in der Realität die (vertikale) Industriepolitik nicht die zukunftsfähigen In‐ dustriezweige, sondern die „sunset industries“, die im Zuge des Struktur‐ wandels stark gefährdet sind. Andererseits lassen sich industriepolitische Maßnahmen auch in der Theorie mit Marktunvollkommenheiten, Markt‐ versagen und dynamischen Effekten im Bereich der Innovation begründen. China, die USA, Japan oder die Republik Korea haben in vielen Bereichen klare industriepolitische Ziele und setzen entsprechende Instrumente ein. Es wird auch weiterhin eine Herausforderung für die EU bleiben, hier einen 5.4 Wettbewerbspolitik der EU 181 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 181 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 181 19.10.2020 12: 33: 36 19.10.2020 12: 33: 36 <?page no="182"?> Kurs zu steuern, der den Prinzipien des Wettbewerbs verpflichtet ist und gleichzeitig die in der Realität bestehenden Marktunvollkommenheiten an‐ gemessen berücksichtigt. Auch aus strategischer und politökonomischer Perspektive mag eine rigorose Ablehnung industriepolitischer Maßnahmen suboptimal sein (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019b). Institutionelle Fragen Die Kommission arbeitet bei den wettbewerbspolitischen Fragen, die den Binnenmarkt betreffen, eng mit den nationalen Behörden zusammen. Mit der Richtlinie (EU) 2019/ 1 wurden neue Vorschriften erlassen, um sicherzu‐ stellen, dass die Wettbewerbsregeln des Art. 101 und 102 AEUV EU-weit einheitlich angewendet werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Dies soll durch die Stärkung der Unabhän‐ gigkeit, der Ressourcen und der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbe‐ hörden erreicht werden. Verschiedentlich wurde die Schaffung eines unabhängigen Kartellamtes und eines unabhängigen Subventionskontrollrates gefordert (vgl. Schmidt 2001, S. 408-410). Vor dem Hintergrund der Politisierung der Entscheidungsver‐ fahren wäre dies einerseits eine institutionelle Alternative zu dem jetzigen Verfahren. Andererseits haben sich die Mitgliedstaaten gezielt für ein Ver‐ fahren entschieden, welches Spielräume für diskretionäre Entscheidungen der Politik lässt, vielleicht bewusst und richtigerweise auf die schrittweise Entwicklung der Union setzend. Das kritisierte „Do-ut-des-Prinzip“ mag theoretisch unbefriedigend, aber vielleicht angesichts der Herausforderun‐ gen für die Union die politökonomisch beste Vorgehensweise sein. 5.5 Ausblick Vor dem Hintergrund der häufigen Verbote und Auflagen für Fusionen, der Geldbußen wegen wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen der Un‐ ternehmen, der kritischen Stellungnahmen gegenüber Regierungen ist es kaum verwunderlich, dass die Kommission in das Kreuzfeuer der Kritik ge‐ rät. Insgesamt wird der Kommission von Experten eine geradlinige und überzeugende Politik bescheinigt. Die Überprüfung mehrerer Entscheidun‐ gen durch den Gerichtshof, die dazu beigetragen hat, das Wettbewerbsrecht weiterzuentwickeln, bedeutet nicht, die Arbeit der Kommission zu bean‐ 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 182 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 182 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 182 19.10.2020 12: 33: 37 19.10.2020 12: 33: 37 <?page no="183"?> standen. Die Urteile dienen dazu, die teils unbestimmten Rechtsbegriffe des Lissabon-Vertrages zu konkretisieren. Die Entscheidungen auf Basis des Auswirkungsprinzips gegen Zusammen‐ schlüsse außerhalb der Europäischen Union sorgten in anderen Ländern gelegentlich für Irritationen. Das Zusammenwachsen der Märkte fordert im Bereich der Wettbewerbspolitik eine intensive Zusammenarbeit der Wett‐ bewerbsbehörden. Die Europäische Kommission engagiert sich daher auch international, um die Kooperation zu erleichtern und die Entwicklung ge‐ meinsamer wettbewerbspolitischer Vorstellungen voranzutreiben. 5.6 Wichtige Begriffe Leitbilder der Wettbewerbspolitik, Ordoliberalismus, „more economic approach“, Kartellstrafen, Kronzeugenregelung, Branchenkonzentra‐ tion, Herfindahl-Hirschman-Index, Fusionskontrolle, Trade-off-Mo‐ dell, Beihilfekontrolle, Natürliches Monopol, Digitalisierung 5.7 Literatur Bofinger, Peter (2019): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre - Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 5. Auflage, München, Pearson Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2016): Grünbuch Digitale Plattformen, Berlin Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2019a): Ein neuer Wettbe‐ werbsrahmen für die Digitalwirtschaft. Bericht der Kommission Wettbewerbs‐ recht 4. 0, Berlin Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2019b): Industriestrategie 2030. Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik, Berlin Christiansen, Arndt (2010): Der „More Economic Approach“ in der EU-Fusionskon‐ trolle. Entwicklung, konzeptionelle Grundlagen und kritische Analyse, Frankfurt/ Main Crémer, Jacques/ de Montjoye, Yves-Alexandre/ Schweitzer, Heike (2019): Competi‐ tion policy for the digital era. Final report, European Commission, Directo‐ 5.6 Wichtige Begriffe 183 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 183 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 183 19.10.2020 12: 33: 37 19.10.2020 12: 33: 37 <?page no="184"?> rate-General for Competition, Brüssel, Internet: http: / / ec.europa.eu/ competition/ publications/ reports/ kd0419345enn.pdf. Duso, Tomaso/ Szücs, Florian (2014): „Die Ökonomisierung der Europäischen Fusi‐ onskontrolle: Eine Evaluierung“, in: DIW Wochenbericht, Nr. 29/ 2014 vom 16. Juli 2014, S. 699-704. 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Auswirkungen auf die Schweizer Fusionskontrolle, Swiss Economics, Zürich Klausinger, Hansjörg (2013): Die Größten Ökonomen: Friedrich A. von Hayek, Kon‐ stanz, UTB 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 184 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 184 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 184 19.10.2020 12: 33: 37 19.10.2020 12: 33: 37 <?page no="185"?> Monopolkommission (2008): Hauptgutachten XVII: Weniger Staat, mehr Wettbe‐ werb. Gesundheitsmärkte und staatliche Beihilfen in der Wettbewerbsordnung, 9. Juli 2008, Internet: https: / / www.monopolkommission.de/ de/ gutachten/ hauptg utachten/ 92-hauptgutachten-xvii.html Monopolkommission (2014): Hauptgutachten XX: Eine Wettbewerbsordnung für die Finanzmärkte, 9. Juli 2014, Internet: https: / / www.monopolkommission.de/ de/ gut achten/ hauptgutachten/ 89-hauptgutachten-xx.html Monopolkommission (2015): Sondergutachten 68. 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Eine in‐ terdisziplinäre Einführung, 10. Aufl., München Oldenbourg Wissenschaftsverlag Urbach, Nils (2017): „Betriebswirtschaftliche Besonderheiten digitaler Güter“, in: Schmidt-Kessel, Martin/ Kramme, Malte: Geschäftsmodelle in der digitalen Welt, Jena: JWV Jenaer Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 39-62 U.S. Department of Justice and the Federal Trade Commission (2000): Horizontal Merger Guidelines, Issued: August 19, 2019, Internet: https: / / www.ftc.gov/ sites/ d efault/ files/ attachments/ merger-review/ 100819hmg.pdf Williamson, Oliver E. (1968): „Economies as an Antitrust Defense: The Welfare Tradeoffs“, in: American Economic Review, vol. 58, Nr. 1, S. 18-36 5.7 Literatur 185 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 185 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 185 19.10.2020 12: 33: 37 19.10.2020 12: 33: 37 <?page no="186"?> Wissenschaftlicher Beirat beim Ministerium für Wirtschaft und Technologie (2010): Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates, Gutachten, Berlin 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union 186 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 186 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 186 19.10.2020 12: 33: 38 19.10.2020 12: 33: 38 <?page no="187"?> 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union Leitfragen Warum treibt die EU den weltweiten Austausch von Gütern und Dienst‐ leistungen voran? Mit welchen Gütern und Dienstleistungen handelt die EU? Wer sind die zentralen Handelspartner der EU und wie haben sich die Handelsströme entwickelt? Wie ist die Struktur des Handels zu beurteilen? Welche Wege beschreitet die EU, um die Liberalisierung des Handels voranzubringen? Warum unterzeichnet die EU zunehmend Abkommen mit einzelnen Handelspartnern? 6.1 Einführung Der Wohlstand Europas ist ohne Handel nicht vorstellbar. Dies gilt sowohl für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der EU als auch für den Handel mit dem Rest der Welt. Schon in dem Vertrag von Rom wurde der Weg für 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 187 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 187 19.10.2020 12: 33: 38 19.10.2020 12: 33: 38 <?page no="188"?> offene Märkte geebnet. Die Europäische Gemeinschaft und später die Eu‐ ropäische Union wurde zur treibenden Kraft der Liberalisierung des Han‐ dels: Innerhalb der EU bedeutete dies die Realisierung des Binnenmarktes mit offenen Grenzen für Güter, Dienstleistungen, Kapital und den Faktor Arbeit. Und dies galt gegenüber dem Rest der Welt durch die Liberalisierung für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen. 6.2 Theoretische Grundlagen - Zur Vorteilhaftigkeit des Handels und den Implikationen für die Handelspolitik 6.2.1 Ein Überblick über die wichtigsten theoretischen Überlegungen zum internationalen Handel Die theoretische Begründung des Handels beschäftigt die Volkswirtschafts‐ lehre seit Jahrhunderten. Bereits Adam Smith beschrieb in seinem berühm‐ ten Werk „Vom Wohlstand der Nationen“ eine wesentliche Grundlage des Handels: Solange ein Land einem anderen Land in der Produktion eines Gu‐ tes überlegen ist, ist es für dieses Land vorteilhaft, die Waren zu exportieren. Umgekehrt ist bei höheren Produktionskosten im eigenen Land der Import vorteilhaft. Länder können, so sein Postulat, von dem Handel wechselseitig profitieren, wenn sie sich auf die Produktion und den Export jener Güter oder Gütergruppe spezialisieren, die ein Land zu absolut niedrigeren Kosten, also mit „absoluten Kostenvorteilen“, herstellen kann. Wenige Jahrzehnte nach Adam Smith veröffentlichte der Engländer David Ricardo sein Grundlagenwerk „Über die Grundsätze der politischen Öko‐ nomie und der Besteuerung“, in dem er die Analyse weiterführte und zeigte, dass Länder auch dann wechselseitig vom Handel profitieren können, wenn ein Land in keinem Bereich über absolute Kostenvorteile verfügt (vgl. Krug‐ man/ Obstfeld/ Melitz 2019). Zur Erläuterung der Überlegung, die als Theorie der komparativen Kostenvorteile bekannt geworden ist, wählte er die Län‐ der Portugal und England und die Produktion von Wein und Tuch. Er zeigte, dass der Handel für England selbst dann vorteilhaft ist, wenn Portugal so‐ wohl in der Produktion von Wein als auch in der Produktion von Tuch eine höhere Arbeitsproduktivität aufweist und damit im Sinne von Adam Smith einen absoluten Kostenvorteil bei der Produktion beider Güter hat. Das Land mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität sollte sich dann auf die Produktion 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 188 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 188 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 188 19.10.2020 12: 33: 38 19.10.2020 12: 33: 38 <?page no="189"?> jener Güter spezialisieren, bei denen dieser Nachteil geringer ist, oder anders formuliert, es spezialisiert sich auf jenes Produkt, für dessen Produktion es weniger Mengeneinheiten des anderen Produktes aufgeben muss, d. h. die Opportunitätskosten niedriger sind. Dieser Gedanke, dass nicht absolute Kostenvorteile, sondern die relativen, die komparativen Kostenvorteile ent‐ scheidend sind, hat den Blick auf den Handel revolutioniert. Handel, so die klare Botschaft, ist kein Nullsummenspiel, sondern kann allen Seiten Vor‐ teile bringen. Diese Überlegung wurde von den Ökonomen Eli Heckscher und Bertil Ohlin weitergeführt und um eine wichtige Perspektive ergänzt: Entscheidend für die komparativen Kostenvorteile sind Unterschiede in der Faktorverfügbar‐ keit und der Intensität der Nutzung der Produktionsfaktoren für die Her‐ stellung der Güter (Faktorproportionen-Theorem). Ein Land wird jene Güter exportieren, welches in der Produktion den reichhaltig vorhandenen Faktor stark nutzt (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). In den letzten Jahrzehnten rückten die Skaleneffekte stärker in den Fokus der Betrachtung. Dieses Phänomen lässt sich besonders in der Marktform der monopolitischen Konkurrenz beobachten, dort also, wo es Unternehmen gelingt, aufgrund der Besonderheiten der Produkte und Marke einen Spiel‐ raum für eigenständige Preisgestaltung zu entwickeln. Aufgrund von posi‐ tiven Skalenerträgen ergeben sich Kostenvorteile für Industrien, die in gro‐ ßen Märkten aktiv sind und auf eine lange Erfahrung in der Produktion bauen können. Dies kann sich in Exporterfolgen niederschlagen, während Skalenerträge eines nahen Wettbewerbers in einem anderen Land wiederum dort Exporte möglich machen. Unterscheiden kann man nach „internen Skalenerträgen“ und „externen Skalenerträgen“. Erstere liegen vor, wenn innerhalb des Unternehmens verortete Gründe die Senkung der Stückkosten ermöglichen. Bei externen Skalenerträgen profitiert ein Unternehmen da‐ von, dass auch andere Unternehmen in der Region angesiedelt sind. Hierzu zählen Wissensexternalitäten oder ein Pool besonders qualifizierter Arbeits‐ kräfte. So können Skalenerträge die Existenz des intraindustriellen Handels erklären, der ein wesentlicher Teil des gesamten Handels ist (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). Beispielsweise exportieren deutsche Kfz-Produzen‐ ten Autos nach Frankreich und französische Produzenten liefern Autos nach Deutschland, ein Handel, der mit dem Faktorproportionentheorem kaum erklärt werden kann. 6.2 Theoretische Grundlagen 189 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 189 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 189 19.10.2020 12: 33: 39 19.10.2020 12: 33: 39 <?page no="190"?> Auch die Größe der Märkte der Handelspartner, die geografische Distanz und damit die Höhe der Kosten des Handels haben einen wesentlichen Ein‐ fluss auf den Güteraustausch. Theoretisch wird dies mit Hilfe von Gravita‐ tionsmodellen beschrieben und diskutiert. Die Exporte eines Landes können in Beziehung zur Entfernung zum Zielland und der „ökonomischen Masse“ der Handelspartner gesetzt werden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutach‐ tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2005, S. 427-429). Und schließlich spielen natürlich auch geschichtliche, politische, kulturelle und sprachliche Aspekte eine wichtige Rolle in der Erklärung von Handels‐ strömen. 6.2.2 Öffnung für die Integration in die internationale Arbeitsteilung Die Schlussfolgerung aus diesen und weiteren Überlegungen zu internatio‐ nalem Handel ist die grundsätzliche Empfehlung der wirtschaftswissen‐ schaftlichen Theorie an Staaten, die internationale Arbeitsteilung als Chance für Wohlfahrtsgewinne zu nutzen. Dabei legt die Theorie nicht völlig unregulierten Freihandel ohne jegliche Aktivität des Staates nahe. Vielmehr schafft der Staat Bedingungen für erfolgreichen Handel; er kann eine wich‐ tige Funktion im Aufbau komparativer Kostenvorteile wahrnehmen und bei der Abfederung sowie sozialen Begleitung erforderlicher Strukturreformen und dem Angebot notwendiger Qualifikationsmaßnahmen für den Produk‐ tionsfaktor Arbeit unterstützend tätig sein. In einigen Fällen kann es auch stichhaltige Begründungen für Protektion geben, zum Beispiel wenn As‐ pekte der nationalen Sicherheit betroffen sind oder substantielle externe Ef‐ fekte vorliegen. Unter bestimmten Bedingungen kann der Schutz einer noch jungen Industrie gegenüber ausländischem Wettbewerb sinnvoll sein. 6.3 Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 6.3.1 Der Binnenhandel der EU Die Vorteile des freien Handels zwischen den Mitgliedsstaaten spielten in der Begründung der europäischen Einigung von Anfang an eine wichtige Rolle. Der EU-Binnenhandel dominiert den Alltag des grenzüberschreiten‐ 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 190 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 190 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 190 19.10.2020 12: 33: 39 19.10.2020 12: 33: 39 <?page no="191"?> den Handels der europäischen Länder. Allerdings ist diese Binnenmarktori‐ entierung unterschiedlich stark ausgeprägt. Der Anteil der Exporte eines Landes in andere EU-Länder an den gesamten Exporten eines Landes ist ein geeigneter Indikator, um eine wichtige Dimension der regionalen Integra‐ tion zu beschreiben. Wie Abb. 31 zeigt, ist nur für zwei Länder (Zypern und Großbritannien) der Handel mit Ländern außerhalb der EU quantitativ wichtiger als der Intra-EU-Handel. Für die Slowakei, Luxemburg und die Tschechische Republik ist dieser Anteil des Handels mit EU-Staaten größer als 80 Prozent. Für Deutschland beträgt der Anteil des Binnenhandels mit anderen EU-Ländern knapp 60 %. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Slowakei Luxemburg Tschechishce Republik Ungarn Polen Rumänien Slowenien Niederlande Portugal Belgien Estland Österreich Bulgarien Lettland Spanien Koroatien Dänemark Finnland Schweden Frankreich Deutschland Litauen Italien Malta Griechenland Irland Vereinigtes Königreich Zypern Intra-EU und Extra-EU-Handel in Prozent, 2017 Intra-EU Extra-EU Abb. 31: Intra-EU und Extra-EU-Handel in Prozent, 2017 Quelle: Eurostat 2019 Die in Abb. 31 gezeigte Unterschiedlichkeit der Ausrichtung des Handels der EU-Mitgliedsstaaten reflektiert sowohl politische, geografische und andere Faktoren. So sind Großbritannien und Irland aufgrund der Geschichte, auf‐ grund der Sprache und der Geografie stärker Richtung Nordamerika aus‐ gerichtet als Länder im Osten Europas. 6.3 Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 191 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 191 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 191 19.10.2020 12: 33: 39 19.10.2020 12: 33: 39 <?page no="192"?> 6.3.2 Der EU-Handel mit europäischen Ländern innerhalb und außerhalb des EWR Neben dem Handel innerhalb der EU gibt es eine enge Kooperation mit den drei europäischen Staaten Island, Norwegen, Liechtenstein. Diese Länder wenden im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) in weiten Teilen die Regeln des Binnenmarktes an. Auch mit der Schweiz gibt es ge‐ sonderte Verabredungen, welche den Handel erleichtern. Mit den europäischen Ländern außerhalb des Europäischen Wirtschafts‐ raums und der Schweiz gibt es ebenfalls enge Handelsbeziehungen. Auch wenn sie aus Sicht der EU quantitativ eher nachrangig sind, ist der Handel mit der EU für diese Länder wie Serbien oder Albanien von essenzieller Be‐ deutung. 6.3.3 Der Handel der EU in der Gesamtperspektive Der wirtschaftliche Austausch mit Ländern außerhalb Europas hat seit Jahr‐ hunderten das Leben der Menschen in Europa mitgeprägt. Das Römische Reich hatte umfangreiche Handelsbeziehungen mit anderen Ländern, ins‐ besondere im Süden des Reiches, Portugal und Spanien eröffneten im 15. und 16. Jahrhundert mit ihren Flotten neue Wege des internationalen Han‐ dels, die Phase des Imperialismus im 19. Jahrhundert fügte ein neues Kapitel im wirtschaftlichen Austausch mit fern gelegenen Regionen hinzu. Der transatlantische Handel im 19. Jahrhundert war bedeutsam. Die Europäische Union gehört heute zu den größten Akteuren im interna‐ tionalen Handel (Abb. 32). Auf Basis aller grenzüberschreitenden Handels‐ beziehungen ist im Jahr 2018 die EU 28 mit einem Anteil von 17,3 % weltweit der größte Akteur im Außenhandel gefolgt von China mit 14,1 % und den USA mit 12,7 %. Auf die EU, China und die USA entfällt insgesamt 44 Prozent des Welthandels. Dies zeigt, wie wichtig ein gemeinsames Verständnis dieser drei Handelspartner für die weitere Ausgestaltung der Globalisierung und konkret der Lösung globaler Handelskonflikte ist. 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 192 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 192 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 192 19.10.2020 12: 33: 39 19.10.2020 12: 33: 39 <?page no="193"?> Rang Land Wert in Mrd. US-$ Anteil in % 1 EU (28) 2.875 17,3 2 China 2.344 14,1 3 USA 2.111 12,7 4 Japan 787 4,7 5 Südkorea 595 3,6 Abb. 32: Anteil am Welthandel mit Gütern und Dienstleistungen, 2018 Quelle: Europäische Kommission (DG Trade), 2019a, S. 16. In den letzten Jahren ist der Anteil der EU am Welthandel gesunken. Während das Handelsvolumen der EU in den letzten zehn Jahren um jährlich 4,6 Prozent gestiegen ist, ist dieses Volumen für China um jährlich 8,2 Prozent gewachsen, für Indien um durchschnittlich 8,1 Prozent (Europäische Kommission (DG Trade) 2019a, S. 16). Die Zahlen beschreiben eine wichtige Verschiebung der Gewichte, eine Folge der wachsenden Einbindung in die weltweiten Wertschöp‐ fungsketten und des wachsenden Wohlstands in Asien. Die Entwicklung ist ein‐ deutig. Einige sehen dies als „Abstieg Europas und der westlichen Welt“, andere bezeichnen es als „Aufstieg der Anderen“ (vgl. Zakaria 2009). Die Länder der EU exportieren vor allem verarbeitete Güter (Güter der Ka‐ tegorie SITC 6, SITC 7, SITC 8). Im Jahr 2018 waren dies mehr als 60 Prozent der Warenausfuhr in Länder außerhalb der EU. Demgegenüber waren mehr als 55 Prozent der Importe verarbeitete Produkte und rund 10 % chemische Erzeugnisse. Bei den Einfuhren spielten Brennstoffe und Bergbauprodukte mit 21 % eine wichtigere Rolle als auf der Ausfuhrseite (vgl. Europäische Kommission (DG Trade) 2019a, S. 38-39). Unterscheidet man die Produktionsfaktoren Land, einfache Arbeit, humankapi‐ talintensive Arbeit und Kapital, so zeigt ein internationaler Vergleich der relati‐ ven Ausstattung mit diesen Produktionsfaktoren, dass die EU insgesamt eher reichhaltig mit dem Faktor Kapital und gut qualifizierter Arbeit ausgestattet ist. Nimmt man nur Deutschland, Frankreich und England, so verfügten diese drei EU-Länder 2007-2010 über 15 % des weltweit erfassten Produktionsfaktors Ka‐ pital, über 9 % des besonders hoch qualifizierten Humankapitals, aber nur über 6.3 Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 193 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 193 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 193 19.10.2020 12: 33: 40 19.10.2020 12: 33: 40 <?page no="194"?> 2 % der landwirtschaftlich bewirtschaftbaren Fläche. Mit Blick auf das Faktor‐ proportionentheorem ist daher eine Spezialisierung auf Güter, die mit kapitalin‐ tensiven Verfahren hergestellt werden, zu vermuten. Ebenso ist davon auszuge‐ hen, dass Produkte und Dienstleistungen, die humankapitalintensiv hergestellt werden und forschungsintensiv sind, in der Exportpalette stark vertreten sind. Auf der Importseite ist zu erwarten, dass Güter, bei denen einfache Arbeit und der Faktor Land dominieren, überproportional repräsentiert sind. 6.3.4 Handelsbeziehungen und Zahlungsbilanz Die Darstellung der außenwirtschaftlichen Beziehungen eines Landes mit dem Rest der Welt erfolgt in der Zahlungsbilanz, die einen wichtigen Anknüpfungs‐ punkt für die Analyse des Handels bietet. Die Zahlungsbilanz, die systemati‐ sche Darstellung der wirtschaftlichen Transaktionen einer Volkswirtschaft mit der übrigen Welt über einen bestimmten Zeitraum, besteht im Wesentlichen aus den beiden Teilbilanzen Leistungsbilanz (die Transaktionen mit Waren und Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen sowie laufenden Über‐ tragungen umfasst) und der Kapitalbilanz (die Transaktionen im Zusammen‐ hang mit Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen, dem übrigen Kapitalver‐ kehr, Finanzderivaten und Währungsreserven enthält). Die Interpretation der Struktur und Entwicklung der Teilbilanzen ist kom‐ plex, hängt von der betrachteten Frist, von den Treibern der Entwicklung und der Wirtschaftsstruktur eines Landes ab. Es besteht jedoch Einigkeit, dass grundsätzlich für die meisten Länder langfristig weder ein hohes Leis‐ tungsbilanzdefizit, gemessen an dem BIP des Landes, noch ein hoher Über‐ schuss des Landes erstrebenswert ist. Die Europäische Union hat seit 2012 ohne Unterbrechung einen leichten Leistungsbilanzüberschuss gegenüber dem Rest der Welt erzielt. Betrachtet man die bilateralen Überschüsse der EU mit anderen Ländern, so war der Überschuss gegenüber den USA am stärksten. Abbildung 33 zeigt die Leistungsbilanzsalden der einzelnen EU-Staaten. Die Länder Malta, Niederlande, Irland, Deutschland, Slowenien und Dänemark hat‐ ten Überschüsse, die 5 Prozent des jeweiligen nationalen Bruttoinlandsproduk‐ tes überstiegen. 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 194 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 194 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 194 19.10.2020 12: 33: 40 19.10.2020 12: 33: 40 <?page no="195"?> Malta 11,2 Ungarn 0,5 Niederlande 10,8 Tschechische Republik 0,3 Irland 9,1 Frankreich -0,3 Deutschland 7,3 Portugal -0,6 Slowenien 7,0 Polen -0,7 Dänemark 5,9 Lettland -1,0 Luxemburg 4,8 Belgien -1,3 Bulgarien 4,6 Finnland -1,9 Euro-Zone 2,9 Slowakei -2,5 Kroatien 2,6 Griechenland -2,9 Italien 2,5 Vereinigtes Königreich -3,9 Österreich 2,3 Rumänien -4,5 Schweden 2,0 Zypern -7,0 Estland 1,7 Litauen 1,6 EU 28 1,2 Spanien 0,9 Abb. 33: Leistungsbilanzsalden der EU-Länder im Jahr 2018, in Prozent des BIP Quelle: Eurostat 2020 (https: / / ec.europa.eu/ eurostat/ statistics explained/ index.php/ Balance_of_payment_statistics) 6.3 Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 195 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 195 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 195 19.10.2020 12: 33: 41 19.10.2020 12: 33: 41 <?page no="196"?> 6.3.5 Die Bewertung der Handelsstruktur und der Handelsentwicklung Für die Beurteilung des Handels der Europäischen Union bietet sich der Rückgriff auf die theoretischen Konzepte an: Ein häufig genutzter Ansatz setzt an der Theorie der komparativen Kosten‐ vorteile an und wird als „Revealed Comparative Advantage“-Ansatz bezeich‐ net. Er beruht zum Beispiel auf der Bestimmung des Weltexportanteils eines Landes bei einer Warengruppe bezogen auf den Weltexportanteil des Landes am Gesamthandel. Ein Wert größer 1 wird dann als Hinweis auf einen ausge‐ wiesenen Wettbewerbsvorteil angesehen. Auf Basis der Bestimmung der RCA-Werte hat die EU Vorteile bei forschungsintensiven und kapitalintensiv hergestellten Gütern und Dienstleistungen (vgl. Galar 2012). Auf Basis der realen Handelsströme ergeben sich beispielsweise für die Produktion von Au‐ tomobilen oder pharmazeutischen Produkten signifikante Werte deutlich über 1 (vgl. Europäische Kommission 2011, S. 107). Jüngere Studien weisen eben‐ falls auf erkennbare komparative Vorteile bei dem wichtigen Forschungsbe‐ reich „Internet of Things“ hin (vgl. Europäische Kommission 2016, S. 11-19). Ein verwandter Ansatz bezieht sich auf den Anteil der wissensintensiven Güter- und Dienstleistungsexporten an allen Exporten. Je höher der Anteil, desto besser ist ein Land auf die Herausforderungen der Globalisierung vor‐ bereitet. Differenzierte Analysen zeigen, dass Europa vor dem Hintergrund der Fortschritte in anderen Ländern gefordert ist, Innovationen zu fördern (vgl. Europäische Kommission 2013). Viele Autoren gehen davon aus, dass eine mittelfristig ausgeglichene Leis‐ tungsbilanz optimal ist. Eine negative Leistungsbilanz ist mit einem dauer‐ haften Aufbau von Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt verbun‐ den, eine umgekehrt dauerhaft überschüssige Leistungsbilanz hat hingegen einen Kapitalexport zur Folge. Dieser ist nicht nur aus Sicht der anderen Länder problematisch, die ja im Gegenzug eine defizitäre Leistungsbilanz haben und zunehmend Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt auf‐ bauen, sondern bedeutet auch, dass das Überschussland dauerhaft mehr Gü‐ ter und Dienstleistungen produziert als es diese selbst konsumiert. Insbesondere Deutschland wird seit Jahren von IWF, Weltbank, OECD und der EU aufgefordert, den hohen Leistungsbilanzüberschuss zu verringern. Dies ist allerdings bei einer gemeinsamen Währung kein leichtes Unterfan‐ 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 196 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 196 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 196 19.10.2020 12: 33: 41 19.10.2020 12: 33: 41 <?page no="197"?> gen. Hätte Deutschland noch immer eine eigene Währung, so könnte diese Währung aufgewertet werden; eingebunden in den Euro ist dieser Weg ver‐ schlossen. Wirtschaftspolitische Alternativen zur Beeinflussung der Leis‐ tungsbilanz (wie Lohnpolitik, Kapitalbesteuerung, Umsatzsteuersenkung, Umsatzbesteuerung von Exporten) stehen nicht oder nur beschränkt zur Verfügung und sind nicht nebenwirkungsfrei (vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019). Verständnisfrage Welche Indikatoren sind besonders geeignet, die Handelsstruktur eines Landes zu beschreiben? 6.4 Die Handelspolitik der EU 6.4.1 Rechtsgrundlagen Der Vertrag über die Europäische Union beinhaltet ein klares Bekenntnis zur Offenheit Europas für den Handel mit Ländern außerhalb der Union. In Artikel 3, Absatz 5 EUV heißt es, die EU leistet einen Beitrag „zu freiem und gerechtem Handel“. Und in Artikel 21 des Vertrages über die Europäische Union wird dies konkretisiert: „Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest, führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um …..e) die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handels‐ hemmnisse.“ Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist in Artikel 3 (1) die Zuständigkeit der Europäischen Union für Angelegenheiten des inter‐ nationalen Handels klar geregelt. Die EU hat die ausschließliche Zuständig‐ keit in den Bereichen Zollunion und gemeinsame Handelspolitik. Die Konkretisierung der Arbeitsweise erfolgt in dem Titel II „Der freie Wa‐ renverkehr“ mit den Kapiteln 28-37. Die EU ist für die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs zuständig (Artikel 28 AEUV). Der Rat ist für die Festlegung der Sätze des Gemeinsamen Zolltarifs (auf Vorschlag der Kom‐ mission) zuständig (Artikel 31 AEUV). 6.4 Die Handelspolitik der EU 197 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 197 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 197 19.10.2020 12: 33: 41 19.10.2020 12: 33: 41 <?page no="198"?> Das Parlament und der Rat teilen sich die Zuständigkeiten für die Handels‐ politik. Neue Handelsabkommen bedürfen der Zustimmung des Parlamen‐ tes. Die Verhandlungsführung in internationalen Handelsgesprächen ob‐ liegt der Kommission, die mit der Generaldirektion Handel eine spezialisierte Behörde für Handelsfragen hat. Die Kommission muss das Parlament regelmäßig über wichtige Verhandlungsergebnisse unterrichten. Darüber hinaus ist die Kommission verpflichtet, bei Handelsfragen eng mit den Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten. 6.4.2 Die handelspolitischen Optionen zur Ausgestaltung der Handelspolitik - multilateral, regional, bilateral oder unilateral Die europäischen Länder und die EU insgesamt haben sich für die Integra‐ tion Europas in die Weltwirtschaft entschieden. Die Länder versprechen sich davon Wohlstandssteigerung und eine höhere Innovationsdynamik. Die Form der Öffnung und damit der Liberalisierung des Handels kann ganz unterschiedlich sein: Wenn dies im globalen Rahmen erfolgt, dann handelt es sich um multilaterale Handelsliberalisierung. Erfolgt dies gemeinsam mit anderen regionalen Bündnissen, dann handelt es sich um inter-regionale Liberalisierung. Geht es um die Liberalisierung gegenüber einem Partner, dann wird dies als bilaterale Handelsliberalisierung bezeichnet. Und schließ‐ lich kann die Liberalisierung auch einseitig erfolgen, dann wird von unila‐ teraler Liberalisierung gesprochen. Multilaterale Übereinkommen und die Rolle der WTO Die multilaterale Handelsliberalisierung erfolgt im Rahmen der Welthan‐ delsorganisation (World Trade Organization WTO), die am 01. 01. 1995 die Nachfolge des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) antrat. Diese in Genf beheimatete Organisation, die im Jahr 2019 164 Mitglieder hat, die für 98 Prozent des Welthandels stehen, bietet ein Forum für die Aushandlung von Handelserleichterungen und schafft eine Struktur zur Lösung von Han‐ delskonflikten. Das GATT von 1948 bis 1993 und seit 1995 die WTO haben ganz wesentlich zur Liberalisierung des Welthandels beigetragen. Zentral für den Erfolg der multilateralen Handelspolitik sind die fünf Arbeitsprin‐ zipien, zu denen sich die WTO-Mitglieder verpflichtet haben. 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 198 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 198 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 198 19.10.2020 12: 33: 42 19.10.2020 12: 33: 42 <?page no="199"?> Box 42 | Die fünf Prinzipien der Welthandelsorganisation Meistbegünstigung: Die größtmöglichen Vorteile, die ein Mitglieds‐ land einem anderen Mitgliedsland gewährt, werden im Zuge der Gleich‐ berechtigung automatisch auch anderen Mitgliedsländern gewährt. Nichtdiskriminierung oder Prinzip der Gleichbehandlung: Impor‐ tierte Güter und Dienstleistungen müssen nach dem Überschreiten der Grenze wie inländische Güter und Dienstleistungen behandelt werden. Reziprozität: Die Mitgliedsländer räumen sich gleichwertige Zuge‐ ständnisse ein. Transparenz: Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, Regelungen, Be‐ dingungen, Beschränkungen des Handels offen zu legen. Konsens: Veränderungen im System der Zollsätze sollen von allen Mit‐ gliedsstaaten einstimmig verabschiedet werden. Die Welthandelsorganisation, die sich dem Abbau aller Hindernisse des weltweiten Handels verschrieben hat, ist zuständig für die Formulierung und Umsetzung gemeinsamer Regeln für den internationalen Handel (vgl. WTO 2019a). Dies betrifft den Handel mit Gütern, mit Dienstleistungen und dem Handel mit geistigem Eigentum. Die den Güterhandel betreffenden Re‐ geln sind im Rahmen des sogenannten „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) enthalten. Das „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) enthält die Regeln zum Dienstleistungshandel. Der Schutz des geis‐ tigen Eigentums ist im Rahmen des Übereinkommens über handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) geregelt. Daneben schafft die WTO durch ihre regelmäßigen öffentlich zugänglichen Bewertungen der Han‐ delspolitik der Mitgliedsländer, den sogenannten „trade policy reviews“ Transparenz. Und schließlich stellt die Welthandelsorganisation eine insti‐ tutionelle Struktur bereit, die bei handelspolitischen Streitigkeiten Lösungen anbietet, das Streitschlichtungsverfahren („Dispute Settlement Body“). Aufgrund des erfolgreichen Arbeitens im Rahmen der multilateralen Han‐ delsliberalisierung wurden Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse in den vergangenen Jahrzehnten substantiell reduziert. Darüber hinaus sorgte der institutionalisierte Streitschlichtungsmechanismus für eine geregelte 6.4 Die Handelspolitik der EU 199 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 199 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 199 19.10.2020 12: 33: 42 19.10.2020 12: 33: 42 <?page no="200"?> Form der Austragung von Konflikten. Über viele Jahre war die Regelbeach‐ tung seitens der Mitglieder der WTO eindrucksvoll, die Bereitschaft der Staaten, auch im eigenen Land schwer zu vermittelnde Entscheidungen zu akzeptieren, war wichtig für die Gestaltung der Globalisierung. Trotz der erfolgreichen Arbeit des GATT und der WTO über viele Jahrzehnte ist die WTO in der Krise, ein erfolgreicher Abschluss der im Jahr 2001 gestarteten Verhandlungsrunde (Doha-Runde) ist bisher nicht geglückt. Regionale und interregionale Zusammenarbeit im Handel - eine Alternative oder Ergänzung zu multilateralen Abkommen Regionale Integration bedeutet, dass in einer Region beheimatete Länder be‐ sondere Liberalisierungsschritte einleiten. Der EU-Binnenmarkt stellt ein sol‐ ches Beispiel dar. Auch die Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko (USMCA) und der ASEAN-Pakt südostasiatischer Staaten sind Bei‐ spiele erfolgreicher regionaler Integration. Hierbei werden für fest verabre‐ dete Güter- und Dienstleistungen Handelserleichterungen oder auch völlige Handelsfreiheit gewährt. Damit kommt es in diesen Ländern durch die Ab‐ schaffung von Hindernissen zu Handelsschaffung („trade creation“), und gleichzeitig potenziell zu einer Handelsumlenkung („trade diversion“), da Länder außerhalb der Region, die möglicherweise günstiger produzieren, auf‐ grund der Zollschranken benachteiligt sind. Abkommen mit dem Ziel, die re‐ gionale Integration voranzutreiben, haben einen Vorteil gegenüber multila‐ teralen Versuchen der Integration, da aufgrund der kleineren Zahl und der größeren politischen und kulturellen Homogenität Vereinbarungen leichter zu erzielen sind. Inter-regionale Integration liegt dann vor, wenn zwei regio‐ nale Bündnisse Abkommen zur Handelserleichterung unterzeichnen. Plurilaterale Kooperation Von plurilateraler Liberalisierung spricht man, wenn einige Staaten gemein‐ sam Liberalisierungsschritte einleiten. Es ist gewissermaßen eine Unterform der multilateralen Verabredung. Plurilaterale Vereinbarungen werden ge‐ genwärtig für Dienstleistungen verhandelt. Das Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen ist ein Beispiel für diese Form der Liberali‐ sierung. 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 200 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 200 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 200 19.10.2020 12: 33: 42 19.10.2020 12: 33: 42 <?page no="201"?> Bilaterale Zusammenarbeit - die neue Realität handelspolitischer Kooperation Eine bilaterale Handelsliberalisierung liegt dann vor, wenn ein Land (oder ein Bündnis wie die EU) mit einem anderen Land ein Präferenzabkommen unterzeichnet. Ein solches Bündnis zielt auf positive Wohlfahrtseffekte in den involvierten Ländern ab. Häufig sind solche bilateralen Verabredungen mit anderen Themen politischer, sozialer oder kultureller Natur verknüpft. Die Zahl der bilateralen Abkommen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Unilaterale Liberalisierung Von einer unilateralen Handelsliberalisierung spricht man dann, wenn fak‐ tisch eine Liberalisierung erfolgt, ohne dass andere Handelspartner zu ei‐ genen Zugeständnissen verpflichtet werden. Dimension der handelspolitischen Gestaltung Handelspolitik schlägt sich unter anderem in Zöllen, Mindestpreisen, nicht-quantitativen Beschränkungen und diversen Beschränkungen regu‐ latorischer Art, Quoten, freiwilligen Selbstbeschränkungen, Lizenzen und Subventionen nieder. Und wenn Handelspartner sich aus der eigenen Per‐ spektive in „unfairer Weise“ Vorteile im internationalen Wettbewerb ver‐ schaffen, dann können Staaten „handelspolitische Schutzmaßnahmen“ wie beispielsweise Anti-Dumping-Maßnahmen ergreifen. Handelspolitische Verabredungen können sich auf den Güterhandel bezie‐ hen, sowie Dienstleistungen mit einbeziehen. Auch Fragen der Arbeitsmi‐ gration oder der Kapitaltransfers können betroffen sein. 6.4.3 Die Handelspolitik der EU in der Praxis Die Handelspolitik hat aufgrund der unterschiedlichen Ansätze, Ziele und Wege im Ergebnis zu einem vielschichtigen Netz an Abkommen und Ver‐ einbarungen geführt. In der Konsequenz ist die Handelspolitik der EU kom‐ plex und in manchen Bereichen auch widersprüchlich (vgl. WTO 2019b, Bongardt/ Torres 2018). 6.4 Die Handelspolitik der EU 201 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 201 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 201 19.10.2020 12: 33: 43 19.10.2020 12: 33: 43 <?page no="202"?> Europäische Union als aktiver Akteur im System der multilateralen Handelsliberalisierung Die Europäische Union verstand sich stets als aktiver Treiber der Liberali‐ sierung im Rahmen des GATT und seit 1995 der WTO. Bedeutende Initiati‐ ven für Liberalisierung wurden von der EU eingebracht (vgl. Harte 2018). Im Rahmen der multilateralen Verhandlungen wurden die Zölle beträchtlich gesenkt. Gemessen an den Zollsätzen ist die EU eine offene Volkswirtschaft. Dies zeigen die durchschnittlichen Zollsätze, die allerdings höher sind als jene in den USA. Insbesondere landwirtschaftliche Güter werden in den USA mit einem deutlich niedrigeren Zollsatz belegt. EU-28 USA Japan China Einfacher durchschnittlicher Zollsatz auf Basis der Meistbegünstigung 5,2 3,4 4,4 9,8 + Davon landwirtschaftliche Güter 12,0 5,3 15,7 8,8 +Davon nicht-landwirtschaftliche Güter 4,2 3,1 2,5 8,8 Abb. 34: Durchschnittliche Zollsätze der führenden Welthandelsnationen im Jahr 2018 Quelle: World Trade Organization 2019, statistics database Seit Beginn des Streitschlichtungsverfahrens 1995 hat die EU diesen Weg besonders häufig beschritten, nur übertroffen von den USA. Sie leitete in 85 Fällen Verfahren ein (USA: in 98 Fällen), und die EU war Beklagter in 70 Fällen (USA: in 113 Fällen). Die EU hat häufig auch das Instrument der Anti-Dumping-Zölle eingesetzt; im Jahr 2011 richtete sich dies in 45 % aller Fälle gegen die Volksrepublik China. Auf wettbewerbsverzerrende öffentli‐ che Subventionen reagiert die EU mit der Antisubventionspolitik (vgl. Eu‐ ropäische Kommission 2010). Das regelbasierte System der WTO steckt aus vielen Gründen in der Krise (vgl. Braml/ Felbermayr 2018). Die Konsensregel erfordert die Bereitschaft ausdrücklich aller Mitglieder, einen finalen Abschluss mitzutragen, bei 164 Mitgliedern ein höchst schwieriges Unterfangen. Die Lösung von Fragen wie der Durchsetzung von Regeln gegenüber einzelnen Ländern, aber auch 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 202 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 202 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 202 19.10.2020 12: 33: 43 19.10.2020 12: 33: 43 <?page no="203"?> nach der Einbeziehung von Umweltfragen, von Beschäftigungsbedingungen und Wettbewerbsfragen stellt die WTO vor eine schwierige Aufgabe. Der Konflikt über die gegenwärtige und zukünftige Rolle der WTO ist daher ein inhaltlicher Konflikt über Vorstellungen über die Rolle multilateraler Institutionen, über das Selbstverständnis von Nationen, über die notwendige Effektivität und Effizienz multilateraler Organisationen, über die Akzeptanz der Entscheidungen solcher Institutionen in der eigenen Bevölkerung und auch über die Vorstellungen von Fairness im internationalen Handel. Die hart formulierte Kritik der Trump-Administration an der WTO verdeckt diese Tatsache und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gute Gründe für eine Reform der WTO gibt. Die EU, die ein zentrales Interesse an einer starken WTO hat, hat in den letzten Jahren wiederholt Reformvorschläge eingebracht, z. B. zu den The‐ men Verhandlungsführung, Streitschlichtungsverfahren oder Umgang mit Industriesubventionen. Andere Vorschläge sehen eine flexiblere Architek‐ tur, eine WTO der zwei Geschwindigkeiten als sinnvolle Weiterentwicklung an. 6.4.4 Der Abschluss von Freihandelsabkommen Die Bedeutung bilateraler Handelsabkommen ist in den letzten Jahren deut‐ lich gewachsen. Die EU hat mittlerweile ein großes Netz von Freihandels‐ abkommen ausgehandelt (vgl. WTO 2019b, S. 40-44). Sie werden formal bei der Welthandelsorganisation angemeldet und sind WTO-konform, da sie eine Ausnahme von der Meistbegünstigungsregel darstellen. Die in jüngster Zeit geschlossenen Freihandelsabkommen enthalten weitergehende Rege‐ lungen als frühere Vereinbarungen. Diese als „New Generation Free Trade Agreements“ bezeichneten Abkommen gehen über Zollsenkungen hinaus und integrieren zum Beispiel Erleichterungen des Dienstleistungshandels, Regeln für öffentliche Beschaffungen und Direktinvestitionen sowie die Lö‐ sung von Konflikten. Solche Vereinbarungen gibt es zum Beispiel mit Süd‐ korea, mit Kolumbien, Peru und mit Ekuador. Besonders intensiv wurde in der Öffentlichkeit das Abkommen mit Kanada (CETA) diskutiert. Andere Abkommen sind umfassend in ihrer Natur, sie werden als „Deep and Com‐ prehensive Free Trade Areas“ bezeichnet. Solche Vereinbarungen gibt es mit Georgien, Moldawien und Ukraine (vgl. Europäische Kommission 2019b). 6.4 Die Handelspolitik der EU 203 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 203 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 203 19.10.2020 12: 33: 43 19.10.2020 12: 33: 43 <?page no="204"?> Generell ist bei umfassenderen Abkommen die Frage zu stellen, welche Themen jenseits der reinen Handelsaspekte Eingang finden sollen. Men‐ schenrechte, Umwelt-, Arbeitsrechte, demokratische Prinzipien, all diese Punkte können einbezogen werden und werfen doch das Problem auf, dass die EU sich mit dieser Art von Bedingungen weit in das Handeln der Han‐ delspartner einmischt. Aus Sicht der Kritiker insbesondere aus den betrof‐ fenen Entwicklungsländern kann von Dialog auf Augenhöhe keine Rede sein, es handelt sich vielmehr um „Neokolonialismus“. Gelegentlich wird unterstellt, dass es der EU im Grunde um den Schutz der eigenen Industrie geht. Box 43 | Die ethische Herausforderung - Handel und Menschenrechte In internationalen Handelsverträgen verabredet die Europäische Union mit Handelspartnern nicht nur rein ökonomische Fragen, sondern nimmt auch Regelungen zu Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten und zum Umweltschutz auf. Wie ist dies zu beurteilen? Ist dies zu be‐ grüßen oder abzulehnen? Pro Die EU hat sich in Artikel 3 (5) AUV verpflichtet, einen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte zu leisten. Bei den Menschenrechtsstandards, Arbeitnehmerrechten und Umwelt‐ standards handelt es sich völlig unstrittig um ganz grundlegende Rechte, die zum Kernbestand der weltweit gültigen Grundrechte gehören. Die Bürger Europas, aber auch die häufig rechtlosen Arbeiter in anderen Ländern außerhalb Europas erwarten von Europa, Position zu beziehen. Kontra Bei der Festlegung von Mindeststandards handelt es sich um eine ver‐ steckte Form des Protektionismus. Die EU hindert Entwicklungsländer daran, ihre Wettbewerbsvorteile zu nutzen. Arbeitsstandards und Um‐ weltstandards waren auch in Europa oder anderen entwickelten Län‐ dern zu Beginn ihrer Entwicklung auf einem niedrigen Niveau. Dies muss auch Entwicklungsländern zugestanden werden. 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 204 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 204 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 204 19.10.2020 12: 33: 44 19.10.2020 12: 33: 44 <?page no="205"?> Die Nutzung der Macht Europas schafft einen gefährlichen Präzedenz‐ fall, es handelt sich um den Missbrauch von Macht, es stellt eine höchst problematische Form des Eurozentrismus dar. Es geht nicht um einseitige Vorteile zugunsten Europas, sondern um die Sicherung absolut grundlegender Mindeststandards. Von einer indirekten Form der Intervention kann keine Rede sein Je länger die Krise der WTO andauert, umso dichter wird das Netz von Frei‐ handelsabkommen werden. Angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung der Welt der Handelspolitik kann die EU auf diesen Weg des Abschlusses bilateraler Vereinbarungen nicht verzichten (vgl. Schmucker 2018, Felber‐ mayr 2019). 6.4.5 Die EU und der Abschluss von Abkommen mit Nachbarländern In Artikel 8 EUV werden gutnachbarschaftliche Beziehungen als zentrales Ziel benannt und der Weg für besondere Übereinkünfte eröffnet. Mit der Europäischen Freihandelszone EFTA und deren Mitgliedern gibt es enge Verbindungen. Für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gelten die vier Grundfreiheiten und die Mehrzahl der Binnenmarktregeln der EU. In der Schweiz wurde in einem Referendum die Mitgliedschaft im EWR abge‐ lehnt, daher gibt es mit der Schweiz gesonderte Regelungen. Mit Nachbarländern der EU, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, handelt die Europäische Union Assoziierungsabkommen aus, die ein beson‐ ders enges wirtschaftliches Kooperationsverhältnis begründen und über reine handelspolitische Verabredungen hinausgehen. Mit den nordafrikani‐ schen Staaten Algerien, Ägypten, Marokko und Tunesien wurden Assozi‐ ierungsabkommen unterzeichnet. Die Internetseite der European Union Ex‐ ternal Action mit allen Verträgen zeigt die Vielfalt der Abkommen. Diese Abkommen sind für die Europäische Union wichtige Instrumente, um den Handel zu erleichtern. Die Abkommen erleichtern die Strukturierung der Kooperation und die Etablierung von Dialogprozessen zu wichtigen Themen jenseits der Handelspolitik. 6.4 Die Handelspolitik der EU 205 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 205 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 205 19.10.2020 12: 33: 44 19.10.2020 12: 33: 44 <?page no="206"?> 6.4.6 Die EU und Abkommen mit anderen regionalen Verbünden Als Komplement oder als Substitut für bilaterale Abkommen gibt es zahl‐ reiche inter-regionale Abkommen: Mit den Ländern des südlichen Afrikas wurde das EU-SADC EPA ausgehandelt, mit den Ländern der Karibik hat die EU das EU-CARIFORUM Economic Partnership Abkommen unterzeich‐ net, mit den Golfsaaten gibt es eine EU-GCC-Kooperationsabkommen. Im Jahr 2019 wurde bekannt gegeben, dass die EU sich mit dem Bündnis la‐ teinamerikanischer Staaten auf ein Abkommen geeinigt hat. 6.4.7 Präferenzen für Entwicklungsländer Seit 1971 ermöglicht die Europäische Gemeinschaft einer großen Zahl von Entwicklungsländern den nicht-reziproken erleichterten Zugang zum eu‐ ropäischen Markt („Generelles Präferenzsystem“). Die meisten Produkte können zollfrei in die Europäische Union eingeführt werden. Wichtige Aus‐ nahmen sind jedoch Agrarprodukte und Textilien, hier gelten häufig er‐ leichterte Bedingungen, aber keine Einfuhrfreiheit. Das „Generelle Präfe‐ renzsystem +“ bietet weitere Erleichterungen, falls die Länder sich verpflichten, internationale Arbeitnehmerstandards umzusetzen und be‐ stimmte Good Governance-Prinzipien zu beachten. Schließlich umfasst das Allgemeine Präferenzabkommen die unter dem Stichwort „Everything but arms“ (EBA) bekannt gewordenen Regelungen. In gewisser Hinsicht können diese Vereinbarungen als unilaterale Liberalisierung verstanden werden. Allerdings suggeriert dies, dass es faktisch keine Gegenleistung für die Zoll‐ freiheit gibt, was in einem weiteren politischen Sinne aber eher unrealistisch erscheint. 6.5 Perspektiven Auch wenn sich die Gewichte im Welthandel verschoben haben und weiter verschieben werden, so bleibt die EU einer der wichtigsten, bedeutendsten und einflussreichsten Akteure im Welthandel. Wirtschaftliche Entwicklun‐ gen innerhalb der EU sind für den Welthandel ebenso bedeutsam wie han‐ delspolitische Weichenstellungen der EU. Die Handelsstruktur reflektiert teils die natürlichen Ausstattungsbedingun‐ gen: Europa wird ein Rohstoffimporteur bleiben. In Zukunft mag die Export- 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 206 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 206 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 206 19.10.2020 12: 33: 44 19.10.2020 12: 33: 44 <?page no="207"?> und Importstruktur stärker als in der Vergangenheit durch erworbene Aus‐ stattungsvorteile geprägt sein: Europa ist bestrebt, im Bereich des Humankapitals die Faktorbedingungen - im Vergleich zu dem Rest der Welt - zu verbessern. Gelingt dies, ist mittelfristig die Außenhandelsstruktur stärker noch als gegenwärtig durch wissensintensive Exporte geprägt. Mit dem hohen Anteil am Welthandel ist Europa an klaren Welthandelsre‐ geln und der Weiterführung der Handelsliberalisierung interessiert. Die lang andauernden Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde zeigen, wie schwierig in einer multipolaren Welt die Kompromissfindung geworden ist. Die parallele Arbeit an einem Netz von bilateralen oder regionalen Abkom‐ men muss weiterhin zur handelspolitischen Agenda der Union gehören (vgl. Rudloff 2017). In den letzten Jahren hat die USA eine recht aggressive Neupositionierung ge‐ genüber der WTO und regionalen und bilateralen Abkommen vorgenommen. Die Durchsetzung der „America first“-Vorstellung erzwingt Zugeständnisse bei vielen Handelspartnern (vgl. Deutsche Bundesbank 2020). Die US-amerikani‐ sche Kritik an der chinesischen Handelspolitik ist vehement, der Handelskon‐ flikt eskalierte im Jahr 2019. Die Kritik an der europäischen Handelspolitik der EU und hier insbesondere den höheren Zollsätzen als in den USA und den Leis‐ tungsbilanzüberschüssen ist laut, die Drohungen sind ungewöhnlich. Auch Chinas neues großes Selbstbewusstsein und die Realisierung des Seidenstra‐ ßen-Projektes bedeuten, dass alte Strukturen auseinanderbrechen und neue entstehen. Die Bereitschaft Chinas, wirkliche Zugeständnisse zu machen, ist begrenzt. In diesem Kontext der Veränderung, der Formulierung neuer Regeln, des Bedeutungsgewinns mancher Nationen wäre die Stimme der EU als größter Akteur im internationalen Handel dringend benötigt, um die eigenen Inter‐ esse zu wahren und zum Aufbau einer tragfähigen internationalen Han‐ delsordnung beizutragen. 6.6 Wichtige Begriffe Handelsanteile, Komparative Kostenvorteile, Spezialisierung, Revealed Comparative Advantage, Zahlungsbilanz, Leistungsbilanzsalden, Zoll‐ schutz, GATT, GATS, TRIPS, Dispute Settlement Body, Präferenzab‐ 6.6 Wichtige Begriffe 207 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 207 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 207 19.10.2020 12: 33: 45 19.10.2020 12: 33: 45 <?page no="208"?> kommen, Reziprozität, multilaterale Handelsliberalisierung, Protektio‐ nismus, WTO 6.7 Literatur Bongardt, Annette/ Torres, Francisco (2018): “What should be the EU‘s Approach to Global Trade? ”, in: Intereconomics, vol. 53, S. 245-249, Internet: https: / / www.int ereconomics.eu/ contents/ year/ 2018/ number/ 5/ article/ waht-should-be-the-eus-a pproach-to-global-trade.html Braml, Martin/ Felbermayr, Gabriel (2018): Handelskrieg und seine Folgen: Ist die WTO am Ende? , in: ifo Schnelldienst 11/ 2018, S. 3-6. Internet: https: / / www.ifo.d e/ DocDL/ sd-2018-11-braml-felbermayr-wto-2018-06-14.pdf Deutsche Bundesbank (2020): „Folgen des zunehmenden Protektionismus“, in: Mo‐ natsbericht Januar 2020, S. 49-71 Europäische Kommission (2010): Trade, Growth and World Affairs - Trade policy as a core component of the EU 2020 strategy, Brüssel Europäische Kommission (2011): Innovation Union Competitiveness Report 2011, Brüssel Europäische Kommission (2013): European Competitiveness Report 2013 - Towards Knowledge-Driven Reindustrialization, Commission Staff Working Document SWD (2013) 347 final, Luxemburg Europäische Kommission (2016): Study on the EU Positioning: An Analysis of the International Positioning of the EU Using Revealed Comparative Advantages and the Control of Key Technologies - Final Report, Brüssel Europäische Kommission (2019a), DG Trade Statistical Guide, internet: https: / / trade .ec.europa.eu/ doclib/ docs/ 2013/ may/ tradoc_151348.pdf Europäische Kommission (2019b): Report from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on Implementation of Free Trade Agreements. 1 Ja‐ nuary 2018 - 31 December 2018, COM(2019) 455 final, Brüssel Felbermayr, Gabriel (2019): „Bilaterale Handelsabkommen sind kein Ersatz für Mul‐ tilateralismus“, in: Handelsblatt, 30. 6. 2019 6 Der Handel und die Handelspolitik der Europäischen Union 208 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 208 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 208 19.10.2020 12: 33: 45 19.10.2020 12: 33: 45 <?page no="209"?> Galar, Malgorzata (2012): „Competing within global value chains“, ECFIN Economic Brief, Issue 17, European Union Harte, Roderick (2018): „Multilateralism in international trade - Reforming the WTO“, European Parliament Briefing, Brussels 2018, Internet: https: / / www.euro parl.europa.eu/ thinktank/ de/ document.html? reference=EPRS_BRI%282017%296 03919 Krugman, Paul. R./ Obstfeld, Maurice/ Meltiz, Marc J. (2019): Internationale Wirt‐ schaftt: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 11. Auflage, Pearson Deutsch‐ land, Hallbergmoos Rudolf, Bettina (2017): Handeln für eine bessere EU-Handelspolitik - Mehr Legiti‐ mierung, Beteiligung und Transparenz, Internet: https: / / www.swp-berlin.org/ file admin/ contents/ products/ studien/ 2017S23_rff.pdf Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2005): Jahresgutachten 2005/ 2006 - Die Chancen nutzen - Reformen mutig vor‐ anbringen, Wiesbaden Schmucker, Claudia (2018): „Im Osten viel Neues - Freihandelsabkommen ohne die USA bieten Chancen für die EU“, in: Internationale Politik 3, S. 103-107 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz. Gutachten vom 7. Februar 2019, Berlin World Trade Organization (2017): Trade Policy Review - Report by the Secretariat - European Union, Genf, online: Internet: https: / / www.wto.org/ english/ tratop_e / tpr_e/ tp495_e.html World Trade Organization (2019a): World Trade Report 2019, Genf World Trade Organization (2019b): Trade Policy Review - Report by the Secretariat - European Union, Genf, online: Internet: https: / / www.wto.org/ englisch/ tratop_ e/ tpr_e/ tp495_e.htm Zakaria, Fareed (2009): Der Aufstieg der Anderen, Band 764, Bonn 6.7 Literatur 209 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 209 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 209 19.10.2020 12: 33: 45 19.10.2020 12: 33: 45 <?page no="210"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 210 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 210 19.10.2020 12: 33: 45 19.10.2020 12: 33: 45 <?page no="211"?> Teil 4: Die ausgabenträchtigen EU-Politiken 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 211 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 211 19.10.2020 12: 33: 46 19.10.2020 12: 33: 46 <?page no="212"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 212 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 212 19.10.2020 12: 33: 46 19.10.2020 12: 33: 46 <?page no="213"?> 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union Leitfragen Welche Ziele verfolgt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU? Wie werden Eingriffe in den Agrarmarkt theoretisch gerechtfertigt? Gibt es Vorteile einer Gemeinsamen Agrarpolitik gegenüber einer Agrarpolitik, die von den Mitgliedstaaten betrieben wird? Welche Instrumente werden im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpoli‐ tik eingesetzt? Welche Probleme sind mit der Gemeinsamen Agrarpolitik verbunden? 7.1 Einführung Nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs war die Überwindung der Lebensmittelknappheit in Europa und die Gewährleistung der Ernährungs‐ sicherheit der Bevölkerung von essenzieller Bedeutung. Hinzu kam, dass für die Landwirtschaft im Zuge der sektoralen Wirtschaftsentwicklung ein rückläufiger Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt und zur Gesamtbeschäfti‐ gung erwartet werden konnte (Drei-Sektoren-Hypothese von Clark und Fourastié). Politisch wurde mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ein 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 213 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 213 19.10.2020 12: 33: 46 19.10.2020 12: 33: 46 <?page no="214"?> Interessensausgleich vor allem zwischen Deutschland und Frankreich voll‐ zogen. Im Gegenzug für die Exporte landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich wurde der Marktzugang für die Industriegüter aus Deutschland geöffnet. Daher gehörte die GAP schon mit Beginn des Integrationsprozes‐ ses zu den zentralen Aufgabenbereichen der EU. Bereits im EWG-Vertrag von 1957 wurde in Artikel 3 die Einführung einer gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft verankert und dem Agrarsektor in den Ar‐ tikeln 38 ff. ein eigener Abschnitt gewidmet. Nach Erarbeitung der Grund‐ linien für eine gemeinschaftliche Agrarpolitik auf der Konferenz von Stresa/ Italien (1958) trat die GAP mit der Marktorganisation für Getreide schließ‐ lich im Jahr 1962 in Kraft (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Land‐ wirtschaft 2014). Die im Laufe der Zeit mehrfach reformierte GAP basiert auf drei Prinzipien: ■ Markteinheit: einheitliche Rahmenbedingungen auf dem gemeinsa‐ men Agrarmarkt ohne Beschränkungen im innergemeinschaftlichen Handel mit Agrarprodukten; ■ Gemeinschaftspräferenz: der landwirtschaftlichen Produktion in‐ nerhalb der EU wird gegenüber Produkten aus Drittländern der Vor‐ rang eingeräumt; ■ Finanzielle Solidarität: gemeinschaftliche Finanzierung der GAP aus dem EU-Haushalt. In Abb. 35 zeigt sich die starke Stellung der gemeinschaftlichen Agrarpo‐ litik an der Höhe der Agrarausgaben gemessen am EU-Budget (vgl. Euro‐ päische Kommission 2019a). Auch wenn der Mittelanteil für die Durch‐ führung der GAP im Laufe der Zeit deutlich reduziert wurde, beansprucht die Agrarpolitik knapp 39 % des Gemeinschaftshaushalts insgesamt (vgl. Kapitel 3). 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 214 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 214 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 214 19.10.2020 12: 33: 47 19.10.2020 12: 33: 47 <?page no="215"?> Abb. 35: Agrarausgaben absolut und in Prozent der EU-Ausgaben insgesamt, 1980-2018, Angaben in Preisen des Jahres 2011 Leider keine Vektorgrafik, können Sie das für den Druck optimieren, gerne in Graustufen Abb. 35: Agrarausgaben absolut und in Prozent der EU-Ausgaben insgesamt, 1980- 2018, Angaben in Preisen des Jahres 2011 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt Gemäß der Theorie der Wirtschaftspolitik sind Eingriffe des Staates in den‐ Marktprozess sorgfältig zu begründen (1. Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie). Welche Rechtfertigungsgründe für ein Marktversagen im Agrarsektor las‐ sen sich anführen? (vgl. Jovanović 2013, Köster 2016, Wagener/ Eger 2014). 7.2.1 Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter Agrarprodukte sind Güter mit einer geringen direkten Preis- und Einkom‐ menselastizität der Nachfrage. Damit es zur Markträumung kommt, werden bei unelastischer Nachfrage (-1 ≤ ε x,p = (Δx/ x)/ (Δp/ p) ≤ 0) steigende Mengen eines Gutes nur nachgefragt, wenn der Preis des betrachteten Gutes über‐ proportional sinkt. Dies geht mit Umsatzeinbußen in der Landwirtschaft einher. Demgegenüber bedeutet eine geringe Einkommenselastizität der Nachfrage (0 ≤ ε x,Y = (Δx/ x)/ (ΔY/ Y) ≤ 1) eine unterproportionale Zunahme der Güternachfrage bei steigendem Einkommen. Bezogen auf die Ausgaben für Nahrungsmittel gilt nach dem Engelschen Gesetz, dass der Einkom‐ 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 215 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 215 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 215 19.10.2020 12: 33: 47 19.10.2020 12: 33: 47 <?page no="216"?> mensanteil, der für Ernährung verwandt wird, mit steigendem Einkommen sinkt. In Abb. 36 ist das langfristige Gleichgewicht (p 0 ,x 0 ) auf dem Markt für Agrarprodukte im Schnittpunkt der Nachfragefunktion (N) und der Ange‐ botsfunktion (A) dargestellt. X 1 X 0 P 0 A A' X P N' N P 1 Abb. 36: Der Markt für Agrarprodukte Abb. 36: Der Markt für Agrarprodukte Produktivitätssteigerungen durch Rationalisierung und Innovation im land‐ wirtschaftlichen Sektor („grüne Revolution“) führen zu einer Rechtsver‐ schiebung der Angebotsfunktion von A nach A'. Im Zuge des wirtschaftli‐ chen Wachstums nimmt auch das gesamtwirtschaftliche Einkommen zu, so dass sich im Zeitablauf die Nachfragefunktion von N nach N' verlagert. Welche Auswirkungen davon auf die Preise der Agrarprodukte und damit auf die Umsätze der Landwirte ausgehen, hängt von den jeweiligen Elasti‐ zitäten ab. Verschiebt sich die Nachfragefunktion aufgrund der geringen Einkommenselastizität weniger stark als die Angebotsfunktion und wird gegebenenfalls sogar noch preisunelastischer, wird ein Preisdruck auftreten und der Preis von p 0 auf p 1 sinken. Entsprechend gehen die Umsätze von p 0 ,x 0 auf p 1 ,x 1 zurück. Bei fehlender Mobilität der eingesetzten Produktions‐ 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 216 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 216 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 216 19.10.2020 12: 33: 47 19.10.2020 12: 33: 47 <?page no="217"?> faktoren vermindert sich das Pro-Kopf-Einkommen in der Landwirtschaft und bleibt hinter der Einkommensentwicklung in anderen Wirtschaftssek‐ toren zurück. 7.2.2 Abweichende Produktionsbedingungen Gegenüber der industriellen Fertigung hängt die landwirtschaftliche Erzeu‐ gung von Umweltfaktoren ab. Witterungseinflüsse und Schädlingsbefall können Outputschwankungen und Preisausschläge auf den Agrarmärkten verursachen. Aufgrund des Erntezyklus sind kurzfristige Produktionsanpassungen in der Landwirtschaft nicht möglich. Abb. 37 enthält die Gleichgewichtssituationen auf dem Agrarmarkt für un‐ terschiedliche Witterungsverhältnisse. Bei gutem Wetter gilt die Preis-Men‐ gen-Kombination (p 0 , x 0 ), während sich bei schlechten Bedingungen eine geringere Menge und ein höherer Preis im Punkt (p 1 ,x 1 ) einstellt. X‚‘ - X' X' - X''' P' P 1 X A ' P A P 0 X' X 0 X 1 X''' X'' N Abb. 37: Stabilisierung auf dem Agrarmarkt 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 217 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 217 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 217 19.10.2020 12: 33: 48 19.10.2020 12: 33: 48 <?page no="218"?> Prinzipiell könnte eine Marktstabilisierung durch wirtschaftspolitische In‐ tervention erreicht werden, würde ein Preis p' = ½ (p 0 + p 1 ) für die Agrar‐ produkte genommen und eine Menge von x' bereitgestellt. Dies erfordert, dass Marktordnungsstellen das sich bei gutem Wetter ergebende Über‐ schussangebot (x'' x') aufkaufen, um damit den bei schlechtem Wetter auf‐ tretenden Nachfrageüberhang (x' x''') auszugleichen. In der Konsequenz werden witterungsunabhängig gleichbleibende Umsätze (p'x') im Agrarsek‐ tor realisiert. Neben der Lagerfähigkeit der landwirtschaftlichen Erzeug‐ nisse wird stark vereinfachend auch Gleichverteilung für das Auftreten der unterschiedlichen Wetterkonstellationen vorausgesetzt. Um solcher Art von Risiken wie Hageleinschlag und Dürreschäden zu begegnen, könnte anstelle staatlicher Markteingriffe die Etablierung von Versicherungslösungen er‐ wogen werden (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bun‐ desministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2010). Die Preisentwicklung auf den Agrarmärkten hängt aber auch von dem verstärkten Einsatz agrarischer Rohstoffe (Raps, Mais, Getreide) als Ener‐ gieträger (Box 44) und von der zunehmenden Spekulation mit Nahrungs‐ mitteln durch Finanzinvestoren ab (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2015, Broll/ Wojtyniak 2015). Box 44 | Teller-oder-Tank-Dilemma: Verwendung agrarischer Rohstoffe zur Nahrungsmittelproduktion oder als Energieträger? Pro: Begrenzte Reichweite fossiler Energieträger erfordert klimafreund‐ liche Alternativen der Energieproduktion. Energiediversifizierung min‐ dert die Importabhängigkeit und fördert Innovation und Beschäftigung im Agrarbereich. Kontra: Nahrungsmittelknappheit durch Bereitstellung von Ackerflä‐ chen zur Produktion energetisch verwendeter Agrargüter führt zu ei‐ nem Anstieg der Lebensmittelpreise, was insbesondere die Bevölkerung in Entwicklungsländern trifft. Eine indirekte Klimaschädigung tritt durch Abholzung von Regenwäldern für den Getreideanbau auf, weil auf den bisher zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Flächen Ener‐ giepflanzen angebaut werden. 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 218 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 218 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 218 19.10.2020 12: 33: 48 19.10.2020 12: 33: 48 <?page no="219"?> 7.2.3 Externalitäten Landwirtschaftliche Produktion ist mit vielfältigen Auswirkungen auf das natürliche Umfeld verknüpft. Negativen externen Effekten eines Umwelt‐ verbrauchs stehen positive externe Effekte gegenüber, die in der Schaffung naturnaher Lebensräume, der Bewahrung des Landschaftsbildes oder im Erhalt der biologischen Artenvielfalt bestehen. Soweit derartige Leistungen marktlich nicht berücksichtigt werden (vgl. Cooper/ Hart/ Baldock 2009), be‐ darf es der Intervention in Form staatlicher Regulierung oder des Einsatzes von Steuern und öffentlicher Ausgaben zur Internalisierung dieser Effekte. So mag die Flächenbewirtschaftung in einer Bergregion aus individueller Sicht nur begrenzt rentabel erscheinen; aus gesellschaftlicher Sicht trägt sie dazu bei, eine Bodenerosion zu verhindern, der Erdrutschgefahr vorzubeu‐ gen und das gewünschte Landschaftsbild zu erhalten („öffentliche Güter“). s P X x* x** K' E‘ ges E‘ priv Abb. 38: Positive externe Effekte im Agrarsektor Abb. 38: Positive externe Effekte im Agrarsektor In Abb. 38 werden die Konsequenzen einer positiven Externalität illustriert. Aus individueller Sicht wird die landwirtschaftliche Produktion im Ausmaß x* angestrebt, solange der private Grenzertrag (E' priv ) höher ist als die Grenz‐ kosten (K'). Da bei dieser Ausbringung der gesellschaftliche Vorteil (E' ges ) 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 219 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 219 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 219 19.10.2020 12: 33: 48 19.10.2020 12: 33: 48 <?page no="220"?> den individuellen Vorteil übersteigt, ist eine Ausdehnung der Bewirtschaf‐ tung auf x* * wünschenswert. Dies kann durch Gewährung einer Subventi‐ onszahlung in Höhe von s erreicht werden. 7.2.4 Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene Eine Akzeptanz wirtschaftspolitischer Interventionen in den Agrarmarkt reicht allein noch nicht aus, auch die Übertragung dieses Aufgabenbereichs auf die EU-Ebene schon zu rechtfertigen. Welcher Mehrwert resultiert aus einer gemeinschaftlichen Agrarpolitik gegenüber einer Agrarpolitik, die von den Mitgliedstaaten selbst durchgeführt wird (vgl. Europäische Kommission 2009)? ■ Eine Re-Nationalisierung der Agrarpolitik würde mit einer Auflösung des Prinzips der Markteinheit einhergehen, wenn die Staaten jeweils eigene Instrumente einsetzen, um den landwirtschaftlichen Bereich zu fördern. Nicht auszuschließen wäre sogar ein Subventionswettlauf im Agrarsektor und eine Politik, die sich auf Kosten der Nachbarlän‐ der (beggar-thy-neigbour-Politik) Vorteile zu verschaffen sucht. ■ Soweit der Einfluss starker nationaler Lobbyaktivitäten auf der EU-Ebene eher zurückgedrängt werden kann, wird durch die GAP sogar eine Ausgabeneinsparung auftreten. Unter Hinweis auf ein „common pool“-Problem (vgl. Kapitel 3) könnte dem allerdings ent‐ gegnet werden, dass die Finanzierung über einen gemeinsamen EU-Haushalt für die Mitgliedsländer Anreize setzt, höhere Ausgaben zu fordern als dies im Fall einer Mittelbereitstellung aus eigenen Bud‐ gets der Fall wäre (vgl. von Cramon/ Taubadel/ Heinemann/ Misch/ Weiss 2013). ■ Eine gemeinsame Politik, die den Zusammenhalt zwischen den Mit‐ gliedstaaten fördert, ist insbesondere bei grenzüberschreitenden Pro‐ blemen zielführend. Dies betrifft die Bereiche des Umweltschutzes, der Klimaveränderung, des Wassermanagements oder des Erhalts der biologischen Artenvielfalt, zu denen die GAP europäische Lösungs‐ ansätze beisteuern kann. 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 220 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 220 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 220 19.10.2020 12: 33: 49 19.10.2020 12: 33: 49 <?page no="221"?> 7.3 Ziele der GAP Die im EWG-Vertrag enthaltenen Ziele der GAP wurden auch im Lissa‐ bon-Vertrag in Artikel 39 AEUV aufgenommen. Danach soll die GAP: ■ die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des techni‐ schen Fortschritts, Rationalisierung der Produktion und durch best‐ möglichen Ressourceneinsatz vor allem der Arbeitskräfte steigern; ■ auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung insbesondere durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft eine angemessene Lebenshaltung ermöglichen; ■ die Märkte stabilisieren; ■ die Versorgung sicherstellen; ■ angemessene Verbraucherpreise gewährleisten. Verständnisfrage Welche Zielbeziehungen bestehen zwischen den agrarpolitischen Zie‐ len? Ergänzend wird angeführt, dass für die Gestaltung der GAP drei Rahmen‐ bedingungen zu beachten sind: ■ die besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit (sozialer Aufbau der Landwirtschaft, strukturelle und naturbedingte Unter‐ schiede der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete); ■ das Erfordernis, Anpassungen im landwirtschaftlichen Sektor geeig‐ net und stufenweise vorzunehmen; ■ die Erkenntnis, dass die Landwirtschaft einen Wirtschaftsbereich dar‐ stellt, der mit der Volkswirtschaft eng verflochten ist. Der Zielerreichung ist eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte zu‐ grunde zu legen, die als Maßnahmen „insbesondere Preisregelungen, Bei‐ hilfen für die Erzeugung und die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs- und Ausgleichsmaßnahmen, gemeinsame Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- oder Ausfuhr“ (Artikel 40 AEUV) umfassen. Als ge‐ meinsame Organisation der Agrarmärkte wurden für zahlreiche landwirt‐ schaftliche Erzeugnisse (von Bananen über Getreide, Milch, Reis, Obst und Gemüse bis hin zu Wein und Zucker) Marktordnungen eingerichtet, die mit der Verordnung „Einheitliche GMO“ (VO (EG) Nr. 1234/ 2007 zusammenge‐ 7.3 Ziele der GAP 221 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 221 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 221 19.10.2020 12: 33: 49 19.10.2020 12: 33: 49 <?page no="222"?> führt und gestrafft wurden. Mit Wirkung vom 1. Januar 2014 ist die neue Verordnung (EU) Nr. 1308/ 2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für land‐ wirtschaftliche Erzeugnisse in Kraft getreten. 7.4 Instrumente der GAP Zentraler Ansatzpunkt der gemeinschaftlichen Agrarpolitik war die Schaf‐ fung eines Preissystems, das in Abb. 39 skizziert wird. Die EU garantierte, dass die landwirtschaftliche Produktion zu einem politisch bestimmten Min‐ destpreis - dem Interventionspreis p I - abgenommen wird, der den Welt‐ marktpreis p W deutlich übertraf. Dies verschaffte dem landwirtschaftlichen Sektor Preis- und Planungssicherheit. Für Agrarimporte wurde ein über dem Interventionspreis liegender Schwellenpreis p S vorgegeben, der dem Welt‐ marktpreis einschließlich Abschöpfungen bzw. Zöllen (z) entsprach („Fes‐ tung Europa“). Genau genommen gab es mit dem Richtpreis p R noch einen weiteren Preis, der über den Schwellenpreis hinaus die Vermarktungs- und Transportkosten enthielt. Dieser Preis entsprach dem Preisniveau, das in der EU nach Auffassung der Agrarbehörden gelten sollte. Lag der tatsächliche Marktpreis (Erzeugerpreis) für Agrarprodukte unterhalb des Interventions‐ preises p I , wurde die Preisstützung wirksam; übertraf der Marktpreis den Richtpreis, konnte auf Importmengen vom Weltmarkt zurückgegriffen wer‐ den. Vereinfachend wird in Abb. 39 die Gleichheit von p R und p S neben der Konstanz des Weltmarktpreises angenommen. Verständnisfrage Warum wird der Schwellenpreis stets höher als der Interventionspreis sein? 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 222 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 222 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 222 19.10.2020 12: 33: 49 19.10.2020 12: 33: 49 <?page no="223"?> x A x N P x A N p S p I p W z A) EU als Nettoimporteur x* N x‘ A x* A B) EU als Nettoexporteur x‘ N p I p* I p W x N A‘ AÜ Abb. 39: GAP- Preissystem P Abb. 39: Das GAP-Preissystem In den Anfängen der GAP war die EU ein Nettoimporteur landwirtschaftli‐ cher Güter (Abb. 39 A). Beim Marktpreis gemäß p S wird die Menge x N nach‐ gefragt, die durch die inländische Produktion x A und die Importe (x N x A ) gedeckt wird. Im Vergleich zum Weltmarktpreis sinkt zwar die Konsumen‐ 7.4 Instrumente der GAP 223 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 223 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 223 19.10.2020 12: 33: 50 19.10.2020 12: 33: 50 <?page no="224"?> tenrente, aber beim Preis p S erhöht sich die Produzentenrente und die EU er‐ zielt Zolleinnahmen in Höhe von (x N x A )z. Für die EU als Nettoimporteur war die Interventionsregelung daher nur von begrenzter Relevanz. Ihre Be‐ deutung ergab sich im Zuge der Entwicklung der EU zum Nettoexporteur, als sich mit Ausdehnung der Produktion durch biologischen und technischen Fortschritt die Angebotsfunktion nach rechts verlagerte (Abb. 39B) und beim Preis p I Agrarüberschüsse (Getreide-, Rindfleisch-, Butterberge) erwirtschaf‐ tet wurden (AÜ). Um der Preissenkungstendenz entgegenzutreten, mussten die Mengen von der EU aufgekauft werden, was zu Interventionsausgaben von (x' A x' N ) p I führte. Dies erklärt den enormen Anstieg des Agrarbudgets. Da durch das Preisstützungssystem diejenigen Anbieter bevorteilt wurden, die viel produzierten, kam es zu einer stärker industrialisierten Nahrungsmittel‐ erzeugung und zu einem Konzentrationsprozess, der große landwirtschaftli‐ che Betriebe begünstigte. Die vom Markt genommenen Überschüsse mussten von der EU gelagert bzw. bei fehlender Lagermöglichkeit vernichtet werden. Alternativ bestand die Möglichkeit, die Produktionsmengen über Exporterstattungen im Ausmaß der Differenz zwischen p I und p W je Mengen‐ einheit am Weltmarkt anzubieten, was allerdings mit einem Druck auf den Weltmarktpreis einherging und Nachteile insbesondere für Länder mit ex‐ portorientiertem Agrarsektor (z. B. USA) hervorrief. Auch mittels angebots‐ bezogener Maßnahmen wie Flächenstilllegungsprogrammen oder der Zuwei‐ sung von Produktionsquoten auf die Mitgliedsländer im Rahmen der Garantiemengenregelung (Milchmarkt) konnte das Problem der Überschuss‐ produktion nicht gelöst werden. Eine Änderung der GAP war unvermeid‐ lich. Die frühen Jahre (1960er und 1970er) Nahrungsmittelsicherheit; verbesserte Produktivi‐ tät; Marktstabilisierung; Einkommensunterstützung Die Krisenjahre (1980er) Überproduktion; ausufernde Ausgaben; internatio‐ nale Reibungsmomente; strukturelle Maßnahmen GAP-Reform (1992) Verringerte Überschüsse; Umwelt; Einkommensstabilisierung; Haushaltsstabilisierung Agenda (2000) Vertiefung des Reformprozesses; Wettbewerbsfähigkeit; ländliche Entwicklung 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 224 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 224 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 224 19.10.2020 12: 33: 51 19.10.2020 12: 33: 51 <?page no="225"?> GAP-Reform (2003) Marktorientierung; Verbraucheranliegen; ländliche Entwicklung; Umwelt; Vereinfachung; WTO-Kompatibilität Gesundheitscheck (2008) Verstärkung der Reform 2003; neue Herausforderungen; Risikomanagement GAP-Reform (post 2013) Greening, stärkere Zielorientierung, Mittelumver‐ teilung, Ende der Produktionsbeschränkungen, Nah‐ rungsmittelketten, Forschung und Innovation Abb. 40: Reformen der GAP In Abb. 40 werden die verschiedenen Reformetappen überblicksartig aufge‐ listet (vgl. Europäische Kommission 2011, S. 2, leicht modifiziert). Im Zuge des Umgestaltungsprozesses der GAP erlangten die Direktzahlungen an die Landwirte zunehmende Bedeutung. Über diese Ausgaben im Rahmen der sog. 1. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik hinaus wurde mit der Ent‐ wicklung des ländlichen Raums die 2. Säule der GAP begründet. Anders als die 1. Säule der GAP, die vollständig aus dem EU-Haushalt finanziert wird, werden die Ausgaben der 2. Säule im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kofinanziert. Um die Probleme durch das Preisstützungssystem in den Griff zu bekom‐ men, wurden die Interventionspreise (z. B. für Getreide) abgesenkt, die sich den Weltmarktpreisen annäherten (Abb. 39B). Die Preisreduktion von p I auf p* I verringerte den Anreiz zur Überproduktion (x* A - x* N ) und beseitigte weitgehend die Preisverzerrungen am Weltmarkt für Agrar‐ produkte. Damit verlor das Preisstützungssystem seine Bedeutung als zentrales Instrument der Agrarpolitik. Eine Entlastung des Agrarbudgets trat allerdings nicht ein, da mit der Verminderung der Interventions‐ preise eine Einkommensreduktion für die Landwirte einherging, die durch Direktzahlungen aus dem Agrarhaushalt aufgefangen wurde. Der Einkommensausgleich im Umfang von (p I p* I )x' A übertraf sogar den Verlust an Produzentenrente (vgl. Köster/ El-Agraa 2011, S. 324) um ½ (p I p* I )(x' A x* A ). Die anfänglich an die Erzeugung gebundenen Einkom‐ mensbeihilfen wurden mit der Reform von 2003 weitgehend entkoppelt und als von der Produktion unabhängige Betriebsprämien zur Grundsi‐ 7.4 Instrumente der GAP 225 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 225 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 225 19.10.2020 12: 33: 51 19.10.2020 12: 33: 51 <?page no="226"?> cherung des Einkommens gewährt. Diese Trennung erlaubte es, land‐ wirtschaftliche Produktionsentscheidungen nicht mehr nach den ge‐ währten Subventionen, sondern an den Marktbedürfnissen auszurichten. Die Marktausrichtung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik wurde for‐ ciert. Um die Direktzahlungen der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen zu können, wurde die Gewährung von Einkommensbeihilfen an Ver‐ pflichtungen geknüpft (Cross-Compliance), bestimmte Grundanforde‐ rungen der landwirtschaftlichen Produktion für die öffentliche Gesund‐ heit, beim Umwelt- und Tierschutz, der Tier- und Pflanzengesundheit zu erfüllen. Um den erforderlichen Anpassungsprozess im Agrarsektor zu unterstüt‐ zen und der Landwirtschaft neue Betätigungsfelder zu eröffnen, wurde mit den Beschlüssen der Agenda 2000 die Basis für die Entwicklung des ländlichen Raums gelegt (2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik). Die Förderung betrifft Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbs‐ fähigkeit der Agrarwirtschaft (Humanressourcen, Produktionsbedingun‐ gen), zum Umweltschutz (Energieverbrauch, Emission) und zur Stärkung der ländlichen Strukturen (Dorferneuerung, Fremdenverkehr). Die Res‐ sourcen wurden durch eine Mittelumschichtung aus der 1. Säule der GAP zugunsten der 2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik (Modulation) gewonnen. Für die 1. Säule der GAP wurde institutionell der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und für die 2. Säule der Eu‐ ropäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) eingerichtet. Box 45 | Problematik der Direktzahlungen Ca. 72 % des gesamten EU-Agrarbudgets (Zeitraum 2014-2020) entfällt auf die Direktzahlungen, die dazu beitragen sollen, das betriebliche Ein‐ kommen der Landwirte zu unterstützen. In Deutschland belief sich ihr Anteil am Einkommen (Gewinn plus Personalaufwand) im Durchschnitt der letzten fünf Wirtschaftsjahre auf 37 Prozent (vgl. Deutscher Bun‐ destag 2019, S. 2). Bemängelt wird insbesondere die starke Konzentration der Direktzah‐ lungen auf die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die mit der Kon‐ zentration des Bodens korreliert. Abb. 41 zeigt, dass 80 % der Begüns‐ 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 226 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 226 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 226 19.10.2020 12: 33: 52 19.10.2020 12: 33: 52 <?page no="227"?> tigten in der EU etwa 20 % der Direktzahlungen erhalten bzw. umgekehrt auf 20 % der Empfänger rund 80 % der Fördersumme entfallen (vgl. Eu‐ ropäische Kommission 2019b, S. 7). Entsprechend beläuft sich der Wert des Gini-Koeffizienten auf ca. 0,75. In Deutschland lässt sich eine etwas gleichmäßigere Verteilung von Direktzahlungen auf die Begünstigten feststellen (Gini-Wert: 2/ 3). Da sich die Förderung proportional auf die von einem Betrieb bewirtschaftete Hektarfläche bezieht, können die der Landwirtschaft gesellschaftlich zugeschriebenen ökologischen Ziele durch diese Art der Direktzahlungen kaum erreicht werden (vgl. von Cramon-Taubadel 2017). Abb. 41: Verteilung der Direktzahlungen auf die Empfänger in der EU und in Deutschland, 2018 -10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 20 40 60 80 100 Auszahlungen kumuliert in % Begünstigte kumuliert in % Lorenz-Kurven EU und D EU D Abb. 41: Verteilung der Direktzahlungen auf die Empfänger in der EU und in Deutschland, 2018 Hinzu kommt, dass infolge der Kapitalisierung die Empfänger von Di‐ rektzahlungen nicht immer die tatsächlich Begünstigten sind. So finden Überwälzungen auf die Bodeneigentümer statt, wenn Pächter landwirt‐ schaftlicher Flächen die Zahlungen über die Bodenpacht an die Ver‐ pächter weiterreichen müssen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für 7.4 Instrumente der GAP 227 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 227 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 227 19.10.2020 12: 33: 52 19.10.2020 12: 33: 52 <?page no="228"?> Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2018, S. 26-42). Auch eine Überwälzung der Direktzahlungen auf die Bodenpreise kommt den Landeigentümern zugute. (vgl. Forstner/ Duden/ Ellßel/ Gocht/ Hansen/ Neuenfeldt/ Offermann/ de Witte 2018, S. 15-19). Kritiker der Direktzahlungen in dieser Form plädieren daher für deren Ab‐ schmelzung und weitergehend sogar für deren schrittweise Abschaf‐ fung. 7.5 Die GAP 2014-2020 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Ziele der GAP stellen sich zukünftig vor allem Herausforderungen, die aus dem Zusammenwachsen der Welt‐ wirtschaft, der Bewältigung von Umweltproblemen durch Klimawandel, Bodenerosion oder Wasserknappheit wie aus der Entwicklung und Stärkung der Lebensfähigkeit vieler vom Agrarsektor abhängigen ländlichen Regio‐ nen resultieren. Für den Zeitraum des mehrjährigen Finanzrahmens bis zum Jahr 2020 liegen der GAP drei Hauptziele zugrunde (vgl. Europäische Kommission 2010): Ziel 1: Rentable („viable“) Nahrungsmittelerzeugung Infolge der Globalisierung und Liberalisierung des Handelssystems wird die Landwirtschaft der EU in zunehmendem Maße dem Druck des internatio‐ nalen Wettbewerbs ausgesetzt, während gleichzeitig in Europa hohe Anfor‐ derungen an die Produktqualität, die Lebensmittelsicherheit und das Erfül‐ len von Umwelt- und Tierschutzstandards gestellt werden. Angesichts des weltweit zunehmenden Nahrungsmittelbedarfs ist die Wettbewerbsfähig‐ keit des landwirtschaftlichen Sektors in der EU zu steigern, um die Ernäh‐ rungssicherheit auch global erfüllen zu können (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirt‐ schaft und Verbraucherschutz 2012). 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 228 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 228 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 228 19.10.2020 12: 33: 52 19.10.2020 12: 33: 52 <?page no="229"?> Ziel 2: Nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und Klimamaßnahmen Die Landwirtschaft beeinflusst die ländlichen Räume und trägt maßgeblich zur Landschaftsgestaltung („Kulturlandschaft“) bei. Die ökologische und nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen schützt die Biodi‐ versität und hilft bei der Bewältigung des Klimawandels. Dessen negative Folgen für die Landwirtschaft können durch Förderung umweltgerechter Arbeitsmethoden und innovativer Technologien gemildert werden. Ziel 3: Ausgewogene räumliche Entwicklung Strukturschwächen ländlicher Gebiete mit Landflucht und Überalterung der Bevölkerung ziehen einen Anpassungsbedarf bei Infrastruktur und Grund‐ versorgungseinrichtungen nach sich, der sich nachteilig auf das gesell‐ schaftliche Zusammenleben auswirkt. Die Unterstützung der Landwirt‐ schaft und der Ausbau der lokalen Märkte erleichtern den Erhalt und die Gestaltung zukunftsfähiger Dorfstrukturen und des sozialen Gefüges in den ländlichen Regionen. Zur Erreichung dieser Ziele werden im Einzelnen zahlreiche Maßnahmen eingesetzt (vgl. Europäische Kommission 2013, Bundesministerium für Er‐ nährung und Landwirtschaft 2015b). Dazu zählen: ■ die Vertiefung der Marktorientierung: Abbau bestehender Produkti‐ onsbeschränkungen (Milchquote 2015, Zuckerquote 2017); Direkt‐ zahlungen nur noch an „aktive“ Landwirte zur Erhöhung der Zielge‐ nauigkeit der Fördergelder; Erleichterung der Anerkennung von Erzeugerorganisationen (Verordnung (EU) 2017/ 239); mehr Flexibili‐ tät für die Mitgliedstaaten durch begrenzte Mittelumschichtung zwi‐ schen 1. und 2. Säule der GAP. ■ eine ökologischere und gerechtere Ausrichtung: über die Basisprämie hinaus werden 30 % der Direktzahlungen („Ökologisierungszu‐ schlag“) an Umweltauflagen wie Anbaudiversifizierung, Bereitstel‐ lung ökologischer Vorrangflächen, Erhalt von Dauergrünland (Gree‐ ning) gebunden; Reservierung von 30 % der Mittel für die Entwicklung des ländlichen Raums für Maßnahmen des Umwelt- und Klimaschut‐ zes. 7.5 Die GAP 2014-2020 229 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 229 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 229 19.10.2020 12: 33: 53 19.10.2020 12: 33: 53 <?page no="230"?> ■ die Stärkung der ländlichen Entwicklung: engere Zusammenarbeit zwischen Agrarwirtschaft und Forschung; Förderung von Beratungs‐ diensten; Unterstützung von Junglandwirten und Landwirten in Ge‐ bieten mit naturbedingten/ sonstigen spezifischen Benachteiligungen. Box 46 | Grüne Kreuze, Traktoren-Demos und Agrarpaket der Bundesregierung Grüne Kreuze auf Äckern als beredte Zeichen des Protestes und massive Bauerndemonstrationen gehen weit über das vom Bundeskabinett im Herbst 2019 beschlossene Agrarpaket hinaus. Mit dem Aktionspro‐ gramm Insektenschutz soll der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel („Glyphosat“) und von Insektiziden stark eingeschränkt werden. Die Einführung eines (freiwilligen) staatlichen Tierwohllabels soll die Her‐ kunft tierischer Produkte kennzeichnen. Die Änderung des Direktzah‐ lungen-Durchführungsgesetzes ist mit einer Umschichtung von der ers‐ ten in die zweite Säule der Agrarpolitik verbunden, was zunächst mit einer Kürzung der Flächenprämie einhergeht. Schon die Anpassung der Düngeverordnung, um der EU-Nitrat-Richtlinie (91/ 676/ EWG) zum Grundwasserschutz und der Volksgesundheit zu entsprechen, bringt Landwirte bei Lagerung und Ausbringung der Gülle in Schwierigkeiten. Hinzu kommt die Sorge um mögliche Marktverwerfungen, die aus zu großen Zugeständnissen bei landwirtschaftlichen Produkten im Zuge der Verhandlungen über das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen re‐ sultieren. Angesichts des anhaltenden Strukturwandels, des Höfester‐ bens, von niedrigen Erzeugerpreisen und Verschärfung der Produkti‐ onsbedingungen durch zahlreiche Auflagen wehren sich die Landwirte dagegen, in der Öffentlichkeit als verantwortlich für Artensterben und Umweltproblematik gebrandmarkt zu werden („Bauernbashing“). Statt‐ dessen ist es Aufgabe der Politik, Zukunftsperspektiven zu entwickeln, wie die gesellschaftlich an die Landwirtschaft gestellten Anforderungen und das wirtschaftliche Auskommen der bäuerlichen Betriebe in Ein‐ klang gebracht werden können. 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 230 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 230 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 230 19.10.2020 12: 33: 53 19.10.2020 12: 33: 53 <?page no="231"?> 7.6 Die GAP post-2020 Mit dem Ziel einer ambitionierten gemeinsamen Agrarpolitik insbesondere beim Umwelt- und Klimaschutz wurde von der Europäischen Kommission (2017, 2018) ein Reformvorschlag für die GAP 2021-2027 vorgelegt. Den Mit‐ gliedstaaten wird grundsätzlich mehr Flexibilität zugestanden und eine stär‐ kere Verantwortung für den Einsatz der GAP-Mittel übertragen. Zu den Ele‐ menten des neuen Konzeptes gehören (vgl. Europäische Kommission 2019c): ■ Neues Umsetzungsmodell: Jeder Mitgliedstaat erstellt einen Strate‐ gieplan zur Erreichung der GAP-Ziele, in dem der jeweilige Hand‐ lungsbedarf und die vorgesehenen Interventionen niedergelegt wer‐ den. Dabei sind über die allgemeinen Ziele hinaus die folgenden spezifischen Ziele zu beachten: □ ein angemessenes Einkommen unterstützen, □ die Wettbewerbsfähigkeit steigern, □ die Machtverhältnisse in der Lebensmittelkette ausgleichen, □ den Klimawandel bekämpfen, □ den nachhaltigen Einsatz natürlicher Ressourcen fördern, □ die biologische Vielfalt schützen, □ den Generationenwechsel unterstützen, □ Arbeitsplätze und Wachstum fördern, □ eine hohe Lebensmittelqualität gewährleisten. ■ Die Kommission genehmigt diesen Plan und überwacht die Fort‐ schritte, die bei der Erreichung der Ziele gemacht wurden. Den Mit‐ gliedstaaten wird eingeräumt, bis zu 15 % der ihnen im Rahmen der GAP zugewiesenen Mittel von Interventionen in Form von Direkt‐ zahlungen auf Interventionen zur Entwicklung des ländlichen Raums und umgekehrt zu übertragen. ■ Die Direktzahlungen werden ein wesentlicher Teil der Politik bleiben. Allerdings ist vorgesehen, dass die Zahlungen an Betriebsinhaber ab 60.000 € gekürzt und für Zahlungen über 100.000 € je Betrieb gedeckelt werden. ■ Zur Förderung des Umwelt- und Klimaschutzes sind Öko-Regelungen („eco-schemes“) anzubieten, die aus den Mitteln der Mitgliedstaaten für Direktzahlungen (ohne Kofinanzierung) bereitgestellt werden. Über die Ausgestaltung ihrer Öko-Regelungen entscheiden die Mit‐ gliedstaaten selbst. 7.6 Die GAP post-2020 231 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 231 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 231 19.10.2020 12: 33: 53 19.10.2020 12: 33: 53 <?page no="232"?> In der Öffentlichkeit wird dieses neue Konzept der GAP intensiv diskutiert (vgl. z. B. Rechnungshof 2019, Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministe‐ rium für Ernährung und Landwirtschaft 2019, Pe’er u. a. 2019). Es bleibt ab‐ zuwarten, welche Modifikationen durch Europäisches Parlament und Rat beschlossen werden. 7.7 Schlussbemerkung In Box 47 werden zentrale Pro- und Kontra-Argumente der EU-Agrarpolitik summarisch zusammengefasst. Zu finden bleibt eine Balance zwischen Öko‐ nomie und Ökologie in der Landwirtschaft. Box 47 | Das Pro und Kontra der EU-Agrarpolitik Erfolgreiche EU-Agrarpolitik Die Vertreter der europäischen Agrarpolitik betonen die Leistungen des Agrarsektors für die Wohlfahrt der Menschen in Europa und rechtfer‐ tigen damit den hohen Anteil der Agrarpolitik an den Ausgaben der EU. Quantität und Qualität der Nahrungsmittel sind aus ihrer Sicht und mit Blick auf den internationalen Vergleich vorbildhaft, die Produktions‐ methoden tragen den modernen Erwartungen an Naturschutz und an nachhaltiger Bewirtschaftung Rechnung. Die Agrarstrukturpolitik hat aus dieser Perspektive den Strukturwandel erfolgreich begleitet, es kam zu einer maßvollen und die ökonomischen und ökologischen Rahmen‐ bedingungen berücksichtigenden Veränderung der Betriebsstruktur. Die Pflege der Landschaften, die zunehmend in den Blickpunkt der Ge‐ sellschaft und der Politik gerückt ist, ist erfolgreich gewesen, die hohe Lebensqualität in Europa ist auch dieser erfolgreichen Politik zu ver‐ danken. Die Reform der Agrarförderung ist ein Beispiel für die Anpas‐ sungsfähigkeit europäischer Politik. Kritik an der Agrarpolitik Die absolute Höhe der Zahlungen und ihr Anteil an den Gesamtausgaben der EU werden im In- und Ausland kritisiert. Im Ausland wird insbeson‐ 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 232 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 232 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 232 19.10.2020 12: 33: 54 19.10.2020 12: 33: 54 <?page no="233"?> dere die wettbewerbsverzerrende Wirkung der Agrarpolitik bemängelt, die EU-Agrarpolitik verdränge leistungsstarke Exporteure anderer Länder und substituiere einheimische Produktion in Entwicklungsländern. Die Kritik entzündet sich auch daran, dass die EU zu wenig in Zukunftstechnologien investiert. Die EU-Agrarpolitik wird häufig als intransparent gesehen. In osteuropäischen Ländern wird darauf verwiesen, die Agrarpolitik trage zu wenig den Bedürfnissen ihrer Landwirtschaft Rechnung. Kritiker fordern von der EU eine stärkere Orientierung an Prinzipien der Nachhaltigkeit („Öffentliches Geld für öffentliche Umweltleistungen“). Der Status quo der EU-Agrarpolitik sei der Macht der Agrarindustrie und der häufig auf groß‐ bäuerliche Interessen ausgerichteten Bauernverbände geschuldet. Verschie‐ dentlich wird eine Rückverlagerung agrarpolitischer Verantwortung auf die nationale Ebene gefordert. Die EU-Agrarpolitik muss sich aus Sicht der Kritik deutlich ändern. 7.8 Wichtige Begriffe Marktorganisation, Gemeinschaftspräferenz, Produktivitätssteigerun‐ gen, Externalitäten, Marktordnung, Interventionspreis, Einkommens‐ beihilfen, Biodiversität, räumliche Entwicklung 7.9 Literatur Broll, Udo/ Woityniak, Beate (2015): „Preisbildung bei Agrarprodukten“, in: wisu - das Wirtschaftsstudium, H. 7, S. 809-814 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2014): Geschichte der Ge‐ meinsamen Agrarpolitik, Stand: 25. 08. 14, Internet: www.bmel.de/ DE/ Landwirtsc haft/ Agrarpolitik/ _Texte/ GAP-Geschichte.html Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015a): Preisvolatilität und Spekulation auf den Märkten für Agrarrohstoffe, Berlin Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2015b): Umsetzung der EU-Agrarreform in Deutschland, Berlin 7.8 Wichtige Begriffe 233 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 233 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 233 19.10.2020 12: 33: 54 19.10.2020 12: 33: 54 <?page no="234"?> Cooper, Tamsin/ Hart, Kaley/ Baldock, David (2009): “The Provision of Public Goods Through Agriculture in the European Union“, Report Prepared for DG Agricul‐ ture and Rural Development”, Contract No 30-CE-0233091/ 00-28, Institute for European Environmental Policy: London Deutscher Bundestag (2019): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Steffi Lemke, weiterer Ab‐ geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Drucksache 19/ 7055 - Verankerung von Umwelt-, Klima- und Tierschutz in der Gemeinsamen Agrar‐ politik nach 2020, Drucksache 19/ 7867 Europäische Kommission (2009): Why do we need a Common Agricultural Policy? 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Stellungnahme, Berlin Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver‐ braucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2o18): Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020: Grundsatzfragen und Empfehlungen. Stellungnahme, Berlin Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Ver‐ braucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2o19): Zur effektiven Gestaltung der Agrarumwelt- und Klimaschutzpolitik im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU nach 2020. Stellungnahme, Berlin 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union 236 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 236 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 236 19.10.2020 12: 33: 55 19.10.2020 12: 33: 55 <?page no="237"?> 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik Leitfragen Welche Empfehlung gibt die neoklassische Wirtschaftstheorie hin‐ sichtlich der Kohäsion in Wirtschaftsräumen? Wie begründet die EU die Notwendigkeit der Regionalpolitik in der EU? Wie lässt sich die Architektur der Regionalpolitik beschreiben? Welche kritischen Einwände gegen die Regionalpolitik werden diskutiert? 8.1 Einführung In der Präambel des Lissabon-Vertrages wird das Selbstverständnis der Union als Gemeinschaft mit Blick auf regionale Disparitäten deutlich artikuliert: Die EU will den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, d.h. die Ko‐ häsion in der Union, fördern. Eine harmonische Entwicklung der Union als Gan‐ zes wird angestrebt. Die Lebensverhältnisse in der EU sollen durch geringe re‐ gionale Unterschiede des Entwicklungsstands gekennzeichnet sein, der Abstand zwischen den verschiedenen Regionen soll reduziert werden, ein besonderes Augenmerk erhalten die am wenigsten begünstigten Gebiete. Die Union be‐ 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 237 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 237 19.10.2020 12: 33: 56 19.10.2020 12: 33: 56 <?page no="238"?> kennt sich zur solidarischen Unterstützung der schwächsten Mitgliedstaaten. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat ein solches Bekenntnis Tradition. Im Grundgesetz wird auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse hingewiesen (Artikel 72, Absatz 2 GG). Zahlreiche Größen stehen zur Verfügung, um den Entwicklungsstand und die Qualität der Lebensverhältnisse zu erfassen und vergleichbar zu machen, und damit Handlungsbedarf für die Union zu identifizieren. Indikatoren der Outcome-Konvergenz im Sinne einer realen Konvergenz (z. B. Einkommen, Arbeitslosigkeit) stehen solchen der Input-Konvergenz (z. B. Innovations‐ leistung) gegenüber. Davon zu trennen ist die zyklische Konvergenz, die auf die Synchronizität des Konjunkturzyklus in den Euroländern abstellt (vgl. Dolls/ Fuest/ Krolage/ Neumeier/ Stöhlker 2018, S. 18 ff.). Die Betrachtung der Unterschiede des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf ist trotz der Kritik an dem Konzept hilfreich und üblich. Abb. 42 zeigt für ausgewählte Länder und für drei Jahre über den Zeitraum 2004-2018 die Entwicklung des durchschnittlichen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf. Die Werte sind im Vergleich zum EU-Durchschnitt angegeben und basieren auf den Daten, die um Kaufkraftunterschiede in den Ländern bereinigt wurden. Länder Jahr 2004* 2010* * 2018* * Vereinigtes Königreich 119 108 105 Deutschland 109 120 122 Italien 105 104 96 Spanien 98 96 91 Griechenland 82 85 68 Ungarn 61 65 71 Litauen 48 60 80 Polen 47 62 70 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 238 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 238 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 238 19.10.2020 12: 33: 56 19.10.2020 12: 33: 56 <?page no="239"?> Rumänien 32 51 65 Abb. 42: Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens in ausgewählten Mitgliedstaaten der EU Quelle: Eurostat 2019a; *) EU 25 = 100 **) EU 28 = 100 Der Abstand zwischen den reichen Ländern und den ärmeren Ländern ist in dieser Periode tendenziell gesunken, die ärmeren Staaten der Union konnten den Entwicklungsrückstand verringern. Gleichwohl bleiben die Unterschiede substantiell; gemessen in Kaufkraftparitäten beträgt beispielsweise das BIP pro Kopf in dem reichsten Land der EU, in Luxemburg das 5,1-fache des Wertes in Bulgarien, dem einkommensschwächsten Land der EU. Ein anderer Indikator, der ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse wirft und für die Bewertung des Zusammenhalts in der Union Verwendung findet, ist die Arbeitslosenquote (Zahl der Arbeitslosen als prozentualer Anteil der Erwerbspersonen). Nach der historischen Umwälzung in Europa in den 1990er-Jahren war die Arbeitslosigkeit in osteuropäischen Ländern ein schwerwiegendes Problem. Hier kam es mittlerweile zu einer deutlichen Entspannung. Die Eurokrise hat seit 2008 zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem in Ländern Südeuropas geführt. In vielen Ländern ist die Arbeitslosenquote zwischenzeitlich wieder gesunken. Abb. 43 zeigt die Verteilung der Arbeitslosigkeit im November 2019. Länder Arbeitslosenquoten Länder Arbeitslosenquoten Tschechische Republik 2,2 Dänemark 5,2 Deutschland 3,1 Luxemburg 5,5 Polen 3,2 Slowakei 5,7 Malta 3,5 Lettland 6,3 Niederlande 3,5 Litauen 6,4 Ungarn* * 3,5 Kroatien 6,5 Bulgarien 3,7 Finnland 6,7 8.1 Einführung 239 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 239 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 239 19.10.2020 12: 33: 57 19.10.2020 12: 33: 57 <?page no="240"?> Vereinigtes Königreich* 3,7 Portugal 6,7 Rumänien 4,0 Schweden 6,9 Estland* * 4,2 Zypern 7,7 Österreich 4,2 Frankreich 8,4 Slowenien 4,6 Italien 9,7 Irland 4,8 Spanien 14,1 Belgien 5,2 Griechen‐ land* 16,8 EU28 6,3 Abb. 43: Arbeitslosenquoten in der EU28, November 2019, saisonbereinigt Quelle: Eurostat 2020; * September 2019 ** Oktober 2019 Die Mitgliedstaaten mit der höchsten Arbeitslosenquote sind Griechenland, Spanien und Italien. In diesen Ländern ist nicht allein die allgemeine Ar‐ beitslosenquote, sondern auch die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern am höchsten. Ein Indikator, der einen Hinweis auf die langfristigen Wachstumsperspek‐ tiven zu geben vermag, ist die Innovationsorientierung, die beispielsweise durch die Ausgaben (pro Kopf) für Forschung und Entwicklung oder die Zahl der Patentanmeldungen erfasst werden kann. Die Europäische Kom‐ mission (2019) hat für den Zeitraum 2018 gegenüber 2011 vier Länder als Innovationsführer identifiziert (Dänemark, Finnland, die Niederlande und Schweden). Deutschland fällt in die zweite Gruppe der „starken Innovato‐ ren“ mit einer Innovationsleistung, die über oder nahe dem EU-Durchschnitt liegt. In der Schlussgruppe der „bescheidenen Innovatoren“ finden sich Bul‐ garien und Rumänien. Gemäß den Annahmen der Wachstumstheorie ist die Kohäsion für jene Länder, in denen Innovationsimpulse schwach ausgeprägt sind, auch mittelfristig gefährdet. 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 240 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 240 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 240 19.10.2020 12: 33: 57 19.10.2020 12: 33: 57 <?page no="241"?> Der Zusammenhalt in der Union kann nicht nur durch Unterschiede zwi‐ schen den Mitgliedstaaten, sondern auch durch Entwicklungsdivergenzen zwischen den Regionen der Mitgliedstaaten bedroht werden. Die folgende Abb. 44 zeigt die Spannweite der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, demonstriert am Unterschied zwischen den Regionen eines Landes mit dem höchsten und dem niedrigsten Wert. Besonders fällt die regionale Einkom‐ mensdisparität im Vereinigten Königreich auf. 34/ 2019 - 26. Februar 2019 BIP pro Kopf in 281 Regionen der EU Regionales BIP pro Kopf reichte im Jahr 2017 von 31% bis 626% des EU-Durchschnitts Drei Viertel der EU-Bevölkerung leben in Regionen mit einem BIP pro Kopf von über 75% des EU-Durchschnitts Im Jahr 2017 reichte das regionale BIP pro Kopf, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, von 31% des Durchschnitts der Europäischen Union (EU) in der Region Nordwestbulgarien bis 626% des Durchschnitts in der Region Inneres London - West im Vereinigten Königreich. Wie folgende Abbildung zeigt, sind erhebliche Unterschiede auf EU-Ebene und innerhalb der Mitgliedstaaten festzustellen. Diese Informationen sind Daten zu entnehmen, die von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, veröffentlicht werden. Unterschiede des regionalen BIP pro Kopf in den EU-Mitgliedstaaten, 2017 in KKS, EU28 = 100 Die Balken zeigen für jeden Mitgliedstaat den Abstand zwischen der Region mit dem niedrigsten Wert und der Region mit dem höchsten Wert an. In Bezug auf das regionale BIP pro Kopf führte im Jahr 2017 Inneres London - West im Vereinigten Königreich (626% des Durchschnitts) die Rangliste vor Luxemburg (253%), Süden in Irland (220%), Hamburg in Deutschland (202%), der Region Brüssel in Belgien (196%), Osten und Midland in Irland (189%) und Prag in Tschechien (187%) an. Im Jahr 2017 lag das BIP pro Kopf in 21 Regionen mindestens 50% über dem EU- Durchschnitt: fünf davon lagen in Deutschland, jeweils zwei in Irland, Österreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich und jeweils eine in Belgien, Tschechien, Dänemark, Frankreich, der Slowakei, Polen und Schweden sowie Luxemburg. In diesen 21 Regionen leben insgesamt 52,3 Millionen Menschen. In allen Mitgliedstaaten mit mehr als einer Region auf NUTS2-Ebene findet sich das höchste BIP pro Kopf in der Hauptstadtregion, mit Ausnahme von Berlin in Deutschland, Osten und Midland in Irland und Latium in Italien. Nach Nordwestbulgarien (31% des Durchschnitts) wurden die niedrigsten Werte in Mayotte in Frankreich und im Nördlichen Mittelbulgarien (je 34%) sowie im Südlichen Mittelbulgarien (35%) verzeichnet. Von den 20 Regionen mit einem BIP pro Kopf von weniger als 50% des EU-Durchschnitts befanden sich fünf in Bulgarien, 0 50 100 150 200 250 300 350 400 Luxemburg Irland Dänemark Niederlande Österreich Deutschland Schweden Belgien Finland Ver. Königreich Frankreich Malta Italien Spanien Tschechien Zypern Slowenien Estland Litauen Portugal Slowakei Polen Ungarn Griechenland Lettland Rumänien Kroatien Bulgarien Nationaler Durchschnitt EU28=100 650 550 Abb. 44: Einkommensunterschiede innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nach Regionen, 2017 Quelle: Eurostat 2019b Viele mit unterschiedlichen Messmethoden (Theil-Index, Gini-Index etc.) arbeitende empirische Studien belegen, dass die Ungleichheit der Lebens‐ verhältnisse innerhalb der Nationen der EU generell nicht abgenommen hat und von einer Konvergenz der Lebensverhältnisse in dieser Hinsicht nicht gesprochen werden kann. Insofern gibt es simultan eine Konvergenz zwi‐ schen den Ländern, ohne dass in den Ländern die Ungleichheit abnimmt. 8.1 Einführung 241 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 241 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 241 19.10.2020 12: 33: 58 19.10.2020 12: 33: 58 <?page no="242"?> Box 48 | Konvergenzkonzepte Konvergenz bedeutet, dass es zu einer Angleichung in der Wirtschafts‐ kraft zwischen den Mitgliedstaaten der EU über die Zeit hinweg kommt. Mit der Sigma-Konvergenz und der Beta-Konvergenz liegen zwei Mess‐ konzepte vor. Abb. 45 zeigt schematisch, dass sich die Variation der realen Pro-Kopf-Ein‐ kommen (y) in den Mitgliedstaaten zwischen den beiden Zeitpunkten t und t + T verringert. Da die Streuung einer Größe anhand ihrer Standardabwei‐ chung (Symbol: σ) gemessen wird, liegt Sigma-Konvergenz vor. Abb. 8-4: Schematische Darstellung der Sigma- Konvergenz Abb. -Nr.: 8 -2 . - Zeit t t + T y t + T y t pro-Kopf- Einkommen Abb. 45: Schematische Darstellung der Sigma- Konvergenz Abb. 45: Schematische Darstellung der Sigma-Konvergenz Soweit sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auch der Durch‐ schnittswert der Pro-Kopf-Einkommen verändert, wird auf den Variations‐ koeffizienten als Maß für die Streuung relativ zum Mittelwert zurückge‐ griffen. Abb. 46 enthält den Variationskoeffizienten des realen BIP pro Kopf der („alten“) EU-15-Staaten im Zeitraum zwischen 1950 und 2012. Während die Entwicklung der Einkommensdisparität bis zur Mitte der 1990er-Jahre eine sinkende Tendenz aufweist, scheint sich ab 2009/ 2010 krisenbedingt die Streuung der Pro-Kopf-Einkommenswerte zu erhöhen. Der fallende 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 242 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 242 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 242 19.10.2020 12: 33: 59 19.10.2020 12: 33: 59 <?page no="243"?> Trend in der Variation der Pro-Kopf-Einkommen insbesondere bis zur Fi‐ nanz- und Wirtschaftskrise wird für die 19 Eurostaaten und die EU-28 auch in neueren Untersuchungen festgestellt (vgl. Diaz del Hoyo/ Dorrucci/ Heinz/ Muzikarova 2017, EEAG 2018, S. 65-67; Franks/ Barkbu/ Blavy/ Oman/ Schoelermann 2018, S. 11-13). Dieser Konvergenzprozess gilt nicht nur für die Ebene der Mitgliedstaaten, sondern bestätigt sich auch auf der regionalen Ebene (vgl. Goecke/ Hüther 2016, S. 169). Abb. 46: Variationskoeffizient des realen BIP pro Kopf der EU-15-Staaten. Leider keine Vektorgrafik, können Sie das für den Druck optimieren, gerne in Graustufen Abb. 46: Variationskoeffizient des realen BIP pro Kopf der EU-15-Staaten Quelle: Goecke 2013, S. 7 Gegenüber der σ-Konvergenz stellt die Beta-Konvergenz auf die negative Korrelation zwischen den Wachstumsraten des BIP pro Kopf und dem Ausgangsniveau des BIP pro Kopf ab. Eine konvergente Entwicklung be‐ deutet, dass die Länder mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen eine höhere Wachstumsrate aufweisen müssen als Länder mit einem höheren Pro- Kopf-Einkommen. In einer Gleichung mit der Wachstumsrate des BIP pro Kopf als abhängige Variable und dem (logarithmierten) BIP pro Kopf als unabhängige Variable werden Betrag und Vorzeichen des Regressionspa‐ rameters (Symbol: β) der unabhängigen Variablen geschätzt. In Abb. 47 ist die entsprechende Regressionsgerade für die EU-28-Länder im Zeitraum 1995-2017 ausgewiesen. Dokumentiert wird, dass der Kon‐ 8.1 Einführung 243 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 243 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 243 19.10.2020 12: 33: 59 19.10.2020 12: 33: 59 <?page no="244"?> vergenzprozess vor allem durch die hohen (durchschnittlichen) Wachs‐ tumsraten in den osteuropäischen Mitgliedstaaten begründet wird. Abb. 47: Durchschnittliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf der EU-28-Staaten zwischen 1995 und 2017 in Abhängigkeit vom Logarithmus des BIP pro Kopf 1995 Quelle: Dolls/ Fuest/ Krolage/ Neumeier/ Stöhlker 2018, S. 11 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union Kohäsion zählt zu den gemeinsam verabredeten Zielen der Union. Folgt man der Logik, dass Kohäsion abhängig von gleichen Lebensverhältnissen in al‐ len Regionen der EU ist, ist nachfolgend zu klären, welche Handlungsemp‐ fehlungen daraus für die Wirtschaftspolitik abgeleitet werden können. Da‐ bei kann die Frage, welches wirtschaftspolitische Handeln geeignet ist, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse in einem Wirtschaftraum herbeizu‐ führen, sehr unterschiedlich beantwortet werden. Die Antwort wird auch beeinflusst von der Einschätzung der Wirkungsweise der Märkte, der Potenz staatlichen Handelns und der als verantwortlich angesehenen Ebene (vgl. Adam/ Mayer 2018). 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 244 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 244 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 244 19.10.2020 12: 34: 01 19.10.2020 12: 34: 01 <?page no="245"?> Die beste Kohäsionspolitik ist Ordnungspolitik und Vertrauen in die marktgetriebenen Prozesse Aus einer neoklassischen Sicht kann argumentiert werden, dass die wirt‐ schaftlichen Anpassungsprozesse stark genug sind, zu einer Gleichheit der Lebensbedingungen zu führen (vgl. Heinemann 2009, S. 8, Heinemann/ Hagen/ Mohl/ Osterloh/ Sellenthin 2010). Notwendig ist aus dieser Perspek‐ tive die Schaffung funktionierender Märkte, Zugänge zu Produktionsfakto‐ ren müssen ermöglicht werden, eine interventionistische auf Kohäsion aus‐ gerichtete Politik ist nicht erforderlich. Kohäsion findet dort statt, wo Staaten die richtigen Anreize für die Wirtschaftsakteure setzen, verlässliche Grundlagen für Investitionen schaffen, Löhne die Produktivität der Arbeit‐ nehmer widerspiegeln, wo Unternehmen die Möglichkeiten, die sich an den Standorten bieten, nutzen können. In funktionierenden Märkten, so die Überzeugung jener, die diese Position vertreten, kommt es zu Anpassungs‐ prozessen bei Löhnen und damit den Einkommen. Die Theorie der kompa‐ rativen Kostenvorteile und das Heckscher-Ohlin-Theorem beschreiben die Wirkungsweise der Marktmechanismen, welche die Attraktivität von zu‐ nächst unterentwickelten Regionen heben können und damit zur Kohäsion beitragen. Gemäß der Theorie spezialisieren sich Länder und auch Regionen auf jene Güter und Dienstleistungen, die von dem Produktionsfaktor Ge‐ brauch machen, der reichhaltig vorhanden ist. Kommt es in einer weit vom Zentrum entfernten Region zu hoher Arbeitslosigkeit und nicht zur Migra‐ tion der Arbeitskräfte, sinken tendenziell die Löhne und machen die Pro‐ duktion von Gütern und Dienstleistungen, die diesen Produktionsfaktor nutzen, wieder attraktiv. Unternehmen nutzen diese Kostenunterschiede und sorgen mittelfristig für einen Anstieg der Lebensbedingungen. Es kommt zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse. Kohäsion bedarf gezielter wirtschaftspolitischer Interventionen Die alternative Sicht betont, dass eine zielgerichtete Kohäsionspolitik erfor‐ derlich ist. Die Schaffung von Rahmenbedingungen reicht nicht aus, da die Marktkräfte und Marktprozesse entweder den Ausgleich der Lebensver‐ hältnisse nicht herbeiführen oder dies nur in langen sozial und politisch nicht akzeptablen Zeiträumen erreicht wird. Eine spezifische Politik zur Herstellung der Kohäsion ist notwendig. Die Argumentation rekurriert da‐ bei auf mehrere theoretische Überlegungen. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 245 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 245 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 245 19.10.2020 12: 34: 01 19.10.2020 12: 34: 01 <?page no="246"?> Kohäsion und infrastrukturelle Vorleistungen des Staates Zunächst wird auf die klassische Funktion des Staates verwiesen, die in‐ frastrukturelle Basis für Wachstum und Entwicklung zu garantieren. Der Staat muss Bildungsinvestitionen tätigen, er muss die physische Infra‐ struktur schaffen (vgl. Aschauer 1989). Der Staat hat mit seinen Investi‐ tionen die Externalitäten zu berücksichtigen, die im Kalkül der privaten Investoren nicht ausreichend bedacht werden. Regionalpolitik als Teil der Kohäsionspolitik ist somit klassische staatliche Wirtschaftspolitik und unerlässlich, um ein nachhaltiges Wachstum zu erzeugen. Zu beachten ist allerdings, dass die Regierungs- und Institutionenqualität kein Entwick‐ lungshemmnis darstellt, das regionale Einkommensdisparitäten zwischen den Mitgliedstaaten begründet oder verstärkt (vgl. Europäische Kommis‐ sion 2017a, S. 135-162). Kohäsion und Clusterbildung Mit Bezug auf die „neue Wirtschaftsgeografie“ wird auf die Tendenz zur geografischen Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten verwiesen. Ins‐ besondere die Beiträge von Paul Krugman zur Neuen Wirtschaftsgeographie und Michael Porter zu den Bedingungen der Herausbildung von Clustern haben die volkswirtschaftliche Diskussion über die Voraussetzungen er‐ folgreicher ökonomischer Entwicklung und der Bedeutung regionaler Wirt‐ schaftspole belebt. Ökonomen befassen sich heute verstärkt mit den Pro‐ zessen, welche das Entstehen von Räumen wirtschaftlicher Konzentration erklären können. Es lassen sich Cluster allgemeiner Konzentration (z. B. Pa‐ ris oder Hamburg) von Clustern mit speziellem Fokus (z. B. Automobilin‐ dustrie in Baden-Württemberg) unterscheiden. Weiterhin kann man nach Clustern mit einem zentralen „Ankerunternehmen“ (VW in Wolfsburg) und Clustern mit zahlreichen starken auch im Wettbewerb stehenden Akteuren (Finanzzentrum London oder Frankfurt/ Main) unterscheiden. In manchen Fällen ist die Entstehung des Clusters Ergebnis gezielter Wirtschaftsförde‐ rung, in anderen Fällen ist das Clusterergebnis unabhängig von staatlichen Initiativen entstanden. 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 246 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 246 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 246 19.10.2020 12: 34: 02 19.10.2020 12: 34: 02 <?page no="247"?> Box 49 | Die Neue Wirtschaftsgeografie Die Neue Wirtschaftsgeografie beschreibt die Kräfte, welche die weitere Konzentration unterstützen (Agglomerationskräfte) oder dieser entge‐ genstehen (Streuungskräfte). Die Agglomerationskräfte: Positive geografisch begrenzte externe Effekte der Produktion unterstützen die Clusterbildung ebenso wie das Vorhandensein eines großen spezifischen Arbeitsmarktes (Arbeitskräf‐ tepool). Die Agglomeration wird ebenso über die Nachfrage unterstützt, die durch vermehrte Beschäftigung in einer Region entsteht und es für andere Unternehmen attraktiv macht, dort zu investieren. Die Streuungskräfte: Löhne und Mieten in Ballungsräumen sorgen für eine umgekehrte Entwicklung. Mit wachsender Attraktivität des Ag‐ glomerationsraums kommt es zu Lohn und Preissteigerungen. Diese haben zur Folge, dass Unternehmen ihre Standortentscheidung über‐ denken und es in einigen Fällen zur Verlagerung der Industrie in andere Regionen kommt. Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik: In vielen Regionen be‐ müht sich die Wirtschaftsförderung einerseits gezielt um die Schaffung günstiger Bedingungen für die Entwicklung von Clustern. In einigen Fällen soll die Ansiedlung eines Ankerunternehmens den Nachzug wei‐ terer Produzenten herbeiführen. Andererseits lässt sich kritisch ein‐ wenden, dass staatliche Institutionen über kein besonderes Wissen über die Dynamik von Clusterbildung verfügen, eine gezielte Förderung mit‐ hin problematisch ist. Kohäsion und Sozialkapital Ein anderer theoretischer Ansatz, der ebenfalls zu erklären sucht, weshalb es zu dauerhaften persistenten Entwicklungsunterschieden kommt, stellt auf die Bildung von „Sozialkapital“ ab. Dieses in verschiedenen Varianten in der Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften reflektierte Phänomen des Vorhandenseins von Vertrauen, von Stabilität der sozialen Beziehungen in bestimmten Kontexten sucht zu erklären, warum es an bestimmten Orten zur Expansion kommt und an anderen nicht. Sozialkapital lässt sich als der 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 247 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 247 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 247 19.10.2020 12: 34: 02 19.10.2020 12: 34: 02 <?page no="248"?> Wert der sozialen Netzwerke für wirtschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. Putnam 2000a). Sozialkapital kann Ergebnis der Erwartung einer Gegenleistung für eine Handlung sein („spezifische Reziprozität“). Wichtig ist auch die „generelle Reziprozität“: Personen erbringen eine Vorleistung, ohne dass sie unmittel‐ bar konkrete Gegenleistungen erwarten. Dies erfolgt gleichwohl in der Er‐ wartung, dass andere ebenso handeln und in der langen Frist die erbrachte Vorleistung auch andere Personen veranlasst, so zu handeln. Je mehr eine Gesellschaft durch generelle Reziprozität gekennzeichnet ist, desto eher kommt es zur wirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Putnam 2000a, S. 21). So‐ zialkapital kann zwischen Akteuren entstehen, die in homogenen Gruppen eng miteinander arbeiten („verbindendes Sozialkapital“), und zwischen Menschen und Gruppen, die durch die Kooperation zusammengebracht werden („überbrückendes Sozialkapital“) (vgl. Putnam 2000b, S. 96). Die Überlegungen zu der Bedeutung des Sozialkapitals können für die Entwick‐ lung einer erfolgreichen Kohäsionspolitik nutzbar gemacht werden: Nicht der Aufbau der physischen Infrastruktur, der Straßen, der Flughäfen, der Industriegebiete ist entscheidend für die Entwicklung von Regionen, son‐ dern die Schaffung von Bedingungen für Vertrauen, für intakte Netzwerke, für das Wirken sozialer Gruppen, die gemeinsam an der Entwicklung einer Region arbeiten. Dies ist im Vergleich zur Schaffung der physischen Infra‐ struktur eine ungleich schwerere Aufgabe. Verständnisfrage Nehmen Sie die Position eines Kritikers der Kohäsionspolitik ein und argumentieren Sie, dass es einer gezielten Kohäsionspolitik nicht be‐ darf. Die Verantwortung für die Kohäsion in einer Mehrebenenpolitik Wird eine systematische Förderpolitik als notwendig erachtet, ist die Frage zu klären, welche institutionelle Ebene damit betraut werden soll. Während tendenziell Konsens besteht, dass Konzipierung und Umsetzung in den re‐ gionalen Verantwortungsbereich fallen (Subsidiaritätsprinzip), ist die Frage nach der Verantwortung insgesamt und der Finanzierung weniger leicht zu beantworten. 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 248 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 248 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 248 19.10.2020 12: 34: 03 19.10.2020 12: 34: 03 <?page no="249"?> Die Theorie des Fiskalischen Föderalismus kann hinsichtlich der Frage des Designs und der Umsetzung der Politik Orientierung geben. Haben die re‐ gionalpolitischen Maßnahmen starke externe Effekte, sind sie nur in koor‐ dinierten Aktionen sinnvoll. Hat die höhere Ebene kein ausreichendes Wis‐ sen über den Bedarf an Unterstützung in den einzelnen Regionen, so sind eher dezentrale Ansätze zu wählen. Box 50 | Pro und Kontra supranationale Verantwortung für regionale Disparitäten Pro supranationale Verantwortung: Mehrere Argumente werden von den Befürwortern einer supranational finanzierten Kohäsionspoli‐ tik vorgebracht: Es ist ethisch geboten, den Menschen in weniger ent‐ wickelten Gebieten vergleichbare Lebensverhältnisse zu ermöglichen; die Solidarität in Europa erfordert die Unterstützung; es ist auch im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Europäer, da schwierige Lebens‐ bedingungen in weniger entwickelten Regionen Spannungen in der Union produzieren. Die Migration in überlastete Agglomerationsräume ist nicht wünschenswert. Die Zufriedenheit mit der Politik der EU ist auch abhängig davon, dass regionale Unterschiede gering sind. Kontra supranationale Verantwortung: Die Staaten oder die Regio‐ nen sind grundsätzlich gemäß dem Subsidiaritätsprinzip für die Gestal‐ tung ihres Schicksals verantwortlich. Sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sorgt für Fehlanreize. Wenn in Mitgliedstaaten der Union die Bekämpfung der regionalen Ungleichheit eine niedrige politische Prio‐ rität hat, dann kann es nicht Aufgabe der Union sein, hier tätig zu wer‐ den. Der Wettbewerb der Länder oder Regionen um die beste Politik ist ein starker Mechanismus, um innovative Wege zu identifizieren. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 249 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 249 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 249 19.10.2020 12: 34: 03 19.10.2020 12: 34: 03 <?page no="250"?> 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik Der Begriff „Kohäsionspolitik“ bezeichnet den politischen Rahmen für Maß‐ nahmen zur Sicherung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zu‐ sammenhalts in der Union und der Solidarität auf europäischer Ebene. Seit vielen Jahren ist Kohäsion nach der Agrarpolitik der wichtigste Etatposten, in diesen Bereich fließen rund ein Drittel der Haushaltsmittel der EU. 8.3.1 Politische Interessen Die grundlegende Entscheidung für eine spezifische Politik zur Unterstüt‐ zung von Anpassungsprozessen in Regionen mit Entwicklungsdefiziten fiel bereits während der Verhandlungen über den Vertrag von Rom, als Italien auf Unterstützung für unterentwickelte Regionen drang: Der „Europäische Sozialfonds“ wurde geschaffen. Einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer ausdifferenzierten Regionalpolitik stellten die Verhandlungen im Rahmen der ersten Erweiterungsrunde dar: Auf Drängen des Vereinigten König‐ reichs wurde 1975 der „Europäische Fonds für Regionale Entwicklung“ ge‐ schaffen. Mit der Aufnahme weiterer Mitglieder aus dem Süden Europas in den 1980er-Jahren wuchs das politische Gewicht jener Länder, die wenig Interesse an dem Zugriff auf die Mittel aus der Agrarpolitik hatten, sondern stattdessen regionalpolitische Unterstützung einforderten. Mit der großen Erweiterung der EU im Jahr 2004 war in vielen Ländern der EU eine ver‐ gleichbare politökonomische Interessenlage gegeben: Die absolute Auswei‐ tung der Mittel für Regionalpolitik und ihr relativer Anteil an den Gesamt‐ ausgaben der EU wie auch die konkrete Ausgestaltung der Mittel ist ohne die politökonomische Konstellation und ohne das Abstimmungssystem im Rat der Europäischen Union, welches den betroffenen Ländern implizit eine Vetomacht ermöglichte, nicht zu verstehen (vgl. Baldwin/ Wyplosz 2019). 8.3.2 Rechtliche Grundlagen Die wichtigsten Regelungen zur Regional- und Kohäsionspolitik finden sich in Artikel 174-178 AEUV. Die Union verpflichtet sich zu einer Politik zur „Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Artikel 174 AEUV). Unterschiede des Entwicklungsstands der Regionen und der Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete sollen verringert wer‐ 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 250 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 250 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 250 19.10.2020 12: 34: 03 19.10.2020 12: 34: 03 <?page no="251"?> den. Während in Artikel 174 und 175 AEUV die Ziele und Mittel der Kohä‐ sionspolitik geregelt sind, finden sich die Rechtsgrundlagen der in der Ko‐ häsionspolitik wichtigen Fonds in Artikel 176-178, 162-164 und Artikel 40 AEUV. In einer übergreifenden Verordnung (VO(EU)Nr. 1303/ 2013) sind die allge‐ meinen Regelungen für die Umsetzung der Kohäsionspolitik festgelegt. Von der Kommission ist für den Zeitraum ab 2021 ein Vorschlag für eine Dach‐ verordnung (COM(2018) 375 final) vorgelegt worden, die gemeinsame Be‐ stimmungen für sieben Fonds mit geteilter Mittelverwaltung enthält. 8.3.3 Regionalpolitik und Marktprozesse Die Bedeutung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Rahmensetzungen für Kohäsion wird in Artikel 175 AEUV herausgestellt: „Die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, dass auch die in Artikel 174 genannten Ziele erreicht werden“. Bei der Gestaltung der Binnenmarktpolitik, der Wettbewerbspolitik und vieler anderer Politikfelder sollen die regionalpolitischen Implikationen bedacht werden. So soll bei‐ spielsweise die Freiheit des Kapitalverkehrs dazu beitragen, dass ausländi‐ sche Direktinvestitionen die Spezialisierungspotentiale, die in Regionen vorliegen, ausnutzen können, wenn etwa einheimischen Unternehmern der Zugang zu Kapital oder sonstigen komplementären Inputs fehlt. 8.3.4 Gezielte Regionalpolitik Wenn die allgemeine Wirtschaftspolitik nicht ausreicht, die Ungleichheiten zu beseitigen, so verpflichtet sich die Union zur gezielten Hilfe für die we‐ niger entwickelten Gebiete. „Die Union unterstützt auch diese Bemühungen durch die Politik, die sie mithilfe der Strukturfonds (Europäischer Ausrich‐ tungs- und Garantiefonds für die Landwirtshaft - Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finan‐ zierungsinstrumente führt“ (Artikel 175 AEUV). Die Regionalpolitik ist an den Europa 2020-Zielen ausgerichtet. Projekte, die im Rahmen der Kohäsionspolitik realisiert werden, sollen das von der EU angestrebte intelligente, nachhaltige und integrative Wachstum befördern. Jenseits einer reinen Umverteilung von Mitteln ist die Kohäsionspolitik da‐ 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik 251 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 251 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 251 19.10.2020 12: 34: 03 19.10.2020 12: 34: 03 <?page no="252"?> her wichtigstes investitionspolitisches Instrument der EU (vgl. Europäische Kommission 2017a, S. 176). Konkrete Zielvorgaben der Regionalpolitik sind ihr Beitrag zu „Investieren in Wachstum und Beschäftigung“ und „Europäi‐ sche territoriale Zusammenarbeit“. Der Kohäsionspolitik liegen im Einzelnen 11 thematische Ziele zur För‐ derung des Wachstums in der Periode 2014-2020 zugrunde. Daher ist der Gefahr vorzubeugen, dass es zu keiner Überfrachtung (policy overload) der Kohäsionspolitik kommt (vgl. Bachtler/ Polverari 2017, S. 25) und damit der vertraglich vorgesehene Kohäsionszweck verwässert wird (vgl. Busch 2018, S. 21). Ab dem Jahr 2021 wird die Kohäsionspolitik thematisch kon‐ zentriert und auf fünf Ziele ausgerichtet. Der Fokus liegt auf Investitionen vor allem in den Bereichen Innovation, Digitalisierung und CO 2 -arme Wirtschaft. Box 51 | Investitionsprioritäten der Kohäsionspolitik 2021-2027 ■ ein intelligenteres Europa durch Innovation, Digitalisierung, wirt‐ schaftlichen Wandel, Förderung kleiner und mittlerer Unterneh‐ men; ■ ein grüneres, CO 2 -freies Europa, das das Übereinkommen von Paris umsetzt und in die Energiewende, in erneuerbare Energien und in die Bekämpfung des Klimawandels investiert; ■ ein stärker vernetztes Europa mit strategischen Verkehrs- und Di‐ gitalnetzen; ■ ein sozialeres Europa, das die europäische Säule sozialer Rechte umsetzt und hochwertige Arbeitsplätze, Bildung, Qualifizierung, soziale Inklusion und den gleichberechtigten Zugang zu medizini‐ scher Versorgung fördert; ■ ein bürgernäheres Europa durch Unterstützung lokal geführter Ent‐ wicklungsstrategien und einer nachhaltigen Stadtentwicklung in der gesamten EU Quelle: Europäische Kommission 2018 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 252 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 252 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 252 19.10.2020 12: 34: 04 19.10.2020 12: 34: 04 <?page no="253"?> Die Umsetzung der Regionalpolitik erfolgt im Rahmen spezieller Fonds: der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Kohäsionsfonds und der Europäische Sozialfonds (ESF). Gemeinsam mit dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und dem Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF), die aus einer ande‐ ren Haushaltsrubrik (gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik) finanziert werden, bilden sie die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI- Fonds). Davon zu unterscheiden ist der Europäische Fonds für Strategische Investitionen (EFSI), der im Jahr 2014 mit dem Ziel einer Investitionsoffen‐ sive für Europa geschaffen wurde, um die im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise entstandene Investitionslücke zu schließen. Durch Risikobetei‐ ligung sollen private Investitionen in Europa mobilisiert werden. Zu den Förderprinzipien, an denen sich die Union orientiert, zählen mehr‐ jährige Programmplanung und partnerschaftliche Abstimmung, Zusätzlich‐ keit und Kofinanzierung, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Abb. 48 zeigt die Kohäsionsmittel, die im Zeitraum 2014-2020 zur Verfügung stehen. Vom Gesamtbetrag in Höhe von 474,3 Mrd. € entfallen 346,3 Mrd. € auf die EU, während 128 Mrd. € durch einzelstaatliche Kofinanzierung auf‐ gebracht werden. Der größte Teil der Mittel ist für weniger entwickelte Re‐ gionen (Einkommen von kleiner als 75 % des EU-Durchschnitts) vorgesehen. Übergangsregionen (Regionen im Wandel) mit einem Einkommen von 75%- 90 % des EU-Durchschnittseinkommens profitieren in geringerem Umfang von der Förderung. Auch für stärker entwickelte Regionen (Einkommen höher als 90 % des EU-Durchschnitts) werden Mittel bereitgestellt. Neben dem Pro-Kopf-BIP ist beabsichtigt, für die Zuweisung kohäsionspolitischer Mittel zukünftig auch solche Größen wie Jugendarbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau oder Migrantenanteil einzubeziehen. Spezielle Fördermaß‐ nahmen für die Unterstützung der europäischen territorialen Zusammen‐ arbeit ergänzen das Instrumentarium. Gemäß mehrjährigem Finanzrahmen stehen für den Zeitraum 2021-2027 an EU-Kohäsionsmitteln gut 330 Mrd. € zur Verfügung. 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik 253 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 253 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 253 19.10.2020 12: 34: 04 19.10.2020 12: 34: 04 <?page no="254"?> EU-Mittel* 2014-2020 Nationale Mit‐ tel* 2014-2020 EU-Mittel* * 2021-2027 Europäischer Fonds für regionale Entwicklung 199,1 79,7 200,6 Europäischer Sozialfonds 83,9 36,8 88,6* * * Kohäsionsfonds 63,3 11,5 41,3 Insgesamt 346,3 128 330,6* * * * Abb. 48: EU-Mittel und nationale Mittel der Kohäsionspolitik, in Mrd. EUR, * cohesiondata.ec.europa.eu; Stand: 21.10.2019; ** Mehrjähriger Finanzrahmen 2021-2027, *** ohne Betrag für Gesundheit, Beschäftigung und soziale Innovation (1 042 Mio. EUR); **** Rundungsabweichung Um den Verwaltungsaufwand der Kohäsionspolitik zu verringern, sind für die zukünftige Planungsperiode 2021-2027 einfachere administrative Rege‐ lungen des Zugangs zu EU-Mitteln und des Managements der Förderpro‐ gramme vorgesehen. Zudem sollen die Mittelzuweisungen für die letzten beiden Jahre (2026 und 2027) erst nach einer sog. Halbzeitüberprüfung er‐ folgen, um gegebenenfalls erforderliche Programmanpassungen vornehmen zu können (Europäische Kommission 2018). 8.3.5 Strukturfonds und Konditionalitäten Zur Gewährleistung der effizienten Nutzung der ESI-Fonds und zur Erhö‐ hung der Wirksamkeit der Kohäsionspolitik ist die Auszahlung von Förder‐ mitteln an die Einhaltung bestimmter Konditionalitäten gebunden. Mit den Ex-ante-Konditionalitäten soll die Qualität der Institutionen erhöht werden, die ein bestimmender Faktor für die Effektivität der eingesetzten Kohäsionsmittel darstellt (vgl. Europäische Kommission 2017a, S. 135-162). Daher sind angemessene politische und rechtliche Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten zu schaffen (good governance) und geeignete Verwaltungs‐ kapazitäten vorzuhalten. 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 254 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 254 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 254 19.10.2020 12: 34: 05 19.10.2020 12: 34: 05 <?page no="255"?> Die makroökonomische Konditionalität beinhaltet eine Verknüpfung der Förderung durch die Strukturfonds mit der wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, was die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts und die landesspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters für die wirtschaftliche Koordinierung angeht. Ziel ist es, die Re‐ gelkonformität der Mitgliedsstaaten im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung zu stärken (vgl. Europäisches Parlament 2012, Europäische Kom‐ mission 2017b, Becker 2018), damit die Kohäsionspolitik nicht durch un‐ günstige haushaltsmäßige und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den Mitgliedsländern konterkariert wird. Nach dem Kommissionsvorschlag zur Kohäsionspolitik nach 2020 ist beabsichtigt, das Konzept der makroökonomischen Konditionalität weiter auszubauen (vgl. Europäische Kommission 2018). Damit wird die wirt‐ schafts- und fiskalpolitische Position der Kommission gegenüber den Mit‐ gliedstaaten deutlich gestärkt. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik Die Beurteilung, in welchem Ausmaß die Kohäsionspolitik tatsächlich zu ökonomischer Konvergenz und Wirtschaftswachstum in Europa beiträgt, ist ambivalent. Einerseits verweist die EU-Kommission (2017a, S. 182-187) auf die gesamt‐ wirtschaftlichen Vorteile, die mit der Kohäsionspolitik verbunden sind. Auf der Basis makroökonomischer Modellsimulationen werden die Auswirkun‐ gen der Kohäsionspolitik auf das EU-BIP abgeleitet. Durch die eingesetzten Mittel in den beiden Förderzeiträumen 2007-2013 und 2014-2020 wird das BIP bis zum Jahr 2023 um mehr als 1 Prozent höher sein (auch unter Be‐ rücksichtigung der Finanzierung) als dies ohne kohäsionspolitische Maß‐ nahmen der Fall gewesen wäre. Noch stärker ist der BIP-Anstieg bis Ende des Durchführungszeitraums in den zentralen Empfängerländern. Als nach‐ teilig an diesen Resultaten wird allerdings das Fehlen eines kontrafaktischen Szenarios beurteilt (EEAG 2018, S. 76), das etwa eine Entwicklung bei alter‐ nativer Verwendung der Kohäsionsmittel aufzeigen würde. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik 255 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 255 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 255 19.10.2020 12: 34: 05 19.10.2020 12: 34: 05 <?page no="256"?> Andererseits gelangen empirisch-ökonometrische Untersuchungen eher zu skeptischen Ergebnissen zur Wirksamkeit der Kohäsionspolitik, die auf ab‐ nehmende Grenzerträge der eingesetzten Ressourcen und eine bestenfalls nur marginale Verminderung der interregionalen Disparität schließen las‐ sen. Angesichts der Variableninterdependenz sind aber auch diese Feststel‐ lungen mit Unsicherheiten verbunden, da es methodisch nicht einfach ist, die Kausaleffekte der Kohäsionspolitik zu isolieren (vgl. Dörr 2017, Busch 2018, EEAG 2018). Die kontroverse Diskussion über die Regionalpolitik wird in der folgenden Gegenüberstellung zusammenfassend dargestellt (vgl. Heinemann 2019, Economist 2012, Bergemann/ Müller/ Wettach 2014, Busch 2018). Box 52 | Pro und Kontra EU-Regionalpolitik Pro: Befürworter der Regionalpolitik sehen in der langfristig beobacht‐ baren Konvergenz der Lebensverhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten einen Beleg für den Erfolg der Politik. Einige unterentwickelte Gebiete haben deutlich aufgeschlossen und belegen die Wirksamkeit der Regio‐ nalpolitik. Die Förderung ist ein Akt der Solidarität und konsistent mit dem Geist der europäischen Einigung. Länder werden bei ihren Bemü‐ hungen unterstützt, gute Politik zu betreiben. Regionalpolitische Maß‐ nahmen haben durch ihre Akzentsetzung zu Wachstum beigetragen. Insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzkrise haben die EU-Fonds stabilisierend gewirkt, die in zahlreichen Mitgliedstaaten ein höheres Niveau an öffentlichen Investitionen ermöglichten als dies ohne Kohä‐ sionspolitik der Fall gewesen wäre. Die Kontrolle der Verwendung der Mittel ist angemessen. Angesichts des Umfangs der Mittel und der Unterentwicklung einiger Länder und Regionen sind administrative Schwächen nicht völlig auszuschließen. Das Monitoring wurde verbessert, Sanktionen wurden verhängt, Zah‐ lungen ausgesetzt, wo dies erforderlich war. Die EU hat detaillierte Re‐ gelungen verabredet, die für eine ordnungsgemäße Verwendung der Fördergelder sorgen. Für eine Reduktion des Verwaltungsaufwands könnte die Kontrolle des Mitteleinsatzes zwischen nachweislich effek‐ tiven Verwaltungen und Programmen und solchen mit hoher Fehleran‐ fälligkeit differenziert werden. Alle Länder profitieren von der Förde‐ 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 256 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 256 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 256 19.10.2020 12: 34: 05 19.10.2020 12: 34: 05 <?page no="257"?> rung, nicht allein die am wenigsten entwickelten Länder, sondern auch die stärker entwickelten Länder. Die territoriale Zusammenarbeit wird gestärkt. Kontra: Kritiker verweisen darauf, dass die Entwicklung auch ohne re‐ gionalpolitische Förderung so oder ähnlich verlaufen wäre. Einen Nachweis für die Wirksamkeit der Politik sehen sie darin nicht. Nicht der Vergleich „vorher/ nachher“, sondern „mit/ ohne“ ist relevant. Die Ei‐ genanstrengungen der Regionen und der Mitgliedstaaten werden durch die Hilfen von außen substituiert. Dies ist nicht „gelebte Solidarität“, sondern schlechte Politik. Die EU höhlt das Subsidiaritätsprinzip aus. Der Ausbau der Regionalpolitik zu einer Politik der allgemeinen Inves‐ titionsförderung geht mit einer Verlagerung der Zielrichtung einher, da ein wachstumsorientierter anstelle eines transferorientierten Ansatzes tritt. Durch die makroökonomische Konditionalität werden die Regio‐ nen im Falle von Mittelkürzungen bestraft, wenn die Zentralregierun‐ gen der Mitgliedstaaten keine solide Finanzpolitik betreiben und ihren Verpflichtungen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung nicht nachkommen. Es bleibt authentische Aufgabe der Mitgliedstaaten, innerhalb ihrer Länder für Kohäsion zu sorgen. Viele regionalpolitische Projekte sind durch eine niedrige soziale Rendite geprägt. In einigen Mitgliedstaaten sind schwerwiegende Betrugsfälle bekannt geworden. Die Glaubwürdigkeit der Union hinsichtlich der ordnungsgemäßen Ver‐ wendung der Mittel hat gelitten. Gemessen an der Höhe der verwalteten Mittel sind die zahlreichen Regelungen für die Verwendung der Mittel aus den Strukturfonds mit einem überproportionalen Verwaltungsauf‐ wand verbunden. Die „Umverteilungsmaschinerie“ der Regionalpolitik ist kontraproduktiv. Die Zahlungen reicher Länder an die EU, nur um dann später bürokratisch aufwändig Mittel wieder zurückzuerhalten, ist keine kluge Politik. Reiche Länder sollten keine Förderung für Regio‐ nalpolitik erhalten. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik 257 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 257 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 257 19.10.2020 12: 34: 05 19.10.2020 12: 34: 05 <?page no="258"?> 8.5 Schlussbemerkung Die Kohäsionspolitik ist neben der Agrarpolitik in fiskalischer Hinsicht das wichtigste Politikfeld der Union. Weniger entwickelte Regionen sehen in der Förderung ein hilfreiches und bedeutsames Instrument zur Unterstützung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Die Konzipierung einer Politik, die hohe soziale Renditen in unterentwickelten Gebieten erzeugt, ist kein einfaches Unterfangen, zumal die Unterentwicklung häufig mit niedrigem Bildungs‐ stand und schlechten Governance-Strukturen einhergeht, Faktoren also, die wiederum die Wirksamkeit der Regionalpolitik beeinträchtigen. Die stän‐ dige Überprüfung der Politik, die Anpassung der Schwerpunkte und Instru‐ mente ist eine Reaktion auf die Herausforderung, auf die Probleme und Er‐ fahrungen der Vergangenheit, auf die Kritik. Welches auch immer die Instrumente sind, die erfolgreich sind - das Ziel, in allen Regionen der Union angemessene Lebensverhältnisse zu sichern, bleibt eine wichtige Aufgabe für die Union. 8.6 Wichtige Begriffe Konvergenz, Konvergenzkonzepte, Einkommensdisparität, Ordnungs‐ politik, Regionalpolitik, Clusterbildung, Neue Wirtschaftsgeografie, Sozialkapital, Mehrebenenpolitik, Kohäsionsfonds, EFRE, Europäi‐ scher Sozialfonds, territoriale Zusammenarbeit 8.7 Literatur Adam, Hans/ Mayer, Peter (2018): „Kohäsion in der Europäischen Union“, in: wisu - das Wirtschaftsstudium, H. 12, S. 1378-1384 Aschauer, David Alan (1989): „Is public expenditure productive? “, in: Journal of Mo‐ netary Economics 23 (1989), S. 177-200 Bachtler, John/ Polverari, Laura (2017): Research for REGI Committee - Building Blocks for a future Cohesion Policy - First Reflections, European Parliament, Policy Department for Structural and Cohesion Policies, Brussels 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 258 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 258 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 258 19.10.2020 12: 34: 06 19.10.2020 12: 34: 06 <?page no="259"?> Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2019): The Economics of European Integration, 6. Auflage, London, McGraw-Hill Becker, Peter (2018): „Die Kohäsionspolitik als Instrument europäischer Wirtschafts‐ politik“, in: ifo Schnelldienst, Heft 12, S. 17-20 Bergemann, Melanie/ Müller, Stefanie/ Wettach, Silke (2014): „Der Milliardenwahn‐ sinn“, in: WirtschaftsWoche, 3. 2. 2014, S. 20-25 Busch, Berthold (2018): Kohäsionspolitik in der Europäischen Union. Bestandsauf‐ nahme und Neuorientierung. IW-Analysen 121. Herausgegeben vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V., Waiblingen Diaz del Hoyo, Juan Luis/ Dorrucci, Ettore/ Frigyes, Ferdinand Heinz/ Muzikarova, Sona (2017): Real convergence in the euro area: a long-term perspective, Occasi‐ onal Paper Series No 203, European Central Bank Dörr, Julian (2017): Die Europäische Kohäsionspolitik. Eine ordnungsökonomische Perspektive, Berlin, Boston, De Gruyter Oldenbourg Dolls, Mathias/ Fuest, Clemens/ Krolage, Carla/ Neumeier, Florian/ Stöhlker, Daniel: Convergence in the EMU: What and How? , In-Depth Analysis. Requested by the ECON committee, European Parliament, PE 614.502, Brüssel 2018 Economist (2012): „Too timid by half “, 1. Dezember 2012 EEAG (2018): EEAG Report on the European Economy: What now, With Whom, Where to - The Future of the EU, München: CESifo Europäische Kommission (2017a): Meine Region, mein Europa, unsere Zukunft. Siebter Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammen‐ halt, Luxemburg Europäische Kommission (2017b): Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, COM(2017) 291, 31. Mai 2017, Brüssel Europäische Kommission (2018): EU-Haushalt: regionale Entwicklung und Kohäsi‐ onspolitik nach 2020, Pressemitteilung, 29. Mai 2018, IP/ 18/ 3885, Straßburg Europäische Kommission (2019): European Innovation Scoreboard 2019, Luxemburg Europäisches Parlament (2012): Makroökonomische Konditionalitäten in der Kohä‐ sionspolitik. Themenpapier, Brüssel, Internet: www.europarl.europa.eu/ RegData / etudes/ note/ join/ 2012/ 474552/ IPOL-REGI_NT(20124)474552_DE.pdf 8.7 Literatur 259 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 259 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 259 19.10.2020 12: 34: 06 19.10.2020 12: 34: 06 <?page no="260"?> Eurostat (2019a): BIP pro Kopf in KKS, Index (EU28 = 100), Code: tec00114, Daten vom 1. Dezember 2019 Eurostat (2019b): BIP pro Kopf in 281 Regionen. Regionales BIP pro Kopf reichte im Jahr 2017 von 31 % bis 626 % des EU-Durchschnitts, 26. Februar 2019, Pressemit‐ teilung 34/ 2019 Eurostat (2020): November 2019. Arbeitslosenquote im Euroraum bei 7,5 %. In der EU28 bei 6,3 %, 9. Januar 2020, Pressemitteilung 4/ 2020 Franks, Jeffrey/ Barkbu, Bergljot/ Blavy, Rodolphe/ Oman, William/ Schoelermann, Hanni (2018): Economic Convergence in the Euro Area: Coming Together or Drifting Apart? IMF Working Paper, WP/ 18/ 10 Goecke, Henry (2013): „Europa driftet auseinander - Ist dies das Ende der realwirt‐ schaftlichen Konvergenz? “, IW-Trends, Vierteljahreszeitschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, IW-Studie 4/ 2013, S. 1-15 Goecke, Henry/ Huether, Michael: „Regional Convergence in Europe“, in: Intereco‐ nomics, vol. 51, No. 3, S. 165-171 Heinemann, Friedrich (2009): „Über die ökonomische Rechtfertigung regionalpoli‐ tischer Interventionen“, in: ZEW Wachstums- und Konjunkturanalysen, Jg. 12/ 3, September 2009, S. 8-9 Heinemann, Friedrich/ Hagen, Tobias/ Mohl, Philip/ Osterloh, Steffen/ Sellenthin, Mark O. (2010): Die Zukunft der EU-Strukturpolitik, ZEW Wirtschaftsanalysen, Schriftenreihe des ZEW, Bd. 94, Baden-Baden, Nomos Putnam, Robert D. (2000a): Bowling alone - The collapse and revival of American community, New York, Simon & Schuster Paperbacks Putnam, Robert D. (2000b): „Niedergang des sozialen Kapitals. Warum kleine Netz‐ werke wichtig sind für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Dettling, Warnfried (2000): Denken, Handeln, Gestalten. Neue Perspektiven für Wirtschaft und Ge‐ sellschaft, Frankfurt/ Main, Edition Politeia 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik 260 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 260 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 260 19.10.2020 12: 34: 06 19.10.2020 12: 34: 06 <?page no="261"?> Teil 5: Wirtschafts- und Währungsunion 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 261 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 261 19.10.2020 12: 34: 06 19.10.2020 12: 34: 06 <?page no="262"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 262 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 262 19.10.2020 12: 34: 06 19.10.2020 12: 34: 06 <?page no="263"?> 9 Währungspolitik und Europas Weg vom Bretton-Woods-System bis zum Europäischen Währungssystem Leitfragen Wie hat sich die Währungspolitik in der Nachkriegszeit entwickelt? Welche Lehren lassen sich aus der Theorie der optimalen Währungs‐ union für die europäische Währungsunion ableiten? Welche institutionellen Strukturen bestimmen die Geldpolitik in der Währungsunion? 9.1 Einführung Wichtig für das Verständnis der Währungsunion, ihrer Stärken und Schwä‐ chen, ihrer Vor- und Nachteile ist die Währungsgeschichte nach dem Zwei‐ ten Weltkrieg. Die währungspolitische Zusammenarbeit im Rahmen des Bretton-Woods-Systems bestimmte die Währungspolitik in der Nachkriegs‐ zeit bis 1973. Nach einer sechsjährigen Interimsphase einigten sich die west‐ europäischen Länder auf eine enge europäische Währungszusammenar‐ beit, bevor die Währungsunion die einheitliche Währung brachte. 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 263 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 263 19.10.2020 12: 34: 07 19.10.2020 12: 34: 07 <?page no="264"?> Bis zum Beginn der Währungsunion mussten sich die europäischen Länder entscheiden, ob sie feste oder flexible Wechselkurse bevorzugen. Jedes Sys‐ tem hat unterschiedliche Implikationen für die Wirtschaftspolitik, für die Geldpolitik und die Anpassung an makroökonomische Schocks. 9.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse Der Wechselkurs ist der Preis einer Währung, ausgedrückt in Einheiten ei‐ ner anderen Währung. Der Preis eines Euros in Einheiten von US-Dollar wird als „Mengennotierung des Euros“ bezeichnet. Wird hingegen angege‐ ben, wie viel Euro ein Dollar wert ist, bezeichnet man diesen Wert als die „Preisnotierung des Euros“. Von einer Aufwertung des Euros spricht man dann, wenn der Gegenwert des Euros in Dollar steigt, sich also die Men‐ gennotierung (Preisnotierung) des Euros verbessert (verschlechtert). Wie bei Gütern wird der Preis für Währungen durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Käufer von Waren im Ausland fragen Devisen nach, Verkäufer von Waren im Ausland erhalten Devisen und bieten diese an. Neben dem früher dominierenden Waren- und später dem Dienstleistungsverkehr er‐ gibt sich heute ein Großteil der Devisennachfrage und des Devisenangebots aus Finanztransaktionen. Die konkrete Form der Bestimmung des Preises hängt von dem von Regierungen oder Zentralbanken gewählten Wechsel‐ kursregime ab. Dabei sind insbesondere die beiden Idealformen „flexibles Wechselkurssystem“ und „festes Wechselkurssystem“ zu unterscheiden. In einem System flexibler Wechselkurse wird der Preis tagtäglich am Devi‐ senmarkt neu bestimmt. Zentralbanken beteiligen sich grundsätzlich nicht am Marktgeschehen, erhebliche Kursausschläge sind jederzeit möglich. In einem festen Wechselkurssystem legen Regierungen oder deren Zentral‐ banken einen Wechselkurs der betreffenden Währungen fest. Die Zentral‐ banken sind dann verpflichtet, durch Interventionen am Devisenmarkt Nachfrage- und Angebotslücken so auszugleichen, dass alle gewünschten Transaktionen zu dem festgelegten Kurs erfolgen können. 9 Währungspolitik und Europas Weg 264 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 264 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 264 19.10.2020 12: 34: 07 19.10.2020 12: 34: 07 <?page no="265"?> In Abb. 49-1/ 2/ 3 ergibt sich der Preis in US-$ für den Euro (Mengennotierung des Euros) aufgrund des Angebotes A und der Nachfrage nach Euro, darge‐ stellt durch die Nachfragekurve N 1 . Wenn sich die Nachfrage nach Euro erhöht, z. B. weil Amerikaner mehr Güter in Europa kaufen, lässt sich dies grafisch als Rechtsverschiebung der Nachfragekurve darstellen. Dann steigt der Preis des Euros: im Beispiel wird der Euro nun für 1,2 US-$ je Euro gehandelt. In US-$ gerechnet ist der Euro teurer geworden, in Euro betrach‐ tet erhält man mehr US-$ je Euro. Der Euro hat aufgewertet, der US-$ hat abgewertet. 9.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse 265 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 265 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 265 19.10.2020 12: 34: 07 19.10.2020 12: 34: 07 <?page no="266"?> Euro US-$/ Euro p 0 =1 p 1 =1,2 x 0 x 1 A N 1 N 2 Euro US-$/ Euro x 0 x 1 0,8 1,3 A N 1 N 2 p 1 p 0 Euro US-$/ Euro N 1 A N 2 x 0 x 1 1,3 N 3 x 2 x 3 0,8 p 1 p 0 Abb. 49-1: Preisbildung in einem flexiblen Wechselkurssystem bei steigender Nachfrage Abb. 49-2: Angebot und Nachfrage bei Veränderung innerhalb eines Bands Abb. 49-3: Angebot und Nachfrage bei steigender Nachfrage und notwendiger Intervention 9 Währungspolitik und Europas Weg 266 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 266 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 266 19.10.2020 12: 34: 08 19.10.2020 12: 34: 08 <?page no="267"?> In der Abb. 49-2 wählt die Zentralbank einen festen Wechselkurs mit einem Band um die gewählte Parität. Die Bandränder dürfen nicht überbzw. un‐ terschritten werden. Ergibt der Markt einen Wechselkurs von weniger als 1,30 US-$ pro Euro und mehr als 0,8 US-$ pro Euro, so bildet sich der Kurs wie in einem flexiblen Wechselkurssystem, d. h. ohne Intervention der Zen‐ tralbank; der Preis beläuft sich auf p 1 bei einer Menge von x 1 . In der Abb. 49-3 wird der Fall dargestellt, dass der durch das Marktangebot und die Marktnachfrage resultierende Kurs oberhalb des festgelegten Kurses von 1,30 US-$ pro Euro liegt, z. B. wegen einer besonders starken Nachfrage nach europäischen Gütern und damit einer starken Devisennachfrage der Amerikaner nach Euro. Jetzt ist die Zentralbank verpflichtet, mit Interven‐ tionen den Wechselkurs zu stabilisieren. Sie wird das Marktangebot x 2 durch das eigene Devisenangebot im Umfang von x 3 - x 2 ergänzen. Damit wird der Kurs am oberen Rand des Bandes stabilisiert. Die Befürworter flexibler Wechselkurse argumentieren, dass die Bestim‐ mung des Kurses über das ungehinderte Spiel der Marktkräfte den markt‐ gerechten Wechselkurs erbringt. Und selbst wenn konzediert wird, dass ge‐ legentlich Märkte zu Übertreibungen neigen, so sehen die Befürworter der Bestimmung der Kurse durch Märkte die implizite Annahme eines Wis‐ sensvorsprungs der Zentralbanken und der Politik als wenig überzeugend an. Die Zentralbanken sind in dem System frei schwankender Wechselkurse nicht zur Intervention gezwungen. Sie sind damit in ihrer Geldpolitik auto‐ nom, ein wichtiger Vorteil für die Ausgestaltung der nationalen Wirtschafts‐ politik. Spekulationen gegen die Zentralbanken haben in einem solchen System keinen Platz. Ein flexibles Wechselkurssystem gibt währungspoliti‐ schen Interessen der Regierungen weniger Raum zu Manipulationen. Der Wechselkurs spielt eine zentrale Rolle bei der Herbeiführung eines au‐ ßenwirtschaftlichen Gleichgewichtes. Bei einem Importüberschuss steigt die Nachfrage nach ausländischer Währung, da für die Durchführung der Transaktionen mehr ausländische Währung benötigt wird. In einem System flexibler Wechselkurse kommt es damit tendenziell zu einer Abwertung der eigenen Währung. Diese Abwertung der eigenen Währung sorgt nun bei gleichen Inlandspreisen in beiden Ländern dafür, dass die Importe (in eige‐ ner Währung gerechnet) teurer werden und die eigenen Exporte für die Handelspartner günstiger werden, da derselbe Inlandspreis aufgrund des neuen Wechselkurses für den Handelspartner weniger Devisen erfordert. 9.2 Die Wahl des Währungsregimes - feste versus flexible Wechselkurse 267 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 267 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 267 19.10.2020 12: 34: 08 19.10.2020 12: 34: 08 <?page no="268"?> Umgekehrt werden bei Vorliegen eines Exportüberschusses durch eine Auf‐ wertung der eigenen Währung Importe günstiger und Exporte teurer. Der Wechselkurs kann somit ganz entscheidend sein, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen. In einem System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse muss die Zentralbank bei einem Importüberhang und damit einer erhöhten Nachfrage nach ausländischer Währung mit dem Verkauf von Devisenbeständen ant‐ worten. Damit kommt es zu einem Abschmelzen der Devisenbestände der Zentralbank, gleichzeitig erhält sie im Gegenzug einheimische Währung. Wenn dieser Prozess über einen längeren Zeitraum anhält, ist die Zentral‐ bank gezwungen, in Abstimmung mit dem Handelspartner den Wechselkurs anzupassen. Box 53 | Wechselkursanpassung bei Inflationsdifferentialen und Ausgleich der Handelsströme Wenn Land A systematisch eine deutlich höhere Inflationsrate als Land B hat, dann ist tendenziell davon auszugehen, dass die Exporte des Lan‐ des A wegen der gestiegenen Inlandspreise zurückgehen und dessen Importe wegen der im Ausland günstigeren Preise zunehmen. Damit kommt es zu einem Handelsbilanzdefizit des Landes A. Wenn nun die Währung des Landes A abwertet, dann würden die Exporte des Landes A für die Handelspartner günstiger und umgekehrt würden die Importe teurer. Das Land könnte den Weg zurück zu einem außenwirtschaftli‐ chen Gleichgewicht finden, ohne dass im Inland die Nominallöhne und die nominalen Preise substantiell angepasst werden müssen. Zwar müs‐ sen die Bürger des Landes A nun mehr Inlandswährung für die Importe geben, so dass von einer Reallohnsenkung gesprochen werden kann; aber der Mechanismus funktioniert über den Wechselkurs und nicht über den politisch schwierig zu vermittelnden Anpassungsprozess von Löhnen und Preisen im Inland. Befürworter flexibler Wechselkurse sehen in dem Automatismus auf Wäh‐ rungsmärkten eine starke Kraft, welche tendenziell und zumindest mittel‐ fristig zu einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht hinführt. Gelegentli‐ che Phasen volatiler Kurse werden nicht abgestritten. Allerdings ist aus 9 Währungspolitik und Europas Weg 268 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 268 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 268 19.10.2020 12: 34: 08 19.10.2020 12: 34: 08 <?page no="269"?> dieser Perspektive die Auffassung, staatliche Akteure hätten einen Wis‐ sensvorsprung gegenüber Märkten und könnten die „richtigen“ Kurse fest‐ legen, nicht haltbar. Hingegen sind die Befürworter fester Wechselkurse skeptisch gegenüber den Marktkräften, welche durch Übertreibungen und Spekulation nicht zu einem Ausgleich der Güter- und Dienstleistungsströme beitragen. Mit einem Festkurssystem (mit Bandbreiten), so die Argumentation, wird ein heilsamer Druck auf die Politik erzeugt, eine verantwortungsvolle und stabilitätsori‐ entierte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Kurssicherungskosten werden ver‐ mieden, wechselkursrisikobedingte Zinsaufschläge entfallen und die Kosten in Folge spekulativer Kapitalbewegungen sinken. 9.3 Das Bretton-Woods-Regime - eine einfache Lösung für die Währungszusammenarbeit der europäischen Nationen Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in dem US-amerika‐ nischen Bretton Woods die Eckdaten der Währungsordnung der Nach‐ kriegszeit vereinbart: 1944 wurde ein „Abkommen über den Internationalen Währungsfonds“ unterzeichnet. Ein multilaterales System fester gegenüber dem US-Dollar fixierter Wechselkurse wurde eingeführt. Die beteiligten Währungen waren grundsätzlich konvertibel. Länder waren in ihren wirtschaftspolitischen Zielsetzungen unabhängig. Die an dem System be‐ teiligten Staaten verpflichteten sich zur Aufrechterhaltung der festen Wechselkurse, die festgelegten Paritäten durften jeweils 1 % nach oben und unten von dem so festgelegten Kurs abweichen, bevor die Zentralbanken verpflichtet waren, am Devisenmarkt mit Devisenkäufen oder -verkäufen zu intervenieren. Kam es jedoch zu erheblichen und dauerhaften Ungleich‐ gewichten in den Leistungsbilanzen der Länder und damit zu Spannungen auf dem Devisenmarkt, so wurden die Paritäten angepasst. Der Internatio‐ nale Währungsfonds übernahm die koordinierende Rolle in der Währungs‐ politik. Die Staaten waren grundsätzlich frei, die ihnen angemessen erschei‐ nende Geldpolitik zu verfolgen (vgl. Deutsche Bundesbank 2016, S. 33-36). 9.3 Das Bretton-Woods-Regime 269 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 269 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 269 19.10.2020 12: 34: 09 19.10.2020 12: 34: 09 <?page no="270"?> Ende der 1960er-Jahre stiegen die Spannungen in dem System. Die Hetero‐ genität der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder - und damit deren Wachstumsraten - war groß und führte zur Belastung des Systems. Auch die Inflationsraten der Länder unterschieden sich erheblich. Signifi‐ kante Leistungsbilanzungleichgewichte waren die Konsequenz. Die US-Wirtschaft war durch den Vietnamkrieg besonderen Herausforderungen ausgesetzt, es kam zu einer erheblichen Ausweitung der Geldmenge, und damit sank aufgrund der limitierten Goldvorräte das Vertrauen in die De‐ ckung des US-Dollars durch Gold. Die Rolle des US-Dollars als Leitwährung und die Golddeckung des US-Dollars erwiesen sich als Hypothek für das Währungsregime. Die USA beendeten im Jahr 1971 die Gold-Bindung des US-Dollars. Aus dem Gold-Dollar-Standard wurde ein Dollar-Standard. Nach einem Versuch der Rettung des Systems durch die Ausweitung der Schwankungsbreiten im Rahmen des „Smithsonian Agreements“ endete schließlich im Jahr 1973 auch formal das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse mit dem US-Dollar als Leitwährung. Die USA entschieden sich grundsätzlich für flexible Wechselkurse, die sie seit dieser Zeit gegenüber der großen Mehrzahl ihrer Handelspartner haben. 9.4 Auf der Suche nach einer europäischen Nachfolgeregelung für das Bretton-Woods-Regime Aufbauend auf theoretischen Vorarbeiten in den 1960er-Jahren und in Anti‐ zipation eines denkbaren Endes der Paritäten gegenüber dem US-Dollar wurde im Jahr 1970 der sogenannte „Werner-Plan“ vorgestellt. Der damalige luxem‐ burgische Ministerpräsident Werner hatte eine Arbeitsgruppe geleitet, wel‐ che Vorschläge für die Entwicklung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zum Inhalt hatte. Dieser Plan sah die Koordination der Wirt‐ schaftspolitiken der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Vorbereitung auf die Einführung einer Währungsunion vor. Ein Konsens über diesen aus der damaligen Sicht kühnen Schritt konnte jedoch nicht erzielt werden. Vor dem Hintergrund des Endes des Bretton-Woods-Systems dominierte in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das Unbehagen über flexible Wech‐ selkurse für den Handel innerhalb der Gemeinschaft. Im Jahr 1972 unter‐ zeichneten die damaligen sechs EWG-Länder das „Basler Abkommen zwi‐ schen den EG-Notenbanken“, welches feste Paritäten zwischen den 9 Währungspolitik und Europas Weg 270 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 270 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 270 19.10.2020 12: 34: 09 19.10.2020 12: 34: 09 <?page no="271"?> Währungen der EG-Mitgliedstaaten vorsah. Diese sollten innerhalb einer Bandbreite von +/ -2,25 % um die festgelegte Parität schwanken dürfen. Großbritannien, Irland und Dänemark schlossen sich dem System an. Die Notenbanken verpflichteten sich zur gegenseitigen Hilfestellung bei den notwendigen Interventionen am Devisenmarkt. Die Kurse bewegten sich somit gemeinsam gegenüber anderen Währungen wie dem US-Dollar oder dem japanischen Yen, woraus sich der in der Öffentlichkeit dafür benutzte Begriff „Währungsschlange“ herleitet. Auch in diesem System kam es zu beträchtlichen Spannungen. In Folge abweichender wirtschaftspolitischer Prioritätensetzungen gab es erhebliche Unterschiede in den Steigerungsra‐ ten der Preise und Nominallöhne; die Anpassung der Paritäten war regelmäßig notwendig und unvermeidlich, wollte man den Aufbau großer außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte und Veränderungen der Wäh‐ rungsreserven der Notenbanken verhindern. Staaten wie etwa Frankreich mussten temporär das Festkursystem verlassen. Ende der 70er-Jahre kris‐ tallisierte sich ein Hartwährungsblock heraus, mit Deutschland, den Nie‐ derlanden, Belgien, Luxemburg und Dänemark. Diese Staaten verfolgten grundsätzlich eine stabilitätsorientierte Politik, während die weiteren Mit‐ gliedstaaten der Gemeinschaft andere wirtschaftspolitische Ziele in den Mittelpunkt ihrer Politik rückten. Insbesondere der Konflikt zwischen Be‐ kämpfung der Inflation und der Arbeitslosigkeit spielte eine große Rolle und wurde von den Regierungen unterschiedlich gesehen. Box 54 | Arbeitslosigkeit oder Inflation - Die Phillipskurve Der Ökonom Alban Phillips hatte für Großbritannien für einen fast hundertjährigen Zeitraum (1861-1957) einen stabilen negativen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Nominallöhne und der Ar‐ beitslosenquote ermittelt. Auch für andere Länder wurde ein ähnlicher Zusammenhang beobachtet. Der über die Arbeitsproduktivität hinaus‐ gehende Lohnanstieg schlägt sich in einer höheren Inflationsrate nieder (cost-push). Für die Wirtschaftspolitik schien ein Zielkonflikt zu beste‐ hen: Will eine Regierung eine niedrigere Arbeitslosenquote realisieren, so kann dies durch eine leicht höhere Inflationsrate erreicht werden. Dieses Denken war in Europa und den USA einflussreich, in einigen Ländern wurde mit Verweis auf diese Erkenntnis eine höhere Inflation zugelassen. 9.4 Nachfolgeregelung für Bretton-Woods-Regime 271 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 271 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 271 19.10.2020 12: 34: 09 19.10.2020 12: 34: 09 <?page no="272"?> In den 80er-Jahren wuchs die Skepsis gegenüber dem postulierten Zu‐ sammenhang. In vielen Ländern waren beide Raten gestiegen. Robert Lucas, Milton Friedman und andere argumentierten, dass Wirtschafts‐ subjekte langfristig aus den Inflationserfahrungen lernen und ihre Er‐ wartungen anpassen. Ist dies der Fall, kann die Beschäftigung durch In‐ flation nicht positiv beeinflusst werden. Die langfristige Phillipskurve verläuft vertikal. Arbeitslosenquote Inflationsrate Phillipskurve kurzfristig Phillipskurve langfristig Abb. 50: Die kurz- und langfristige Phillipskurve Abb. 50: Die kurz- und langfristige Phillipskurve Viele Ökonomen halten jedoch an dem Zusammenhang fest, sehen die Annahme rationaler Erwartungen als wirklichkeitsfremd an und erach‐ ten mit Blick auf die Beschäftigungssicherung eine übermäßig restrik‐ tive Geldpolitik zur Durchsetzung besonders niedriger Inflationsraten als kontraproduktiv (vgl. Akerlof/ Shiller 2009, S. 107-115). Analytisch wird die Phillipskurve als ein konzeptioneller Rahmen für die Untersuchung und Vorausschätzung der Inflationsentwicklung so‐ wohl für die einzelnen Euroländer wie für das Euro-Währungsgebiet insgesamt verwandt. Dabei werden verschiedene Spezifikationen für Phillipskurven-Beziehungen zwischen dem Anstieg der Preise und un‐ terschiedlichen Messgrößen der wirtschaftlichen Unterauslastung zu‐ grundegelegt (vgl. Europäische Zentralbank 2014, Bobeica/ Sokol 2019). 9 Währungspolitik und Europas Weg 272 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 272 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 272 19.10.2020 12: 34: 10 19.10.2020 12: 34: 10 <?page no="273"?> 9.5 Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 - Europas Präferenz für feste Wechselkurse Im Jahr 1979 wurde vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen das System weiterentwickelt: Das Europäische Währungssystem trat in Kraft. Die Vereinbarung beinhaltete ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse mit Schwankungsbreiten von 2,25 % um die vereinbarte Pa‐ rität, für einige Länder allerdings mit erweiterten Bandbreiten von +/ -6 %. Die Europäische Währungseinheit ECU (European Currency Unit) wurde geschaffen, eine künstliche Größe, die sich aus einem Korb europäischer Währungen zusammensetzte. Die Staaten verabredeten einen Kreditmecha‐ nismus, der die gegenseitigen Hilfen der Zentralbanken der beteiligten Staa‐ ten regelte. Die Erfahrungen während des Bretton-Woods-Systems und der Zeit der Währungsschlange hatten den Staaten gezeigt, dass währungspolitische Stabilität die Bereitschaft der Staaten voraussetzt, zu einer wirtschaftspoli‐ tischen Abstimmung zu kommen. Unterschiede in den Inflationsraten waren in den 70er-Jahren ein großes Problem; im Jahr 1979 hatte beispielsweise Deutschland eine Inflationsrate von 2,7 % p. a. gegenüber Italien mit einer Rate von jährlich 12,1 %. Diese Unterschiede nahmen seit Mitte der 80er-Jahre sukzessive ab. Gleichwohl gab es auch in den 80er-Jahren vielfach noch Turbulenzen, die Paritäten mussten zwischen März 1979 und Januar 1987 elf Mal angepasst werden. Das Band um die vereinbarte Parität musste im Jahr 1993 für die meisten Länder auf +/ -15 % ausgeweitet werden. Groß‐ britannien und Italien sahen sich gezwungen, für einige Zeit den Wechsel‐ kursmechanismus zu verlassen. Einige Länder führten wieder Kapitalver‐ kehrskontrollen ein (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019). Box 55 | Trilemma des Wechselkursregimes Während dieser Phase der Währungszusammenarbeit (von 1979-1989) wurde immer wieder deutlich: Feste Wechselkurse, freier Kapitalverkehr und geldpolitische Autonomie implizieren einen Zielkonflikt, der die gleichzeitige Erreichung aller drei Ziele ausschließt - ein als „Trilemma des Wechselkursregimes“ bezeichnetes Problem. Es sind stets nur maximal zwei Ziele gleichzeitig erreichbar. Beispielsweise kann ein Land geldpoli‐ 9.5 Das Europäische Währungssystem von 1979-1989 273 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 273 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 273 19.10.2020 12: 34: 10 19.10.2020 12: 34: 10 <?page no="274"?> tisch nicht mehr autonom handeln, wenn es freie Kapitalbewegungen zu‐ lässt und gleichzeitig Wechselkursstabilität garantieren möchte: Ein star‐ ker Zufluss von Kapital würde eine Wechselkursaufwertung herbeiführen. Da Wechselkursstabilität gegeben sein soll wird die Zentralbank ausländi‐ sche Währung kaufen und eigene Währung verkaufen und damit die ei‐ gene Geldmenge erhöhen. Damit wäre das dritte Ziel verletzt. geldpolitische Autonomie Wechselkursstabilität freie Kapitalbewegungen flexibler Wechselkurs Abb. 51: Trilemma des Wechselkursregimes Abb. 51: Trilemma des Wechselkursregimes Quelle: Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2019 Verständnisfrage Erläutern Sie am Beispiel eines festen Wechselkurses, warum eine Po‐ litik der Kapitalverkehrskontrollen die geldpolitische Autonomie si‐ chern kann. 9 Währungspolitik und Europas Weg 274 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 274 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 274 19.10.2020 12: 34: 11 19.10.2020 12: 34: 11 <?page no="275"?> 9.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa Bereits Ende der 80er-Jahre, aber mit Entschiedenheit vor allem zu Beginn der 90er-Jahre wurde die Entscheidung getroffen, eine Währungsunion ein‐ zuführen. Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie gibt wichtige Hinweise für einen solchen Schritt. 9.6.1 Die Theorie optimaler Währungsräume Die Einführung einer Währungsunion ist ein mutiger (und seltener) Schritt, da Staaten ihre geldpolitische Autonomie aufgeben. In der Folge gibt es für die teilnehmenden Staaten nur noch eine Zinspolitik wie auch nur noch eine Wechselkurspolitik gegenüber anderen Währungen. Bei erheblichen Diver‐ genzen in der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder und da‐ mit möglicherweise verbundenen Leistungsbilanzungleichgewichten ist eine auf dieses Land zugeschnittene Zinspolitik ebenso wenig möglich wie eine Auf- oder Abwertung, welche nur diesem Land hilft, die Krise zu be‐ wältigen. Divergenzen in der wirtschaftlichen Entwicklung können unter anderem Ergebnis guter oder schlechter wirtschaftspolitischer Entschei‐ dungen sein, die Folge verschiedener Wachstumstrends aufgrund wirt‐ schaftspolitischer Spezialisierung oder von unterschiedlichen Lohn- und Preissteigerungen. Auch bestimmte wirtschaftspolitische Ereignisse, die als „makroökonomische Schocks“ bezeichnet werden, können besondere Pro‐ bleme bereiten. Beispiele hierfür sind eine Bankenkrise in einem Land, der Zusammenbruch der Exportwirtschaft, ein Kollaps des Immobilienmarktes. Wenn nur ein Teil der Union von einem solchen Schock betroffen ist, dann liegt ein „asymmetrischer makroökonomischer Schock“ vor. Die Theorie optimaler Währungsräume, die wesentlich durch die Arbeiten von Robert Mundell angestoßen und beeinflusst wurde, beschreibt die Vor‐ aussetzungen, die gegeben sein müssen, damit eine Währungsunion die in‐ nere Stabilität besitzt, um dauerhaft die Grundlage für Wohlstand und Ent‐ wicklung zu schaffen. Es lassen sich mehrere Bedingungen benennen, die einen Wirtschaftsraum auch zu einem „optimalen Währungsraum“ machen. ■ Diversifikation der Produktion: Die Produktion in den beteiligten Ländern sollte möglichst breit gestreut sein, da ein hoher Diversifi‐ kationsgrad die Wahrscheinlichkeit asymmetrischer Schocks mit sub‐ stantiellen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft deutlich senkt. 9.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 275 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 275 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 275 19.10.2020 12: 34: 11 19.10.2020 12: 34: 11 <?page no="276"?> ■ Offene Märkte und flexible Preise: Sind die Mitgliedstaaten einer Währungsunion intensiv in internationale Handelsbeziehungen ein‐ bezogen, sorgen die Preisbewegungen auch ohne Wechselkursbewe‐ gungen für Anpassungsprozesse auf den Märkten; das Instrument der Wechselkursanpassung ist nicht erforderlich. ■ Mobilität der Arbeitskräfte: Kommt es zu wesentlichen Unter‐ schieden in der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder, z. B. aufgrund asymmetrischer Schocks, und kann das schwächere Land nicht durch eine eigenständige Geldpolitik und Abwertung der eigenen Währung seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, kann die Mobilität der Produktionsfaktoren Abhilfe schaffen. Wenn Arbeitskräfte innerhalb des Währungsraums mobil sind, dann werden Arbeitskräfte und Kapital an den Ort höherer Produktivität wechseln. Arbeitslosigkeit und Fehlallokation des Kapitals wird somit vermie‐ den, der Mechanismus der Wechselkursanpassung ist nicht erforder‐ lich. ■ Homogene Präferenzen: In dem Währungsraum müssen homogene Präferenzen in Bezug auf die Grundzüge der Wirtschaftspolitik vor‐ liegen. Verfolgen Länder unterschiedliche Strategien hinsichtlich Preisstabilität, Haushaltsdisziplin oder anderer zentraler Aspekte der Wirtschaftspolitik, und haben Länder unterschiedliche Vorstellungen über die Arbeitsweise der zentralen wirtschaftspolitischen Institutio‐ nen wie Notenbank, Staat, Tarifparteien, kommt es zu Spannungen in der Währungsunion. ■ Fiskaltransfers: Transferzahlungen der starken Länder an die schwachen Länder können zur Linderung der Anpassungsprobleme und zu einer Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung in dem schwachen Land führen, ein Mechanismus, der in den meisten Staaten via Steuersystem, staatliche Investitionen, Sozialversicherungssystem oder ähnliches funktioniert: Verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in einer Region schleppend, und in anderen Regionen gut, erhält die schwächere Region diskretionär oder regelgebunden Unterstützung (in Deutschland beispielsweise über den Länderfinanzausgleich). ■ Solidarität: Solidarisches Handeln in einer Währungsunion ist er‐ forderlich, um temporären Spannungen zu begegnen, die auch dann auftreten können, wenn die oben genannten Bedingungen erfüllt sind. 9 Währungspolitik und Europas Weg 276 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 276 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 276 19.10.2020 12: 34: 11 19.10.2020 12: 34: 11 <?page no="277"?> Die Frage, ob die Europäische Union oder die sich an der Währungsunion beteiligenden Staaten einen optimalen Währungsraum darstellten, war zu Beginn der 90er-Jahre umstritten. Befürworter sahen die Kriterien grund‐ sätzlich als gegeben an oder hatten die Erwartung, dass die Währungsunion genügend Druck erzeugen würde, diese Kriterien mittelfristig zu erfüllen. Dies galt beispielsweise für die Hoffnung, dass die Flexibilität der Löhne zunehmen würde und die Tarifparteien in Staaten mit einer bis dahin wenig ausgeprägten Stabilitätskultur die Notwendigkeit, die Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung abhängig zu machen, erkennen würden. Sie postulierten, dass die Union nicht nur den Weg der ökonomischen Konver‐ genz beschreiten würde, sondern hatten auch die Hoffnung, dass die Ele‐ mente einer politischen Union, die für das Funktionieren notwendig sind, mittelfristig erkannt und umgesetzt werden. Den Befürwortern standen zahlreiche Kritiker gegenüber, die den Schritt zu einer Währungsunion als verfrüht oder als grundsätzlich falsch ansahen. Sie verwiesen darauf, dass die ökonomischen und politischen Rahmenbedin‐ gungen für eine Währungsunion nicht vorlägen und warnten, dass die Ein‐ führung einer gemeinsamen Währung nicht zur Einigung, sondern vielmehr zur Spaltung Europas führt. Viele Staaten Europas seien ökonomisch, poli‐ tisch, sozial und kulturell zu verschieden, um für diesen Weg vorbereitet zu sein, der Verzicht auf den Wechselkursanpassungsmechanismus sei falsch (vgl. Scharpf 2013). Entscheidend für die Einführung waren jedoch nicht ökonomische Argu‐ mente, sondern politische Überlegungen. Aus französischer Sicht war die Einführung einer gemeinsamen Währung der Preis für die Zustimmung zur deutschen Einheit, erhofft war damit die Einbindung Deutschlands und der Deutschen Bundesbank in ein Gesamteuropa, welches weniger durch die Führungsposition Deutschlands geprägt sein sollte (vgl. Marsh 2013, S. 17). 9.6.2 Die Kriterien für den Beitritt Im Jahr 1990, in Reaktion auf die Weiterentwicklung des Binnenmarktes und auf die fundamentalen Veränderungen in Europa wurde die Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion fest vereinbart und im 1993 in Kraft getretenen Maastricht Vertrag festgeschrieben. Vorgesehen war die Einführung einer gemeinsamen Währung in drei Stufen vor. Die erste Stufe umfasste die Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der Union. Auch 9.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 277 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 277 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 277 19.10.2020 12: 34: 11 19.10.2020 12: 34: 11 <?page no="278"?> die zweite Stufe diente der Vorbereitung: die nationalen Zentralbanken mussten rechtlich unabhängig werden, was bis dahin noch nicht in allen Mitgliedstaaten der Fall war. Das Europäische Währungsinstitut als Vor‐ gängerinstitution der Europäischen Zentralbank wurde gegründet und die Koordination der Geldpolitik untereinander intensiviert. Die dritte Stufe bestand in der eigentlichen Einführung der gemeinsamen Währung in jenen Ländern, welche die Voraussetzungen erfüllten. Hierfür wurde ein Kriteri‐ enkatalog verabredet, der Referenzwerte für fiskalische und monetäre Indi‐ katoren festlegte. Nur wenn Staaten alle Kriterien erfüllten, sollten diese der Währungsunion beitreten dürfen. Damit sollte die Stabilität der Währungs‐ union gesichert werden. Die fiskalische Konvergenz wurde anhand zweier Verschuldungskriterien gemessen. Die Forderung einer „auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffent‐ lichen Hand, ersichtlich an einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermä‐ ßiges Defizit“, wurde präzisiert: ■ Das öffentliche Defizit, gemessen in Prozent des Bruttoinlandspro‐ duktes, sollte unter 3 Prozent liegen. ■ Der öffentliche Schuldenstand, gemessen in Prozent des Bruttoin‐ landsproduktes, sollte unter 60 Prozent liegen. Darüber hinaus einigte man sich auch auf drei Indikatoren, welche die mo‐ netäre Konvergenz aufzeigen sollten: ■ Die Inflationsrate eines zukünftigen Mitgliedstaates des Euro-Wäh‐ rungsgebietes sollte höchstens 1,5 Prozentpunkte über jener Rate der drei Mitgliedstaaten mit den besten Ergebnissen auf dem Gebiet der Preisstabilität liegen. ■ Kriterium des langfristigen Zinssatzes: Die langfristigen Nominal‐ zinssätze eines Landes sollten nicht mehr als 2 Prozentpunkte vom Nominalzins für langfristige Schuldverschreibungen der drei Mit‐ gliedstaaten abweichen, die in Bezug auf die Preisstabilität das beste Ergebnis haben. ■ Wechselkurskriterium: Ein Mitgliedstaat musste in den letzten beiden Jahren vor der Entscheidung die normalen Bandbreiten des Wechsel‐ kursmechanismus des Europäischen Währungssystems ohne starke Spannung eingehalten haben. 9 Währungspolitik und Europas Weg 278 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 278 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 278 19.10.2020 12: 34: 12 19.10.2020 12: 34: 12 <?page no="279"?> Box 56 | Nettokreditaufnahme und Schuldenstand des Staates Die fiskalischen Konvergenzkriterien der Schuldenstandquote und der Defizitquote des Staates sind nicht unabhängig voneinander. Bei gege‐ bener Wachstumsrate des nominellen BIP (w BIP ) resultiert der Wert für die Neuverschuldungsquote aus der Festlegung der Schuldenstands‐ quote; umgekehrt wird die Höhe der Schuldenstandsquote von der Nor‐ mierung der Defizitquote beeinflusst. Der Schuldenstand in der Periode t (D t ) entspricht dem Schuldenstand der Vorperiode (D t-1 ) und dem laufenden Defizit (Nettokreditaufnahme) (NK t ) des Staates: D t = D t-1 + NK t . Für die Nettokreditaufnahme in Relation zum BIP gilt: NK t = αBIP t = αBIP t-1 (1 + w BIP ) Die Vorgabe einer Schuldenstandquote von (maximal) 60 % (D t = 0.6BIP t bzw. D t-1 = 0. 6 BIP t-1 ) führt zu: 0. 6 = D t / BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t-1 (1 + w BIP ). Wird ein Anstieg des nominellen BIP von 5 % pro anno unterstellt, erhält man: 0. 6 = (0.6BIP t-1 + αBIP t-1 (1. 05))/ BIP t-1 (1. 05). Auflösen nach der Defizitquote erbringt für α den Wert (0.6 x 0. 05)/ 1.05 = 0. 0286 bzw. gerundet 3 % (vgl. Ribhegge 2011). Schon nach dem Modell der Staatsschuldenentwicklung von Domar (1944) lässt sich zei‐ gen, dass bei konstanter Nettokreditaufnahme im Verhältnis zum BIP (α) und einer exogen gegebenen Wachstumsrate (w BIP ) die Schulden‐ standquote gegen den Grenzwert lim t ∞ Bt BIPt = α / w BIP konvergiert. Die Einhaltung einer Schuldenstandquote von 60 % bedeutet, dass die Neu‐ verschuldungsquote beim angenommenen Wirtschaftswachstum den Wert von 3 % pro anno nicht übersteigen darf. 9.6 Die Entscheidung für eine Währungsunion in Europa 279 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 279 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 279 19.10.2020 12: 34: 12 19.10.2020 12: 34: 12 <?page no="280"?> Mit der Festlegung der Kriterien für den Eintritt bekundeten die Staaten, dass sie der Gefahr begegnen wollten, eine Union zu schaffen, die durch wirtschaftliche Instabilität in den Mitgliedsstaaten und damit auch der Union geprägt ist. Die Vorgaben zur maximalen Staatsverschuldung sollten das Interesse an inflationären Entwicklungen im Keim ersticken. Und die Vorgabe ähnlich hoher Inflationsraten dokumentierte die Erkenntnis, dass stark unterschiedliche Lohn- und Preissteigerungen die Stabilität einer Währungsunion, die ja keine Möglichkeit der Währungsabwertung mehr hat, gefährden. 1999 führten zunächst elf Mitgliedstaaten den Euro als gemeinsame Wäh‐ rung ein, von 2001 bis 2019 kamen acht weitere Länder hinzu. In Abb. 52 wird die zeitliche Struktur des Euro-Beitritts wiedergegeben. Mit der Ein‐ führung des Euros wurden die Umrechnungskurse der Währungen der teil‐ nehmenden Staaten unwiderruflich gegenüber dem Euro festgelegt. Einführung ab Mitgliedsstaat Vorherige Währung Umrechnungskurs: 1 € = … Währungs‐ einheiten 1999, 1. Januar 2001, 1. Januar 2007, 1. Januar 2008, 1. Januar 2008, 1. Januar 2009, 1. Januar 2011, 1. Januar Belgien Deutschland Finnland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Spanien Griechenland Slowenien Malta Zypern Slowakei Estland Belgischer Franc Deutsche Mark Finnmark Französischer Franc Irisches Pfund Italienische Lira Luxemburgischer Franc Holländischer Gulden Schilling Escudo Peseta Drachme Tolar Maltesische Lira Zypern-Pfund Slowakische Krone Estnische Krone 40,3399 1,95583 5,94573 6,55957 0,787564 1 936,27 40,3399 2,20371 13,7603 200,482 166,386 340,750 239,640 0,429300 0,585274 30,1260 15,6466 9 Währungspolitik und Europas Weg 280 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 280 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 280 19.10.2020 12: 34: 12 19.10.2020 12: 34: 12 <?page no="281"?> 2014, 1. Januar 2015, 1. Januar Lettland Litauen Lettischer Lats Litauischer Litas 0,702804 3,45280 Abb. 52: Zeitliche Struktur des Euro-Beitritts und Umrechnungskurse 9.7 Schlussbemerkung Europas Währungspolitik seit 1945 ist durch einschneidende Veränderun‐ gen geprägt gewesen. Die Länder sammelten sowohl Erfahrungen mit festen als auch mit flexiblen Wechselkursen. Der Schritt hin zu einer Währungs‐ union, den neunzehn Staaten getan haben, ist politisch und ökonomisch weitreichend. Um mit den besonderen Problemen einer gemeinsamen Wäh‐ rung umzugehen, wird die Union auch in den kommenden Jahren gefordert sein. 9.8 Wichtige Begriffe Bretton-Woods-System, Feste Wechselkurse, flexible Wechselkurse, Golddeckung, Werner-Plan, Phillipskurve, Europäische Währungsein‐ heit, Trilemma des Wechselkursregimes, fiskalische Konvergenz, opti‐ maler Währungsraum 9.9 Literatur Akerlof, George A./ Schiller, Robert J. (2009): Animal Spirits - How Human Psycho‐ logy Drives the Economy and Why it Matters for global capitalism, Princeton / Oxford, Princeton University Press Bobeica, Elena/ Sokol, Andrej (2019): “Bestimmungsfaktoren der zugrunde liegenden Inflation im Euro-Währungsgebiet im Zeitverlauf: Erklärungsversuche anhand der Phillips-Kurve”, in: Europäische Zentralbank, Wirtschaftsbericht 4/ 2019, S. 96-117 Deutsche Bundesbank (2016): Die Deutsche Bundesbank. Notenbank für Deutsch‐ land, Frankfurt 9.7 Schlussbemerkung 281 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 281 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 281 19.10.2020 12: 34: 13 19.10.2020 12: 34: 13 <?page no="282"?> Domar, Evsey D. (1944): „The „Burden of the Debt“ and the National Income“, in: American Economic Review, vol. 34, S. 798-827 Europäische Zentralbank (2014): „Die Phillips-Kurven-Beziehung im Euro-Wäh‐ rungsgebiet“, in: Monatsbericht Juli, S. 109-127 Krugman, Paul/ Obstfeld, Maurice/ Melitz, Marc J. (2019): Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 11. Auflage, Pearson Studium Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton. Ribhegge, Hermann (2011): Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, 2. Auflage, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg Scharpf, Fritz W. (2013): „Entmündigung als Lösung? Noch mehr Souveränitätsver‐ zicht kann den Euro auch nicht retten …“, in: Internationale Politik und Gesell‐ schaft, Dezember 2013 9 Währungspolitik und Europas Weg 282 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 282 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 282 19.10.2020 12: 34: 13 19.10.2020 12: 34: 13 <?page no="283"?> 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion Leitfragen Welche institutionellen Strukturen bestimmen die Geldpolitik in der Währungsunion? Welche geldpolitischen Instrumente stehen der EZB zur Verfügung? Warum ist in den letzten Jahren die Politik der EZB umstritten gewesen? 10.1 Einführung Die Europäische Zentralbank ist eines der sieben Organe der Union. Sie wurde 1998 gegründet und steht im Mittelpunkt der Geld- und Währungs‐ politik. 10.2 Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken aller EU-Mitgliedstaaten bilden das Europäische System der Zentralbanken 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 283 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 283 19.10.2020 12: 34: 14 19.10.2020 12: 34: 14 <?page no="284"?> (ESZB). Die EZB und die Zentralbanken jener Länder, die den Euro einge‐ führt haben, bilden das Eurosystem (Artikel 282 AEUV). Das Direktorium der EZB besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier wei‐ teren fachkundigen Mitgliedern (Artikel 283 AEUV). Der Rat der Europäi‐ schen Zentralbank, das zentrale Beschlussorgan des Systems, setzt sich aus den sechs Mitgliedern des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zusammen, deren Währung der Euro ist. Der erweiterte Rat der EZB wird als Übergangsgremium auf‐ gelöst, sobald alle EU-Mitgliedstaaten den Euro eingeführt haben. Die detaillierten Regelungen zur Geld- und Währungspolitik finden sich in der „Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Euro‐ päischen Zentralbank“, welche als Protokoll Nr. 4 dem Lissabon Vertrag an‐ gefügt ist. Die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken bestehen in der ■ Festlegung und Durchführung der Geldpolitik der Union, ■ Durchführung von Devisengeschäften im Einklang mit dem Lissabon Vertrag, ■ Verwaltung der offiziellen Währungsreserven, ■ Förderung des reibungslosen Funktionierens der Zahlungssysteme (Protokoll Nr. 4 zum Lissabon Vertrag, Artikel 3). Die Europäische Zentralbank und das System der Europäischen Zenralbank sind unabhängig. Box 57 | Unabhängigkeit der Zentralbank - Pro und Kontra Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken ist im Europarecht verankert und hat vier Dimensionen: die EZB ist institutionell unabhängig, ihre funktionelle Unabhängigkeit ist gewährleistet, die personelle Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rates ist rechtlich garantiert, und die EZB ist finanziell unabhängig. Pro Unabhängigkeit: Erfahrungen haben gezeigt, dass in Ländern ohne Unabhängigkeit der Zentralbank die Inflationsraten höher liegen. Regierungen nutzten in der Vergangenheit häufig ihren Einfluss, um 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 284 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 284 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 284 19.10.2020 12: 34: 14 19.10.2020 12: 34: 14 <?page no="285"?> ihnen genehme geldpolitische Entscheidungen herbei zu führen. Insbe‐ sondere der Abbau der realen Verschuldung von Staaten durch eine Phase höherer Inflation ist häufig verlockend gewesen und mit hohen Kosten für die Gesellschaft verbunden. Die Abschottung dieses für eine Volkswirtschaft zentralen Handlungsfeldes gegenüber politischen In‐ teressen ist essenziell. Kontra Unabhängigkeit: Zentrale wirtschaftspolitische Entscheidun‐ gen werden in die Hände von Technokraten gegeben, die kein entspre‐ chendes politisches Mandat haben. Die Entscheidungen der Zentral‐ banken haben erhebliche Auswirkungen, ohne dass die Entscheider für falsche Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Trans‐ parenz ihres Handelns ist gering. 10.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist die Gewährleistung der Preissta‐ bilität (in der deutschen Literatur wurde in der Vergangenheit meist von „Preisniveaustabilität“ gesprochen, um zu betonen, dass es nicht um die Stabilität einzelner Preise geht, sondern um jene des Preisniveaus). Die Bedeutung des Ziels der Preisstabilität wird mit den Kosten der Inflation und insbesondere den sozialen Folgen inflationärer Entwicklungen be‐ gründet. Die Europäische Zentralbank hat das in den Verträgen nicht ex‐ akt quantifizierte Ziel konkretisiert: Preisstabilität wird definiert als der Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter, aber nahe bei 2 % gegenüber dem Vor‐ jahr. Kurzfristig ist eine Überschreitung der Marke von 2 % möglich, die 2 %-Marke soll jedoch mittelfristig leicht unterschritten werden (vgl. Eu‐ ropäische Zentralbank 2008, S. 37). Eine Inflationsrate von 0 % wird nicht angestrebt, da mit einer solchen Zielgröße und den Schwankungen der Preissteigerungsraten die Gefahr einer Deflation verknüpft wird. Soweit das Ziel der Preisstabilität nicht beeinträchtigt wird, unterstützt die Geld‐ politik die allgemeine Wirtschaftspolitik. 10.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente 285 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 285 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 285 19.10.2020 12: 34: 14 19.10.2020 12: 34: 14 <?page no="286"?> Die Geldpolitik des Eurosystems beruht auf der Analyse sowohl der mone‐ tären als auch der wirtschaftlichen Entwicklung, ein Analyserahmen, der als „Zwei-Säulen-Struktur“ oder „Zwei-Säulen-Strategie“ bezeichnet wird. In der monetären Analyse wird die Entwicklung der Geldmengenaggregate, der Kredit- und Zinsentwicklung erfasst. In der wirtschaftlichen Analyse werden Daten über die Konjunktur, Preise und Kosten im Euro-Währungs‐ gebiet erhoben und ausgewertet. Risiken für die Preisstabilität werden auf‐ grund der so gewonnen Daten identifiziert und geben Orientierung für die Durchführung der Geldpolitik. Für die Umsetzung der Geldpolitik stehen dem Eurosystem grundsätzlich drei Instrumente zur Verfügung: die Offenmarktgeschäfte, die ständigen Fazilitäten und die Mindestreservepflicht. ■ Die Offenmarktgeschäfte sind für die Steuerung der Liquiditätsbedin‐ gungen des Bankensektors das wichtigste Instrument der EZB. Die von den Zentralbanken des Eurosystems durchgeführten Offenmarktge‐ schäfte werden in Hauptrefinanzierungsgeschäfte, längerfristige Refi‐ nanzierungsgeschäfte, Feinsteuerungsoperationen und strukturelle Operationen unterschieden. Die beiden erst genannten Instrumente werden von den Zentralbanken regelmäßig eingesetzt, und sind we‐ sentlich für die Bereitstellung von Liquidität für die Banken des Euro‐ systems. Feinsteuerungsoperationen wie etwa Devisenswapgeschäfte werden nicht regelmäßig eingesetzt, sie kommen nur im Bedarfsfall zum Einsatz. Bei strukturellen Operationen können anders als bei den üblichen Hauptrefinanzierungsgeschäften endgültige Käufe und Ver‐ käufe von Schuldverschreibungen vorgenommen werden, ein Instru‐ ment, das in der Eurokrise an Bedeutung gewonnen hat. ■ Die ständigen Fazilitäten bieten den Banken die Möglichkeit, über Nacht Liquidität bei der Zentralbank anzulegen (Einlagefazilität) oder Liquidität über Nacht zu erhalten (Spitzenrefinanzierungsfazilität). Die beiden Zinssätze legen den Korridor fest, innerhalb dessen sich der Geldmarktzins bildet. ■ Der Rat der Europäischen Zentralbank verlangt von im Euro-Wäh‐ rungsgebiet ansässigen Kreditinstituten, Mindestreserven auf Konten der nationalen Zentralbanken zu halten. Die Mindestreservesätze werden für die mindestreservepflichtigen Bilanzpositionen der Kre‐ ditinstitute festgelegt. Mit diesem Instrument stabilisiert die Zentral‐ bank die Geldmarktsätze. 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 286 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 286 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 286 19.10.2020 12: 34: 15 19.10.2020 12: 34: 15 <?page no="287"?> Box 58: Geldpolitisches Instrumentarium der EZB Geldpolitische Geschäfte Transaktionsart Laufzeit Rhythmus Verfahren Liquiditätsbe‐ reitstellung Liquiditätsab‐ schöpfung Offenmarktgeschäfte Hauptrefinan‐ zierungsin‐ strument Befristete Transaktion - Eine Woche Wöchentlich Standardtender Längerfristige Refinanzie‐ rungsgeschäfte Befristete Transaktion - Drei Monate Monatlich Standardtender Feinsteue‐ rungsoperationen - Befristete Transaktionen - Devisen‐ swaps - Devisenswaps - Hereinnahme von Terminein‐ lagen - Befristete Transaktionen Nicht standar‐ disiert Unregelmäßig - Schnelltender - Bilaterale Geschäfte Endgültige Käufe Endgültige Ver‐ käufe - Unregelmäßig Bilaterale Geschäfte Strukturelle Operationen Befristete Transaktio‐ nen Emission von Schuldver‐ schreibungen Standardi‐ siert / nicht standardisiert Regelmäßig und unregel‐ mäßig Standardtender Endgültige Käufe Endgültige Ver‐ käufe - Unregelmäßig Bilaterale Geschäfte Ständige Fazilitäten Spitzenrefinanzie‐ rungsfazilität Befristete Transaktio‐ nen - Über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Einlagefazilität - Einlagenan‐ nahme Über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Quelle: Europäische Zentralbank 2011, S. 103 10.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente 287 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 287 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 287 19.10.2020 12: 34: 15 19.10.2020 12: 34: 15 <?page no="288"?> Mit dem Einsatz der drei Instrumente zielt die Geldpolitik auf ihr operatives Ziel, die Steuerung des kurzfristigen Geldmarktzinssatzes, ab. Sie verspricht sich damit einen Einfluss auf das Preisniveau. Box 59 | Hauptrefinanzierungsgeschäfte und Tenderverfahren In weit überwiegendem Maße erfolgt die Liquiditätsbereitstellung des Bankensektors durch das Eurosystem über die Hauptrefinanzierungs‐ geschäfte, denen Tenderverfahren zugrundliegen. Beim Mengentender gibt die Notenbank den Zinssatz (i') vor, zu dem sie bereit ist, Zentralbankgeld zur Verfügung zu stellen. Die Geschäftsban‐ ken geben Gebote ab, welche Geldbeträge sie abrufen wollen. Werden alle Gebote bedient, hängt die Geldmenge (M) von der Geldnachfrage (L) ab. Schwankungen der Geldnachfrage beeinflussen den Zinssatz nicht (Abb. 53). Übersteigt das Bietungsvolumen einen von der Noten‐ bank vorgegebenen Zuteilungsbetrag, werden die Gebote in Relation des Zuteilungsbetrags zum Bietungsvolumen proportional erfüllt (Repar‐ tierung). M, L i i' M` L Abb. 53: Allokation via Mengentender 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 288 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 288 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 288 19.10.2020 12: 34: 16 19.10.2020 12: 34: 16 <?page no="289"?> Beim Zinstender legt die Notenbank eine Obergrenze fest, wie viel Zen‐ tralbankgeld dem Bankensektor zugeteilt werden soll (M'), und gibt in aller Regel einen Mindestbietungssatz (i'') vor. Die Gebote der Geschäfts‐ banken enthalten neben der Betragshöhe auch den Zinssatz, mit dem sie sich am Hauptrefinanzierungsgeschäft beteiligen. Veränderungen der Geldnachfrage führen beim Zinstender zu Zinsänderungen (Abb. 54). Die Zuteilung des Zentralbankgeldes auf die Geschäftsbanken kann entweder zu den individuellen Bietungssätzen (amerikanisches Verfah‐ ren) oder zu einem einheitlichen Zinssatz (holländisches Verfahren) er‐ folgen, der dem letzten von der Notenbank angenommenen Gebot (mar‐ ginaler Zinssatz) entspricht (vgl. Spahn 2012; Görgens/ Ruckriegel/ Seitz 2013) i i'' M' M, L L Abb. 54: Allokation via Zinstender 10.3 Die Geldpolitik des Eurosystems - Ziele und Instrumente 289 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 289 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 289 19.10.2020 12: 34: 16 19.10.2020 12: 34: 16 <?page no="290"?> 10.4 Die Wechselkurspolitik der Eurozone Die grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich der Währungspolitik sind im Lissabon-Vertrag dem Rat der Europäischen Union übertragen. Der Rat der Europäischen Union kann entweder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Empfehlung der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für den Euro gegenüber den Währungen von Drittstaaten treffen. Die enge Ab‐ stimmung ergibt sich vor dem Hintergrund der erheblichen Rückwirkungen währungspolitischer Beschlüsse auf die Durchführung der Geldpolitik. Die Umsetzung der Währungspolitik obliegt wiederum der EZB. Der Wechselkurs des Euro ist grundsätzlich kein Instrument der Wirt‐ schaftspolitik (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 27). Der Euro wird ge‐ genüber den großen Handelspartnern außerhalb Europas zu flexiblen Wech‐ selkursen gehandelt. Dies gilt auch gegenüber einigen Währungen in Europa, insbesondere dem britischen Pfund. Gegenüber diesen Währungen gibt es kein Wechselkursziel. Für einige europäische Länder sind feste, aber anpassungsfähige Wechsel‐ kurse vereinbart: Mit dem Beginn der letzten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion wurde das Europäische Währungssystem durch den Wech‐ selkursmechanismus II abgelöst: Damit sind die Währungen von EU-Mit‐ gliedstaaten außerhalb des Euro-Währungsgebietes, mit einigen Ausnah‐ men, an den Euro gebunden. Diese Währungen sind gegenüber dem Euro in Form eines Leitkurses festgelegt, der grundsätzlich +/ -15 % um den Leit‐ kurs schwanken kann. Für einige Länder sind engere Bandbreiten verein‐ bart. Bei Erreichen der Ober- oder Untergrenze sind die Zentralbanken der betroffenen Länder und die EZB verpflichtet, automatisch und unbegrenzt an den Devisenmärkten zu intervenieren. Dieses System wurde zum Zeit‐ punkt der Schaffung grundsätzlich als Übergangssystem betrachtet, da von einer späteren Einführung des Euro in den an dem Wechselkursmechanis‐ mus teilnehmenden Staaten ausgegangen wurde. Mit der Einführung des Euro war auch die Erwartung verbunden, dass dieser als Recheneinheit, als Zahlungsmittel, als Währung zur Wertaufbewahrung, und als Ankerwährung eine wichtige Rolle im internationalen Währungs‐ system einnehmen würde. Da insbesondere die DM in Europa diese Funk‐ 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 290 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 290 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 290 19.10.2020 12: 34: 16 19.10.2020 12: 34: 16 <?page no="291"?> tion partiell übernommen hatte, war angenommen worden, dass dies auch zukünftig für den Euro so sein würde. 10.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 10.5.1 Die Entscheidungsstruktur des Euro-Währungssystems Die Entscheidungsstruktur und die entsprechenden Verfahren in der Wäh‐ rungsunion („Governance“) waren in den Verhandlungen zum Maastricht Vertrag lange und kontrovers debattiert worden. Strittig waren vor allem die Entscheidungsverfahren im EZB-Rat, die Besetzung des Direktoriums der EZB und die Abstimmungsmechanismen mit den anderen Organen und Institutionen, die für die Durchführung der Geld- und Währungspolitik von Belang sind. Im EZB-Rat gibt es keine Stimmgewichtung auf Basis der Größe der Volkswirtschaft oder der Bevölkerung, jeder Mitgliedstaat des Euro- Währungsgebietes hat grundsätzlich eine Stimme. Mit der wachsenden Zahl der Mitglieder der Eurozone wurde für Abstim‐ mungen im EZB-Rat ein Rotationsverfahren eingeführt, welches für die Präsidenten der nationalen Notenbanken gilt. Die Mitgliedsstaaten bilden entsprechend ihrer Wirtschaftskraft zwei Gruppen. Die Gruppe der fünf wirtschaftsstarken Länder besteht aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spa‐ nien und den Niederlanden. Diese Länder verfügen über vier Stimmen, die rotierend wahrgenommen werden, so dass ein Land bei jeder fünften Sitzung nicht stimmberechtigt ist. Die restlichen 14 kleineren Mitgliedsstaaten ver‐ fügen über 11 Stimmen und üben ebenfalls nach einem Rotationsprinzip das Stimmrecht aus. Schließlich haben die sechs Direktoriumsmitglieder der EZB jeweils eine Stimme (vgl. Europäische Zentralbank 2009). Die Einfüh‐ rung der Rotation wurde in der Fachöffentlichkeit durchaus kritisch disku‐ tiert. Die nationalen Zentralbanken spielen also nicht nur bei der Durchführung, sondern auch bei der Festlegung der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Mit Blick auf das damit verbundene Problem, dass Nationalbankpräsidenten zu sehr ihre nationale Perspektive einbringen, wurde bereits 2013 ein Re‐ formvorschlag präsentiert, welcher die Abkehr von der nationalen Vertre‐ tung im EZB-Rat durch die Einführung von länderübergreifenden Distrik‐ 10.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 291 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 291 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 291 19.10.2020 12: 34: 17 19.10.2020 12: 34: 17 <?page no="292"?> ten, wie es die US-amerikanische Notenbank praktiziert, empfiehlt (vgl. Burda 2013). In den letzten Jahren wurde wiederholt die Besorgnis geäußert, dass mit der großen Zahl relativ hoch verschuldeter Länder und deren Stimmrecht im EZB-Rat das Interesse an einer expansiven Geldpolitik mit unkonventionel‐ len Zentralbankoperationen zur Refinanzierung der Staaten an Bedeutung gewinnen könnte und so auch die gegenwärtige Geldpolitik teilweise erklärt werden kann. Box 60 | Die Euro-Einführung und das Entstehen zweier Entscheidungssysteme Die Euroeinführung ist ein Beispiel für ein Europa der zwei Geschwin‐ digkeiten. 19 Länder haben den Euro eingeführt, andere können später unter bestimmten Bedingungen folgen. Aus der Tatsache, dass zwar die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Union den Euro eingeführt, bisher aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten diesen Schritt getan haben, entsteht eine besondere Problematik der Abstimmung. Wesentliche geldpolitische Entscheidungen fallen im Eurosystem und damit dem EZB-Rat; der er‐ weiterte EZB-Rat hat hier eine geringe Bedeutung. Spiegelbildlich stellt sich das Problem auch bei der Abstimmung der Fi‐ nanzminister der Europäischen Union. Wichtige den Euro betreffende wirtschaftspolitische Entscheidungen werden von den Finanzministern der Euro-Staaten im Rahmen der „Euro-Gruppe“ getroffen, andere Be‐ schlüsse werden von dem ECOFIN, dem Treffen aller Finanzminister der EU, gefasst. Auch die Koordinationsmechanismen mit anderen Organen und Einrichtungen wie dem Europäischen Parlament und der Europäi‐ schen Kommission sind komplex. Insgesamt erfordert die Abstimmung eine intensive Zusammenarbeit in Form von Berichtspflichten, häufi‐ geren Zusammentreffen mit Ausschüssen der Organe der Europäischen Union, eine Ausweitung und Vertiefung der behandelten Themen (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 30-31, 2010a, S. 87). 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 292 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 292 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 292 19.10.2020 12: 34: 17 19.10.2020 12: 34: 17 <?page no="293"?> 10.5.2 Das Mandat der EZB Das Mandat der EZB ist expressis verbis auf Preisstabilität bezogen. Dies ist das vorrangige Ziel. Wenn dies ohne die Beeinträchtigung des primären Zieles der Preisstabilität möglich ist, dann unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik. Diese Priorisierung war und bleibt umstritten. Die Fe‐ deral Reserve in den USA verfolgt ausdrücklich sowohl das Ziel der Preis‐ stabilität als auch das Ziel eines hohen Beschäftigungsstands. Kritiker des engeren EZB-Mandats warnten vor einem verengten Verständnis des Bei‐ trags der Geldpolitik. In der Praxis der Geldpolitik der letzten Jahre wurde allerdings häufig die Einschätzung geäußert, dass die EZB-Politik einen starken Fokus auf die Wirtschaftsentwicklung hat, und die Zinspolitik nur vordergründig der Ein‐ haltung des Inflationsziels dient, sondern eigentlich auf die Unterstützung der Refinanzierungsbemühungen hoch verschuldeter Staaten abzielt (vgl. Stark 2019). In der Eurokrise rückte eine weitere das Mandat betreffende Frage in den Vordergrund. Während des Höhepunkts der Eurokrise erklärte der EZB-Prä‐ sident 2012 in London, dass die Zentralbank innerhalb ihres Mandats bereit sei, „alles Notwendige (zu) tun, um den Euro zu erhalten“. Diese Ankündi‐ gung markierte einen wichtigen Wendepunkt in der Krise, Spekulationen gegen den Euro kamen zu einem Ende und wurden daher von vielen Beob‐ achtern als sinnvolles Signal begrüßt. Kritiker bestreiten, dass es das Mandat der EZB ist, den Euro um jeden Preis zu verteidigen. Klagen vor dem Bun‐ desverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof gegen diese In‐ terpretation der Arbeit der EZB wurden abgewiesen. 10.5.3 Das Ziel der Preisstabilität Abbildung 55 zeigt die Entwicklung der jährlichen Preissteigerung seit 1999. Bedenkt man die erheblichen Inflationsraten in vielen europäischen Staaten vor Gründung der Währungsunion (in den 70er-Jahren war die durch‐ schnittliche Inflationsrate der Mitgliedstaaten 13 %, in den 80er-Jahren 7 %), so hat die Europäische Zentralbank ihr zentrales Ziel der Sicherung der Preisstabilität aus Sicht der meisten Beobachter erreicht; im Durchschnitt lag die Steigerungsrate von 1999-2019 bei 1,7 %. 10.5 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis - Themen und Herausforderungen 293 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 293 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 293 19.10.2020 12: 34: 17 19.10.2020 12: 34: 17 <?page no="294"?> Abb. 55: Inflationsraten -1 0 1 2 3 4 5 2000 2005 2010 2015 2020 5 4 3 2 1 0 -1 Inflationsrate in % Abb. 55: Inflationsraten im Euro-Währungsgebiet, 31. 1.1999-31. 12. 2019 Quelle: Europäische Zentralbank 2020a Allerdings gab es insbesondere in den Anfangsjahren des Euro eine erheb‐ liche regionale Asymmetrie in der Inflationsentwicklung, deren Brisanz durch die Durchschnittssätze verdeckt wird. Von 1999 bis 2011 (dem Höhe‐ punkt der Finanzkrise) waren die Preise in Deutschland um insgesamt 20 % gestiegen, der entsprechende Wert für Griechenland lag bei 48 % und für Spanien bei 41 % (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt‐ wirtschaftlichen Entwicklung 2012). Angesichts solcher Unterschiede waren makroökonomische Ungleichgewichte im Grunde unvermeidlich. 10.5.4 Der Außenwert des Euro Das zentrale Ziel der Geldpolitik der EZB ist der Binnenwert des Geldes. Der Außenwert des Geldes, der sich im Wechselkurs ausdrückt, wird davon be‐ einflusst, wird aber auch von anderen Größen bestimmt. Ein Währungsge‐ biet, in dem Preisstabilität herrscht, hat gemäß der Kaufkraftparitätentheo‐ rie tendenziell einen stabilen Außenwert gegenüber anderen Währungen mit vergleichbarer Preisstabilität. Die folgende Abb. 56 zeigt die Entwicklung des Außenwertes des Euro ge‐ genüber dem US-$ seit 1999. Nach einer anfänglichen Phase der Abwertung 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 294 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 294 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 294 19.10.2020 12: 34: 18 19.10.2020 12: 34: 18 <?page no="295"?> des Euro gewann der Euro an Wert, erreichte im Jahr 2008 seinen Höhepunkt und wertete später wieder ab. Abb. 56: US-Dollar/ Euro-Kurs 1999 - 2020 Quelle: EZB: Statistical Data Warehouse 2020, https: / / sdw.ecb.europa.eu/ quickview.do? SERIES_KEY=120.EXR.D. USD.EUR.SP00.A Leider keine Vektorgrafik, können Sie das für den Druck optimieren, gerne in Graustufen Abb. 56: Die Entwicklung des Wechselkurses Euro/ US-Dollar von 1999-2020 (Dollar pro Euro) Quelle: Europäische Zentralbank 2020a Auch anhand des effektiven Wechselkurses des Euro gegenüber den Wäh‐ rungen der wichtigsten Handelspartner (EWK-19-Gruppe) erwies sich der Euro sowohl nominell als auch real, auf Basis der Verbraucherpreisindices insgesamt als stabil (vgl. Deutsche Bundesbank 2020, S. 83). 10.6 Die Rolle des Euro im Weltwährungssystem Eine führende Rolle des Euro im Weltwährungssystem bedeutet, dass der Euro weltweit als Transaktionswährung benutzt wird, Zentralbanken ihre Währungsreserven in Euro anlegen oder der Euro bei internationalen Trans‐ aktionen als Recheneinheit verwendet wird. Es war kein explizites Ziel der Union, dass der Euro eine führende Rolle im Weltwährungssystem spielt. Gleichwohl wurde erwartet, dass der Euro eine starke Stellung einnehmen würde. Der Anteil des Euro an den Währungsreserven lag im Jahr der Ein‐ führung der gemeinsamen Währung bei 18 Prozent, stieg bis 2009 auf 28 Prozent und fiel infolge der Finanz- und der Eurokrise fast auf das ur‐ 10.6 Die Rolle des Euro im Weltwährungssystem 295 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 295 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 295 19.10.2020 12: 34: 18 19.10.2020 12: 34: 18 <?page no="296"?> sprüngliche Niveau zurück. Sein Anteil an den Weltwährungsreserven hat sich in den letzten zwei Jahren leicht erhöht. 10.6.1 Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht des Euro-Währungsgebietes Die Europäische Union bzw. die Eurozone strebt grundsätzlich ein außen‐ wirtschaftliches Gleichgewicht an. Der wichtigste Indikator hierfür ist die Leistungsbilanz und der Leistungsbilanzsaldo bezogen auf das Bruttoin‐ landsprodukt. In Abb. 57 ist die Entwicklung des Leistungsbilanzsaldos des Euro-Währungsgebietes zwischen 1999 bis 2019 dargestellt. Abb.57: Leistungsbilanzsaldo des Eurogebietes in Prozent des BIP Quelle: EZB Statistical Data Warehouse -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 1999 2002 2005 2008 2011 2014 2017 Leistungsbilanzsaldo/ BIP in % Jahr Abb. 57: Leistungsbilanzsaldo des Euro-Währungsgebietes in % des BIP, 31. 3.1999- 30. 9. 2019 Quelle: Europäische Zentralbank 2020a Die unproblematisch erscheinende Entwicklung für den Gesamtraum ins‐ gesamt verdeckt jedoch die Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone. Der Wechselkurs des Euro war für einige Staaten zu niedrig, sie bauten Leis‐ tungsbilanzüberschüsse auf. Für andere Staaten war der Euro zu teuer, ihre Exportgüter und Exportdienstleistungen waren im internationalen Handel 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 296 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 296 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 296 19.10.2020 12: 34: 18 19.10.2020 12: 34: 18 <?page no="297"?> wenig wettbewerbsfähig, Importe waren dort zu günstig, sie bauten Leis‐ tungsbilanzdefizite auf, die mit einer Ausweitung der nationalen Verschul‐ dung gegenüber dem Rest der Welt einhergingen. Diese Ungleichgewichte spielten eine wesentliche Rolle in der Finanzkrise. Verständnisfrage Suchen Sie zunächst über Eurostat, die OECD oder die Weltbank Daten für die Leistungsbilanzsalden der letzten Jahre von Portugal und Lett‐ land. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein? Divergierende wirtschaftliche Entwicklungen in Teilgebieten einer Wäh‐ rungsunion stellen ein zentrales Problem dar. Die Geld- und Währungspo‐ litik richtet sich an dem Gesamtraum aus. Kommt es nur in einem Land oder einer Region zu einer Abschwächung der Konjunktur und zu einem Leis‐ tungsbilanzdefizit, dann müssen interne Anpassungsprozesse die Wirkung des Wechselkurses ersetzen. Preise und Löhne müssen angepasst werden, um die Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen. Diese Art von Flexibilität ist essenziell und führte schon früh zur Feststellung der EZB: „Die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Divergenzen im Euroraum tendenziell von Dauer sind, deutet darauf hin, dass die Volkswirtschaften im Eurogebiet nicht fle‐ xibel genug sind“ (Europäische Zentralbank 2008, S. 30. Das Problem, dass eine Währungsunion nur noch einen Wechselkurs gegenüber den Partner‐ ländern hat, ist ein immanentes Problem der Währungsunion, das eine um‐ sichtige Wirtschaftspolitik und Flexibilität erfordert. 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet Eine einheitliche Geldpolitik impliziert einheitliche Zinssätze für das Euro- Währungsgebiet. Das reale Auseinanderdriften der konjunkturellen Ent‐ wicklung und der Inflation in der Eurozone hätte in dem ersten Jahrzehnt des Bestehens des Eurosystems differenzierte Zinssätze erfordert. Auch diesbezüglich gilt, dass bei asymmetrischen Schocks oder asymmetrischer Wirtschaftsdynamik die einheitliche Geld- und damit Zinspolitik durchaus problematische Ergebnisse hat. 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 297 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 297 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 297 19.10.2020 12: 34: 19 19.10.2020 12: 34: 19 <?page no="298"?> 10.7.1 Geldpolitische Strategie - Die Kontroverse um die Zinspolitik Geldmengensteuerung Die EZB verfolgt, anders als seinerzeit die Deutsche Bundesbank, die ihre Geldpolitik im Wesentlichen am Wachstum der Geldmenge ausgerichtet hatte, einen geldpolitischen Ansatz, der Elemente der Geldmengensteue‐ rung mit einer Inflationssteuerung verbindet. Box 61 | Geldpolitische oder fiskalische Dominanz für das Preisniveau? Analytischer Ansatzpunkt der Geldmengensteuerung (monetaristischer Ansatz) ist die Quantitätsgleichung, die einen Zusammenhang zwischen Geldmenge (M), Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (V) und dem nomi‐ nellen Bruttoinlandsprodukt (Y n = P x Y r ) postuliert: M x V = P x Y r . In Wachstumsraten ausgedrückt und nach w M aufgelöst, erhält man: w M = w P + w Yr w V . Die Wachstumsrate der Geldmenge entspricht der Inflationsrate einschließlich der Wachstumsrate des BIP real abzüglich der Veränderungsrate der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Inflation ist nur dann möglich, wenn die Geldmenge stärker als das um die Um‐ laufgeschwindigkeit korrigierte BIP real steigt. Auch im Falle einer Zinssteuerung durch die Notenbank (neu-keysianischer Ansatz) ist prinzipiell die Geldpolitik für das Erreichen der Preisstabilität aus‐ schlaggebend (vgl. Bofinger 2019). Dieser klassischen Auffassung der geldpolitischen Dominanz für den Geldwert steht die sogenannte Fiskaltheorie des Preisniveaus gegenüber (vgl. Christiano/ Fitzgerald 2000), die auf die Bedeutung der Fiskalpolitik für die Inflation insbesondere bei ausgeprägter öffentlicher Verschul‐ dung hinweist (vgl. Braunberger 2012) Grundlage dafür ist die inter‐ temporale Budgetgleichung des Staates, wonach stark vereinfacht der reale Schuldenstand des Staates (Nominalschuld (D)/ Preisniveau (P)) in der Gegenwart den diskontierten preisbereinigten Primärüberschüssen (Steuereinnahmen abzüglich Staatsausgaben ohne Zinszahlungen) in der Zukunft (PÜ* ) entsprechen muss: D/ P = PÜ* . Wird einmal ange‐ nommen, dass die reale Staatsschuld höher als der Gegenwartswert der künftigen Primärüberschüsse ist, bedarf es zur Einhaltung der Budget‐ 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 298 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 298 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 298 19.10.2020 12: 34: 19 19.10.2020 12: 34: 19 <?page no="299"?> gleichung entweder einer strikten Konsolidierungspolitik (Austerität) durch Steigerung von PÜ* (Ausgabenkürzung bzw. Steuererhöhung) oder eines Schuldenschnitts zur Verminderung von D durch Staatsin‐ solvenz mit Umschuldung. Sofern beide Alternativen politisch nicht umsetzbar erscheinen, verbleibt der Weg, über eine Anpassung des Preisniveaus P durch Inflation die Solvenz des Staates sicherzustellen. Damit ändert sich die traditionelle Aufgabenverteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik: „Die Geldpolitik stabilisiert die reale Staatsverschul‐ dung, während die Inflation von den Erfordernissen der Fiskalpolitik bestimmt wird“ (Weidmann 2013). Die Zwei-Säulen-Struktur steht symbolisch für diese Orientierung, wobei die Bedeutung der Säule „wirtschaftliche Analyse“ in jüngster Zeit wegen der Schwankungen der Geldnachfrage und der instabilen Beziehung zwi‐ schen Geldmenge und dem Preisniveau noch zugenommen hat. Die Rolle der Zinssätze Aus Abb. 58 ist die Entwicklung der von der EZB festgelegten Zinssätze von 1999-2019 zu entnehmen. Für die Beschreibung und Einschätzung der Zins‐ entwicklung sind vier Zinssätze von besonderer Bedeutung: Der Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte (Leitzins), der Zinssatz für die Ein‐ lagefazilität (zu diesem Satz können Banken bei der Zentralbank Einlagen tätigen), der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität (zu diesem Zinssatz können sich Banken kurzfristig Geld von der Zentralbank leihen). Häufig wird als viertes der EONIA (Euro Overnight Index Average) genannt, der Zinssatz, der sich bei Geldgeschäften zwischen den Banken bildet (Geld‐ marktzins). In der Zinspolitik der EZB lassen sich mehrere Phasen unterscheiden. Bis 2006 waren die Zinsen relativ stabil. Von 2006-2008 reagierte die EZB mit sukzessive ansteigenden Zinssätzen. Nach Ausbruch der Vertrauenskrise im Jahr 2008 wurden die Zinssätze deutlich abgesenkt. Nach zwischenzeitlicher Zunahme in den Jahren 2011-2012 liegt der Leitzins seit 2016 bei 0 % und die Werte für die Spitzenrefinanzierung belaufen sich zu Beginn des Jahres 2020 auf 0,25 % und für die Einlagenfazilität auf -0,50 %. 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 299 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 299 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 299 19.10.2020 12: 34: 19 19.10.2020 12: 34: 19 <?page no="300"?> Abb. 58: Entwicklung der EZB-Zinssätze 1999 - 2019 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 1999-09 2000-06 2001-03 2001-12 2002-09 2003-06 2004-03 2004-12 2005-09 2006-06 2007-03 2007-12 2008-09 2009-06 2010-03 2010-12 2011-09 2012-06 2013-03 2013-12 2014-09 2015-06 2016-03 2016-12 2017-09 2018-06 2019-03 2019-12 Zinssatz für die Einlagefazilität Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität Abb. 58: Zinsentwicklung in der Eurozone, 1999-2019 Zur Beurteilung der Zinspolitik einer Notenbank kann das Konzept der Taylor-Regel herangezogen werden (vgl. Taylor 1993). Ermittelt wird der sog. Taylor-Zins, der ein mit dem Ziel der Preisstabilität und der konjunk‐ turellen Entwicklung kompatibles Geldmarktzinsniveau angibt: i t = r g + π t + α (π t - π* ) + β (y t y tpot ), mit i t = Taylor-Zins, r g = 2 = natürlicher (gleichgewichtiger) Realzins, π t = (erwartete) Inflationsrate, π* = 2 = Ziel‐ inflationsrate, y t = aktueller Output und y tpot = potentieller Output. Die Pa‐ rameter α und β stellen mit einem Wert von jeweils 0,5 Gewichtungsfaktoren für das Inflationsziel und das Outputziel dar. Ist in einem Gleichgewicht die Inflationslücke (π t π* ) und die Outputlücke (y t y tpot ) gleich Null, dann entspricht der Taylor-Zins dem Realzins plus der (erwarteten) Inflationsrate („Fisher-Gleichung“). Bei Abweichungen der aktuellen Inflationsrate vom Preisstabilitätsziel bzw. des tatsächlichen vom Potentialoutput ist der Zins entsprechend anzupassen. Eine Einschätzung der Geldpolitik ist möglich, wenn der Taylor-Zins mit dem aktuellen Geldmarktzins verglichen wird. Liegt der Geldmarktzins niedriger als der Taylor-Zins, ist die Geldpolitik der Zentralbank zu expansiv; liegt der tatsächliche Zins oberhalb des Tay‐ lor-Zinses, dann sind die monetären Bedingungen restriktiv. 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 300 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 300 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 300 19.10.2020 12: 34: 20 19.10.2020 12: 34: 20 <?page no="301"?> Unter Anwendung der Taylor-Regel auf den Euro-Raum wird vom Sach‐ verständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2018) je nach Annahmen ein Taylor-Zins von 2 % bis 3 % empfohlen und auf das Risiko einer verspäteten Straffung der Geldpolitik verwiesen (vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent‐ wicklung 2019, Ziff. 57). Demgegenüber wird das niedrige Zinsniveau in Europa und darüber hinaus insbesondere mit einem Rückgang des natürlichen Realzinses erklärt, der sich aus einem zu großen Kapitalangebot (hohe Ersparnisse) im Vergleich zur Kapitalnachfrage (geringe Nachfrage nach Krediten) ergibt (vgl. Wirt‐ schaftsdienst 2020). Box 62 | Wie ist die Zinspolitik der EZB zu bewerten? Die Zinspolitik einer Zentralbank steht grundsätzlich im Fokus öffent‐ licher Debatten und Kritik. Dies gilt selbstverständlich auch für die Po‐ litik der EZB. Kritik an der Zinspolitik einer Zentralbank orientiert sich z. B. an der Zielerreichung, an der Befolgung von in der Geldpolitik gül‐ tigen Prinzipien und Regeln, an der Wirkung auf die Gesamtwirtschaft oder auf Sektoren, an der Frage der Zeitverzögerung bei der Wirkung geldpolitischer Impulse, an der Wirkung in dem gesamten Währungs‐ raum oder in Regionen, an der Bewertung eines Problems und an der Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten einer Zentralbank in einem Konjunkturzyklus. Daher ist zunächst zu fragen, ob die Zinspolitik hinsichtlich der Reali‐ sierung des Ziels der Preisstabilität erfolgreich war. Viele konzedieren der EZB eine gelungene Politik, andere betonen aber das systematische Unterschreiten des 2 Prozent-Ziels in mehreren Jahren. Darüber hinaus ist die Frage zu beantworten, ob die EZB ihre Instru‐ mente auch zur Unterstützung der Wirtschaftspolitik eingesetzt hat. Ei‐ nige Kritiker der EZB verweisen auf die im Vergleich zu den USA niedrigen Wachstumsraten in der Eurozone und sehen eine Mitverant‐ wortung der EZB an dem schwachen Wachstum. Sie habe zu spät und zu wenig entschieden reagiert. Dem gegenüber steht die Einschätzung, dass die ungewöhnliche Zinspolitik ganz wesentlich zu dem Auf‐ schwung in der Eurozone in den Jahren 2016-2018 beigetragen hat. 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 301 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 301 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 301 19.10.2020 12: 34: 20 19.10.2020 12: 34: 20 <?page no="302"?> Das Festhalten an der Niedrigzins- und der Nullzinspolitik seit 2016 wird von einigen Kritikern als ursächlich für eine Blasenbildung in Immobi‐ lien- und Aktienmärkten gesehen. Die Politik der EZB verursacht aus dieser Perspektive eine schwerwiegende Fehlallokation des Kapitals. Auch die Befürworter der EZB-Politik sehen hier tendenziell eine pro‐ blematische Entwicklung, die allerdings ohne wirkliche Alternative sei. Die langanhaltende Phase der Niedrigzinsen, so die Klage insbesondere in Deutschland, erschüttere die Geschäftsmodelle von Banken, Versi‐ cherungen und anderen Finanzintermediären, und trage somit zur In‐ stabilität des Finanzsektors bei. Den Verlierern der Niedrigzinspolitik stehen aber auch Gewinner gegenüber: Kreditnehmer profitieren ganz allgemein. Insbesondere die Staaten, die sich nun günstiger refinanzie‐ ren können und somit knappe Ressourcen in andere Bereiche investie‐ ren können, haben deutliche Vorteile. Ein anderer Vorwurf bezieht sich darauf, dass die Nullzinspolitik trotz anspringender Konjunktur in den Jahren 2016-2018 zur Folge hat, dass die EZB bei einer erneuten Rezession keinen zinspolitischen Hand‐ lungsspielraum mehr habe. Die Befürworter der Politik betonen die Notwendigkeit an dem Festhalten der Niedrigzinspolitik und sehen die Möglichkeiten der Zentralbank auch bei einem Zinssatz von Null als noch nicht ausgeschöpft an. Notenbankfähige Sicherheiten Für ihre geldpolitischen Geschäfte verlangt die Europäische Zentralbank „notenbankfähige“ Sicherheiten. In der Krise wurden die von der EZB for‐ mulierten Standards herabgesetzt. Damit wurde ein Weg eröffnet, Staats‐ anleihen von Krisenländern als Sicherheiten zu akzeptieren, ein Schritt, der sehr unterschiedlich beurteilt wurde: Befürworter dieser Politik betonten die Notwendigkeit, in außerordentlichen Zeiten auch außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, sie sehen die langfristigen Gefahren als verant‐ wortbar an. Kritiker sahen hierin einen Bruch mit den Grundprinzipien des verantwortungsvollen Geschäftsgebarens der Zentralbank, die durch Ein‐ gehen überhöhter Risiken und bewusster Inkaufnahme von Wertverlusten 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 302 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 302 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 302 19.10.2020 12: 34: 20 19.10.2020 12: 34: 20 <?page no="303"?> den im Lissabon-Vertrag festgelegten Ausschluss der monetären Staatsfi‐ nanzierung hintertreibt. Wertpapierankaufprogramme der EZB In der Krise begann die EZB mit der Ankündigung und Umsetzung innova‐ tiver Programme zum Ankauf von Vermögenswerten. Sowohl hinsichtlich des quantitativen Umfangs als auch hinsichtlich des Kaufs von Vermögens‐ werten, die in früheren Zeiten nicht als qualitativ ausreichend bewertet wurden, beschritt die EZB eine neue Welt. Besonders kontrovers war die Bekanntgabe des OMT-Programms („Outright Monetary Transactions“), mit dem gegebenenfalls unbegrenzt Anleihen von europäischen Krisenstaaten am Sekundärmarkt aufgekauft werden können. Der Ankauf ist mit der Be‐ dingung verknüpft, dass die betroffenen Staaten ein wirtschaftliches An‐ passungsprogramm durchführen. Befürworter der Maßnahme sahen in die‐ sem Programm ein positives Signal der EZB zur Beruhigung der Märkte und zur Stabilisierung der Erwartungen. Kritiker sehen darin eine Maßnahme, die der Refinanzierung von Staaten dient, was mit dem Mandat der EZB nicht kompatibel ist. In Deutschland stand dieses Programm im Mittelpunkt der 2013 eingereichten Klage bei dem Bundesverfassungsgericht. In einem Auf‐ ruf deutscher Ökonomen im September 2013 heißt es, die monetäre Staats‐ finanzierung sei zu Recht verboten, da die Unabhängigkeit der Zentralbank Priorität habe. Ihre Aufgabe sei die Sicherung der Preisstabilität, und nicht, die Risikoprämien von Staatsanleihen zu verringern (vgl. Frankfurter All‐ gemeine Zeitung 2013). Der von der EZB Mitte 2014 initiierte Ansatz zum Ankauf von Vermögens‐ werten (Asset Purchase Programme - APP) wurde 2015 über die bestehen‐ den Programme für Asset-Backed Securities (ABSPP) und für gedeckte Schuldverschreibungen (CBPP3) hinaus erweitert und auf Käufe von Anlei‐ hen ausgedehnt, die von Zentralregierungen im Euroraum und weiteren europäischen Institutionen begeben wurden (PSPP). Im Jahr 2016 wurde das CSPP-Programm aufgelegt, das sich auf Ankäufe von Unternehmensanlei‐ hen des Nicht-Finanzsektors bezieht. Während in den ersten Monaten des Jahres 2019 keine Nettokäufe mehr erfolgten, sondern nur die Beträge aus fälligen Anleihen reinvestiert wurden, hat der EZB-Rat beschlossen, ab No‐ vember 2019 die Anleihekäufe in Höhe von monatlich 20 Mrd. € wieder aufzunehmen. Abb. 59 zeigt, in welchem Umfang die EZB im Rahmen dieses 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 303 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 303 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 303 19.10.2020 12: 34: 21 19.10.2020 12: 34: 21 <?page no="304"?> Ansatzes Finanzaktivaktiva erworben hat, deren Bestand sich Ende 2019 auf knapp 2,7 Billionen € beläuft (vgl. Europäische Zentralbank 2020b). Abb. 59: Ankauf von Vermögenswerten durch die EZB im Rahmen des APP-Programms 0 400 800 1200 1600 2000 2400 2800 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Mrd. EUR Jahr PSPP CBPP3 CSPP ABSPP Abb. 59: Ankauf von Vermögenswerten durch die EZB im Rahmen des APP-Pro‐ gramms Vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017, Kap. 4, 2018, 2019) ist empfohlen worden, die sehr ex‐ pansive Geldpolitik an die makroökonomische Entwicklung anzupassen und zu einer Strategie der geldpolitischen Normalisierung überzugehen. Um die Erwartungsbildung der Marktteilnehmer zu erleichtern, könnte das Instru‐ ment der Forward Guidance stärker genutzt und zu einer EZB-Ratsprognose ausgebaut werden. Forward Guidance - die Orientierung über die künftige Entwicklung der Geldpolitik Vor dem Hintergrund volatiler Finanzmärkte ist die Verständigung der geld‐ politischen Schritte und der Strategie von essenzieller Bedeutung. Die Eu‐ ropäische Zentralbank kommuniziert in vielfältiger Form ihre Intentionen 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 304 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 304 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 304 19.10.2020 12: 34: 21 19.10.2020 12: 34: 21 <?page no="305"?> und Aktionen, durch Pressekonferenzen, Presseinformationen, Veröffentli‐ chungen. In der Eurokrise übernahm die EZB im Jahr 2013 die in den USA eingeführte und als „forward guidance“ bezeichnete Kommunikationspolitik (vgl. Deutsche Bundesbank 2013, Europäische Zentralbank 2014). Sie soll Orientierung über die Ausrichtung der Geldpolitik und damit einen Ausblick auf die zukünftige Zinsentwicklung geben. Die EZB verfolgt damit stärker als zuvor die Stabilisierung der Erwartungen, ohne sich rechtlich und ver‐ bindlich festzulegen. Befürworter sehen darin ein angemessenes Instrument zur Beruhigung und Orientierung der Märkte, Kritiker halten diese Politik für problematisch, die Antizipation zukünftiger Schocks sei nicht möglich, ein Vertrauensverlust bei einem notwendigen Kurswechsel vorprogram‐ miert. Vertraulichkeit und Transparenz In den ersten Jahren der Existenz der EZB waren die Beratungen des Zen‐ tralbankrates vertraulich. Im Jahr 2013 wurde vorgeschlagen, die Statuten zu ändern und künftig die Protokolle zu veröffentlichen, um damit das Ver‐ trauen in die Arbeit der Notenbank zu stärken. Befürworter sehen darin einen wichtigen Schritt zu mehr Transparenz, Kritiker befürchten, dass die Mitglieder der Zentralbankrates stärker als vorher nationale Interessen ver‐ folgen, wenn sie davon ausgehen müssen, dass in den Heimatländern ihre Äußerungen und Entscheidungen stets bekannt werden. 10.7.2 Die Grenzen der Geldpolitik Die Geld- und Währungspolitik ist von herausragender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes und der europäischen Volkswirt‐ schaft. Die Geldpolitik kann wichtige Signale setzen, sie kann wesentlich auf die Dynamik des wirtschaftlichen Geschehens Einfluss nehmen. Wenn die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Währungsunion jedoch nicht stabilitäts- und zukunftsorientiert ist, wird die Geldpolitik überfordert, miss‐ braucht und langfristig beschädigt. Die eigentliche Grundlage für die Stabi‐ lität einer Währung ist nicht die Währungspolitik, sondern eine solide Wirt‐ schaftspolitik. Die Eurokrise hat diesen Zwiespalt immer wieder deutlich werden lassen: Gelingt es den Staaten nicht, ihre fiskalischen Probleme zu lösen, schaffen die Länder es nicht, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirt‐ schaft zu erhöhen, dann ist die Geldpolitik überfordert (vgl. Gern/ Kooths/ 10.7 Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet 305 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 305 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 305 19.10.2020 12: 34: 21 19.10.2020 12: 34: 21 <?page no="306"?> Stolzenburg 2019). Die Staaten sind für eine stabilitätsgerechte Politik ver‐ antwortlich. 10.7.3 Die EZB als „lender of last resort“ - Liquiditätsgeber der letzten Instanz Die Befassung mit den Eigenheiten einer Währungsunion im Vorfeld ihrer Einführung in Europa ließ einen wichtigen Aspekt einer solchen Gemein‐ schaft vergessen: Die „Lender of last resort“-Funktion der Zentralbank än‐ dert sich (vgl. Marsh 2013, S. 31-35). Die EZB übernimmt diese Funktion für die Währungsunion als Ganzes. Dies gilt aber nicht für einzelne Mitglieds‐ staaten (vgl. Illing/ König 2014). Box 63 | Gemeinsame Währung und “lender of last resort” „A country that gives up its monetary sovereignty by dollarising or adopting the euro may gain greater credibility on inflation but may have to pay more to compensate investors for counter-party risk. …. This can be seen starkly by comparing Britain with Spain … Based on debts, de‐ ficits and inflation, Britain should be the riskier credit. But British bonds yield around 2.3 % whereas Spain’s yield around 5.5 %. One reason is that Britain can still devalue to boost growth; Spain can’t. Another is that it has a lender of last resort; Spain doesn’t” (Economist 2011). 10.8 Schlussfolgerung Die Geld- und Währungspolitik wird auch in den kommenden Jahren einen zentralen Platz in der Entwicklung der Europäischen Union und der Euro‐ zone einnehmen. Die Volatilität in der Weltwirtschaft, die Schwäche einiger europäischer Staaten, und die nicht vollendete Wirtschafts- und Währungs‐ union weisen der Geldpolitik eine besondere Verantwortung zu. Ganz we‐ sentlich sind aber auch andere Politikbereiche gefordert, die Eurozone und die europäische Wirtschaft auf eine solide Grundlage zu stellen. 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 306 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 306 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 306 19.10.2020 12: 34: 22 19.10.2020 12: 34: 22 <?page no="307"?> 10.9 Wichtige Begriffe Europäische Zentralbank, Preisstabilität, Zwei-Säulen-Strategie, Of‐ fenmarktgeschäft, Ständige Fazilitäten, Mindestreservesätze, Tender‐ verfahren, Mandat der EZB, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Geldmengensteuerung, Sicherheiten, OMT-Programm, Forward Gui‐ dance, Liquiditätsgeber der letzten Instanz, Taylor-Zins 10.10 Literatur Bofinger, Peter (2019): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre: Eine Einführung in die Wissenschaft von den Märkten, 5. aktualisierte Auflage, Hallbergmoos, Pearson Braunberger, Gerald (2012): Die Inflation springt aus der Kiste: Die Fiskaltheorie des Preisniveaus. (Vor Risiken und Nebenwirkungen wird ausdrücklich gewarnt.), Frankfurter Allgemeine, 25. September 2012 Burda, Michael (2013): „Plädoyer für eine neue EZB“, in: WirtschaftsWoche, 17. 6. 2013, S. 28 Christiano, Lawrence J./ Fitzgerald, Terry J. (2000): „Understanding the Fiscal Theory of the Price Level“, in: Economic Review, vol. 36, No. 2, S. 1-37 Deutsche Bundesbank (2013): „Forward Guidance“ - Orientierung über die zukünf‐ tige Ausrichtung der Geldpolitik“, in: Monatsbericht August 2013, S. 31-33 Deutsche Bundesbank (2020): Monatsbericht Januar 2020, Statistischer Teil, Frank‐ furt Economist (2011): Central-bank lending to government serves a valuable, though risky, purpose, 5. November 2011 Europäische Zentralbank (2008): Monatsbericht - 10 Jahre EZB, Frankfurt Europäische Zentralbank (2009): „Rotation der Stimmrechte im EZB-Rat“, in: Mo‐ natsbericht Juli, S. 101-110 Europäische Zentralbank (2010 a): „Entwicklungen und Perspektiven der Beziehun‐ gen der EZB zu den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union“, in: EZB Monatsbericht, Januar 2010, S. 77-90 10.9 Wichtige Begriffe 307 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 307 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 307 19.10.2020 12: 34: 22 19.10.2020 12: 34: 22 <?page no="308"?> Europäische Zentralbank (2011): Die Geldpolitik der EZB, Frankfurt Europäische Zentralbank (2014): “The ECB's forward guidance”, in: Monthly Bulle‐ tin, April 2014, S. 65-73 Europäische Zentralbank (2020a): Statistical Data Warehouse, Internet: https: / / sdw .ecb.europa.eu/ home.do Europäische Zentralbank (2020b): Asset purchase programmes, Internet: www.ecb. europa.eu/ mopo/ implement/ omt/ html/ index.en.html Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 2013: „Deutsche Ökonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor“, 11. September 2013. Gern, Klaus-Jürgen/ Kooths, Stefan/ Stolzenburg, Ulrich (2019): Euro at 20: The Mo‐ netary Union from a Bird’s-eye View, Study for the Committee on Economic and Monetary Affairs, PE 631.038, Luxemburg Görgens, K./ Ruckriegel, K./ Seitz, F. (2013): Europäische Geldpolitik. Theorie, Empi‐ rie und Praxis, 6. Aufl., wisu-Texte, Bd. 8285, Konstanz, München Illing, Gerhard/ König, Phillip (2014): „Die Europäische Zentralbank als Lender of Last Resort“, in: DIW Wochenbericht 24, S. 541-554 Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2012): Stabile Architektur für Europa - Handlungsbedarf im Inland. Jahresgut‐ achten 2012/ 2013, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017): Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2017/ 2018, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2018): Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, Jahresgutachten 2018/ 19, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2019): Den Strukturwandel meistern, Jahresgutachten 2019/ 20, Wiesbaden Spahn, Heinz-Peter: Geldpolitik (2012): Finanzmärkte, neue Makroökonomie und zinspolitische Strategien, 3. Auflage, München 10 Die Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion 308 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 308 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 308 19.10.2020 12: 34: 22 19.10.2020 12: 34: 22 <?page no="309"?> Stark, Jürgen (2019): Die geldpolitische Geisterfahrt der EZB wird auch mit Draghis Rücktritt kein Ende finden“, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.1.2019 Taylor, John (1993): „Discretion versus Policy Rules in Practice“, in: Carnegie Ro‐ chester Conference Series on Public Policy, 39, S. 195-214 Weidmann, Jens (2013): Wer hat die Oberhand? Das Problem der fiskalischen Do‐ minanz, Vortrag auf der BdF-Bbk-Konferenz „Macroeconomics and Finance“, Pa‐ ris, 24. 05. 2013, Internet: https: / / www.bundesbank.de/ Redaktion/ DE/ Reden/ 2013/ 2013_05_24_weidmann.html #f9 Wirtschaftsdienst (2020): Niedrigzinsen - Ursachen und Wirkungen, Zeitgespräch, mit Beiträgen von Marcel Fratscher, Clemens Fuest, Gerhard Illing, Alexander Kriwoluzky, Ulrike Neyer, Carl Christian von Weizsäcker, Timo Wollmershäuser, 100. Jg., H. 1, S. 8-28 10.10 Literatur 309 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 309 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 309 19.10.2020 12: 34: 22 19.10.2020 12: 34: 22 <?page no="310"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 310 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 310 19.10.2020 12: 34: 22 19.10.2020 12: 34: 22 <?page no="311"?> 11 Die Wirtschaftsunion Leitfragen Warum erzwingt die Schaffung einer Währungsunion die Schaffung einer Wirtschaftsunion? Welche Mechanismen wurden im Vertrag von Lissabon vorgesehen, um die Zusammenarbeit im Rahmen der Wirtschaftsunion zu organisie‐ ren? Welche Veränderungen der Wirtschaftsunion wurden in Folge der Eu‐ rokrise vorgenommen? Welche Herausforderungen ergeben sich für die Zukunft der Wirt‐ schaftsunion? 11.1 Einführung Bereits in dem Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirt‐ schaftsgemeinschaft wurde die „schrittweise Annäherung der Wirt‐ schaftspolitik der Mitgliedstaaten“ gefordert, eine „harmonische Entwick‐ lung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft“ war das Ziel. Das Bekenntnis der EU-Staaten zur Notwendigkeit der Abstimmung der Wirt‐ schaftspolitik findet sich in den später unterzeichneten EU-Verträgen und so auch im Lissabon Vertrag. In Artikel 5 des AEUV heißt es, dass die 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 311 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 311 19.10.2020 12: 34: 23 19.10.2020 12: 34: 23 <?page no="312"?> Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union koordinie‐ ren. Die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten wird als eine „Angelegen‐ heit von gemeinsamem Interesse“ bezeichnet. Die multilaterale Überwa‐ chung wurde in Artikel 121 festgeschrieben. Klare prozedurale Wege wurden vereinbart, um die Konvergenz der Wirtschaftsleistungen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. 11.2 Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille Eine wachsende Einsicht in die Notwendigkeit der Koordination der Wirt‐ schaftspolitik ergab sich aus den Erfahrungen mit der währungspolitischen Zusammenarbeit. Bereits in den 60 Jahren kam es zu wirtschaftspolitischen Spannungen, da sich die wirtschaftliche Dynamik, aber auch die Inflations‐ raten der europäischen Länder, zum Teil erheblich unterschieden und somit regelmäßige Wechselkursanpassungen notwendig waren. Als Anfang der 70er-Jahre das Bretton-Woods-System kollabierte, wählten die Mitgliedstaa‐ ten der Union nicht den Weg flexibler Wechselkurse. Sie wollten vielmehr die Währungsschwankungen innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen eines festen Wechselkurssystems begrenzen. Damit war klar, dass die währungs‐ politische Zusammenarbeit eine besondere wirtschaftspolitische Disziplin und die Weiterentwicklung der Koordination der Wirtschaftspolitik not‐ wendig macht. Trotz neuer Abstimmungsmechanismen waren aber auch die 80er-Jahre durch zum Teil schmerzhafte Auseinandersetzungen über die währungspolitische Zusammenarbeit geprägt. Mit der Entscheidung für die Einführung der gemeinsamen Währung in den 90er-Jahren und der Verfolgung einer einheitlichen Geld- und Währungs‐ politik wurde dieser Koordinationsbedarf der Mitgliedstaaten noch dringli‐ cher und stärker. Mehrere Gründe sind zu nennen: ■ In einer Währungsunion, in der es das Instrument der Abwertung der eigenen Währung nicht mehr gibt, können unterschiedliche Inflati‐ onsraten, hohe Haushaltsdefizite und in der Folge eine hohe öffentli‐ che Verschuldung, instabile Finanzmärkte, Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz und andere wirtschaftspolitischen Fehlentwicklun‐ gen die Stabilität der Währungsgemeinschaft bedrohen. 11 Die Wirtschaftsunion 312 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 312 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 312 19.10.2020 12: 34: 24 19.10.2020 12: 34: 24 <?page no="313"?> ■ Erhebliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Dynamik können in einer Währungsunion wirtschaftliche und soziale Spannungen erzeu‐ gen. ■ In einer Währungsunion verfügen Mitgliedstaaten nicht mehr über das makroökonomische Instrument einer eigenständigen Geldpolitik. Umso wichtiger ist dann, dass fiskalpolitische Impulse in Krisenzeiten so genutzt werden, damit optimale Ergebnisse für die Volkswirtschaf‐ ten erzielt werden. ■ Die Fehlentwicklung in einem Land ist potenziell mit Externalitäten für andere Mitglieder der Währungszone verbunden: Zahlungs‐ schwierigkeiten eines Landes können die Bonität anderer Länder be‐ einflussen und damit die Zinsbelastung erhöhen. Abstimmungs- und Koordinierungsmechanismen mussten daher der neuen währungspolitischen Ära angepasst werden. Im Maastricht-Vertrag wurde ein institutionelles Rahmenwerk zur Koordination der Wirtschaftspolitik beschlossen und nachfolgend mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 ergänzt. Box 64 | Der Stabilitäts- und Wachstumspakt Der 1997 unterzeichnete Stabilitäts- und Wachstumspakt enthielt die zentralen Eckpunkte der Koordinierung in der Wirtschaftsunion. Im Mittelpunkt standen zunächst die Fiskalkriterien: Die öffentliche Neu‐ verschuldung sollte 3 % des BIP nicht überschreiten, die gesamtstaatliche Verschuldung sollte maximal 60 % gemessen am BIP betragen. In dem Pakt werden Regeln, die präventiv wirken und Schieflagen vermeiden sollen, und Regeln, die korrektiv wirken, d. h. dann greifen, wenn ein Problem eingetreten ist, unterschieden. Das diesbezügliche Regelwerk wurde im Lissabon-Vertrag weiter präzisiert. Die Eurokrise offenbarte jedoch, dass das System erhebliche Schwachstellen aufwies. Eine erneute Verfeinerung des Instrumentariums der Koordination wurde notwendig. Die Weiterentwicklung der wirtschaftspolitischen Koordinierung bleibt eine Herausforderung: In einer Währungsunion ist die Abstimmung der wirt‐ schaftspolitischen Herangehensweisen der Mitgliedstaaten unerlässlich, 11.2 Währungsunion und Wirtschaftsunion - die zwei Seiten einer Medaille 313 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 313 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 313 19.10.2020 12: 34: 24 19.10.2020 12: 34: 24 <?page no="314"?> und gleichzeitig ist zu beachten, dass die Verantwortung für die Haushalts-, Finanz- und Strukturpolitik grundsätzlich in den Händen der nationalen Regierungen verbleibt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion dieser Konflikt systemim‐ manent (vgl. Deroose/ Carnot/ Pench/ Mourre 2018). 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder Mit der Forderung nach Weiterentwicklung der Wirtschaftsunion verbinden sich vor allem vier Problemfelder. Die Mitgliedstaaten der Eurozone benö‐ tigen: ■ Regeln für den Umgang mit Haushaltsdefiziten und dem Problem ho‐ her Staatsverschuldung; ■ stabile Wirtschaftssysteme, welche sowohl makroökonomischen Schocks widerstehen können als auch Wachstum generieren; ■ stabile Finanzsysteme, welche sicherstellen, dass diese die Funktion der Finanzintermediation sinnvoll und effektiv wahrnehmen können; ■ eine Einigung darüber, welche Rolle die Fiskalpolitik in einer Eurozone spielen kann, welchen Spielraum die Einzelstaaten benötigen, und wie‐ viel gesamteuropäische Steuerung zweckmäßig und möglich ist. 11.3.1 Verantwortungsvolle Haushaltspolitik und die Begrenzung der Staatsverschuldung Für die öffentlichen Haushalte war bereits in dem Stabilitäts- und Wachs‐ tumspakt von 1997 die Obergrenze für die Nettoneuverschuldung von 3 % des BIP und für den öffentlichen Schuldenstand von 60 % des BIP verbindlich festgelegt worden. Nur jene Länder, welche diese Grenzwerte nicht über‐ schritten, sollten den Euro einführen dürfen. Die Disziplin, mit der diese Werte Beachtung fanden, war jedoch von Anfang an begrenzt. Staaten wie Griechenland, Italien und Belgien durften den Euro einführen, obgleich ihre Verschuldung weit über dem verabredeten Grenzwert lag, und Staaten wie Deutschland und Frankreich verstießen nach Einführung des Euros gegen die verabredete Neuverschuldungsgrenze, ohne dass Sanktionen ergriffen wur‐ den. 11 Die Wirtschaftsunion 314 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 314 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 314 19.10.2020 12: 34: 24 19.10.2020 12: 34: 24 <?page no="315"?> Nachdem im Zuge der Finanzkrise in den Mitgliedsländern der EU die Staatsverschuldung stark anstieg, waren neue Maßnahmen erforderlich. Im Jahr 2012 beschlossen 25 Staaten der EU den Vertrag über Stabilität, Koor‐ dinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion („Fiskal‐ vertrag“), in dem die Verabredungen strikter als im Stabilitäts- und Wachs‐ tumspakt von 1997 gefasst wurden. Unter anderem wurden Klage- und Sanktionsmöglichkeiten, Verschärfungen bei Nichteinhaltung der Grenz‐ werte und stärkere Transparenz verabredet. Jene Staaten, die den Referenz‐ wert für die öffentliche Verschuldung überschreiten, müssen den Schulden‐ überhang sukzessive abbauen. Das Ausgabenwachstum der öffentlichen Hand wird grundsätzlich auf das Wachstum des mittelfristigen Potential‐ wachstums begrenzt. Box 65 | Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Ein wesentliches Element wirtschaftspolitischer Stabilität besteht darin, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten. Darunter ist die Fähigkeit eines Staates zu verstehen, seine Verbindlichkeiten auf lange Sicht bedienen zu können (vgl. Europäische Zentralbank 2011, Europäische Kommission 2019, Bundesministerium der Finanzen 2020). In Abb. 60 sind schematisch die Einnahmen und Ausgaben des Staates für ein gegebenes Jahr t gegenübergestellt. Ein Budgetdefizit (Nettokreditauf‐ nahme) ergibt sich demnach als Summe aus einem Primärdefizit PD (Staats‐ ausgaben ohne Zinszahlungen abzüglich Steuern) und den Zinsausgaben (mit i = Zinssatz) aus der Bedienung der aufgelaufenen Staatsschuld (vgl. Blanchard 1990): NK t = D t - D t-1 = E t - T t + iD t-1 = PD t + iD t-1 . Bei einem schuldenfreien Staat (D t-1 = 0) stimmen Primär- und Budgetdefizit überein. Liegen Schulden aus der Vergangenheit vor, übersteigt das Budgetdefizit das Primärdefizit um die zusätzlichen Zinszahlungen (Sekundärdefizit). Während das Primärdefizit durch die Änderung von Einnahmen und Aus‐ gaben des Staates aktuell noch beeinflussbar ist, stellt ein Sekundärdefizit das Ergebnis zurückliegender und nicht mehr korrigierbarer Entscheidun‐ gen dar (vgl. Homburg 2005, S. 7-8). Erst wenn negative Primärdefizite, d. h. Primärüberschüsse, (T t - E t ) erzielt werden, die höher als die laufenden Zinsausgaben sind, kann der Schuldenstand vermindert werden. 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 315 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 315 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 315 19.10.2020 12: 34: 25 19.10.2020 12: 34: 25 <?page no="316"?> T = Steuern Einnahmen Ausgaben G = Personal- Sachausgaben Tr = Transfers E E - T = Primärdefizit NK = Netto- Kreditaufnahme iD = Zinsen auf aufgelaufene Staatsschuld Abb. 60: Öffentlicher Haushalt Durch Auflösen nach D t ergibt sich als Gleichung für den Schuldenstand zum Ende des Jahres t: D t = PD t + (1 + i) D t-1 . Um eine Ländervergleich‐ barkeit vornehmen zu können, werden die Größen relativ zum BIP aus‐ gedrückt. Wächst das BIP mit der Rate w BIP pro anno, lässt sich für die Schuldenstandquote schreiben: D t / BIP t = PD t / BIP t + (1 + i) D t-1 / (1 + w BIP )BIP t-1 bzw. pd t = p t + [(1 + i)/ (1 + w BIP )] d t-1 . Nach geeigneter Erweiterung erhält man als dynamische Gleichung der Schuldenakku‐ mulation: ∆d t = pd t + [(i w BIP )/ (1 + w BIP )] d t-1 . Neben der Primärdefizit‐ quote hat das Verhältnis von Zinssatz und BIP-Wachstumsrate („Schnee‐ balleffekt“) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Staatsschuldenquote. Zur Erreichung einer stabilen oder sinkenden Schuldenquote (∆d t ≤ 0) müssen daher ausreichend hohe Primärüber‐ schüsse erwirtschaftet werden, wenn das Zins-Wachstumsdifferential positiv ist (vgl. Europäische Zentralbank 2011, S. 66, Checherita-West‐ phal 2019). Die Projektionen auf der Grundlage dieser konventionellen Schuldendienstfähigkeitsanalyse (vgl. Europäische Kommission 2020) 11 Die Wirtschaftsunion 316 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 316 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 316 19.10.2020 12: 34: 25 19.10.2020 12: 34: 25 <?page no="317"?> unterliegen aber Einschränkungen. Neben der Berücksichtigung von Eventualverbindlichkeiten und impliziten Schulden des Staates dürfen auch die Interdependenzen zwischen den Bestimmungsgrößen nicht außer Acht gelassen werden (vgl. Europäische Zentralbank 2012). Die Bewertung der Haushaltsposition orientiert sich heute nicht nur an dem absoluten Wert der Verschuldung oder dessen Relation zum Bruttoinlands‐ produkt. Das Defizit wird analytisch nach einer strukturellen und einer konjunkturellen Dimension unterschieden. Das konjunkturelle Defizit schwankt im Zuge des Konjunkturzyklus. Im Fall einer schweren konjunk‐ turellen Krise erscheint ein Anstieg der relativen Verschuldung mit Blick auf das Wirken der automatischen Stabilisatoren vertretbar, solange die struk‐ turelle Komponente des Defizits nicht ebenfalls steigt. Durch diese Unter‐ scheidung und den Fokus auf das strukturelle Defizit soll vermieden werden, dass durch eine überzogene Austerität im konjunkturellen Abschwung die Krise verschlimmert wird. Entscheidend ist die mittelfristige Konsolidie‐ rung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht daher das strukturelle Defizit, dessen Anstieg eine dauerhafte Belastung für eine Volkswirtschaft darstellen kann. Box 66 | Fiskalische Regeln kontrovers Die Befürworter der fiskalischen Regel einer Maximalverschuldung von 60 Prozent sind skeptisch gegenüber der Politik. Ohne solche Verabre‐ dungen falle es der Politik schwer, die Staatsverschuldung zu begrenzen. Sie verweisen auf Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen die öf‐ fentliche Verschuldung in Verbindung mit hohen Zinsen zu kaum mehr tragbaren Belastungen für die Staatshaushalte geführt hat. Die Kritiker der Regel verweisen auf Länder wie die USA oder Japan, die deutlich höhere Verschuldungsquoten aufweisen, ohne dass die Märkte die Zahlungswürdigkeit der Staaten in Frage stellen. Die Grenze von 60 Prozent sei artifiziell. Wenn Investitionen in die Zukunft von Gesell‐ schaften, wie etwa in Bildung oder Klimaschutz, unterblieben, um die Grenzwerte einzuhalten, dann sei klar erkennbar, dass die Regel einer ökonomischen Rationalität entbehrt. 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 317 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 317 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 317 19.10.2020 12: 34: 26 19.10.2020 12: 34: 26 <?page no="318"?> 11.3.2 Die Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik - Stabile Wirtschaftssysteme Nicht nur haushaltspolitische Ungleichgewichte stellen in einer Währungs‐ union Risiken dar. Makroökonomische Ungleichgewichte im internationa‐ len Handel, dem Arbeitsmarkt, dem Finanzmarkt, dem Immobilienmarkt können ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf die Stabilität von Volkswirt‐ schaften und der Union haben. Die „Überwachung“ (surveillance) der EU-Staaten wurde daher auf diese Felder ausgeweitet. Das Erkennen von Risikobereichen soll erleichtert und frühzeitiges Gegensteuern ermöglicht werden Eine wichtige Lücke im Koordinierungsrahmen wurde damit ge‐ schlossen. Im Rahmen des sogenannten „Scoreboard des wirtschaftspoliti‐ schen Überwachungsverfahren“ werden die in Abb. 61 enthaltenen Indika‐ toren erfasst. Leistungsbilanzsaldo (gleitender Dreijahresdurchschnitt in Prozent des BIP) -4 % +6% Nettoauslandsvermögensstatus in Prozent des BIP -35 % Realer effektiver Wechselkurs - 42 Handelspartner auf Basis von HVPI über die letzten 3 Jahre +/ -5 % (Euroländer) +/ - 11% (andere EU-Länder) Veränderung der Weltexportmarktanteile über die letz‐ ten 5 Jahre -6 % Veränderung der nominalen Lohnstückkosten über die letzten 3 Jahre 9 % (Euroländer) 12% (andere EU-Län‐ der) Veränderung des Hauspreisindex deflationiert über 1 Jahr 6 % Kreditfluss im Privatsektor in Prozent des BIP 14 % Privater Schuldenstand in Prozent des BIP 133 % Öffentliche Verschuldung in Prozent des BIP 60 % 11 Die Wirtschaftsunion 318 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 318 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 318 19.10.2020 12: 34: 26 19.10.2020 12: 34: 26 <?page no="319"?> Arbeitslosenquote (3-Jahresdurchschnitt) 10 % Veränderung der Verbindlichkeiten des gesamten Fi‐ nanzsektors über 1 Jahr 16,5 % Erwerbsquote (% der Gesamtbevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren), Veränderung über 3 Jahre in Prozent‐ punkten -0,2 Langzeitarbeitslosenquote (% der Erwerbsbevölkerung im Alter von 15-74), Veränderung über 3 Jahre in Pro‐ zentpunkten 0,5 Jugendarbeitslosenquote (% der Erwerbsbevölkerung im Alter von 15-24), Veränderung über 3 Jahre in Prozent‐ punkten 2,0 Abb. 61: Scoreboard für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten Quelle: Eurostat 2019 Die entsprechenden Daten sind Teil der von der Kommission erstellten Be‐ richte, in denen Ungleichgewichte beschrieben und analysiert werden. Un‐ ter anderem auf dieser Basis entwickelt die Kommission „länderspezifische Empfehlungen“ für jedes Land. In besonders gefährdeten Staaten werden nachfolgend eingehende Überprüfungen der wirtschaftlichen Lage und der Handlungsoptionen durchgeführt. Die Kommission kann den Staaten Kor‐ rekturmaßnahmen empfehlen. Bei schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichten sind Sanktionen möglich. Allerdings stößt das Instru‐ mentarium an Grenzen. Wenn Staaten nicht bereit sind, die Empfehlungen umzusetzen und gar in der Öffentlichkeit ein Konflikt zwischen den Natio‐ nalstaaten und der Kommission ausgetragen wird (wie der Konflikt im Jahr 2019 zwischen der italienischen Regierung und den EU-Organen), wird deutlich, wie sehr das System der Wirtschaftsunion auf Mechanismen der informellen Vermittlung angewiesen ist. 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 319 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 319 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 319 19.10.2020 12: 34: 26 19.10.2020 12: 34: 26 <?page no="320"?> Box 67 | Stabilisierung der Wirtschaft kontrovers Der optimistische Blick auf das Erreichte zeigt, dass in vielen Ländern eine Stabilitätskultur entsteht; das Bewusstsein, dass Fehlentwicklun‐ gen schwerwiegende soziale Erschütterungen zur Folge haben können, hat die Bereitschaft zu Veränderungen in den Mitgliedstaaten gestärkt. Die Erhebung von Daten, die Erstellung von Länderberichten, die Erar‐ beitung von Empfehlungen sind hilfreich, um ein funktionsfähiges Früh‐ warnsystem zu etablieren. Kritiker verweisen demgegenüber auf die hartnäckigen makroökonomischen Ungleichgewichte, die erheblichen Leistungsbilanzsalden, die Diskrepanzen zwischen den nationalen Ar‐ beitslosenquoten oder die potenziellen Immobilienblasen. Trotz der re‐ gelmäßigen Thematisierung dieser Entwicklungen ist die Bereitschaft der Staaten, entschieden gegenzusteuern, gering. Dies lässt sich auch an dem hohen Leistungsbilanzsaldo Deutschlands ablesen, der seit Jahren von internationalen Organisationen kritisiert wird, aber in Deutschland wenig Bereitschaft zur Anpassung erzeugt. 11.3.3 Die Stabilisierung der Finanzmärkte Angesichts der Bedeutung der Finanzmärkte für die wirtschaftliche Entwick‐ lung und der engen Verbindung zwischen der Entwicklung der Staatshaus‐ halte und der Situation der Banken (Problem des „doom loop“) ist in diesem Bereich die wirtschaftliche Koordinierung intensiviert worden. Die Instabili‐ tät in einem Land kann angesichts der Vernetzung der Akteure der europäi‐ schen Finanzarchitektur schnell zu Problemen in anderen Ländern führen. Eine Währungsunion erfordert die Zusammenarbeit im Bereich der Finanzaufsicht, damit die Stabilität des privaten Finanzsystems gesichert werden kann (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt‐ schaftlichen Entwicklung 2017, Kap. 5, 2018, S. 215-221). Die Stabilität soll durch makroprudenzielle (das ganze Bankensystem betreffende) und mikroprudenzielle (einzelne Finanzintermediäre betreffende) Regulierung erreicht werden. Zahlreiche institutionelle Reformen wurden beschlossen, um einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus für Banken in Europa zu in‐ stallieren, Fehlentwicklungen und einem Vertrauensverlust in das Banken‐ system vorzubeugen und eine Fragmentierung des europäischen Finanz‐ 11 Die Wirtschaftsunion 320 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 320 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 320 19.10.2020 12: 34: 27 19.10.2020 12: 34: 27 <?page no="321"?> marktes zu verhindern. Die Mitgliedstaaten haben die Regulierung der nationalen Finanzmärkte verbessert. Die Koordinierung der Maßnahmen wurde intensiviert. Die Vorgaben für die Eigenkapitalausstattung der Ban‐ ken wurden verschärft. EU-weit koordinierte Stresstests werden genutzt, um auf Problemlagen aufmerksam zu machen. Das Europäische Finanzauf‐ sichtssystem (European System of Financial Supervision) mit der Europäi‐ schen Bankenaufsicht (European Banking Authority, EBA), der Aufsicht über Versicherungen und betriebliche Altersversorgung (European Insu‐ rance and Occupational Pensions Authority, EIOPA), der Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, EMA) und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systems Risk Board, ESRB) wurden geschaffen. Die Europäische Zentralbank ist die federführende Institution bei der Aufsicht systemrelevanter Banken. Ver‐ fahren zur Abwicklung von Banken sind etabliert, das E-Bankenabwick‐ lungsrecht wurde überarbeitet. Die Stabilität und Widerstandskraft des eu‐ ropäischen Bankensystems ist in den Jahren deutlich gestärkt worden (Deutsche Bundesbank 2019b, S. 31-50). Box 68 | Die Reform der Finanzarchitektur kontrovers Aus positiver Sicht wird angeführt, dass zahlreiche Reformmaßnahmen ergriffen, neue Institutionen geschaffen, die Vielzahl der Anreizpro‐ bleme erkannt und bearbeitet wurden. Die bessere Kapitalisierung der Banken und der Rückgang der notleidenden Kredite weisen in die rich‐ tige Richtung. Aus Sicht der Kritiker waren die Reformen der europäischen Finanz‐ marktarchitektur nicht ausreichend. Die europäischen Banken haben mit Blick auf ihre Erträge, ihren Börsenwert und ihre internationale Rolle in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung verloren. 11.3.4 Fiskalpolitik in der Wirtschafts- und Währungsunion - die Aufgabe der Koordinierung In einer Währungsunion verfügen die Einzelstaaten nicht mehr über die Option, die Geldpolitik für nationale konjunkturelle Impulse zu nutzen. Da‐ mit kommt der Fiskalpolitik eine besondere Bedeutung zu, will eine Regie‐ 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 321 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 321 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 321 19.10.2020 12: 34: 27 19.10.2020 12: 34: 27 <?page no="322"?> rung in der Krise oder im Boom konjunkturell gegensteuern. Die Erhöhung der Staatsausgaben oder die Senkung der Staatseinnahmen, um in der Krise die Konjunktur zu beleben, ist vor dem Hintergrund der Koordinierung der Haushaltspolitik nicht einfach zu beurteilen. ■ Die europäischen Länder müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie ein fiskalpolitisch expansiver Kurs zu bewerten ist, wenn ein Land die Fiskalkriterien der Staatsverschuldung und des Haushaltsdefizites überschreitet. ■ Da die konjunkturellen Zyklen häufig gleichlaufend sind, besteht bei fehlender Abstimmung der nationalen Maßnahmen die Gefahr, dass nicht das optimale Ergebnis erzielt wird. Sowohl ein insgesamt zu starker wie ein zu geringer Impuls ist denkbar. ■ Die konjunkturell veranlasste Ausgabensteigerung hat aufgrund der Integration der europäischen Märkte und des Ausmaßes der Außen‐ handelsorientierung einzelner Länder Auswirkungen auch in anderen Ländern (vgl. Alloza/ Cozmanca/ Ferdinandusse/ Jacquinot 2019). Vor diesem Hintergrund wird der Aufbau einer europäischen fiskalischen Kapazität gefordert. In den Jahren unmittelbar nach dem Höhepunkt der Krise wurde die Strenge, mit der die fiskalischen Verabredungen zur Begrenzung der Haushaltsdefi‐ zite durchgesetzt wurden, aufgeweicht. Die strikte Auslegung der ursprüng‐ lichen Regeln hatte impliziert, dass Länder nicht nur auf diskretionäre Maß‐ nahmen der Konjunkturpolitik verzichten, sondern sogar die automatischen Stabilisatoren unterbinden sollten. Es wuchs die Einsicht, dass Austerität in der Krise kontraproduktiv ist. Die Kritik keynesianisch argumentierender Vertreter an der Politik der EU bleibt jedoch deutlich: Die Anpassung wäre wesentlich leichter gefallen, hätte die EU keine so drastische Reduktion der Staatsausgaben in einzelnen Mitgliedsländern gefordert. Zudem könnte die Existenz eines europäischen Budgets für entschiedenes gemeinsames Handeln die Rückkehr zum Wachs‐ tumspfad erleichtern. Die Europäische Kommission (2017) arbeitet an der Entwicklung einer „Sta‐ bilisierungsfunktion“, welche die Staaten vor den Folgen eines wirtschaftli‐ chen Schocks schützen sollen, die auf nationaler Ebene allein nicht bewältigt 11 Die Wirtschaftsunion 322 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 322 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 322 19.10.2020 12: 34: 27 19.10.2020 12: 34: 27 <?page no="323"?> werden können. Allerdings ist eine deutliche Zurückhaltung auf Seiten ei‐ niger Mitgliedsländer festzustellen. Box 69 | Die Bewertung keynesianischer Politik Aus Sicht der Befürworter keynesianischer Politik ist es höchste Zeit, dass das fiskalpolitische Instrumentarium genutzt und ausgebaut wird. Dazu gehört, dass die Spielräume für Staaten erhöht werden und die EU selbst ein Budget erhält, um stabilisierend einzugreifen. Die Staaten, so die Argumentation, haben aus den Problemen der Vergangenheit ge‐ lernt, das Instrumentarium wurde verfeinert. Die Akzeptanz langer Pha‐ sen hoher Arbeitslosigkeit sind politisch, sozial und ethisch inakzepta‐ bel, wenn es entsprechende Handlungsmöglichkeiten gibt. Aus Sicht der Kritiker ist keynesianische Politik allenfalls in einer großen Krise geboten. Die Feinsteuerung der konjunkturellen Entwicklung ist Il‐ lusion. Diskretionäre fiskalpolitische Maßnahmen sind wegen der man‐ gelnden Zielgenauigkeit nicht effektiv. Verzögerungen im Erkennen eines konjunkturellen Abschwungs, in der Identifikation geeigneter Maßnah‐ men, im Durchsetzen solcher Maßnahmen im politischen Prozess und in der Auftragsvergabe sind in demokratischen Gesellschaften ernst zu neh‐ mende Hindernisse für eine schnell reagierende und wirksame Fiskalpoli‐ tik. Auch die Eigeninteressen politischer Akteure oder der bürokratischen Apparate stehen einer rationalen Fiskalpolitik im Wege. 11.3.5 Das europäische Semester und die Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik Seit 2011 erfolgt die Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Beschäfti‐ gungspolitik im Wesentlichen im Rahmen des sogenannten „Europäischen Semesters“. Mit diesem Begriff wird ein Zyklus von Maßnahmen bezeichnet, der mit einem Jahreswachstumsbericht der Europäischen Kommission be‐ ginnt und mit länderspezifischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten en‐ det. Im November eines jeden Jahres werden von der Kommission in dem Jahreswachstumsbericht die wichtigsten finanz-, wirtschafts- und beschäfti‐ gungspolitischen Herausforderungen für die Europäische Union benannt. Auf dieser Basis entscheidet der Europäische Rat über „Leitlinien für die Wirt‐ 11.3 Die Anforderungen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik - Vier Themenfelder 323 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 323 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 323 19.10.2020 12: 34: 28 19.10.2020 12: 34: 28 <?page no="324"?> schafts- und Finanzpolitik für die Mitgliedstaaten und die Europäische Union“. Diese Leitlinien sollen die Staaten dabei unterstützen, eine nachhal‐ tige und wachstumsorientierte Politik zu verfolgen. Die Empfehlungen geben konkrete Orientierungsmaßstäbe für die Finanzpolitik, die Wirtschaftspolitik und die Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2019). Die Mitgliedstaaten der Union erarbeiten auf dieser Grundlage ihre wirtschaftspolitischen Programme (Stabilitätsprogramme oder Konvergenzprogramme (SKP) oder Nationale Reformprogramme (NRP)), in denen die makroökonomischen Daten und die Strategie des jewei‐ ligen Landes beschrieben werden. Die Kommission prüft die Programme, und im Juni des Jahres beschließen der Rat der Europäischen Union bzw. der Eu‐ ropäische Rat Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik des Landes. Abb. 62: Ablauf des Europäischen Semesters Mitglied- Staaten Europäischer Rat Europäisches Parlament Ministerrat Europäische Kommission legt Jahreswachstumsbericht vor legt Länderberichte vor legt Entwürfe für länderspezifische Empfehlungen des Rates auf Rasis NRP und SKP vor debattiert Jahreswachstumsbericht/ Länderberichte berät länderspezifische Empfehlungen billigt länderspezifische Empfehlungen debattiert Jahreswachstumsbericht übermitteln bis Ende April ihre NRP sowie SKP an die EU-Kom. legt auf Frühjahrsgipfel für die Mitgliedsstaaten Richtlinien zur Ausarbeitung der NRP und SKP fest Abb. 62: Ablauf des Europäischen Semesters 11 Die Wirtschaftsunion 324 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 324 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 324 19.10.2020 12: 34: 28 19.10.2020 12: 34: 28 <?page no="325"?> Mit dem Europäischen Semester ist ein Mechanismus gefunden worden, der einen engen Dialog der Staaten mit den wichtigsten europäischen Institu‐ tionen möglich macht. Dabei hat sich in den letzten Jahren für die Abstim‐ mung des Europäischen Parlamentes, des Ministerrates und der Europäi‐ schen Kommission der Begriff des Trilogs etabliert. Die interinstitutionelle Zusammenarbeit dieser drei Organe kann formelle oder auch informelle Formen annehmen und dient der Annäherung der Positionen. Für jene Länder, welche die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht erfüllen, gilt eine besondere Form der Begleitung der Reformschritte durch die Kommission. Die Staaten sind unter Umständen verpflichtet, wirt‐ schaftliche Anpassungsprogramme vorzulegen, die vom Rat der Europäi‐ schen Union gebilligt werden müssen. Falls Mitgliedstaaten Finanzhilfepro‐ gramme benötigen und erhalten, sind weitergehende wirtschaftspolitische Maßnahmen erforderlich. Hinzu kommt, dass vierteljährlich Überwa‐ chungsmissionen entsandt werden, um den wirtschaftlichen Fortschritt zu überprüfen. Verständnisfrage Suchen Sie auf der Internetseite der Europäischen Kommission die na‐ tionalen Reformprogramme von zwei Mitgliedstaaten und vergleichen Sie die länderspezifischen Empfehlungen. 11.4 Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung Die Wirtschaftspolitik ist nationale Angelegenheit. Die Mitgliedstaaten der Union erkannten mit ihrer Unterschrift unter die EU-Verträge und den Bei‐ tritt zur Eurozone grundsätzlich an, dass in einer Währungsunion die Politik der Staaten von gemeinsamem Interesse ist und ein Koordinierungsbedarf besteht. Die Frage, welche Bereiche die Koordinierung umfassen sollte, lässt sich nicht einfach beantworten. In den länderspezifischen Empfehlungen befasst sich die Kommission mit einem breiten Spektrum von Problemstellungen, die mit der Wettbewerbsfähigkeit der Länder verknüpft sind. Aus Sicht der Befürworter dieses weiten Blicks ist das notwendig, um auf dem Weg der 11.4 Herausforderungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung 325 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 325 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 325 19.10.2020 12: 34: 29 19.10.2020 12: 34: 29 <?page no="326"?> immer engeren Zusammenarbeit voran zu kommen. Hindernisse können, so die Argumentation, dann frühzeitig angegangen werden. Das Auseinan‐ derdriften der Volkswirtschaften kann verhindert werden. Die Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung wird auf diese Weise erst ermöglicht. Ein anderer Blick auf diese weite Themenliste ist aufschlussreich: „Die EU-Kommission versucht seit geraumer Zeit, die Politik der Mitgliedstaaten auch in Bereichen zu koordinieren, in denen es keine unmittelbare Notwen‐ digkeit der Abstimmung gibt“ (Becker/ Fuest 2017, S. 119). Im Sinne der Subsidiarität könnte es sinnvoller sein, die Koordinierung auf die essenzi‐ ellen Felder zu beschränken. Verständnisfrage Bedeutet aus Ihrer Sicht die Überwachung der nationalen Wirtschafts‐ politik durch die EU eine illegitime Einschränkung demokratischer Rechte in den Mitgliedstaaten? In einigen Ländern haben Politiker in der Vergangenheit die Auflagen oder Empfehlungen genutzt, um der EU die Einmischung in nationale Angele‐ genheiten vorzuwerfen. Damit entsteht ein besonderes politisches Problem. Die Handlungsoptionen der EU sind beschränkt. Eine offene Auseinander‐ setzung zwischen den EU-Organen oder einzelnen Vertretern und Repräsentanten nationaler Regierungen ist geeignet, der EU substantiellen Schaden zuzufügen. Daher stellt sich die Frage der angemessenen Konflikt‐ lösung: In manchen Fällen mögen formale Regeln helfen, in anderen eher ein informelles Vorgehen. In einigen Fällen hilft Transparenz, in anderen ist der vertrauliche Dialog vorzuziehen. Die Wirtschaftsunion bleibt eine große Aufgabe für die Europäische Union. Es ist nicht möglich, eine einheitliche Währung zu haben, ohne dass wirt‐ schaftlich eng zusammen gearbeitet wird: Fiskalisch sind die Staaten gefor‐ dert, einen verantwortlichen Kurs zu fahren, die Kontrolle der nationalen Finanzsysteme kann angesichts der Externalitäten von Bankenkrisen keine Angelegenheit der einzelnen Mitgliedstaaten sein. Auch die allgemeine Wirtschaftspolitik muss bestimmte gemeinsam vereinbarte und akzeptierte Grundprinzipien beachten. Über den Abstimmungsbedarf besteht grund‐ sätzlich Konsens. Die Mechanismen der Kooperation, die konkrete institu‐ tionelle Umsetzung der Zusammenarbeit, die Frage, ob und welche Eingriffe 11 Die Wirtschaftsunion 326 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 326 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 326 19.10.2020 12: 34: 29 19.10.2020 12: 34: 29 <?page no="327"?> in die Souveränitätsrechte der Staaten erlaubt, angemessen und geboten sind, bleiben umstritten. Die Ausgestaltung der Wirtschaftsunion wird die Organe der Union und die Bevölkerung auch in den nächsten Jahren be‐ schäftigen (vgl. Deutsche Bundesbank 2019a). Die Befürworter der bisherigen Koordinierung sehen in dem sich entwi‐ ckelnden institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung einen wesentlichen Fortschritt in der europäischen Integration: in Ländern mit einer weniger ausgeprägten Stabilitätskultur und schwachen Institutio‐ nen sorge die europäische Koordinierung für einen heilsamen Druck. Die währungspolitische Zusammenarbeit erhöhe die politischen Kosten infla‐ tionärer Politik. Kritiker betonen die Schwierigkeiten der Koordinierung. Schon die Ent‐ scheidung über die an der Währungsunion teilnehmenden Staaten habe die Schwäche der Koordinierung gezeigt: Politische Interessen dominierten wirtschaftliche Fakten. Die Koordinierung scheitere immer wieder an den Realitäten politischer Macht in der EU. Die fortdauernde Souveränität der Staaten im Hinblick auf die Fiskalpolitik sei mit der Währungsunion ange‐ sichts fehlender Disziplin einiger Mitgliedstaaten nicht vereinbar. Die Ab‐ wesenheit klarer Sanktionen in der Vergangenheit beweise, wie wenig die Politik in der Lage sei, Fehlentwicklungen zu korrigieren. 11.5 Wichtige Begriffe Konvergenz, Koordinierung, Europäisches Semester, Stabilitäts- und Wachstumspakt, makroökonomisches Ungleichgewicht, strukturelles Defizit, Systemrisiken, Tragfähigkeit 11.6 Literatur Alloza, Mario/ Cozmanca, Bogdan/ Ferdinandusse, Marien/ Jacquinot, Pascal (2019): „Fiskalische Ausstrahlungseffekte in einer Währungsunion“, in: Europäische Zentralbank, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 1/ 2019, S. 73-85 Becker, Johannes/ Fuest, Clemens (2017): Der Odysseus Komplex - Ein pragmati‐ scher Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, Carl Hanser Verlag 11.5 Wichtige Begriffe 327 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 327 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 327 19.10.2020 12: 34: 30 19.10.2020 12: 34: 30 <?page no="328"?> Blanchard, Olivier Jean (1990): Suggestions for a New Set of Fiscal Indicators, OECD, Department of Economics and Statistics, Working Papers, No 79 Bundesministerium der Finanzen (2019): Das Europäische Semester 2019, in: Mo‐ natsbericht des BMF, September 2019, S. 15-24 Bundesministerium der Finanzen (2020): Tragfähigkeitsbericht 2020. Fünfter Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, Berlin Checherita-Westphal, Cristina (2019): „Zins-Wachstums-Differenzial und Entwick‐ lung der Staatsverschuldung“, in: Europäische Zentralbank, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 2/ 2019, S. 65-70 Deutsche Bundesbank (2019a): „Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt: zu einzelnen Reformoptionen“, in: Monatsbericht April 2019, S. 79-93 Deutsche Bundesbank (2019b): „Das europäische Bankenpaket - Die Überarbeitung der EU-Bankenregulierung“, in: Monatsbericht Juni 2019, S. 31-50 Deroose, Servaas/ Carnot, Nicholas/ Pench, Lucio R./ Mourre, Gilles (2018): „EU fiscal rules: Root causes of its complexity“, in: VoxEU.org, 14. September 2018 Europäische Kommission (2017): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat und die Europäische Zentralbank. Neue Haushaltsinstrumente für ein stabiles Eurowährungsgebiet innerhalb des Unionsrahmens, COM(2017) 822 final, Brüssel Europäische Kommission (2019): Fiscal Sustainability Report 2018. Volume 1, Euro‐ pean Economy Institutional Paper 094, Luxemburg Europäische Kommission (2020): Debt Sustainability Monitor 2019, European Eco‐ nomy Institutional Paper 120, Luxemburg Eurostat (2019): Scoreboard für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleich‐ gewichten. Ein breites Spektrum an Indikatoren für die frühzeitige Ermittlung makroökonomischer Ungleichgewichte, Pressemitteilung 192/ 2019, 17. Dezem‐ ber 2019 Europäische Zentralbank (2011): „Sicherung der Tragfähigkeit der öffentlichen Fi‐ nanzen im Euro-Währungsgebiet“, in: Monatsbericht April, S. 63-81 Europäische Zentralbank (2012): „Analyse der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung im Euro-Währungsgebiet“, in: Monatsbericht April, S. 63-79 11 Die Wirtschaftsunion 328 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 328 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 328 19.10.2020 12: 34: 30 19.10.2020 12: 34: 30 <?page no="329"?> Homburg, Stefan (2005): Nachhaltige Finanzpolitik für Niedersachsen, Hannover Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017): Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2017/ 2018, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2018): Den Strukturwandel meistern. Jahresgutachten 2018/ 2019, Wiesbaden 11.6 Literatur 329 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 329 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 329 19.10.2020 12: 34: 30 19.10.2020 12: 34: 30 <?page no="330"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 330 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 330 19.10.2020 12: 34: 30 19.10.2020 12: 34: 30 <?page no="331"?> 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen Leitfragen Wie lassen sich in systematischer Form die Ursachen für die Finanz‐ krise in der Eurozone beschreiben? Welche Rolle spielte die Staatsverschuldungskrise in der Entwicklung der Finanzkrise? Welche Lösungsmöglichkeiten sind langfristig zu ergreifen, um inner‐ halb der bestehenden Währungsunion den Weg zurück zu Wachstum zu finden? Welche Szenarien gibt es, wenn die Währungsunion in der bestehenden Form nicht weiterbesteht? 12.1 Einführung Die Bewertung der Einführung des Euros zehn Jahre nach dem Start war überwiegend positiv. Die EZB kam 2008 zu der Einschätzung: „Der Euro hat erheblich zum Funktionieren unseres großen kontinentalen Marktes und somit zur Verwirklichung eines echten Binnenmarktes beigetragen. Zudem hat er die Wirtschaft des Eurogebiets vor den zahlreichen globalen Schocks 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 331 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 331 19.10.2020 12: 34: 31 19.10.2020 12: 34: 31 <?page no="332"?> und erheblichen Turbulenzen der vergangenen Jahre geschützt“ (Europäi‐ sche Zentralbank 2008, S. 6). In den Medien und wissenschaftlichen Publi‐ kationen überwog ein positiver Tenor. 2009 änderte sich dies. Die Finanz‐ krise, welche Europa unvorbereitet traf, begann mit einer wachsenden Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit der griechischen Regierung, die Staats‐ schulden zu bedienen. In kurzen Abständen weitete sich die Sorge auf die Zahlungsfähigkeit Irlands, Spaniens, Portugals, Italiens und Zyperns aus. Trotz zahlreicher Maßnahmen wuchsen Zweifel an der Fähigkeit der Euro‐ zone, die Probleme der Finanzkrise unbeschadet zu überstehen. Es entwi‐ ckelte sich eine europäische Finanzkrise, häufig „Eurokrise“ genannt, die auch 10 Jahre nach Ausbruch noch nicht wirklich zu den Akten gelegt wer‐ den kann. 12.2 Die Genese der Krise Die Finanz- und Wirtschaftskrise, welche die Welt im Jahr 2007 zu erfassen begann, hatte ihren Ausgangspunkt in den USA. Dort hatte ein Immobili‐ enboom Hauseigentümer, Kreditnehmer und Kreditgeber unvorsichtig wer‐ den lassen und zu Geschäften verleitet, die sich als wenig solide erwiesen. Die Freude darüber, dass nicht nur die Menschen mit bester Bonität (das „prime segment“) Kredite erhielten, sondern auch jene mit deutlich schwä‐ cherer Bonität (das „sub-prime segement“) schlug um in Irritation und Frus‐ tration. Verantwortliche in der Politik, der Zentralbank und der Finanzauf‐ sicht hatten die Gefahren nicht erkannt, es entstand die „Sub-prime-Krise. Die Erkenntnis wuchs, dass die zuvor viel gepriesenen Finanzinnovationen schwerwiegende negative Wirkungen für die Stabilität des Finanzsystems hatten. Schließlich löste in den USA die Insolvenz von Lehman Brothers im Jahr 2008 eine massive Erschütterung aus, die sich schnell im weltweit ver‐ netzten Finanzsystem niederschlug. Der Glaube an die Integrität des Fi‐ nanzsystems war schwer belastet, das Vertrauen in Banken, Versicherungen, aber auch in die Institutionen der Finanzmarktregulierung ging verloren. Ratingagenturen, welche eine zentrale Rolle in der Bewältigung des dem Finanzmarkt inhärenten Problems der Informationsasymmetrie spielten, wurden als Mitverantwortliche an der Krise gesehen. 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 332 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 332 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 332 19.10.2020 12: 34: 31 19.10.2020 12: 34: 31 <?page no="333"?> Box 70 | Die Kontroverse um das Rating von Wertpapieren Für Käufer und Verkäufer von Wertpapieren ist das Rating der Anlage von zentraler Bedeutung. Ratingagenturen bereiten Informationen auf, sie ermöglichen Käufern in einem schwierigen Umfeld mit sehr detaillierten Regelungen für einzelne Finanzprodukte durch kompakte Informationen die Entscheidungsfindung. Das Rating reduziert Trans‐ aktionskosten, insbesondere die Kosten für die Beschaffung und Verar‐ beitung von Informationen. Die Informationsverdichtung auf eine Kennzahl, die Ratingnote, vermindert die Komplexität erheblich. Das Rating stellt dabei eine Be‐ urteilung der Bonität eines Schuldners dar und gibt die Schätzung für das Ausfallrisiko einer Anlage wieder. Die Ausfallwahrscheinlichkeiten werden in Klassen zusammengefasst. Die drei führenden Ratingagen‐ turen Standard & Poors, Moody’s und Fitch nutzen leicht unterschied‐ liche Systeme. Moody’s Standard & Poors Fitch Beschreibung Aaa AAA AAA Maximale Sicherheit Aa1/ Aa2/ Aa3 AA+/ AA/ AA- AA+/ AA/ AA- Hoch qualitativ A1/ A2/ A3 A+/ A/ A- A+/ A/ A- Hochwertig Baa1/ Baa2/ Baa3 BBB+/ BBB/ BBB- BBB+/ BBB/ BBB- Weniger hochwertig Ba1 BB+ BB+ Unsicheres Invest‐ ment Ba2/ Ba3 BB/ BB- BB/ BB- Spekulativ B1/ B2/ B3 B+/ B/ B- B+/ B/ B- Hoch spekulativ Caa1 CCC+ CCC Substantielles Risiko Caa2/ Caa3 CCC/ CCC- Riskant, Ausfälle möglich 12.2 Die Genese der Krise 333 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 333 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 333 19.10.2020 12: 34: 31 19.10.2020 12: 34: 31 <?page no="334"?> Ca - - Extrem spekulativ C - - Zahlungsverzugsge‐ fahr D D DDD/ DD/ D In Zahlungsverzug Abb. 63: Das Bewertungsschema der Ratingagenturen Bereits in früheren Finanzkrisen und so auch während der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde die Rolle der Ratingagenturen sehr kontrovers diskutiert: Die Sicht der Ratingagenturen: Die Agenturen stellen hilfreiche er‐ gänzende Informationen bereit, sie bündeln das verfügbare Wissen und geben Entscheidern Orientierung. Im Kontext der substantiellen Infor‐ mationsasymmetrie und der hohen Kosten für die Beschaffung und Ver‐ arbeitung von Informationen senken sie Transaktionskosten, insbeson‐ dere für Anleger mit kleineren Anlagebeträgen. Die Risikomodelle der Ratingagenturen helfen, mit der Komplexität des Finanzsektors umzu‐ gehen. Der Ratingprozess gleicht dem der Banken bei ihren Kreditver‐ gabeentscheidungen. Die Formalisierung der Bewertung ist hilfreich und objektiviert Entscheidungsprozesse. Die Sicht der Kritiker der Ratingagenturen: Ratingagenturen haben Eigeninteressen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen. Sie haben in der Vergangenheit mehrfach substantielle Bewertungsfehler gemacht. Die Abhängigkeit des Finanzsystems von Entscheidungen der Rating‐ agenturen ist zu weitgehend. Das Herdenverhalten von Kapitalanlegern ist teilweise dieser Abhängigkeit geschuldet und für die Instabilität des Finanzsystems mitverantwortlich. Ratingagenturen haben darüber hin‐ aus einen „home bias“: sie bewerten Anleihen des eigenen Landes besser als andere Anleihen (vgl. Fuchs/ Gehring 2013). Die Weltwirtschaft stand 2008 vor dem schwersten Einbruch seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Panik beherrschte die Märkte, die wirt‐ schaftliche Ungewissheit war auf einem historischen Hoch. In diesem Klima 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 334 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 334 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 334 19.10.2020 12: 34: 32 19.10.2020 12: 34: 32 <?page no="335"?> wurden traditionelle Kapitalbewegungen hinterfragt und Bewertungen aus der Vergangenheit überprüft. Dies betraf auch Staaten, Finanzinstitutionen und Unternehmen aus Europa. Besondere Dynamik erhielt die Krise in Europa, als Griechenland, dessen Pro-Kopf-Einkommen in den Jahren 1999-2007 jährlich um durchschnittlich 4 % real gewachsen war, ankündigte, ein deutlich höheres als das bis dahin kommunizierte Staatsdefizit zu haben. Hinzu kam das Eingeständnis, dass die in der Vergangenheit der EU übermittelten Werte für die Staatsverschul‐ dung manipuliert waren. Die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Regie‐ rung rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der internationalen Beobachter. Die Fähigkeit der griechischen Regierung, die wachsenden Staatsschulden zu bedienen, wurde bezweifelt, das bis dahin gute Rating der griechischen Anleihen wurde in kurzen Abständen abgesenkt. Die Situation Griechenlands führte zu einer Umkehr der Kapitalströme, die von Gläubi‐ gern geforderten Zinsaufschläge stiegen in bis dahin in Europa nicht ge‐ kannte Höhen. Die Bewertung durch die Ratingagenturen führte darüber hinaus zu einem sich selbst verstärkenden Mechanismus. Fonds mussten Anleihen aufgrund der gesenkten Bewertung verkaufen, was wiederum den Preisdruck erhöhte und die Position der Länder verschlechterte. Die genaue Prüfung der wirtschaftspolitischen Grunddaten ließ jetzt schwerwiegende strukturelle Defizite der griechischen Wirtschaft offenbar werden, die von den oberflächlichen Analysen der Zeit vor der Krise nicht erfasst wurden. Die Leistungsfähigkeit des Staates, die Wettbewerbsfähigkeit der griechi‐ schen Wirtschaft in Folge der vorherigen Lohn- und Preissteigerungen, die Entwicklung der Leistungsbilanz, die vergleichsweise niedrigen Steuerein‐ nahmen und die hohen Sozialausgaben machten bei genauem Hinsehen deutlich, dass die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates ernsthaft ge‐ fährdet war. Hinzu kam, dass die Wahlen keine Regierung an die Macht brachten, welche die Krise mit Entschiedenheit anzugehen bereit und fähig war. Auch in Irland kam es zu einer schweren Krise. Insbesondere Irland war über viele Jahre zum Musterbeispiel nachholender Entwicklung erklärt worden und wurde in Anlehnung an die „asiatischen Tigerstaaten“ als „keltischer Tiger“ bezeichnet. Die jährlichen Wachstumsraten des realen BIP waren zwischen 1999 und 2007 mit 6,2 % hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig, aus‐ ländische Direktinvestitionen flossen in das Land, für Migranten war Irland ein attraktives Ziel, die Immobilienpreise stiegen. Als die Immobilienkrise 12.2 Die Genese der Krise 335 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 335 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 335 19.10.2020 12: 34: 32 19.10.2020 12: 34: 32 <?page no="336"?> in den USA zu hohen Wertverlusten auch bei Finanzinstitutionen in Europa führte, waren auch irische Finanzinstitutionen davon betroffen. Hinzu kam, dass auch in diesem Land ein Immobilienboom die Preise in die Höhe trieb, und viele Bürger in der Erwartung weiter steigender Preise mit wenig Ei‐ genkapital Häuser und Wohnungen erworben hatten. Ähnlich wie in den USA konnten nach dem Einbruch der Immobilienpreise viele Eigentümer bei gesunkenen Preisen und steigender Arbeitslosigkeit die Kredite nicht mehr bedienen. Als mehreren wichtigen Finanzintermediären die Insolvenz drohte, sprang der Staat mit Hilfsgeldern ein, die Staatsverschuldung ex‐ plodierte, aus dem vorher musterhaft wirtschaftenden Staat wurde in kür‐ zester Zeit ein hoch verschuldeter Staat, der Hilfe benötigte, um die Staats‐ schulden zu bedienen. Für die Krise in Irland war daher im Wesentlichen der Finanzsektor verantwortlich. Der irische Staat hatte im Grunde solide ge‐ wirtschaftet. Allerdings hatte er die Aufgabe der Finanzaufsicht vernach‐ lässigt, die ungebremste und riskante Expansion des Finanzsektors wurde hinsichtlich der daraus resultierenden Gefahr verkannt (vgl. Bundesminis‐ terium der Finanzen 2013a). In Spanien war in den Jahren vor der Krise die Staatsverschuldung zurück‐ gefahren worden, die Arbeitslosigkeit war gesunken, einige spanische mul‐ tinationale Konzerne waren auf internationalen Märkten sehr erfolgreich. Spanien hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gespeist auch von Anlageka‐ pital aus Ländern mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen, einen Immobili‐ enboom erlebt, der wie auch in den USA und Irland die Investoren und Ban‐ ken Vorsichtsmechanismen vergessen ließ. In Spanien gab es anders als in Griechenland eine hohe Verschuldung des privaten Sektors. Als die Immo‐ bilienpreise einbrachen, Bauprojekte unrentabel wurden und Hausbesitzer ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten, mussten zahlreiche Banken hohe, nicht durch ihr Eigenkapital abgedeckte Verluste hinnehmen. Um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern, intervenierte die Re‐ gierung, die Staatsverschuldung stieg deutlich an. Die internationale Wirt‐ schaftskrise ließ die Exporte einbrechen und die Arbeitslosigkeit ansteigen. Als in der Krise die Aufmerksamkeit für Spaniens Wirtschaft wuchs, rückte zunehmend die Analyse der makroökonomischen Trends in den Vorder‐ grund. Der sukzessive Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Industrie, welcher sich in einem wachsenden Leistungsbilanz‐ defizit niedergeschlagen hatte, die hohe Arbeitslosigkeit und die Fähigkeit des Staates, die Krise zu managen, wurden skeptisch beurteilt. Die Risi‐ 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 336 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 336 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 336 19.10.2020 12: 34: 32 19.10.2020 12: 34: 32 <?page no="337"?> koaufschläge auf Anleihen stiegen und erschwerten die Finanzierung des öffentlichen Sektors am internationalen Kapitalmarkt (vgl. Bundesministe‐ rium der Finanzen 2013a). In weiteren Ländern spitzte sich die Situation ebenfalls zu. Ein kritischer Blick auf Portugal zeigte die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. In Zypern kam es aufgrund der fragilen Finanzinstitutionen zu hektischen Be‐ mühungen, die Krise zu meistern. Auch Italien rückte in den Fokus der inter‐ nationalen Aufmerksamkeit. Italien hatte bereits vor der Krise eine Staatsver‐ schuldung, die ohne Aussicht auf Besserung weit oberhalb der Maastricht- Zielmarke lag. Auch die Wirtschaftspolitik Frankreichs wurde international zunehmend skeptischer eingeschätzt. Frankreich hatte die Jahre vor der Wirt‐ schafts- und Finanzkrise nicht für eine Politik der Haushaltskonsolidierung genutzt, die öffentliche Verschuldung war gewachsen. Die im Jahr 2012 neu gewählte Regierung hatte zunächst eine Politik versprochen, die ganz offen‐ bar mit dem von den Unionsorganen erwarteten und den Kapitalmärkten ge‐ forderten Kurs unvereinbar war. Die Spekulation, dass auch Frankreich schließlich Rettungsmittel benötigen würde, ließ die Zweifel an der Stabilität des Euros deutlich anwachsen. 12.3 Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen Im Jahr 2012 erreichten die Sorgen und die Spekulation, dass die Währungs‐ union in der bestehenden Form auseinanderbrechen würde, ihren Höhe‐ punkt. Die EU befand sich aufgrund der Kumulation mehrerer Krisen, die miteinan‐ der verknüpft waren und sich gegenseitig verstärkten, mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert. Die Problemlage unterschied sich von Land zu Land: Es handelte sich in einigen Ländern im Wesentlichen um eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit, in anderen Ländern gab es eine Bankenkrise. In vielen Ländern lag bereits vor der Krise eine Staatsverschuldungskrise vor, in ande‐ ren Ländern ergab sich diese aus den Hilfsmaßnahmen in der Krise. Die ein‐ zelnen Länder und die Eurozone als Ganzes waren darüber hinaus mit einer makroökonomischen Krise konfrontiert: Darf und soll in einer Phase hoher Staatsverschuldung und deutlicher struktureller Probleme die Staatsverschul‐ dung noch erhöht werden, um die Wirtschaft aus der Krise zu führen? Ist an‐ 12.3 Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen 337 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 337 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 337 19.10.2020 12: 34: 33 19.10.2020 12: 34: 33 <?page no="338"?> gesichts der Verschuldung dieser Weg zu riskant. Oder ist der Weg deswegen falsch, weil wegen der strukturellen Probleme ein makroökonomischer Im‐ puls ins Leere laufen würde? Und schließlich handelte es sich um eine Krise, für deren Bewältigung die etablierten Entscheidungsstrukturen der EU und der Eurozone nicht geeignet waren; die EU-Governance-Struktur war für eine sol‐ che Herausforderung nicht vorbereitet. Krise der Wettbewerbsfähigkeit makroökonomische Krise Governance-Krise Bankenkrise Verschuldungskrise Abb. 64: Fünf mit einander verwobene Krisen Abb. 64: Fünf miteinander verwobene Krisen 12.3.1 Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit Die Krise hat die Aufmerksamkeit auf die Frage der Wettbewerbsfähigkeit einiger EU-Staaten gelenkt. Die durchschnittlichen Lohnkosten waren in vie‐ len Krisenländern deutlich stärker gestiegen als in anderen EU-Ländern. Der durchschnittliche jährliche Anstieg der Lohnstückkosten hatte in den Jahren 1999-2007 in Irland 3,5 %, in Spanien 3 %, in Zypern 2,9 %, in Griechenland und Portugal 2,7 %, in Italien 2,2 % betragen. In allen EWU-Ländern betrug die Steigerungsrate für diesen Zeitraum 1,4 %, in Deutschland gar waren die Lohnstückkosten durchschnittlich um 0,1 % gesunken (vgl. Deutsche Bundes‐ bank 2014 a, S. 23). Die Folge waren erhebliche Leistungsbilanzdefizite, die wiederum eine wachsende Auslandsverschuldung implizierten. Die vorheri‐ gen Analysen hatten diesem Problem zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, der Blick auf die Leistungsbilanzentwicklung der EU bzw. der Eurozone als Ganzes hatte eine falsche Sicherheit signalisiert. 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 338 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 338 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 338 19.10.2020 12: 34: 34 19.10.2020 12: 34: 34 <?page no="339"?> In mehreren EU-Staaten waren die strukturellen Rigiditäten erheblich (vgl. Wallace 2016, S. 208-215). Einige der von der Krise besonders betroffenen Staaten waren durch Überregulierung der Produkt- und Arbeitsmärkte ge‐ kennzeichnet und hatten notwendige Strukturreformen vernachlässigt. Die einheitliche Zinspolitik in der Eurozone hatte zudem Ungleichgewichte produziert: Für einige Länder war wegen des Booms der Zins zu niedrig, er begünstigte vielmehr dort eine Überhitzung, für andere war er zu hoch, und sorgte für ein zu geringes Investitionsvolumen. Die Divergenzen hinsicht‐ lich des langfristigen Wachstumspotentials der Länder der Eurozone waren erheblich. Dies war im Vorfeld befürchtet und punktuell immer wieder be‐ obachtet und herausgestellt worden. Doch weder die Institutionen der EU noch die Kapitalmärkte, die Wissenschaft oder die Medien hatten diesem Problem genügend Aufmerksamkeit geschenkt. In der Krise rückten diese Probleme in den Blickpunkt (vgl. Stiglitz 2016). 12.3.2 Die Bankenkrise Banken und andere Finanzintermediäre hatten bis zum Ausbruch der welt‐ weiten Finanzkrise hohe Risiken übernommen. Die Gefahren, die aus der weltweiten Verflechtung der Finanzinstitutionen resultierten, waren von den Verantwortlichen in den Banken und den Aufsichtsbehörden falsch ein‐ geschätzt oder ignoriert worden. Das internationale Netzwerk an gegensei‐ tigen Forderungen, an Garantien, an Derivaten, die Implikationen von Wert‐ berichtigungen und der Neubewertung der Ratings für internationale Kapitalströme, all diese Aspekte wurden in ihrer Wirkung im Fall einer Krise bis dahin unterschätzt. Die mangelnde Regulierung der Finanzinnovationen, zu niedriges Eigenkapital der Banken, Anreizprobleme in den Banken („mo‐ ral hazard“ und „too big to fail“), mangelnde Mechanismen zur Abwicklung von Banken und Fehler in der Finanzaufsicht waren einige der Probleme, die mit Wucht das Finanzsystem trafen. In der Summe mussten Banken substantielle Verluste hinnehmen, die Aktienkurse der Banken gaben dra‐ matisch nach. Manche Banken wurden geschlossen. Angesichts der syste‐ mischen Relevanz der Banken verhinderten viele Regierungen mit umfang‐ reichen Rettungsmaßnahmen einen Kollaps großer Institute und ihrer nationalen Bankensysteme. Die Implikationen der Bankenkrise für die Re‐ alwirtschaft waren gleichwohl dramatisch, Banken waren häufig nicht in 12.3 Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen 339 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 339 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 339 19.10.2020 12: 34: 34 19.10.2020 12: 34: 34 <?page no="340"?> der Lage oder angesichts der großen Unsicherheit willens, Kredite für Un‐ ternehmen bereitzustellen. Das Ausmaß der Probleme in den Ländern Europas war unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von der Internationalisierung der nationalen Finanz‐ märkte und der Akteure, deren Strategien und der Qualität der Aufsichts‐ strukturen der Länder. Die Belastungen waren in Europa asymmetrisch ver‐ teilt, am stärksten waren Irland, Spanien und Griechenland betroffen. Auch in Deutschland wurde das Finanzsystem schwer erschüttert. 12.3.3 Die Staatsverschuldungskrise Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hatte klare Ziele hinsichtlich der öf‐ fentlichen Verschuldung und der Defizite vorgegeben, sowohl hinsichtlich der Eintrittsbedingungen als auch der Zeit nach Einführung. Allerdings hat‐ ten mehrere Staaten wie Italien, Belgien und Griechenland bereits zum Zeit‐ punkt des Eintritts in die Währungsunion Verschuldungsgrade deutlich über den maximal vereinbarten Anteil am BIP. Hinzu kam, dass einige Staaten in den ersten Jahren der Währungsunion ihre Staatsverschuldung deutlich über die vereinbarte Zielgröße ausgedehnt hatten, so etwa Portugal und Griechenland. Andererseits war es im Zeitraum 1999-2007 in 17 der 27 Mit‐ gliedsstaaten der Eurozone gelungen, die Staatsverschuldung relativ zur na‐ tionalen Wertschöpfung zurückzuführen, darunter in Irland und Spanien. Abb. 65: Veränderung der öffentlichen Verschuldung ausgewählter Länder von 1999 bis 2007 78 58 114 62 64 47 94 51 17 27 84 36 40 25 107 68 Abb. 65: Veränderung der öffentlichen Verschuldung (in Prozent des BIP) ausge‐ wählter Länder von 1999 bis 2007 Quelle: OECD 2013 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 340 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 340 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 340 19.10.2020 12: 34: 35 19.10.2020 12: 34: 35 <?page no="341"?> Die in der Krise notwendigen konjunktur- und sozialpolitischen Maßnahmen trieben die Staatsausgaben in die Höhe. Und die staatlichen Ausgaben für die Bankenrettung ließen die Staatsverschuldung in einigen Ländern deutlich an‐ wachsen. In Irland, dem Land mit dem drittniedrigsten Wert für die Staatsver‐ schuldung bezogen auf das BIP unter allen Staaten des Euro-Raumes im Jahr 2007, führten im Wesentlichen die Rettungs- und Stabilisierungsmaßnahmen des Bankensystems zu einer Verfünffachung, in Spanien kam es zu mehr als einer Verdopplung der öffentlichen Verschuldung. Im Jahr 2012 hatten schließlich alle EU-Staaten eine höhere Staatsverschul‐ dung (gemessen in Prozent des BIP) als im Jahr 2008. Für die EU 27 stieg der Wert der Brutto-Verschuldung auf durchschnittlich 85 Prozent im Jahr 2012. In vier Ländern lag die Verschuldung bei über 100 Prozent der nationalen Wertschöpfung: in Griechenland, Italien, Portugal und, Irland. Auch in europäischen Staaten außerhalb des Euro-Währungsgebietes war in der Krise die Staatsverschuldung stark gestiegen, in Großbritannien von 2008 bis 2012 um fast 40 Prozentpunkte auf 90 Prozent oder in Dänemark im gleichen Zeitraum von 33 auf 46 Prozent. Aufgrund der von den Euro‐ staaten stets kommunizierten Obergrenzen von 60 % Staatsverschuldung und 3 % Neuverschuldung bezogen auf das BIP war allerdings die tatsächli‐ che Entwicklung der Staatsverschuldung viel stärker als Scheitern der Wirt‐ schaftspolitik interpretiert worden als dies in Großbritannien, Japan oder den USA der Fall war. Wichtig für die Dynamik der Krise war nicht nur das Scheitern an selbst pro‐ klamierten Zielen, sondern auch die Funktion der Zentralbank in der Euro‐ zone. Obwohl die Staatsverschuldung der Staaten der Eurozone und damit auch der Krisenstaaten überwiegend in der eigenen Währung (Euro) erfolgt war, entfiel für die einzelnen Staaten der Eurozone eine Funktion der Zentralbank, die diese typischerweise übernimmt oder übernehmen kann: Im Extremfall könnte die Zentralbank Japans, der USA oder Großbritanniens (drei Staaten, die eine deutlich höhere Staatsverschuldung hatten und haben als die meisten Staaten des Euroraumes) durch monetäre Staatsfinanzierung eine Zahlungs‐ unfähigkeit des Staates verhindern, ein Staatsbankrott ist praktisch ausge‐ schlossen. Nicht so in der Eurozone. Eine Zahlungsunfähigkeit eines einzelnen Staates wurde von den Märkten nicht mehr ausgeschlossen und führte zu ei‐ nem starken Anstieg der Zinsen auf Staatsanleihen einiger Länder. 12.3 Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen 341 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 341 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 341 19.10.2020 12: 34: 35 19.10.2020 12: 34: 35 <?page no="342"?> 12.3.4 Die makroökonomische Krise Der einzigartige Einbruch der Wertschöpfung in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise hatte starke Ansteckungseffekte. Aufgrund der engen Verflech‐ tung der Märkte erfasste die Krise fast alle Länder, das BIP schrumpfte, die Exporte sanken, die staatlichen Investitionen gingen zurück, die Arbeitslo‐ sigkeit stieg. Box 71 | Die Wirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Produktion und Beschäftigung Die Krise führte weltweit zu einem Einbruch der Wirtschaftstätigkeit, die Nachfrage des privaten Sektors brach ein, Exporte sanken, in der Abbil‐ dung dargestellt durch eine Linksverschiebung der gesamtwirtschaftli‐ chen Nachfragekurve (vgl. Blanchard/ Illing 2017). Gleichzeitig führte die Erschütterung des Finanzsektors zu einem Rückgang der gesamtwirt‐ schaftlichen Produktionskapazität, dargestellt durch eine Linksverschie‐ bung der kurzfristigen gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve. Preisniveau kurzfristiges Angebot SRAS 1 gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 2 kurzfristiges Angebot SRAS 2 langfristiges Angebot gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 1 Output A B Abb. 66: Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des kurzfristigen Angebotes Abb. 66: Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des kurzfris‐ tigen Angebots 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 342 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 342 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 342 19.10.2020 12: 34: 36 19.10.2020 12: 34: 36 <?page no="343"?> In der Krise wurde offenbar, dass in einigen Ländern Sektoren auf nicht-nachhaltigen Strukturen aufbauten, das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential sank, eine umfassende Reallokation der Produk‐ tionskapazitäten wurde erforderlich: Grafisch lässt sich dies durch die Linksverschiebung der langfristigen gesamtwirtschaftlichen Angebots‐ kurve darstellen. Der Punkt C zeigt den neuen Gleichgewichtspunkt, mit niedriger Produktion und niedrigerem Preisniveau. kurzfristiges Angebot SRAS2 Preisniveau kurzfristiges Angebot SRAS 1 gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 2 langfristiges Angebot LRAS 1 gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 1 langfristiges Angebot LRAS 2 Output A C B Abb. 67: Verschiebung des langfristigen gesamtwirtschaftlichen Angebotes Buchtitel: Europäische Integration Abb. 67: Gesamtwirtschaftlicher Effekt der Verschiebung der langfristigen An‐ gebotskurve Während in der akuten Krise 2008 und 2009 die meisten Staaten mit Kon‐ junkturprogrammen reagierten, setzte sich vor dem Hintergrund der man‐ gelnden Wettbewerbsfähigkeit und der hohen Staatsverschuldung in vielen Staaten das Verständnis durch, dass grundlegende Reformen erforderlich und Konjunkturprogramme, welche mit einer Ausweitung der Staatsver‐ schuldung einhergehen, nicht angemessen sind. Die als Austeritätspolitik bezeichnete Strategie der Gesundung der Wirtschaft durch Konzentration auf Reformen und punktuell Kürzung staatlicher Leistungen war und ist aus 12.3 Die Ursachenanalyse - mehrere miteinander verwobene Krisen 343 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 343 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 343 19.10.2020 12: 34: 36 19.10.2020 12: 34: 36 <?page no="344"?> Sicht der Befürworter dieser Politik notwendig und unvermeidlich, um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit wieder zu gewinnen: Staaten müssen pri‐ mär ihre strukturellen Probleme lösen, es handelt sich nicht um ein kon‐ junkturelles Problem, welches einfach durch einen keynesianischen Nach‐ frageimpuls gelöst werden kann. Für überschuldete Staaten, die für die Finanzierung ihrer Defizite auf den Kapitalmarkt angewiesen sind, gebe es zudem keine Möglichkeit, die Staatsausgaben auszuweiten, da die Länder nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen Kapital erhielten. Erst durch die not‐ wendigen strukturellen Reformen werde die Basis für nachhaltiges Wachs‐ tum geschaffen. Aus Sicht der Kritiker ist die Austeritätspolitik ein schwerer Fehler, sie sehen die Grunderkenntnis der keynesianischen makroökonomischen Lehre miss‐ achtet, dass nämlich in der Krise, in der es an gesamtwirtschaftlicher Nach‐ frage fehlt, nicht noch weitere Schritte eingeleitet werden sollen, welche die Nachfrage schwächen (vgl. Krugman 2015, Stiglitz 2016). Europa beschreitet aus dieser Perspektive den falschen Weg, die EU produziert soziale Kosten, die vermeidbar sind, und belastet darüber hinaus mit der daraus resultie‐ renden Wachstumsschwäche die Weltwirtschaft. 12.3.5 Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Europäischen Union Die Krise traf die Europäische Union unvorbereitet, es fehlte ein klarer Me‐ chanismus für das Krisenmanagement (vgl. Griesse 2010, S. 30). Die Gover‐ nance-Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion mit ihren komplexen Abstimmungsmechanismen war für normale Zeiten konzipiert, nicht aber für schwere Krisen, welche schnelles, entschiedenes Handeln erfordern. Es mangelte an der notwendigen Zuordnung der Entscheidungskompetenz und in der Folge an der notwendigen Geschwindigkeit der Entscheidung (vgl. Pisani-Ferry/ Sapir 2009, Marsh 2013, S. 31). Viele Mitgliedsstaaten waren in dieser Phase politisch paralysiert. Die Ver‐ mittlung der Strukturanpassungspolitik war in den Krisenstaaten schwierig, oftmals dominierten wahltaktische Überlegungen über entschiedenes Han‐ deln. Die Rettung der Banken durch den Staat erzeugte in vielen Ländern angesichts des vorherigen Fehlverhaltens der Akteure im Finanzsektor Un‐ mut. Die Unzufriedenheit mit der Politik in den EU-Staaten und der EU wuchs, in allen Krisenstaaten wurden seit Ausbruch der Krise Regierungen 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 344 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 344 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 344 19.10.2020 12: 34: 36 19.10.2020 12: 34: 36 <?page no="345"?> abgewählt. Auch diese nationalen Entwicklungen wirkten zurück auf die Fähigkeit der EU-Organe, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. 12.3.6 Die Verknüpfung der Krisen Die Krisen waren und sind eng miteinander verknüpft. Die Bankenkrise hat ganz wesentlich die Eskalation der Staatsschuldenkrise verursacht. Die Staatsschuldenkrise wiederum erschwert die Lösung der Bankenkrise und ist zudem ein Grund für die makroökonomische Krise: Niedrig verschuldete Staaten können problemlos kreditfinanziert ihre Staatsausgaben ausweiten, ohne dass die Kapitalmärkte Zweifel an der Seriosität des Handelns äußern. Die makroökonomische Krise impliziert, dass sich die Lösung für die Ban‐ kenkrise besonders schwierig gestaltet. Die Governance-Krise erschwert beherzte Schritte zur Lösung der Banken- und Staatsverschuldungskrise. Die Staatsverschuldungskrise lässt wiederum die Skepsis gegenüber der Politik wachsen und erschwert die Verabredung neuer Governance-Regeln. Würde die Bankenkrise mit staatlichen Geldern bereinigt werden, würde die Staats‐ verschuldungskrise verschärft werden. Europa befindet sich in einem Teu‐ felskreis, aus dem auszubrechen schwerfällt (Sachverständigenrat zur Be‐ gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2013). 12.4 Lösungsansätze In Europa und weltweit wurde intensiv darüber diskutiert, welche Lehren aus der Eurokrise zu ziehen sind, welche Lösungen benötigt werden, um die akuten Herausforderungen anzugehen und welche Schritte erforderlich sind, um langfristig die Eurozone krisenfester zu machen. Viele Forderungen und Empfehlungen werden von Experten geteilt, andere werden durchaus kontrovers beurteilt. Die Mehrzahl der Empfehlungen knüpfen an dem Fort‐ bestand der Währungsunion an und sind auf eine Stärkung und Weiterent‐ wicklung der bestehenden Wirtschafts- und Währungsordnung ausgerich‐ tet. Einige Autoren stellen aber auch die Systemfrage und fordern eine Neustrukturierung der Währungsordnung in Europa. 12.4 Lösungsansätze 345 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 345 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 345 19.10.2020 12: 34: 37 19.10.2020 12: 34: 37 <?page no="346"?> 12.4.1 Lösungsansätze innerhalb der Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten der Währungsunion Die schwere Krise im Jahr 2008 war ein Weckruf für alle Staaten, ihre Volkswirtschaften strukturell zu stärken, deren Resilienz zu erhöhen, ihre nationale und internationale Ausrichtung vor dem Hintergrund veränder‐ ter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu überprüfen, ihre Dyna‐ mik zurückzugewinnen oder überhaupt erst herzustellen. Die Erfahrung, dass internationale Einschätzungen ihrer Politik, die Bewertung durch Fi‐ nanzinvestoren aus den USA, China oder anderen Ländern so wichtig werden können, war für viele Länder neu. Die Herausforderung einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit wurde daher von den meisten Ländern angenommen. Reformen der Marktorganisationen und die Flexi‐ bilisierung von Produkt- und Faktormärkten prägen seit der Krise das Bild (vgl. Wallace 2016, S. 211-214). In vielen Staaten der Eurozone wurden Steuersysteme reformiert. Sozialsysteme wurden neu ausgerichtet. Die Krise in den Ländern der Eurozone schärfte das Bewusstsein für die Not‐ wendigkeit, die nominale Lohnentwicklung an der Produktivitätsentwick‐ lung und an der Entwicklung der Löhne in den Nachbarländern zu orien‐ tieren. In einigen Fällen kam es zur Senkung der Reallöhne, eine auch als „interne Abwertung“ bezeichnete Handlungsoption. Vielen Ländern gelang die notwendige tiefgreifende Veränderung der Wirt‐ schaftsstruktur: so sank in manchen Ländern nach dem Ende des Immobi‐ lienbooms die Beschäftigtenzahl im Baugewerbe, in anderen ging die Zahl der Beschäftigten im Bankgewerbe zurück. Solche Reallokationsprozesse der produktiven Ressourcen waren mit großen Belastungen für die Gesell‐ schaft verbunden. Box 72 | Die zeitliche Ausgestaltung von Reformmaßnahmen entscheiden auch über den Erfolg Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist ein langfristiger Pro‐ zess, Reformmaßnahmen zeigen häufig erst nach mehreren Jahren ihre intendierte Wirkung. Eine Vielzahl von Reformschritten ist notwen‐ dig, um die sektorale Reallokation der Ressourcen zu bewirken. Dabei 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 346 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 346 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 346 19.10.2020 12: 34: 37 19.10.2020 12: 34: 37 <?page no="347"?> kommt es nicht nur auf die Wahl der richtigen Politikinstrumente an, sondern auch auf die zeitliche Abfolge der Reformen („sequencing“) und den richtigen Zeitpunkt („timing“) der Maßnahmen. Der Interna‐ tionale Währungsfonds, der in vielen Strukturanpassungsprogram‐ men Erfahrungen mit Reformkonzepten in Entwicklungs- und Schwel‐ lenländern gesammelt hat, kommt zu einer kritischen Einschätzung hinsichtlich der konkret realisierten Reformpolitik in den Krisenlän‐ dern der Eurozone. In der Mehrzahl der Länder war dieser Prozess der Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit, der Neuausrichtung der Wirtschaft, der Neupositio‐ nierung im Kontext globaler Veränderung von Wertschöpfungsketten politisch schmerzhaft und ging in der Regel damit einher, dass die alten Regierungen abgewählt wurden und neue Parteien und Personen die Ver‐ antwortung übernahmen. Ende des zweiten Jahrzehnts des Jahrhunderts kann man für die Eurozone insgesamt von einer deutlichen Erholung sprechen. Seit 2014 ist das Wachs‐ tum des BIP der Eurozone positiv. Die Kaufkraft je Einwohner in der Euro‐ zone erreichte 2014 das Niveau des Jahres 2008, und ist seitdem weiter ge‐ stiegen. Die Staaten haben es geschafft, ihre Staatsfinanzen neu zu ordnen. Die Beschäftigungsquote stieg und liegt nun höher als im Jahr 2008. Die Arbeitslosigkeit in der Eurozone, welche 2012 einen Höhepunkt von rund 12 Prozent erreichte, fiel auf 8,2 Prozent im Jahr 2018. Manche Beobachter werten diese und andere vergleichbare wirtschaftliche Daten der Eurozone als Erfolg, als Ergebnis der stets nur mittelfristig wir‐ kenden wachstumspolitischen und strukturpolitischen Maßnahmen. Kriti‐ ker der Politik in der Eurozone weisen jedoch auf die Anpassungsprozesse in anderen Ländern hin, wie etwa in den USA. Die Vereinigten Staaten haben seit 2010 deutlich höhere Wachstumsraten als die Eurozone und damit die Finanzkrise anders bewältigt. 12.4 Lösungsansätze 347 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 347 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 347 19.10.2020 12: 34: 38 19.10.2020 12: 34: 38 <?page no="348"?> Abb. 68: Reales BIP-Wachstum in der Eurozone und den USA, 2007-2017, in Prozent Quelle: Eurostat 2019 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Wachstumsrate in der Eurozone in % Wachstum in den USA in % Abb. 68: Reales BIP-Wachstum in der Eurozone und in den USA, 2007-2017, in Prozent Jenseits des aggregierten Bildes für die Erholung in der Eurozone zeigen sich erhebliche Unterschiede innerhalb der Eurozone. Irland schaffte eine be‐ achtliche Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung, in 2017 und 2018 lag das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens jeweils über 4 Prozent pro anno. Die Staaten im Süden Europas taten sich damit deutlich schwerer. Dies gilt am stärksten für Griechenland, wo eine im Jahr 2012 gewählte linke Regie‐ rung die von der EU vorgeschlagenen Reformmaßnahmen zunächst ab‐ lehnte und viel Zeit verlor, bevor es schließlich doch auf einen Reformkurs einschwenkte. Im Jahr 2018 und 2019 gelang es Griechenland, zu positiven Wachstumsraten des realen BIP zurückzukehren. Box 73 | Die Rolle des Staates als Akteur in Transformationsprozessen Die Krise legte offen, dass die Volkswirtschaft Griechenlands in mancher Hinsicht eher einem Entwicklungs- oder Schwellenland als einem In‐ dustrieland entspricht. Da Griechenland Gelder aus europäischen Stabilisierungsfonds erhielt, musste es sich einer engen Kontrolle der geplanten und implementierten Maßnahmen unterwerfen. Die Über‐ prüfung der Fortschritte bei der Konzipierung und Umsetzung von Re‐ 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 348 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 348 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 348 19.10.2020 12: 34: 38 19.10.2020 12: 34: 38 <?page no="349"?> formen, die Koppelung der Auszahlung von Kredittranchen an nach‐ weisbare Gesetzesänderung stehen beispielhaft für Eingriffe, die außerhalb Griechenlands, jedoch auch teilweise im Land, für notwendig erachtet wurden und einen faktischen Souveränitätsverzicht bedeute‐ ten. Politisch waren solche ad hoc eingeführten Mechanismen und dann umgesetzten Reformen heikel. Die größte Herausforderung für die Eurozone zeigt sich Ende des zweiten Jahrzehnts in Italien. Die schwierigen politischen Verhältnisse ließen über die Jahre seit Ausbruch der Krise keine umfassenden Reformen zu, die Wett‐ bewerbsfähigkeit der Wirtschaft ist eingeschränkt. Das reale Wirtschafts‐ wachstum ist im Vergleich zur Eurozone deutlich unterdurchschnittlich. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 10 Prozent. Die langen Jahre ausbleibenden realen Wachstums der Volkswirtschaft lassen auch bei vielen Zweifel auf‐ kommen, ob die von den EU-Organen mehrheitlich vorgeschlagene Rezep‐ tur die richtige ist. Ähnlich wie in Griechenland werden die mit der EU vereinbarten Reformmaßnahmen nicht aus Überzeugung durchgesetzt. Es mangelt an dem „Ownership of reforms“: Reformen werden eher als ok‐ troyiert bezeichnet, die EU wird als System charakterisiert, welches von den Menschen Verzicht fordert, welches Maßnahmen erzwingt, die politisch nicht legitimiert sind. Box 74 | Der alternative Blick auf die richtige Wirtschaftspolitik In der Gruppe jener, die eine Währungsunion befürworten, gibt es eine wichtige alternative Sicht zur Frage, wie die Länder der Eurozone ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen können. Die von den Unionsorganen in der Krise favorisierte Politik setzt aus dieser Perspektive zu sehr auf Wettbewerb, Abbau sozialer Sicherungssysteme und den Rückbau des Staates. Die Union müsse die Heterogenität der wirtschaftspolitischen Ordnungen, die Bestandteil der europäischen Vielfalt sind, akzeptieren. Die Vielfalt der Kapitalismen sei kein Nachteil, sondern ein Vorteil und müsse erhalten werden. Die Annahme der Effizienz der Kapitalmärkte, die hinter der Liberalisie‐ rung der Kapitalmärkte vor der Krise stand, habe sich als falsch erwiesen, 12.4 Lösungsansätze 349 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 349 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 349 19.10.2020 12: 34: 39 19.10.2020 12: 34: 39 <?page no="350"?> Kapitalmärkte seien unzuverlässig, Herdenverhalten und andere Irratio‐ nalitäten prägten die Kapitalmärkte, die gegenwärtige Politik liefere die politischen Gestaltungsoptionen an die Kapitalmärkte aus (vgl. Streeck 2013, Habermas 2013). Die Vorstellung, dass Wirtschaftsordnungen nur mit einem schlanken Staat und niedrigen Steuersätzen erfolgreich sein könnten, sei falsch, wie der Blick auf den Erfolg der skandinavischen Län‐ der zeige. Die sozialen Sicherungssysteme seien Bestandteil der europäi‐ schen Kultur. Nicht ein Rückbau, sondern allenfalls ein Umbau sei erfor‐ derlich. Auch sei die Anpassung nicht nur von den Defizitländern zu fordern, sondern auch von den Überschussländern, deren Politik weder verallgemeinerbar noch nachhaltig sei. Der Erhalt der Währungsunion erfordere somit eine andere wirtschaftspolitische Grundorientierung. Die von der EU durchgesetzte Austeritätspolitik sei ein zentraler Grund für den fragilen Zustand der Europäischen Union. In Spanien und in Portugal gelang es den Regierungen, trotz großer politi‐ scher Probleme Reformen auf den Weg zu bringen. Schwierig stellten sich Ende des zweiten Jahrzehnts die Verhältnisse in Zypern dar, wo ein Ban‐ kensektor entstanden war, der auf die Attrahierung von Fluchtkapital aus Russland setzte. Der Bankensektor ist auch im Jahr 2019 noch immer fragil. Auch das hohe Leistungsbilanzdefizit zeigt, wie sehr es der dortigen Volks‐ wirtschaft gegenwärtig noch an einem soliden Fundament mangelt. Die Lösung der Bankenkrise Zahlreiche nationale und internationale Maßnahmen waren nötig, um die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems zurückzugewinnen. Auf nationaler Ebene waren Staaten gefordert, die nationale Finanzarchitektur zu refor‐ mieren, Anreize so zu gestalten, dass Banken und andere Finanzmarktakte‐ ure ihre Aufgabe sinnvoll wahrnehmen. In einigen Ländern musste der Staat mit entschiedenen Maßnahmen die Wertberichtigung von nicht-einbringli‐ chen Krediten oder auch die Schließung von Instituten betreiben. In Irland, Spanien, Portugal, Italien und Zypern waren diese Aufgaben wegen vorhe‐ riger Fehlentwicklungen im Finanzsystem besonders wichtig, aber auch in Deutschland und Frankreich war der Bankensektor erheblich erschüttert worden und forderte die nationalen Regierungen in besonderer Weise. 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 350 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 350 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 350 19.10.2020 12: 34: 39 19.10.2020 12: 34: 39 <?page no="351"?> Die Lösung der Bankenkrise erfordert substantielle Veränderungen der in‐ stitutionellen Organisation des europäischen Finanzmarktes, die griffig mit dem Begriff „Einführung einer Bankenunion“ beschrieben werden und die Stärkung der Widerstandskraft der Kreditinstitute gegenüber Schocks be‐ inhalten. Diese Bankenunion umfasst mehrere Elemente, häufig auch mit „Säulen“ beschrieben: eine gemeinsame Finanzaufsicht, ein gemeinsames System für die Abwicklung von Banken und ein gemeinsames Einlagenver‐ sicherungssystem. Über die grobe Richtung der Reform herrscht Konsens, es gibt jedoch erheblichen Dissens über die Ausgestaltung der neuen insti‐ tutionellen Regeln. Die im Rahmen der Stärkung der Finanzaufsicht ergriffenen Maßnahmen umfassten bessere Regeln für die Aufsicht von Banken und auch sogenann‐ ter Schattenbanken (vgl. Deutsche Bundesbank 2014b). Banken müssen mehr Eigenkapital vorhalten, auch die Anforderungen an die Qualität des Eigenkapitals wurden erhöht (Basel III). Von 2014 bis 2017 erhöhte sich die Gesamtkapitalquote in der Eurozone um 2,3 Prozentpunkte auf 18,9 Prozent (Europäische Kommission 2018, S. 97). Die folgende Abb. 69 zeigt die Ge‐ samtkapitalquote der Banken in Prozent im Jahr 2017. Abb. 69: Gesamtkapitalquote der Banken ausgewählter europäischer Länder, 2017, in 26% 26% 19% 19% 19% 17% 17% 17% 15% 15% Gesamtkapitalquote der Banken ausgewählter Länder der EU in 2017 in % Abb. 69: Gesamtkapitalquote der Banken ausgewählter europäischer Länder, 2017, in Prozent Quelle: Europäische Kommission 2018, S. 94, 97 12.4 Lösungsansätze 351 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 351 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 351 19.10.2020 12: 34: 40 19.10.2020 12: 34: 40 <?page no="352"?> Neue Regelungen für den Umgang mit Finanzinnovationen, insbesondere Finanzderivaten wurden erlassen. Zahlreiche Reformen zielten auf die Be‐ seitigung oder zumindest Begrenzung der Anreizprobleme („moral hazard“) ab, die sich aus Bonusregeln für Bankmanager und aus Vorschriften zum Ausweis notleidender Kredite ergeben. Regelungen zur Abwicklung von Banken stellen die zweite Säule der Ban‐ kenunion dar. Während Konsens über die Notwendigkeit eines regulatori‐ schen Rahmens für die Abwicklung von Banken herrschte, gab es erhebli‐ chen Dissens, wie dies prozedural und institutionell ausgestaltet werden sollte. Der seit Januar 2016 funktionsfähige „Einheitliche Abwicklungsme‐ chanismus“ hat die Aufgabe, im Notfall eine geordnete Abwicklung von In‐ stituten zu gewährleisten, ohne dass die Stabilität des Finanzsystems ge‐ fährdet ist. Ziel ist es, im Fall einer Bankenabwicklung sicherzustellen, dass die Anteilseigner und Gläubiger der Banken die Last tragen, und nicht der Steuerzahler (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2017). Die Schaffung eines europäischen Einlagenversicherungssystems stellt die dritte Säule der Bankenunion dar. Solche Systeme basieren auf dem Versiche‐ rungsgedanken und sorgen dafür, dass für Einleger bei einer Bank im Fall des Zusammenbruchs der Bank die Anlage oder zumindest ein Teil davon gesi‐ chert ist. Die Existenz eines solchen Systems verhindert Panik der Anleger, die bei Schieflagen einer Bank entstehen kann und im weiteren Prozess das Pro‐ blem verschärft. Die Konstruktion einer solchen Versicherung muss gewähr‐ leisten, dass diese tatsächlich stabilisiert und nicht wegen Fehlanreizen eher destabilisiert: Eine nicht optimal beaufsichtigte Bank könnte angesichts der ga‐ rantierten Einlagen eine riskantere Strategie wählen als dies ohne die Versiche‐ rung der Fall wäre. Die Schaffung einer Versicherung erfordert zwingend Me‐ chanismen, die das moralische Risiko, welches einer Versicherung immanent ist, begrenzt. Man einigte sich zunächst auf die Schaffung nationaler Einlagen‐ versicherungssysteme. In einem zweiten Schritt soll, so der Vorschlag der Kom‐ mission aus dem Jahr 2017, ein europäisches System eingeführt werden, das European Deposit Insurance Scheme (EDIS). Die detaillierten Regeln werden im Jahr 2019 noch immer verhandelt. Die Reform der europäischen Finanzarchitektur ist ein langfristiges Unter‐ fangen. Die notwendigen Anpassungen des regulatorischen Rahmens sind so komplex, dass eine kurzfristige Lösung nicht möglich ist. Aus Sicht jener, die schnelle Lösungen bevorzugen, ist einerseits das Signal einer Einigung 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 352 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 352 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 352 19.10.2020 12: 34: 40 19.10.2020 12: 34: 40 <?page no="353"?> wichtig, um den Marktakteuren zu signalisieren, dass Europa handelt, dass kein Grund zur Sorge besteht. Aus Sicht der Kritiker vorschneller Lösungen ist ein solide konstruiertes System ohne Fehlanreize wichtig, um zukünfti‐ gen Krisen vorzubeugen. Das Problem der Restrukturierung notleidender Banken ist in einigen Län‐ dern auch aktuell noch ein Problem, welches gelöst werden muss, damit das Bankensystem als Ganzes die Aufgabe der Versorgung der Unternehmen mit Kredit und Kapital wieder übernehmen kann. Die folgende Abb. 70 zeigt für das dritte Quartal 2017 und das dritte Quartal 2018, dass Fortschritte erzielt werden, aber auch, dass nach wie vor erhebliche Probleme in einzelnen Ländern bestehen. Land Q3/ 2017 Q3/ 2018 Änderung (in %) Irland 11,2 7,8 -30,4 Griechenland 46,7 43,5 -6,9 Spanien 4,7 4,0 -14,9 Italien 12,1 9,5 -21,5 Zypern 32,1 21,8 -32,1 Portugal 14,6 11,3 -22,6 Slowenien 10,8 6,9 -36,1 Deutschland 2,1 1,6 -23,8 Europäische Union 4,4 3,3 -25 Abb. 70: Notleidende Kredite und Darlehen (in % der Gesamtbruttokredite und -dar‐ lehen), ausgewählte Länder Quelle: Europäische Kommission 2019, S. 5 Auch der sogenannte Staaten-Banken-Nexus ist ein noch nicht hinreichend gelöstes Problem: Wenn hoch verschuldete Staaten mit hoch verschuldeten Banken konfrontiert sind, und Banken wesentliche Käufer von Staatsanlei‐ hen des jeweiligen Landes sind, dann ist möglicherweise das Interesse des 12.4 Lösungsansätze 353 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 353 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 353 19.10.2020 12: 34: 41 19.10.2020 12: 34: 41 <?page no="354"?> Staates, entschieden die Banken neu zu strukturieren, nur schwach ausge‐ prägt. Restrukturierte und auf ihre Bonität bedachte monetäre Finanzinsti‐ tute könnten dann von dem Kauf riskanter Staatsanleihen absehen (Bald‐ win/ Wyplosz 2019). Daher bedarf es auch bei der Finanzaufsicht einer internationalen Kooperation und der Entwicklung gemeinsamer Standards. Die konkrete Ausgestaltung der Bankenunion beinhaltet implizit eine Eini‐ gung über die Eigenverantwortung der Nationalstaaten, die Klärung der Frage nach der Subsidiarität und der Bedeutung des Prinzips „Haftung“. Die Staaten sind gefordert, in ihren Volkswirtschaften Strukturen zu schaffen, welche stabilitätsorientiertes Handeln herbeiführt und erzwingt. In Ländern des Nordens mit relativ soliden Finanzsystemen ist die Bereitschaft, über die Einlagenversicherung Garantien für den Süden zu übernehmen, einge‐ schränkt. Die Staaten, so die Argumentation, müssen selbst Verantwortung für die Lösung ihrer Probleme übernehmen. Aus Sicht der Befürworter einer schnellen europäischen Lösung ist es primär wichtig, durch die Einführung einer europäischen Lösung der Unsicherheit vorzubeugen und Spekulatio‐ nen zu beseitigen. Die Lösung der Staatsschuldenkrise Eine hohe Staatsverschuldung stellt in mehrfacher Hinsicht für Staaten ein Problem dar: Die Rückzahlung für die Ausgaben in der Gegenwart wird zu‐ künftigen Generationen aufgebürdet, also jenen, die - zumindest bei kon‐ sumtiven Ausgaben - nicht von den Ausgaben profitieren. Die Zinsen für die Schuldtitel beanspruchen bei hoher Verschuldung einen erheblichen Anteil der Staatsausgaben und engen den Handlungsspielraum des Staates ein. Bei wachsendem Zinsanteil sinkt der Budgetspielraum für andere Staatsausgaben. Im Extremfall kann eine hohe Staatsverschuldung die Zah‐ lungsfähigkeit eines Staates in Frage stellen. Und schließlich sind in einer Währungsunion Spill-over-Effekte zu befürchten: Die Sorge um die Zah‐ lungsfähigkeit eines Mitglieds führt auch zur Sorge über die Zahlungsfä‐ higkeit anderer Staaten und erhöht insoweit die Zinskosten auch für andere Mitglieder der Union. Als im Jahr 2011 die Risikoaufschläge bei Anleihen von Griechenland zu stei‐ gen begannen, waren schnell auch andere Länder, welche eine hohe Verschul‐ dung hatten, bedroht. Anleger zogen sich von dem Markt für Staatsanleihen vieler europäischer Emittenten zurück, die Zinsen stiegen in Dimensionen, 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 354 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 354 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 354 19.10.2020 12: 34: 41 19.10.2020 12: 34: 41 <?page no="355"?> welche einen Zahlungsausfall Griechenlands in naher Zukunft möglich wer‐ den ließ. Auch für andere hoch verschuldete Länder rechnete man damit, dass bei länger anhaltender Unsicherheit die Refinanzierung der Staatsschulden zu einer exorbitanten Belastung der Staatshaushalte führen würde. In der europäischen Öffentlichkeit der Länder des Nordens war trotz der prekären wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen in den Krisenländern zunächst die These populär, Hilfen seien nicht nötig, diese seien sogar kontraproduktiv, da die Krisenstaaten noch immer das Potential hätten, sich selbst zu helfen. Länder, die ihrerseits durch schwierige Anpas‐ sungsprozesse gegangen sind, wie Finnland 1990-1993, die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch der politischen und ökonomischen Ord‐ nung 1990 und Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung forderten wei‐ tere Anstrengungen der Defizitländer und stellten die Gefahr des moral ha‐ zard heraus: Großzügige Hilfen würden nur die Eigenanstrengungen erlahmen lassen. Andererseits war unverkennbar, dass Griechenlands Staatsschuld Dimen‐ sionen erreicht hatte, welche von dem Land nicht mehr eigenständig be‐ wältigt werden konnte. Für andere Länder wie Spanien, Portugal oder Italien erschien ein Szenario denkbar, dass auch diese Länder realistischerweise nicht mehr in der Lage sein könnten, ihre Schulden zu bedienen. Box 75 | Determinanten der Schuldendiensttragfähigkeit Die Schuldendiensttragfähigkeit eines Landes ergibt sich aus mehreren Variablen: der absoluten Höhe der öffentlichen Schulden und ihrer Rela‐ tion zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, der zu zahlenden Zins‐ sätze und der Laufzeitstruktur, der Währung, in der die Anleihen deno‐ miniert sind, und auf der Seite der öffentlichen Haushalte den zukünftigen Einnahmen und Ausgaben des Staates. Auch die Bereitschaft der Bevöl‐ kerung, einen Reformprozess mitzutragen, spielt dabei eine Rolle. Um die Schuldendiensttragfähigkeit der Staaten zu gewährleisten, wurden im Wesentlichen folgende Maßnahmen ergriffen: 12.4 Lösungsansätze 355 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 355 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 355 19.10.2020 12: 34: 42 19.10.2020 12: 34: 42 <?page no="356"?> 1. Der Aufkauf von Anleihen durch die Europäische Zentralbank: speziell die Ankündigung des sogenannten Outright Monetary Trans‐ action-Progamms (OMT), das zu einer geänderten Risikobewertung von Staatsanleihen hochverschuldeter Staaten führte, brachte eine Entspannung auf den Anleihemärkten. Das Problem der mangelnden Platzierbarkeit der Anleihen oder der Verkauf nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen wird somit gelöst. Das Risiko der Illiquidität und Insolvenz eines Staates wird von der Zentralbank und damit den Staaten der Europäischen Union getragen. 2. Die Senkung der Finanzierungslasten für Defizitländer über einen gemeinsam von europäischen Staaten dotierten Fonds: Um die Finanzierungslast für Eurostaaten zu reduzieren, die entweder wegen ihrer wachsenden Verschuldung oder dem regelmäßigen Roll-over ihrer Altschulden keine Anleihen am internationalen Kapi‐ talmarkt platzieren oder Kredite nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen erhalten können, wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen und mit einem Stammkapital von 700 Mrd. Euro ausgestattet. Der ESM kann direkte Kredite an Krisenstaaten geben, einzelnen Banken der Krisenstaaten Finanzhilfen gewähren, er kann Staatsanleihen der Krisenländer am Primärmarkt kaufen oder auch entsprechend am Sekundärmarkt aktiv werden. Diese Hilfen setzen voraus, dass Staaten makroökonomische Reformprogramme verfol‐ gen. Die wesentliche Unterstützung besteht in der Senkung der Zins‐ last für die betroffenen Länder, da die Garantie durch die Euro-Staaten für den ESM die Beschaffung von Kapital zu niedrigeren Zinssätzen erlaubt als dies den Krisenstaaten gegenwärtig möglich ist (vgl. Eu‐ ropean Stability Mechanism 2019) 3. Schuldenschnitt für überschuldete Länder. Ein Schuldenschnitt bedeutet, dass private oder öffentliche Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderung verzichten. Dies kann durch eine Reduzierung des Nomi‐ nalwertes der Anleihe oder des Kredits oder durch eine Senkung der Zinssätze erfolgen. Im Jahr 2013 erfolgte für Griechenland ein solcher Schuldenschnitt: Privaten Gläubigern wie Banken, Fonds und Versi‐ cherungen wurde der Umtausch ihrer Anleihen in neue Anleihen an‐ geboten. Die Gläubiger akzeptierten im Rahmen des Umtauschs einen niedrigeren Nominalwert ihrer Forderung im Volumen von rund 200 Mrd. Euro, einen niedrigeren Nominalzins und längere Laufzeiten. Die Höhe des Schuldenschnitts wurde mit mehr als 50 % des Wertes der 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 356 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 356 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 356 19.10.2020 12: 34: 42 19.10.2020 12: 34: 42 <?page no="357"?> Forderung angegeben. Die privaten Gläubiger trugen somit einen Teil der Last. Befürworter eines Schuldenschnitts begründen dies mit der faktischen Insolvenz Griechenlands, der in einer marktwirtschaftli‐ chen Ordnung notwendigen Verknüpfung von Risiko und Haftung: wenn Gläubiger hochverzinsliche Wertpapiere kaufen, dann geht dies mit einem höheren Risiko einher. Der Wertverlust im Fall des Eintre‐ tens einer Illiquidität oder faktischen Insolvenz ist in diesem Sinne konsistent und nicht etwas, was um jeden Preis vermieden werden muss. Ein bail-out privater Investoren durch staatliche Hilfen wäre kontraproduktiv und systemdestabilisierend, da privates Kapital in riskante Projekte fließt, private Investoren im Erfolgsfall hohe Ren‐ diten erwirtschaften und der Staat im Fall eines Scheiterns die Rück‐ zahlung garantiert. Ein solches System wäre untragbar. Gegner des Schuldenschnitts argumentierten vor allem mit Verweis auf die Gefahr der Ansteckung: Wenn für Griechenland ein Schul‐ denschnitt erfolgt, so die Befürchtung, würden Gläubiger sich aus an‐ deren Krisenländern zurückziehen, diese könnten noch stärker unter Druck geraten als zuvor. Ende des zweiten Jahrzehnts ist die Staatsverschuldung in den Ländern der Eurozone nach wie vor hoch. Allerdings haben seit 2014 16 Länder ihre Schuldenstandquote reduziert. Demgegenüber haben Griechenland, Frank‐ reich und Italien ihre Staatsverschuldung weiter aufgebaut. 12.4 Lösungsansätze 357 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 357 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 357 19.10.2020 12: 34: 42 19.10.2020 12: 34: 42 <?page no="358"?> Abb. 71: Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 60 70 80 90 100 2000 2003 2006 2009 2012 2015 2018 Schuldenstand/ BIP in % Jahr Abb. 71: Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts Quelle: Europäische Zentralbank (2020): Statistical Data Warehouse Viele der auf dem Höhepunkt der Krise diskutierten Lösungsansätze wie die Emission gemeinsamer Anleihen aller Euro-Staaten oder die Schaffung eines Fonds zur gemeinsamen Tilgung der über die Belastungsgrenze hinausge‐ henden Schulden, die Einführung einer Insolvenzordnung oder die Einfüh‐ rung einer Vermögensabgabe zur Rückführung der Schulden werden nach Überwindung der Spekulation über das Ende des Euros aktuell nicht mehr intensiv diskutiert. Auch ein von manchen Ökonomen vorgeschlagener Weg der Nutzung einer Phase der Inflation zur realen Entwertung der Staats‐ schulden, ein Weg, den die USA in den 70er- und 80er-Jahren beschritten hatte, ist gegenwärtig kein Thema. Verständnisfrage Für welche Akteure ergeben sich aus den tatsächlich eingeleiteten Maßnahmen zur Unterstützung Griechenlands Anreizprobleme, die man der Kategorie „moral hazard“ zuordnen kann? 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 358 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 358 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 358 19.10.2020 12: 34: 43 19.10.2020 12: 34: 43 <?page no="359"?> Die Lösung der makroökonomischen Krise Der vierte Problemkreis ist die Belebung der Wirtschaft durch Konjunktur‐ programme. Hier standen sich zwei Positionen gegenüber, die Forderung nach einer keynesianisch orientierten Nachfragestimulierung und die For‐ derung nach einer Austeritätspolitik. Paul Krugman, der profilierteste Vertreter der keynesianischen Position, plädierte wiederholt für eine Ausweitung der Staatsausgaben und sah darin den Weg zur schnellen Rückkehr zu Wachstum, niedriger Arbeitslosigkeit und einer Beendigung der Krise. Die Sorge um kurzfristige Defizite und die Ausweitung der öffentlichen Schulden, so seine Argumentation, sei nicht gerechtfertigt und sinnvoll. Er beklagte die europäische Führung und die Missachtung der zentralen Erkenntnisse der keynesianischen Lehre (vgl. Krugman 2013). Da die EU selbst über keine oder sehr geringe konjunktur‐ politische Mittel verfügt, müsse insbesondere Deutschland, welches eine vergleichsweise niedrige Staatsverschuldung habe, seiner Verantwortung nachkommen und die Staatsausgaben erhöhen. Auch andere starke Regie‐ rungen könnten günstig Kredite aufnehmen, sie hätten eine Verpflichtung, die Nachfrage zu stabilisieren. Die Lohnpolitik könne einen wichtigen Bei‐ trag leisten, Löhne sollten deutlich stärker steigen als sie es in Ländern wie Deutschland taten. Die Geldpolitik sollte entschiedener intervenieren. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage könnte auf diesem Weg stabilisiert, die Arbeitslosigkeit reduziert und die gesellschaftlichen Kosten der Krise ver‐ ringert werden. Für Krugman war die Orientierung an der Rückführung der Staatsverschuldung in der Krise „inflicting pain for no good reason“. Das Drängen insbesondere der deutschen Regierung auf die Befolgung eines Austeritätskurses sei falsch (vgl. Krugman 2012). Die Vertreter der Austeritätspolitik in Europa sehen keine Möglichkeit, die Staatsausgaben in der Krise auszuweiten, da die Ausweitung der öffentli‐ chen Verschuldung die Schuldendiensttragfähigkeit weiterer Länder ge‐ fährde. Konjunkturprogramme liefen in die Irre, wenn Länder es verpassten, ihre Volkswirtschaften im weltweiten Wettbewerb zu stärken. Die Krise sei eine Gelegenheit, die Probleme mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, welche die eigentliche Ursache der Schwierigkeiten sei, anzugehen. Die Geldpolitik sei bereits an die Grenze der rechtlich zulässigen und ökonomisch sinnvollen Krisenbekämpfung gegangen. 12.4 Lösungsansätze 359 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 359 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 359 19.10.2020 12: 34: 43 19.10.2020 12: 34: 43 <?page no="360"?> Im Ergebnis wurde in der Eurozone allgemein und im Grunde in allen Län‐ dern fiskalpolitisch eine restriktive Politik realisiert, während die EZB auf eine lockere Geldpolitik setzte. Box 76 | Konsolidierungspolitik und Fiskalmultiplikatoren Ob mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung in den überschuldeten Euroländern die wirtschaftliche Entwicklung kurzfristig gestärkt wer‐ den kann, hängt maßgeblich von der Größenordnung der Fiskalmulti‐ plikatoren ab. Diese geben an, in welchem Ausmaß sich das Bruttoin‐ landsprodukt bei diskretionärer Variation der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen verändert. Ist der Konsolidierungsmultiplikator mit ei‐ nem Wert von bis zu 1,7 in Krisenzeiten deutlich höher als unter nor‐ malen Bedingungen mit einem Wert von etwa 0,5 (vgl. Internationaler Währungsfonds 2012, Blanchard/ Leigh 2013), würde der Verlust an wirt‐ schaftlicher Dynamik die Politik des Defizitabbaus durch Ausgabenkür‐ zungen und Anhebungen öffentlicher Abgaben erschweren. Im Extrem könnte dies sogar dazu führen, dass sich die Politik der Haushaltskon‐ solidierung selbst aufhebt („Kaputtsparen“) und es zu einer Stabilisie‐ rung der Schuldenquoten gar nicht kommt. Gegenüber den kurzfristigen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Ak‐ tivität wird auf die langfristigen Effekte einer Haushaltskonsolidierung verwiesen, die vorübergehende Wachstumsausfälle mehr als ausglei‐ chen können. Die strukturelle Verbesserung der öffentlichen Haushalte stärkt das Vertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, ver‐ mindert die Risikoprämien auf Staatsanleihen und trägt die Möglichkeit zukünftiger Steuererleichterungen mit einem höheren Wachstumspfad für die Volkswirtschaft in sich (vgl. Europäische Kommission 2012, Eu‐ ropäische Zentralbank 2012). Für die Bandbreite der vorliegenden Ergebnisse zu den Fiskalmultipli‐ katoren (vgl. Gechert 2015) sind zahlreiche Faktoren ausschlaggebend. Neben dem wirtschaftlichen Umfeld in der Ausgangssituation (kon‐ junkturelles Regime) ist zu berücksichtigen, welche verschiedenen Be‐ rechnungsmethoden zum Zuge kommen, welcher Zeithorizont gewählt wird, ob alternative Konsolidierungsinstrumente (öffentliche Investi‐ tionen, Transferausgaben, direkte oder indirekte Steuern) betrachtet 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 360 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 360 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 360 19.10.2020 12: 34: 43 19.10.2020 12: 34: 43 <?page no="361"?> werden, inwieweit die Länderauswahl im zugrundeliegenden Datensatz differiert oder ob die eingeschlagene Konsolidierung als mehr oder we‐ niger glaubwürdig angenommen wird (vgl. Bundesministerium der Fi‐ nanzen 2013b). Die Reform der Entscheidungsstrukturen Mechanismen der Koordinierung müssen in der Krise funktionsfähig sein. Es wurden viele Wege der Verbesserung der Information, der Kommunika‐ tion, der Abstimmung beschritten. Das Europäische Semester stellt ein zen‐ trales Element des Frühwarnsystems dar, welches nötig ist, um nicht von Krisen überrascht zu werden. Allerdings sind hier im Vergleich zu den vier oben genannten Bereichen die Fortschritte am geringsten: Die Natur der Europäischen Union fordert Abstimmung, Koordination, Suche nach Kon‐ sens, Aushandlung, Vermittlung. Die Natur einer Finanzkrise erfordert Ent‐ schiedenheit, Verantwortungsübernahme, Risikobereitschaft. Eine denkbare Lösung wäre eine „politische Union“. Diese wurde von Wis‐ senschaft und Politik als ein notwendiges Pendant zur Wirtschafts- und Währungsunion gesehen. Sie, so die Vertreter dieser These, muss „vollendet werden“. Unklar bleibt, was das bedeutet. Soll die EU mit dem Grundsatz brechen, dass jeder Mitgliedsstaat in wirtschaftspolitischen Fragen autonom entscheiden kann (vgl. Wagstyl/ Barker 2014, Habermas 2013, S. 87). Wie eine politische Union konkret aussehen kann, muss jedoch erarbeitet werden. 12.4.2 Lösungen außerhalb der bestehenden Ordnung - Alternative Formen der Währungszusammenarbeit Aus Sicht der Kritiker der Währungsunion und der Krisenstrategie der Union ist der beste Weg zur Wiederbelebung der Entwicklung in Europa die geordnete Auflösung der Währungsunion in der bestehenden Form. Kurz‐ fristig sei dies zwar mit hohen Kosten verbunden, langfristig jedoch die bes‐ sere Lösung, sowohl für die wirtschaftliche als auch für die politische Ent‐ wicklung, da die gegenwärtige Krise eine Spaltung Europas herbeigeführt habe, die durch das Festhalten nur perpetuiert werde. 12.4 Lösungsansätze 361 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 361 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 361 19.10.2020 12: 34: 44 19.10.2020 12: 34: 44 <?page no="362"?> ■ Die konservative Kritik an der Währungsunion: Aus Sicht kon‐ servativer Kritiker der Währungsunion wird durch die Krise offenbar, dass die Einheit von Verantwortung und Haftung aufgelöst wurde. Das in den Verträgen festgeschriebene „no bail-out-Prinzip“ wurde nicht beachtet, und hat das Vertrauen in die Vertragstreue in der EU erschüttert. Die Krise schaffe die Grundlage für dauerhafte Abhän‐ gigkeit der Krisenländer von den solide wirtschaftenden Staaten, da‐ mit werde eine völlig unhaltbare Situation geschaffen (vgl. Sarrazin 2012). Wenn Staaten nicht willens oder in der Lage seien, die Disziplin für stabilitätsgerechte Politik aufzubringen, welche Grundbedingung für eine Währungsunion ist, müsse der Weg der Auflösung der Wäh‐ rungsunion in ihrer bisherigen Form gewählt werden. ■ Die Kritik an der Währungsunion aus progressiver Perspek‐ tive: Aus Sicht progressiver Kritiker ist das Festschreiben neoliberaler Lösungen für alle europäischen Länder der falsche Schritt. Dies werde der Heterogenität der Gesellschaften nicht gerecht, notwendig sei keine „kapitalistische Monokultur“, sondern Vielfalt. Das immer enger werdende Korsett für die Wirtschaftspolitik, die Verschärfung der Vorgaben für die Mitgliedsstaaten der Währungsunion, die Einschrän‐ kung ihrer Autonomie, die Stärkung der Rechte der europäischen In‐ stitutionen und die Einführung von Strafen sind Regeländerungen, die Europa nicht nach vorne bringen, sondern zurückwerfen. Sie sind ökonomisch nicht zu vertreten. Und vor allem gefährden sie die De‐ mokratie (vgl. Streeck 2013, S. 147-159). Die von dem Druck der Ka‐ pitalmärkte getriebenen Reformen gingen in die falsche Richtung. Die gemeinsame Währung sei unvereinbar mit der Vorstellung eines de‐ mokratischen Europas (vgl. Scharpf 2013). ■ Die Kritik an der Währungsunion aus liberaler ökonomischer Perspektive: Viele Ökonomen hielten die Einführung einer Wäh‐ rungsunion für falsch oder verfrüht, da sie den zentralen wirtschaft‐ lichen Anpassungsmechanismen, den Wechselkurs, außer Kraft setzt. Der Ersatz der von den Märkten erzwungenen Disziplin durch poli‐ tische Mechanismen sei unrealistisch und nicht nachhaltig (vgl. Krug‐ man 2013, Stiglitz 2016). Aus der Sicht der Befürworter einer Beendigung der Währungskooperation in der jetzigen Form könnten die Staaten unter diesen Umständen schneller ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen (vgl. Scharpf 2013). 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 362 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 362 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 362 19.10.2020 12: 34: 44 19.10.2020 12: 34: 44 <?page no="363"?> Box 77 | Alternativen zur Währungsunion in der bestehenden Form Die Auflösung der Währungsunion in der bestehenden Form könnte auf verschiedenen Wegen erfolgen: Ein oder einige wenige Staaten treten aus der Euro-Währungszone aus (meist wird dabei auf einen potenziel‐ len Austritt von Griechenland oder Italien verwiesen. Stiglitz regt alter‐ nativ den Austritt Deutschlands an). Das Euro-Währungsgebiet wird in zwei oder wenige Währungsgebiete mit jeweils gemeinsamen Währungen aufgeteilt. Es erfolgt eine Rück‐ kehr zu nationalen Währungen, eventuell in Verbindung mit der Ein‐ führung von Parallelwährungen. Kurzfristig wären solche Lösungen mit beträchtlichen Kosten verbunden, sowohl auf der Gläubigerseite als auch auf der Schuldnerseite. Banken müssten mit hohen Verlusten umgehen, Staatsdefizite würden ansteigen, die Anpassung der Wechselkurse würde eine erhebliche Reallokation von Ka‐ pital bedingen. Die Schuldnerstaaten wären für einige Zeit von dem inter‐ nationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, die makroökonomische Krise würde sich kurzfristig verschärfen. Allerdings sehen die Befürworter solcher Lösung langfristig Vorteile, welche die Nachteile überwiegen: Selbstverantwortliches Handeln, Haushaltsdisziplin, Entlastung der EU-Strukturen von „Überwachung“ und „Kontrolle“ anderer Staaten sind hier zu nennen. Befürworter sehen damit auch einen Gewinn für die Demokratien in diesen Ländern. Das sich ausbreitende von den Politikern bediente Gefühl, dass die Länder andernorts erdachte Politikempfehlungen umsetzen müssen, schadet dem europäischen Gedanken. Damit könne auch wieder die Akzeptanz für Europa steigen, die in der Krise schwer gelitten habe. Eine wichtige Erkenntnis der Währungsgeschichte lautet, dass Währungs‐ ordnungen stets Ordnungen auf Zeit sind (vgl. Stiglitz 2016). Die Überhö‐ hung einer Währungsordnung zur Schicksalsfrage eines Kontinents oder der Europäischen Union ist vor diesem Hintergrund nicht angemessen. An der Notwendigkeit, in den Staaten eine solide nachhaltige Wirtschafts‐ politik zu verfolgen, führt aber dieser Weg nicht vorbei: Die Hebung des Lebensstandards ist, will ein Land nicht dauerhaft Empfänger von Hilfsleis‐ 12.4 Lösungsansätze 363 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 363 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 363 19.10.2020 12: 34: 45 19.10.2020 12: 34: 45 <?page no="364"?> tungen anderer Länder sein, Ergebnis der Produktivität der Produktions‐ faktoren in dem Land. 12.5 Drei Szenarien Die Krise hat die Union an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt, sowohl ökonomisch als auch politisch. Die Einführung des Euros hat die Länder nicht wie gewünscht näher aneinander geführt, sondern eher Gräben auf‐ geworfen. Die Einführung des Euros hat eine „Verantwortungsgemein‐ schaft“ geschaffen, die in ihrer Dimension erst in der Krise erkannt wurde: Politische Unsicherheiten in einem hoch verschuldeten Land können die Währung aller Mitgliedsstaaten der Währungsunion gefährden und werden somit zur gemeinsamen Angelegenheit. Diese Gefährdung gilt selbst dann, wenn der Beitrag zur Gesamtwirtschaft in Europa gering ist. Die wirtschaft‐ lichen Schwierigkeiten Italiens sind daher von besonderer Brisanz für die Zukunft der Währungsunion. Angesichts der Vielfalt von Faktoren und Ak‐ teuren, die den weiteren Weg in der Eurokrise bestimmen, ist die Abbildung der möglichen Entwicklungspfade durch Szenarien hilfreich. Drei Szenarien können den weiteren Weg beschreiben: Szenario “Europa gelingt kein Durchbruch, die Zukunft ist durch „Muddling through” gekennzeichnet: Die Europäische Union begegnet den Herausforderungen mit kurzfristigen Lösungen für die jeweils auftau‐ chenden Probleme. Die Krise absorbiert alle Kräfte, die Union schafft es nicht, sich mit anderen drängenden Zukunftsaufgaben zu befassen. Es ge‐ lingt den Krisenländern nicht, auf einen Wachstumspfad zurück zu finden. Europa könnte ähnlich wie Japan in den Jahren nach dem Zusammenbruch des dortigen Immobilienbooms in eine vergleichbare Phase mit niedrigem Wachstum eintreten (vgl. Marsh 2013). Szenario „Europa wächst aus der Krise“: Dies ist das Wunschszenario der Union. Europa gelingt es, vor dem Hintergrund der konsequenten Um‐ setzung der begonnenen Reformen in den Nationalstaaten, der Verbesserung der Governance-Struktur der Union und einer weltweit anziehenden Kon‐ junktur die Probleme in den meisten Krisenländern in den Griff zu bekom‐ men. Die Krisenstaaten führen ihre Verschuldung zurück und betreiben zu‐ künftig eine Wirtschaftspolitik, die makroökonomische Ungleichgewichte verhindert und asymmetrischen Schocks durch frühzeitiges Gegensteuern 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 364 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 364 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 364 19.10.2020 12: 34: 45 19.10.2020 12: 34: 45 <?page no="365"?> begegnet. Die Union entwickelt ihre Koordinierungsmechanismen weiter und handelt zukünftig proaktiv. Dieses Szenario ist voraussetzungsreich, diverse Bedingungen müssen erfüllt sein. Allerdings hat Europa in der Ver‐ gangenheit mehrere Krisen bewältigt und ist danach gestärkt aus diesen hervorgegangen. Szenario „Die Europäische Währungsunion zerfällt“: Die Zentrifugal‐ kräfte der Krise führen nach dem Ausscheiden eines Staates aus der Wäh‐ rungsunion zu gewaltigen Spekulationen gegen die in der Währungsunion verbleibenden Staaten, die Währungsunion zerbricht. Die Verluste aus den dann uneinbringlichen Krediten und Anleihen sind erheblich und reduzie‐ ren den Lebensstandard der Menschen in den Gläubigerländern drastisch. Auch in den Krisenländern käme es kurzfristig zu einem weiteren Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität. Die resultierenden Aufbzw. Abwertungen verursachen schwere wirtschaftliche Anpassungsprobleme in Überschuss- und Defizitländern. Die Länder der Union sind auf viele Jahre in einem Teu‐ felskreis niedriger oder gar negativer Wachstumsraten gefangen. 12.6 Schlussbemerkung Die Eurokrise hat viele Schwächen in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion aufgezeigt. Die Schärfe der Krise hat viele Reformen er‐ möglicht, die, so die Hoffnung der Verantwortlichen, langfristig die Krisen‐ festigkeit der Eurozone stärken wird. Die innerhalb der Volkswirtschaften der Eurozone umgesetzten Reformen stellen wichtige Fortschritte dar. Die Reformen der Finanzarchitektur sind weitgehend, wenn auch noch nicht abgeschlossen. Die große Mehrzahl der Länder betreibt eine Finanzpolitik, die stärker auf Begrenzung der Staatsverschuldung ausgerichtet ist und der Volatilität von Märkten Rechnung trägt. Das makroökonomische Dilemma wird durch eine expansive Geldpolitik bei Fortführung einer eher zurück‐ haltenden Fiskalpolitik gelöst. Allein die Problematik der Entscheidungs‐ verfahren ist nur wenig vorangekommen. Die Währungsunion in der jetzigen Form ist Ergebnis des politischen Han‐ delns seit Schaffung der Währungsunion. Europa kann sich entscheiden, die Spielregeln der monetären Zusammenarbeit zu ändern. Die EU ist gut be‐ raten, die konkrete Ausgestaltung der Währungsunion nicht als statisch und 12.6 Schlussbemerkung 365 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 365 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 365 19.10.2020 12: 34: 45 19.10.2020 12: 34: 45 <?page no="366"?> alternativlos anzusehen, sondern immer wieder neu zu sehen, welche Op‐ timierungsmöglichkeiten es gibt. 12.7 Wichtige Begriffe Rating, Wettbewerbsfähigkeit, Bankenkrise, Verschuldungskrise, ma‐ kroökonomische Krise, Fiskaltransfer, Fiskalmultiplikatoren, Reform‐ politik, Einlagenversicherungssystem, OMT, ESM, Schuldenschnitt 12.8 Literatur Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2019): The Economics of European Integration, 6. Auflage, London, McGraw-Hill Blanchard, Olivier/ Leigh, Daniel (2013): „Growth Forecast Errors and Fiscal Multi‐ pliers “, IMF Working Paper WP/ 13/ 1 Blanchard, Olivier / Illing, Gerhard (2017): Makroökonomie, 7. Auflage, München, Pearson. Bundesministerium der Finanzen (2013a): „Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Haus‐ haltslage in den Ländern des Euroraums“, in: Monatsbericht des BMF, Dezember 2013, S. 6-16 Bundesministerium der Finanzen (2013b): „Finanzpolitik im Euroraum. Die Wirkung fiskalischer Multiplikatoren bei Konsolidierungen“, in: Monatsbericht des BMF, Februar 2013, S. 54-57 Bundesministerium der Finanzen (2017): Die europäische Bankenabwicklung - ak‐ tuelle Herausforderungen, Monatsbericht des BMF Mai 2017, S. 10-18 Deutsche Bundesbank (2014a): „Realwirtschaftliche Anpassungsprozesse und Re‐ formmaßnahmen“, in: Monatsbericht Januar 2014, S. 21-40 Deutsche Bundesbank (2014b): „Das Schattenbankensystem im Euro-Raum-Darstel‐ lung und geldpolitische Implikationen“, in: Monatsbericht März, S. 15-35 Europäische Kommission (2012): „Forecast errors and multiplier uncertainty“, Box 1. 5, in: European Economy, 7/ 2012, S. 41-46 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 366 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 366 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 366 19.10.2020 12: 34: 46 19.10.2020 12: 34: 46 <?page no="367"?> Europäische Kommission (2018): Lage der Union 2018, Brüssel, http: / / ec.europa.eu/ commission/ sites/ beta-political/ files/ soteu2018-brochure_de.pdf Europäische Kommission (2019): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat und die Europäische Zentralbank. Vierter Fortschrittsbericht über den Abbau notleidender Kredite und den weite‐ ren Risikoabbau in der Bankunion, COM (2019) 278 final, Brüssel European Stability Mechanism (2019): 2018. Annual Report, Luxemburg Europäische Zentralbank (2008): Monatsbericht - 10 Jahre EZB, Frankfurt Europäische Zentralbank (2012): „Die Bedeutung fiskalischer Multiplikatoren in der aktuellen Konsolidierungsdebatte“, Kasten 6, in: Monatsbericht Dezember 2012, S. 90-95 Fuchs, Andreas/ Gehring, Kai (2013): The Home Bias in Sovereigns Ratings, Univer‐ sity of Heidelberg Discussion Paper Series Gechert, Sebastian (2015): „What fiscal policy is most effective? A meta-regression analysis “, in: Oxford Economic Papers, 67. Jg., Nr. 3, S. 553-580 Griesse, Jörn (2010): „Fact Sheet - Europäische Union“, in: Pohlmann, Christoph/ Reichert, Stephan/ Schillinger, Hubert Rene (Hrsg.): Die G-20: Auf dem Weg zu einer „Weltregierung“? Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, S. 30-34 Habermas, Jürgen (2013): „Im Sog der Technokratie - Ein Plädoyer für europäische Solidarität“, in: Habermas, Jürgen (2013): Im Sog der Technokratie, Berlin, S. 82- 111 Internationaler Währungsfonds (2012): „Are We Underestimating Short-term Fiscal Multipliers? “, Box 1. 1, in: World Economic Outlook, Coping with High Debt and Sluggish Growth, October 2012, S. 41-43 Krugman, Paul (2012): “Europe’s Austerity Madness “, in: New York Times, 28. Sep‐ tember 2012 Krugman, Paul (2013): Years of tragic waste, in: Global edition of New York Times, 7./ 8. September 2013 Krugman, Paul (2015): „The case for cuts was a lie. Why does Britain still believe it? The austerity delusion“, in: The Guardian, 29. April 2015 12.8 Literatur 367 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 367 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 367 19.10.2020 12: 34: 46 19.10.2020 12: 34: 46 <?page no="368"?> Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton OECD (2013): OECD Sovereign Borrowing Outlook 2013, Paris, OECD Publishing Pisani-Ferry/ Sapir, Andre (2009): Weathering the storm. Fair-weather versus stormyweather governance in the euro-area, Bruegel Policy Contributions, Brüssel Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2013): Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/ 14, Wiesbaden Sarrazin, Thilo (2012): Europa braucht den Euro nicht: Wie uns politisches Wunsch‐ denken in die Krise geführt hat, München, Deutsche Verlags-Anstalt Scharpf, Fritz (2013): “Entmündigung als Lösung? , in: Internationale Politik und Ge‐ sellschaft, Dezember 2013, Internet: www.ipg-journal.de/ archiv/ year/ 2013/ 12/ pa ge/ 2/ Stiglitz, Joseph (2016): The Euro and Its Threat to the Future of Europe, Allen Lane Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit - Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, 4. Auflage, Berlin, Suhrkamp Verlag Wagstyl, Stefan/ Barker, Alex (2014): „Germany pushes eurozone fusion“, in: Finan‐ cial Times, 28. März 2014 Wallace, Paul (2016): The €uro Experiment, Cambridge University Press 12 Die Finanzkrise in Europa - Ursachen und Herausforderungen 368 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 368 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 368 19.10.2020 12: 34: 46 19.10.2020 12: 34: 46 <?page no="369"?> Teil 6: Ausblick 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 369 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 369 19.10.2020 12: 34: 46 19.10.2020 12: 34: 46 <?page no="370"?> 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 370 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 370 19.10.2020 12: 34: 46 19.10.2020 12: 34: 46 <?page no="371"?> 13 Perspektiven der europäischen Einigung Die allgemeine politische und wirtschaftliche Entwicklung hat die Entwicklung der Integration geprägt Die Geschichte der europäischen Integration hat gezeigt, dass die Entwick‐ lung der Integration insgesamt und der einzelnen Politikbereiche stets in Verbindung mit den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Ent‐ wicklungen zu sehen ist. Die wirtschaftlichen Realitäten zu Beginn des In‐ tegrationsprozesses haben die Schwerpunkte der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft in den ersten Jahrzehnten, die politischen Entwicklungen im Süden Europas haben den Erweiterungsprozess in den 80er-Jahren, die völ‐ lige Veränderung der politischen Landkarte Osteuropas hat die Entwicklung der EU in den letzten 25 Jahren ganz wesentlich bestimmt. Der Pfad der Entwicklung der Union war nicht das Ergebnis einer nüchternen techno‐ kratischen Abwägung von Vor- und Nachteilen alternativer Entwicklungs‐ optionen, welche die Gründerväter der Union im Blick haben konnten, son‐ dern Ergebnis spontaner Kräfte und Entscheidungen, die Geschichte der Union ist ganz wesentlich den Besonderheiten historischer Momente und Trends geschuldet. Auch in Zukunft wird dies so sein. Dies entbindet die Union, die Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft nicht von der Pflicht, über Handlungsoptionen nach‐ zudenken, Pläne für die Zukunft der Union zu entwickeln, Europa mit Weit‐ sicht auf die Herausforderungen vorzubereiten. Die konkreten Entwick‐ lungswege werden aber auch in Zukunft ganz wesentlich von schwer 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 371 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 371 19.10.2020 12: 34: 47 19.10.2020 12: 34: 47 <?page no="372"?> vorhersehbaren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereig‐ nissen bestimmt werden. Hier Gewissheiten einzufordern mag populär sein, ist aber nicht realistisch. Brexit und die Folgen Der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union nach 47 Jahren der Mitgliedschaft stellt eine Zäsur in der Entwicklung der Union dar. Das lange Zeit Undenkbare wurde wahr. Die Entwicklung Großbritan‐ niens und Nordirlands wird zeigen, welche Wirkungen in ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht dieser Schritt haben wird. Meh‐ rere Szenarien sind denkbar, die von einem Auseinanderdriften der euro‐ päischen Länder bis zu einer Stärkung der Einsicht reichen, dass Europa nur gemeinsam stark ist. Weitere Erweiterungsschritte Sechs Staaten haben die Europäische Gemeinschaft gegründet, im Jahr 2020 hat die Union - nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches - 27 Mit‐ gliedstaaten. Mehrere Staaten in Osteuropa stehen ante portas: Beitrittsge‐ spräche werden mit mehreren Ländern geführt, einige Länder sind Kandi‐ datenländer, einigen Ländern wurden Verhandlungen zugesichert, sobald sie wirtschaftlich und politisch so weit sind. Die Erweiterungsschritte der Ver‐ gangenheit folgten häufig vor allem der Logik der Stabilisierung junger De‐ mokratien und Volkswirtschaften. Dies kann überwiegend als gelungen und als Gewinn für Europa betrachtet werden. In der Folge sind Meinungsbildungsprozesse in der Union komplexer ge‐ worden, die konsensuale Gestaltung einer zukunftsorientierten Politik wurde schwieriger, die Vorstellungen von einer zukünftigen Union weichen heute stärker voneinander ab als dies in den 80er- oder 90er-Jahren der Fall war. Und da notwendige institutionelle Reformen unterblieben, sind Mehr‐ heiten für Reformen häufig schwer zu organisieren. Auch mit Blick auf zu‐ künftige Erweiterungen muss die Union daran arbeiten, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu sichern. Geopolitische Veränderungen und die europäische Einigung Seit Beginn der europäischen Integration standen die Vereinigten Staaten von Amerika an der Seite der zunächst westeuropäischen und später auch 13 Perspektiven der europäischen Einigung 372 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 372 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 372 19.10.2020 12: 34: 47 19.10.2020 12: 34: 47 <?page no="373"?> der osteuropäischen Länder, welche die Europäische Union heute prägen. Politisch, wirtschaftlich und kulturell waren die Europäer und die USA stets enge Partner. Mit dem Aufstieg Asiens veränderte sich bereits unter Barack Obama die außenpolitische Schwerpunktsetzung der USA, Asien rückte au‐ ßen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch in den Fokus („Pivot to Asia“). In der Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump ging die Adjustierung des Blicks auf europäische Entwicklungen deutlich weiter: Der US-Präsident hat wiederholt das Einigungswerk und die Aufgabe nationaler Souveränität als politische Fehlentwicklung charakterisiert. Die Abwesenheit einer gemein‐ samen Vorstellung der USA und der europäischen Länder über die Zukunft Europas erschwert weitere Schritte der europäischen Einigung. Europa muss sich darauf besinnen, die eigene Zukunft selbst zu gestalten, Ziele - Die praktische ersetzt die emotionale Perspektive Alle Mitgliedsstaaten der Union haben den Vertrag von Lissabon, in dem die Ziele der Integration benannt werden, unterzeichnet. Und doch reflektiert die Debatte über das Handeln der EU auch erhebliche Unterschiede hin‐ sichtlich der Vorstellungen über die Ziele der Integration. Und diese Unterschiede sind mit der Erweiterung noch gewachsen. Das Ringen um Kompromisse bei Vertragsänderungen, die in vielen Fällen knappen Ent‐ scheidungen in Referenden, wenn die Bevölkerung zustimmen musste, si‐ gnalisiert die beträchtliche Divergenz hinsichtlich der Zielvorstellungen. Historisch war das europäische Projekt ein Friedensprojekt, und wurde in den Nachkriegs- und Gründungsjahren der Union von vielen Menschen un‐ terstützt. Der Integrationsprozess wurde emotional mitgetragen. Heute do‐ minieren für viele Akteure praktische Erwägungen, die Mitgliedschaft ist mehr Ergebnis eines nüchternen Kosten-Nutzen-Kalküls. Für einige Akteure stehen wirtschaftliche Ziele im Vordergrund Trotz der gemeinsam verabschiedeten und vertraglich verabredeten umfas‐ senden Ziele der Union sehen viele Politiker und Bürger das eigentliche Ziel der Zusammenarbeit im Wesentlichen in der wirtschaftlichen Zusammen‐ arbeit, in der Vollendung des Binnenmarktes und in der Sicherung der Wett‐ bewerbsfähigkeit Europas. Für viele Europäer ist die Union jedoch auch die Institution, welche Europa eine Stimme in der Welt gibt, welche die Außen‐ politik bündelt, der Klimapolitik die entscheidende Kraft gibt. Die Union ist 13 Perspektiven der europäischen Einigung 373 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 373 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 373 19.10.2020 12: 34: 47 19.10.2020 12: 34: 47 <?page no="374"?> aus dieser Sicht auch jenes institutionelle Gefüge, welches Demokratie und Menschenrechte für die Bürger Europas sichern kann. Verschiedene Wege zur Integration - intergouvernemental oder föderal Es gibt zwei idealtypische Wege zur Integration Europas: das föderale Eu‐ ropa oder das intergouvernementale Europa. In der deutschen öffentlichen Debatte dominiert häufig das Bild, Integration bedeute zwangsläufig Abgabe an Kompetenzen an die supranationale Ebene und die Stärkung der födera‐ len Ordnung. In der Gruppe der Integrationsbefürworter gibt es aber eben‐ falls zahlreiche Stimmen, welche die europäische Zusammenarbeit eher in‐ tergouvernemental regeln wollen: Die Staaten sollen nicht Weisungen von der Kommission erhalten dürfen, sondern von Fall zu Fall einstimmig ent‐ scheiden können, ob sie gemeinsam vorangehen wollen. Aus dieser Sicht ist die Kritik an der Macht der Kommission, an den Entscheidungen des Euro‐ päischen Parlamentes, an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes und an Mehrheitsentscheidungen des Europäischen Rates konsequent, die im Vertrag von Lissabon vereinbarte Abgabe von Souveränitätsrechten ist problematisch und korrekturbedürftig. Nicht das Europäische Parlament oder die Kommission sollen im Zentrum der Integrationsprozesse stehen, sondern die nationalen Parlamente und Regierungen. Einer der tieferlie‐ genden Gründe für die Kritik an europäischen Institutionen ist mithin die Uneinigkeit über das Wie der Integration, die mit der wachsenden Zahl der Mitglieder der Europäischen Union und der Unterschiedlichkeit der wirt‐ schaftlichen, politischen und kulturellen Perspektiven zugenommen hat. Faktisch hat die Union sowohl föderale als auch intergouvernementale Ele‐ mente. Es muss immer wieder neu definiert werden, wie konkret die Inte‐ gration ausgestaltet werden soll (Schäuble 2011). Szenarien für die Zukunft Europas In einem im Jahr 2017 vorgestellten Weißbuch zur Zukunft Europas wurden mit fünf Szenarien denkbare Entwicklungswege beschrieben (Europäische Kommission 2017). Die Diskussion der Szenarien macht deutlich, dass sich für jeden Entwicklungsweg sowohl Proals auch Kontra-Argumente iden‐ tifizieren lassen. Dies bedeutet, dass sich die europäischen Länder in einem politischen Diskurs auf bestimmte Richtungsentscheidungen einlassen müssen. 13 Perspektiven der europäischen Einigung 374 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 374 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 374 19.10.2020 12: 34: 48 19.10.2020 12: 34: 48 <?page no="375"?> Institutionelle Reformen finden ständig statt Alle zentralen Organe und Institutionen der Union haben im Verlaufe ihrer Existenz erhebliche Veränderungen erlebt. Ihre Arbeits- und Funktionsweise wurde in den großen Vertragsreformen immer wieder angepasst. Sie wurden auch von Personen geprägt, denen es gelang, den Spielraum, den ein unfer‐ tiges politisches Projekt den Gestaltern lässt, zu nutzen. Auch in Zukunft werden die Institutionen der Union dem Wandel unterliegen. Die Union ist gefordert, jede einzelne Institution und das Gesamtgefüge den Erfordernis‐ sen der Zeit anzupassen, und dabei die Handlungsstärke der einzelnen In‐ stitutionen und der Union als Ganzes im Blick zu behalten. Die Vorstellungen von der Weiterentwicklung unterscheiden sich erheblich und werden von dem Demokratieverständnis, von nationalen Rechtstraditionen, von den Er‐ fahrungen mit der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen, von dem Vertrauen in die Verantwortung der politischen Elite geprägt. Kleine Länder blicken anders auf Europa als große, Menschen in wohl etablierten Demo‐ kratien sehen Europa anders als Menschen in jungen fragilen Staatswesen. Die Zufriedenheit mit der europäischen Demokratie als Herausforderung für die Union Repräsentative Befragungen zur Zufriedenheit mit der Funktionsweise der europäischen Demokratie, mit der Arbeitsweise der Organe der Europäi‐ schen Union und dem Vertrauen in die Europäische Union insgesamt (vgl. Europäische Kommission 2019), zeigen, wie unterschiedlich die Wahrneh‐ mungen in den Mitgliedsstaaten sind. Für die Wertschätzung der Union ist nicht nur entscheidend, dass der Prozess des politischen Handelns (Input-Legitimität) als angemessen erfahren wird, sondern dass der Output des Handelns (Output-Legitimität) die von der Ge‐ sellschaft als relevant erachteten Probleme wie Wachstum, Beschäftigung oder innere Sicherheit adressiert und überzeugend löst (Scharpf 2014). Wichtige wirtschaftliche Politikfelder der Zukunft Jedes einzelne Politikfeld der Union stellt die Union auch zukünftig vor große Herausforderungen. Die Wirtschafts- und Währungspolitik fordert die Union in besonderer Weise (vgl. Marsh 2013, Pilz 2013). Der Währungs‐ union ist der Zwang zur Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung sys‐ 13 Perspektiven der europäischen Einigung 375 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 375 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 375 19.10.2020 12: 34: 48 19.10.2020 12: 34: 48 <?page no="376"?> temimmanent. Die Eurokrise hat die Verwundbarkeit bei Missachtung dieser Logik gezeigt. Dies kann nur bedeuten, dass die Union die Mechanismen der Abstimmung, die in der Eurokrise erarbeitet wurden, überprüft und stärkt. Die Eurokrise, welche die Union an die Grenze ihrer Möglichkeiten geführt und viel Vertrauen in das europäische Projekt zerstört hat, hat das Potential, das europäische Projekt dauerhaft und schwer zu schädigen. Sie bietet gleichzeitig eine Chance, die Modernisierung der Staaten und der Union voranzubringen. Flüchtlingsproblematik stellt die EU vor neue Herausforderungen Die große Zahl der Flüchtlinge, die in Europa ein neues Leben beginnen wollen, stellt die EU vor eine enorme Herausforderung. Wieviel Flüchtlinge muss und kann die EU aufnehmen, wie sind die Flüchtlinge innerhalb der Union zu verteilen? Wie kann die Integration gelingen? Die Debatte über die Verantwortung Europas, über die Werte, für die Europa stehen möchte, und über Potential und Grenzen der Aufnahmefähigkeit wird die EU auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Dabei gilt es, den Konflikt zwischen jenen, die engere Grenzen für die Aufnahmefähigkeit sehen und jenen, die aufgrund einer anderen Einschätzung der Möglichkeiten und auch der mo‐ ralischen Vorstellungen weitere Grenzen ziehen, zu lösen. Europas Sozialmodell darf kein Nebenaspekt bleiben Die Angleichung der Lebensverhältnisse bleibt eine Sorge für die Bürger Europas. In der Kohäsionspolitik wird dies vor allem im Sinne regionaler Disparitäten interpretiert. Die Disparität manifestiert sich aber auch inner‐ halb der Gesellschaften in wachsender Einkommens- und Vermögensun‐ gleichheit, in den unterschiedlichen Chancen, die den Einzelnen gewährt werden. In der Union muss die soziale Durchlässigkeit Teil der sozialen und wirtschaftlichen Realität sein. Die soziale Dimension der europäischen Marktwirtschaft wird für die Zukunft der Union eine wichtige Rolle spielen (vgl. Giddens 2007, S. 230). Verständnisfrage Benennen Sie die Argumente, die für und gegen eine weitere Übertra‐ gung von Kompetenzen im Bereich Gesundheit auf die Europäische Union sprechen. 13 Perspektiven der europäischen Einigung 376 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 376 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 376 19.10.2020 12: 34: 48 19.10.2020 12: 34: 48 <?page no="377"?> Das Subsidiaritätsprinzip muss beachtet werden Das SubsidiaritätsgebotSubsidiaritätsgebot findet sich an prominenter Stelle im Lissabon-Vertrag. Europa muss nicht alles machen, Europa darf nicht alles machen. Jenseits wichtiger abstrakter Argumente für bessere Lösungen auf der höheren oder der niedrigeren Ebene oder der Existenz externer Ef‐ fekte müssen Menschen das Gefühl bewahren, ihr Schicksal selbst gestalten zu können (vgl. Schmidt 2000, S. 143-144). Das Wort der „Alternativlosig‐ keit“ mag in bestimmten Zeiten und Kontexten Geltung haben. Je häufiger Bürger damit konfrontiert werden, desto mehr verabschieden sich die eu‐ ropäischen Bürger von dem europäischen Projekt, welches aber der Unter‐ stützung durch den Demos bedarf. Nicht nur die Ökonomie zählt Die EU sieht sich zentralen ökonomischen Aufgaben gegenüber. Diese sind zweifellos wichtig für die Zukunft Europas. Sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität: Europa ist auch ein gemeinsamer kultureller Raum, Europa versteht sich als Ort demokratischer Teilhabe, Eu‐ ropa will ein Bündnis der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit sein, Europa hat auch weltpolitisches Gewicht, welches die EU einbringen möchte (vgl. Beck 2013). Die Lektüre der Präambel des Lissabon-Vertrages bietet Anlass, über das Selbstverständnis und die Identität Europas nachzudenken. Die heutige Europäische Union, entstanden als Ergebnis historischer Pro‐ zesse und unzähliger Kompromisse, ist ein einzigartiges institutionelles Ge‐ bilde, welches in den Händen der Politik und Zivilgesellschaft genutzt wer‐ den kann, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Die Union ist nicht fertig, sie ist ständig im Werden, vermutlich wird man nie von dem finalen Ergebnis der Einigung sprechen können. Die politischen Handlungs‐ kapazitäten müssen häufig den realen Herausforderungen nachwachsen (vgl. Habermas 2011, S. 104). Dazu bedarf es der steten Offenheit für neue Lösungen, der Reflexion geeigneter Wege, der offenen gesellschaftlichen Debatte. Vorschläge für weitere institutionelle Reformen und für neue Wege sind ebenso wie skeptische Einwände oder Kritik an bestehenden oder emp‐ fohlenen Lösungen im Sinne der Suche nach besten Lösungen positiv zu sehen. Die Veränderung Europas wird auch weiterhin das Ergebnis vieler kleiner Schritte sein. 13 Perspektiven der europäischen Einigung 377 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 377 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 377 19.10.2020 12: 34: 49 19.10.2020 12: 34: 49 <?page no="378"?> Literatur Beck, Ulrich (2012): Deutsches Europa, Berlin, Suhrkamp Verlag Europäische Kommission (2017): Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 - Überlegungen und Szenarien, COM (2017) 2025 Brüssel Europäische Kommission (2019): Standard-Eurobarometer 92, Herbst 2019, Erste Ergebnisse. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Europäische Union. Giddens, Anthony (2007): Europe in the Global Age, Cambridge, Polity Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas - Ein Essay, Berlin, edition suhr‐ kamp Marsh, David (2013): Europe’s Deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, New Haven/ London, Yale University Press Pilz, Gerald (2013): Europa im Würgegriff, Konstanz/ München, UVK Sandschneider, Eberhard (2011): Der erfolgreiche Abstieg Europas - Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen, München, Carl Hanser Verlag Scharpf, Fritz W. (2014): Legitimierung, oder das demokratische Dilemma der Euro-Rettungspolitik, in: Wirtschaftsdienst, Heft 13/ 2014, S. 35-41 Schäuble, Wolfgang (2011): „Für eine bessere Verfassung Europas“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Januar 2011 Schmidt, Helmut (2000): Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/ München, Deutsche Verlags-Anstalt 13 Perspektiven der europäischen Einigung 378 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 378 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 378 19.10.2020 12: 34: 49 19.10.2020 12: 34: 49 <?page no="379"?> Register A Abkommen Assoziierungs- 49 Basler 270 Freihandels- 8 Handels- 198 inter-regionales 206 Präferenz- 201 Schengen- 142 Acquis communautaire 64 -Kriterium 46 Agglomerationskräfte 247 Agrarpolitik 232 gemeinsame 213 Allokation optimale 145 America first 50 Anreizprobleme 352 Anti-Dumping-Zölle 202 Antisubventionspolitik 202 Arbeitnehmerfreizügigkeit 144 Arbeitslosenrückversicherungsrege‐ lung europäische 106 Aufstieg Asiens 373 Auftragswesen öffentliches 137 Ausschuss der Regionen 6 Austeritätspolitik 343, 359 B Bandbreite 271 Banken -aufsicht 321 -krise 11 notleidende 353 -union 351, 352, 354 systemrelevante 321 Beihilfe(n) staatliche 162, 165 -kontrolle 177 Berufsqualifikationen 142 Bestimmungslandprinzip 135 Bewirtschaftung nachhaltige 229 Bildungsinvestitionen 246 Binnenmarkt 39, 122 -projekt 43 Branchenkonzentration 171 Bretton-Woods -Regime 10 -System 263 Brexit 52, 372 Budgetrecht 91 Bürokratiekosten 126 C Cassis-de-Dijon-Urteil 136 Cecchini-Report 122 Chicago School of Anti-Trust Analysis 159 Churchill 28 Clusterbildung 246 Common pool-Problem 106 Containment-Politik 28 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 379 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 379 19.10.2020 12: 34: 49 19.10.2020 12: 34: 49 <?page no="380"?> Corona-Virus 51 D Defizit -quote 279 konjunkturelles 317 öffentliches 278 strukturelles 317 Derivate 337 Devisen -angebot 264 -geschäft 284 -nachfrage 264 digitale Güter 180 Direktzahlungen 226, 229, 231 Diversifikation 275 Disparitäten regionale 249 Drei-Säulen-Struktur 43 Drei-Sektoren-Hypothese 213 E ECU (European Currency Unit) 273 Effekte dynamische 7 EGKS 34 Eigenkapitalausstattung 319 Eigenmittel 99 -beschluss 100 Bruttonationaleinkommen- 100 traditionelle 99 europäische Akte einheitliche 39 Einigung Europas 28 Einkommenselastizität 215 Einlagenversicherungssysteme 352 Engelsches Gesetz 215 Entscheidungsstrukturen 12 Erweiterung 37, 38 EU optimale Größe 43 östliche Partnerschaft 48 EURATOM 34 Eurokrise 52, 332 Europa(s) à la carte 39 der zwei Geschwindigkeiten 39 Einigung 28 Festung 222 Europäische(r/ s) Atomgemeinschaft 31 Freihandelsassoziation 35 Freihandelszone 205 Gemeinschaft für Kohle und Stahl 30 Gerichtshof 6, 84 Kommission 6, 83 Mehrwert 107 Parlament 68, 71 Politische Gemeinschaft 31 Rat 6, 73 Rechnungshof 6, 85 Semester 11, 324,361 Stabilitätsmechanismus 356 Währungsinstitut 278 Währungszusammenarbeit 263 Währungssystem 10 Wirtschaftsgemeinschaft 31 Wirtschaftsraum 192, 205 Verfassung 47 Verteidigungsgemeinschaft 31 Zentralbank 6, 86, 283 European Green Deal 51 EWG 34 Ex-ante-Konditionalitäten 254 Externalitäten 9 Register 380 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 380 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 380 19.10.2020 12: 34: 50 19.10.2020 12: 34: 50 <?page no="381"?> F Faktorproportionen-Theorem 189, 194 Fazilitäten 286 Feinsteuerungsoperationen 286 Festung Europa 222 Finalität 54 Finanz -architektur 320, 320 -derivate 352 -innovationen 352 -krise 332 Finanzrahmen mehrjähriger 6 Fiskal -kriterien 313 -multiplikatoren 360 -politik 321 -transfers 276 Flächenprämie 230 Flächenstilllegungsprogrammen 224 Flüchtlings -krise 49 -problematik 376 Föderal(e/ s) 374 Europa 33 Integrationsansatz 33 politische Ordnung 33 Föderalismus fiskalischer 249 Forward Guidance 302 Freiburger Schule 159 Freihandel 121 Freihandelsabkommen 8 Freiheit des Personenverkehrs 142 Friedensnobelpreis 23 Friedenssicherung 53 Frühwarnsystems 361 Fusionskontrolle 173 G Geldmengensteuerung 298 Geldpolitik 10 einheitliche 10 Gemeinschaftspräferenz 214 Gesetzgebungsverfahren 81 ordentliche 81, 82 Golddeckung 270 Goldene Jahre 29 Governance 291 good 206, 254 Gradualismus 32, 54 Gravitationsmodellen 190 Grünbücher 122 Güter europaweite öffentliche 107 digitale 180 öffentliche 219 H Handel(s) -konflikte 198 Intra-EU- 191 intraindustrieller 189 -politik 197, 198, 8 -schaffung 7 -umlenkung 7, 125 Handelsliberalisierung multilaterale 198, 202 Hauptrefinanzierungsgeschäfte 286 Haushalt(s) -konsolidierung 337 -plan 6, 94, 95 -politik 11 -salden 101 Heckscher-Ohlin-Theorem 245 Herdenverhalten 350 Herfindahl-Hirschman-Index 171 Register 381 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 381 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 381 19.10.2020 12: 34: 50 19.10.2020 12: 34: 50 <?page no="382"?> Höfesterben 230 Hüterin der Verträge 130 I Immobilien -blase 320 -boom 332, 336 Industriepolitik 181 Inflationssteuerung 298 Informationsasymmetrie 332 Inkrementalismus 54 Innovationsorientierung 240 Input-Legitimität 375 Institution „sui generis“ 33 Instrumente der GAP 9 Integration(s) regionale 200 -schritte 123 Interessengruppen 6 intergouvernementaler Ansatz 32, 374 Internetökonomie 180 inter-regionale Liberalisierung 198 Interventionen 264 Interventionspreis 222 K Kalter Krieg 25 Kapazität fiskalische 322 Kapital -bilanz 194 -export 196 Sozial- 247, 248 -verkehrsfreiheit 147 Kartell 167 -strafen 168 Kaufkraftparitäten 239 keltischer Tiger 335 keynesianische Politik 323 Klimapolitik 50 Kohäsionspolitik 237, 246, 252 Kohle- und Stahlindustrie 30 Konditionalitäten 9 makroökonomische 255 Konsens 199 Konsolidierungspolitik 360 Konsumenten -rente 125 -wohlfahrt 160 Konvents 47 Konvergenz 238 Beta- 242 -konzepte 242 Input- 238 -programme 324 Konvergenzkriterien fiskalische 279 Konzentrationsrate 171 Koordinierung 325 Kopenhagen-Kriterien 45 Koreakrieg 29 Korrekturmechanismus 100 Kostenvorteile absolute 188 komparative 188, 189 Kronzeugenregelung 169, 170 Krise Banken- 11 Europa- 52, 332 Finanz- 332 Flüchtlings- 49 makroökonomische 11 Staatsverschuldungs- 11 Sub-prime- 332 Ukraine- 48 Wirtschafts- und Finanz 52 Register 382 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 382 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 382 19.10.2020 12: 34: 51 19.10.2020 12: 34: 51 <?page no="383"?> Kurssicherungskosten 269 L Lebensmittelsicherheit 228 Leistungsbilanz 194 -saldo 194, 294, 320 -überschuss 194, 196 Leitbild der vollständigen Konkurrenz 159 der Wettbewerbspolitik 7 Leitwährung 270 Lender of last resort 11 Level playing field 162 Liberalisierung der Märkte 178 des Handels 188 plurilaterale 200 unilaterale 198, 201 Lissabon-Strategie 47 Lobbyaktivitäten 220 Lohnstückkosten 338 M Markt -beherrschung 170, 172 -einheit 214 -stabilisierung 218 Marktwirtschaften koordinierte 42 liberale 42 Spielarten der 41 Marshall-Plan 28 Mehrebenenpolitik 248 Mehrheit qualifizierte 78 Mehrheitsentscheidungen 54 Meistbegünstigung 199 Menschenrechte 204 Merkantilismus 25 Mindestreservepflicht 286 Mobilität der Arbeitskräfte 276 Monnet, Jean 30 Monopol 156 natürliches 179 Muddling through 364 N Nahrungsmittelerzeugung 228 Netto -importeur 223 -position 6, 105 Netzwerkeffekte 180 Nichtdiskriminierung 199 Niederlassungsfreiheit 139 No bail-out-Prinzip 362 Nullzinspolitik 302 Nutzen-Spillovers 108 O Offenmarktgeschäfte 286 öffentliche Güter 219 europaweite 107 Öffnung der Märkte 166 der nationalen Märkte 165 OMT-Programms 303 Opportunitätskosten 189 Ordnungspolitik 245 Ordoliberalismus 159, 163 Osterweiterung 47 Outcome-Konvergenz 238 Output-Legitimität 375 P Paritäten 269, 273 Phillipskurve 271 Politik Register 383 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 383 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 383 19.10.2020 12: 34: 51 19.10.2020 12: 34: 51 <?page no="384"?> Agrar- 232 Antisubventions- 202 Austeritäts- 343, 359 Containment- 28 Geld- 10 Fiskal- 321 Handels- 197, 198, 8 Haushalts- 11 Industrie- 181 keynesianische 323 Klima- 50 Kohäsions- 237, 246, 252 Konsolidierungs- 360 Mehrebenen- 248 Nullzins- 302 Ordnungs- 245 Regional- 246, 247, 9, 251 Strukturanpassungs- 344 Wechselkurs- 10 Wettbewerbs- 7 politische Union 361 Polypol 156 Präferenzen homogene 276 Präferenzsystem generelles 206 Preisstabilität 285, 293 Primärrecht 62 Privatisierung 38 Produktionsquoten 224 R Rainy-Day-Fonds 106 Rat Europäische Union 6, 78 Europäische Zentralbank 286 Rating 333 räumliche Entwicklung 229 Recht des geistigen Eigentums 199 Reform des Eigenmittelsystems 112 GAP- 224 -programme 324 Regionalpolitik 246, 247, 9, 251 gezielte 9 Relevanz systemische 339 Re-Nationalisierung 220 Ressourcen natürliche 98 Revealed Comparative Advantage 196 Reziprozität 199 rheinischer Kapitalismus 41 Richtlinie 63 Rotationsverfahren 291 S Schengen 39 -abkommen 148 Schulden -diensttragfähigkeit 355 -schnitt 356 -standquote 279 Schuldenstand öffentlicher 278 Scoreboard 318 Sigma-Konvergenz 242 Skaleneffekte 189 Skalenerträge positive 126 Solidarität 276 Sozial -kapital 247, 248 -modell 376 Staatsverschuldung(s) 11 Register 384 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 384 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 384 19.10.2020 12: 34: 51 19.10.2020 12: 34: 51 <?page no="385"?> -krise 11 Stabilisierungsfunktion 322 Stabilität(s) -kultur 320, 327 -programme 324 - und Wachstumspakt 313, 325 statische Effekte 7 Steuer EU- 112 -gestaltung 147 -hinterziehung 147 -systeme 134 Streitschlichtungsverfahren 199, 202 Streuungskräfte 247 Strukturanpassungspolitik 344 Strukturfonds 251 Sub-prime-Krise 332 Subsidiarität(s) 65, 326 -gebot 376 -prinzip 248, 376 Szenarien 54 T Taylor-Regel 300 Teller-oder-Tank-Dilemma 218 Tenderverfahren 288 Theorie optimaler Währungsräume 10 Tierschutzstandards 228 Transaktionswährung 295 Transparenz 199 Trilemma 273 U Überwachung 318 Ukraine-Krise 48 Ungleichgewicht makroökonomisches 319 Union(s) politische 361 -verträge 61 Wirtschafts- 11, 326 Zoll- 124, 131 Unionsrecht sekundäres 62 Ursprungslandprinzip 135 V Verantwortungsgemeinschaft 364 Verordnung 63 Vertiefung 37, 54 Vertrag Arbeitsweise der Europäischen Union 62 Lissabon 62 Maastricht 43 Nizza 47 Vier Freiheiten 130, 7 W Wachstum(s) intelligentes integratives 98 -modell 36 -theorie 240 Währung(s) -fonds, internationale 269 -geschichte 263 -reserven 284 -schlange 271 -union 11, 263 Wechselkurs 264 anpassungsfähiger 268 -mechanismus II 290 -politik 10 -stabilität 274 Wechselkurssystem festes 264 flexibles 264 Register 385 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 385 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 385 19.10.2020 12: 34: 52 19.10.2020 12: 34: 52 <?page no="386"?> Weißbücher 122 Weltordnung 26 Werner-Plan 37, 270 Wertpapierankaufprogramme 303 Wettbewerb(s) -beschränkungen 166 -fähigkeit 336 funktionsfähiger 160 -recht 7 Wettbewerbspolitik 7 neue 163 Paradigma der 163 Wirtschafts- und Finanzkrise 52 und Sozialausschuss 6 Wirtschaftsgeografie neue 246 Wissensexternalitäten 189 Wohlfahrt soziale 125 Wohlfahrtseffekt 131 X X-Ineffizienz 128, 161 Z Zahlungsbilanz 8 Zollsatz 202 Zuständigkeit ausschließliche 65 Zusammenhalt territorialer 237 Zwei-Säulen-Struktur 286 Register 386 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 386 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 386 19.10.2020 12: 34: 52 19.10.2020 12: 34: 52 <?page no="387"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Prozent, 1950-1960. . . . . . . . . . 29 Abb. 2: Inflationsrate in der Europäischen Union 1970-1980 in Westeuropa (BIP-Deflator) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Abb. 3: Clubtheorie - optimale Mitgliederzahl bei gegebener Clubgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Abb. 4: Chronologie der wichtigen Gemeinschaftsverträge . . . 62 Abb. 5: Wohlfahrtsgewinn durch Aufteilung eines Zentralstaats in zwei Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abb. 7: Problematik der Einstimmigkeitsregel . . . . . . . . . . . . . . 75 Abb. 8: Minimale Kosten der Entscheidungsfindung bei absoluter Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Abb. 9: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . 82 Abb. 10: Das Haushaltsverfahren in der Europäischen Union . . 93 Abb. 11: Ausgaben der EU 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abb. 12: Einnahmen der EU 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abb. 13: Operative Haushaltssalden 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Abb. 14: Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 . . . . . . . . . . . . . 104 Abb. 15: Güter mit europäischem Mehrwert . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Abb. 16: Entwurf des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027, EU-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Abb. 17: Stufen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. 18: Zollunion und Wohlfahrtsgewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abb. 19: Skalenerträge in einer Zollunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Abb. 20: Wohlfahrtseffekte der Abschaffung von Zöllen . . . . . . 132 Abb. 21: Wohlfahrtseffekte der Aufhebung einer Importquote . 133 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 387 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 387 19.10.2020 12: 34: 52 19.10.2020 12: 34: 52 <?page no="388"?> Abb. 22: Schematische Darstellung der Heterogenität von Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Abb. 23: Mobilität der Arbeitskräfte in der EU, 2016/ 2017 . . . . . 143 Abb. 24: Wohlfahrtseffekte der Öffnung von zwei Kapitalmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Abb. 25: Vergleich Wettbewerb und Monopol . . . . . . . . . . . . . . . 157 Abb. 26: Kriterien für die Bemessung von Kartellstrafen . . . . . . 168 Abb. 27: Kartellstrafen von 1990-2019 (nach Korrektur durch den Europäischen Gerichtshof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abb. 28: Wohlfahrtswirkung eines Zusammenschlusses . . . . . . . 175 Abb. 29: Effizienz und Wettbewerb infolge von Fusionen . . . . . . 176 Abb. 30: Natürliches Monopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abb. 31: Intra-EU und Extra-EU-Handel in Prozent, 2017 . . . . . 191 Abb. 32: Anteil am Welthandel mit Gütern und Dienstleistungen, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abb. 33: Leistungsbilanzsalden der EU-Länder im Jahr 2018, in Prozent des BIP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Abb. 34: Durchschnittliche Zollsätze der führenden Welthandelsnationen im Jahr 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Abb. 35: Agrarausgaben absolut und in Prozent der EU-Ausgaben insgesamt, 1980-2018, Angaben in Preisen des Jahres 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Abb. 36: Der Markt für Agrarprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Abb. 37: Stabilisierung auf dem Agrarmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Abb. 38: Positive externe Effekte im Agrarsektor . . . . . . . . . . . . 219 Abb. 39: Das GAP-Preissystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Abb. 40: Reformen der GAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Abb. 41: Verteilung der Direktzahlungen auf die Empfänger in der EU und in Deutschland, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Abb. 42: Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens in ausgewählten Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . 238 Abbildungsverzeichnis 388 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 388 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 388 19.10.2020 12: 34: 53 19.10.2020 12: 34: 53 <?page no="389"?> Abb. 43: Arbeitslosenquoten in der EU28, November 2019, saisonbereinigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Abb. 44: Einkommensunterschiede innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nach Regionen, 2017 . . . . . . . . . . . . 241 Abb. 45: Schematische Darstellung der Sigma-Konvergenz . . . . 242 Abb. 46: Variationskoeffizient des realen BIP pro Kopf der EU-15-Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Abb. 47: Durchschnittliche Wachstumsrate des BIP pro Kopf der EU-28-Staaten zwischen 1995 und 2017 in Abhängigkeit vom Logarithmus des BIP pro Kopf 1995 . . . . . . . . . . . . 244 Abb. 48: EU-Mittel und nationale Mittel der Kohäsionspolitik, in Mrd. EUR, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Abb. 49-1: Preisbildung in einem flexiblen Wechselkurssystem bei steigender Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Abb. 49-2: Angebot und Nachfrage bei Veränderung innerhalb eines Bands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Abb. 49-3: Angebot und Nachfrage bei steigender Nachfrage und notwendiger Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Abb. 50: Die kurz- und langfristige Phillipskurve . . . . . . . . . . . . 272 Abb. 51: Trilemma des Wechselkursregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Abb. 52: Zeitliche Struktur des Euro-Beitritts und Umrechnungskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Abb. 53: Allokation via Mengentender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Abb. 54: Allokation via Zinstender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb. 55: Inflationsraten im Euro-Währungsgebiet, 31. 1.1999- 31. 12. 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Abb. 56: Die Entwicklung des Wechselkurses Euro/ US-Dollar von 1999-2020 (Dollar pro Euro) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Abb. 57: Leistungsbilanzsaldo des Euro-Währungsgebietes in % des BIP, 31. 3.1999-30. 9. 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abb. 58: Zinsentwicklung in der Eurozone, 1999-2019 . . . . . . . . 300 Abbildungsverzeichnis 389 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 389 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 389 19.10.2020 12: 34: 53 19.10.2020 12: 34: 53 <?page no="390"?> Abb. 59: Ankauf von Vermögenswerten durch die EZB im Rahmen des APP-Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Abb. 60: Öffentlicher Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Abb. 61: Scoreboard für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Abb. 62: Ablauf des Europäischen Semesters . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abb. 63: Das Bewertungsschema der Ratingagenturen . . . . . . . . 333 Abb. 64: Fünf miteinander verwobene Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Abb. 65: Veränderung der öffentlichen Verschuldung (in Prozent des BIP) ausgewählter Länder von 1999 bis 2007 . . . . . 340 Abb. 66: Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des kurzfristigen Angebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Abb. 67: Gesamtwirtschaftlicher Effekt der Verschiebung der langfristigen Angebotskurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Abb. 68: Reales BIP-Wachstum in der Eurozone und in den USA, 2007-2017, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Abb. 69: Gesamtkapitalquote der Banken ausgewählter europäischer Länder, 2017, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . 351 Abb. 70: Notleidende Kredite und Darlehen (in % der Gesamtbruttokredite und -darlehen), ausgewählte Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Abb. 71: Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Abbildungsverzeichnis 390 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 390 45300_Adam_170x240_Skalierung_SL5_Neu_nach_Druck.indd 390 19.10.2020 12: 34: 54 19.10.2020 12: 34: 54 <?page no="391"?> Der Europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Das Wissen um die Europäische Integration ist deswegen für Studierende sehr wichtig. Das Lehrbuch führt zu Beginn in die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses ein und stellt die institutionelle Struktur der EU vor. Europäische Politikfelder werden in Theorie und Praxis dargestellt und die Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Die 3. Auflage wurde vollständig überarbeitet und erweitert: Sie berücksichtigt die aktuellen politischen Debatten über die Zukunft der Europäischen Union und über die Weiterentwicklung der zentralen Politikfelder. Jedes Kapitel zeichnet sich durch Lernziele, Zusammenfassungen und Literaturtipps aus. Ein Glossar rundet das Buch ab. Das Lehrbuch richtet sich an Bachelorstudierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Wirtschaftswissenschaften ,! 7ID8C5-cfdaae! ISBN 978-3-8252-5300-4 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel