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Ethik

Wie soll ich handeln?

0330
2020
978-3-8385-5316-0
978-3-8252-5316-5
UTB 
Dagmar Fenner

Immer wieder sehen wir uns vor die ethische Grundfrage gestellt: "Wie soll ich handeln?" Dagmar Fenner definiert alle wichtigen Begriffe der philosophischen Ethik und stellt die bedeutendsten Konzepte vor. Der Band gibt damit einen systematischen Überblick über die ethischen Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge untereinander. Eine Fülle von Beispielen aus der ethischen Alltagspraxis und zahlreiche Abbildungen und Tabellen erleichtern den Zugang ebenso wie die unkomplizierte Sprache. Übungsaufgaben mit Lösungen dienen der Kontrolle des Lernfortschritts.

<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cfdbgf! ISBN 978-3-8252-5316-5 Dagmar Fenner Ethik 2. Auflage Immer wieder sehen wir uns vor die ethische Grundfrage gestellt: „Wie soll ich handeln? “ Dagmar Fenner definiert alle wichtigen Begriffe der philosophischen Ethik und stellt die bedeutendsten Konzepte vor. Der Band gibt damit einen systematischen Überblick über die ethischen Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge untereinander. Eine Fülle von Beispielen aus der ethischen Alltagspraxis und zahlreiche Abbildungen und Tabellen erleichtern den Zugang ebenso wie die unkomplizierte Sprache. Übungsaufgaben mit Lösungen dienen der Kontrolle des Lernfortschritts. Ethik 2. A. Fenner Lehrbücher mit einem klaren Konzept: ▶ Definitionen, Beispiele und Zusammenfassungen erleichtern den Überblick ▶ Testfragen fördern das Verständnis ▶ ideal für die Prüfungsvorbereitung basics basics Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Philosophie 53165 Fenner_basics-2989.indd 1 53165 Fenner_basics-2989.indd 1 05.03.20 09: 23 05.03.20 09: 23 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 2989 45316_Fenner_SL4b.indd 1 05.03.2020 12: 20: 12 <?page no="2"?> basics 45316_Fenner_SL4b.indd 2 05.03.2020 12: 20: 15 <?page no="3"?> Dagmar Fenner Ethik Wie soll ich handeln? 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 45316_Fenner_SL4b.indd 3 05.03.2020 12: 20: 16 <?page no="4"?> Umschlagabbildung: „Entscheidungen über die Zukunft“, olaser©istock ID: 160526518 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abruf bar. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2020 1. Auflage 2008 © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 2989 ISBN 978-3-8252-5316-5 (Print) ISBN 978-3-8385-5316-0 (ePDF) 45316_Fenner_SL4b.indd 4 05.03.2020 12: 20: 16 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Was heißt Moral? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Was heißt Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Warum überhaupt moralisch sein? . . . . . . . . . . . . . . 25 2 Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1 Was ist eine Handlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2 Verantwortung für die Handlungsfolgen . . . . . . . . . . 42 2.3 Handeln, Unterlassen und Zulassen . . . . . . . . . . . . . . 50 3 Argumentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1 Was ist ein (gutes) Argument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.2 Schwache Argumente und Argumentationsfehler . . . 71 3.3 Argumentationsschritte: Schema zur Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . 79 4 Subjektivistische Begründungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . 85 4.1 Egoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4.3 Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5 Objektivistische Begründungsmodelle . . . . . . . . . . . . . 115 5.1 Ethischer Realismus: Übereinstimmung mit Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1.1 Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.1.2 Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.2 Ethischer Konstruktivismus: reflexive Begründungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.2.1 Vernunftethik (Kant) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2.2 Diskursethik (Apel/ Habermas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.2.3 Handlungsreflexiver Ansatz (Gewirth/ Steigleder) . . . 154 45316_Fenner_SL4b.indd 5 05.03.2020 12: 20: 16 <?page no="6"?> 6 I n h a lt 6 Grundtypen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.1 Konsequentialismus/ Teleologie: bestmögliche Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6.2 Deontologie/ Gesinnungsethik: Pflicht zu guten Handlungsweisen . . . . . . . . . . . . . . 169 6.3 Tugendethik: guter Charakter der Persönlichkeit . . . 175 6.4 Kombinierbarkeit der drei Haupttypen . . . . . . . . . . . 179 7 Werte, Prinzipien, Rechte und Normen . . . . . . . . . . . . . . 189 7.1 Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.2 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.3 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.4 Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8 Kritik an der rationalistischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . 229 8.1 Nonkognitivismus: Nichtbegründbarkeit normativer Aussagen . . . . . . . 233 8.2 Traditionsrelativismus: Unmöglichkeit einer universellen Moral . . . . . . . . . 237 8.3 Gefühlsethik: Vernachlässigung der motivationalen Grundlage . . . 243 8.4 Moralerziehung: Vernachlässigung der Moralpsychologie . . . . . . . . . . 248 9 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 10 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 10.1 Lösungen zu den Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . 265 10.2 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 10.3 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 10.4 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 10.5 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 45316_Fenner_SL4b.indd 6 05.03.2020 12: 20: 16 <?page no="7"?> 7 Vorwort In alltäglichen Interaktionen erheben wir implizit stets die formale Forderung, dass die Menschen ihr Handeln voreinander rechtfertigen und verantworten müssen. „Warum hast Du dies oder jenes getan? “ fragen wir einander und erwarten, dass alle ihr Tun begründen können. Daher sehen wir uns immer wieder vor die ethische Grundfrage gestellt: „Wie soll ich handeln? “ Diese Einführung in die philosophische Ethik versucht, anhand der Erörterung wichtiger Denkansätze das ethische Urteilsvermögen der Leser zu schulen. Es wird gezeigt, wie sich die Stichhaltigkeit von Argumenten und Theorien kritisch hinterfragen und die Vertretbarkeit von ethischen Standpunkten prüfen lässt. Damit soll der Leser (mitgemeint ist immer auch die weibliche Form, also die Leserin! ) für sich selbst die Frage „Wie soll ich handeln? “ kompetenter beantworten und sich in aktuellen ethischen Debatten mit einer klaren, begründeten Stellungnahme einbringen können. Ziel ist somit nicht allein die reine folgenlose Wissensvermittlung der ethischen Grundbegriffe und Begründungsmodelle, sondern vielmehr die Sensibilisierung für ethische Fragestellungen und der Erwerb ethischer Reflexions- und Argumentationskompetenzen. Es handelt sich bei der vorliegenden Ethik-Einführung um eine systematische Darstellung verschiedener wesentlicher Beurteilungskriterien, grundlegender Kategorien und Modelle zur Beantwortung der Frage „Wie soll ich handeln? “. Obwohl sie keinen historischen Überblick über die einzelnen Positionen von den Anfängen der Philosophie bis heute liefert, werden doch die wichtigsten ethischen Theorien und Modelle der Philosophiegeschichte unter einem systematischen Gesichtspunkt in ihren Grundzügen skizziert. Zur Veranschaulichung werden außerdem zahlreiche konkrete Beispiele aus der moralischen Alltagspraxis geschildert und die wichtigsten begrifflichen Zusammen- 45316_Fenner_SL4b.indd 7 05.03.2020 12: 20: 16 <?page no="8"?> 8 V o r w o r t hänge graphisch auf bereitet. Entstanden ist auf diese Weise kein trockenes Lehrbuch, sondern eine spannende und anregende Studie für alle an Ethik Interessierten, die sich die Frage „Wie soll ich handeln? “ ganz bewusst und im Freiraum philosophischer Reflexion stellen wollen. Für die Rekapitulation des Gelesenen oder zur Prüfungsvorbereitung gibt es am Ende der Kapitel jeweils Fragen zum Stoff, die am Schluss des Buches beantwortet werden. Dort finden Sie zudem ein Glossar wichtiger Fachbegriffe und das Verzeichnis aller zitierten Bücher. In die vollständig überarbeitete, neu strukturierte und erweiterte Zweitauflage flossen die Unterrichtserfahrungen der letzten zwölf Jahre ein, in denen ich an der Universität Tübingen Ethik-Einführungsseminare für Lehramtsstudierende aller Fachrichtungen durchführen durfte. Mit ihren unermüdlichen Rückfragen und kritischen Anmerkungen in den vielen interessanten und kontroversen Seminardiskussionen haben die Mitwirkenden wesentlich zur Verbesserung der Erstauflage beigetragen. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meinen Ethik-Kollegen Jochen Berendes, Christoph Horn und Friedo Ricken für weiterführende konzeptuelle Hinweise. Ihnen viel Spaß beim Studium wünschend! Tübingen, im Januar 2020 Dagmar Fenner 45316_Fenner_SL4b.indd 8 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="9"?> 9 Einleitung Inhalt 1.1 Was heißt Moral? 1.2 Was heißt Ethik? 1.3 Warum überhaupt moralisch sein? Zusammenfassung In diesem ersten Kapitel werden die wichtigsten ethischen Grundbegriffe wie „Ethik“, „Moral“ und „Angewandte Ethik“ definiert und zentrale Unterscheidungen wie diejenige zwischen zwei unterschiedlichen ethischen Perspektiven erläutert: Während bei der Individualbzw. Strebensethik das persönliche Glück oder gute Leben des Einzelnen im Zentrum steht, bemüht sich die Sozialbzw. Sollensethik oder Moralphilosophie um ein respektvolles und gerechtes Zusammenleben der Menschen untereinander. In diesem Buch stehen moralphilosophische Fragen im Vordergrund, wohingegen Theorien des guten Lebens und die spezifischen Bereichsethiken der Angewandten Ethik höchstens am Rande Erwähnung finden. 1 45316_Fenner_SL4b.indd 9 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="10"?> 10 E I n l E I t u n g Wir alle haben als Kinder gelernt, dass es verbotene und gebotene, erwünschte und unerwünschte Handlungsweisen gibt. So soll man etwa nicht Süßigkeiten naschen, sobald die Eltern außer Haus sind, sondern brav seine Hausaufgaben machen. Immer wieder geraten wir in Situationen, in denen wir unser Handeln vor unseren Mitmenschen rechtfertigen müssen. Sie ziehen uns etwa folgendermaßen zur Rechenschaft: „Wieso hast Du das getan? “; „Warum hast Du den Stein geworfen? “; „Weshalb bist Du weggelaufen, ohne dem Verletzten zu helfen? “; „Wieso hast Du mich angelogen? “. Aber auch mit uns selbst gehen wir in schweren Entscheidungssituationen zu Rate und zerbrechen uns bisweilen den Kopf darüber: „Wie soll ich handeln? “; „Soll ich meine alte kranke Mutter pflegen oder ein verlockendes Stellenangebot im Ausland annehmen? “; „Darf ich ein Kind abtreiben, wenn es an einem Down-Syndrom leidet? “; „Dürfen wir billige Kaffeebohnen kaufen, obgleich sich der niedrige Preis der Ausbeutung von Bauern in der Dritten Welt verdankt? “. Ein derartiges Problematisieren des eigenen Vorhabens wird ermöglicht durch die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, über die eigenen Handlungspläne zu reflektieren und sie gleichsam von der Außenperspektive aus Distanz zu beurteilen. Als selbstbewusstes und zeitstiftendes Wesen ist der Mensch immer schon „sich vorweg“, weil er zukünftige Handlungsmöglichkeiten imaginativ „vorwegnehmen“ kann. Er lebt nicht einfach, sondern führt sein Leben und kann sein Handeln an Gründen orientieren. Immer wieder stehen wir daher vor einer großen Auswahl an Handlungsalternativen, müssen uns für eine entscheiden und möchten eine vernünftige, gut begründete Entscheidung treffen, die wir später nicht bereuen. Ausgestattet mit der charakteristischen menschlichen Reflexionsfähigkeit kommen wir somit um die ethische Grundfrage „Wie soll ich handeln? “ eigentlich nicht herum. Wir beziehen aber auch unablässig Stellung zu dem, was andere Menschen tun oder was ihnen von Dritten angetan wird: Wir beurteilen parteiisches Verhalten als unfair oder ungerecht und reagieren mit Empörung, wenn die Presse an den Tag legt, dass ein Politiker gelogen hat. Bei all diesen Erwägungen und Reaktionen gehen wir implizit immer schon davon aus, dass die Menschen ihr Tun voreinander begründen, rechtfertigen und verantworten müssen. Diese vorwissenschaftliche Grundintuiti- Reflexionsfähigkeit vorwissenschaftliche Grundintuition Zeit- und Selbstbewusstsein 45316_Fenner_SL4b.indd 10 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="11"?> 11 w a � h E I � � t � o r a l � on einer Pflicht zur wechselseitigen Rechtfertigung und Verantwortung des eigenen Handelns bildet den Ausgangspunkt ethischer Überlegungen. Ethische Fragen sind nicht nur im persönlichen Alltagsleben omnipräsent, sondern erfreuen sich gegenwärtig einer Hochkonjunktur in Politik, Gesellschaft und medialer Öffentlichkeit: Es werden Ethik-Kommissionen und Ethik-Räte ins Leben gerufen, Unternehmen schmücken sich mit Ethik-Richtlinien und Ethik- Seminaren, und in Feuilletons und Talkshows widmet man sich aktuellen ethischen Debatten wie der sozialen Gerechtigkeit, der Sterbehilfe oder der Umweltproblematik. Hervorgerufen wurde dieser Ethik-Boom einerseits durch die drängenden Probleme der Gegenwart wie die Fragen nach dem Umgang mit ökologischen Problemen, nach der Verantwortung für Wirtschaftskrisen und globale Ungerechtigkeit oder nach den Auswirkungen neuer medizintechnischer Handlungsmöglichkeiten. Andererseits ist der verschärfte Orientierungsnotstand bedingt durch den fortschreitenden Traditions- und Religionsverlust. Während früher die christliche Religion das unhinterfragbare Fundament für eine allgemeingültige Beurteilung ethischer Entscheidungssituationen bereitstellte, macht sich heute ein Pluralismus verschiedener Lebensformen und Wertesysteme breit. Gerade Probleme bezüglich der biomedizinischen Entwicklung, der Digitalisierung oder der Klimaerwärmung lassen sich aber nicht auf privater Ebene lösen, sondern erfordern eine gemeinsame ethische Grundlage. Ob eine solche möglich ist und wie sie sich begründen ließe, soll im Laufe dieses Buches geklärt werden. Was heißt Moral? Im Alltagsgebrauch werden die Substantive „Ethik“ und „Moral“ häufig austauschbar verwendet. In der wissenschaftlichen Ethik legt man jedoch Wert auf ihre Unterscheidung, auch wenn die Abgrenzung teilweise abweichend vorgenommen wird. Von der etymologischen Herkunft her stammt das deutsche Wort „Moral“ vom lateinischen „mos“ ab, das so viel wie „Sitte, Brauch, Gewohnheit“ meint. Im Laufe der Philosophiegeschichte hat eine Verengung des Moralbegriffs stattgefunden: Moral im weiten Sinn meint die Gesamtheit der Normen, Werte und Ideale, Ethik-Boom Moral im weiten Sinn Moral im engen Sinn 1 .1 45316_Fenner_SL4b.indd 11 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="12"?> 12 E I n l E I t u n g die als ein umfassendes Orientierungssystem die Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens vorgeben (vgl. Bayertz, 34). Sie weisen den Einzelnen dazu an, welcher Platz ihm im sinnvoll geordneten Weltganzen zukommt und wie er leben soll. Dieses Moralverständnis ist typisch für metaphysische und religiöse Weltanschauungen, die eine einheitliche Gesamtinterpretation von Wesen, Ursprung und Sinn der Welt sowie des menschlichen Lebens liefern. Die Verengung des Moralbegriffs vollzog sich im 17. und 18. Jahrhundert, als das scheinbar zuverlässige einheitliche religiöse Fundament der Moral infolge der verheerenden Glaubenskriege erschüttert wurde und sich ein neues, entmystifiziertes materialistisches Weltbild durchzusetzen begann: Die neuzeitliche Moral im engen Sinn meint die Gesamtheit der Normen und Wertvorstellungen, die das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft regeln und dem Schutz der Interessen aller potentiell vom Handeln Betroffenen dienen. Anders als die „Moral im weiten Sinn“ gibt die „Moral im engen Sinn“ keinen Leitfaden für das gute Leben der Einzelnen vor, sondern zielt auf ein respektvolles und gerechtes Zusammenleben der Menschen ab. Es handelt sich um eine Art „Minimalmoral“ mit typischerweise negativ formulierten Normen, die dem zwischenmenschlichen Handeln Grenzen setzen und die gegenseitige Schadenszufügung verbieten. Elementare Sollensforderungen sind z. B. Verbote wie „Du sollst nicht töten, stehlen oder lügen! “ oder Gebote wie „Du sollst Notleidenden helfen! “. Im Folgenden wird der Begriff „Moral“ durchgängig in diesem engeren Sinn verwendet. Moral im weiten Sinn Moral im engen Sinn Gesamtheit der Normen, Werte und Ideale für eine umfassende Orientierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens Gesamtheit der Normen und Wertvorstellungen, die das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft regeln Metaphysik/ Religion: sinnvolles Weltganzes Neuzeit: keine vorgegebene Ordnung Unter „Moral“ im eben definierten engen Sinn wird in alltäglichen Debatten meist die in einer konkreten historischen Gemeinschaft geltende faktische Moral verstanden, die von all ihren Mitgliedern prinzipiell anerkannt, wenn auch nicht durchgängig von faktische Moral Mehrzahl Wandelbarkeit Moral im engen Sinn 45316_Fenner_SL4b.indd 12 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="13"?> 13 w a � h E I � � t � o r a l � allen befolgt wird. Dies bedeutet dann aber zum einen, dass es eine Mehrzahl von solchen nebeneinander existierenden Normensystemen geben kann. Beispielsweise unterscheidet sich eine christliche von einer marxistischen Moral oder eine konservative von einer liberalen. Zum anderen sind solche faktischen Moralen im Plural prinzipiell dem Wandel der Zeit unterworfen, sodass sich gesellschaftliche Moralvorstellungen teilweise im Laufe der Geschichte stark verändern. So wurde etwa die heute allgemein verurteilte Sklavenhaltung lange übereinstimmend als gut angesehen, wohingegen Homosexualität heute in liberalen Gesellschaften als moralisch neutral und nur noch in konservativen Religionsgemeinschaften als verboten gilt. Aus dieser Veränderbarkeit faktischer moralischer Überzeugungen wird oft fälschlicherweise auf die Relativität von Moral geschlossen (vgl. Kap. 8.2). Lange Zeit für richtig gehaltene Moralvorstellungen können sich aber genauso als falsch herausstellen wie Vorstellungen über die Wirklichkeit, z. B. frühere Irrtümer, die Erde sei eine Scheibe oder sie stehe im Zentrum des Universums wie im biblischen geozentrischen Weltbild. Moralische Forderungen werden nämlich gleichfalls häufig korrigiert wegen eines erweiterten Wissensstandes, z. B. aufgrund neuer biologischer Kenntnisse über angeborene sexuelle Neigungen mit Auswirkungen auf die Sexualmoral oder über die Schmerzempfindlichkeit von Tieren als Ausgangspunkt für den richtigen Umgang mit ihnen (vgl. Bleisch u. a. 2011, 45). Nicht zuletzt braucht es immer wieder neue moralische Normen, weil durch wissenschaftliche und technische Fortschritte der Bereich der menschlichen Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten sukzessive ausgeweitet wird. So bedarf es neuer Regelungen im medizinischen Bereich infolge neuer technischer Möglichkeiten beispielsweise der pränatalen Diagnostik oder Lebensverlängerung sowie im Umweltbereich, wo Kenntnisse über die Folgen klimaschädigenden Handelns immer besser erforscht und neue Methoden zur Begrenzung der Unwetterschäden in besonders betroffenen Regionen entwickelt werden. Innerhalb der philosophischen Ethik ist aber oft gar nicht von der „faktischen Moral“ die Rede, sondern von der Moral als normativer Größe: Es ist dann nicht die Gesamtheit der in einer Gemeinschaft tatsächlich anerkannten Normen und Wertvorstellungen gemeint, sondern vielmehr derjenigen Normen, die alle Menschen vernünftigerweise anerkennen sollten (vgl. Kap. 1.2). Mehrzahl Wandelbarkeit Moral als normative Größe 45316_Fenner_SL4b.indd 13 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="14"?> moralisches Urteilen/ Handeln 14 E I n l E I t u n g faktische Moral(en) Moral als normative Größe veränderliche, in einer konkreten Gemeinschaft anerkannte Normen Normen, die alle Menschen vernünftigerweise anerkennen sollten Trotz der Wandelbarkeit, Irrtumsanfälligkeit und Pluralität der faktischen Moralen erhebt nicht nur die Moral als normative Größe, sondern auch jede faktische Moral grundsätzlich den Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit für alle Menschen in bestimmten Handlungs- oder Lebensbereichen: Der universelle Geltungsanspruch als formales Kennzeichen der Moral verlangt, dass die moralischen Normen von allen Menschen in vergleichbaren Handlungssituationen befolgt werden: Gemäß Marcus Singers Verallgemeinerungsprinzip muss das, was für eine Person geboten oder verboten ist, auch für jede andere Person mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen und unter ähnlichen Umständen verboten sein (vgl. 25). Moralische Fragen bezüglich des richtigen menschlichen Handelns sind daher vom Grundverständnis her keine subjektiven oder kultur- und kontextgebundenen Geschmacksfragen. Das inhaltliche Kennzeichen der Moral besteht darüber hinaus in der Forderung, die Bedürfnisse und Interessen der anderen gleichermaßen zu beachten wie die eigenen. Typisch für moralisches Denken und Handeln ist der objektive oder unparteiische Standpunkt der Moral, bei dem von allen Sympathien und Antipathien, Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen abstrahiert wird. Es gilt gleichsam von einer höheren objektiven Warte aus zu überlegen, ob eine geplante Handlung alle berechtigten Interessen der potentiell Betroffenen angemessen berücksichtigt und ob beispielsweise die Kosten und Nutzen gerecht verteilt sind. Die Handlung müsste sich vor allen Beteiligten als die bestmögliche Handlungsoption rechtfertigen lassen, sodass sie idealerweise auch von den negativ Betroffenen akzeptiert werden könnte. formales Kennzeichen: Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit materiales Kennzeichen: Einnahme eines unparteiischen Standpunkts Nachdem „Moral“ als Gesamtheit von Normen zur Regelung des Zusammenlebens definiert wurde, stellt sich die Frage nach der Unterscheidbarkeit der „moralischen“ von anderen Normen oder moralisches Urteilen/ Handeln formales Kennzeichen inhaltliches Kennzeichen 45316_Fenner_SL4b.indd 14 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="15"?> 15 w a � h E I � � t � o r a l � Handlungsregeln. Denn für ein möglichst konfliktfreies „Funktionieren“ der Gesellschaft gibt es nicht nur moralische, sondern beispielsweise auch „konventionelle“ oder „rechtliche“ Regeln. Obwohl die Abgrenzung von „Moral“ und „Konvention“ nicht trennscharf ist, lassen sich folgende Unterscheidungsmerkmale angeben: Konventionelle Normen gelten lediglich aufgrund bestimmter traditioneller Sitten und Bräuche und erheben nicht den gleichen universellen Anspruch, nur genau ein Handeln nach diesen Normen sei richtig und jedes andere falsch. Konventionelle Regeln wie „Rülpse nicht bei Tisch! “, „Gib Fremden zur Begrüßung die Hand! “ oder „Fahre bzw. gehe im Verkehr stets auf der rechten Seite! “ sind nicht wie moralische Normen mit der Überzeugung verbunden, das Befolgen dieser Regeln sei für eine gute Qualität des menschlichen Zusammenlebens unabdingbar. Vielmehr scheinen Entscheidungen für bestimmte Begrüßungsrituale oder das Links- oder Rechtsfahren ein hohes Maß an Willkür aufzuweisen, sodass das konventionell Vereinbarte ohne Verlust auch anders geregelt werden könnte. Bei moralischen Normen geht es hingegen um den Schutz fundamentaler menschlicher Bedürfnisse und Interessen z.B. an physischer und psychischer Integrität, Sicherheit, Freiheit oder Bildung, weshalb sie mit einem viel stärkeren Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft und moralischen Gefühlen wie Scham oder Empörung verbunden sind (vgl. Bleisch u. a. 2011, 42). Auch die Abgrenzung von „Moral“ und „Recht“ fällt teilweise schwer, weil viele faktische moralische Regeln zugleich auch rechtliche sind: Häufig werden für ein gelingendes menschliches Miteinander äußerst wichtige moralische Normen wie „Du sollst nicht töten! “ oder „Du sollst nicht stehlen! “ zusätzlich durch rechtliche Regulierungen unterstützt. Der entscheidende formale Unterschied besteht aber darin, dass rechtliche Normen schriftlich fixiert und mit stärkeren institutionalisierten Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen belegt sind. Bei unmoralischem Handeln drohen jedoch lediglich schwächere informelle soziale Sanktionen wie Tadel, Verachtung oder schlimmstenfalls soziale Ausgrenzung. Inhaltlich betrachtet steuern rechtliche Normen primär das äußere Verhalten der Menschen, weisen Zwangscharakter auf und werden häufig allein deswegen befolgt, weil die staatliche Autorität sie angeordnet hat. Demgegenüber konventionelle Normen fundamentale Bedürfnisse/ Interessen rechtliche Normen 45316_Fenner_SL4b.indd 15 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="16"?> 16 E I n l E I t u n g appellieren moralische Normen als innere Regulierungsformen grundsätzlich an die innere Gesinnung, Selbstverpflichtung und Selbststeuerung der Einzelnen, damit diese die Regeln im Idealfall aus Einsicht akzeptieren und beachten (vgl. ebd., 23 f../ Fenner 2010, 7 f.). Moral Konvention Recht Geltung durch Einsicht und Anerkennung Geltung aufgrund von Tradition/ Sitten Geltung durch Autorität des schriftlichen Gesetzes Steuerung der inneren Gesinnung Steuerung des äußeren Verhaltens Steuerung des äußeren Verhaltens betrifft fundamentale menschliche Bedürfnisse weniger relevant für das Zusammenleben hohe Relevanz für das Zusammenleben stärkere soziale Sanktionen (Verachtung, Ausgrenzung) schwächere soziale Sanktionen (Rüge, Tadel) schriftlich festgesetzte juristische Sanktionen (Buße, Strafe) z.B. „Du sollst nicht lügen! “ z.B. „Gib Fremden zur Begrüßung die Hand! “ z.B. „Zahle Deine Steuern! “ Was heißt Ethik? Bezüglich eines etymologischen Zugangs leitet sich das deutsche Wort „Ethik“ vom griechischen Wort „ethos“ ab, das entweder mit kurzem „e“ („ ἔθος “) oder mit langem „ä“ („ ἦθος “) geschrieben wurde. „Ethos“ mit kurzem „e“ meint so viel wie „Sitte, Brauch, Gewohnheit“, sodass als „ethisch“ ein Handeln gemäß den allgemein anerkannten Normen anzusehen wäre. Im engen und eigentlichen Sinn ethisch handelt aber nur derjenige, der sich nicht allein regelkonform verhält und den tradierten Handlungsregeln blindlings folgt, sondern der aus Überlegung und Einsicht in jeder Situation das Richtige tut. Das als gut erkannte „ ἔθος “ verfestigt sich bei ihm durch gezielte, wiederholte Einübung zum „ ἦθος “, d. h. zu einer „Charakterhaltung, Sinnesart, Denkweise“. Aristoteles war der Erste, der die Bezeichnung „Ethik“ (griechisch: „ta ethika“) für eine bestimmte Art philosophischen Denkens verwendete. Ihm zufolge dürfen sich Menschen als Vernunftwesen in ihrem Handeln nicht einfach von tradierten Nor- 1 .2 etymologischer Zugang 45316_Fenner_SL4b.indd 16 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="17"?> 17 w a � h E I � � t E t h I � � men und Wertvorstellungen leiten lassen, sondern müssen diese kritisch hinterfragen und gegebenenfalls revidieren. Zu diesem Zweck braucht man aber eine ethische Wissenschaftsdisziplin („ ἠθικής θεωρίας “) als philosophische Beschäftigung damit, wie die Menschen handeln sollen. Für den logisch-begrifflichen Zugang zur „Ethik“ empfiehlt es sich, das klassische Definitionsmodell heranzuziehen: Um einen bestimmten Begriff („Definiendum“) zu definieren, nehme man einen übergeordneten Begriff bzw. „Gattungsbegriff “ und füge eine charakteristische Eigenschaft bzw. den es von anderen Arten unterscheidenden „artspezifischen Unterschied“ hinzu („Definiens“): Definiendum Definiens zu definierender Begriff Oberbegriff oder Gattungsbegriff artspezifischer Unterschied z.B. Messer Schneidinstrument mit kurzer Klinge und Handgriff z.B. Mensch Lebewesen vernunft- und sprachbegabt Analog zu diesen Beispielen kann man in einem ersten Schritt nach dem Oberbegriff von „Ethik“ suchen: Am besten eignet sich dafür die „Philosophie“, die man ihrerseits definieren könnte als systematisches, diskursives Nachdenken über die Welt, den Menschen und das Denken selbst. Es gibt zwar auch eine Ethik innerhalb der Theologie, z. B. eine christliche, islamische oder buddhistische Ethik. Die philosophische Ethik setzt aber im Gegensatz zu einer theologischen Ethik keinen Glauben an eine bestimmte Religion voraus und bezieht sich auf keine Heiligen Schriften, sondern richtet sich lediglich an die allgemeinmenschliche Vernunft. Innerhalb der Philosophie befasst man sich entweder mit dem, was ist, d. h. mit den Fakten, oder mit dem, was getan werden soll, also mit der menschlichen Praxis. Im ersten Fall spricht man von theoretischer Philosophie, die auf Wahrheit bezüglich der Wirklichkeit oder des „Seins“ abzielt. Im zweiten Fall handelt es sich um praktische Philosophie, die ein Ideal des Guten oder Richtigen für das menschliche Handeln entwirft und sich mit dem menschlichen „Sollen“ beschäftigt. Während die Grundfrage der theoretischen Philosophie lautet: „Was kann logisch-begrifflicher Zugang Ethik Philosophie Philosophie vs. Theologie theoretische vs. praktische Philosophie Definitionsschema 45316_Fenner_SL4b.indd 17 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="18"?> 18 E I n l E I t u n g ich wissen? “ bzw. „Was kann ich erkennen? “, widmet sich die praktische Philosophie der ethischen Grundfrage: „Wie soll ich handeln? “ bzw. allgemeiner „Welches Handeln ist gut oder richtig? “. Praktische Philosophie ist also gewissermaßen eine Theorie der Praxis. Die praktische Philosophie umfasst neben der Teildisziplin „Ethik“ auch noch die „politische Philosophie“ und die „Rechtsphilosophie“. Anders als die politische und Rechtsphilosophie bemüht sich die Ethik nicht um das bestmögliche, an bestimmte Institutionen gebundene Staats- oder Rechtssystem, sondern um das richtige Handeln von Einzelpersonen. Die Ethik entwickelt allgemeine Beurteilungskriterien, methodische Verfahren oder höchste Prinzipien für die Begründung und Kritik von Handlungsregeln oder normativen Aussagen darüber, wie man handeln soll. Mit ihrer Hilfe können Handlungen bewertet und normative Aussagen über das gute Leben und gerechte Zusammenleben geprüft werden. Sie gibt also keine direkten Handlungsanweisungen für konkrete einzelne Handlungen oder Handlungssituationen, sondern versucht die Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln auf einer prinzipielleren Ebene zu klären. Die Definitionen nach obigem Schema lauten demnach: Definiendum Definiens zu definierender Begriff Oberbegriff oder Gattungsbegriff artspezifischer Unterschied Ethik Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage zu begründen sucht, wie man handeln soll. Was das Verhältnis von „Ethik“ und „Moral“ betrifft, lassen sie sich verschiedenen übereinanderliegenden Ebenen zuordnen: Während sich die moralischen Normen für das menschliche Zusammenleben auf der unteren Gegenstandsebene befinden, meint Ethik die kritisch-philosophische Reflexion auf diese „gelebte“ faktische Moral auf einer höheren Reflexionsebene. Allerdings stützen sich auch alltägliche moralische Überzeugungen anders als bloße Konventionen zumeist auf mehr oder weniger politische / Rechtsphilosophie Ethik Ethik vs. Moral Definition 45316_Fenner_SL4b.indd 18 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="19"?> 19 w a � h E I � � t E t h I � � reflektierte Annahmen, Argumente und Alltagstheorien, sodass der Unterschied eher ein gradueller statt ein struktureller ist (vgl. Düwell u. a., 3). Zum einen erhebt die wissenschaftliche Ethik aber einen höheren methodischen Anspruch, weshalb z. B. strengere Standards an das rationale Argumentieren gestellt werden. Zum anderen übt sie eine kritische und revisionäre Funktion gegenüber der faktischen Moral aus, indem sie in der Alltagspraxis stillschweigend vorausgesetzte Gewissheiten hinterfragt und allenfalls alternative moralische Regeln im Sinne einer „Moral als normativer Größe“ begründet (vgl. Kap. 1.1). Ethik kann so gesehen als „Wissenschaft der Moral“ bezeichnet werden, auch wenn die Moral nicht den ganzen Gegenstandsbereich der Ethik ausmacht (vgl. unten). Während das Adjektiv „moralisch“ entsprechend die Übereinstimmung mit bestimmten moralischen Normensystemen meint, bedeutet „ethisch“ strenggenommen lediglich die Zugehörigkeit zum Gegenstandsbereich oder Wissensgebiet der Ethik (vgl. Hübner, 14 f.). „Moralisch“ oder „unmoralisch“ können daher konkrete Urteile, Handlungen oder Charaktere sein, wohingegen eigentlich nur Fragen, Methoden oder Theorien als „ethisch“ bezeichnet werden könnten. Anders als die Substantive „Ethik“ und „Moral“ werden die Adjektive „ethisch“ und „moralisch“ jedoch in der Ethik oft synonym verwendet. Moral Ethik Gegenstandsebene faktische „gelebte“ Moral Reflexionsebene Begründung, Kritik oder Revision der faktischen Moral = „Wissenschaft der Moral“ Philosophische Ethik ist somit wesentlich „normativ“ („wertend“), weil sie das menschliche Handeln bewertet und seine ethische Legitimität prüft. Sie stellt sich nicht die empirisch-deskriptive Frage, was Menschen überhaupt tun können und welche Handlungsalternativen ihnen offenstehen. Vielmehr beschäftigt sie sich mit der normativen Frage, was Menschen tun sollen bzw. welches Handeln geboten, verboten oder erlaubt ist. Wenn ohne weitere Erläuterungen von „Ethik“ die Rede ist, geht es in aller Regel um diese normative Ethik im oben definierten Sinn. Neben ethisch vs. moralisch normative Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 19 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="20"?> Definiton 20 E I n l E I t u n g der „normativen Ethik“ gibt es allerdings noch eine „deskriptive Ethik“ und eine „Metaethik“, die keine normativen Forderungen erheben: Die deskriptive Ethik nimmt eine rein beschreibende Perspektive ein und stellt lediglich dar, welche Wertvorstellungen und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich galten oder gelten, z.B. die in der Antike vorherrschenden moralischen Überzeugungen oder das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch oder von Suizidhandlungen in einer jüdischen bzw. christlichen Gemeinschaft. Solche Feststellungen gehören eher zum Aufgabenbereich empirisch arbeitender Ethnologen, Historiker oder Soziologen als von Philosophen. Demgegenüber kann die „Metaethik“ zwar zur philosophischen Ethik in einem weiteren Sinn gerechnet werden. Sie befindet sich aber auf einer anderen Ebene „meta“, d. h. „nach“, „hinter“ der normativen Ethik und schaut gleichsam von außen auf den Gegenstandsbereich der Ethik. Die Metaethik reflektiert und analysiert die Sprache der Moral und der normativen Ethik sowie die Methoden, mit denen die Ethiker ihre inhaltlichen Prinzipien begründen. So fragen die Metaethiker etwa nach der Bedeutung von „gut“ oder „sollen“ oder danach, wie normative Aussagen begründet werden können oder ob es überhaupt so etwas wie Objektivität oder Wahrheit in der Ethik gibt (vgl. Kap. 8.1). Man nennt die erst im 20. Jahrhundert aufgekommene junge Disziplin der Metaethik auch die „Wissenschaftstheorie der Ethik“. Die formalen Begriffsklärungen und methodischen Überlegungen der Metaethik sind aber nicht gänzlich abgekoppelt von der normativen Ethik. Denn die normative Ethik mit ihrem hohen methodischen Anspruch ist letztlich auf die systematische Klärung ihrer sprachlichen Grundlagen und des Stellenwertes der philosophischen Begründungsmethoden angewiesen. Metaethische Analysen können einen allgemeinen systematischen Rahmen für normative materiale Aussagen abgeben und eventuell zu deren Korrektur anregen. Wird ohne Zusatz von „Ethik“ gesprochen, meint man aber wie gesagt die „normative Ethik“ als ihren Kernbereich. Metaethik: Wissenschaftstheorie der Ethik, in der die Grundbegriffe und methodischen Begründungsverfahren der normativen Ethik analysiert werden deskriptive Ethik Metaethik 45316_Fenner_SL4b.indd 20 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="21"?> 21 w a � h E I � � t E t h I � � Definition Ethik im weiten Sinn Ethik im engen Sinn: normative Ethik „meta“ (nachgeordnet) Metaethik normative, materiale Aussagen Rückwirkung nicht normative, formale Sprachanalysen Ebenfalls erst im 20. Jahrhundert neu zu den Teilgebieten der Ethik hinzugekommen ist die „Angewandte Ethik“. Sie wurde deswegen erforderlich, weil sich die neuzeitliche Ethik seit Immanuel Kant allzu einseitig auf die schwierige Aufgabe der Begründung von Moralprinzipien konzentrierte und im angelsächsischen Bereich Grundlagenprobleme der Metaethik in den Vordergrund rückten. Sowie aber in den 1960er Jahren die negativen Folgen des enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritts wie etwa die ökologischen Krisen immer stärker ins öffentliche Bewusstsein traten, wurde der Ruf nach mehr konkreter Orientierung durch die Ethik immer lauter (vgl. Fenner 2010, 9 ff.). Infolgedessen spaltete sich die „normative Ethik“ auf in a) eine „begründungsorientierte“ und b) eine „anwendungsorientierte“, „problembezogene“ oder „Angewandte Ethik“. Die „begründungsorientierte normative Ethik“ (a) wird zusammen mit der „Metaethik“ und der „deskriptiven Ethik“ unter dem Oberbegriff Allgemeine Ethik zusammengefasst. Die Angewandte Ethik (b) kann demgegenüber definiert werden als anwendungsbezogene Disziplin der normativen Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf bestimmte gesellschaftlich relevante Handlungsbereiche anwendet. Sie nimmt dabei ihren Ausgangspunkt bei konkreten Problemen oder Fragestellungen, die sich aus der Praxis ergeben: etwa bei der Frage nach dem richtigen Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen in der „Medizinethik“ oder nach dem richtigen Umgang mit der außermenschlichen Natur in der „Naturethik“ oder dem richtigen wirtschaftlichen Handeln in der „Wirtschaftsethik“. Sie zerfällt entsprechend den unterschiedlichen Themen und Handlungsfeldern in verschiedene, weder in ihrer Zahl noch in ihrer normative Ethik vs. Metaethik Allgemeine vs. Angewandte Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 21 05.03.2020 12: 20: 17 <?page no="22"?> 22 E I n l E I t u n g gegenseitigen Abgrenzung klar festgelegte „Bereichsethiken“ (vgl. ebd., 46 ff.). Im vorliegenden UTBbasics-Band geht es primär um Themen der Allgemeinen Ethik, wohingegen der UTB-Band Einführung in die Angewandte Ethik (2010) die spezifischen Erkenntnisse aus diesen einzelnen Bereichsethiken systematisiert. Angewandte Ethik: Disziplin der normativen Ethik, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifische Handlungsbereiche anwendet Innerhalb der normativen Ethik lassen sich aber nochmals zwei Bereiche, Bewertungshinsichten oder Perspektiven unterscheiden. Man kann die ethische Grundfrage „Wie soll ich handeln? “ nämlich entweder 1. auf die persönliche Lebensgestaltung oder die eigenen Interessen oder 2. auf das zwischenmenschliche Zusammenleben oder die Interessen der anderen beziehen (vgl. Fenner 2007, Kap. 2.1). 1. Aus der ersten Perspektive der Individual- oder Strebensethik geht es um das für das Individuum Gute, um sein individuelles Glück oder sein gutes Leben. In diesem Sinn meint die Frage „Wie soll ich handeln? “ genauer gefasst: „Warum ist es gut für mich, X zu tun? “. Dabei werden lediglich Empfehlungen oder Ratschläge dazu abgegeben, unter welchen allgemeinen Gesichtspunkten beispielsweise die persönlichen Interessen, Wünsche oder Lebensformen kritisch geprüft werden sollten und welche Handlungsweise oder Lebensführung vernünftig oder ratsam ist. 2. Aus der zweiten Perspektive der Sozial- oder Sollens- Definition Individual-/ Strebensethik Moralphilosophie Ethik Metaethik Medizin- Ethik Natur- Ethik Wirtschafts- Ethik etc. deskriptive Ethik normative Ethik b) anwendungsorientierte (Angewandte) Ethik a) begründungsorientierte (Allgemeine) Ethik Allgemeine Ethik Angewandte Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 22 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="23"?> 23 w a � h E I � � t E t h I � � ethik treten demgegenüber das für die Gemeinschaft Gute und die Interessen der anderen Menschen ins Blickfeld. Es geht dann nicht um das vertikale Selbstverhältnis des Einzelnen zu sich selbst und das „Eigen-Wollen“, sondern um die horizontalen sozialen Interaktionen und ein „moralisches Sollen“. Das moralische Sollen geht vom Wollen der anderen aus und steht also immer schon in einem intersubjektiven Horizont. Es erhebt zudem einen Allgemeinheitsanspruch und hat anders als die Empfehlungen der Strebensethik einen verpflichtenden Charakter, sodass es in einem stärkeren Sinn normativ ist. Die Sozial- oder Sollensethik ist gleichbedeutend mit der oben erläuterten Moralphilosophie, die verbindliche Sollensforderungen wie Verbote und Gebote für ein respektvolles und gerechtes Zusammenleben begründet (vgl. Kap. 1.1). Die Frage „Wie soll ich handeln? “ lässt sich daher aus dieser Perspektive konkretisieren zu: „Warum bin ich kategorisch verpflichtet, X zu tun? “. Das Ideal der Sollensethik ist nicht das Glück, sondern die Gerechtigkeit. Normative Ethik Individualethik Strebensethik Sozialethik Sollensethik Philosophie des Glücks individuelle Lebensführung Moralphilosophie zwischenmenschliches Zusammenleben vertikaler Selbstbezug horizontale Interaktion Glück/ gutes Leben Moral/ Gerechtigkeit prudentielle Perspektive moralische Perspektive Im Gegensatz zur individualethischen Studie Das gute Leben (2007) konzentriert sich diese Einführung auf die sozialethische Dimension. Bisweilen wird die normative Ethik sogar begrifflich auf die Moralphilosophie oder Sollensethik mit ihrer Frage nach dem normativ Richtigen oder Gesollten eingegrenzt, sodass die Strebensethik mit der Suche nach dem evaluativ Guten oder für den Sozialethik/ Sollensethik Moralphilosophie Individualethik vs. Sozialethik prudentiell vs. moralisch 45316_Fenner_SL4b.indd 23 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="24"?> 24 E I n l E I t u n g Einzelnen Empfehlenswerten gar nicht zur normativen Ethik in diesem engeren Sinn zählte (vgl. Düwell u. a., 2). Eher verwirrend ist die gleichfalls anzutreffende, aber hier nicht weiter zu berücksichtigende Zuordnung der Begriffe „Moral“ und „Ethik“ für diese beiden Perspektiven der Sozial- und Individualethik, weil auf diese Weise die oben voneinander abgegrenzten Gegenstands- und Reflexionsebenen wieder vermischt würden. Zur näheren adjektivischen Bestimmung der vertikalen Ebene des strebensethischen Selbstbezugs einerseits und der horizontalen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktionen andererseits haben sich die Bezeichnungen „prudentiell“ und „moralisch“ eingebürgert. „Prudentiell“ bezieht sich auf das individuelle Vermögen der „Klugheit“ (lateinisch „prudentia“) und steht für alles Handeln und Reflektieren im Dienst des persönlichen guten Lebens. „Moralisch“ andererseits kennzeichnet alles, was mit der sozialethischen Perspektive eines gerechten Umgangs miteinander zusammenhängt (vgl. Kap. 1.1). Anschauungsbeispiel: prudentiell/ moralisch Peter, seit 10 Jahren verheiratet und Vater von vier kleinen Kindern, möchte seine Familie verlassen und mit seiner jungen Sekretärin zusammenziehen, mit der er ein Verhältnis hat. Er bespricht sich mit zwei seiner besten Kollegen. Beide raten Peter davon ab, aber mit verschiedenen Argumenten. a) prudentielle Argumentation: Kollege A rät Peter: „Das Verhältnis mit der jungen Sekretärin wird nicht von langer Dauer sein. Die Trennung von Deiner Familie aber, v. a. von den vier liebenswerten Kindern, wird Dich ins Unglück stürzen.“ b) moralische Argumentation: Kollege B rät Peter: „Deine Frau und Deine Kinder sind auf Dich angewiesen. Du darfst sie keineswegs im Stich lassen und nur an Dein eigenes Glück denken.“ (nach Ricken, 14 f.) 45316_Fenner_SL4b.indd 24 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="25"?> 25 w a r u � ü b E r h a u p t � o r a l I � c h � E I n � Warum überhaupt moralisch sein? Anschauungsbeispiel Maria findet einen hübschen Fingerring in der Umkleidekabine im Hallenbad. Sie weiß, dass es moralisch richtig wäre, den Fingerring im Fundbüro des Bads abzugeben. Trotzdem zögert sie, es zu tun. Denn von ihrem Taschengeld wird sie sich nie ein so teures und schönes Schmuckstück leisten können. Und ihr Freund hatte vor zwei Wochen einen Geldschein gefunden, den er auch behielt. Wieso soll sie überhaupt moralisch sein? Auch wenn jemand eine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden hat, welches Handeln moralisch richtig ist, kann er die noch grundlegendere Frage aufwerfen: „Warum (soll ich) überhaupt moralisch sein? “. Seit ihrer Geburtsstunde im fünften vorchristlichen Jahrhundert wird die philosophische Ethik unterschwellig begleitet von dieser skeptischen Infragestellung des moralischen Standpunktes. Dabei lassen sich zwei grundlegende Motivationstypen unterscheiden, die solches Fragen in Gang setzen können (vgl. Bayertz, 22 f.): Zum einen gibt es Menschen, die sich im Zeichen des Egoismus primär oder ausschließlich an ihren eigenen Interessen orientieren (vgl. Kap. 4.1). In diesem Sinn überlegt sich Maria bei ihrem glänzenden Fund, welch große Freude ihr der Ring bereiten würde und wie sehr sie damit bei ihren Freunden Eindruck machen könnte. Wer ohne Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitmenschen konsequent den eigenen Interessen nachgeht, erlebt die moralischen Normen zwangsläufig als lästiges Korsett oder Hindernis. Zum anderen kann man wie Maria die Erfahrung gemacht haben, dass sich seine Freunde bzw. die meisten anderen Menschen bedenkenlos über geltende moralische Regeln hinwegsetzen. Zwar hat man sich stets bemüht, moralisch zu sein. Aber die eigene Güte und Großzügigkeit wurde von den Mitmenschen nicht honoriert und womöglich sogar schamlos ausgenutzt, sodass man sich am Ende als „die Dumme“ vorkam. In beiden Fällen argumentiert man offenkundig vom Standpunkt der eigenen Interessen bzw. des persönlichen Glücks aus. Man überlegt sich, wie zu handeln und leben für sich selbst das Beste sei. Solche Reflexionen über das für das Individuum Gute sind wie gesehen der Individual- oder Strebensethik zuzuordnen (vgl. Kap. 1.2). Bei der Frage „Wa- 1 .3 strebensethische Frage 45316_Fenner_SL4b.indd 25 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="26"?> 26 E I n l E I t u n g rum überhaupt moralisch sein? “ handelt es sich daher um eine strebensethische lebenspraktische Frage. In aller Schärfe stellt sich die Warum-Frage da, wo die individualethische und sozialethische Perspektive auseinanderklaffen. Moralisches Handeln scheint im Alltag oft nur auf Kosten der eigenen Interessen oder des subjektiven Glücks möglich zu sein. Erst wo die individual- und sollensethischen Ansprüche derart miteinander in Konkurrenz treten, drängt sich die moralskeptische Frage auf, ob sich moralisches Denken und Handeln für den Einzelnen überhaupt „lohnt“. Genau in dieser Konfliktsituation befindet sich Maria, die trotz ihres Wissens um die moralische Rückgabepflicht fremden Eigentums aus starkem persönlichem Interesse das wertvolle Schmuckstück unbedingt behalten möchte. Obgleich solche Konflikte zwischen den beiden Beurteilungsrichtungen in der Praxis gleichsam vorprogrammiert zu sein scheinen, besteht nicht per definitionem ein Widerspruch zwischen ihnen. Vielmehr sind viele Handlungen im Zeichen des persönlichen Glücksstrebens entweder moralisch indifferent oder moralisch lobenswert, und vice versa können moralisch gute Handlungen durchaus Glück bereiten. So kann jemand besonders gern hilfsbedürftige Menschen glücklich machen und in einem karitativen Hilfswerk seine berufliche Erfüllung finden. Moralisches Sollen und Eigenwollen, Pflicht und Neigung wären bei seinem Tun harmonisch vereint. Wenn in diesem Kapitel das Auseinanderdriften von prudentiellem Wollen und moralischem Sollen ins Blickfeld rückt, soll dies letztlich dem Zweck der Klärung des Verhältnisses von Sozial- und Individualethik bzw. Sollens- und Strebensethik dienen (vgl. Kap. 1.2). Aus der eigenen Erfahrung dürfte bekannt sein, dass die Motivlage zur Einnahme der beiden Perspektiven sehr unterschiedlich ist: Während wir immer schon unmittelbar motiviert sind, unserem Glücksstreben Folge zu leisten, tun wir das moralisch Gebotene oft nur widerwillig oder gar nicht. Anstelle der als redundant bis absurd empfundenen Frage „Warum überhaupt glücklich sein? “ hört man daher immer nur diejenige: „Warum überhaupt moralisch sein? “ Als Antwort auf diese individualethische Warum-Frage werden prudentielle oder individualethische Gründe erwartet, d. h. Gründe des Selbstinteresses am eigenen Wohlergehen. Angesichts dieser Umlenkung der sozialethischen auf die individualethische Fragerichtung scheint die Warum-Frage genau Verhältnis Sozial-/ Individualethik individualvs. sozialethische Perspektive prudentielle Gründe 45316_Fenner_SL4b.indd 26 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="27"?> 27 w a r u � ü b E r h a u p t � o r a l I � c h � E I n � besehen paradox oder sinnlos zu sein (vgl. Bayertz, 71): Entweder führt man nämlich bei ihrer Beantwortung individualethische außermoralische Gründe an, wodurch aber die Moral auf ein außermoralisches Fundament gestellt und ein unangemessener Typ von Gründen bemüht wird. Oder man macht sozialethische moralische Gründe geltend, womit man einen Zirkelschluss beginge. Denn man würde die Geltung moralischer Kriterien oder Prinzipien voraussetzen, die aus individualethischer Perspektive gerade in Zweifel stehen. Starke und angemessene moralische oder sozialethische Gründe und Argumente sind immer nur Personen gegenüber sinnvoll, die zum Transzendieren der eigenen egozentrischen strebensethischen Perspektive und zu moralischem Denken und Handeln bereit sind. Solche „starken Gründe“ oder Argumente könnten etwa lauten, alle Menschen seien gleich und als gleichberechtigt anzuerkennen, oder ein gerechtes, wohlgeordnetes Zusammenleben nach moralischen Normen sei für alle Menschen besser als Krieg und Ungerechtigkeit. Einsichtig sind solche Argumente aber nur für Menschen mit der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und fremde Interessen und Bedürfnisse genauso als einen möglichen Handlungsgrund gelten zu lassen wie die eigenen. Mutmaßlich besitzt jeder Mensch bei der Geburt die natürlichen Anlagen sowohl zur Selbstzentriertheit (Egozentrismus/ Egoismus) als auch zum Transzendieren seines eigenen Standpunktes zugunsten der Fremdzentriertheit (Altruismus). Im Unterschied zu einem von Anfang an stark präsenten Egozentrismus muss die zweite fremdbezogene Anlage jedoch durch sorgfältige Erziehung und Bildung gefördert werden (vgl. Kap. 4.1). Da es bei einem erwachsenen egoistischen Amoralisten meist zu spät für solche charakterbildenden Maßnahmen sein dürfte, bleibt einem nichts anderes übrig, als ihm möglichst überzeugende „schwache“ außermoralische Gründe zu liefern. Die wichtigsten von ihnen sollen im Folgenden aufgelistet und kritisch beleuchtet werden. Vermeidung sozialer Sanktionen Die nahe liegendste und simpelste Antwort auf die Warum- Frage lautet: „Du sollst moralisch sein, um soziale Sanktionen zu vermeiden! “ Verstöße gegen die in einer Gemeinschaft anerkannten moralischen Normen werden in der Regel lediglich mit Paradoxie der Warum-Frage starke moralische Gründe Egoismus vs. Altruismus Egoismus vs. Altruismus Vermeidung sozialer Sanktionen 45316_Fenner_SL4b.indd 27 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="28"?> 28 E I n l E I t u n g gesellschaftlicher Ächtung, Tadel oder Ausgrenzung quittiert, in schwerwiegenden Fällen zusätzlich noch mit juristischen Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen geahndet (vgl. Kap. 1.2). Man könnte versuchen, einen amoralischen Menschen mit solchen Drohungen einzuschüchtern. Voraussetzung für den Erfolg dieser Argumentationsstrategie ist ein bereits etabliertes Netz von Normen und ein für ihre Einhaltung sorgendes Sanktionensystem. Das Grundproblem besteht aber wie bei allen weiteren noch zu erläuternden schwachen Argumenten darin, dass man Menschen auf diese Weise höchstens zu einem moralkonformen Verhalten animieren kann, das lediglich vordergründig betrachtet moralisch ist: Obwohl die ausgeführten Handlungen nach außen hin alle Eigenschaften von moralischen Handlungen aufweisen, fehlt eine moralische Intention und innere Gesinnung des Handlungssubjekts. Es führt die moralisch richtige Handlung nur aus, weil es dazu „abgerichtet“ oder „genötigt“ wurde. Moralisch handelt aber strenggenommen nur, wer aus Einsicht in die Richtigkeit bestimmter Normen handelt, d. h. weil er einsieht, dass sie die bestmögliche Form menschlichen Zusammenlebens garantieren. Eine unter Zwang und Sanktionsdrohungen befolgte Moral wäre bloß eine heteronome, d. h. fremdbestimmte Moral (vgl. Kap. 8.4). Langfristiges Selbstinteresse Nicht dem Heteronomie-Vorwurf unterliegt eine zweite mögliche Antwort auf die Warum-Frage: „Du sollst moralisch sein, weil es in Deinem eigenen Interesse liegt! “ Es handelt sich dabei um die Argumentationsweise der Kontraktualisten oder Vertragstheoretiker, die in Kapitel 4.3 genauer dargestellt wird. Der Amoralist wird dabei dazu aufgefordert, sich einen Zustand der Gesellschaft ohne jegliche moralische Normen vorzustellen. Unter der Voraussetzung eines eher pessimistischen Menschenbildes sieht man dann vor dem inneren Auge eine Welt, in der Menschen einander gegenseitig ermorden, bedrohen, bestehlen und betrügen oder in der man wenigstens aufgrund der Knappheit von Raum und materiellen Gütern nie sicher sein kann, dass sie es nicht tun. Eine solche instabile soziale Lage würde aber das persönliche Glücksstreben erheblich beeinträchtigen. Im Zeichen des langfristigen Selbstinteresses soll man sich daher für eine moralisch geregelte Ordnung entscheimoralkonformes Verhalten Moral im Eigeninteresse 45316_Fenner_SL4b.indd 28 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="29"?> 29 w a r u � ü b E r h a u p t � o r a l I � c h � E I n � den, die allen Beteiligten hinreichende Sicherheit voreinander garantiert. Wie beim obigen Ziel der persönlichen Schadensbegrenzung kann ein solches Handeln im Interesse der individuellen Nutzenmaximierung zwar sozialethisch wertvolle Folgen haben. Das Handeln selbst aber ist wieder nur moralkonform statt moralisch, solange der eigene Interessenstandpunkt in keiner Weise transzendiert wird. Davon abgesehen suggeriert das Argument auch irreführenderweise, es gäbe nur die beiden Alternativen einer vormoralischen Welt, in der alle Menschen morden, stehlen und betrügen, und einer moralischen Welt, in der keiner dies tut. Tatsächlich lassen sich jedoch zahlreiche Zwischenwelten denken, in denen beispielsweise nur wenige, die meisten oder alle Menschen bis auf eine einzige Ausnahme sich an die moralischen Regeln halten (vgl. Bayertz, 142 f.). Am interessantesten für den egozentrischen Amoralisten ist eindeutig die letztgenannte Alternative: Er könnte vom Schutz der moralischen Normen profitieren, ohne sich selbst an sie halten zu müssen. Da die Gefahr des Trittbrettfahrertums groß ist, entpuppt sich auch das kontraktualistische Argument als ein schwaches. Denn tatsächlich scheint zwar jeder Mensch ein ausgeprägtes Interesse an der Moral zu haben, aber kein allzu großes, sie zu befolgen. Natürlich könnte man zur Not auf den vorangegangenen Argumentationstyp zurückgreifen und vor den Sanktionen warnen, die auf den Trittbrettfahrer warten. Wer wirklich klug ist, wird aber im Verborgenen unmoralisch handeln und in der Öffentlichkeit moralische Gesinnung heucheln. Weshalb sollte er auch da moralkonform handeln, wo es unentdeckt bleibt? Bereits Platon hat diese Möglichkeit der unentdeckten Amoralität in der berühmt gewordenen Parabel vom Ring des Gyges diskutiert (vgl. Platon: Pol., 359bff.): Durch Drehen dieses Ringes wird der Besitzer unsichtbar gemacht, sodass er ohne Furcht vor Sanktionen nach Belieben Unrecht tun könnte. Gleichwohl ist seine Seele nach Platons Darstellung deswegen zerrissen und in Unordnung, weil bei einem triebhaften und zügellosen Menschen die egozentrischen Bedürfnisse absolute Oberhand über seine Vernunft gewonnen hätten (vgl. ebd., 577cff.). Diese Vorstellung eines Triebtäters dürfte allerdings auf den gewöhnlichen zeitgenössischen Egoisten und Trittbrettfahrer kaum zutreffen. Hingegen könnte ihn die zweite von Platon benannte Trittbrettfahrer Unrechttun im Verborgenen? 45316_Fenner_SL4b.indd 29 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="30"?> 30 E I n l E I t u n g Problematik betreffen: Wie unwahrscheinlich auch seine Entlarvung und Bestrafung aufgrund bestimmter situativer Gegebenheiten oder günstiger Machtkonstellationen sein mag, bleibt doch ein gewisses Restrisiko. Wer im Verborgenen Unrecht tut, dürfte daher nie ganz frei von Furcht vor unerwünschten Konsequenzen sein. Weil es in der Realität eben keinen Ring des Gyges gibt, müsste der Trittbrettfahrer unablässig viel Energie darauf verwenden, seine Mitmenschen zu täuschen und sein wahres Gesicht zu verbergen. Dies bedeutete aber eine ständige innere Unruhe und ein möglicherweise stark verringertes Welt- und Selbstvertrauen. Interesse an Selbstachtung Eine weitere individualethische Argumentationsstrategie knüpft direkt an diese Überlegungen an und richtet sich auch an diejenigen, die auf Dauer und mit minimalem Aufwand in größtmöglicher Sicherheit leben. Man denke etwa an einen Händler, der zum Zweck seiner persönlichen Gewinnmaximierung seine Kunden betrügt. Er tut dies so gerissen, dass alle ihn als ehrlichen und zuverlässigen Handelspartner und Menschen achten und schätzen. Neben der erfolgreichen Täuschung seiner Mitmenschen müsste ihm darüber hinaus aber auch noch die viel heiklere Selbsttäuschung gelingen. In Bezug auf die Selbstachtung dürfte jedoch die Strategie des Trittbrettfahrers versagen (vgl. Luckner, 32): Weil er weiß, dass die positiven Fremdeinschätzungen sich einer Täuschung verdanken und damit nicht „echt“ sind, bilden sie keine zuverlässige Basis für ein positives Selbstbild. Würden seine Geschäftspartner und Freunde nämlich seinen wahren betrügerischen und gewinnsüchtigen Charakter so gut kennen wie er selbst, würden sie ihn verachten. Seine bewusst kalkulierte Betrügerei dürfte aufgrund dessen nach und nach sein Selbstbild verdüstern und sein Selbstwertgefühl untergraben. Er wird also auf die Dauer nicht „vor sich selbst bestehen“ und eine positive Selbstbeziehung aufrechterhalten können, die aber für das individuelle Glück unabdingbar ist. Ein dritter individualethischer Rat der Klugheit könnte daher lauten: „Du sollst moralisch sein, um Dich selbst achten zu können! “ Allerdings kann diese Argumentationsstrategie nur da erfolgreich sein, wo bereits ein Interesse an moralischer Selbsttäuschung 45316_Fenner_SL4b.indd 30 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="31"?> 31 w a r u � ü b E r h a u p t � o r a l I � c h � E I n � Selbstachtung vorliegt. Denn man möchte sich selbst offenkundig nicht aufgrund irgendwelcher beliebiger Charaktereigenschaften oder Leistungen achten können, sondern als eine moralische Person. Ein solches moralisches Selbstverständnis setzt aber schon eine genuin moralische Einstellung voraus. Wo daher ein moralisches Selbstverständnis fehlt und keinerlei Bereitschaft zum Transzendieren der egozentrischen Perspektive anzutreffen ist, lässt sich auch mit diesem rationalen Argument nichts ausrichten. Fazit Auf die Frage „Warum überhaupt moralisch sein? “ ließ sich also keine einschlägige und überzeugende Antwort finden. Hinsichtlich der „schwachen“ prudentiellen Gründe an die Adresse egoistischer Amoralisten muss man vielmehr gestehen: Es lässt sich nicht zeigen, dass man sich um des eigenen Glücks willen stets und überall moralisch verhalten soll. Zwar hat jeder ein ausgeprägtes Selbstinteresse am Bestehen moralischer Verhältnisse, weil sie ihm unverzichtbare Grundlagen für sein individuelles Glücksstreben wie das Überleben und minimale Sicherheit bereitstellen. Auch hat jeder ein Interesse daran, negative moralische Sanktionen zu vermeiden. Am besten fährt aber, wer punktuell und strategisch geschickt gegen die Regeln verstößt, wo die Chance des Entdecktwerdens gering und der persönliche Profit maximal ist. Außerdem kann man einen amoralischen Menschen mit diesen Argumenten wie gesehen lediglich zu (partiellem) moralkonformem Handeln motivieren, weil er den egozentrischen Standpunkt nicht zugunsten des moralischen Standpunkts aufgibt und ihm die Einsicht in die moralische Richtigkeit seines Handelns fehlt. So kann man einen egoistischen profitgierigen Unternehmer vielleicht mit dem Androhen von Strafen oder der Aussicht auf eine größere und zahlungskräftigere Klientel dazu bringen, auf ein moralisch erwünschtes nachhaltiges und sozialverträgliches Wirtschaften umzustellen. Die W-Frage lässt sich aber vom individualethischen Standpunkt aus nicht angemessen beantworten und ist somit tatsächlich paradox oder sinnlos. Denn die moralische Perspektive verlangt gerade, den egozentrischen Standpunkt der eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu verlassen und die fremden Interessen genauso zu be- Interesse an moralischer Selbstachtung schwache prudentielle Gründe W-Frage paradox 45316_Fenner_SL4b.indd 31 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="32"?> 32 E I n l E I t u n g rücksichtigen wie die eigenen. Die Frage nach dem Eigennutzen des moralischen Handelns verträgt sich deshalb schlecht mit der Frage nach dem moralisch richtigen Handeln. Es gibt also nicht nur keine zwingenden Gründe für den Übergang vom individualethischen Streben nach persönlichem Glück zur Einnahme des unparteiischen Standpunkts der Moral, sondern dieses Streben zielt an der genuin moralischen Perspektive völlig vorbei. Die Moral soll eben nicht primär dem Einzelnen selbst nützen, sondern dem Wohl der Gemeinschaft dienen. Wer hingegen gelernt hat und habituell fähig ist, den moralischen Standpunkt einzunehmen, stellt sich anstelle der W- Frage nur noch diejenige, welches Handeln genau in der gegebenen Handlungssituation ethisch richtig ist. Er braucht keine instrumentellen schwachen Argumente mehr, sondern rechtfertigt sein moralisches Handeln ausschließlich mit starken Gründen, die von den schwachen strukturell unabhängig sind. Solche Gründe für ein nachhaltiges biologisches Wirtschaften wären etwa, dass diese Produktions- und Anbauweise für die Gesellschaft und die Natur als ihre Lebensgrundlage langfristig die viel bessere Alternative darstellt. Ein moralisch gesinnter Unternehmer wählte auch dann diese Option, wenn sie ihm keine zusätzlichen Gewinne einbringt und ihm keinerlei Strafen drohen. Obgleich sich die beiden Bewertungsrichtungen der Individual- oder Strebensethik und Sozial- oder Sollensethik in konkreten Handlungssituationen nicht per se in Widerstreit befinden müssen und im Idealfall zur gleichen Handlungsweise auffordern, sind die beiden Perspektiven per se nicht aufeinander rückführbar. In der Moralphilosophie wird dabei zumindest in der kantischen Tradition von einem Vorrang der moralischen Handlungsgründe ausgegangen (vgl. Horn 2019, 27): Nur wenn aus moralischer Perspektive nichts dagegen spricht, darf man sich den eigenen Interessen und dem persönlichen Glücksstreben zuwenden. Starke moralische Gründe wären dann keine konkurrierenden Handlungsmotive, sondern übergeordnete Gesichtspunkte, die zu kategorischen Sollensforderungen führen. Ein Geschäftsmodell könnte also noch so viel Gewinn in Aussicht stellen, ein Unternehmer müsste im Fall moralisch bedenklicher Arbeitsverhältnisse oder Umweltgefährdungen darauf verzichten. Über dieses Vorrangproblem wird allerdings eine metaethische Kontroverse geführt. starke moralische Gründe individual-/ strebensethische Perspektiven strukturell unabhängig 45316_Fenner_SL4b.indd 32 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="33"?> 33 w a r u � ü b E r h a u p t � o r a l I � c h � E I n � Gründe für moralisches Handeln Strukturell voneinander unabhängige Gründe für moralisches Handeln: Du sollst moralisch sein, weil … „schwache“ individualethische außermoralische Gründe „starke“ sozialethische moralische Gründe • Du sonst mit moralischen Sanktionen (Ausgrenzung/ Tadel) rechnen musst; • es in Deinem eigenen Interesse (Überleben/ Sicherheit) liegt; • du Dich selbst sonst nicht achten kannst (als moralisches Wesen). • alle Menschen gleich und gleichberechtigt sind; • ein gerechtes, wohlgeordnetes Zusammenleben für alle Menschen besser ist als Krieg und Ungerechtigkeit. Übungsaufgaben 1. Definieren Sie Ethik, Moral und Metaethik. Versuchen Sie sich dabei an das allgemeine Schema für Definitionen zu erinnern. 2. Welches sind die grundlegenden Kennzeichen moralischen Urteilens und Handelns? 3. Welche beiden grundlegenden Perspektiven kann man innerhalb der normativen Ethik einnehmen? Erläutern Sie die beiden ethischen Betrachtungsweisen anhand eines selbst gewählten Beispiels. Literatur Bayertz, Kurt: Warum überhaupt moralisch sein? , München 2004. Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H : Ethik: Begriff - Geschichte - Applikation, in: dies. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2011, S. 1-23. Horn, Christoph: Einführung in die Moralphilosophie, 2. Aufl., Freiburg/ München 2019. Pauer-Studer, Herlinde: Einführung in die Ethik, 2. Aufl., Wien 2010. Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik, 7. überarb. und aktual. Aufl., Tübingen 2017. Quante, Michael: Einführung in die Allgemeine Ethik, 6. aktual. Auflage, Darmstadt 2017. Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik, 5. überarb. und erg. Auflage, Stuttgart 2013. → 45316_Fenner_SL4b.indd 33 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="34"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 34 05.03.2020 12: 20: 18 <?page no="35"?> 35 Handlungstheorie Inhalt 2.1 Was ist eine Handlung? 2.2 Verantwortung für die Handlungsfolgen 2.3 Handeln, Unterlassen und Zulassen Zusammenfassung Da der Gegenstand ethischer Urteile und Reflexionen das menschliche Handeln ist, setzt jede ethische Theorie wenigstens eine rudimentäre Handlungstheorie voraus. Zentral sind dabei die elementaren Unterscheidungen von Verhalten (Handeln im weiten Sinn) und Handlung (im engen Sinn) als absichtliche und zielgerichtete Tätigkeit (2.1) sowie diejenige zwischen Handeln, Unterlassen und Zulassen (2.3), wobei mit den handlungstheoretischen Differenzierungen nicht zwangsläufig eine Differenz in der ethischen Betrachtung verbunden ist. Angesichts der in der Öffentlichkeit viel diskutierten Frage nach der Verantwortung für aufgetretene negative Folgen gilt es grundsätzlich zu klären, für welche faktischen Handlungsfolgen jemand eigentlich verantwortlich gemacht werden kann (Kap. 2.2). 2 45316_Fenner_SL4b.indd 35 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="36"?> 36 h a n d l u n g � t h E o r I E Gegenstand der philosophischen Ethik ist wie in Kapitel 1.2 dargelegt das menschliche Handeln. Denn Ziel der Ethik ist die Begründung allgemeiner Kriterien oder Prinzipien für die Beantwortung der Frage, wie Menschen handeln sollen. Die Ethik setzt immer schon voraus, dass die Menschen handelnde Subjekte sind und sich zwischen verschiedenen Handlungsalternativen frei entscheiden können (vgl. Kap. 7.2). Eine präzise ethische Beurteilung von Handlungen in der moralischen Alltagspraxis ist aber nur möglich, wenn man sich die einzelnen Aspekte der konkreten Handlung wie Handlungssubjekt, Handlungsalternativen, Handlungsziel, Mittel, Handlungsgründe und Handlungsfolgen vergegenwärtigt. Jede ethische Theorie fußt daher wenigstens implizit auf einer wie auch immer rudimentären Handlungstheorie. Um der Ethik ein solides Fundament zu geben, sollen daher diese Grundlagen im vorliegenden 2. Kapitel beleuchtet werden. Allerdings ist die Ethik einerseits aufgrund ihrer praxisverändernden Intention und ihres normativen Anspruchs mehr als eine bloße Beschreibung und Kategorisierung von menschlichen Handlungen. Andererseits ist sie weniger als jene, da sie sich nicht mit schlechthin allen, sondern nur mit ethisch relevanten Handlungen befasst. Ausgeschlossen sind beispielsweise rein technische Handlungen zur Erreichung bestimmter technischer Zwecke wie etwa das Fahrradflicken zum Zweck des Fahrradfahrens oder rechtmäßige bzw. gesetzeswidrige Handlungen, die eine juristische Betrachtung erfordern. Zur Sprache kommen hingegen Handlungen, die aus prudentiellen oder moralischen Überlegungen vollzogen wurden oder sinnvollerweise unter diesen Aspekten beurteilt werden können: prudentielle und moralische Handlungen. Dabei kann manchmal durchaus ein und dieselbe Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Streng genommen stehen in der Ethik nicht einzelne konkrete Handlungen zur Diskussion, sondern Handlungstypen. Um einen Handlungstyp herauszubilden, muss man von der Individualität des Handlungssubjekts abstrahieren. Denn unabhängig davon, wer unter ähnlichen Bedingungen eine bestimmte Handlung ausführt, ist diese ethisch immer gleich zu beurteilen (vgl. Kap. 1.2). Hört man im Rundfunk die Meldung, im Bahnhof Stuttgart sei diese Nacht Silvia S. von ihrem türkischen Exliebhaber Ismael K. aus enttäuschter Liebe erstochen worden, kommt Ethik und Handlungstheorie moralische und prudentielle Handlungen Handlungstypen 45316_Fenner_SL4b.indd 36 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="37"?> 37 w a � I � t E I n E h a n d l u n g � es allein auf die Beschreibung der Handlung bzw. die deskriptiven (beschreibenden) Eigenschaften der Handlung an. Die Personennamen können durch Individuenvariablen ersetzt und das Verb in seine präsentische Form überführt werden: „In einem Bahnhof ersticht X aus Liebeskummer seine Exfreundin Y“. Solche Handlungstypen müssen aber immer noch hinreichend spezifiziert sein, um als Grundlage ethischer Beurteilung dienen zu können. So ist die Angabe der Intention oder Absicht der handelnden Personen unabdingbar. „X ersticht Y“ etwa wäre ein allzu genereller Handlungstyp, weil X sowohl aus Liebeskummer als auch aus Mordlust oder Notwehr hätte handeln können. Diese Gründe sind aber für die ethische Beurteilung entscheidend. Besonders bei verwickelten Sachverhalten müssen auch der Kontext der Handlung und die möglichen Handlungsoptionen minutiös geschildert werden. „Z wartet im Stuttgarter Bahnhof auf den Zug nach Tübingen“ wäre unter Umständen zu unspezifisch, wenn beispielsweise in Zs unmittelbarer Nähe Silvia S. erstochen wurde oder er seiner todkranken Mutter versprochen hatte, die Nacht bei ihr in Stuttgart zu wachen. Die in diesem Buch als Anschauungsbeispiele aufgeführten Handlungstypen sind meist nur gerade so weit spezifiziert, um die jeweils vorgenommenen begrifflich-abstrakten Unterscheidungen zu verdeutlichen. Bei ihrer ausführlicheren Diskussion in verschiedenen Kontexten zeigt sich dann häufig, dass für eine differenzierte ethische Beurteilung mehr Hintergrundinformationen über die genaue Handlungssituation notwendig wären. Was ist eine Handlung? Anschauungsbeispiele V schreibt einen Brief an eine Freundin. W spielt Trompete. X raucht pausenlos Zigaretten. Y schlägt im Zorn über seinen Chef seinen unbeteiligten Sohn. Z stolpert und bricht sich das Bein. (vgl. zu diesen und den folgenden Beispielen Ricken, Kap. C) 2 .1 45316_Fenner_SL4b.indd 37 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="38"?> 38 h a n d l u n g � t h E o r I E Allen Beispielsätzen ist gemeinsam, dass sie Handlungen in einem weiten Sinn beschreiben. Unter Handeln im weiten Sinn oder Verhalten fasst man nämlich sämtliche Körperbewegungen und körperlichen Ausdrucksweisen von lebendigen Organismen zusammen, die auch unbewusst motiviert oder sogar ohne jede innere Motivation durch äußere Umstände oder andere Personen aufgezwungen sein können. Nur die Personen V-X führen aber Handlungen in einem engen Sinn aus, die durch ein bewusst gewähltes und verfolgtes Handlungsziel gekennzeichnet sind. V beispielsweise hat sich zum Ziel gesetzt, einen Brief an eine Freundin zu schreiben und führt dies auch aus. Es handelt sich hier um einen eindeutigen klassischen Beispielfall für eine Handlung im engen Sinn als absichtliche und zielgerichtete Tätigkeit, um bestimmte gewünschte Veränderungen in der Welt vorzunehmen. Beim Trompetenspiel von W und dem Rauchen von Z liegen hingegen Spezial- oder Grenzfälle einer Handlung im engen Sinn vor, weil eine zunächst bewusste Handlung mit der Zeit weitgehend unbewusst und automatisch vollzogen wird und damit den Charakter eines „Verhaltens“ annimmt: W entschied sich zwar irgendwann einmal bewusst für das Erlernen des Trompetenspielens, hat aber mittlerweile durch gezieltes kontrolliertes Üben eine weitgehende Automatisierung der fortan unbewusst ablaufenden Fingerbewegungen erreicht. Ein solches durch kontrollierte Wiederholungen ins Unbewusste „hinabgeübtes“ Können bezeichnet man als Fertigkeit. X hingegen hat sich durch unkontrollierte Wiederholungen des gelegentlichen Zigarettenrauchens eine unliebsame Gewohnheit angeeignet und ist zum notorischen Kettenraucher geworden. Wenn Y seinen unschuldigen Sohn aus Wut über seinen Chef prügelt, könnte dies je nach zeitlichem Abstand vom Konflikt mit seinem Vorgesetzten eine irreführenderweise sogenannte Affekt- oder Impulshandlung sein. Ein „Affekt“ ist ein sehr intensiver, reaktiv entstandener und relativ kurzzeitiger Erregungszustand, in dem die Urteilsfähigkeit stark herabgesetzt ist oder ganz fehlt. Es läge dann also keineswegs eine Handlung im engen Sinn vor, weil eine solche Affekt- oder Kurzschlusshandlung aus rasendem Zorn über den Chef ohne Nachdenken über das Handlungsziel erfolgt und von den Betroffenen nicht beherrscht werden kann. Ein einfacheres und eindeutigeres Pa- Handlungen im weiten Sinn Handlung im engen Sinn Spezial- oder Grenzfälle 45316_Fenner_SL4b.indd 38 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="39"?> 39 w a � I � t E I n E h a n d l u n g � radebeispiel für ein „Verhalten“ ohne Handlungsziel stellt jedoch das unfreiwillige Stolpern mit unliebsamen Folgen wie im Fall von Z dar. Verhalten (Handeln im weiten Sinn): Gesamtheit der Körperbewegungen und körperlichen Ausdrucksweisen von lebendigen Organismen z.B.: Z stolpert und bricht sich das Bein. Spezialfall: Affekthandlung z.B.: Y schlägt im Zorn seinen unbeteiligten Sohn. Handlung (im engen Sinn): Absichtliche und zielgerichtete Tätigkeit, um bestimmte gewünschte Veränderungen in der Welt vorzunehmen z.B.: V schreibt einen Brief an eine Freundin. Spezial- oder Grenzfälle (die dem „Verhalten“ gleichen): Fertigkeit: durch kontrollierte Wiederholungen weitgehend automatisierter Tätigkeitsvollzug z.B.: W spielt Trompete. Gewohnheit: durch unkontrollierte Wiederholung weitgehend automatisierter Tätigkeitsvollzug z.B.: X raucht pausenlos Zigaretten. Wenn jemand stolpert, gähnt oder niest, ist er zwar in gewissem Sinn ein „Handlungssubjekt“, das aber die entsprechenden Körperbewegungen bzw. Verhaltensweisen weder bewusst noch zielgerichtet ausführt. Vielmehr „passieren“ sie ihm bloß oder „stoßen“ ihm gewissermaßen „zu“. Wenn man fragt, wieso Z über den Stein gestolpert ist, trifft man nicht auf eine Intention oder Absicht des Handlungssubjekts wie bei V: V schreibt ihrer Freundin möglicherweise, weil sie ihr von einer neuen Beziehung erzählen oder sich nach ihrem Befinden erkundigen will. Mit dem Entschluss, aus diesem Grund einen Brief zu schreiben und damit den Wunsch des Briefschreibens umzusetzen, hat V ein realitätsorientiertes Ziel und einen klaren Handlungsplan vor Augen. Das Handlungsziel bildet zusammen mit den gewählten Mitteln der Zielverfolgung die Absicht oder Intention des Handlungssubjekts. Diese Absicht des Handlungssubjekts stellt Definition Definition 45316_Fenner_SL4b.indd 39 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="40"?> 40 h a n d l u n g � t h E o r I E die mentale Ursache der Handlung dar und setzt eine intentionale Kausalität in Gang. Ursache der Veränderung in der Welt ist also die Person selbst mit ihren Handlungszielen, die sie durch absichtliche Tätigkeiten umzusetzen versucht. Im Gegensatz dazu wird das Verhalten von Z durch eine physische Ursache hervorgerufen, d. h. von einem physischen Zustand oder Ereignis in Raum und Zeit: Es könnte ein Stein gewesen sein, der Z zum Stolpern brachte. In diesem Fall spricht man statt von einer intentionalen von einer Ereigniskausalität. Fragt man weiter, wie dieser Stolperstein auf die Terrasse gelangt ist, kann man vielleicht die Bauarbeiten auf dem darüberliegenden Balkon als Ursache eruieren. Hier könnte sich etwas gelöst haben und dank der Schwerkraft nach unten befördert worden sein (vgl. Ricken, 102). Rein von außen betrachtet lässt sich freilich nicht in allen Fällen eindeutig feststellen, wo eine zielgerichtete Handlung und wo ein ungewolltes Verhalten vorliegt. Denn ein und derselbe beobachtbare Vorgang wie das Umstoßen einer Vase kann sowohl eine Handlung (A) als auch ein Verhalten (B) sein. Zumeist bringt uns aber eine Analyse des Handlungskontextes Klarheit. Ungeachtet dieser deskriptiven Schwierigkeit, von der Außenperspektive das Vorhandensein oder Fehlen einer mentalen Ursache oder Absicht festzustellen, ist nach der ethischen Relevanz dieser handlungstheoretischen Differenz zu fragen. In der Ethik werden in aller Regel Handlungen im engen Sinn diskutiert und beurteilt. Denn es steht außer Frage, dass Menschen für bewusst gewählte zielgerichtete Handlungen und ihre Folgen Verantwortung übernehmen müssen (vgl. Kap. 2.2). Wenn also beispielsweise ein Gast ganz absichtlich auf einer Party eine auf dem Boden stehende große Vase umstößt, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder ein „Happening“ zu veranstalten, ist er klarerweise schuld an ihrem Zerbrechen und trägt die volle Verantwortung dafür (A). Wo aber keine mentale, sondern eine physische Ursache vorliegt wie beim ungewollten Umstoßen der Vase im Partygedränge, wird gewöhnlich niemandem Bosheit unterstellt (B). Vielmehr entschuldigt man die Betroffenen, weil es ihnen „passiert“ ist, sie es „nicht absichtlich“ getan haben und daher „nichts dafür“ können. Sowohl ethisch als auch juristisch werden die beiden Handlungstypen unterschiedlich bewertet. Bei genauerer Analyse des Handlungskontextes würde man vielleicht auf eine komplexe Verantwortungsteilung stoßen: Während der mentale Ursache: Intention physische Ursache: Ereignis intentionale Kausalität vs. Ereigniskausalität 45316_Fenner_SL4b.indd 40 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="41"?> 41 w a � I � t E I n E h a n d l u n g � Organisator möglicherweise weniger Gäste einladen und die zerbrechlichen Gegenstände aus dem Wohnzimmer hätte entfernen sollen, wäre seitens der Partygänger mehr Rücksicht und Achtsamkeit erforderlich gewesen. Ethisch wünschbar ist grundsätzlich, dass Menschen möglichst wenig „reines“ unabsichtliches Verhalten an den Tag legen. Denn nur wenn Menschen Handlungen im engen Sinn ausführen, können sie ihr Tun gegenüber den Betroffenen begründen und verantworten. Die vorwissenschaftliche Grundintuition, dass die Menschen ihr Handeln voreinander rechtfertigen und die Verantwortung dafür übernehmen müssen, bildet aber die Grundlage und den Ausgangspunkt für sämtliche ethische Reflexionen (vgl. Einleitung). Entsprechend würde man bezüglich der ethisch und juristisch milder beurteilten Affekthandlungen wie im Beispiel des höchst problematischen Schlagens seiner Kinder aus Wut auf seinen Chef (Y) erwarten, dass auch impulsive Charaktere ihre Affekte notfalls mit therapeutischer Unterstützung kontrollieren lernen. Ethisch verwerflich ist es selbstverständlich auch, wenn im Alltag die Formeln „Tut mir leid, es ist mir passiert“ oder „Ich habe es nicht absichtlich getan“ als bloße Ausreden zur Deckung von nachlässigem oder gar bösartigem Handeln vorgeschoben werden. Anschauungsbeispiel Handlung (im engen Sinn) Verhalten A wirft die große Vase im Wohnzimmer um, weil er anlässlich einer Party ein Happening veranstalten will. B stößt beim Gedränge auf einer Party an die große Vase im Wohnzimmer und wirft sie um. Mentale Ursache : Intention/ Absicht des Handelnden Physische Ursache : physischer Zustand oder Ereignis, Naturgesetze Intentionale Kausalität Ereigniskausalität Ziel = Happening veranstalten, Aufmerksamkeit auf sich ziehen Ursache = Platzmangel, Schwerkraft, Zerbrechlichkeit der Vase Handlung vs. Verhalten 45316_Fenner_SL4b.indd 41 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="42"?> 42 h a n d l u n g � t h E o r I E Verantwortung für Handlungsfolgen In der philosophischen Ethik wird eine Kontroverse darüber geführt, ob für die ethische Beurteilung einer Handlung lediglich die Absichten der Handlungssubjekte zählen oder auch die Handlungsfolgen. Wie in Kapitel 6 zu den Grundtypen der Ethik ausführlich dargelegt wird, stehen sich die Positionen der deontologischen und der konsequentialistischen Ethik gegenüber. An dieser Stelle geht es aber zunächst lediglich um die handlungstheoretischen Aspekte und die Frage nach der Verantwortung eines Handlungssubjekts für die kausalen Folgen seines Handelns. Obwohl es in vielen Diskussionen der moralischen Alltagspraxis und der Angewandten Ethik suggeriert wird, bildet „Verantwortung“ kein inhaltliches ethisches Prinzip, sondern ist zunächst inhaltsleer. Zum normativen Prinzip oder Konzept wird Verantwortung erst durch die nähere Konkretisierung, wer für welche kausalen Folgen seines Handelns unter welchen ethischen Bewertungsmaßstäben verantwortlich sein soll (vgl. Fenner 2010, 177 f.; 216). Bei der Handlungstheorie liegt der Fokus nicht auf der Begründung der dafür notwendigen normativen Standards, sondern auf der Klärung der Reichweite der Verantwortung: Für welche Handlungsfolgen können Einzelne oder auch Personengruppen überhaupt verantwortlich gemacht werden? Faktische Folgen Auf den ersten Blick könnte man meinen, das Handlungssubjekt sei für alle kausalen faktischen Folgen seines Tuns verantwortlich. Die faktischen Folgen sind sämtliche Zustände und Veränderungen in der Welt, die ohne diese Handlung nicht eingetreten wären (vgl. Ricken, 112). Bei genauerem Hinsehen tritt aber rasch zutage, dass das Handlungssubjekt nicht sinnvollerweise für alle Veränderungen in der Welt verantwortlich gemacht werden kann, die ohne sein Zutun nicht hätten geschehen können. So wäre es beispielsweise absurd, das unschuldige Opfer eines Verkehrsunfalls für das geschehene Unglück verantwortlich zu machen. Wenn der Fußgänger jedoch am Unglückstag zuhause geblieben wäre, hätte der Unfall nicht stattfinden können. Der Unfall ist damit eine faktische Folge seines Spaziergangs. In glei- 2 .2 Verantwortung faktische Folgen 45316_Fenner_SL4b.indd 42 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="43"?> 43 V E r a n t w o r t u n g f ü r h a n d l u n g � f o l g E n cher Weise wäre es befremdlich, die Eltern für alles verantwortlich zu machen, was ihre Kinder tun, auch wenn deren Leben eine faktische Folge ihrer Geburt darstellt. Denn wären die Kinder nicht von ihren Eltern geboren worden, hätten sie niemals in das Weltgeschehen eingreifen und schlimmstenfalls kriminell werden können. Für welche eingeschränkten faktischen Folgen sind wir dann aber verantwortlich? Beabsichtigte und (indirekt beabsichtigte) in Kauf genommene Folgen Verantwortlich sind wir ohne Zweifel für alle beabsichtigten Folgen. Dabei sind die direkt beabsichtigten Folgen identisch mit dem Ziel der Handlung. Man nimmt eine Handlung überhaupt nur in Angriff, um ein bestimmtes Ziel bzw. die beabsichtigten Folgen zu erreichen. Darüber hinaus sind wir aber auch verantwortlich für die lediglich in Kauf genommenen Folgen. In Kauf genommene Folgen wünscht man sich zwar nicht als solche, akzeptiert sie aber als Nebenwirkungen oder notwendige Investitionen für die Erreichung des Handlungsziels. Da die Mittelwahl Teil der Handlungsabsicht darstellt, wären die „in Kauf genommenen“ Folgen gleichfalls Teil der Absicht und gewissermaßen „indirekt beabsichtigte“ Folgen (vgl. Kap. 2.1). So wirft etwa ein Schiffskapitän in einem auf kommenden schweren Sturm die wertvolle zu befördernde Ladung über Bord, um seine Mannschaft zu retten. Die aktuell beabsichtigte Folge des Kapitäns ist die Rettung seiner Besatzung trotz des tobenden Sturms. Zur Erreichung dieses Ziels wählt er das Mittel, das Frachtgut über Bord zu werfen. Der damit verbundene Verlust der Ware bildet die in Kauf genommene Folge. Hätte nicht das Unwetter die Gefahr des Kenterns über das Schiff gebracht, hätte er diese unerwünschte Folge niemals in Erwägung gezogen. Meistens sind die in Kauf genommenen Folgen solche, die unvermeidlich an den Einsatz der zielführenden Mittel gekoppelt sind. Je nach ethischer Theorie werden negative Handlungsfolgen milder beurteilt oder gerechtfertigt, wenn sie nicht direkt als Ziel beabsichtigt, sondern nur zugelassen werden. Das v. a. im 16. und 17. Jahrhundert von Philosophen und Moraltheologen intensiv diskutierte Prinzip der Doppelwirkung besagt, dass die Inkaufnahme einer schlechten Wirkung einer Handlung beabsichtigte Folgen Handlungsziel in Kauf genommene Folgen Mittel Prinzip der Doppelwirkung 45316_Fenner_SL4b.indd 43 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="44"?> 44 h a n d l u n g � t h E o r I E als Folge oder Bedingung der Erreichung einer guten Wirkung ethisch erlaubt ist (vgl. Ricken, 303 f.). Die in Kauf genommenen unerwünschten Folgen dürfen dabei allerdings nicht als kausal notwendige Mittel zur Zielerreichung eingesetzt werden. Typische Beispiele sind Handlungen zur Selbstverteidigung, bei denen man das ethisch legitime Ziel der Rettung des eigenen Lebens verfolgt. Dabei nimmt man die schlechte Wirkung in Kauf, dass der Angreifer möglicherweise im Überlebenskampf zu Tode kommt. Mithilfe des Prinzips der Doppelwirkung lässt sich auch die ethisch zu billigende indirekte aktive Sterbehilfe beurteilen, bei der das Ziel der Handlung die Verminderung von Leid ist (=-beabsichtigte Folge). Als Mittel wählt man starke schmerzlindernde Medikamente, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine Verkürzung der Lebenszeit mit sich bringen (=-in Kauf genommene Folge). Der Tod als unerwünschte Nebenwirkung ist hier aber kein notwendiges Mittel zur Hervorbringung der guten Wirkung der Schmerzlinderung. Verantwortungsteilung In vielen Situationen sozialer Interaktionen insbesondere innerhalb von Institutionen und instrumentellen Vereinigungen stellt sich das Problem der Verantwortungsteilung. Da die Handlungsverflechtungen in arbeitsteiligen hochkomplexen Gesellschaften immer komplizierter und die fortschreitende Technisierung und Globalisierung zu immer weitreichenderen (Spät)Folgen führt, ist längst nicht immer ein einzelnes Handlungssubjekt für klar begrenzte (direkte) Folgen verantwortlich. Angesichts von schlimmen eingetretenen negativen Folgen für Gesellschaft oder Umwelt werden daher häufig monate- oder jahrelange ethische oder juristische Debatten geführt, um die „Verantwortlichen“ beispielsweise der Love-Parade-Katastrophe oder des Diesel- Skandals namhaft zu machen. Wer als abhängig Beschäftigter für eine Institution oder ein Wirtschaftsunternehmen arbeitet, begibt sich in Auftrags- und Weisungsabhängigkeit und ist prinzipiell zur Ausführung der Anweisungen der Vorgesetzten verpflichtet. Kann er dann verantwortlich gemacht werden für einen Befehl mit negativen Folgen, wenn er diese erkannt hat oder hätte voraussehen können? Man denke an einen angestellten Ingenieur in einem Bauunternehmen, das zur Einsparung von Problem geteilter Verantwortung individuelle Verantwortung 45316_Fenner_SL4b.indd 44 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="45"?> 45 V E r a n t w o r t u n g f ü r h a n d l u n g � f o l g E n Kosten pfuscht und damit das Einsturzrisiko von Gebäuden in Kauf nimmt. Wenn er sich auflehnt und aus schlechtem Gewissen einen Befehl verweigert, wird ihm möglicherweise einfach gekündigt und er kann im Fall geringer Spezialisierung leicht ersetzt werden. Der von Mitläufern des NS-Regimes häufig geltend gemachte Befehlsnotstand liegt juristisch gesehen allerdings nur da vor, wo jemand mit den Zielen eines Unternehmens oder Systems nicht einverstanden ist und unter Androhung des Todes zur Ausführung gezwungen wird. Ohne akute Gefahr für Leib und Leben hat der Einzelne die individuelle Verantwortung für seinen persönlichen Handlungsbeitrag und trägt zudem die Verantwortung für den gesamten Arbeitsprozess mit, solange er sich daran beteiligt. Denn er unterstützt mit seinem Tun die Realisation einer möglicherweise schlechten Absicht, die er kennt oder kennen könnte. Neben der individuellen Verantwortung von Einzelpersonen gibt es aber noch die kollektive oder institutionelle Verantwortung von Institutionen, Vereinen oder Unternehmen, die mehr ist als die Summe der Einzelverantwortung der beteiligten Personen (vgl. Fenner 2010, 8). Das Wahrnehmen dieser kollektiven Verantwortung verlangt von Institutionen nicht nur, im Krisenfall für negative Folgen für Gesellschaft oder Umwelt „geradezustehen“ und die nötigen Maßnahmen zur Wiedergutmachung einzuleiten. Um solche Pannen zu vermeiden und jedem Einzelnen eine individuelle Verantwortungsübernahme ohne unzumutbare Opfer zu ermöglichen, braucht es vielmehr demokratische Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeiter an der Organisation und Durchführung der betrieblichen Aufgaben sowie Beschwerderechte z. B. über Ombudsstellen oder „Ethics officers“. Falsch ist aber der subjektive Eindruck, dass sich die individuelle Verantwortung reziprok zur Zahl der Beteiligten reduziert. Wo Tausende von Menschen in technologischen oder ökonomischen Großprojekten, z. B. zur Entwicklung neuer Waffen wie beim amerikanischen „Manhattan-Projekt“ zum Bau der Atombombe während des 2. Weltkrieges, zusammenarbeiten und die Ziele und erwartbaren Folgen für die Einzelnen schwer durchschaubar sind, scheinen sie nur noch „Rädchen im Getriebe“ zu sein. Man spricht dann vom Verwässerungsproblem der Verantwortung oder von organisierter Verantwortungslosigkeit (vgl. Lenk, 95). Obgleich das Ausmaß an individueller Verindividuelle Verantwortung institutionelle Verantwortung nichtinstitutionelle, nichtorganisierte Verantwortungslosigkeit organisierte Verantwortungslosigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 45 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="46"?> 46 h a n d l u n g � t h E o r I E antwortung je nach Stellung, Bedeutung oder Einwirkungsmöglichkeiten in einer hierarchischen Organisation relativ gesehen differiert, ist sie in einem normativen moralischen Sinn nicht teilbar, verringerbar oder delegierbar. Ähnlich komplex sind die ebenfalls regelmäßig auftretenden Fälle nichtinstitutioneller, nichtorganisierter Verantwortungslosigkeit etwa anlässlich eines Gewaltverbrechens, bei dem keiner der zahlreichen Augenzeugen hilft. Denn jeder denkt sich, einer der vielen anderen könne doch intervenieren. Das Prinzip der Verantwortung für arbeitsteilige Pflichten verlangt jedoch, dass zwar nicht jeder Augenzeuge selbst hilft, sich aber darum bemüht, dass dem Opfer des Gewaltverbrechens geholfen wird (vgl. Tetens, 147). Gerade im Kontext des Verwässerungsproblems bei ethisch fragwürdigen Geschäften hört man immer wieder die Drohung: „Wenn Du es nicht machst, tut es nur ein anderer! “ Es handelt sich hier aber nicht um ein rationales Argument, sondern nur um einen irrationalen Manipulationsversuch. Denn der „Verweigerer“ oder „Aussteiger“ wäre weder selbst mentale Ursache noch hätte er in irgendeiner Weise Anteil an einer solchen. Daher trägt er in diesem Fall keine Verantwortung für das Handeln von anderen Personen. Nicht verantwortlich gemacht werden kann man grundsätzlich auch für unfreiwillige Handlungen, zu denen man unter Androhung des Todes, physischer Gewalt oder Folter gezwungen wird. Mentale Ursache ist dann die Absicht der anderen Personen, weshalb auch diese für die Folgen verantwortlich zeichnen. Eine solche Situation liegt beim Befehlsnotstand oder auch bei Erpressungen vor: Man wird im klassischen Fall mit der Pistole an der Schläfe von den Erpressern dazu aufgefordert, eine ethisch verwerfliche Tat zu begehen wie z. B. fremdes Eigentum zu entwenden oder jemanden umzubringen. Die Erpresser drohen im Fall der Verweigerung mit schlimmen Taten wie dem eigenen Tod oder dem Erschießen der eigenen Kinder, die sie in ihrer Gewalt haben (vgl. Aristoteles 1110a, 5 f.). Ist man am Töten der Kinder mitverantwortlich, wenn man die verlangte unmoralische Tat ausschlägt? Da auch hier keine kausale (Mit-) Verursachung zu verzeichnen ist, könnte allenfalls von einer Art „negativer kausaler Verantwortung“ gesprochen werden (vgl. Ricken, 117; 311). Denn durch sein Tun hätte der Erpresste negative Folgen wie z. B. den Tod der Kinder verhindern können. Aber auch diese Form der Überantwortung von fremdem Handeln ist nichtinstitutionelle, nichtorganisierte Verantwortungslosigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 46 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="47"?> 47 V E r a n t w o r t u n g f ü r h a n d l u n g � f o l g E n klar zurückzuweisen. Man machte sich nämlich durch eine solche Unterwerfung beliebig erpressbar und könnte sein Handeln nicht mehr nach ethischen Kriterien selbst bestimmen. Es bliebe einen dann nur die Wahl, von den zwei angebotenen Übeln das kleinere auszuwählen. Jeder Beliebige könnte einem irgendetwas Schlechtes zu tun befehlen und drohen, sonst passiere etwas noch Schlimmeres. Damit hätte man sich zum Spielball unethischer Machenschaften degradieren lassen, die man nicht wie einen lebensbedrohlichen Sturm oder eine andere Naturkatastrophe einfach tolerieren kann. Wer seiner ethischen Überzeugung treu bleibt und den erpresserischen Drohungen standhält, darf daher nicht für die Gräueltaten der Erpresser verantwortlich gemacht werden. Nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare Folgen Bislang war die Rede von beabsichtigten und vorhergesehenen Handlungsfolgen, die entweder direkt als Handlungsziel anvisiert oder doch billigend in Kauf genommen wurden. Eine Handlung kann aber auch schwerwiegende unvorhergesehene unerwünschte anstelle oder zusätzlich zu den eigentlich beabsichtigten erwünschten Folgen zeitigen, sodass die Handlung gewissermaßen „missglückt“. Kann ein Handlungssubjekt auch für solche unvorhergesehenen negativen Folgen verantwortlich gemacht werden? Als Grundregel kann gelten: Nur wenn schlechterdings unvorhersehbare innere (Krankheiten) oder äußere Veränderungen (Naturkatastrophen, Krieg etc.) zum Scheitern des Handlungsvollzugs führen, ist man von der Verantwortung entlastet. Haben jedoch Fehleinschätzungen des eigenen Könnens oder der situativen Gegebenheiten zu unvorhergesehenen Folgen geführt, ist man für diese sehr wohl verantwortlich. Denn um rational und verantwortungsvoll zu handeln, muss sich eine handelnde Person hinlängliche Kenntnis über die Handlungsumstände und die gewählten Mittel verschaffen. Obgleich das Kriterium „hinlänglicher“ Kenntnis der Handlungssituation nicht sehr genau ist, reichen im praktischen Alltag grobe Risikoabschätzungen normalerweise aus und es sind keine exakten Prognosen der erwartbaren Handlungsfolgen erforderlich. Für die Einschätzung der Reichweite der individuellen Verantwortung muss grundsätzlich zwischen einem „individuellen“ und 45316_Fenner_SL4b.indd 47 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="48"?> 48 h a n d l u n g � t h E o r I E „prinzipiellen“ Wissensdefizit differenziert werden. Denn aus ethischer Sicht kommt es letztlich nicht auf die Frage an, welche Folgen ein Handlungssubjekt faktisch vorausgesehen oder nicht vorausgesehen hat, sondern welche zum Zeitpunkt des Handelns voraussehbar gewesen wären. Von einem individuellen Wissensdefizit ist zu sprechen, wo die Personen sich die nötigen Informationen über die Handlungsumstände ohne unzumutbaren Aufwand hätten verschaffen können und die später eingetroffenen unerwünschten Handlungsfolgen auf dieser Grundlage und mittels rationalen Schließens vorhersehbar gewesen wären. Das individuelle Wissensdefizit ist in diesem Fall selbstverschuldet und die Handelnden müssen die Verantwortung für die unvorhergesehenen Folgen übernehmen. Veranschaulicht sei dies am Beispiel eines Studenten, der unbedingt rechtzeitig in der Vorlesung sein will, aber sehr spät dran ist. Um sein Ziel trotzdem zu erreichen, rast er mit überhöhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet und erfasst dabei ein beim Ballspiel auf die Straße rennendes Kind. Der schreckliche Tod des Kindes war natürlich keineswegs Bestandteil seiner Absicht, sondern ist die unvorhergesehene Folge des schnellen Autofahrens auf dem direkten Weg durch das Wohnquartier als Mittel zur Zielerreichung. Der Student hätte aber wissen können und müssen, dass in diesem Wohngebiet mit spielenden Kindern zu rechnen ist und das Risiko eines Zusammenpralls bei rücksichtslosem Durchrasen daher groß ist. Da das Wissensdefizit nur ein individuelles und selbstverschuldetes ist, muss er die Verantwortung für die negativen Folgen übernehmen. Abgesehen vom Verstoß gegen die Verkehrsregeln aufgrund der in solchen Wohngegenden gewöhnlich aufgestellten Verkehrsschilder zur Tempobegrenzung auf 30-km/ h handelt es sich juristisch gesehen um eine „fahrlässige Tötung“, die allerdings milder beurteilt wird als ein schwerer wiegender vorsätzlicher Mord. Im Gegensatz dazu kann niemand verantwortlich gemacht werden für negative Handlungsfolgen, die aus einem „prinzipiellen Nichtwissen“ resultieren. Das prinzipielle Wissensdefizit ist anders als das „individuelle“ ein Defizit an Wissen, das zu diesem Zeitpunkt und in einer bestimmten Gemeinschaft überhaupt noch nicht zur Verfügung steht. So darf ein Arzt nicht für allfällige unvorhergesehene gravierende Nebenwirkungen individuelles Wissensdefizit prinzipielles Wissensdefizit 45316_Fenner_SL4b.indd 48 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="49"?> 49 V E r a n t w o r t u n g f ü r h a n d l u n g � f o l g E n eines Medikaments verantwortlich gemacht werden, die in keiner der vielen für die Zulassung des Medikaments vorgeschriebenen Testreihen und klinischen Studien auftraten. In einem arbeitsteiligen und hochspezialisierten Medizinsystem muss sich der behandelnde Arzt auf die zu seiner Zeit geltenden Verfahren zur Medikamentenprüfung verlassen können, die den neuesten Forschungsstand widerspiegeln. Wenn z. B. wie im Fall des als unbedenklich eingestuften Schlafmittels „Contergan“ unerwarteterweise schwere Schäden an den Embryonen schwangerer Frauen auftreten, liegt die Verantwortung nicht bei den das Rezept verschreibenden Ärzten, sondern bei den Herstellern und Prüfern der Medikamente. Insbesondere bei der Entwicklung neuer Technologien ist jedoch in aller Regel das prinzipielle Nichtwissen sehr groß, weil langfristige Folgen technischer Neuerungen für Gesellschaft und Umwelt schwer prognostizierbar sind. Es werden dann Institute zur Technikfolgen-Abschätzung und Ethik-Kommissionen damit beauftragt, die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens und das Ausmaß des zu erwartenden Schadens zu bestimmen (vgl. Fenner 2010, 243 f.). Da Fernprognosen gerade bei Eingriffen in das komplexe Ökosystem prinzipiell unsicher sind, plädiert Hans Jonas in seinem ethischen Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung (1979) für eine „Heuristik der Furcht“ (392): Wo irreversible negative Spätfolgen nicht sicher ausgeschlossen werden können, sollte nicht gehandelt werden. Tut man es trotzdem, handelt man unverantwortlich. Die Diskussion der verschiedenen Beispiele hat somit ergeben, dass das Handlungssubjekt zumindest für alle vorausgesehenen und prinzipiell voraussehbaren Folgen verantwortlich ist und insbesondere bei technologischen Entwicklungen ein Handeln ohne ausreichende Kenntnisse über Spätfolgen unverantwortlich wäre. 45316_Fenner_SL4b.indd 49 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="50"?> 50 h a n d l u n g � t h E o r I E ethische Verantwortung für beabsichtigte Folgen: Handlungsziele nicht (direkt) beabsichtigte Folgen vorausgesehene, in Kauf genommene oder zugelassene Folgen (Mittel) z.B. Kapitän wirft Frachtgut über Bord nicht vorausgesehene Folgen prinzipiell voraussehbare Folgen (individuelles Wissensdefizit) z.B. Student rast durch Wohnquartier prinzipiell nicht voraussehbare Folgen (prinzipielles Wissensdefizit) z.B. Arzt verabreicht geprüftes Medikament Handeln, Unterlassen und Zulassen Anschauungsbeispiel a. Y sieht, wie ein Kind im See ertrinkt. Er geht tatenlos am Ufer weiter. b. Der Steuermann eines Schiffes spielt mit den anderen Besatzungsmitgliedern Karten. Er merkt nicht, dass ein Riff vor dem Schiff auftaucht, das es zum Kentern bringt. c. Z vergisst, die Herdplatte abzustellen und geht ins Kino. Das Haus brennt nieder und fünf Nachbarn kommen ums Leben. d. Bei einer todkranken Patientin mit infauster Prognose verzichten die Ärzte auf deren Wunsch hin auf lebensverlängernde Maßnahmen. Drei Tage später stirbt die Patientin. Handlungsfolgen 2 .3 45316_Fenner_SL4b.indd 50 05.03.2020 12: 20: 19 <?page no="51"?> 51 h a n d E l n , u n t E r l a � � E n u n d Z u l a � � E n Liegen in den Beispielen a-d überhaupt Handlungen vor oder geht es vielmehr um das Nichthandeln der geschilderten Personen? In Kapitel 2.1 wurden Handlungen im engeren Sinn definiert als absichtliche und zielgerichtete Tätigkeiten, um bestimmte gewünschte Veränderungen in der Welt vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund würden zwar alle Personen in einer bestimmten Hinsicht handeln, in einer anderen aber eben nicht: Indem sie eine bestimmte Handlung wählen und ein gewünschtes Ziel verfolgen, tun sie etwas anderes nicht, das sie auch hätten tun können. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird allerdings bisweilen auch das Unterlassen einer Handlung als Handlung interpretiert, etwa wenn die Folgen des Unterlassens sehr gravierend sind oder eine Absichtlichkeit sozusagen als „inneres Handeln“ unterstellt wird (vgl. Birnbacher 1995, 24 f.). So würde man sagen, dass Z in Beispiel c), der die Herdplatte abzustellen vergaß, damit das Haus in Brand gesetzt hat. Oder der Steuermann in b) habe das Schiff zum Kentern gebracht, indem er das Steuer verließ. Diese Beschreibungen scheinen aber nicht korrekt zu sein. Denn es liegt in keiner Weise eine bewusste Tätigkeit vor, bei der die Absicht oder Intention des Handlungssubjekts die mentale Ursache der Veränderung bildet und eine intentionale Kausalität in Gang setzt (vgl. Kap. 2.1). Weder hat Z in c) das Haus in Brand setzen wollen und zu diesem Zweck den Herd brennen lassen, noch hat der Steuermann auf das Kentern des Schiffes abgezielt, als er mit seinen Kumpels Karten spielte. Bei a) und d) wären wir wahrscheinlich vorsichtiger und würden formulieren: Y in a) hat das Kind ertrinken lassen, aber nicht ertränkt, und die Ärzte in d) haben die todkranke Patientin sterben lassen, aber nicht getötet. Sie hätten also nichts getan, sondern nur etwas zugelassen. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch gibt es große Unsicherheiten bezüglich der begrifflichen Unterscheidung zwischen Handeln, Unterlassen und Zulassen, sodass er nicht als Maßstab dienen kann. Auch in philosophischen Diskussionen werden unter „Handlung“ manchmal sowohl ein aktives „Tun“ als auch ein „Nicht- Tun“ oder doch bestimmte Formen eines passiven „Unterlassens“ zusammengefasst (vgl. Ricken, 119/ Horn 2019, 75). Diese Zuordnung des Unterlassens als „Verhalten“ oder „Handeln im weiten Sinn“ zum „Handeln im engen Sinn“ wird aber häufig von vornherein mit Blick auf die ethische Bewertung, d. h. Handeln vs. Unterlassen Unterlassen ethisch relevante Fälle 45316_Fenner_SL4b.indd 51 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="52"?> 52 h a n d l u n g � t h E o r I E in einem normativen Kontext vorgenommen (vgl. Birnbacher 1995, 30 f.). Handlungstheoretisch und rein deskriptiv gesehen wären jedoch „Handeln“ und „Unterlassen“ zunächst einmal als Kontrastbegriffe zu bestimmen, sodass sich die beiden Formen des Verhaltens wechselseitig ausschließen: Unterlassen ist die Nichtausführung einer Handlung, bei der die Möglichkeit bestanden hätte, dass das Handlungssubjekt sie vollzieht (vgl. ebd., 32; 38). Nach dieser Definition ist nicht jedes faktische Nichtstun automatisch ein Unterlassen. In Beispiel a) etwa wäre die Möglichkeitsbedingung nicht erfüllt, wenn Y Nichtschwimmer ist oder die gegebenen Wasserverhältnisse eine Rettung durch Menschenhand verunmöglichen. Y hätte dann nichts unterlassen, was er auch hätte tun können, weil er es eben gar nicht tun konnte. Aus einer ethischen Perspektive betrachtet sind nun aber bei Weitem nicht alle Arten des so definierten Unterlassens von Belang. Wenn ich nachmittags ins Kino gehe und es unterlasse, den angefangenen Roman zuhause fertig zu lesen, ist dies weder unter prudentiellen noch moralischen Gesichtspunkten relevant. In den oben aufgelisteten Fallbeispielen a), b) und c) hat das Unterlassen des Handlungssubjekts aber erstens schwerwiegende negative Folgen. Zweitens hat das Subjekt jeweils etwas unterlassen, das man hinsichtlich allgemein anerkannter Regeln oder Bewertungsmaßstäbe von ihm erwartet oder gefordert hat oder zu dem es sich selbst durch die Übernahme von bestimmten Aufgaben und Rollen verpflichtet hat. Ethisch zur Diskussion steht nur ein Unterlassen, das erstens eine signifikante Schädigung entweder des Handelnden selbst oder der vom Handeln Betroffenen zur Folge hat und zweitens gegen ethische Normen oder Prinzipien verstößt bzw. persönliche eingegangene Verpflichtungen oder fremde Rechte verletzt. Da es in diesem Buch vorwiegend um sozialethische oder moralische Fragen geht, hat das Unterlassen in den ausgewählten Beispielen durchweg negative Folgen für andere Menschen. Ist nun aber ein Unterlassen bei gleich gravierenden Fremdschäden im selben Maß moralisch verwerflich wie ein Handeln? Ethisch gesehen müssen je nach Handlungssituation Schweregrade bei der Beurteilung eines Unterlassens unterschieden werden. Am nachsichtigsten zu bewerten sind Fälle, in denen das Handlungssubjekt die Handlungsoption mit den unerwünschten Folgen weder willentlich noch wissentlich gewählt hat: Entwe- Unterlassen ethisch relevante Fälle 45316_Fenner_SL4b.indd 52 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="53"?> 53 h a n d E l n , u n t E r l a � � E n u n d Z u l a � � E n der hat es die Situation völlig falsch eingeschätzt und daher die negativen Folgen des Nichthandelns nicht voraussehen können oder es hat die nicht ergriffenen offenstehenden Handlungsmöglichkeiten zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gesehen. Wenn Z in Beispiel c) ohne es zu bemerken die Herdplatte brennen lässt, scheint man dieses Vergessen trotz der verheerenden Folgen entschuldigen zu müssen. Denn die Person hat den Tod der Nachbarn natürlich in keiner Weise vorhergesehen und hat ihn mit Sicherheit auch keineswegs gewollt. Zu ihrer Entschuldigung könnte man anführen, dass eine solche kleine Unachtsamkeit jedem einmal passieren kann und wohl auch jedem schon einmal passiert ist. Man hatte nur insofern Glück, als man selbst oder jemand anderes das Versäumnis durch Zufall rechtzeitig entdeckte oder dass das Feuer zu klein war, um einen Brand zu verursachen. Im Grunde kennt aber jeder diese potentielle Gefahr und die damit verbundenen Risiken und weiß auch, dass er deswegen nach dem Kochen unbedingt alle Herdplatten wieder ausschalten sollte. Vielleicht ist Z aber eine mit ihren vier Kindern völlig überlastete alleinerziehende Mutter, die an einem Freitagabend wie immer spät von der Arbeit nach Hause kommt, schnell noch für alle kocht und sich dann den lang ersehnten Kinobesuch gönnt. In dieser enormen Stresssituation haben weitgehend automatisierte technische Handbewegungen wie das Abschalten einer Platte als eine Art „Fertigkeit“ versagt (vgl. Kap. 2.1). Ein solches technisches Wissen in der Hektik nicht präsent zu haben ist sicher milder zu beurteilen als das Nicht-verfügbar- Haben moralischer Grundsätze. Schlechterdings inakzeptabel wäre hingegen die Ausrede von Y, er hätte beim Anblick des ertrinkenden Kindes aufgrund einer akuten Stresssituation gerade die ethische Hilfspflicht „vergessen“. Wenn vor den Augen von Y aus Beispiel a) ein Kind ertrinkt, könnte ihm jedoch eine Fehleinschätzung der Handlungssituation unterlaufen sein: Falls das Kind nicht um Hilfe schrie, sondern nur wild mit den Armen ruderte und kreischte, hielt er das Ganze möglicherweise für ein Spiel und sah sich deswegen zu keinerlei Rettungsmanövern veranlasst. Auch der Steuermann aus b) hätte mutmaßlich nicht mit seinen Kollegen Karten gespielt, wenn er auch nur mit einem geringen Risiko eines auftretenden Riffs gerechnet hätte. Zu prüfen wäre allerdings, ob es sich bei seiner Ahnungslosigkeit bezüglich des Vorkommens von negative Folgen des Unterlassens nicht vorausgesehen Fehleinschätzung der Situation erschwerend: Garantenstellung 45316_Fenner_SL4b.indd 53 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="54"?> 54 h a n d l u n g � t h E o r I E Klippen um ein individuelles oder prinzipielles Wissensdefizit handelt. Hat er es aus Faulheit versäumt, sich über die Meeresverhältnisse der Route ausreichend zu informieren, ist er für dieses individuelle Nichtwissen im Unterschied zu einem prinzipiellen Wissensdefizit verantwortlich (vgl. Kap. 2.2). Ähnlich gilt es in Beispiel a) zu differenzieren: Sofern Y ein zufälliger Passant ist und in keiner Weise Umgang mit Kindern pflegt, mag man ihm seine Fehldeutung anders als die Desinformiertheit des Steuermanns entschuldigen. Falls es sich hingegen um einen Elternteil oder eine Betreuungsperson des Kindes handelte, hätte er aber natürlich über die Information verfügen müssen, dass das Kind nicht schwimmen kann. Relevant für die ethische Beurteilung des Unterlassens ist außerdem, ob die Betroffenen bestimmte Aufgaben und Pflichten vernachlässigt haben. In den Rechtswissenschaften gelten die Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern, des Arztes zu seinen Patienten sowie der direkt Verwandten zu den mit ihnen in einer Lebensgemeinschaft Lebenden als typische Garantenstellungen, bei denen der „Garant“ in einer besonderen Verantwortungsbeziehung zu den Anvertrauten steht (vgl. Birnbacher 1995, 15): Genauso wie der Vater für das Wohl des Kindes zu sorgen hat, ist der Steuermann für das sichere Lenken des Schiffes zuständig. Unzureichende Kenntnisse über die Handlungssituation, mangelnde Sorgfalt und Nachlässigkeiten sind in solchen besonderen sozialen Beziehungen ethisch und juristisch als schwerwiegender einzustufen. Spezialfall Zulassen In den bisher diskutierten Beispielen haben die Handlungssubjekte etwas unwillentlich und unwissentlich unterlassen: Sie haben die Handlungsalternative entweder gar nicht erkannt oder die Handlungsumstände und Folgen des Unterlassens völlig falsch eingeschätzt. Ethisch viel verwerflicher ist ein Unterlassen aber dann, wenn jemand die Situation adäquat beurteilt und die drohenden negativen Konsequenzen für andere Menschen (1) oder das in dieser Situation ethisch Gebotene (2) klar vor Augen hat. Das Unterlassen geschieht also ganz bewusst und sowohl wissentlich als auch willentlich. Man kann diese Sonderform des Unterlassens sinnigerweise als „Geschehenlassen“ oder Zulassen bezeichnen, auch wenn hierüber keine terminologische Eierschwerend: Garantenstellung Spezialfall: Zulassen 45316_Fenner_SL4b.indd 54 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="55"?> 55 h a n d E l n , u n t E r l a � � E n u n d Z u l a � � E n nigkeit herrscht (vgl. z. B. Ricken, 119/ Birnbacher 1995, 103 ff.). Fallbeispiel a) ist so offen formuliert, dass ein wissentliches und willentliches Ertrinkenlassen des Kindes nicht ausgeschlossen ist. Y könnte etwa die Absicht hegen, das Kind möge sterben, weil er möglicherweise für immer von seinem lästigen Schreien befreit sein möchte. Wenn aus welchen Gründen auch immer das Ertrinken des Kindes bewusst zugelassen wird, handelt es sich um einen auch strafrechtlich verfolgten Fall „unterlassener Hilfeleistung“ (vgl. Kap. 7.4). Wo es eine solche Intention und ein klares Ziel gibt, scheint zwar ein wesentliches Charakteristikum für ein Handeln vorzuliegen. Die betroffenen Personen sind jedoch nicht die mentale Ursache des Geschehens, weil sie ihr Ziel nicht mit der Wahl geeigneter Mittel selbsttätig verfolgen. Da also eine intentionale Kausalität fehlt, liegt keine Handlung im engeren Sinne vor (vgl. Kap. 2.1). Verursacht wird der Vorgang des Ertrinkens vielmehr durch physikalische Ursachen wie Wassertiefe, Schwerkraft und ungenügende Wasserverdrängung des Kindes, also durch eine Ereigniskausalität. Es läuft ein von Y unabhängiger Prozess ab, den er nicht verhindert, weil die absehbaren Folgen dieser Kausalkette zufällig mit seiner eigenen Intention oder Absicht übereinstimmen. Beim ethisch strenger zu beurteilenden Spezialfall des „Zulassens“ muss also der Unterlassende die Situation adäquat erfassen und die Folgen richtig abschätzen, zu denen der von ihm unabhängig ablaufende Kausalprozess ohne sein Eingreifen führt. Unterlassen (weiterer Begriff): Jemand tut etwas nicht, das er auch hätte tun können (sei dies wissentlich oder unwissentlich, willentlich oder unwillentlich). • ethisch relevante Fälle: 1) Unterlassen hat negative Folgen für Person selbst oder für andere Betroffene 2) man unterlässt etwas, wozu man sich verpflichtet hat oder was man tun sollte (technische/ prudentielle/ moralische Regeln) Spezialfall Zulassen (engerer Begriff): Jemand tut etwas ganz bewusst nicht, obwohl er die Situation und die Folgen seines Unterlassens adäquat erfasst und den unabhängig von ihm ablaufenden Kausalprozess stoppen könnte. • ethisch relevante Fälle: dieselben wie oben beim Unterlassen sind ethisch relevant, aber viel schärfer zu verurteilen Definitionen 45316_Fenner_SL4b.indd 55 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="56"?> 56 h a n d l u n g � t h E o r I E Anschauungsbeispiele: Unterlassen (Zulassen) Unterlassen: b) Steuermann verlässt Steuer, Schiff kentert • unwillentlich und unwissentlich • weder gefährliche Klippe noch Untergang des Schiffes vorausgesehen d) Z vergisst das Abstellen der Herdplatte, Haus brennt ab und reißt Nachbarn in Tod • unwillentlich und unwissentlich • Vergessen des Plattenabstellens nicht bemerkt, Brand und Tod nicht vorausgesehen. Spezialfälle Zulassen: c) Y sieht ein Kind ertrinken und geht tatenlos vorüber • Prozess des Ertrinkens nicht selbst initiiert, hat aber Möglichkeit, ihn zu verhindern • Folge des Ertrinkens (Tod des Kindes) wird bejaht e) Ärzte stellen Sterbensprozess fest, verzichten aber auf lebensverlängernde Maßnahmen • Prozess des Sterbens nicht selbst initiiert, haben aber Möglichkeit, ihn zu verhindern • Folge des Sterbens (Tod der Patientin) wird bejaht Nicht ganz einfach zu beantworten ist die Frage, ob jemand überhaupt für die unabhängig von seinem Zutun ablaufenden kausalen Vorgänge verantwortlich gemacht werden kann. Wenn Y als zufälliger Passant das ertrinkende Kind erblickt und untätig bleibt, hat er dann überhaupt einen kausal relevanten Einfluss auf das Geschehen? Wäre das Kind nicht genauso ertrunken, wenn er nicht zufällig vorbeigekommen wäre? Bisweilen wird das Unterlassen als Kausalfaktor betrachtet, der als Komponente in einem Gesamtkomplex zu den verheerenden Folgen führt (vgl. Birnbacher 1995, 76 f.). Nach Birnbacher handelt es sich um eine „negative Randbedingung“ neben anderen Bedingungen wie dem (unfreiwilligen) Ins-Wasser-Fallen des Kindes, der Schwerkraft und der Wassertiefe. Denn grundsätzlich können nicht nur Wirkursachen, sondern auch Zustände oder ein Unterlassen kausale Ursachen sein. Hätten nur diese anderen Komponenten vorgelegen, nicht aber das Zulassen von Y, wäre das Kind nicht ertrunken. Y trüge somit eine negative kausale Verantwortung für das Ertrinken des Kindes (vgl. Kap. 2.3). Auch wenn diese Kausaltheorie streitbar ist und man diese Deutung ablehnt, trägt Y doch klarerweise eine positive normative mora- 45316_Fenner_SL4b.indd 56 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="57"?> 57 h a n d E l n , u n t E r l a � � E n u n d Z u l a � � E n lische Verantwortung für die bewusst zugelassenen Folgen. Da sein Unterlassen negative Konsequenzen für seine Mitmenschen hat, muss er es nämlich vor anderen rechtfertigen und verantworten können. Er müsste gute Gründe angeben können, wieso er die elementare Pflicht zur gegenseitigen Hilfeleistung in Not am Seeufer missachtet hat (vgl. Kap. 7.4). Wenn aus ethischer Sicht im Fall des ertrinkenden Kindes als Paradebeispiel für ein „Zulassen“ eine ethisch verwerfliche und auch strafrechtlich verfolgte „unterlassene Hilfeleistung“ vorliegt, stellen sich außerdem die Fragen: Ist die normative Verantwortung für die gleichen negativen Folgen beim Zulassen gleich groß wie beim aktiven Tun? Ist es gleich verwerflich, das Ertrinken des Kindes passiv zuzulassen wie das Kind aktiv zu töten? Nicht generell, aber unter bestimmten Umständen wie z. B. in einem Sorgfaltspflichtverhältnis wie bei der oben beschriebenen Garantenstellung ist das passive Nicht-Tun tatsächlich gleich zu verurteilen wie das aktive Tun: Wenn Y in Beispiel a) ein „Garant“ des ertrinkenden Kindes ist, wird das Zulassen vor Gericht nicht als milder bewertete „unterlassene Hilfeleistung“, sondern als „vorsätzliches Tötungsdelikt“ betrachtet und daher gleich bestraft wie das aktive Töten. Im Allgemeinen wird jedoch die Verantwortung für etwas, das man selbst herbeigeführt hat, als größer wahrgenommen als für die gleichen negativen Folgen, die man nur zugelassen hat. In den Verhaltenswissenschaften spricht man bei diesem Phänomen einer unterschiedlichen Wahrnehmung, Beurteilung und Sanktionierung des Unterlassens vom „Unterlassungseffekt“ (engl. „omission bias“). Obwohl nicht schon die unterschiedliche innere Struktur der beiden Typen von Verhalten als solche moralisch relevant ist, gibt es aber durchaus moralisch relevante Unterscheidungsmerkmale und rationale Gründe für die unterschiedliche ethische Bewertung (vgl. Birnbacher 1995, 127-212): So ist beim Unterlassen der Schadenseintritt unsicherer, die Absicht der Personen ist weniger klar und nicht von außen feststellbar wie bei einer kausalen Wirkung, und von Dritten wird die aktive Schadenszufügung als viel bedrohlicher erlebt. Auch könnte bei einer Gleichbewertung des Zulassens die individuelle Verantwortung entgrenzt werden und zu einer moralischen Überforderung führen, weil jeder ständig viele Übel auf der Welt wie z. B. Menschenrechtsverletzungen zulässt. Ähnlich wie bei der generellen Hilfspflicht wären also normative Verantwortung 45316_Fenner_SL4b.indd 57 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="58"?> 58 h a n d l u n g � t h E o r I E Grenzen des persönlichen Verantwortungsbereichs zu definieren (vgl. Kap. 7.4). Es ist aber ethisch problematisch, ohne Prüfung des Einzelfalls von vornherein von einer ungleichen Bewertung des passiven Zulassens als akzeptabel und des aktiven Handelns als inakzeptabel auszugehen. Dies gilt z. B. für die ethisch und juristisch faktisch ganz anders beurteilte „passive“ und „aktive Sterbehilfe“, die in Anschauungsbeispiel d) angesprochen wird. Die Ärzte leisten in diesem konkreten Fall passive Sterbehilfe, indem sie auf den Wunsch einer unheilbar kranken und sterbenden Person hin auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten und damit den unabhängig von ihrem Tun eingesetzten „natürlichen“ Sterbeprozess zulassen. Eine solche passive Sterbehilfe ist also eindeutig eine Form von Zulassen. Das Nichtstun der Ärzte stellt gleichsam eine negative Randbedingung dar, die erfüllt sein muss, damit die todkranke Person gemäß ihrem Wunsch sterben kann. Bei der direkten aktiven Sterbehilfe jedoch verabreichen die Ärzte den sterbewilligen Patienten tödliche Medikamente, um unmittelbar einen raschen Tod herbeizuführen und damit ihr Leid zu beenden. Hier liegt also eine Handlung im engen Sinn vor, weil die Ärzte die mentale Ursache des eintretenden Todes sind. Praktisch bedeutsam wäre diese Form der aktiven Sterbehilfe für Patienten, die (noch) keine lebensbedrohlichen Krankheitssymptome haben, aber ihre schweren physischen oder psychischen Beeinträchtigungen und ihr großes Leid subjektiv als unerträglich empfinden. Nach geltendem Recht ist in Europa lediglich die passive Sterbehilfe erlaubt, wohingegen die aktive Sterbehilfe bis auf die Ausnahme von Holland verboten ist. Wenn die aktive Sterbehilfe wie in den Niederlanden eingeschränkt wird auf medizinisch ausweglose Fälle eines schweren und mit hoher Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren Leidenszustandes und eines wiederholt geäußerten wohlerwogenen Todesentschlusses der Patienten, scheint die handlungstheoretische Differenzierung jedoch vernachlässigbar zu sein: Ob der von den Betroffenen gewünschte und sie von ihrem Leid befreiende Tod nur zugelassen oder unabhängig von einem bereits in Gang gekommenen Sterbeprozess aktiv herbeigeführt wird, scheint kein ethisch relevanter Unterschied zu sein (vgl. Birnbacher 1995, 348 ff. / Rachels, 260 f.). Sofern nicht eine normativ aufgeladene „Natur“ oder ein dahinterstehender Gott für die Bevorzugung aktive vs. passive Sterbehilfe 45316_Fenner_SL4b.indd 58 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="59"?> 59 h a n d E l n , u n t E r l a � � E n u n d Z u l a � � E n eines „natürlichen Todes“ angenommen werden, hängt die normative Richtigkeit ihrer Entscheidung in beiden Fällen von den geltend gemachten Gründen und Kriterien ab. Neben diesen sich auf die unterschiedliche Struktur von Handlungen und Unterlassungen beziehenden Argumenten gegen aktive Sterbehilfe gibt es jedoch noch viele andere wie z. B. dasjenige erhöhter Missbrauchsgefahr oder Dammbruchargumente, die zu prüfen und gegenüber Alternativen wie Suizidbeihilfe abzuwägen wären (vgl. Fenner 2010, Kap. 2.2). Anschauungsbeispiel: Sterbehilfe aktive Sterbehilfe: Handeln passive Sterbehilfe: Zulassen Ärzte sind mentale Ursache des Geschehens Ärzte sind nicht mentale Ursache des Geschehens intentionale Kausalität Ereigniskausalität (natürlicher Sterbensprozess) direkte aktive: Verabreichen todbringender Mittel zur Herbeiführung eines raschen Todes indirekte aktive: Verabreichen starker Schmerzmittel, die zum Tod führen können negative kausale Verantwortung: Nichteingreifen der Ärzte ist notwendige Randbedingung für Tod der Patientin große normative Verantwortung normative Verantwortung gleich groß Übungsaufgaben 1. Welches ist der Unterschied zwischen „Handlung“ im engen Sinn und „Verhalten“ (Handeln im weiten Sinn)? Können Sie typische Beispiele dafür nennen? 2. Für welche Folgen seines Handelns ist das Handlungssubjekt ethisch verantwortlich? 3. Welches sind die Unterscheidungskriterien zwischen Handeln, Unterlassen und Zulassen? aktive/ passive Sterbehilfe 45316_Fenner_SL4b.indd 59 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="60"?> 60 h a n d l u n g � t h E o r I E Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, 2. Auflage, München 1995, 3. und 7. Buch. Birnbacher, Dieter: Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979. Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik, 5. überarb. Auflage, Stuttgart 2017, Kap. C. 45316_Fenner_SL4b.indd 60 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="61"?> 61 Argumentationstheorie Inhalt 3.1 Was ist ein (gutes) Argument? 3.2 Schwache Argumente und Argumentationsfehler 3.3 Argumentationsschritte: Schema zur Entscheidungsfindung Zusammenfassung Da die Ethik eine spezifische Art und Weise des Argumentierens darstellt und das Ziel dieses Buches das Einüben in das ethische Argumentieren ist, widmet sich das dritte Kapitel der Argumentationstheorie. Es wird die grundlegende Struktur von Argumenten anhand verschiedener Argumentationsschemata analysiert und das Auge für formal gültige und ungültige, starke und schwache Argumente und Argumentationsfehler geschult, um die Stichhaltigkeit von Argumenten und Begründungsformen erkennen und effektheischende Rhetorik durchschauen zu können (3.1 und 3.2). Schließlich wird ein Modell mit verschiedenen Argumentationsschritten vorgestellt, das die ethische Entscheidungsfindung zielführend anleiten kann (3.3). 3 45316_Fenner_SL4b.indd 61 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="62"?> 62 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E Anschauungsbeispiel „Michael: Dirk, du bist doch Philosoph. Was hältst du eigentlich vom Schwangerschaftsabbruch? Ist Abtreibung ‚unethisch‘? Dirk: Nun, das ist in der Philosophie nicht ganz unumstritten. Peter Singers Position ist so-und-so. Demgegenüber hat man von einer kantianischen Position aus den-und-den Gründen das-und-das eingewandt, und Richard Hare hat diesesund-jenes entgegnet. Michael: Ach Dirk, ich wollte nicht von dir hören, wie es Philosoph X, Y, Z oder sonst wer sieht, sondern wie du es siehst. Ist das denn wirklich zuviel verlangt? “ (Link/ Schubert, 6) Wie in Kapitel 1.1 deutlich wurde, ist es nicht die Aufgabe der philosophischen Ethik, konkrete, direkte Handlungsanweisungen etwa in der soeben angesprochenen Abtreibungsfrage zu geben. Gerade für den praktischen Bereich gilt vielmehr Kants Äußerung, dass man „Philosophie“ als solche nicht lehren oder lernen kann, sondern nur das „Philosophieren“ (vgl. Kant 1982, A/ B 26). Denn die Philosophie bzw. die Ethik existiert gar nicht als ein fertiges, unangefochtenes Lehrgebäude, sodass sich ihre Lehrsätze in einem verbindlichen Lehrbuch präsentieren ließen. Obwohl sich im Laufe des philosophischen Forschungsprozesses die eine oder andere historische Position als unhaltbar oder überlegener als andere erwiesen hat, bildete sich bei kaum einer Frage ein abschließender Konsens heraus. Es geht daher in der philosophischen Ethik weniger darum, einen bestimmten Normenkodex zu lernen und etwa in der Abtreibungsfrage einen autoritären Standpunkt zu vertreten, als sich einzuüben ins ethische Argumentieren und Begründen (vgl. Link/ Schubert, 6 f.). Eine philosophisch-wissenschaftliche Ethik ist im Wesentlichen eine Reflexionsdisziplin bzw. eine spezifische Art und Weise des Argumentierens (vgl. Ach u. a., 10). Dementsprechend beschränken sich viele Philosophen wie Dirk darauf, bezüglich einer bestimmten Frage einen systematischen Überblick über die wichtigsten, z.T. heterogenen Positionen und Argumente zu geben, ohne die eigene Meinung kundzutun. Zwar kann man die Ungeduld und den Ärger des philosophischen Laien Michael gut verstehen: Hat er doch seinen Bekannten Dirk nach einer Stellungnahme pro oder kontra Schwangerschaftsabbruch gefragt und nicht nach einem Vortrag über die Argumentationen verschiedener Philo- Ethik = Reflexionsdisziplin 45316_Fenner_SL4b.indd 62 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="63"?> 63 w a � I � t E I n ( g u t E � ) a r g u � E n t � sophen. Anders als bei der subjektiven Geschmacksfrage, ob ihm Vanilleeis besser schmecke als Schokoladeneis, hat er aber von Dirk als ausgebildetem Philosophen vermutlich mehr erhofft als eine rein subjektive Meinungsäußerung und simple Ja-/ Nein- Antwort zur Abtreibungsproblematik. Mit seiner expliziten Ansprache „Du bist doch Philosoph“ scheint er sich vielmehr für eine rational nachvollziehbare, qualifizierte Argumentation für die von ihm vertretene Position zu interessieren, bei der die wichtigsten ethischen Argumente und Gegenargumente in der Abtreibungsdebatte berücksichtigt werden. Indem Dirk als Autorität ganz hinter die Darstellung der verschiedenen Argumentationsmöglichkeiten zurücktritt, gibt er seinem Gesprächspartner die Chance, selbständig zu denken und sich am Ende selbst ein begründetes ethisches Urteil zur fraglichen Problematik zu bilden. Was ist ein (gutes) Argument? Ein Argument ist eine Aussage oder eine Gruppe von Aussagen, mit denen der Geltungsanspruch einer Behauptung begründet wird. Im Gegensatz etwa zum „Fragen“ oder „Befehlen“ wird beim „Behaupten“ stets der Anspruch erhoben, dass das Gesagte zutrifft und wahr bzw. richtig ist. Mit deskriptiven Tatsachenaussagen wie „Im Moment scheint die Sonne“ ist der Anspruch auf Wahrheit verbunden, d. h. auf Übereinstimmung dieser Aussage mit dem objektiven Sachverhalt des Scheinens der Sonne. Im Bereich der Ethik erhebt man jedoch mit Behauptungen in Form normativer Aussagen wie „Du sollst dieser alten Dame helfen“ strenggenommen nicht den Anspruch auf Wahrheit, sondern auf normative Richtigkeit: Behauptet wird, es sei in der gegebenen Situation moralisch richtig oder geboten, der alten Dame zu helfen. Mit dem Aufstellen einer Behauptung übernimmt man zugleich die Pflicht, diese bei Nachfrage argumentativ zu verteidigen. Das Argument ist also etwas, was als Rechtfertigung oder Beweis für eine Meinung oder einen Standpunkt vorgebracht wird. Verkürzt ist es eine begründende Aussage oder ein Beweisgrund. Argumentieren heißt folglich, Gründe für oder gegen eine bestimmte Position anzugeben (vgl. Bleisch u. a. 2011, 131). Formal gesehen besteht jedes Argument aus zwei elemen- 3 .1 Argument Geltungsanspruch auf Wahrheit/ normative Richtigkeit Prämissen und Konklusion 45316_Fenner_SL4b.indd 63 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="64"?> 64 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E taren Bausteinen: 1. Konklusion, d. h. die Behauptung bzw. der Standpunkt, der begründet werden soll, und 2. Prämissen, d. h. die Aussagen, die diese Konklusion stützen oder rechtfertigen. Argument: Aussage oder Aussagegruppe zur Begründung eines Geltungsanspruchs. deskriptive Aussagen : Geltungsanspruch auf Wahrheit normative Aussagen : Geltungsanspruch auf normative Richtigkeit Elementare Bausteine eines Arguments: Konklusion Standpunkt, der zu begründen ist Prämissen Gründe, die den Standpunkt stützen  Toulmin-Schema In seiner einschlägigen Untersuchung zum Gebrauch von Argumenten hat Stephen Toulmin die verschiedenen Prämissen zueinander in Beziehung gesetzt und damit ein hilfreiches Modell entwickelt, um die Struktur von Argumenten zu analysieren und ihre formale Korrektheit zu beurteilen (vgl. Toulmin, 88-98). In seinem eigenen Beispiel stellt jemand die Behauptung oder Konklusion (K) auf: „Harry ist britischer Staatsbürger“. Es handelt sich dabei um eine empirisch-deskriptive Aussage über Tatsachen in der Welt. Sein Gesprächspartner fragt, wie er zu dieser Behauptung komme bzw. worauf er sich stütze: „Warum bist Du der Meinung, dass Harry britischer Staatsbürger ist? “. Erwartet werden zusätzliche Informationen oder Daten (D) wie etwa: „Harry wurde auf den Bermudas geboren“. Vielleicht ist der Gesprächspartner mit diesen Informationen aber noch nicht zufrieden und erkundigt sich: „Ja, wie kommst Du denn von dieser Tatsache auf deine Behauptung? “ oder kurz: „Wie gelangst Du dahin? “ Zu einem vollständigen Argument gehört daher noch eine Schlussregel (SR). Eine solche Schlussregel ist eine Regel oder ein Prin- Definition Konklusion Daten Schlussregel Grundstruktur eines Arguments 45316_Fenner_SL4b.indd 64 05.03.2020 12: 20: 20 <?page no="65"?> 65 w a � I � t E I n ( g u t E � ) a r g u � E n t � zip, das zeigt, dass der Schluss legitim ist. In unserem Fall müsste die „Immer wenn-dann-Schlussregel“ lauten: „Wer auf den Bermudas geboren ist, bekommt die britische Staatsbürgerschaft“. Möglicherweise hakt der skeptische Gesprächspartner ein weiteres Mal nach und will wissen, wieso diese Regel gültig sein soll. Man müsste dann versuchen, die Norm mit einer Stützung (S) zu begründen, beispielsweise mit dem Hinweis auf die jedermann zugänglichen britischen Gesetze, in denen sie verankert ist. Informationen, Daten (D) Wie kommst Du darauf? Behauptung, Konklusion (K) Prinzip, Schlussregel (SR) Wie gelangst Du dahin? Begründung, Stützung (S) Wieso soll das gelten? Anschauungsbeispiel zu deskriptiven Aussagen Harry wurde auf den Bermudas geboren (D) Harry hat die britische Staatsangehörigkeit (K) Wer auf den Bermudas geboren wird, erhält die britische Staatsangehörigkeit (SR) Die britischen Gesetze legen dies fest (S) Auch ein ethisches Argument lässt sich durchaus in dieser Form des Toulmin’schen Schemas zur Darstellung bringen. Die Behauptung oder Konklusion ist dann keine deskriptive Tatsachenaussage über die Wirklichkeit bzw. das „Sein“, sondern eine normative Aussage über das menschliche „Sollen“ wie z. B. ein Gebot oder Verbot als Aufforderung, wie man handeln oder nicht handeln soll. So könnte die Konklusion in einem einfachen Beispiel lauten: „Sie sollten in meiner Wohnung nicht rauchen! “ Auch bei einem solchen ethischen Argument sind relevante Informationen oder Daten (D) anzuführen wie beispielsweise: „Das Rauchen ge- Stützung Toulmin-Schema 45316_Fenner_SL4b.indd 65 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="66"?> 66 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E fährdet sowohl die Gesundheit der Raucher als auch der Passivraucher.“ Anders als bei deskriptiven Tatsachenaussagen muss aber die Schlussregel (SR) genauso wie die Konklusion normativ sein und ein allgemeines moralisches Prinzip bilden. In unserem Beispiel könnte dieses etwa lauten: „Man darf die Gesundheit von unfreiwilligen Passivrauchern nicht gefährden.“ Als Stützung (S) käme etwa die allgemeine Formulierung in Frage: „Man darf keinem unschuldigen Menschen Schaden zufügen.“ Zur weiteren Legitimierung oder Begründung könnten dann noch abstraktere Prinzipien oder Grundsätze geltend gemacht werden wie beispielsweise die „Goldene Regel“ oder Kants „Kategorischer Imperativ“ (vgl. Kap. 5.2.1/ Kap. 6.2). Toulmins Argumentationsschema schult das Auge für eine rationale, gut strukturierte Argumentation. Mit dem sogenannten Toulmin-Test oder kurz T-Test lässt sich prüfen, ob ein Argument vollständig und somit formal korrekt ist. Besteht ein Argument den Test nicht und fehlt beispielsweise ein elementarer Bestandteil, ist es kein gültiges und stichhaltiges Argument und damit kein „gutes“ Argument. Im Kapitel zum Naturalismus wird dieses Testverfahren anhand konkreter Argumente aus der moralischen Alltagspraxis durchgeführt (vgl. Kap. 5.1.1). Anschauungsbeispiel zu normativen Aussagen Rauchen gefährdet die Gesundheit von Rauchern und Passivrauchern (D) Sie sollten in meiner Wohnung nicht rauchen! (K) Man darf die Gesundheit von unfreiwilligen Passivrauchern nicht gefährden (SR) Man darf keinem unschuldigen Menschen Schaden zufügen (S) Praktischer Syllogismus Häufiger als das Toulmin-Schema kommt jedoch in der Ethik der praktische Syllogismus zur Anwendung, um die Struktur einer Argumentation zu zergliedern oder ein logisch schlüssiges Argument zu konstruieren. Die Syllogistik ist die von Aristoteles begründete Lehre vom richtigen Schließen. Ein Syllogismus ist ein formal Syllogismus Toulmin-Test 45316_Fenner_SL4b.indd 66 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="67"?> 67 w a � I � t E I n ( g u t E � ) a r g u � E n t � gültiger Schluss von zwei Prämissen auf eine Konklusion: Wenn beide Prämissen wahr sind, muss aus rein logischen Gründen auch die Konklusion wahr sein. Es handelt sich um einen logischen Beweis und damit um die stichhaltigste und stärkste Argumentationsform (vgl. Edmüller u. a. 2012, 46). Im Fall einer deskriptiven Aussage ist die 1. Prämisse eine allgemeine These bzw. eine Verallgemeinerung wie „Alle Menschen sind sterblich“. In der zweiten Prämisse „Sokrates ist ein Mensch“ wird ein Bezug hergestellt zu einem konkreten Einzelfall. Daraus folgt logisch zwingend die auf den Einzelfall bezogene Konklusion „Sokrates ist sterblich“. Vorausgesetzt ist allerdings die Wahrheit beider Prämissen, weil bei falschen Prämissen auch ein logisch korrekt aufgebautes Argument nicht zu einer richtigen Lösung führt. Bei der Beurteilung eines Arguments als „gut“ oder „schlecht“ sind also zwei Hinsichten zu unterscheiden: Ein Argument kann a) formal gültig bzw. ungültig sein und den Gesetzen der Logik entsprechen bzw. widersprechen und b) inhaltlich korrekt bzw. falsch sein, weil die Aussagen der Prämissen der Wahrheit entsprechen bzw. widersprechen. Kritische Gesprächspartner können dann auf Fehler der formallogischen Art a) entgegnen: „Aber das folgt doch gar nicht aus dem, was Du eben gesagt hast! “; inhaltliche Fehler b) hingegen kommentieren mit: „Schon richtig, dass das folgt, wenn Du es so aufziehst - aber Du gehst eben vom Falschen aus! “ (Bleisch u. a. 2011, 135). Hinsichtlich der deskriptiven Konklusion „Sokrates ist sterblich“ lautet das Paradeexempel für einen Syllogismus: Syllogismus 1 Prämisse Alle Menschen sind sterblich. 2 Prämisse Sokrates ist ein Mensch. Konklusion Sokrates ist sterblich. Der praktische Syllogismus ist eine Sonderform des Syllogismus, bei der die 1. Prämisse und die Konklusion normative Aussagen sind. In der ersten normativen oder „präskriptiven“ („vorschreibenden“) Prämisse steht ein allgemeines Gebot oder moralisches Prinzip und übernimmt die Funktion der Schlussregel (SR). Beispiele wären: „Not leidenden Menschen soll man helfen! “ oder „Schädige nicht die Gesundheit anderer Menschen! “. Demgegenügutes Argument formal gültig inhaltlich korrekt Beispiel für einen Syllogismus praktischer Syllogismus 45316_Fenner_SL4b.indd 67 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="68"?> 68 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E ber ist die 2. Prämisse beschreibend und stellt den Bezug zur konkreten Handlungssituation her: „Dieser Mensch ist in Not“ bzw. „Rauchen gefährdet die Gesundheit von Rauchern und Passivrauchern“. Daraus folgt ein singuläres Gebot, das in einer konkreten Situation zu einem bestimmten Handeln auffordert wie z.B.: „Du sollst dieser Dame helfen! “ oder „Sie sollten in diesem Raum nicht rauchen! “. Je nach Kombination der verschiedenen Aussageformen in den Prämissen und der Konklusion gibt es aber auch Fehlschlüsse, die den Gesetzen der Logik widersprechen. Die formale Gültigkeit dieser Argumente hängt davon ab, ob die einzelnen Aussagen bejahend oder verneinend und allgemein („alle-…“) oder partikulär („einige-…“) sind. Es gibt insgesamt 256 verschiedene „Modi“ oder Arten, je nach Aussageform, Anordnung der Begriffe in den Prämissen und ihren Kombinationsmöglichkeiten. Aristoteles hat als erster den Versuch unternommen, die insgesamt 24 logisch gültigen Schlussformen aufzufinden und zu systematisieren. Eine der bekanntesten und in den obigen Beispielen von Sokrates und den Notleidenden verwendete Schlussfiguren ist der „Modus barbara“, bei dem sowohl die beiden Prämissen als auch die Konklusion allgemein gültig und bejahend sind und durch die drei „a“ für lateinisch „affirmare“ (=-„bejahen“) in „Barbara“ symbolisiert werden. Praktischer Syllogismus 1 präskriptive Prämisse allgemeines Gebot (SR): Notleidenden soll man helfen. Die Gesundheit unschuldiger Menschen darf nicht gefährdet werden. 2 deskriptive Prämisse Tatsachenaussage (D): Dieser Mensch ist in Not. Rauchen gefährdet die Gesundheit von Rauchern und Passivrauchern. Konklusion singuläres Gebot (K): Du sollst diesem Menschen helfen. Sie sollten in diesem öffentlichen Raum nicht rauchen. Bei Syllogismen handelt es sich um deduktive Argumente, weil im Gegensatz zum induktiven Aufsteigen von konkreten Einzel- Praktischer Syllogismus induktive/ deduktive Argumente 45316_Fenner_SL4b.indd 68 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="69"?> 69 w a � I � t E I n ( g u t E � ) a r g u � E n t � fällen zu allgemeinen Prinzipien umgekehrt aus allgemeinen Aussagen über die Welt oder allgemeingültigen moralischen Prinzipien durch logisches Schließen konkretere Aussagen abgeleitet oder „deduziert“ werden. Als Nachteil praktischer Syllogismen und deduktiver Argumente allgemein gilt, dass die Konklusion keine neuen, in den Prämissen nicht schon enthaltenen Informationen liefern (vgl. Bleisch u. a. 2011, 133/ Edmüller u. a. 2012, 46). In komplexen Entscheidungssituationen kann es aber durchaus vorkommen, dass die in den Prämissen enthaltenen Informationen zuvor gar nicht oder doch nicht in dieser Klarheit erkannt wurden. Im Vergleich zum Toulmin-Schema fällt zudem auf, dass die Stützung (S) der Schlussregel ausgespart bleibt. Dies irritiert vor allem deswegen, weil die meisten ethischen Kontroversen sich an bestimmten geltenden Normen oder Prinzipien entzünden. Es ist wie gesehen die Hauptaufgabe der philosophischen Ethik, die in Alltagsgesprächen oft wie selbstverständlich vorausgesetzten normativen Prämissen kritisch zu hinterfragen (vgl. Kap. 1.2). Sie prüft, ob der bislang unangefochtene Geltungsanspruch solcher regulierenden Normen rational begründet werden kann: „Warum soll man überhaupt Notleidenden helfen? “ oder „Warum darf man die Gesundheit anderer nicht gefährden? “. Häufig ist in der Praxis alltäglicher ethischer Diskussionen allerdings nicht nur die präskriptive Prämisse bzw. die Stützung der Schlussregel strittig, sondern oft bereits die Beschreibung und Interpretation der konkreten Handlungssituation, also die deskriptive Prämisse: Welche Daten und Informationen (D) sind für die Wahl der Handlung überhaupt relevant? Wann kann man beispielsweise von einem Menschen sagen, er sei in Not? Oder wie „schädlich“ ist Passivrauchen unter verschiedenen Umständen wirklich? Wenn-Dann-Argumente Bei deduktiven Argumenten besteht die 1. Prämisse häufig aus einer Wenn-Dann-Aussage, die eine logische, definitorische oder kausale Beziehung zum Ausdruck bringt oder eine Regel beschreibt (vgl. Edmüller u. a. 2000, 43). Ein ganz einfaches Beispiel für ein kausales Ursache-Wirkungs-Verhältnis wäre die Aussage: „Wenn es regnet, ist die Straße nass“. Ähnlich wie bei den Syllogismen ergeben sich logisch gültige Schlüsse oder aber Fehlschlüsse, je nachdem ob in der 2. Prämisse der Wenn-Teil bzw. Bedingungsteil („Antecedens“) Kritik Wenn-Dann- Argumente 45316_Fenner_SL4b.indd 69 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="70"?> 70 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E oder Dann-Teil bzw. Konsequenz-Teil („Konsequens“) entweder bejaht oder verneint wird. Anders als in der Syllogistik gibt es hier für die zweite Prämisse nur genau vier Möglichkeiten, weil entweder der Bedingungsteil bejaht oder verneint oder der Konsequenz-Teil bejaht oder verneint werden kann. In unserem Beispiel wäre das „Es regnet“ oder „regnet nicht“ bezüglich des Bedingungsteils und „Die Straße ist nass“ oder „Die Straße ist nicht nass“ bezüglich des Konsequenzenteils. Während ein „Ja“ zu den Bedingungen und ein „Nein“ zu den Konsequenzen in der 2. Prämisse zu logisch gültigen Argumenten führt, handelt es sich im Fall des „Nein“ zur Bedingung und „Ja“ zur Konsequenz um Fehlschlüsse. Der Grund für die Fehlschlüsse ist, dass hinreichende Bedingungen wie der Regen für nasse Straßen mit notwendigen Bedingungen verwechselt werden. Denn der Regen ist nur hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung für nasse Straßen, da diese alternativ etwa auch durch Straßenreinigungen oder das Gießen von Gärten nass werden können. Dies lässt sich anwenden auf das ethisch relevante Beispiel des italienischen Kapitäns Schettino des Passagierschiffs „Costa Concordia“, die 2012 mit über 4.000 Passagieren in der Nähe einer Insel durch einen Felsen leckte, sank und 32 Menschen in den Tod riss. Bei der ethischen Grundregel „Wenn ein Kapitän verantwortungsvoll handelt, verlässt er das Schiff als letzter“ ist wiederum das „Nein-zur- Konsequenz-Argument“ logisch gültig. Ersetzt man aber die 2. verneinende Prämisse „Kapitän Schettino hat das Schiff nicht als letzter verlassen“ durch die bejahende „Er hat das Schiff als letzter verlassen“ folgt daraus nicht die bejahende Konklusion „Kapitän Schettino hat verantwortungsvoll gehandelt“. Dies stellte vielmehr einen Fehlschluss dar, weil der Kapitän noch aus vielen anderen Gründen verantwortungslos gehandelt haben kann, wie z. B. im konkreten Fall durch das Auflaufenlassen des Schiffes auf eine Klippe. Form eines Wenn-Dann-Arguments: Wenn A Bedingungsteil - dann B Konsequenzteil z.B.: Wenn es regnet, dann sind die Straßen nass. Logisch gültige Argumente: 1. Ja-zur-Bedingung-Argument Bedingung erfüllt (Ja zur Bedingung) → Konsequenz tritt ein z.B.: Es regnet → Die Straße ist nass gültige/ ungültige Argumente Wenn-Dann- Argumente 45316_Fenner_SL4b.indd 70 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="71"?> 71 � c h w a c h E a r g u � E n t E u n d a r g u � E n t a t I o n � f E h l E r 2. Nein-zur-Konsequenz-Argument: Konsequenz trifft nicht zu (Nein zur Konsequenz) → Bedingung ist nicht erfüllt z.B. Die Straße ist nicht nass → Es hat nicht geregnet Anschauungsbeispiel 1 Prämisse Wenn-Dann-Aussage : Wenn ein Kapitän verantwortungsvoll handelt, verlässt er das Schiff als letzter. 2 Prämisse Verneinung des Konsequenzteils : Kapitän Schettino der „Costa Concordia“ hat das Schiff nicht als letzer verlassen. Konklusion Schluss : Kapitän Schettino hat verantwortungslos gehandelt. Schwache Argumente und Argumentationsfehler Die Kenntnis schwacher Argumente und typischer Argumentationsfehler ist unabdingbar, um in ethischen Debatten die besten Argumente für die eigene Position finden und die Stichhaltigkeit aller von den Gesprächspartnern vorgebrachter Argumente richtig einschätzen zu können. Bei weichen oder schwachen Argumenten („low-power-Argumenten“) wird die Konklusion nicht wie bei starken Argumenten wie z. B. einem praktischen Syllogismus logisch zwingend gestützt, sondern nur in einem gewissen Grad (vgl. Bleisch u. a. 2011, 153/ Edmüller u. a. 2012, 94). Sie werden auch Plausibilitätsargumente genannt, weil sie die Konklusion nicht schlüssig begründen, sondern lediglich mehr oder weniger plausibel machen. In ethischen und v. a. politischen Debatten werden aber oft auch rhetorische Strategien angewandt, die gar keine stichhaltigen Argumente mehr darstellen oder als Fehlschlüsse enttarnt werden können (vgl. Herrmann u. a., Kap. 6). Während das Ziel ethischen Argumentierens die gemeinsame Suche nach den besten Argumenten zur Auffindung der von allen Gesprächsteilnehmern rational nachvollziehbaren, normativ richtigen Urteile und Entscheidungen ist, geht 3 .2 weiche/ schwache Argumente Plausibilitätsargumente Ethik vs. Rhetorik 45316_Fenner_SL4b.indd 71 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="72"?> 72 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E es in der Rhetorik als Lehre von der Redekunst um das Überzeugen mit sprachlich möglichst wirkungsvoll ausgestalteter Rede zur Durchsetzung der eigenen Positionen oder Interessen in einer wettbewerbsähnlichen Konkurrenzsituation der Redner. Typische rhetorische Mittel sind Schmeicheleien, das Erregen von Mitleid, Wut oder Angst bei den Zuhörern und das Einschwören durch Wiederholungen, wohingegen sich beim ethischen Argumentieren alle Beteiligten möglichst nüchtern, klar verständlich und informativ ausdrücken und Emotionen und persönliche Betroffenheit gerade vermeiden sollten. Die Schulung des Auges für die spezifischen Schwächen und kritisch zu prüfenden Gesichtspunkte der einzelnen Argumentationsformen fördert ein solches sachliches und zielführendes ethisches Argumentieren und hilft, effektheischende Rhetorik zu durchschauen. Dammbruch-Argument Dammbruch-Argument (slippery slope-Argument): Warnung vor einer Handlung als erstem Schritt, der unweigerlich zu einer moralischen Katastrophe führt Anschauungsbeispiel Im Fall der gesellschaftlichen Legitimierung der Suizidbeihilfe würde zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden und die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens in Frage gestellt. Dadurch gerieten alte und kranke Menschen zunehmend unter Druck und würden zum Suizid gedrängt. Von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Einwilligung ist es ein fließender Übergang. Mit dem Dammbruch-Argument wird vor bestimmten Handlungen oder Entscheidungen gewarnt, weil sie angeblich den ersten Schritt in einer verhängnisvollen Reihe von Zwischenschritten darstellen. Da diese zwangsläufig zu einem meist drastisch geschilderten schrecklichen Endzustand führen, müsse schon der erste Schritt unterlassen werden. Neben dem Bild eines Dämme niederreißenden Flusses („Dammbruch“-Argument) gibt es auch dasjenige einer schiefen Ebene („slippery slope“), auf der alles unauf haltsam nach unten fällt. Weitere sprechende Bezeich- Definition Synonyme: Slippery slope-/ Ketten-/ Lawinen-Argument 45316_Fenner_SL4b.indd 72 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="73"?> 73 � c h w a c h E a r g u � E n t E u n d a r g u � E n t a t I o n � f E h l E r nungen sind „Ketten-Argument“ oder „Lawinen-Argument“. In ethischer Hinsicht kommt dieser Argumentationstyp häufig zur Anwendung, wenn über die Einführung neuer wissenschaftlichtechnischer Verfahren wie etwa der Gentechnik oder auch über die Legalisierung umstrittener Praktiken wie des Konsums weicher Drogen diskutiert wird (vgl. Bleisch u. a. 2011, 140 f.). Die Bewertung dieser Argumente erfordert eine sorgfältige Analyse der Verknüpfung der einzelnen Glieder in der konstruierten Kette (vgl. Edmüller u. a. 2012, 172 f.): Mit welcher Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit folgt aus einem Schritt wirklich der jeweils nächste? Dabei besteht eine Schwierigkeit darin, dass Zukunftsprognosen prinzipiell unsicher sind. Zudem wäre zu prüfen, ob sich eine unkontrollierte Ausweitung nicht durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen verhindern lässt. Im obigen Beispiel zur Suizidbeihilfe sind viele Glieder nur schwach miteinander verzahnt. So bedeutet die Akzeptanz subjektiver Lebensqualitätsbewertungen durch die Sterbewilligen nicht notwendig eine Abwertung des Lebens anderer Menschen in ähnlichen Situationen oder gar die Infragestellung des Lebensschutzes und des Rechts auf Leben dieser Menschen. Zudem ließe sich eine unkontrollierte Ausweitung durch hohe Sicherheitsstandards und strenge Kontrollen von Sterbehilfeorganisationen verhindern, indem die Freiwilligkeit und Konstanz des individuellen Sterbewunsches eingehend geprüft und medizinische und psychiatrische Gutachten eingeholt werden. Besonders problematisch sind verkürzte Dammbruchargumente, bei denen lediglich die strittige Handlungsweise und das möglichst drastisch geschilderte Endergebnis genannt werden. Autoritäts-Argument Autoritäts-Argument: Begründung einer Behauptung durch Berufung auf Autoritäten Anschauungsbeispiel Abtreibungen sollten verboten werden, weil der Papst bzw. die katholische Kirche dagegen sind. Prüfung der Verknüpfungen Definition 45316_Fenner_SL4b.indd 73 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="74"?> 74 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E Auf den ersten Blick sind Autoritäts-Argumente gute und vernünftige Argumente, weil in unserer hochzivilisierten Gesellschaft niemand ohne Informationen und Ratschläge von Spezialisten und Experten wie Ärzten, IT-Fachleuten oder Anwälten auskommt. Allerdings müsste abgeklärt werden, ob die Autoritäten keine Betrüger sind und ob sie in der fraglichen Angelegenheit tatsächlich über die erforderlichen Erfahrungen und Fachkenntnisse verfügen. Zudem anerkennen nicht alle Menschen die gleichen Autoritäten, sodass z. B. die Meinung des Papstes zu Abtreibungen für Nichtkatholiken irrelevant ist (vgl. Bleisch u. a. 2011, 143). Irreführenderweise werden in den Medien häufig Popstars, Schauspieler oder Sportler aufgrund ihrer Popularität zu ethischen oder anderen Themen befragt, obwohl sie auf diesen Gebieten über kein besonderes Wissen verfügen (vgl. Edmüller u. a. 2012, 126). Angebracht ist ein kritisches Nachfragen auch bei allzu vagen Bezugnahmen auf den Standpunkt von anerkannten Experten, wenn die Argumentation beispielsweise beginnt mit „Führende Wissenschaftler haben herausgefunden…“ oder „Neueste Studien zeigen…“ (vgl. ebd., 129). Beispiels-Argument Beispiels-Argument: Begründung einer Behauptung durch Schilderung von Anschauungsbeispielen Anschauungsbeispiel Tabakwerbung zu verbieten ist sinnlos, weil in Italien und Frankreich der Zigarettenkonsum nach dem Verbot sogar noch gestiegen ist. Im Alltag versuchen wir unseren Standpunkt oft zu stützen, indem wir konkrete Anschauungsbeispiele aus der eigenen Erfahrung oder den Medien schildern. Mit solchen Geschichten werden Emotionen, Hoffnungen und Ängste der Gesprächspartner geweckt und persönliche Betroffenheit erzeugt. Beispiels-Argumente sind aber nur schwache Argumente, weil sich aus einem oder wenigen Definition Prüfung der Repräsentativität 45316_Fenner_SL4b.indd 74 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="75"?> 75 � c h w a c h E a r g u � E n t E u n d a r g u � E n t a t I o n � f E h l E r Einzelfällen keine allgemeinen Schlüsse ziehen lassen. Am stärksten sind sie dann, wenn die angeführten Beispiele typisch oder repräsentativ sind (vgl. Edmüller u. a. 2012, 178). Im erwähnten Anschauungsbeispiel zur Tabakwerbung können andere europäische Länder wie Italien oder Frankreich durchaus als repräsentativ gelten. Voraussetzung wäre allerdings, dass zur Auswirkung des Tabakverbots zuverlässige empirische Untersuchungen vorliegen. In den meisten Fällen lassen sich jedoch Gegenbeispiele finden, sodass sich das Gespräch leicht in einer Endlosschlaufe von Geschichten verliert (vgl. Bleisch u. a. 2011, 153). So werden beim Plädoyer für die Legitimierung der Suizidbeihilfe gerne Beispiele von alten und schwerstkranken Menschen aufgeführt, die wie Sigmund Freud ihren leidvollen körperlichen und geistigen Verfall als unwürdig empfinden und bei voller Urteilsfähigkeit zu sterben wünschen. Demgegenüber verweisen Gegner auf Kurzschlusshandlungen wie diejenige einer Schülerin hin, die von ihrem ersten Freund sitzen gelassen wurde und völlig verzweifelt ohne ihn nicht weiterleben will. Selbst von solchen gut begründeten paradigmatischen Einzelfällen kann immer nur auf das ethisch richtige Handeln in ähnlichen Fällen geschlossen werden, ohne dass sich daraus ein generelles Gebot oder Verbot der Suizidbeihilfe ableiten ließe. Analogie-Argument Analogie-Argument: Begründung einer Behauptung durch das Herstellen einer Analogie zu ähnlichen Sachverhalten oder Situationen Anschauungsbeispiel Finanzmärkte kann man nicht von außen steuern, weil die Regeln der Investition wie Naturgesetze sind: Wie das Wasser nach unten fließt, fließt das Kapital dorthin, wo es die beste Rendite gibt. Beim Analogie-Argument wird ganz allgemein von der Ähnlichkeit zweier Gegenstände oder Sachverhalte in gewissen Merkmalen auf die Übereinstimmung in anderen Hinsichten geschlos- Gegenbeispiele keine Verallgemeinerbarkeit Definition 45316_Fenner_SL4b.indd 75 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="76"?> 76 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E sen. Solche Argumente sind auch in ethischen Diskussionen sehr beliebt, wo aus der Ähnlichkeit zweier Fälle oder Situationen in nichtmoralischen Hinsichten die gleiche ethische Bewertung abgeleitet wird. Die Stärke und Überzeugungskraft dieser Argumentationsform hängt grundsätzlich davon ab, ob sich die Sachverhalte in relevanten Hinsichten gleichen (vgl. Bleisch u. a. 2011, 137/ Edmüller u. a. 2000, 105 f.). Analogie-Argumente lassen sich jedoch leicht entkräften, wenn auf relevante Unterschiede aufmerksam gemacht wird. So sind im obigen Beispiel die Regeln der Investitionen eben gerade keine unveränderlichen Naturgesetze, sondern von Menschen gemachte und entsprechend veränderbare und zu verantwortende Regeln (vgl. Edmüller u. a. 2000, 137 f.). In vielen Fällen kann das Vorliegen von relevanten Ähnlichkeiten oder Differenzen nicht einfach durch logisch-begriffliche Reflexionen festgestellt werden, sondern es braucht hinlängliches Tatsachenwissen. Dies gilt etwa für den Vergleich ethisch umstrittener Egoshooter-Spiele mit allgemein akzeptierten Brettspielen, wenn vom gleichen nichtmoralischen Ziel des „Schlagens“ des Gegners auf die ethische Unbedenklichkeit von Egoshooter-Spielen geschlossen wird. Es sind wissenschaftliche Untersuchungen dazu erforderlich, ob sich das Einüben virtueller Gewalt negativ auf das Denken und Fühlen der Spieler auswirkt und somit ein ethisch relevanter Unterschied zwischen den beiden Formen von Spielen mit dem gleichen Ziel des Gewinnens vorläge. Argument gegen die Person Argument gegen die Person (Ad hominem-Argument): Diskreditierung der Behauptung einer Person, indem ihr Charakterschwäche oder Handlungsfehler vorgeworfen werden Anschauungsbeispiel Auf Herrn Müllers Vorschläge zur Steuerreform brauchen wir nicht einzugehen, weil er sich bekanntlich wegen Steuerbetrugs zu verantworten hat. Wie der lateinische Ausdruck besagt, beziehen sich Ad hominem- Argumente (Argumente gegen die Person) nicht auf die Sache, Prüfung der Relevanz der Übereinstimmungen relevante Unterschiede Definition Synonym: Ad hominem-Argument 45316_Fenner_SL4b.indd 76 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="77"?> 77 � c h w a c h E a r g u � E n t E u n d a r g u � E n t a t I o n � f E h l E r die zur Diskussion steht, sondern auf die Person, für oder gegen die argumentiert wird (vgl. Edmüller u. a. 2000, Kap. 5.3). Bei einem direkten Angriff wird der Standpunkt des Diskussionspartners als unhaltbar zurückgewiesen, weil dieser einen zweifelhaften Charakter oder egoistische Motive habe oder verwerfliche Handlungen beging. Obgleich anders als in der Rhetorik beim ethischen Argumentieren die gemeinsame Suche nach normativer Richtigkeit das Ziel ist, wird hier der Gesprächspartner diskreditiert. Aus einem problematischen Charakter oder begangenem Fehler einer Person lässt sich aber nicht auf die Falschheit ihrer Meinungen schließen, weshalb Argumente gegen die Person in sachlichen Diskussionen häufig unangebracht sind. So können Herr Müllers Vorschläge zur Steuerreform auch dann erwägenswert sein, wenn dieser in der Vergangenheit eine Steuersünde begangen hat. Nur in speziellen Fällen sind Charakterfragen für den Diskussionsgegenstand relevant, wenn beispielsweise ein notorischer Lügner eine Zeugenaussage machen will oder Lobbyisten bestimmte Interessen durchzusetzen versuchen. Ähnlich verhält es sich beim indirekten Angriff oder dem sogenannten Tu quoque-Argument (Du auch-Argument), bei dem ein Widerspruch zwischen dem Standpunkt einer Person und ihren Handlungsweisen oder früheren Positionen aufgedeckt wird. Sagt beispielsweise der Vater zu seinem Sohn: „Du solltest nicht rauchen, denn dies schadet der Gesundheit“, kann der Sohn gegebenenfalls erwidern: „Aber Du rauchst ja selbst! “ Sachlich oder absolut betrachtet stellt das Rauchen des Vaters den Geltungsanspruch seiner Behauptung und seiner Begründung allerdings keineswegs in Frage, sodass der Sohn einen Fehlschluss begeht. Nur relativ auf den Vater bezogen verliert das Argument des Vaters an Überzeugungskraft und untergräbt dessen Glaubwürdigkeit. Sofern der Vater sein eigenes Rauchen nicht als Ausnahmefall nachvollziehbar rechtfertigen kann, handelte es sich so gesehen immerhin um ein schwaches Argument. Noch eindeutiger um einen Argumentationsfehler handelt es sich bei der verallgemeinerten Form des Arguments, die zum Ausdruck kommt in der Redensart: „Jeder kehre zuerst vor seiner eigenen Tür! “ (vgl. Bleisch u. a. 2011, 143): Die moralische Kritik an einer aktuellen oder geplanten Praxis wird unbesehen zurückgewiesen, wenn die sie äußernde Person schon einmal selbst unmoralisch gehandelt hat. Auf der Sachebene wird das direkter Angriff indirekter Angriff/ Tu-quoque-Argument absolut betrachtet: Fehlschluss subjektrelativ: schwaches Argument Argumentationsfehler 45316_Fenner_SL4b.indd 77 05.03.2020 12: 20: 21 <?page no="78"?> 78 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E kritisierte Tun aber natürlich in keiner Weise besser dadurch, dass Ihre Kritiker das moralisch Bedenkliche selbst auch tun oder allgemein nicht moralisch unfehlbar sind. Traditions-Argument Traditions-Argument: Begründung der Qualität bzw. normativen Richtigkeit durch Verweis auf eine lange Tradition Anschauungsbeispiel Die in den Weltreligionen vorfindlichen Handlungsprinzipien sind universell gültig, weil sie auf einer Jahrtausende alten Tradition basieren. Laut Traditions-Argument ist etwas gut oder richtig, weil es schon sehr alt ist (vgl. Edmüller u. a. 2000, Kap. 5.6). Es bezieht seine Plausibilität daraus, dass eine lange Tradition wegen systematisierter Erfahrungen und einer langen Phase des Erprobens und Sich-Bewährens für Qualität zu stehen scheint. Entsprechend wird bei dem von Hans Küng begründeten Weltethos-Projekt suggeriert, der Nachweis bestimmter Handlungsprinzipien in verschiedenen uralten Traditionen begründe ihren universellen Geltungsanspruch (vgl. Küng, 40). Beim Traditions-Argument handelt es sich aber um einen Traditions-Fehlschluss, weil das Faktum einer langen Tradition nichts über die ethische Legitimität der Handlungsregeln aussagt und keine Qualitätsprüfung bzw. ethische Reflexion ersetzt. Problematisch ist der Einsatz des Traditions-Arguments immer dann, wenn damit unliebsame Veränderungen ethisch fragwürdiger traditioneller Lebensformen, sozialer Strukturen oder Praktiken abgewehrt und wünschbare Reformen blockiert werden sollen. So steht der konservative Wunsch des Festhaltens an Jahrtausende alten patriarchalen Traditionen der Gleichberechtigung der Frauen im Wege, und die Angst vor der Erschütterung tradierter Menschenbilder verhindert die Einführung medizinisch-technischer Neuerungen zur Verbesserung der menschlichen Lebensqualität. Definition Traditions-Argument Traditions-Fehlschluss 45316_Fenner_SL4b.indd 78 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="79"?> 79 a r g u � E n t a t I o n � � c h r I t t E : � c h E � a Z u r E n t � c h E I d u n g � f I n d u n g Sein-Sollen-Fehlschluss und Zirkelschluss Weitere Fehlschlüsse sind der naturalistische Fehlschluss oder Sein-Sollen-Fehlschluss und der logische Zirkel oder Zirkelschluss, die im Kapitel über „Naturalismus“ erläutert werden (vgl. Kap. 5.1.1). Argumentationsschritte: Schema zur Entscheidungsfindung Insbesondere in sehr komplexen moralischen Entscheidungssituationen oder im Fall moralischer Konflikte in einer Gemeinschaft besteht die Gefahr, dass die Beteiligten angesichts der Fülle von möglichen Handlungsalternativen und den zahllosen Gründen und Argumenten für und gegen einzelne Optionen kapitulieren. Als Orientierungshilfe wurden daher in jüngerer Zeit in der Ethik verschiedene Modelle zur Entscheidungsfindung entwickelt, die den Argumentationsgang in verschiedene Schritte gliedern und für jeden Argumentationsschritt wichtige zu berücksichtigende Gesichtspunkte oder Kriterien festlegen. Ein solches Schema zur Entscheidungsfindung liefert aber keineswegs einen starren Mechanismus, mit dessen Hilfe man wie bei mathematischen Aufgaben zu einfachen und fixfertigen Lösungen für moralische Probleme gelangt. Es hat vielmehr den Charakter eines „Werkzeugkastens“, der die passenden Instrumente für die eigenständige oder gemeinsame Entscheidungsfindung bereithält und den vielschichtigen Argumentationsprozess sicher und zielführend anleitet (vgl. Bleisch u. a. 2011, 6). Dank eines solchen systematischen Vorgehens wird ein Urteil oder eine Entscheidung argumentativ nachvollziehbar und intersubjektiv überprüf bar. Auch wenn sich unter gleichen Prämissen unterschiedliche Konklusionen oder Entscheidungen rechtfertigen lassen, genügen nicht alle den Anforderungen solcher Schemata. Letztlich geht es bei der Aufschlüsselung der Argumentationsschritte wiederum um das generelle Ziel, das Maß an ethischer Reflexion und Argumentationsfähigkeit der Beteiligten zu steigern. Viele Modelle im deutschsprachigen Raum gehen auf das ältere Stufenmodell zur ethischen Urteilsfindung des Theologen Heinz Tödt zurück. Im Bereich der Angewandten Ethik ist gegenwärtig das 6-stufige Modell der Medizinethikerin Ruth 3 .3 Modelle zur Entscheidungsfindung intersubjektive Überprüfbarkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 79 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="80"?> 80 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E Baumann-Hölzle sehr beliebt, und Barbara Bleisch und Markus Huppenbauer haben mit ihrem Handbuch für die Praxis Ethische Entscheidungsfindung (2011) ein sehr differenziertes 5-schrittiges Modell für die praktische Anwendung ausgearbeitet. Auch wenn die Anzahl der Schritte und die konkrete Aufteilung differiert und bisweilen eine größere Zahl von Stufen unterschiedlich zusammengefasst wird, ist die Abfolge immer sehr ähnlich und wird hier anhand von fünf Schritten erläutert: 1. Schritt: Situationsanalyse In einem ersten Schritt wird auf einer deskriptiven Ebene die Handlungssituation analysiert und geklärt, was überhaupt der Fall ist. Es sollen sämtliche für die Entscheidungsfindung relevanten Fakten und Daten gesammelt und sämtliche Informationen kritisch geprüft werden. 2. Schritt: Interessen- und Konfliktanalyse Immer noch auf einer deskriptiven Ebene werden danach alle in einen moralischen Konflikt involvierten Personen oder Personengruppen aufgelistet und ihre unterschiedlichen Erwartungen, Interessen und Ansprüche benannt. Ohne vorschnelle Vorverurteilung sollen die Perspektiven und Positionen aller Beteiligten zur Kenntnis genommen und kontextsensibel in ihrem jeweiligen historischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Hintergrund oder ihren vielfältigen Netzen von Abhängigkeiten und Einflüssen wahrgenommen werden. 3. Schritt: Analyse der Handlungsalternativen Spätestens an dieser Stelle gilt es, mittels der Erfahrung und der kreativen Phantasie sämtliche in der konkreten Entscheidungssituation offenstehenden Handlungsalternativen aufzulisten. Außer in Notfallsituationen gibt es meist viel mehr als nur zwei Möglichkeiten, sodass die Entscheidungsfindung aus einem simplen „Entweder-Oder“ herausgeführt werden soll und kleinteilige Zwischenlösungen mitzuberücksichtigen sind. Auch ist zu klären, welche Mittel zur Durchführung der einzelnen Optionen faktisch überhaupt zur Verfügung stehen und welche Handlungsfolgen jeweils zu erwarten sind. deskriptive Ebene 45316_Fenner_SL4b.indd 80 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="81"?> 81 a r g u � E n t a t I o n � � c h r I t t E : � c h E � a Z u r E n t � c h E I d u n g � f I n d u n g 4. Schritt: Analyse der Werte und Normen Eindeutig auf eine normative Ebene begibt man sich mit dem 4. Schritt, weil jetzt die einzelnen Handlungsoptionen auf die relevanten ethischen Werte und Normen hin beurteilt werden müssen. Über die in Schritt 2 identifizierten Personen und Personengruppen können die ethischen Argumente für und gegen gewisse Alternativen aufgelistet werden. Dabei gilt es, die den einzelnen Argumenten zugrundeliegenden normativen Vorstellungen aufzudecken und zu prüfen, inwiefern sich die einzelnen Normen, Prinzipien oder Rechte begründen lassen oder kritisiert werden müssen. 5. Schritt: Interessen- und Konfliktanalyse Am Ende der kritischen Reflexion aller ethischen Argumente und der Abwägung der ihnen zugrundeliegenden Werte und Normen gelingt es im Idealfall, die bestmögliche Handlungsoption zu bestimmen. Wichtig ist dabei die Einnahme des unparteiischen oder objektiven Standpunkts der Moral, damit auch das getroffene Urteil unparteiisch ist und den Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben kann. Oft besteht die Lösung in der Wahl des kleinsten Übels für alle Betroffenen oder einer gerechten Verteilung der Vorteile und Lasten (vgl. Kap. 4.2/ Kap. 7.3). Während alle fünf Schritte zum Argumentationsgang oder einer Argumentation im weiten Sinn zählen, werden v. a. in Schritt 4 ethische Argumente analysiert und gegeneinander abgewogen. Anhand eines Anschauungsbeispiels soll gezeigt werden, wie sich das Modell konkret anwenden lässt: Anschauungsbeispiel Ein 50-jähriger Raucher wird wegen Infarktgefahr in ein Krankenhaus in Manchester eingeliefert. Die dortigen Chirurgen weigern sich aber, dem Kettenraucher einen Bypass zu legen, wie man das normalerweise tun würde. Denn ihre Erfahrung zeigt, dass der kostspielige Eingriff, mit dem verengte Herzkranzgefäße überbrückt werden, bei Rauchern öfter wiederholt werden muss und häufiger Infektionen verursacht. Da Nichtraucher wesentlich bessere Erfolgsaussichten haben, müssen sie nach Meinung der Ärzte Vorrang auf den Wartelisten haben. Harry will das Rauchen nicht aufgeben, wird nicht operiert und stirbt kurze Zeit später an einem Herzinfarkt. (nach Pfeifer, 155) normative Ebene unparteiischer Standpunkt der Moral 45316_Fenner_SL4b.indd 81 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="82"?> 82 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E Frage: Dürfen Ärzte Rauchern eine Bypass-Operation verweigern? (vgl. ebd., 69) 1. Schritt: Situationsanalyse • Feststellung der äußeren Fakten und der (direkt und indirekt) Betroffenen • Sammeln und Prüfen von Informationen z.B.: akut gefährdeter Patient, extremer Engpass an Ressourcen, überlastete Krankenkassen 2. S chritt: Interessen- und Konfliktanalyse • Benennung von widerstreitenden Interessen und Erwartungen: subjektives Wollen • Welche Wertvorstellungen, Rechte und Pflichten sind angesprochen? z.B.: Raucher (weiter rauchen, leben); Ärzte (Behandlungserfolg, möglichst vielen helfen); Krankenkassen und Beitragszahler (geringe Beiträge, bestmögliche Behandlung) 3. Schritt: Analyse der Handlungsalternativen • Welche Handlungsoptionen stehen überhaupt zur Verfügung? • Welche Mittel sind angemessen? z.B.: Ärzte verweigern die Behandlung oder führen Bypass- Operation durch 4. Schritt: Analyse der Werte und Normen • Abwägung der Argumente pro und kontra die Handlungsalternativen: ethisches Sollen • Wie lassen sich die dabei relevanten Normen und Prinzipien begründen oder kritisieren (vgl. Kap. 4-6)? z.B.: - Abwägung der Rechte und Pflichten des Rauchers (Recht auf Gesundheit und gleiche Behandlung/ Pflicht zur solidarischen Verantwortung für die Gesundheitskosten) Schema der Argumentationsschritte    45316_Fenner_SL4b.indd 82 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="83"?> 83 a r g u � E n t a t I o n � � c h r I t t E : � c h E � a Z u r E n t � c h E I d u n g � f I n d u n g gegenüber denjenigen der Ärzte (Pflicht zur Hilfeleistung/ Recht, Behandlung an bestimmte Bedingungen zu knüpfen) - utilitaristische Nutzenrechnung: hohe Kosten seitens der Ärzte/ Kassen/ Beitragszahler; Behandlungserfolg unwahrscheinlich 5. Schritt: Konklusion • Schlussfolgerung aus der Abwägung in Schritt 4 • Bestimmung des relativ kleinsten Übels bzw. der bestmöglichen Handlungsalternative z.B.: Ärzte sollen an ihren Bedingungen festhalten. Übungsaufgabe 1. Erläutern Sie Toulmins Argumentationsschema ausgehend von der Behauptung, Abtreibung sei ethisch legitim/ illegitim. Welche Position vertreten Sie und welche Gründe ließen sich anführen? 2. Versuchen Sie, eine formal gültige Schlussfolgerung nach dem Schema des praktischen Syllogismus zu ziehen. Präskriptive Prämisse: Alle Mitglieder der Spezies homo sapiens haben ein Recht auf Leben. Deskriptive Prämisse: Jeder menschliche Embryo ist Mitglied der Spezies homo sapiens. Ist die logisch korrekte Schlussfolgerung auch inhaltlich wahr oder wo liegen die Probleme? 3. Um welchen Argumentationstyp handelt es sich bei den folgenden Argumenten? Sind es starke oder schwache Argumente? a. Wenn man einem Studenten eine Frist zur Einreichung einer Hausarbeit gewährt, will er später nochmals eine Fristverlängerung und wird am Ende den Kurs nicht erfolgreich absolvieren können und ein ganzes Semester verlieren. a. Wenn man einem Studenten eine Fristverlängerung gewährt, wollen alle anderen Studierenden auch eine Verlängerung.  45316_Fenner_SL4b.indd 83 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="84"?> 84 a r g u � E n t a t I o n � t h E o r I E Literatur Bleisch, Barbara und Huppenbauer, Markus: Ethische Entscheidungsfindung. Ein Handbuch für die Praxis, Zürich 2011. Edmüller, Andreas und Wilhelm, Thomas: Argumentieren, sicher-treffend-überzeugend. Trainingsbuch für Beruf und Alltag, 2. Auflage, Planegg 2000. Edmüller, Andreas und Wilhelm, Thomas: Argumentieren, Freiburg 2012. Herrmann, Markus, Hoppmann, Michael u .a .: Schlüsselkompetenz Argumentation, 2. aktual. Auflage, Paderborn 2011. Link, Hans-Jürgen und Schubert, Viktor: Philosophisches Argumentieren in der Ethik, in: Maring, Matthias (Hrsg.): Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium 2. Ein Projektbuch, Münster 2005, S. 21-29. Pfeifer, Volker: Ethisches Argumentieren. „Was ist richtig, was ist falsch? “ Ethisches Argumentieren anhand von aktuellen Fällen, Bühl 1997. Toulmin, Stephen: Der Gebrauch von Argumenten, 2. Auflage, Weinheim 1996, Kap. III. 45316_Fenner_SL4b.indd 84 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="85"?> 85 Subjektivistische Begründungsmodelle Inhalt 4.1 Egoismus 4.2 Utilitarismus 4.3 Kontraktualismus Zusammenfassung Da die Hauptaufgabe ethischer Theorien im Entwickeln und Begründen allgemeiner Prinzipien für die Beurteilung von Handlungen besteht, werden in den Kapiteln 4 und 5 subjektivistische und objektivistische Begründungsmethoden dargestellt. Subjektivistische Begründungsmodelle sind dadurch charakterisiert, dass sie ihren Ausgangspunkt bei subjektiven Interessen, Präferenzen oder Glückszuständen der Menschen nehmen. Zur Diskussion stehen der moralisch suspekte ethische Egoismus (4.1), der Utilitarismus mit seinem bekannten Prinzip der Nutzenmaximierung (4.2) und der moralische Kontraktualismus, bei dem sich ethisch legitime Normen als Ergebnis eines hypothetischen Vertragsschlusses zwischen interessenorientierten Individuen denken lassen müssen (4.3). 4 45316_Fenner_SL4b.indd 85 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="86"?> 86 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Die Hauptaufgabe ethischer Theorien besteht wie gesehen im Entwickeln und Begründen allgemeiner Kriterien oder Prinzipien für die Beurteilung menschlichen Handelns, wobei diese Begründungen im Idealfall für alle vernunftfähigen Lebewesen einsichtig sind (vgl. Kap. 1.2). Um die unübersichtliche Vielfalt an Begründungsmustern in der normativen Ethik zu strukturieren, lassen sich „subjektivistische“ von „objektivistischen“ Methoden der Begründung unterscheiden: Subjektivistische Begründungsmodelle nehmen ihren Ausgangspunkt bei subjektiven Interessen, Wünschen, Präferenzen oder gewünschten psychischen Zuständen wie Lust oder Glück der Menschen. Objektivistische Begründungsmodelle hingegen entwickeln und begründen ethische Beurteilungskriterien unabhängig von solchen persönlichen Interessenlagen oder Lustempfindungen. Bisweilen werden die entsprechenden unterschiedlichen Typen normativer Ethik als „subjektivistische“ bzw. „objektivistische Ethik“ oder ethischer Subjektivismus und ethischer Objektivismus voneinander abgegrenzt (vgl. Hübner, 55/ Quante, 54; 75). Während im vorliegenden 4. Kapitel zunächst subjektivistische Begründungsmodelle zur Diskussion stehen, ist das 5. Kapitel den objektivistischen gewidmet. In der Neuzeit befreiten subjektivistische Begründungsverfahren des Utilitarismus und Kontraktualismus die Ethik von weltanschaulichen und religiösen Voraussetzungen und stellten sie auf ein empirisches Fundament. Individuelle Interessen stehen insofern der Erfahrung offen, als sie einerseits in der Selbsterfahrung dem jeweiligen Subjekt gegeben sind und andererseits in Interaktions- und Kommunikationsprozessen zum Ausdruck kommen und so den anderen zugänglich werden. Auch viele zeitgenössische Ethiker halten „subjektivistische“ bzw. „subjektive“ Begründungen für die einzig gegenwartsfähigen, weil sie mit einem modernen säkularen Welt- und Selbstverständnis vereinbar sind (vgl. exemplarisch Hoerster, 15; 73 f.). Große Anfangsplausibilität gewinnen sie dadurch, dass sie äußerst voraussetzungsarm sind und von kaum bestreitbaren empirischen Tatsachen ausgehen: Alle Menschen haben Wünsche und Interessen, die sie erfüllen möchten, und alle Menschen streben nach Glück. Interesse wird dabei meist als Oberbegriff für alle mentalen Zustände verwendet, in denen ein Subjekt etwas als positiv bewertet, wünscht oder beabsichtigt (vgl. Quante, 56). subjektivistische Begründungsmodelle objektivistische Begründungsmodelle ethischer Subjektivismus/ Objektivismus Interesse 45316_Fenner_SL4b.indd 86 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="87"?> 87 E g o I � � u � Häufig werden nur aufgeklärte Interessen berücksichtigt, die von einem rationalen Handlungssubjekt sowohl auf die Vereinbarkeit mit all seinen anderen Interessen als auch die Konsequenzen ihrer Realisierung hin geprüft wurden. Eine gängige Kritik gegen subjektivistische Ethikmodelle lautet jedoch, sie führten zu einem ethischen Relativismus und förderten einen Egozentrismus mit dem eigenen Ich und seinen Begierden als einzigem Orientierungsmaßstab. Ethischer Subjektivismus: Normative Aussagen lassen sich allein im Rückgriff auf individuelle Interessen, Wünsche oder das Glück der Menschen begründen. Egoismus Der ethische Egoismus erkennt als einzigen Maßstab ethischen Handelns die Erfüllung der eigenen Interessen an, die ohne Rücksicht auf die Interessen und Rechte der anderen Menschen verfolgt werden. Im Alltag beziehen wir uns oft implizit oder explizit auf dieses Handlungsprinzip zur Rechtfertigung oder Entschuldigung von Handlungen, die nur den eigenen Interessen entspringen. So begründet beispielsweise jemand sein Schwarzfahren damit, dass er wegen eines für seine berufliche Karriere äußerst wichtigen Termins unbedingt diesen Zug nehmen musste, aber keine Zeit mehr zum Lösen der Fahrkarte fand. Im Hintergrund egoistischer Handlungen steht die unausgesprochene Annahme: „Ich bin wichtiger als alle anderen“. Sie muss oder kann aus Sicht egoistischer Theoretiker nicht bewiesen werden, leitet aber viele praktische Entscheidungen. Der sich heute unter den Universitätsprofessoren als Einziger offen zum ethischen Egoismus bekennende Jean-Claude Wolf spricht daher von einer „stillen Theorie“ (vgl. Wolf 2004, 513): Obwohl in der Praxis die meisten Menschen wenigstens zeitweise der egoistischen Haltung verfallen, bringen nur wenige den Mut auf, zum ethischen Egoismus zu stehen. Während die romantische Variante des ethischen Egoismus einfach davon ausgeht, dass es für die Einzigartigkeit des Egos keinen objektiven oder intersubjektiv mit- Definition 4 .1 ethischer Egoismus 45316_Fenner_SL4b.indd 87 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="88"?> 88 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E teilbaren Grund gibt, liefert die von Wolf vertretene aufgeklärte Version wenigstens eine indirekte Begründung: Jeder kenne seine eigenen Interessen am besten und sei auch am meisten motiviert, sie zu erfüllen. Allerdings ist diese Begründung sehr schwach, weil die Bekanntheit und Motivationsstärke keine guten oder gar hinreichenden Gründe für eine ethisch richtige Orientierung im Handeln darstellen. Mit Blick auf die Kontroverse zwischen Egoismus und Altruismus gilt es zunächst zu beachten, dass „subjektive“ oder „eigene Interessen“ alle aktuellen faktischen Interessen eines Subjekts umfassen. Das können also sowohl egoistisch-eigennützige sogenannte Eigeninteressen oder Selbstinteressen sein als auch altruistische, d. h. uneigennützige und auf das Wohl anderer Menschen gerichtete Interessen. Da es einem Egoisten letztlich immer nur um den eigenen Vorteil geht, berücksichtigt er von den ihm bekannten „eigenen Interessen“ ausschließlich die selbstbezogenen „Eigen-“ oder „Selbstinteressen“. Während sich ein naiver, unaufgeklärter Egoist nur um den je eigenen Gegenwartsnutzen kümmert, fördert zwar ein reflektierter, aufgeklärter Egoist im wohlverstandenen aufgeklärten Eigeninteresse bedingt auch das Wohl seiner Mitmenschen. Auch er wird aber nur so lange im Sinne fremden Wohls handeln, als sich sein Verhalten kurz- oder langfristig positiv auf die Erfüllung seiner selbstbezogenen Interessen auswirkt. Niemals tut er den anderen Gutes um des Guten oder um ihrer selbst willen. Vielmehr ist der an den Tag gelegte „Quasi-Altruismus“ letztlich nur ein Mittel zur Erfüllung der Eigeninteressen. Theoretisch gesehen ist allerdings die weit verbreitete Annahme falsch, „egoistisches“ und „altruistisches“ Handeln gehörten zwei scharf voneinander getrennten Klassen von Handlungen an. Ein radikaler „harter Egoismus“ mit rein eigennütziger Handlungsorientierung und ein radikaler „reiner Altruismus“ mit absolut selbstlosem Handeln bilden jedoch nur die Extrempole einer Skala mit zahlreichen Abstufungen. In der Praxis dürften meist Zwischenformen von rein egoistischem und altruistischem Handeln vorliegen, die aus einer Abwägung von egoistisch-eigennützigen und altruistisch-fremdnützigen Handlungsgründen und Motiven hervorgehen. Ein Handeln ist schwerlich schon dann als „egoistisch“ zu bezeichnen, wenn jemand zwar anderen um ihrer selbst willen Gutes tut, diese Tat aber zugleich auch Eigeninteressen/ Selbstinteressen naiver vs. aufgeklärter Egoist Egoismus vs. Altruismus 45316_Fenner_SL4b.indd 88 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="89"?> 89 E g o I � � u � ihn selbst beglückt. Zu denken ist an die Erfüllung altruistischer Interessen etwa durch eine anonyme Geldspende an eine Wohltätigkeitsorganisation ohne Eigennutzen wie Steuergewinn oder soziale Anerkennung, die bei der wohltätigen Person große Zufriedenheit auslöst. Ausschlaggebend für die grobe Zuordnung zum „Egoismus“ oder „Altruismus“ kann nur das Handlungsziel oder das Hauptmotiv der betroffenen Person sein, über das letztlich nur diese Person selbst Auskunft geben kann. Die sich durch selbstloses Handeln einstellende Befriedigung ist häufig nur ein willkommener Nebeneffekt, nicht das Ziel der Handlung (vgl. Bayertz, 206/ Quante, 70). Anthropologisch zweifelhaft, aber kaum empirisch zu beweisen oder widerlegen ist der psychologische Egoismus mit der These, nur egoistische Interessen könnten Menschen zum Handeln motivieren und scheinbar altruistisches Handeln entspringe daher stets verdeckten Eigeninteressen. Der ethische Egoismus lässt grundsätzlich offen, an welchem Wertmaßstab die eigenen Interessen gemessen werden sollen. Der griechische antike Philosoph Aristipp von Kyrene hat das höchste Gut als sinnlichen Genuss bestimmt und damit die egoistische Variante des Hedonismus begründet. Ähnlich besteht bei Max Stirner der Eigennutzen in purem Selbstgenuss, wie er in seinem programmatischen Werk Der Einzige und sein Eigentum (1844) ausführlich darlegt (vgl. 186; 358). Anders als diese beiden genussorientierten Ansätze plädiert Friedrich Nietzsche für ein Leben im Zeichen persönlicher Machtsteigerung und künstlerisch-schöpferischer Selbstentfaltung (vgl. Nietzsche, 170). Gemeinsam ist allen radikal egoistischen Theorien die Schwierigkeit, wie eine Gemeinschaft von solchen sich gegenseitig instrumentalisierenden Egoisten gedacht werden soll. Während Stirner sich rebellisch und anarchistisch gegen jede Art von sozialen Bindungen, moralischen Verpflichtungen und politischen Strukturen auflehnt, schwebt Nietzsche eine ebenso fragwürdige „inter pares“-Moral einer künstlerischen Elite starker Einzelindividuen vor. Diese wenigen „großen Individuen“ thronen an der Spitze einer Pyramide von sklavisch lebendem Menschenmaterial, das ihnen eine blühende Wirtschaft und Verwaltung zur Verfügung stellt. psychologischer Egoismus unterschiedliche Wertmaßstäbe 45316_Fenner_SL4b.indd 89 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="90"?> 90 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Ethischer Egoismus: Ethisch richtig ist dasjenige Handeln, das die größtmögliche Erfüllung der Eigeninteressen verspricht ohne Rücksicht auf die Interessen und Rechte der Mitmenschen. Interessen (Güter): Aristipp/ Stirner: (Selbst-)Genuss Nietzsche: Machtsteigerung, Selbstvervollkommnung Angesichts dieser problematischen sozialpolitischen Entwürfe kann der Egoismus schwerlich als moralphilosophische Position gelten. Zum einen ist die materiale Bedingung des moralischen Standpunktes nicht erfüllt, die unparteiische Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen erfordert (vgl. Kap. 1.1). Denn der Egoismus weist gerade jede soziale Verbindlichkeit und Gerechtigkeit (Nietzsche: „Nivellierung“) zugunsten der Schwächeren zurück, sodass er die moralische Idee eines von gegenseitigen Verpflichtungen getragenen, gerechten Zusammenlebens verfehlt. Unklar ist zum anderen, ob er dem formalen Kriterium universeller Gültigkeit genügt. Denn wer im Zeichen eines „universalistischen Egoismus“ sämtliche Menschen zum eigennützigen Handeln auffordert, scheint sich in einen performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln: Angesichts der Pflicht zur Maximierung des eigenen Nutzens kann man kein Interesse daran haben, andere zur Nutzenmaximierung zu animieren (vgl. Birnbacher 2011, 97). Zur Verteidigung des Egoismus wird jedoch angeführt, ein Egoist müsse zwar tatsächlich annehmen, auch alle anderen Menschen sollten ihr Eigeninteresse als obersten Wert ansetzen. Damit sei aber keineswegs notwendig der Wunsch verbunden, dass ihnen die Durchsetzung ihrer Interessen auch gelinge (vgl. Ginters, 88 f.). Veranschaulicht wird dies anhand eines Wettspiels: Jede Mannschaft geht davon aus, dass ihre Gegner gleichfalls versuchen werden, das Spiel zu gewinnen. Zugleich hofft sie aber, dass dies ihnen misslingt. Da das egoistische Handlungsprinzip unvereinbar ist mit dem objektiven Standpunkt der Moral, handelt es sich nicht um eine sozialethische Sollensforderung und ein Moralprinzip, sondern nur um ein individualethisches Klugheitsprinzip (vgl. Birnbacher 2002, 97): Es ist ein Rat oder eine Empfehlung an die einzelnen Handelnden, sich im Interesse ihres persönlichen Glücks an der egoistischen Maxime zu orientieren. Allenfalls könnte es Definition Kritik: keine moralphilosophische Position individualethisches Klugheitsprinzip 45316_Fenner_SL4b.indd 90 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="91"?> 91 u t I l I t a r I � � u � ein abgeleitetes bzw. ergänzendes Teilprinzip einer Sozial- oder Sollensethik sein. So gibt es selbst bei Kant eine indirekte Pflicht zum individuellen Glücksstreben, weil dieses die Bereitschaft zum Handeln nach dem Kategorischen Imperativ befördere (vgl. MS, A/ B 12). Darüber hinaus kann der Einzelne dank eines egoistischen Strebens möglicherweise mehr (z. B. materielle) Mittel und Kompetenzen erwerben, um anderen Menschen Gutes tun zu können. Eine ausschließlich egoistische Handlungsorientierung lässt aber die anthropologische Tatsache unberücksichtigt, dass die Menschen soziale Lebewesen sind und auf Kooperation mit ihren Mitmenschen angewiesen sind. Auch ein abgeschwächter, die Rücksichtnahme auf fremde Interessen zulassender Egoismus setzt daher einen stabilen gesellschaftlichen und institutionellen Rahmen voraus, der durch moralische und rechtliche Normen gesichert wird. So sollen auch nach Wolf die Egoisten eine minimale Moral anerkennen, die allen (egoistischen) Menschen Sicherheit und negative Freiheit garantiert (Wolf 2004, 515). Kritik Status: • nur strebensethische Klugheitsregel bzw. sollensethisches Ergänzungsprinzip • als Moralprinzip disqualifiziert: - materiales Kriterium nicht erfüllt: kein unparteiischer Standpunkt - formales Kriterium nicht erfüllt: kein Allgemeinheitsanspruch • Problem: setzt stabiles gesellschaftliches Normensystem voraus Utilitarismus Während der Egoismus wie gezeigt als moralphilosophische Theorie disqualifiziert ist, wurden vom Utilitarismus und Kontraktualismus die einflussreichsten Modelle einer subjektivistischen Moralbegründung vorgelegt. Der meist als paradigmatisch für 4 .2 45316_Fenner_SL4b.indd 91 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="92"?> 92 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E den ethischen Subjektivismus geltende Utilitarismus wurde Ende des 18. Jahrhunderts vom Briten Jeremy Bentham mit dem Ziel ins Leben gerufen, ein Instrument für eine empirisch-rationale Normenbegründung und Gesellschaftsreform ohne Berufung auf religiöse oder politische Autoritäten oder Traditionen bereitzustellen. Im 19. Jahrhundert von John S. Mill und Henry Sidwick fortgeführt, stellt er im angelsächsischen Sprachraum bis heute die wichtigste Grundlage moralphilosophischer Ansätze dar. Nachdem sich im 20. Jahrhundert eine heftige Kritikwelle am utilitaristischen Gedankengut entfachte, kam es allerdings zu zahlreichen Versuchen einer Erneuerung und Weiterentwicklung. Unter „Utilitarismus“ wird daher ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansätze vereint. Im deutschen Sprachraum wurde der Utilitarismus aufgrund der Assoziationen mit einem ökonomischen Nutzendenken bei einer oberflächlichen Rezeption stets skeptisch betrachtet und fand nie eine breite Beachtung, wird aber heute beispielsweise von Dieter Birnbacher und Bernward Gesang vertreten. Das Grundprinzip aller Varianten des Utilitarismus lautet, den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl von Betroffenen zu erzielen. Da es also anders als im Egoismus nicht nur um den Nutzen der handelnden Person selbst, sondern um denjenigen aller vom Handeln Betroffenen geht, ist diese Handlungsorientierung universalistisch statt egoistisch: Entsprechend der moralischen Grundforderung nach einem unparteiischen Standpunkt sollen alle Betroffenen in gleicher Weise ins Nutzenkalkül miteinbezogen werden, ohne Rücksicht auf persönliche Beziehungen oder Feindschaften. Benthams Utilitarismus war von Anfang an mit einer sozialreformerischen Absicht verknüpft, weil es nicht um den Nutzen für bestimmte Gruppen, Klassen oder Schichten geht, sondern bei der Nutzenmaximierung jeder Mensch gleich viel zählt. Sämtliche empirisch-pragmatischen Begründungsversuche des utilitaristischen Moralprinzips sind demgegenüber zum Scheitern verurteilt. Denn aus der angeblichen psychologischen Tatsache, dass jeder Mensch nach größtmöglichem persönlichem Nutzen strebt, folgt keineswegs, dass das Erstrebte für ihn auch gut ist und er danach streben soll (vgl. Kap. 5.1.1). Selbst wenn dieses Gebot des persönlichen Nutzenstrebens hinlänglich bewiesen wäre, folgt daraus nicht der zweite Beweisschritt, dass der allgemeine Nutzen für alle gut ist und jeder Mensch nach der Maximierung des allgemeinen Nutzens abzielt oder abzielen sollte. Utilitarismus universalistisch Kritik an Begründung 45316_Fenner_SL4b.indd 92 05.03.2020 12: 20: 22 <?page no="93"?> 93 u t I l I t a r I � � u � Utilitarismus: Gut ist diejenige Handlung, die den größtmöglichen Nutzen für alle von der Handlung Betroffenen verspricht. Hedonistischer und Präferenz-Utilitarismus Um ein solches Nutzenkalkül in einer konkreten Entscheidungssituation durchführen zu können, wäre aber zunächst einmal die Art dieses „Nutzens“ näher zu bestimmen. Im klassischen Utilitarismus liegt eine hedonistische Interpretation des Nutzens vor, sodass von einem hedonistischen Utilitarismus oder auch „Glücks-Utilitarismus“ gesprochen wird: Der Nutzen wird identifiziert mit „Lust/ Freude“ („pleasure“) oder einem als subjektivem Wohlbefinden verstandenen Glück („happiness“), und wird gegen „Unlust/ Leid“ („pain“) oder „Unglück“ („unhappiness“) aufgerechnet. Das oberste Moralprinzip lässt sich daher als „größtmögliches Glück für die größtmögliche Zahl“ konkretisieren. Für den Gründervater Jeremy Bentham spielte es dabei keine Rolle, aus welcher Quelle die einzelnen Betroffenen ihre Lust oder Freude bezogen. Seine Toleranz kommt am schönsten zum Ausdruck in seinem berühmten Diktum „quantity of pleasure being equal, pushpin [ein anspruchsloses Kinderspiel] is as good as poetry“. Bei seinem quantitativen Hedonismus lässt er lediglich quantitative, d. h. mengenmäßige Kriterien wie Intensität, Dauer oder Anzahl der subjektiven Lustempfindungen gelten (vgl. Bentham, 79). Sein Nachfolger John S. Mill setzte diesem „quantitativen“ jedoch einen qualitativen Hedonismus entgegen, bei dem zusätzlich noch die unterschiedliche Qualität oder Beschaffenheit einer Lust oder Freude berücksichtigt werden soll. Die Qualität des Glücks sei abhängig von den Quellen, denen es entspringt bzw. von der Art der Tätigkeit, die es begleitet: Höher zu bewerten sei die Freude aus geistigen und sozialen Tätigkeiten, bei denen typisch menschliche Fähigkeiten zum Einsatz kommen, die nur dank sorgfältiger Erziehung und Bildung entwickelt werden können. Die „niedrige“ Lust aus der Befriedigung angeborener sinnlicher Triebbedürfnisse, die der Mensch mit den Schweinen teilt, soll hingegen im utilitaristischen Nutzenkalkül weniger zu Buche schlagen. Wer die höheren und niedrigen Quellen der Lust gleichermaßen kennt, sieht nach Mill die Vorzugswürdigkeit höherer Freuden unmittelbar ein und zieht daher diese Definition hedonistischer (klassischer) Utilitarismus: Nutzen = Lust/ Glück quantitativer vs. qualitativer Hedonismus 45316_Fenner_SL4b.indd 93 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="94"?> 94 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E entschieden den niedrigeren vor (vgl. Mill, 19 f.). Diese qualitative Abstufung der Glücksformen hat er zugespitzt zur ebenfalls berühmt gewordenen Aussage: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“ (ebd., 18). Gegen den hedonistischen Utilitarismus können dieselben Einwände geltend gemacht werden wie gegen den Hedonismus allgemein, die im Kapitel über die „hedonistische Ethik“ genauer erläutert werden (vgl. Kap. 5.1.1). Den seit der Antike erhobenen schwerwiegenden Vorwurf der Unterjochung unter animalische Triebe und eines ausschweifenden Sinnesgenusses wollte Mill mit seinem qualitativen Hedonismus entkräften. Es ist aber nicht nur unklar, auf welche Weise man beispielsweise eine qualitativ höher stehende, aber in quantitativer Hinsicht mit weniger starken Empfindungen verbundene Tätigkeit wie das Bücherschreiben mit einem höchst intensiven sinnlichen Genuss etwa beim Sexualakt miteinander „verrechnen“ können soll. Wenn die höherstufigen Freuden nicht zu tieferer Erfüllung und größerem menschlichem Glück beitragen, ist der qualitative Hedonismus vielmehr in sich selbst widersprüchlich. Denn das hedonistische Programm leitet lediglich dazu an, ein (quantitatives) Maximum an Lust oder Glück zu erzielen. Mills Unzufriedenheit mit einer hedonistischen „Ethik für Genussmenschen“ ist aber insofern berechtigt, als die hedonistische Interpretation des „Nutzens“ als eine mit „sinnlichem Genuss“ assoziierte „Lust“ dem Glücksstreben des Menschen nicht gerecht wird. Tatsächlich dürfte im Unterschied zu Schweinen kaum ein Mensch zufrieden sein mit einem Maximum an subjektivem Wohlbefinden oder Empfindungsglück, weil sich das typisch menschliche Glück am besten als Grundzug eines aktiv gestalteten, guten Lebens oder als qualifiziertes gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis charakterisieren lässt (vgl. Fenner 2007, 144 ff.). Im Unterschied zum klassischen hedonistischen Utilitarismus wird der „Nutzen“ im Präferenzutilitarismus nicht als positive innerliche Befindlichkeit („pleasure“) wie Lust, Freude oder Glück definiert, sondern als Erfüllung von Präferenzen. Präferenzen sind relativ stabile Interessenlagen, Vorlieben oder Neigungen, im weiten Sinn alles, was jemand für sich selbst wünscht oder erstrebt. Dazu zählen nicht nur gegenwartsbezogene Wünsche, sondern auch solche, die sich auf die nahe oder ferne Zukunft Kritik am hedonistischen Utilitarismus Kritik am qualitativen Hedonismus Präferenzutilitarismus Nutzen = Erfüllung von Präferenzen 45316_Fenner_SL4b.indd 94 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="95"?> 95 u t I l I t a r I � � u � richten. Sofern sich die Präferenzen auf das persönliche Lustempfinden oder Wohlbefinden-Glück beziehen, können die beiden Bewertungsmaßstäbe des klassischen hedonistischen und des Präferenzutilitarismus durchaus miteinander korrelieren. Der im 20. Jahrhundert entwickelte präferenzorientierte Utilitarismus wird z. B. von John Harsanyi, Richard Hare (Freiheit und Vernunft, insbesondere Kap. 7) und Peter Singer (Praktische Ethik, insbesondere 128 f.) vertreten. Er basiert auf einem erheblich solideren anthropologischen Fundament als der hedonistische Utilitarismus insbesondere in seiner quantitativen Variante, weil der Mensch sein Leben anders als Schweine vorausschauend zu planen hat und wertend zu seinem Leben Stellung bezieht. Dabei streben alle Menschen nach der Erfüllung ihrer wichtigsten Interessen und Ziele, auf die sich ihre persönliche Beurteilung der Qualität des eigenen Lebens und infolgedessen ihre Lebenszufriedenheit wesentlich abstützt (vgl. Fenner 2007, 71). Utilitarismus klassischer Utilitarismus Nutzen = Lust («pleasure»)/ Glück Präferenzutilitarismus Nutzen = Erfüllung von Präferenzen (Vorlieben/ Interessen/ Zielen) quantitativer Hedonismus nur quantitative Kriterien qualitativer Hedonismus qualitative Unterschiede von Lust/ Freude Handlungs- und Regelutilitarismus Sowohl die klassisch-hedonistischen als auch die Präferenztheorien des Utilitarismus fordern im Grunde dazu auf, das utilitaristische Nutzenkalkül auf jede einzelne Handlung immer wieder von Neuem anzuwenden. Dies scheint aber zum einen eine im praktischen Alltag kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Zum anderen ist das utilitaristische Moralprinzip reichlich abstrakt und dürfte den Einzelnen kaum ausreichend zu entsprechendem Handeln motivieren. Schließlich droht das Fehlen allgemein gültiger moralischer Normen eine Gesellschaft zu destabilisieren, Utilitarismus 45316_Fenner_SL4b.indd 95 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="96"?> 96 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E weil die Entscheidungen und Handlungen der Einzelnen dann schwerer prognostizierbar und koordinierbar sind. Aus diesen Gründen wurde im 20. Jahrhundert der an Einzelhandlungen ausgerichtete „Akt“- oder Handlungsutilitarismus durch einen „Regelutilitarismus“ ergänzt (vgl. Brandt, Kap. 15): Im Regelutilitarismus werden nicht einzelne Handlungen direkt auf ihren Nutzen hin überprüft, sondern Handlungsregeln oder Normen. Die einzelne Handlung muss dann mit derjenigen moralischen Norm übereinstimmen, mit der sich der größtmögliche Nutzen für eine Gemeinschaft erzielen lässt. So ist es beispielsweise leicht einsehbar, dass die grundlegenden moralischen Verbote, zu lügen, zu betrügen und zu stehlen bei ihrer allgemeinen Befolgung den Gesamtnutzen einer Gesellschaft beträchtlich erhöhen. Moralisch richtig ist also eine Handlung gemäß Regelutilitarismus, wenn sie mit solchen utilitaristisch begründeten Normen übereinstimmt. Diesen Regeln kommt eine eigenständige, unabhängig von tatsächlichen Einzelfolgen bestehende ethische Geltung zu. Selbst wenn in einer konkreten Handlungssituation durch einen Regelbruch der Gesamtnutzen beträchtlich erhöht werden könnte oder die Befolgung einer Norm sogar katastrophale Folgen erwarten lässt, wäre eine Verletzung der Regeln ethisch illegitim. So dürfte ein sehr wohlhabender Geschäftsmann nicht betrogen werden, obgleich der Verlust ihm selbst keinen merklichen Schaden zufügen würde und der mittellose Täter mit dem Geld seine Familie versorgen und alle glücklich machen könnte. Ähnlich wie beim qualitativen Hedonismus wird bei dieser Form des Utilitarismus die Grundidee des Utilitarismus relativiert, sodass sie in den Augen vieler Utilitaristen inkonsequent ist (vgl. dazu Pauer-Studer, 68). Werden jedoch Ausnahmen etwa für den geschilderten Einzelfall zugelassen, verschwimmt die Grenze zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus (vgl. dazu Birnbacher 2002, 99 f.). Kritik am Regelutilitarismus Handlungsutilitarismus vs. Regelutilitarismus 45316_Fenner_SL4b.indd 96 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="97"?> 97 u t I l I t a r I � � u � Handlungsutilitarismus: Wert der Handlung bemisst sich an den Folgen der Handlung Regelutilitarismus: Wert der Handlung bemisst sich an der Einhaltung von utilitaristisch begründeten Normen Probleme: • Überforderung im praktischen Alltag • Destabilisierung der Gesellschaft Probleme: • negative Folgen konkreter Handlungen möglich • methodisch inkonsequent Nutzen- und Durchschnittsnutzenutilitarismus Sowohl die klassischen als auch die meisten modernen Vertreter gehen von einem Nutzensummen-Utilitarismus aus, bei dem die individuelle Lust bzw. die Erfüllung der Präferenzen der Betroffenen aufsummiert wird und die Nutzensumme maximiert werden soll. Beim Durchschnittsnutzen-Utilitarismus wird hingegen die Nutzensumme noch durch die Zahl der Betroffenen dividiert und das Ziel sind möglichst hohe Durchschnittswerte. Nutzensummen-Utilitarismus Durchschnittsnutzen-Utilitarismus Summe des Nutzens maximiert durchschnittlicher Nutzen maximiert Anwendungsproblem Gegen den Utilitarismus allgemein gibt es zahlreiche Bedenken. Bereits erwähnt wurde das eher technische Problem der Anwendung des utilitaristischen Moralprinzips. Dieses spitzt sich zweifellos zu in Mills qualitativem Hedonismus, bei dem eine qualitative Bewertung der Arten von Lust oder Freude vorgenommen und diese höher- oder niederstehenden Formen aufsummiert werden sollen. Doch schon beim einfacheren quantitativen Hedonismus Benthams ist es fraglich, wie man überhaupt individuelle Lustquanten verschiedener Personen miteinander verrechnen können soll. Für jeden Einzelnen mag es in alltäglichen Situationen meistens gelingen, die Quanten an Lust oder Freude z. B. aus einem Eisessen mit Freunden oder dem Anschauen eines spannenden Films in etwa gegeneinander abzuwägen. Um aber auf einer intersubjektiven Ebene sämtliche Lust- und Unlustempfin- Handlungsvs. Regelutilitarismus Nutzensummenvs. Durchschnittsnutzen- Utilitarismus Kritik: Anwendungsproblem Nutzensumme vs. Durchschnittsnutzen 45316_Fenner_SL4b.indd 97 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="98"?> 98 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E dungen erfassen und in einer Gesamtbilanz miteinander verrechnen zu können, fehlt ein einheitliches Bezugssystem und eine exakte Maßeinheit. Wenn Max beispielsweise den klaren Wunsch äußert, mit mir Eis essen zu gehen, Anna mich aber dringend bittet, ihr beim Umzug zu helfen, während doch die Kinder zuhause schon lange auf mich warten, ist ein Nutzenvergleich zwischen den betroffenen Personen nicht mehr exakt möglich. Daher wäre zunächst einmal eine (willkürliche) Punkteskala z. B. von 0-10 einzuführen. Zusätzlich könnte man Benthams Kriterien zur Messung der Quantität einer Lustbzw. Unlustempfindung heranziehen: a) die Intensität, b) die Dauer der Empfindung, c) die Gewissheit oder Ungewissheit des Eintreffens der Lust/ Unlust, d) Nähe oder Ferne des lustbringenden Ereignisses, e) Folgenträchtigkeit, d. h. Wahrscheinlichkeit der Nachfolge ähnlicher Lusterlebnisse, f) Reinheit der Lust, d. h. keine Gefahr von Unlusterlebnissen (vgl. Bentham, 79). Wie das folgende Beispiel zur möglichen Umsetzung einer präzisen Nutzenkalkulation zeigt, kann das utilitaristische Prinzip im Alltag aber wohl doch eher nur eine Art Faustregel oder ein regulatives Prinzip darstellen. Anschauungsbeispiel Eine Familie braucht ein neues Auto. Der Vater träumt schon lange von einem schnellen Wagen und plädiert für einen Porsche. Doch bedeutet dieser Kauf für die Familie wirklich den größtmöglichen Nutzen? Utilitaristisches Nutzenkalkül (nach Bentham): Die Intensität der Freude (a) beträgt für den Vater 7 Punkte; die Dauer (b) angesichts der Lebensdauer eines Autos von durchschnittlich 5 Jahren rund 5 Punkte (einen Punkt für jedes Jahr); die Gewissheit des Eintreffens seiner Freude (c) 6 Punkte; hinsichtlich der Nähe des Eintreffens (d) ist ein Unsicherheitsfaktor zu berücksichtigen, weil das Familienbudget nur für den Kauf eines gebrauchten Mittelklassewagens ausreicht, also bloß 2 Punkte; aufgrund der zu erwartenden hohen Folgekosten ist auch die Folgenträchtigkeit (e) nicht höher als etwa 3 Punkte zu veranschlagen; und die Reinheit (f) seiner Lust dürfte erheblich getrübt sein durch die Vorwürfe seitens der Mutter, also kaum mehr als 2 Punkte ergeben. Die Intensität des Leids (a) für die Mutter hingegen beträgt 6 Punkte, weil sie keine schnellen Wagen liebt, aber doch Verständnis hat für die Freude ihres Mannes; die Dauer (b) gleichfalls 5 Punkte; die Gewissheit (c) 7 Punkte; die Nähe des Eintreffens (d) ergibt wie bei ihrem Mann lediglich 2 Punkte; da ihr Leid beim Porschekauf sicherlich weitere Leiden mit sich bringen wird, etwa weil der Vater mehr Zeit im Auto als mit den Kindern verbringt oder der Hund nicht mehr transkeine exakte Maßeinheit 45316_Fenner_SL4b.indd 98 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="99"?> 99 u t I l I t a r I � � u � portiert werden kann, sind für die Folgenträchtigkeit (e) 6 Punkte zu veranschlagen; genauso auch bei der Reinheit (f) aufgrund des völligen Fehlens irgendeiner Freude seitens der Mutter nochmals 6 Punkte. Ohne Berücksichtigung der Punktebilanz der Kinder ergäbe die Summe der Freude des Vaters 25 Punkte, des Leids der Mutter 32 Minuspunkte, sodass man einen negativen Gesamtnutzen von minus 7 Punkten errechnen kann. Die Handlung des Porschekaufs wäre also vor dem Hintergrund nutzentheoretischer Überlegungen als ethisch verwerflich zu taxieren. (nach Pieper 2001, 113 f.) Fehlende Kritik der Lüste bzw. Präferenzen Gegen den Utilitarismus ist immer wieder geltend gemacht worden, dass keineswegs jede Lust oder jede Präferenz der Betroffenen unkritisch ins utilitaristische Nutzenkalkül aufgenommen werden darf. Vielmehr brauche es eine Kritik der Lust bzw. der Präferenzen, weil nur „kalkulationswürdige“ oder „wohl überlegte“ berücksichtigt werden dürfen (vgl. Höffe 2003, 21/ Pauer- Studer, 65). 1. Zunächst wären die Lüste bzw. Präferenzen auszuschließen, die dem Handlungssubjekt selbst schaden. So hat bereits Platon auf die absurde Konsequenz aufmerksam gemacht, dass sich alle Hedonisten juckende Hautausschläge („Krätze“) wünschen müssten, weil das Reiben derselben mit großem Lustgewinn verbunden ist (vgl. Platon: Phil., 46a). Etwas aktuellere Beispiele wären die Lust aus einer gleichfalls gesundheitsschädigenden Spielsucht oder Internetsucht bzw. die Erfüllung der entsprechenden pathologischen Präferenzen. 2. Gemäß der Differenzierung des Präferenzutilitaristen James Griffin müssten die Lust bzw. die Wünsche außerdem hinreichend informiert oder aufgeklärt sein, d. h. sie dürften nicht auf falschen Informationen über die Handlungssituation basieren (vgl. Griffin, 16). So verdienen beispielsweise Wohlgefühle aus einer Liebesbeziehung keine Beachtung, bei denen man vom Partner schamlos betrogen wird. Auszuschließen wäre auch der Wunsch nach einem vermeintlich von van Gogh gemalten Bild, bei dem es sich in Wahrheit bloß um ein Imitat handelt. 3. Vor allen Dingen aber gilt es Lustempfindungen oder Interessen auszusortieren, die an egoistische, asoziale Haltungen oder Bestrebungen geknüpft sind. Asozial wären etwa die Lust oder die Präferenz eines Sadisten, seine Mitmenschen ohne Grund zu quälen, oder diejenige eines Rechtsextremen, Asylantenheime in Brand zu stecken. Selbst keine Kritik der Lust/ Präferenzen schädliche Lüste uninformierte, unaufgeklärte Präferenzen egoistische, asoziale Lüste/ Präferenzen 45316_Fenner_SL4b.indd 99 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="100"?> 100 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E wenn die gesamtgesellschaftliche Summe an Schadenfreude und Präferenzerfüllung in einer ausländerfeindlichen Gesellschaft durch diese rassistisch motivierte Tat vergrößert würde, widerspricht diese Diskriminierung der Grundforderung des unparteiischen Standpunkts der Moral. Es erscheint ethisch widersinnig, zur Steigerung des Gesamtnutzens als moralisch erwünschtem Resultat der utilitaristischen Ethik moralisch schlechte Handlungen zuzulassen. Gerechtigkeitsproblem Damit ist bereits das gravierendste Problem des Utilitarismus angesprochen: dasjenige der Gerechtigkeit oder der erheblichen Ungleichheit zwischen den beteiligten Personen. Denn obwohl alle direkt oder indirekt betroffenen Personen beim utilitaristischen Nutzenkalkül gleichermaßen und unparteiisch berücksichtigt werden sollen, ist damit noch keine gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen garantiert. Denn es zählt am Ende nur das quantitative Maximum an Lust bzw. Wunscherfüllungen, ungeachtet dessen, auf wen oder auf wie viele Personen es verteilt ist. Dies gilt für den Nutzensummen-Utilitarismus genauso wie für den Durchschnittsnutzen-Utilitarismus, weil die Erhöhung des durchschnittlichen individuellen Nutzens ebenso wenig eine gerechte Verteilung garantiert wie die Steigerung des Bruttosozialproduktes. Illustriert sei das Gerechtigkeitsproblem am Beispiel eines Dorfes, in dem jeder Quadratmeter entweder bebaut oder bepflanzt ist und daher viel zu wenig Raum für die Kinder zum Spielen im Freien vorhanden ist. Es gibt allerdings einen reichen Geschäftsmann im Dorf, der eine große Villa und einen weitläufigen und praktisch ungenutzten Garten besitzt. Ohne dessen Anhörung beschließt die Dorfgemeinschaft, auf seinem Grundstück einen Kinderspielplatz zu errichten. Da die Freude der zahlreichen kinderreichen Dorffamilien das Leid des Kaufmanns bei Weitem übertreffen dürfte, müsste dieses Unterfangen utilitaristisch gebilligt werden. Vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus wäre aber eine solche Enteignung eindeutig zu verwerfen, weil der Kaufmann das Landstück rechtmäßig erworben und damit einen moralischen und rechtlichen Anspruch darauf hat. Noch extremer ist der vieldiskutierte fiktive Transplantationsfall (vgl. Birnbacher 2006, 179): Die Ärzte töten einen keine Gerechtigkeit keine Rechte 45316_Fenner_SL4b.indd 100 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="101"?> 101 u t I l I t a r I � � u � wegen einer Untersuchung ins Krankenhaus gekommenen gesunden Obdachlosen, um seine Organe zu transplantieren. Auf diese Weise kann das Leben von fünf Notfallpatienten auf der Intensivstation gerettet werden, die schon lange vergeblich auf einen freiwilligen Organspender warteten und sonst verstorben wären. Auch hier liegt zweifellos eine Nutzenoptimierung vor, da die Summe der Lust bzw. Präferenzerfüllung der fünf Geretteten eine sehr viel positivere Bilanz ergibt als diejenige im entbehrungsreichen Leben des Obdachlosen. Insbesondere die Ausbeutung von Außenseitern oder Minderheiten einer Gesellschaft lässt sich anhand des utilitaristischen Nutzensummenprinzips problemlos rechtfertigen. Macht man die Maximierung des Nutzens zum einzigen Maßstab der ethischen Beurteilung einer Handlung, drohen die individuellen Rechte wie das Recht auf Leben oder auf Selbstbestimmung und Würde einem totalitaristischen Kollektivismus zum Opfer zu fallen. Konfrontiert mit solchen drastischen Problemfällen versuchen Utilitaristen meist zu zeigen, dass der Gesamtnutzen faktisch bei den präsentierten kontraintuitiven „Lösungen“ keineswegs optimal sei und die Nutzenkalkulation falsch durchgeführt wurde. Im Rahmen des Präferenz-Utilitarismus wird beispielsweise gerne auf die normalerweise sehr stark ausgeprägten Interessen der Menschen an ihrem Eigentum, ihrem Leben und der Realisierung ihrer Zukunftspläne verwiesen. Es ist aber leicht zu erkennen, dass noch so starke Interessen einzelner Menschen oder Minderheiten durch Aufsummierung genügend vieler entgegenstehender Präferenzen überboten werden können. Argumentativ überzeugender sind Versuche einer indirekten Begründung eines Verbots, andere Menschen für einen „guten Zweck“ zu bestehlen oder gar zu töten: Das Enteignen des Grundstückbesitzers oder das Töten des Obdachlosen seien zwar nicht deswegen verboten, weil es abstrakte Rechte auf Eigentum oder ein Recht auf Selbstbestimmung und Würde der Person gäbe. Sie seien aber gleichwohl moralisch inakzeptabel aufgrund ihrer indirekten Auswirkungen und Folgen für die Unbeteiligten (vgl. Birnbacher 2006, 179 f.). Im Beispiel der Organtransplantation ist v. a. die Angst und Unsicherheit aller Drittpersonen zu nennen, die ihres Lebens nicht mehr sicher sein könnten und deren Lebensqualität durch diese Bedrohungslage erheblich vermindert würde. Außerdem müssten noch die Verluste in Betracht keine Würde/ Selbstbestimmung indirekte Begründung Verteidigungsstrategien 45316_Fenner_SL4b.indd 101 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="102"?> 102 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E gezogen werden, die Nahestehende oder Abhängige durch den Tod erleiden würden. Gegen diese indirekte Argumentation von Utilitaristen ist jedoch einzuwenden, dass ihre Stärke von zufälligen psychologischen und soziologischen Bedingungen im jeweiligen Einzelfall abhängt. Wenn beispielsweise die Tötung durch Organentnahme im Geheimen und von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt durchgeführt würde oder sich auf gänzlich vereinsamte Obdachlose beschränkte, würden die Argumente nicht greifen und es käme sehr wohl zu einem deutlichen Anstieg des faktischen Gesamtnutzens. Häufig machen Utilitaristen auch das empirisch nachweisbare und aus der Alltagserfahrung den meisten bekannte psychologische Gesetz des abnehmenden Grenznutzens geltend, demzufolge die Lust bei einer Abfolge gleicher Befriedigungsarten bei jedem Befriedigungserlebnis abnimmt. Es entscheidet sich jeweils an der Grenze zwischen den vorangegangenen und dem neuen Erlebnis, wie hoch der Nutzen tatsächlich ausfallen wird. So kann ein Milliardär von 1.000 Euro mehr kaum profitieren, wohingegen für Unterprivilegierte jeder Euro Gold wert ist. Wenn die Gemeinde daher einen Teil seines Lohns z. B. über Besteuerung einzieht und an die ärmsten Familien des Ortes verteilt, würde die Nutzensumme steigen. Damit meint man gezeigt zu haben, dass die Maximierung des Gesamtnutzens automatisch zu einer gerechten Verteilung der Güter führe. Wiederum ist aber bei dieser Argumentation zum einen bereits die empirische These höchst zweifelhaft, mithilfe des Phänomens des abnehmenden Grenznutzens sämtliche Gerechtigkeitsprobleme lösen zu können. Zum andern ist es normativ unbefriedigend, moralphilosophische Herausforderungen mit dem Hinweis auf empirisch-psychologische Effekte bewältigen zu wollen (vgl. Hübner, 231). Weder wird aber Gerechtigkeit von Utilitaristen als etwas an sich Gutes angesehen noch wird ein Kriterium für Gerechtigkeit präsentiert wie z. B. die Garantie einer Minimalversorgung für alle Menschen gemäß dem Schwellenprinzip oder die Optimierung der Lebenssituation der Schlechtestgestellten gemäß dem Maximinprinzip (vgl. Kap. 7.3). In gleicher Weise werden Rechte der Menschen nur ganz allgemein begrüßt, sofern sie den gesellschaftlichen Gesamtnutzen erhöhen (vgl. Mill, 11). Lediglich im Zeichen des Regelutilitarismus kommt den Rechten und Gesetzen für sich genommen als legitime Ansprünur empirischpsychologische Gegenargumente Gesetz des abnehmenden Grenznutzens 45316_Fenner_SL4b.indd 102 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="103"?> 103 u t I l I t a r I � � u � che der Einzelpersonen Verbindlichkeit zu. Der Regelutilitarismus als Antwort auf die Kritik an der Minderheitendiskriminierung im Handlungsutilitarismus erwies sich allerdings oben als methodisch inkonsequent. Fazit Das Grundproblem des Utilitarismus besteht also darin, dass die finale Nutzenmaximierung sämtliche (unmoralischen) Mittel zu rechtfertigen scheint und die Menschen selbst instrumentalisiert werden. Im obigen Beispiel wird das Töten des unschuldigen Obdachlosen jedoch in keiner Weise ethisch rehabilitiert dank der Rettung noch so vieler Notfallpatienten mittels seiner Organe. Wie einige Utilitaristen richtig erkannten, müsste das utilitaristische Moralprinzip daher ergänzt werden durch moralische Rechte oder Prinzipien wie Selbstbestimmungs- und Lebensrechte oder Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzipien. Zur Begründung solcher Ergänzungsprinzipien muss man aber den Boden des utilitaristischen Denkens zwangsläufig verlassen, sodass man keinen reinen Utilitarismus mehr vertreten würde und die Maximierung des Gesamtnutzens nur eine allgemeine Zielvorstellung wäre. Die moralischen Grundintuitionen der angemessenen Gleichheit und Gerechtigkeit würden sich im utilitaristischen Modell letztlich nur widerspruchsfrei realisieren lassen, wenn diese moralischen Ideale bereits in die Bildung der individuellen Präferenzen einflössen. Interessanterweise fordert Mill als Rahmenbedingungen für das utilitaristische Moralprinzip tatsächlich: 1. Gesetze und gesellschaftliche Verhältnisse, welche „die Interessen jedes Einzelnen so weit wie möglich mit dem Interesse des Ganzen in Übereinstimmung bringen“; 2. eine Erziehung und öffentliche Meinung, die es vermag, „in der Seele jedes Einzelnen eine unauflösliche gedankliche Verbindung herzustellen zwischen dem eigenen Glück und dem Wohl des Ganzen“ (Mill, 30 f.). Diskriminierende oder ungerechte Wünsche könnten infolge einer solchen idealisierten Erziehung gar nicht mehr entstehen, weil man die berechtigten Ansprüche der anderen bei der Ausbildung seiner Präferenzen von Anfang an einbezöge. Zweck heiligt nicht Mittel notwendige Ergänzung durch Rechte/ Prinzipien 45316_Fenner_SL4b.indd 103 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="104"?> 104 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Kritik • hedonistische Interpretation des Nutzens problematisch • keine exakte Anwendung des Nutzenkalküls möglich • Kritik der Bedürfnisse, Wünsche und Interessen fehlt • Problem der Gerechtigkeit ungelöst • Menschenwürde und Menschenrechte nicht berücksichtigt • Instrumentalisierung der einzelnen Menschen zugunsten der Nutzenmaximierung • Zweck der Nutzenmaximierung scheint alle Mittel zu rechtfertigen Kontraktualismus Im Gegensatz zum ethischen Egoismus gehen die kontraktualistischen Varianten des ethischen Subjektivismus vom anthropologischen Faktum aus, dass Menschen aufeinander angewiesen sind und miteinander kooperieren müssen. Auch die Kontraktualisten wählen aber als methodischen Ausgangspunkt die Annahme, dass alle Menschen rationale Egoisten sind, d. h. auf die größtmögliche Erfüllung der Eigeninteressen ausgerichtete kluge Nutzenoptimierer. Diese Annahme ist nicht zwangsläufig mit der anthropologischen These verknüpft, alle Menschen seien tatsächlich rationale Egoisten. Man versucht aber aufzuzeigen, dass Zusammenarbeit und damit eine eingeschränkte Nutzenmaximierung im wohlverstandenen und aufgeklärten langfristigen Interesse selbst eines amoralischen Egoisten liegen. Es soll also paradoxerweise für jeden von Vorteil sein, seine eigenen Vorteile nicht unter allen Umständen maximieren zu wollen. Die Moral wäre aus dieser Sicht nichts anderes als das Resultat von strategischen Überlegungen von rationalen Nutzenmaximierern. Einen Aufschwung erlebte der Kontraktualismus im 20. Jahrhundert, weil diese Form der subjektivistischen Moralbegründung durch neuere spiel- und entscheidungstheoretische Ansätze („rational choice theory“) große Anfangsplausibilität erhielt. 4 .3 methodischer Ausgangspunkt: rationale Egoisten 45316_Fenner_SL4b.indd 104 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="105"?> 105 � o n t r a � t u a l I � � u � Die vorwiegend in den Sozialwissenschaften zur Anwendung kommende Spieltheorie versucht, für verschiedene typische Handlungssituationen eine Auswahl an rationalen Handlungsstrategien für die beteiligten Akteure zu ermitteln. Mit ihrer Hilfe soll der Einzelne zu rationalen Entscheidungen gelangen, selbst wenn keine Kommunikation mit den anderen möglich ist. So sind etwa im berühmt gewordenen Gefangenendilemma zwei Verbrecher nach einem Bankraub gefangen und ohne jede Möglichkeit der Absprache inhaftiert worden. Wenn beide schweigen, werden sie nur zu jeweils einem Jahr Haft verurteilt, weil ihnen lediglich der unerlaubte Besitz einer Mordwaffe nachgewiesen werden kann. Um sie zu einem Geständnis zu bewegen, soll die Kronzeugenregelung gelten: Gesteht nur einer von beiden, wird dieser als Kronzeuge freigesprochen, wohingegen sein Kumpel die Höchststrafe von zehn Jahren erhält. Sagen jedoch beide gegeneinander aus, wirkt sich die Bereitschaft zur Aussage strafmildernd aus und führt zu je fünf Jahren Gefängnisstrafe. Vom Standpunkt der individuellen Nutzenoptimierung aus wäre offenkundig das Profitieren von der Kronzeugen-Regelung durch alleiniges Geständnis der bestmögliche Ausgang für den Einzelnen, weil dann nur der jeweils andere Nicht-Geständige ins Gefängnis kommt. Die Option „Gestehen“ führt zwar auf jeden Fall für beide Beteiligten zu einem besseren Ergebnis, ganz egal wie sich der jeweils andere entscheidet. Wenn jedoch beide Gefangenen aufgrund dieser egoistischen Nutzenerwägungen gestehen und sich damit gewissermaßen „unkooperativ“ verhalten, kommt es zum stabilen, aber nicht optimalen Gleichgewichtszustand mit fünf Jahren Haft für jeden von ihnen. Hätten sich die beiden aufeinander verlassen können und „kooperativ“ den Bankraub verschwiegen, hätten sie das für beide bessere Resultat von je einem Jahr erzielen können. B schweigen gestehen A schweigen 1/ 1 10/ 0 gestehen 0/ 10 5/ 5 Damit ist gezeigt, dass die rationale Verfolgung der Selbstinteressen ohne gegenseitige Absprache, Kooperation oder überge- Spieltheorie Gefangenendilemma 45316_Fenner_SL4b.indd 105 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="106"?> 106 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E ordnete Regeln nicht immer im langfristigen rationalen Selbstinteresse der Beteiligten ist. Kritisch anzumerken ist zu diesen spieltheoretischen Überlegungen allerdings aus ethischer Sicht: Da es bei einer solchen strategischen Lösungsfindung keineswegs um eine angemessene Berücksichtigung der fremden Interessen oder einen fairen Interessenausgleich geht, scheint es sich gar nicht um eine moralische Angelegenheit zu handeln (vgl. unten). Schwerlich kann eine Kooperation zwischen Kriminellen zur Vermeidung ihrer gerechten Strafe ein Paradigma für Moral sein. Das Denkmodell der Spieltheorie inspirierte aber bedeutende gegenwärtige Vertreter des ethischen Kontraktualismus wie David Gauthier oder John Rawls. Die Vertragstheorie oder der Kontraktualismus besagt, dass eine staatliche oder moralische Ordnung nur legitim ist, wenn sie sich als Ergebnis einer vertraglichen Übereinstimmung zwischen Individuen aufgrund ihrer langfristigen rationalen Selbstinteressen denken lässt. Zu unterscheiden ist dabei ein politischer von einem ethischen oder moralischen Kontraktualismus: Während ersterer auf die Legitimierung einer staatlichen Ordnung abzielt, bemüht sich der hier hauptsächlich zur Diskussion stehende moralische Kontraktualismus um die Rechtfertigung von moralischen Normen. Die Idee des moralischen Kontraktualismus geht zurück auf die griechischen Sophisten im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Als eigentlicher Begründer des Kontraktualismus gilt allerdings Thomas Hobbes, im 17. Jahrhundert einer der ersten Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit. Er hat den Kontraktualismus in seiner staatsphilosophischen Ausrichtung für zwei Jahrhunderte auf Erfolgskurs gebracht. Sowie nämlich zu Beginn der Neuzeit die bislang üblichen legitimierenden Instanzen Natur, Gott und Tradition entmachtet wurden, gewann das kontraktualistische Argument mächtig an Attraktivität. Denn man sah sich jetzt verwiesen auf das autonome, aus allen vorgegebenen Ordnungen herausgeworfene rationale Subjekt. Erhielt der Einzelne bislang Sinn und Wert aus den traditionalen Gesellschaften, musste sich nun umgekehrt jede moralische, gesellschaftliche und politische Ordnung vor diesen ungebundenen asozialen Einzelnen ausweisen können (vgl. Kersting 2011, 165). Den fruchtbaren Boden des Kontraktualismus bilden somit der normative Individualismus und der Liberalismus der Neuzeit. Nachdem in Hobbes Nachfolge wie bei Locke, Rousseau und Kant Kritik Kontraktualismus (Vertragstheorie) politischer vs. moralischer Kontraktualismus 45316_Fenner_SL4b.indd 106 05.03.2020 12: 20: 23 <?page no="107"?> 107 � o n t r a � t u a l I � � u � lange Zeit der politische Kontraktualismus dominierte und in der Gegenwart etwa von Robert Nozick und James Buchanan vertreten wird, argumentieren für den moralischen Kontraktualismus erst seit wenigen Jahrzehnten insbesondere David Gauthier und Peter Stemmer. Anstelle von „Vertrag“ sprechen die zwei Genannten allerdings lieber von „Agreement“ (vgl. Gauthier, 9/ Stemmer, 88). Die beiden zentralen systematischen Elemente der kontraktualistischen subjektiven Moralbegründung sind die genaue Analyse des „Naturzustandes“ (a) und der Vertragsschluss (b). Zu a: Unter Natur- oder Urzustand versteht man den Zustand vor dem Vertragsabschluss ohne jegliche Normen oder Rechte, in dem alle Menschen unbegrenzte Freiheiten genießen. In diesem vorvertraglichen moralfreien Zustand sollen derartige allgemeine Lebensbedingungen oder zwischenmenschliche Konflikte herrschen, dass alle Menschen freiwillig einer Beschränkung ihrer natürlichen Freiheiten zustimmen müssten. Hobbes schildert beispielsweise in seinem Hauptwerk Leviathan (32) einen totalen Kriegszustand aller gegen alle („bellum omnium contra omnes“), in dem jeder dem anderen ein Wolf ist („homo homini lupus“). Je nachdem, wie diese Problemlage genauer charakterisiert wird, sind damit bereits die Ziele des Vertragsschlusses vorgegeben: Bei Hobbes etwa soll durch den Vertrag vornehmlich die Unsicherheit und die Furcht vor einem gewaltsamen Tod beseitigt werden. Weil jeder ein starkes Interesse an Sicherheit und Lebenserhaltung hat, sich aber aus eigener Kraft auf Dauer kaum gegen die ständige Bedrohung schützen kann, verzichten alle auf ihre Freiheit, gelegentlich auftretende Tötungswünsche gegenüber ihren Mitmenschen auszuleben. Sie verpflichten sich zu einem allgemeinen Tötungsverbot, weil langfristig gesehen bei der allgemeinen Befolgung des Tötungsverbots das persönliche Kosten-Nutzen-Kalkül für alle eindeutig positiv ausfällt. Zu b: In der neueren Kontraktualismusdiskussion ist man sich darüber einig geworden, dass sich die Legitimität solcher moralischer Normen nicht einem faktischen, sondern einem hypothetischen Vertragsschluss verdankt (vgl. Schmidt 2000, 32). Auch der „Urzustand“ ist also ein bloß vorgestellter fiktiver, nicht ein tatsächlich existierender historischer. Von einem „Vertrag“ kann folglich nur in einem sehr metaphorischen Sinn die Rede sein. Es handelt sich eher um ein Gedankenexperiment, das rationale, Natur-/ Urzustand hypothetischer (fiktiver) Vertragsschluss 45316_Fenner_SL4b.indd 107 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="108"?> 108 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E an den eigenen Interessen orientierte Individuen in ihrem Kopf zur Prüfung der Richtigkeit von Normen durchspielen sollen. Moralisch richtig sind also diejenigen Normen, die in Bezug auf die langfristigen rationalen Selbstinteressen der Menschen mehr Nutzen als Schaden bringen. Moralischer Kontraktualismus: Diejenige Norm ist ethisch richtig, die sich als Ergebnis einer vertraglichen Übereinkunft zwischen interessenorientierten Individuen denken lässt, weil die allgemeine Befolgung dieser Normen im aufgeklärten langfristigen Selbstinteresse aller Vertragspartner steht. Zentrale systematische Elemente: z. B. bei der Begründung der Norm „Du sollst nicht töten“: a) fiktiver vormoralischer „Naturzustand“ : Krieg aller gegen alle, permanente Todesangst, fundamentale Interessen an Selbsterhaltung und Sicherheit ständig bedroht b) hypothetischer Vertrag : Verzicht auf Freiheit, andere nach Wunsch zu töten → Gewinn: Lebensschutz und Sicherheit → Nutzen überwiegt für jeden Einzelnen langfristig die Kosten Gehalt der Normen: Minimalmoral Auch wenn die Genese der in einer Gemeinschaft faktisch anerkannten moralischen oder rechtlichen Normen durch die kontraktualistische Analyse gut rekonstruiert zu werden scheint, gibt es zahlreiche kritische Rückfragen. Zunächst ist unklar, wie das Gedankenexperiment des Vertragsschlusses zur genaueren Bestimmung des Gehalts der Normen beitragen kann: Lässt sich der vormoralische „Urzustand“ sogenannter natürlicher Interessen und Freiheiten so präzise vorstellen, dass sich aus ihm sämtliche konkreten Normen für die Gesellschaft ableiten lassen? In einer zirkulären Argumentationsweise könnten die Ausgangsbedingungen immer gerade so konstruiert werden, dass man die gewünschten Normen daraus ableiten kann. Die Idee der vertraglichen Übereinkunft lässt nämlich offen, wie die langfristigen rationalen Selbstinteressen der Einzelnen zu ermitteln sind. Damit es zu einem hypothetischen Vertragsschluss kommen kann, müssten aber grundsätzlich die Interessen aller Beteiligten miteinander übereinstimmen, d. h. es müsste eine Definition Kritik Gehalt der Normen 45316_Fenner_SL4b.indd 108 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="109"?> 109 � o n t r a � t u a l I � � u � Interessenidentität vorliegen. Denn unter der Annahme rationaler Egoisten würden die Einzelnen niemals einer Norm zum Schutz fremder Interessen irgendwelcher Minderheiten wie etwa der Rollstuhlfahrer oder Obdachlosen zustimmen. Letztlich kommen also nur sehr fundamentale, für alle Menschen gleichermaßen wichtige Interessen in Frage, die immer schon erfüllt sein müssen, damit Menschen überhaupt überleben können, handlungsfähig sind und ihre persönlichen Wünsche und Interessen verfolgen können. Solche in der menschlichen Natur verankerten notwendigen Interessen können entweder anhand einer empirischen Untersuchung oder im Rückgang auf das höherstufige Interesse an Interessenverfolgung bzw. die menschliche Handlungsfähigkeit eruiert werden (vgl. Stemmer, 194 ff. / Kap. 5.2.3). Neben dem bereits erwähnten Tötungsverbot bedienen etwa auch die Verbote zu stehlen, lügen und betrügen fundamentale menschliche Interessen an Selbsterhaltung und minimaler sozialer Sicherheit. Es kann dann allerdings gegen die kontraktualistische Moralbegründung eingewendet werden, das Ergebnis falle inhaltlich gesehen eher „mager“ aus im Sinne einer Minimalmoral (vgl. Ott, 126). Universalistische Vertragstheorien: Selbstwiderspruch Um den Katalog der sich auf fundamentale allgemeinmenschliche Interessen beschränkenden Normen einer Minimalmoral auszuweiten, bedienen sich einige neuere Kontraktualisten eines zusätzlichen systematischen Elements des „Schleiers des Nichtwissens“. Das sogenannte Schleier-Argument wurde zwar von Rawls bei seinem Vertragsmodell zur Begründung der Prinzipien einer gerechten Gesellschaft eingeführt, lässt sich aber auf die Moralbegründung übertragen: In einem Gedankenexperiment sollen sich alle Vertragspartner hinter einen „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) versetzen, hinter dem sie ihre soziale Stellung, ihre Lebensumstände und ihre individuellen Selbstinteressen nicht kennen (vgl. Rawls, 159 f.). In der realen Welt mag es zwar höchst unwahrscheinlich sein, dass ein gut situierter Wohlstandsbürger irgendwann in seinem Leben zum Armutsflüchtling wird. Unter besagtem Schleier wird jedoch seine Individualität ausgeblendet und er muss daher wie alle anderen damit rechnen, in der Position von Armutsflücht- Interessenidentität der Vertragspartner Minimalmoral Schleier-Argument 45316_Fenner_SL4b.indd 109 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="110"?> 110 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E lingen zu sein und deren Interessen zu haben. Auf diese Weise kann nicht nur eine vertragliche Einigung bezüglich negativer Unterlassungspflichten wie die Verbote zu töten und zu stehlen zustande kommen, sondern darüber hinaus auch bezüglich positiver Fürsorge- und Schutznormen zugunsten von Schwächeren oder Minderheiten wie Flüchtlingen, Rollstuhlfahrern oder Obdachlosen. Im Unterschied zum klassischen individualistischen Kontraktualismus gelten moralische Normen im universalistischen Kontraktualismus dann als ethisch richtig, wenn sie sich von einem unparteiischen Standpunkt aus als vertragliche Übereinkunft interessenorientierter Individuen denken lassen (vgl. Pauer-Studer, 124 f. / Ott, 126 f.). Allerdings ist fraglich, ob diese etwa von Thomas Scanlon und Rainer Trapp vertretene universalistische Variante mit dem Grundgedanken des Kontraktualismus vereinbar ist und überhaupt noch als „Vertragstheorie“ gelten kann. Letztlich werden mit dem Schleier-Argument und dem Vertrags-Kunstgriff nur die grundlegenden moralischen Forderungen der Einnahme des unparteiischen Standpunkts und der Universalisierbarkeit moralischer Normen zum Ausdruck gebracht, die aber weder spezifisch noch typisch für den Kontraktualismus sind (vgl. Kap. 1.1/ 5.2). Individualistische Vertragstheorie: instrumentelles Moralverständnis Während beim Versuch eines universalistischen Vertragsmodells die Selbstinteressen individueller Klugheit gerade überwunden werden sollen, meint man im klassischen individualistischen Kontraktualismus moralische Legitimität und Normativität aus dem rationalen Selbstinteresse konkurrierender Individuen herleiten zu können (vgl. Stemmer, 84). Es stellt sich dann die Frage, ob solche im Bezug auf subjektive faktische Interessen begründeten Normen wirklich ethisch legitim oder nur strategisch klug sind. Die kontraktualistische Begründungsstrategie moralischer Normen erscheint bisweilen nur ein argumentativer Kunstgriff zu sein, um Egoisten oder Skeptiker zum Handeln nach bestimmten moralischen Normen zu bewegen. Dabei müssten diese keineswegs auf hören, Egoisten oder Skeptiker zu sein. Wenn moralische Richtigkeit von Normen aber nichts anderes darstellte als das Resultat eines Vertragsschlusses auf der Basis prudenindividualistischer vs. universalistischer Kontraktualismus Selbstwiderspruch strategische Klugheit von Egoisten 45316_Fenner_SL4b.indd 110 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="111"?> 111 � o n t r a � t u a l I � � u � tieller Rationalität, würde Moral auf Klugheit reduziert und es läge ein instrumentelles Moralverständnis vor (vgl. Bayertz, 161). Denn solange jeder vom Standpunkt des egoistischen Nutzenoptimierers aus den persönlichen Nutzen gegen die Kosten abwägt, ist die Dimension des Moralischen im Grunde noch gar nicht erreicht. Da man den eigenen Interessenstandpunkt in keiner Weise transzendiert, befindet man sich immer noch auf der prudentiellen Ebene des vertikalen strebensethischen Selbstbezugs (vgl. Kap. 1.1). Lässt man sich durch den kontraktualistischen Kunstgriff zur Einhaltung moralischer Normen überreden, handelte man immer nur moralgemäß oder moralkonform, aber nicht moralisch. Moralisch denkt und handelt nämlich nur derjenige, der die Normen aus der Einsicht heraus akzeptiert, dass sie wesentliche und berechtigte Interessen aller Menschen in gleicher Weise berücksichtigen. Genau besehen bildet nicht jede vertragliche Einigung automatisch Moral ab, sondern nur diejenige, die unter bestimmten moralisch vordefinierten Bedingungen des Vertragsschlusses wie gegenseitige Anerkennung und Freiwilligkeit, Gleichheit und Reziprozität aller Vertragspartner erzielt wurde (vgl. Kersting 1994, 55). Dank dieser moralischen Eigenschaften der Konsensfindung sind die Normen des Vertrags nicht von zufälligen, eventuell asozialen individuellen Interessen abhängig, sondern alle Individuen können gleich viel Nutzen aus der allgemeinen Befolgung der Normen ziehen bzw. müssen gleich viele Freiheiten dafür opfern. Als ein Moralprinzip fordert der Kontraktualismus die Einhaltung bestimmter Normen ein, weil sie für alle Menschen gleichermaßen gut sind und dem Schutz fundamentaler Interessen dienen. Anders als etwa im diskursethischen Modell werden allerdings diese moralisch vordefinierten Bedingungen im Kontraktualismus nicht weiter reflektiert und begründet (vgl. Kersting 2011, 166/ Kap. 5.2.2). Auch müsste man dann bei sämtlichen Beteiligten Moralität als Bereitschaft zum Transzendieren des egozentrischen Standpunktes voraussetzen, was der methodischen Annahme egoistischer Nutzenmaximierer widerspräche. Instrumentalisierung der Moral moralkonform statt moralisch Moralitäts- Bedingungen des Vertragsschlusses als Moralprinzip 45316_Fenner_SL4b.indd 111 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="112"?> 112 � u b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Instabilität des Moralsystems: Sanktionen notwendig Gegen das kontraktualistische Gedankenexperiment eines interessenbasierten Vertrags individualistischer Nutzenmaximierer ohne moralische Gesinnung wird nicht zuletzt eingewendet, dass es kein stabiles Moralsystem sicherstellen kann. Denn die Betonung der prudentiellen Perspektive und der Eigeninteressen könnte die Versuchung verstärken, wo immer möglich im Geheimen die Normen zu verletzen und sich parasitär und opportunistisch zu verhalten. Wie gesehen lässt sich aus individualethischer Sicht nur zeigen, dass langfristig jeder von der allseitigen Regelbefolgung und der Überwindung des konfliktuösen Urzustandes profitiert (vgl. Kap. 1.3/ Kersting 1994, 52 f.). Strategisch-prudentiell am günstigsten wäre es aber für den Einzelnen, als Trittbrettfahrer dem Vertrag zuzustimmen und den Schutz der Moral zu genießen, ohne sich selbst an die Regeln zu halten. Grundsätzlich kann ein bloß hypothetischer Vertrag niemals zu faktischen Verpflichtungen führen. Aber auch verbale Übereinkünfte, Versprechungen oder Verträge sind erfahrungsgemäß viel zu schwach, um entgegenstehenden Eigeninteressen standhalten zu können. Die Durchsetzung kontraktualistischer Normen scheint damit von Anfang an ein ausdividiertes System von Sanktionen zu erfordern. Bereits Hobbes hat im Rahmen seines politischen Kontraktualismus diese Problematik klar erkannt und für einen starken Staat mit einem Gewaltmonopol in Analogie zum biblischen Ungeheuer Leviathan plädiert (vgl. Hiob, 41.25). Kritik Status: • als argumentativer Kunstgriff im Sinne strategischer Rationalität und individueller Klugheit: - Devise: „Du sollst den Vertrag anerkennen, weil er Deinen langfristigen Selbstinteressen dient“ - oft verknüpft mit der anthropologischen These, dass alle Menschen rationale Egoisten sind Problem: - Instrumentalisierung der Moral → keine moralische Gesinnung kein stabiles Moralsystem parasitäres Verhalten hypothetischer Vertrag nicht bindend 45316_Fenner_SL4b.indd 112 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="113"?> 113 � o n t r a � t u a l I � � u � - parasitäres Verhalten → Profitieren von Regeln ohne Regelbefolgung - aus hypothetischem Vertrag folgen keine faktischen Verpflichtungen → Angewiesenheit auf Sanktionen • als Prinzip der Moral: - Devise: „Du sollst den Vertrag anerkennen, weil er für alle Menschen gleichermaßen gut ist, indem er ihre fundamentalen Interessen schützt“ - Annahme rationaler Egoisten ist nur methodisch Problem: - Moralitäts-Bedingungen des Vertragsschlusses wie gegenseitige Anerkennung, Gleichheit und Reziprozität nicht begründet - Transzendieren des egoistischen Standpunktes vorausgesetzt Übungsaufgaben 1. Wodurch sind subjektivistische Begründungsformen charakterisiert? 2. Welche Hauptkritikpunkte werden gegen den Utilitarismus vorgebracht? 3. Worin besteht das methodische Grundproblem beim Kontraktualismus? Literatur Bentham, Jeremy: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, in: Höffe, Otfried : Einführung in die utilitaristische Ethik, 3., aktual. Auflage, Tübingen 2003, S. 55-83. Birnbacher, Dieter: Utilitarismus/ Ethischer Egoismus, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H . (Hrsg ) : Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2011, S. 95-107. Hobbes, Thomas: Leviathan, Stuttgart 1992. Mill, John Stuart: Der Utilitarismus, Stuttgart 1991. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 9. Auflage, Frankfurt a. M. 1996. Singer, Peter: Praktische Ethik, 2., rev. und erw. Auflage, Stuttgart 1994. Stemmer, Peter: Handeln zugunsten anderer. Eine moralphilosophische Untersuchung, Berlin/ New York 2000. Wolf, Jean-Claude: Ethischer Egoismus, in: EWE, 15/ 2004, Heft 4, S. 513-519. 45316_Fenner_SL4b.indd 113 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="114"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 114 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="115"?> 115 Objektivistische Begründungsmodelle Inhalt 5.1 Ethischer Realismus: Übereinstimmung mit Tatsachen 5.1.1 Naturalismus 5.1.2 Intuitionismus 5.2 Ethischer Konstruktivismus: reflexive Begründung 5.2.1 Vernunftethik (Kant) 5.2.2 Diskursethik (Apel/ Habermas) 5.2.3 Handlungsreflexiver Ansatz (Gewirth/ Steigleder) Zusammenfassung Im Gegensatz zu subjektivistischen gehen objektivistische Begründungsmodelle von objektiven moralischen Tatsachen aus und versuchen, moralische Sollensforderungen unabhängig von empirischen Zuständen oder Interessen konkreter Subjekte zu begründen. Gemäß ethischem Realismus im engen Sinn ist eine normative Aussage dann wahr oder richtig, wenn sie mit bestimmten Tatsachen in der Welt übereinstimmt (5.1), sei es die sinnlich wahrnehmbare empirische Wirklichkeit wie im Naturalismus (5.1.1) oder eine geistig erfassbare ideelle Wirklichkeit wie im Intuitionismus (5.1.2). Demgegenüber werden objektiv gültige moralische Prinzipien bei der reflexiven Begründungsmethode des Konstruktivismus gewissermaßen „konstruiert“ (5.2), indem nach den grundlegenden Voraussetzungen ethischen Denkens und Handelns gefragt wird wie z. B. in Kants Vernunftethik oder der Diskursethik (5.2.1/ 5.2.2). 5 45316_Fenner_SL4b.indd 115 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="116"?> 116 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Im Gegensatz zu subjektivistischen Begründungsmodellen bestreiten objektivistische, dass sich moralische Sollens-Aussagen auf prudentielle Interessen, Wünsche oder das Glücksstreben von Individuen zurückführen lassen. Wenn wir etwas als moralisch richtig oder falsch beurteilen, gehe es um mehr als um zufällige empirische oder wie auch immer aufgeklärte Pro-Einstellungen konkreter Subjekte. Tatsächlich ist nach unseren moralischen Intuitionen ein Handeln nicht gut, weil wir es billigen. Vielmehr billigen wir es, weil es uns als moralisch wertvoll erscheint. Entsprechend versuchen objektivistische Begründungsmodelle, moralische Sollensforderungen unabhängig von empirischen Zuständen oder Interessen konkreter Subjekte zu begründen. Für die zu diesem Zweck entwickelten ethischen Theorien werden sehr uneinheitlich die beiden Begriffe „ethischer Objektivismus“ und „ethischer Realismus“ mit unterschiedlichem Begriffsumfang verwendet (vgl. Quante, 74 f./ Hübner, 54 f.). Während alle Theorien mit objektivistischen Begründungsverfahren eindeutig dem ethischen Objektivismus zugeordnet werden können, ist beim „ethischen Realismus“ folgende Differenzierung vorzunehmen: Ausgehend vom ethischen Realismus im weiten Sinn wären alle objektivistischen Ethiktypen zugleich „realistisch“, weil sie moralische Tatsachen in einer subjektunabhängigen Form annehmen. Denn was moralisch richtig oder falsch ist, hängt bei allen Varianten nicht von zufälligen subjektiven Interessen, Meinungen oder Urteilen der Menschen ab. Demgegenüber ist der ethische Realismus im engen Sinn oder „substantielle Realismus“ eine metaphysische und ontologische Position, derzufolge moralische Eigenschaften in der Wirklichkeit existieren und „moralische Tatsachen“ im engen Sinn darstellen (vgl. Quante, 76/ Pauer-Studer, 199). Was moralisch wahr bzw. richtig ist, wird dann gleichsam in der subjektunabhängig existierenden Wirklichkeit vorgefunden und braucht nur „entdeckt“ zu werden (vgl. Hübner, 52 ff.). In diesem zweiten, hier bevorzugten engen Verständnis ist nun aber der „Objektivismus“ nicht deckungsgleich mit dem „Realismus“, sondern umfasst darüber hinaus noch den „Konstruktivismus“. Anders als beim Realismus im engen Sinn existieren gemäß ethischem Konstruktivismus moralische Tatsachen nicht unabhängig von menschlichen Urteilen und Begründungsverfahren, sondern werden nach bestimmten Regeln und Begründungsmethoden entworfen oder „konstruiert“. Da aber auch für ethischer Objektivismus ethischer Realismus im weiten Sinn ethischer Realismus im engen Sinn ethischer Konstruktivismus 45316_Fenner_SL4b.indd 116 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="117"?> 117 � o n t r a � t u a l I � � u � den Konstruktivismus Ansprüche auf moralische Richtigkeit keineswegs subjektiv und willkürlich sind, wird er im Sinne eines weit verstandenen Realismus bisweilen als „Realismus der guten Gründe“ oder „prozeduraler Realismus“ vom „substantiellen Realismus“ abgegrenzt (vgl. Pauer-Studer, 199; 209 f.). Ethischer Objektivismus: Normative Aussagen lassen sich nicht auf subjektive Interessen zurückführen, sondern ihre Objektivität ist in der Übereinstimmung mit einer außerhalb der Subjekte existierenden Wirklichkeit ( moralischer Realismus ) oder in allgemeinen kognitiven, pragmatischen oder sozialen Bedingungen moralischen Urteilens oder Handelns begründet ( Konstruktivismus ). Ethischer Objektivismus - objektivistische Begründungsmodelle - es gibt moralische Tatsachen ethischer Realismus (im engen Sinne) - moralische Tatsachen existieren in der subjektunabhängigen Wirklichkeit - das moralisch Richtige wird „entdeckt“ ethischer Konstruktivismus - moralische Tatsachen werden nach bestimmten objektiven Regeln und Verfahren konstruiert - das moralisch Richtige wird „entworfen“ Ethischer Realismus: Übereinstimmung mit Tatsachen Der hier im engeren Sinn verstandene moralische oder ethische Realismus ist wie gesehen dadurch charakterisiert, dass er der Ethik ein ontologisches, d. h. das „Sein“ betreffendes Fundament gibt: Analog zum ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus existieren moralische Tatsachen „da draußen in der Welt“ und können mittels menschlicher Sinnesorgane, Vernunft oder Gefühlen eingesehen werden. Wie bei der klassischen Korrespondenztheorie der Wahrheit wird Wahrheit bzw. normative Richtigkeit als Übereinstimmung zwischen subjektivem Urteil Definition 5 .1 ethischer Realismus ethischer Objektivismus 45316_Fenner_SL4b.indd 117 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="118"?> 118 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E und objektiven Sachverhalten aufgefasst: Eine normative Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit der von unseren subjektiven Meinungen und Wünschen völlig unabhängig existierenden Wirklichkeit übereinstimmt. Wie genau die vorgefundenen moralischen Tatsachen beschaffen sind und welchen Zugang Menschen zu ihnen haben, darüber gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen. Grundsätzlich lassen sich ein naturalistischer und ein nichtnaturalistischer Realismus voneinander abgrenzen, wobei die klassische Position des nichtnaturalistischen Realismus der „Intuitionismus“ ist (vgl. Schmidt, 49/ Ricken, 79). Entsprechend der gängigen, auf George Moore zurückgehenden Aufgliederung werden im Folgenden daher der „Naturalismus“ (Kap. 5.1.1) und der „Intuitionismus“ (Kap. 5.1.2) näher erläutert: Dem Naturalismus zufolge sollen sich die Menschen an der alltäglichen raumzeitlichen empirischen Wirklichkeit orientieren, die über die Sinne wahrgenommen werden kann. Demgegenüber bezieht sich der nichtnaturalistische Intuitionismus auf eine nichtmaterielle ideelle Wirklichkeit, die sich geistig oder gefühlsmäßig erfassen lässt. Ethischer Realismus: Eine normative Aussage ist dann wahr bzw. normativ richtig, wenn sie mit bestimmten Tatsachen in der Welt übereinstimmt. Ethischer Realismus Naturalismus (Kap . 5 1 1) - moralische Tatsachen sind natürliche Tatsachen - Wahrheit ist Übereinstimmung mit materieller, sinnlich wahrnehmbarer Wirklichkeit Intuitionismus (Kap 5 .1 2) - moralische Tatsachen sind nichtnatürliche Tatsachen - Wahrheit ist Übereinstimmung mit ideeller, geistig erfassbarer Wirklichkeit naturalistischer vs. nichtnaturalistischer Realismus Naturalismus Intuitionismus Definition ethischer Realismus 45316_Fenner_SL4b.indd 118 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="119"?> 119 � o n t r a � t u a l I � � u � Naturalismus Anschauungsbeispiele a) X rechtfertigt seine Steuerhinterziehung damit, dass doch alle Menschen dies tun. b) Y hat der fremden Frau beim Aussteigen aus dem Zug geholfen, weil sie alt und gebrechlich war und zwei schwere Koffer trug. c) Z ist gegen Empfängnisverhütung, weil das naturwidrig ist. d) Alle Männer sollen vom moralischen Gebot ehelicher Treue entlastet werden, weil ihr genetisches Programm sie dazu zwingt, möglichst viele Frauen zu begatten, um die Fortpflanzung zu steigern. Der Naturalismus ist eine philosophische Position des 20. Jahrhunderts, derzufolge alles in der Welt, insbesondere auch geistige und soziale Phänomene, aus der Natur heraus und mittels naturwissenschaftlicher Methoden erklärt werden kann. Entsprechend versucht der ethische Naturalismus, alle ethischen Begriffe und Aussagen auf naturwissenschaftlich ausgewiesene empirische Begriffe oder Tatsachen zu reduzieren. Moralische Aussagen wären dann letztlich nichts anderes als Aussagen über das Vorliegen natürlicher Tatsachen, sodass die Ethik in eine angewandte Naturwissenschaft transformiert wird. Die Bezugnahme auf raumzeitliche Fakten oder Ereignisse ist aber nicht nur im philosophischen Naturalismus, sondern auch im moralischen Alltagsdiskurs sehr beliebt. Verwendet man den Begriff „Natur“ in einem sehr weiten Sinn für alles, was faktisch vorgefunden wird und sich empirisch erkennen und beschreiben lässt, ist es wohl sogar der am häufigsten gebrauchte Argumentationstyp. Trotz der hohen Anfangsplausibilität erweisen sich allerdings die gängigen naturalistischen Argumentationsweisen bei eingehender Prüfung als logisch falsch oder unvollständig. Die Reduktion von Normen auf Fakten ist ethisch gesehen höchst problematisch und umstritten. Begonnen wird daher mit der Analyse einiger typischer alltäglicher Argumentationsfallen, um danach zwei bedeutende philosophische Positionen des ethischen Na- 5 .1 .1 ethischer Naturalismus Natur im weiten Sinn 45316_Fenner_SL4b.indd 119 05.03.2020 12: 20: 24 <?page no="120"?> 120 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E turalismus vorzustellen: die evolutionäre (1) und die hedonistische Ethik (2). Ethischer Naturalismus: Normative Aussagen sind wahr und begründet, wenn sie mit naturwissenschaftlichen empirischen Aussagen über die Wirklichkeit übereinstimmen. Argumentationsformen wie im ersten Anschauungsbeispiel a) sind uns aus dem praktischen Alltag wohl vertraut: So versucht X das Hinterziehen der Steuern damit zu rechtfertigen, dass doch alle Menschen Steuern hinterziehen, wo immer sie nur können. Nehmen wir einmal an, dass es tatsächlich stimmt, dass alle Menschen oder doch ein Großteil der Menschen Steuern hinterzieht, wo sich eine günstige Möglichkeit bietet. Anhand einer empirischen Überprüfung müsste diese Pauschalaussage erst einmal verifiziert bzw. falsifiziert werden. Kann man aber wirklich vom Faktum, dass alle Menschen so handeln, darauf schließen, dass Steuerhinterziehung ethisch legitim ist? Eine ähnliche Denkweise liegt bei folgenden Argumentationsweisen vor: Es müssen neue Flughäfen gebaut werden, weil alle Menschen fliegen wollen. Ist dieser Schluss zwingend? Oder eine entlarvte Lüge wird mit dem Hinweis auf eine neuere Studie von Psychologen und Kommunikationswissenschaftlern zu legitimieren versucht, derzufolge alle Menschen etwa 200 Mal am Tag lügen. Doch auch wenn Menschen 2.000 Mal am Tag lügen würden - wird das Lügen deswegen ethisch besser? Klarerweise nein! Sein-Sollen-Fehlschluss Der Auf klärungsphilosoph David Hume war es, der als Erster die logische Unmöglichkeit aufwies, aus einer deskriptiven Tatsachenaussage eine normative Sollensforderung abzuleiten (vgl. Hume 1978, 211). Man nennt diesen Fehlschluss daher Sein- Sollen-Fehlschluss und das Verbot dieses Schlusses das Humesche Gesetz. In der Alltagssprache fungiert dafür der Ausdruck „naturalistischer Fehlschluss“, der sich verwirrenderweise in der Philosophie als Übersetzung von Moores „naturalistic fallacy“ für ein anderes ethisches Phänomen eingebürgert hat (vgl. unten, Punkt 1: hedonistische Ethik). Entsprechend der Ausführungen Definition Sein-Sollen- Fehlschluss (Humesches Gesetz) 45316_Fenner_SL4b.indd 120 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="121"?> 121 � o n t r a � t u a l I � � u � zur Argumentationstheorie sind die vorgebrachten Argumente formal ungültig, weil es sich um einen formalen Fehlschluss handelt: Durch die Vermischung der deskriptiven und normativen Ebene ergibt sich eine Kategorienverwechslung oder ein logischer Fehler. Auch wenn die angeführten deskriptiven Behauptungen also korrekt wären, würden sie aus formallogischen Gründen in keinem der Beispielfälle etwas über die ethische Richtigkeit oder Falschheit der Handlungen aussagen. Entgegen der These der ethischen Naturalisten gibt es keinen legitimen Übergang von einem faktischen Sein zu einem normativen Sollen. Die mittlere kinetische Energie einer Gruppe von Atomen oder das beobachtbare Verhalten von Bienen oder Menschen enthalten keine präskriptiven Eigenschaften und schreiben uns keine bestimmte Handlungsweise vor. Auch aus vollständigen und angemessenen Beschreibungen von Tatsachen folgt also keine in moralischer Hinsicht relevante Einsicht. Sein-Sollen-Fehlschluss (Humesches Gesetz): falscher Schluss von deskriptiven Tatsachenaussagen auf normative Sollensforderungen kurz : Schluss vom Sein aufs Sollen z.B.: Alle Menschen hinterziehen Steuern. → Steuerhinterziehung ist ethisch legitim. Immer mehr Menschen wollen fliegen. → Es sollen neue Flughäfen gebaut werden. Im Zug-Beispiel b) scheint nicht nur das Handeln von Y ethisch vorbildlich zu sein, sondern auch seine Begründung: Y hat der Frau angeblich beim Aussteigen geholfen, weil sie alt und gebrechlich war und ihre schweren Koffer nicht selbst tragen konnte. Aber reicht die empirisch feststellbare objektive Eigenschaft des Gebrechlichseins und der Hilflosigkeit wirklich aus, um die Hilfeleistung ethisch zu rechtfertigen? Gemäß dem Toulmin’schen Argumentationsschema müsste Y für eine vollständige Argumentation noch eine Verbindung herstellen (vgl. Kap. 3.1): Y müsste ein Prinzip oder eine Schlussregel (SR) angeben, um zu zeigen, wieso der Schluss von den Fakten oder Daten (D) auf die ethische Sollensforderung oder Konklusion (K) richtig ist. Die von Y ausgesparte Schlussregel lautete zweifellos: „Alten und gebrechlichen Leuten, die eine schwierige Situation nicht formaler Fehlschluss Definition 45316_Fenner_SL4b.indd 121 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="122"?> 122 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E selbst bewältigen können, muss man helfen.“ Da wir normalerweise diese moralische Norm der Hilfeleistung als selbstverständlich erachten, braucht Y sie weder zu begründen bzw. zu stützen (S) noch überhaupt zu erwähnen. In solchen Fällen scheint der Vorwurf eines Sein-Sollen-Fehlschlusses denn auch unangemessen zu sein. Häufig wird aber in Alltagsgesprächen die Schlussregel bzw. eine zweite normative Prämisse bewusst ausgespart, weil sie umstritten ist und eine eingehendere Diskussion erforderte. So wird beispielsweise argumentiert: Der Klimawandel schreitet voran, daher sollen die CO2-Emissionen eingedämmt werden. Hier fehlen aber nicht nur relevante zusätzliche Informationen wie diejenigen, dass und in welchem Ausmaß die CO2- Emissionen den Klimawandel beschleunigen und welche Folgen ein weiterer Temperaturanstieg für die Menschen auf der ganzen Welt hätte. Es fehlt v. a. auch das Moralprinzip, demzufolge die gegenwärtig in reichen nördlichen Industriestaaten lebenden Menschen das Leben oder die Lebensqualität von Menschen in ärmeren südlichen Trocken- oder Küstenregionen oder kommender Generationen nicht gefährden dürfen. Wer also in einer ethischen Diskussion nur Fakten anführt ohne eine adäquate Interpretation der Fakten und eine ethisch rechtmäßige Norm als Schlussregel, hat streng genommen kein gültiges Argument vorgebracht. Ein solches verkürztes Argumentationsverfahren mit einer fehlenden Prämisse nennt man in der Rhetorik ein Enthymem. Es handelt sich bei Fall b) also nur scheinbar um ein naturalistisches Argument. Anschauungsbeispiel Diese Frau ist alt und gebrechlich und hat zwei schwere Koffer (D) Du solltest dieser Frau helfen (K) ausgespart: Alten und gebrechlichen Leuten, die eine Situation nicht bewältigen können, soll man helfen (SR) nur scheinbarer Naturalismus Enthymem Enthymem (verkürzter Schluss) 45316_Fenner_SL4b.indd 122 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="123"?> 123 � o n t r a � t u a l I � � u � Naturwidrigkeits-Argumente Eindeutig naturalistisch sind demgegenüber wieder all jene Argumente, die wie dasjenige von Z in Beispiel c) mit den Ausdrücken „natürlich“, „naturgemäß“ oder „naturwidrig“ operieren. Doch was meinen Moralprediger oder Moraltheologen, wenn sie etwa Empfängnisverhütung, Masturbation oder Homosexualität verurteilen, weil sie „wider die Natur“ seien? Den Maßstab bildet dabei meist die Natur im engen Sinn als all jenes, was nicht vom Menschen hervorgebracht und ohne Zutun des Menschen im Rahmen der geltenden Naturgesetze geschieht. Eine „natürliche“ Befriedigung des sexuellen Triebbedürfnisses beispielsweise wäre dementsprechend eine Sexualität im Dienst der Selbsterhaltung und der Fortpf lanzung. Gezielte Empfängnisverhütung durch menschliche Hand müsste demgegenüber als „widernatürlich“ diskreditiert werden. Bisweilen nehmen Theologen und Naturphilosophen zusätzlich noch an, dass alles „Natürliche“ auf einen sinnvollen, in ihm angelegten objektiven oder göttlichen Zweck ausgerichtet ist. Vorausgesetzt wird dann ein normativ aufgeladener metaphysisch-teleologischer Naturbegriff im Sinne des Naturrechts, demzufolge „Natur“ eine hierarchisch gestufte, auf Zwecke ausgerichtete Ordnung mit verpf lichtendem Charakter darstellt. Der natürliche Zweck der Sexualität wäre die Zeugung menschlichen Lebens, wohingegen Empfängnisverhütung, Masturbation oder Homosexualität Sünden gegen die Natur des Sexualaktes bzw. die Zeugungsfähigkeit oder gar gegen den Schöpfergott wären (vgl. Ginters, 38 ff.). Das offenkundige Grundproblem bei diesem starken normativen Naturbegriff besteht in der Ermittlung und Begründung der angeblich in der Natur vorfindlichen orientierungsstiftenden Zwecken. Häufig liegt der Beweisfehler eines logischen Zirkels oder Zirkelschlusses vor, bei dem das zu Beweisende wie z. B. eine bestimmte politische Ordnung zunächst willkürlich in die Natur hineininterpretiert wird, um dann daraus wieder abgeleitet werden zu können. So beriefen sich beispielsweise im 18. Jahrhundert französische Philosophen wie Henry d’Holbach bei ihrer radikalen Kritik an der Monarchie auf das Gesetzbuch der Natur, während Edmund Burke diese gerade wegen ihrer angeblichen Übereinstimmung mit der Welt- und Naturordnung verteidigte. Naturwidrigkeits- Argument Natur im engen Sinn Naturrecht Kritik an starkem normativem Naturbegriff Zirkelschluss 45316_Fenner_SL4b.indd 123 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="124"?> 124 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Natürlichkeits-Argumente mit Bezugnahme auf die Natur sind ganz allgemein entweder inkonsequent oder lassen sich leicht ad absurdum führen: Die Verfechter der normativen Lehre von den natürlichen Zwecken müssten streng genommen auch auf ein allgemeines Rasierverbot pochen, weil man mit dem Rasieren den Zweck des natürlichen Bartwuchses durchkreuzt. Wenn man das Rasieren jedoch billigt, wird eine willkürliche Grenze ohne weitere Begründung gezogen zwischen natürlichen Zweckbestimmungen, die man entweder beachten oder nicht beachten soll. Bei einer näheren Prüfung der engen Definition von „Natur“ bzw. „natürlich“ erkennt man rasch, dass die meisten menschlichen Tätigkeiten „widernatürlich“ wären. Selbst in die elementarsten unwillkürlichen Verhaltensweisen wie Verdauen, Atmen oder Schlafen greifen wir mit unserem planenden Geist durch gezielte Nahrungsaufnahme, Atemtechniken oder Schlaftabletten ein. Auch das Stillen primärer Triebbedürfnisse nach Nahrung oder Sex ist immer schon kulturell überformt und damit nicht mehr „natürlich“. Bei einer „natürlichen“ Lebensweise müsste konsequenterweise nicht nur auf das Rasieren, sondern etwa auch auf die medizinische Behandlung von natürlichen Krankheits- oder Sterbensprozessen, das Bauen von Staudämmen oder Straßen und sämtliche anderen wissenschaftlich-technischen Mittel zur Erleichterung des menschlichen Lebens verzichtet werden. Ein solcher Rückgang vor jede Entstehung einer menschlichen Kultur ist aber abwegig und keineswegs erstrebbar, weil der Mensch sich gerade durch seine besondere Reflexionsfähigkeit und Gestaltungsfreiheit auszeichnet und auf die Kultur als seine „zweite Natur“ angewiesen ist. Neben diesem vordergründigen Dilemma zwischen inkonsequenter Argumentation und absurden Konsequenzen liegt noch ein zweites, tiefer greifendes Problem. Es handelt sich um das bereits angesprochene Grundproblem des ethischen Naturalismus. Deutlicher tritt es hervor, wenn man sich das Argumentationsschema nach Toulmin vergegenwärtigt. Die Schlussregel (SR) lautete hier nämlich: „Man soll nichts Naturwidriges tun“ oder positiv formuliert „Man soll naturgemäß leben“. Als Stützung (S) ließe sich ergänzen: „Alles in der Natur oder alles Natürliche ist gut“. Offenkundig nimmt „Natur“ einmal eine empirisch-deskriptive, einmal eine normative Bedeutung an: Zum einen rekurriert der Naturalist auf die „Natur“ in einem willkürliche Grenzziehung absurde Konsequenzen Natur: deskriptive vs. normative Bedeutung 45316_Fenner_SL4b.indd 124 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="125"?> 125 � o n t r a � t u a l I � � u � deskriptiven Sinn als Gesamtheit der Tatsachen und Vorgänge, die ohne menschliches Zutun existieren und mit objektiven naturwissenschaftlichen Messmethoden erhoben werden können. Zum anderen soll die „Natur“ aber einen verbindlichen normativen Maßstab menschlichen Handelns bilden. Während es in antiken Kosmos- und mittelalterlichen Schöpfungsvorstellungen keine Kluft zwischen Fakten und Normen gab und der Vorwurf des Sein-Sollen-Fehlschlusses daher in solchen metaphysischen Weltbildern nicht greift, setzte sich in der Neuzeit mit Galilei und Kepler ein rein quantitativ-deskriptiver Begriff der Natur als Gesamtheit messbarer und gesetzmäßig verlaufender Teilchenverbände durch. Von dieser entmystifizierten empirischdeskriptiven „Natur“ gibt es aber streng genommen keinen logischen Übergang mehr zu einer „Natur“ als normativer Ordnung. Schließt man vom Faktum der objektivierbaren Natur auf ethische Normen, begeht man vielmehr einen Sein-Sollen- Fehlschluss: Auch wenn es wahr wäre, dass sich die Sexualität ohne kulturelle Evolution ausschließlich im engen Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung vollzieht, lässt sich daraus nicht ableiten, dass dies so sein soll. Es wäre zusätzlich zu begründen, wieso Fortpflanzung oder alles „Natürliche“ in jedem Fall gut ist. Auch wenn es in der Natur eine bestimmte erkennbare Ordnung gäbe, verpflichtet diese uns zu nichts. Eine Begründung normativer Richtigkeit ist etwas grundlegend Anderes als eine empirische Überprüf barkeit anhand von Tatsachen. Anschauungsbeispiele Empfängnisverhütung ist naturwidrig (D) Du sollst keine empfängnisverhütenden Mittel einsetzen (K) Man soll nichts Naturwidriges tun (SR) Alles Natürliche ist gut (S) Sein-Sollen-Fehlschluss: Der natürliche Zweck der Sexualität ist die Fortpflanzung Man soll keine empfängnisverhütenden Mittel einsetzen neuzeitlicher deskriprtiver naturbegriff Naturwidrigkeits- Argument 45316_Fenner_SL4b.indd 125 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="126"?> 126 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E 1) Evolutionäre Ethik Die Vertreter der Evolutionstheorie in der Nachfolge von Charles Darwin und Herbert Spencer stützen sich hauptsächlich auf das wichtigste biologische Gesetz der natürlichen Selektion. Dieses kommt sowohl auf der Ebene der Einzelindividuen als auch auf der Ebene der genetischen Ausstattung einer Art zur Anwendung: Die Individuen sind aufgrund ihrer physiologischen Ausstattung und ihrer Verhaltensmuster mehr oder weniger gut gerüstet für den Kampf ums Dasein. Da infolgedessen immer nur die Tüchtigsten oder Bestangepassten („fittest“) überleben, verbessert sich automatisch das genetische Material der einzelnen Arten. Die in den 1980er Jahren insbesondere von Hans Mohr, Rupert Riedl, Gerhard Vollmer und Franz Wuketits entwickelte evolutionäre Ethik behauptet, auch die moralischen Werte und Normen seien nichts anderes als das Resultat solcher evolutionärer Selektionsprozesse. Sie hätten sich also in der Evolutionsgeschichte des Menschen nur deswegen herausgebildet, weil sie zur bestmöglichen Genausstattung und -verbreitung beitragen. Zwar scheint die Moral vom Standpunkt des Einzelindividuums aus auf den ersten Blick dessen Chancen im Überlebenskampf zu verringern, indem sie ihn zu einer gleichen Berücksichtigung der Interessen seiner Konkurrenten aufruft. Sofern man sich jedoch altruistisch innerhalb der eigenen Art und besonders gegenüber den genetisch Verwandten verhält, trägt man zu einer Vermehrung des Genoms seiner Art bei (vgl. Dawkins, 37 f.). Auch allgemein haben die evolutionären Ethiker auf empirischer Basis nachzuweisen versucht, dass ein reziproker (gegenseitiger) Altruismus in stabilen Kooperationsbeziehungen eine günstige evolutionäre Strategie sei (vgl. dazu Quante, 117 f.). Denn es werden dabei lediglich kurzfristige Nachteile zugunsten langfristiger Vorteile in Kauf genommen. Sofern die evolutionären Ethiker die Genese moralischer Werte und Normen auf diese Weise lediglich beschreiben und konstatieren, betreiben sie deskriptive Ethik unter einer evolutionären Perspektive (vgl. Kap. 1.2). Gegen diese deskriptiven Thesen lässt sich einwenden, dass man für eine Erklärung der Genese der menschlichen Moral neben der natürlich-biologischen Evolution mit vererbtem Verhalten zum Zweck der Anpassung noch die kulturelle Evolution mit erlernten Handlungsregeln zu berücksichtigen hätte. Dieser von Menschen selbstverantwortlich Evolutionismus: natürliche Selektion evolutionäre Ethik deskriptive Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 126 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="127"?> 127 � o n t r a � t u a l I � � u � gesteuerte geistig-kulturelle Prozess kann sogar eine Manipulation der natürlichen evolutionären Gesetze beinhalten und moralische Normen gerade zum Schutz der von Natur aus weniger gut Ausgestatteten hervorbringen. Mitunter wähnen Evolutionisten aber, mit ihren genetischen Erklärungsmodellen über deskriptive Aussagen hinaus auch im Zeichen der normativen Ethik Aussagen über den Geltungsanspruch von Normen machen zu können. So plädieren etwa Sozialdarwinisten oder Soziobiologen dafür, dass das in der Natur vorherrschende Recht des Stärkeren und der Überlebenskampf als Selektionsprinzip auch in der Gesellschaft gelten sollen. Gemäß Beispiel d) nach Christian Vogel sollen z.B. Männer vom Gebot ehelicher Treue entlastet werden, weil sie genetisch programmiert seien, möglichst viele Frauen zu begatten und damit den Fortpflanzungserfolg zu steigern (vgl. dazu Pieper 1998, 252). Ganz im Gegensatz dazu wären Frauen zur Treue verpflichtet, um bestmögliche Aufzuchtbedingungen für den Nachwuchs zu schaffen. Genau genommen stehen die normativen Evolutionsethiker damit vor folgendem Dilemma: Sie können zum einen behaupten, dass die Menschen von ihren Genen vollständig determiniert werden. In diesem Fall würde sich aber jede Ethik und Moral erübrigen (vgl. Kap. 7.2). Allerdings spricht gegen diese Argumentation die entwicklungspsychologische Erkenntnis, dass die Gene niemals direkt das menschliche Verhalten bestimmen, sondern nur eine gewisse „Reaktionsnorm“ oder Spannbreite möglicher Verhaltensweisen vorgeben (vgl. Trautner, 69 ff.). Gestehen evolutionäre Ethiker jedoch zum anderen den Individuen Freiheit und Verantwortung zu, läge klarerweise wiederum ein Sein- Sollen-Fehlschluss vor. Weder lässt sich die von evolutionistischen Ethikern verteidigte Doppelmoral rational begründen, noch können uns evolutionäre Prinzipien generell Aufschluss geben über die Richtigkeit oder Falschheit moralischer Normen. Der wissenschaftlich noch so fundierte Blick in die Natur kann niemals Antworten auf die normative Frage liefern, wie wir handeln sollen. normative Ethik Sozialdarwinismus, Soziobiologie Kritik: Dilemma 45316_Fenner_SL4b.indd 127 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="128"?> 128 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Evolutionäre Ethik: deskriptive : Die Moral lässt sich ableiten aus den evolutionären Gesetzen der natürlichen Selektion. normative : Normative Aussagen sind wahr, wenn sie mit den evolutionären Gesetzen der bestmöglichen Anpassung (an soziale Gegebenheiten) bzw. der bestmöglichen Genausstattung oder -verbreitung übereinstimmen. Anschauungsbeispiel Männer begatten aufgrund ihres genetischen Programms möglichst viele Frauen (D) Männer sind nicht zur Treue verpflichtet (K) Man soll tun, was die evolutionären Gesetze vorschreiben (SR) Kritik Dilemma zwischen: • genetischem Determinismus → Ethik überflüssig • Freiheit und Verantwortung → Sein-Sollen-Fehlschluss 2) Hedonistische Ethik Im ethischen Hedonismus als der zweiten philosophischen Hauptrichtung des ethischen Naturalismus lautet das einfache und unmissverständliche Prinzip: Diejenige Handlung ist die beste, die am meisten Lust (griechisch „hedone“) verspricht. Gemeint sein kann dabei entweder nur die Lust des Handelnden selbst wie bei der auf Aristipp und Epikur in der griechischen Antike zurückgehenden individualethischen egoistischen Variante des ethischen Hedonismus oder aber die Lust aller von der Handlung Betroffenen wie bei der sozialethischen universalistischen Version des neuzeitlichen Utilitarismus (vgl. Kap. 4.2). Die Hedonisten meinen also, das wertende ethische Prädikat „gut“ mit dem empirisch-deskriptiven Prädikat „lustvoll“ identifizieren zu können. George Moore hat diese logisch unzulässige Identifika- Definition Hedonismus: Lust egoistischer vs. universalistischer Hedonismus 45316_Fenner_SL4b.indd 128 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="129"?> 129 � o n t r a � t u a l I � � u � tion einer normativ-wertenden mit einer empirisch-deskriptiven Eigenschaft als „naturalistic fallacy“ kritisiert (vgl. Moore, 40 f.). Obwohl es sich genau genommen eher um einen schlichten Irrtum oder Identifikationsfehler statt um einen „Schluss“ handelt, hat sich die deutsche Übersetzung naturalistischer Fehlschluss für die irrtümliche Definition des moralischen Begriffs „gut“ über natürliche Eigenschaften in der Ethik durchgesetzt. Genauso wie die hedonistische Definition von „gut“- = „lustvoll“ stellt natürlich auch diejenige der Evolutionisten „gut“-= „evolutionär nützlich“ einen solchen naturalistischen Fehlschluss dar. Häufig wird der ethische Hedonismus auch mit dem Hinweis auf den psychologischen Hedonismus begründet, d. h. auf die psychologisch-anthropologische These, alles menschliche Tun ziele auf die Erfahrung von Lust ab (vgl. Fenner 2007, 32-39). Hedonismus: Psychologischer (deskriptiver) Hedonismus : Alle Menschen streben nach größtmöglicher Lust. Ethischer (normativer) Hedonismus : Alle Menschen sollen nach größtmöglicher Lust streben. Naturalistischer Fehlschluss (Identifikationsfehler): fehlerhafte Identifikation von normativ-wertenden mit empirischdeskriptiven Eigenschaften z. B.: • Hedonismus: gut = lustvoll • Evolutionäre Ethik: gut = evolutionär nützlich Kritik am psychologischen Hedonismus Zunächst lässt sich wiederum die deskriptive anthropologische These in Frage stellen. Denn vielen oder sogar den meisten alltäglichen beruflichen, sozialen und freizeitlichen Tätigkeiten widmen wir uns nicht primär deswegen, weil wir bestimmte innerliche Lustempfindungen erfahren wollen. Vielmehr betreibt man wissenschaftliche Forschung, trifft sich mit Freunden und musiziert am Feierabend, weil man die Forschung, seine Freunde oder die Musik als in sich wertvoll einschätzt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass man beim Zusammensein oder der Identifikationsfehler: naturalistischer Fehlschluss psychologischer vs. ethischer Definition Definition Kritik 45316_Fenner_SL4b.indd 129 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="130"?> 130 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Beschäftigung mit diesen als wertvoll eingestuften Personen oder Tätigkeiten nicht von positiven Gefühlen der Freude oder Lust erfüllt wird, wie dies vielmehr größtenteils der Fall ist. Der Schluss von dieser Tatsache, dass solche Tätigkeiten uns Vergnügen bereiten, darauf, dass wir es nur auf die Lust abgesehen hätten, wäre aber ein hedonistischer Fehlschluss (vgl. ebd., 51-58). Darüber hinaus besagt das in der Psychologie erforschte hedonistische Grundparadox, dass ein Lustgefühl umso schwächer ausfällt, je direkter man es anvisiert. Es stellt sich also gerade nicht ein, wenn man sich ganz auf sein inneres subjektives Empfinden fixiert, sondern nur, wenn man sich völlig der Forschung, den Freunden oder der Musik hingibt und sich selbst bei diesen Tätigkeiten vergisst. Die sich dabei einstellende Lust oder Freude wäre nur ein willkommener Nebeneffekt, nicht aber das Ziel der Handlung. Kritik am normativen Hedonismus Aber auch wenn die empirisch-deskriptive These des psychologischen Hedonismus korrekt wäre, liesse sich daraus kein normativer Hedonismus ableiten. Denn es läge dann erneut ein Verstoß gegen das Humesche Gesetz, d. h. ein unzulässiger Schluss vom Sein aufs Sollen vor. Seit der Antike wurde gegen den Hedonismus nicht immer zu Recht eingewendet, er verabsolutiere die rein sinnliche Lust angenehmer Sinnesreizungen oder der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse und mache so den Menschen zum Sklaven seiner natürlichen Neigungen (vgl. Aristoteles 1095b, 16). Ein solcher naturalistischer naiver und unreflektierter Hedonismus wäre schon deswegen unklug, weil die natürlichen Bedürfnisse keineswegs immer schon in einem harmonischen Zusammenhang stehen und bestimmte Arten von Lustbefriedigungen für die Betroffenen selbst oder andere schädlich sind. Zu denken ist z. B. an den Lustgewinn aus einer gesundheitsschädigenden Internetsucht oder einer Vergewaltigung, die individualbzw. sozialethisch gesehen keineswegs gutgeheißen werden können. In Frage käme daher nur ein reflektierter oder aufgeklärter Hedonismus, bei dem die Vernunft die verschieden Formen von Lust oder Freude aus Distanz bewertet und selektiert. Als Antwort auf die vielen Kritikpunkte kam es in der Philosophiegeschichte zu vielen Difhedonistischer Fehlschluss hedonistisches Grundparadox Sein-Sollen- Fehlschluss naiver vs. aufgeklärter Hedonismus 45316_Fenner_SL4b.indd 130 05.03.2020 12: 20: 25 <?page no="131"?> 131 � o n t r a � t u a l I � � u � ferenzierungen wie z. B. Mills qualitativem Hedonismus, bei dem höhere geistige oder soziale Freuden mehr zählen als rein sinnliche Lüste (vgl. Kap. 4.2). In der Gegenwart hat Fred Feldman einen attitudinalen Hedonismus entwickelt, bei dem die Freuden („attitudinal pleasures“) auf bestimmte Objekte gerichtet sind und ihren Wert durch diese Bezugsobjekte erhalten (vgl. Feldman, 112; 121). Diese Qualitätskriterien bleiben allerdings sehr vage und es ist umstritten, ob die Bezeichnung „Hedonismus“ hier noch angemessen ist. Kritik • deskriptive These zweifelhaft (hedonistischer Fehlschluss) • kein normativer Hedonismus ableitbar (Sein-Sollen-Fehlschluss) Intuitionismus Genauso wie der Naturalismus geht der ethische Intuitionismus davon aus, normative Aussagen seien dann wahr, wenn sie mit der von unseren subjektiven Meinungen und Wünschen unabhängigen objektiven Wirklichkeit übereinstimmen. Die dabei relevante Wirklichkeit ist aber nicht die mit naturwissenschaftlichen Methoden empirisch erkenn- und messbare Welt der Tatsachen, sondern eine eigene ideelle, geistige Welt der Werte und moralischen Prinzipien. Moralische Tatsachen sind bei allen Formen des nichtnaturalistischen Realismus grundsätzlich verschieden von empirischen Tatsachen (vgl. Schmidt, 49). Entsprechend braucht es auch einen ganz anderen direkten Zugang zu diesen nichtnatürlichen Tatsachen als das sinnliche Wahrnehmen und das logisch-schlussfolgernde Denken: Es ist eine Art geistige Wahrnehmung, ein unmittelbares, nicht-diskursives, spontanes und vollständiges Erfassen eines komplexen Sachverhaltes, das auch umgangssprachlich als Intuition bezeichnet wird. Die grundlegenden ethischen Werte oder Prinzipien können den Intuitionisten zufolge nicht bewiesen werden, sondern sind allein durch sich selbst evident, d. h. intuitiv als wahr erfassbar wie die Axiome in der Mathematik. „Gut“ stellt nach Moore einen einfachen, genauso wenig definierbaren Begriff wie „gelb“ dar (vgl. qualitativer/ attitudinaler Hedonismus 5 .1 .2 Intuitionismus nichtnaturalistische moralische Tatsachen Intuition Selbstevidenz 45316_Fenner_SL4b.indd 131 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="132"?> 132 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Moore, 6; 40). Dennoch erkennen wir intuitiv, welche Gegenstände „gelb“ oder welche Handlungen oder Personen „gut“ sind. Obwohl die Bezeichnungen „gelb“ und „gut“ kontingent sind und von Sprachkonventionen abhängen, werden doch die Farb- oder Wertqualitäten von der Struktur der Gegenstände oder Ereignisse vorgegeben. Max Scheler postuliert im Rahmen seiner materialen Wertethik eine objektive Ordnung an sich seiender Werte, die durch ein kognitiv strukturiertes „Wertfühlen“ erfasst werden kann. Die sinnlichen Werte des Angenehmen/ Unangenehmen, die seelischen Werte des Edlen/ Gemeinen, die geistigen Werte des Wahren/ Falschen, Gerechten/ Ungerechten oder Schönen/ Hässlichen und zuoberst die religiösen Werte des Heiligen/ Unheiligen stehen dabei in einer unumstößlichen Hierarchie (vgl. Scheler, 125-130). Beim intuitiven Erfassen moralischer Werte sollen wir nach Scheler zugleich fühlen, dass wir die positiven Werte realisieren und die negativen meiden sollen. Wer etwa die Gerechtigkeit als einen positiven moralischen Wert eingesehen hat, den soll ein damit verbundenes „ideales Sollen“ zur Realisierung der Gerechtigkeit antreiben. Angesichts einer ungerechten Verteilung in der realen Welt erfasst er intuitiv den negativen Wert der Ungerechtigkeit sowie die Notwendigkeit, gegen das Unrecht anzukämpfen und Gerechtigkeit wiederherzustellen (vgl. Scheler, 227). Intuitionismus: Normative Aussagen sind wahr und begründet, wenn sie mit unmittelbar geistig erfassbaren moralischen Tatsachen (Werten oder Prinzipien) übereinstimmen. Der von Scheler, Nicolai Hartmann und Moore zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertretene klassische Intuitionismus ist mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet. Höchst problematisch ist v. a. die ontologische Annahme einer subjektunabhängig existierenden ideellen Wirklichkeit moralischer Tatsachen. Bereits die antiken Sophisten haben gegen Platons Ideenlehre einer Welt intuitiv erfassbarer Ideen wie z. B. der Ideen des „Guten“ oder der „Gerechtigkeit“ eingewendet, moralische Werte und Normen seien von Menschen gemacht (vgl. Kap. 8.2). Seit Kant, spätestens aber seit Nietzsche gilt der Glaube an an-sich-seiende moralische materiale Wertethik Definition Kritik ontologische Annahme 45316_Fenner_SL4b.indd 132 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="133"?> 133 � o n t r a � t u a l I � � u � Orientierungsstandards wie die Ordnung der Natur, eine Ideenwelt oder der Wille Gottes in der Philosophie als verpönt. Man verlangt vielmehr, dass die Menschen ihre Wertsetzungen allein mittels ihrer praktischen Vernunft begründen und rechtfertigen können (vgl. Kap. 5.2). Damit ist bereits ein zweiter Kritikpunkt angesprochen: Die Intuitionisten sind nicht imstande, ihre Position gegenüber Skeptikern mit Argumenten zu verteidigen. Im Falle von Meinungsunterschieden in Sachen Moral kann sich letztlich jeder nur auf seine eigenen Intuitionen berufen, weil sich der intuitive Zugang zu den moralischen Tatsachen nicht kontrollieren und intersubjektiv überprüfen lässt wie ein empirischer Zugang zur raumzeitlichen Wirklichkeit. Intuitionisten neigen infolgedessen dazu, die eigenen Intuitionen absolut zu setzen, dogmatische Behauptungen aufzustellen und den Andersdenkenden mangelhafte moralische Sensibilität oder „Wertblindheit“ (Scheler) vorzuwerfen. Offenkundig haben Menschen aber gerade im moralischen Bereich faktisch höchst unterschiedliche Intuitionen etwa über Gerechtigkeit oder die Legitimität von Abtreibungen, und historisch betrachtet wurden die lange Zeit von vielen Menschen geteilten Intuitionen bezüglich Sklaverei und Homosexualität mehr und mehr mit gegenteiligen Intuitionen konfrontiert (vgl. Kap. 1.1). Neuere Ansätze eines ethischen Intuitionismus wie die von David Ross, Jonathan Dancy oder Robert Audi verzichten zwar auf ontologische Voraussetzungen und interessieren sich für die begründende Funktion von „Selbstevidenz“ oder „intuitiver Gewissheit“ grundlegender moralischer Einsichten. Dabei gelten sehr verschiedene moralische Tatsachen als „selbstevident“, häufig eine Pluralität von moralischen Prinzipien oder sogenannter prima facie-Pflichten wie bei Ross und Audi. Bisweilen wird auch auf allgemeine Prinzipien ganz verzichtet und etwa von Dancy und John McDowell ein ethischer Partikularismus vertreten, bei dem nur eine moralisch sensible Person in der jeweiligen konkreten Situation das objektiv Wertvolle und Erforderliche wahrnehmen kann (vgl. dazu Horn 2019, 72 f../ Schmidt, 56 f.). Auch diese differenzierteren Formen des Intuitionismus entkommen aber nicht den kritischen Einwänden, dass verschiedene Subjekte im Einzelfall Unterschiedliches als moralische Forderung intuitiv erfassen können und eine angebliche „Selbstevidenz“ von Prinzipien kein Ersatz sein kann für deren transparente Bekein kontrollierter Zugang faktisch verschiedene Intuitionen ethischer Partikularismus 45316_Fenner_SL4b.indd 133 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="134"?> 134 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E gründung. Die Suche nach dem normativ Richtigen in der Ethik muss grundsätzlich über den Austausch rationaler Gründe und Argumente erfolgen, auch wenn „intuitive“ Einsichten in einem schwachen Sinn von „vernunftmäßigen Einsichten“ in gute oder schlechte Gründe dabei natürlich unverzichtbar sind. Kritik Kritik am (klassischen) Intuitionismus: • zweifelhaftes ontologisches Fundament • nichtkontrollierbarer Zugang zur ideellen Wirklichkeit • Problem des Umgangs mit faktisch unterschiedlichen Intuitionen Ethischer Konstruktivismus: reflexive Begründungsmodelle Anders als der Realismus im engen Sinn wie Naturalismus und Intuitionismus geht der moralische oder ethische Konstruktivismus nicht davon aus, dass moralische Tatsachen unabhängig von menschlichen Urteilen existieren und lediglich entdeckt werden müssen. Genauso wie der erkenntnistheoretische Konstruktivismus die Konstitutionsleistung des Subjekts beim Erkennen der Wirklichkeit hervorhebt, betonen konstruktivistische Ethikmodelle die subjektive bzw. intersubjektive Leistung des „Konstruierens“ bei der Erkenntnis des moralisch Richtigen. Trotz der Verabschiedung von moralischen Tatsachen im engen Sinn von etwas bloß Vorgefundenem gibt es im ethischen Konstruktivismus subjektunabhängige moralische Tatsachen, hier verstanden im weiten Sinn von Sollensforderungen mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit. Denn die moralischen Normen und Prinzipien dürfen nicht einfach individuell und nach Belieben entworfen oder gestaltet werden, sondern nur nach ganz bestimmten, sorgfältig argumentativ begründeten Regeln und Konstruktionsverfahren. Vom Grundmuster her handelt es sich dabei bei allen verschiedenen Varianten um rekonstruktive oder reflexive Begründungsmodelle, weil sie das moralisch Richtige durch Reflexion auf die unhintergehbaren Grundlagen unserer moralischen Alltagspraxis herzuleiten oder zu «rekonstruieren» 5 .2 Konstruktivismus reflexive Begründungsmodelle 45316_Fenner_SL4b.indd 134 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="135"?> 135 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E versuchen: Gefragt wird in einem ersten Schritt nach den kognitiven, pragmatischen, sozialen oder sprachlichen Bedingungen moralischen Urteilens oder Handelns: Welche Voraussetzungen müssen Menschen immer schon in Anspruch nehmen, wenn sie moralisch urteilen oder handeln? Unterschiedliche Vertreter haben die universelle Struktur der menschlichen Vernunft (Kant), allgemeine Argumentationsregeln (Apel/ Habermas) oder die Grundlagen menschlicher Handlungsfähigkeit (Gewirth) geltend gemacht. In einem zweiten Schritt formulieren sie mit Blick auf diese rekonstruierten notwendigen Bedingungen menschlicher Moralität die Prinzipien für die Bewertung moralischer Urteile oder Handlungen. Das können formale Verfahren der Universalisierung (Kant/ Diskursethik) oder Aufforderungen zur Berücksichtigung bestimmter Güter wie Freiheit oder Wohlergehen (Gewirth) sein. Nach Darstellung der Konstruktivisten lassen sich diese allgemein verbindlichen ethischen Kriterien oder Prinzipien von keinem Begründungssubjekt bestreiten, ohne dass es sich in einen Selbstwiderspruch verwickelt (vgl. Düwell u. a., 15). Diese reflexiven Begründungsverfahren verdienen deswegen besondere Aufmerksamkeit, weil zum einen keine starken ontologischen Voraussetzungen gemacht werden wie im ethischen Realismus. Zum anderen entkommt man den Schwierigkeiten bei „linearen Begründungsmodellen“, die Normen entweder induktiv aus Einzelfällen oder deduktiv aus dogmatischen Setzungen herbzw. abzuleiten versuchen. Denn nach dem von Hans Albert sogenannten Münchhausen-Trilemma endet jeder Versuch solcher linearer Begründungen notwendig in einem infiniten Regress, einer zirkulären Argumentation (logischer Zirkel/ Zirkelschluss) oder einem dogmatischen Abbruch des Verfahrens (vgl. Albert, 15). Im Folgenden werden die bedeutendsten drei Modelle eines konstruktivistischen Objektivismus nacheinander kurz erörtert: die Vernunftethik Immanuel Kants (Kap. 5.2.1), die Diskursethik (Kap. 5.2.2) und der handlungsreflexive Ansatz (Kap. 5.2.3). Ausweg aus Münchhausen- Trilemma 45316_Fenner_SL4b.indd 135 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="136"?> 136 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E reflexive Methode des Konstruktivismus: Die Gültigkeit moralischer Normen lässt sich aus den kognitiven, pragmatischen oder sozialen Bedingungen moralischen Urteilens oder Handelns ableiten. Vorgehen: 1 Schritt: Rekonstruktion der Voraussetzungen moralischer Praxis 2 Schritt : Ableitung allgemeiner Moralprinzipien Hauptvertreter Schritt 1 Schritt 2 Vernunftethik (Kant) Vernunft und Freiheit → Kategorischer Imperativ Diskursethik (Apel/ Habermas) Diskurs mit Argumentationsregeln → diskursethisches Moralprinzip handlungsreflexiver Ansatz (Gewirth/ Steigleder) Handlungsfähigkeit mit handlungskonstitutiven Gütern → Prinzip konstitutiver Konvergenz Vernunftethik (Kant) Die Bedingungen für moralische Entscheidungen und Handlungen erblickt Kant im spezifisch menschlichen Vermögen der Vernunft. Durch alltägliche Erfahrungen kann jeder sich der Tatsache vergewissern, dass Menschen eher selten unmittelbar und sklavisch den stärksten ihrer Triebe folgen. Vielmehr tritt zumeist die Vernunft zwischen die sinnlichen Antriebe und die Handlungen, genauer die „praktische Vernunft“: Im Unterschied zur „theoretischen Vernunft“, die sich auf Meinungen und Überzeugungen einer Person bezieht, ist die praktische Vernunft oder Vernunft in ihrer „praktischen Funktion“ für menschliche Handlungen und Entscheidungen zuständig. Sie wird von Kant bedeutungsgleich mit Wille verwendet. Dank der praktischen Vernunft können wir Bedürfnisse aufschieben, längerfristige Interessen entwickeln und aus rationalen Überlegungen und Gründen handeln. Dabei wird die praktische Vernunft entweder als eine „empirisch bedingte“ oder aber als „reine praktische Ver- 5 .2 .1 praktische Vernunft (Wille) empirisch bedingte Vernunft Definition zwei Schritte 45316_Fenner_SL4b.indd 136 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="137"?> 137 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E nunft“ aktiv: Solange die Vernunft empirisch bedingt ist, steht sie im Dienst von beliebigen technischen Zwecken wie etwa einer akademischen Karriere oder dem pragmatischen Endziel der Glückseligkeit. Ihre Forderungen sind immer nur eingeschränkt gültig hinsichtlich der vom Handlungssubjekt gerade ins Auge gefassten kontingenten Ziele, weshalb sie auch nur zu hypothetischen Imperativen fähig ist. Beispiele für solche hypothetischen Imperative wären etwa „Wenn Du eine akademische Karriere planst, publiziere so viel wie möglich! “ oder „Wenn Du glücklich sein willst, sorge für eine gute Gesundheit! “. Offenkundig steht die Vernunft dann im Zeichen der individualethischen Klugheit und ist fremdbestimmt oder heteronom. Nun hat aber die Moral den Charakter des Unbedingten, weshalb moralische Handlungsregeln stets mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit verbunden sind (vgl. Kap. 1.1). Um diesen Anspruch allgemeiner Verbindlichkeit erheben zu können, müssen moralische Gesetze nach Kant unabhängig von allen subjektiven und kontingenten Interessen, Zielen und Lebensbedingungen der Menschen begründet werden können und für sich genommen rational einsichtig sein. Als Bedingung der Möglichkeit von Moral stößt Kant somit im ersten Schritt des reflexiv-rekonstruktiven Begründungsverfahrens auf die menschliche Vernunft, die sich ganz unabhängig von allen inneren Neigungen oder Interessen und äußeren Zwängen der natürlichen oder sozialen Wirklichkeit ihr eigenes Gesetz gibt (vgl. KpV, A 52). Die von allen subjektiven vorgegebenen Zwecken gereinigte und sich selbst bestimmende Vernunft nennt Kant den autonomen oder freien Willen oder die reine praktische Vernunft, und nur sie vermag objektiv und unbedingt gültige Gesetze oder „Kategorische Imperative“ aufzustellen. Kategorische Imperative sind im Unterschied zu den „hypothetischen“ nicht relativ zu subjektiven Zwecksetzungen, sondern absolut, unbedingt und ausnahmslos gültige Gesetze der Moral. Nach Kant stellt ein solcher von allen empirischen Bestimmungsgründen gereinigter „guter Wille“ überhaupt das Einzige an sich und ohne Einschränkung Gute auf der Welt dar (vgl. GMS, BA 1). Doch wie gelangt man von der Vernunft in ihrer Reinheit und Freiheit als der grundlegenden Voraussetzung moralischen Denkens und Handelns im zweiten Schritt der reflexiven Moralbegründung zu inhaltlich gehaltvollen moralischen Prinzipien oder Normen? hypothetische Imperative heteronome Vernunft autonome Vernunft reine praktische Vernunft Kategorische Imperative 45316_Fenner_SL4b.indd 137 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="138"?> 138 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Was der reinen praktischen Vernunft nach ihrer Befreiung von allen materialen Bestimmungsgründen als einzige Orientierungshilfe übrig bleibt, ist nach Kant allein die bloße Form einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit bzw. die formale Forderung nach einem Gesetzescharakter (GMS, BA 17). Das höchste Moralprinzip kann somit nur ein rein formales Prinzip ohne inhaltliche „Füllung“ sein, das zur Prüfung der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen oder -regeln anleitet. Denn allgemeine Verbindlichkeit kann nur eine Handlungsregel beanspruchen, die sich als allgemeines Gesetz denken lässt und die somit universalisierbar ist. Daher lautet das höchste Moralprinzip der kantschen Vernunftethik, „der“ Kategorische Imperativ (im Singular): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (KpV, BA 52). Mit Maximen sind dabei sehr generelle Lebensgrundsätze gemeint, die einen ganzen Lebensbereich zu regeln vermögen. Sie fordern uns letztlich zu einer bestimmten Lebenshaltung auf wie etwa die Maxime „Gib möglichst wenig Geld aus! “ zum Charaktermerkmal der Sparsamkeit oder die Maxime „Hilf allen Menschen in Not! “ zu einer hilfsbereiten Grundeinstellung. Nur diejenigen Maximen, die sich als allgemeines Gesetz denken lassen und damit verallgemeinerbar sind, gelten als moralische Maximen. Die von ihnen geforderten Handlungsweisen sind moralisch erlaubt oder geboten. Alle anderen, nicht universalisierbaren Handlungsmaximen sind keine moralischen Maximen und die entsprechenden Handlungsweisen sind nicht erlaubt oder verboten. Etwas verwirrenderweise werden die sich in diesem Prüfverfahren ergebenden verallgemeinerbaren und damit allgemein gültigen Gebote oder Verbote ebenfalls als „Kategorische Imperative“ bezeichnet. Diese konkreten, inhaltlich gefüllten Kategorischen Imperative im Plural befinden sich aber offenkundig auf einer tieferliegenden Ebene als der abstrakte, rein formale Kategorische Imperativ im Singular und sind deutlich von diesem zu unterscheiden. der Kategorische Imperativ Kategorische Imperative im Plural 45316_Fenner_SL4b.indd 138 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="139"?> 139 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E empirisch bedingte praktische Vernunft reine praktische Vernunft Orientierung an subjektiven Zwecken Orientierung am formalen Verallgemeinerungsprinzip Unfreiheit oder Heteronomie Freiheit oder Autonomie Hypothetische Imperative z.B.: „Wenn Du gesund sein willst, achte auf gesunde Ernährung! “ Kategorische Imperative z.B.: „Du sollst nicht lügen! “ „Hilf allen Menschen in Not! “ Kategorischer Imperativ (im Singular) als höchstes Moralprinzip: Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte. (nach Kant, GMS, BA 52) Kategorische Imperative (im Plural) als konkrete Sollensforderungen: alle Maximen, die sich beim Universalisierungstest nach dem Kategorischen Imperativ verallgemeinern lassen (= moralische Maximen ) Kant unterscheidet beim Universalisierungstest nochmals zwei Stufen des Verfahrens, nämlich das „allgemeine Denken-Können“ und das „allgemeine Wollen-Können“ (vgl. GMS, BA 56 f.). Beim strengeren Denkkriterium ergibt sich bei der Verallgemeinerung der Maximen bereits ein logischer Widerspruch im Denken, sodass sich also die Maxime gar nicht als allgemeines Gesetz denken lässt. Daraus resultieren engere oder vollkommene Pflichten, die bestimmte Handlungsweisen streng gebieten oder verbieten und dabei dem Handlungssubjekt keinerlei Spielraum lassen. Kants diesbezügliche Beispiele sind das Verbot des falschen Versprechens und das Selbstmordverbot (vgl. Anschauungsbeispiele unten). Es kann aber vorkommen, dass sich eine Maxime zwar als allgemeines Gesetz denken lässt, aber nach dem schwächeren Wollenskriterium nicht vernünftigerweise gewollt werden kann. Aus diesen Maximen ergeben sich lediglich unvollkommene Pflichten, die dem Einzelnen einen gewissen Spielraum lassen wie z. B. beim Verbot der Gleichgültigkeit gegenüber fremder Not. Denn es lässt sich zwar durchaus eine Welt denken, in der die hilfsbedürftigen Menschen einander niemals zu Hilfe kommen. Da aber alle jederzeit in eine Notsituation gelangen können, wird keiner eine solche Welt wollen, in der man Definitionen Universalisierungstest: logischer Widerspruch im Denken/ Wollen vollkommene Pflichten unvollkommene Pflichten praktische Vernunft 45316_Fenner_SL4b.indd 139 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="140"?> 140 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E dann völlig im Stich gelassen wird. Daraus ergibt sich aber nur eine unvollkommene Pflicht, sodass im Einzelfall jemand lediglich je nach Maßgabe der ihm konkret zur Verfügung stehenden individuellen Möglichkeiten Hilfe leisten muss. Nach Kant hat der Einzelne aber nicht nur Pflichten gegenüber anderen Menschen wie z. B. beim Lügenverbot oder Hilfsgebot, sondern darüber hinaus auch Pflichten gegenüber sich selbst wie im Fall des Suizidverbots. 1) Denkkriterium : Maxime lässt sich nicht als allgemeines Gesetz denken 2) Wollenskriterium: Maxime lässt sich als allgemeines Gesetz denken, aber nicht wollen   strenge vollkommene Pflichten mit Unbedingtheitsanspruch weniger strenge unvollkommene Pflichten mit gewissem Handlungsspielraum Diskussion der Anschauungsbeispiele Wie aber das vom Kategorischen Imperativ vorgeschriebene Verfahren der Verallgemeinerung im Einzelnen genau durchzuführen ist, darüber streiten sich bis heute die Kantspezialisten. Bezüglich des strengeren Denkkriteriums ist in der Kantinterpretation umstritten, welche Rolle empirische Überlegungen genau spielen. Sicherlich sind utilitaristische Nutzenerwägungen hinsichtlich der Handlungsfolgen ausgeschlossen (vgl. Kap. 4.2). Kant nimmt aber bei seinen Beispielen durchaus den Ausgangspunkt bei Erfahrungen, etwa um die lebensweltliche Bedeutung der Institution des „Versprechens“ oder des Phänomens des Lebensüberdrusses zu klären. Es handelt sich sozusagen um ein semantisches Vorargument (a), das die zentralen Begriffe der Maximen erläutert (vgl. Höffe 1989, 226-232). Der zweite, rein rationale Hauptschritt der Verallgemeinerung (b) soll dann aber ohne empirisch-pragmatische Überlegungen zu allfälligen Handlungsfolgen auskommen. semantisches Vorargument rationaler Hauptschritt Differenzierung beim Universalisierungsverfahren 45316_Fenner_SL4b.indd 140 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="141"?> 141 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Anschauungsbeispiel 1 Maxime : Wenn ich in Not bin, leihe ich mir Geld aus, obwohl ich weiß, dass ich es nicht zurückzahlen werde. a) Semantisches Vorargument: Das Versprechen als eine soziale Institution setzt Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit des Versprechenden voraus. Wenn jemand etwas verspricht, muss er also die Absicht haben, es auszuführen. b) Rationaler Hauptschritt (Verallgemeinerung): Man stelle sich eine Welt vor, in der alle Menschen, die Geld leihen wollen, es unehrlich meinen. Sie haben also nicht die geringste Absicht, das geliehene Geld zurückzuzahlen. Dabei ergibt sich ein logischer Widerspruch, weil sich die mit dem falschen Versprechen verknüpfte allgemeine Erwartung der Geldrückzahlung nicht zugleich mit der allgemeinen Überzeugung von der Zulässigkeit einer betrügerischen Absicht denken lässt. Selbst für den risikobereiten Gläubiger wäre das Eingehen auf einen unehrlichen Akt des Versprechens keine rationale Option. Es gäbe folglich gar kein „Versprechen“ mehr als eine soziale Institution.  Allgemeines Gebot (Kategorischer Imperativ): Verbot des falschen Versprechens: „Du sollst kein falsches Versprechen ablegen.“ (nach Kant, GMS, BA 54) Achtung : keine pragmatischen Folgenüberlegungen! Kant verzichtet auf weitere empirisch-pragmatische Erwägungen über den Verlust der Möglichkeit pfandlosen Geldleihens. Eine Welt, in der niemand mehr einem Versprechen traut, wäre genauso gut denkbar wie eine, in der mangels gegenseitigen Vertrauens keine (ökonomisch vorteilhafte) menschliche Kooperation mehr möglich ist. Solche Überlegungen führen nicht zu einem logischen Widerspruch und sind beim Universalisierungstest nicht vorgesehen. 45316_Fenner_SL4b.indd 141 05.03.2020 12: 20: 26 <?page no="142"?> 142 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Anschaungsbeispiel 2 Maxime : Ich nehme mir das Leben, wenn die Übel in meinem Leben die Annehmlichkeiten derart überwiegen, dass ich einen großen Überdruss am Leben empfinde. a) Semantisches Vorargument: Unlustempfindungen haben nach Kant die biologische Funktion, einen Mangel anzuzeigen und zur Überwindung des Mangels anzutreiben. So soll beispielsweise der Hunger als Zeichen eines Nahrungsmangels zur baldigen Nahrungsaufnahme animieren. Entsprechend soll auch der Lebensüberdruss den leidenden Menschen dazu antreiben, die Missstände in seinem Leben zu beseitigen. b) Rationaler Hauptschritt (Verallgemeinerung): Wieder stelle man sich eine Welt vor, in der nicht nur jemand und gelegentlich gegen die natürliche Antriebskraft zur Wiederherstellung des Wohlbefindens verstößt. Vielmehr sei es ein allgemeines Gesetz, auf die Signale leiblich-seelischer Mangelerscheinungen mit Suizid zu reagieren. Es lässt sich aber ohne logischen Widerspruch keine Welt vorstellen, in der die Unlustempfindung sowohl eine Antriebskraft zur Beförderung des Lebens als auch zur Beendigung des Lebens sein soll.  Allgemeines Gebot (Kategorischer Imperativ): Suizidverbot: „Du sollst dir nicht das Leben nehmen.“ (nach Kant, GMS, BA 53) Achtung: keine empirisch-pragmatischen Folgenüberlegungen! Kant hat keineswegs die erschreckende Prognose vor Augen, dass die Suizidrate infolge der Verallgemeinerung der in Frage stehenden Maxime in schwindelerregende Höhe steigen und die Menschheit sogar aussterben könnte. Denn bei diesem Szenario läge kein Widerspruch vor, sondern lediglich ein desolater Zustand. 45316_Fenner_SL4b.indd 142 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="143"?> 143 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs Kant formuliert sein oberstes Moralprinzip, also den Kategorischen Imperativ im Singular, noch in weiteren prägnanten Formulierungen. Die bekannteste davon ist die sogenannte Selbstzweckformel mit ihrer Aufforderung, die Menschen jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel zu brauchen. Denn gerade weil sich Menschen als Vernunftwesen an objektiven, subjektunabhängigen allgemeinen Prinzipien wie dem Kategorischen Imperativ orientieren können, sind sie selbst objektive Zwecke an sich: Sie haben nach Kant einen absoluten und unveräußerbaren Wert, der sich nicht lediglich von beliebigen subjektiven Interessen oder sozialen Erwartungen herleitet. Um diesen Wert und die damit verbundene Würde einer Person zu respektieren, darf niemand ausschließlich als Mittel zu einem beliebigen fremden Zweck instrumentalisiert werden. Dieses Instrumentalisierungsverbot untersagt allerdings keineswegs, die Mitmenschen wie in zahlreichen alltäglichen Situationen auch als Mittel zu bestimmten vereinbarten Zwecken zu „brauchen“ wie z. B. die Kassiererin im Supermarkt zur Abwicklung der Zahlungsvorgänge. Verboten ist nur ihre Reduktion auf solche Mittel, wenn etwa die Frau an der Kasse nicht respektvoll, sondern ohne begrüßende Ansprache und herablassend wie eine Sache behandelt wird. Ethisch noch viel verwerflicher sind freilich extreme Formen der Instrumentalisierung etwa durch Vergewaltigung, Versklavung oder Folter, bei denen die Betroffenen den ihnen aufoktroyierten Zwecken niemals zustimmen würden. Weniger drastisch, aber besonders perfid sind auch Manipulationsversuche, bei denen die wahren Absichten und Ziele der Handlungssubjekte den Getäuschten verborgen bleiben. Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs: Behandle andere Menschen niemals bloß als Mittel zu Deinen subjektiven Zwecken, sondern immer auch als Selbstzwecke. (nach Kant, GMS, BA 67) Selbstzweckformel Instrumentalisierungsverbot Selbstzweckformel 45316_Fenner_SL4b.indd 143 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="144"?> 144 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Kritik Das große Verdienst des bedeutenden deutschen Auf klärungsphilosophen Kant besteht zweifellos darin, dass er eine für die neuzeitliche säkulare Ethik prägende Vernunftethik und Autonomieethik rein durch vernünftige Überlegungen und mit dem richtungsweisenden formalen Universalisierungsprinzip begründete. Infolge der Konzentration auf das schwierige Unterfangen einer objektiven, aber von allen äußeren normativen Instanzen wie Natur, göttlichem Willen oder Tradition unabhängigen Moralbegründung gerieten jedoch Anwendungsfragen in den Hintergrund, wie viele Interpreten bemängeln. Bereits beim Ausgangspunkt der konkreten Durchführungen des Universalisierungstests stellt sich die Frage, wie genau bzw. wie allgemein denn die Maximen zu formulieren sind. Mit Blick auf Kants zweites Beispiel des Suizidverbots könnte man etwa einwenden, die Maxime des Suizidkandidaten sei lediglich zu wenig präzise formuliert. Kant selbst beschreibt die Situation des Sterbewilligen nämlich im weiteren Kontext als eine, in der „eine Reihe von Übeln […] bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist“ (GMS, BA 53). Nimmt man diese Einschränkung der Maxime ernst, verschwindet aber der soeben aufgedeckte logische Widerspruch. Man würde nämlich nur dann an Suizid denken, wenn keine berechtigte Hoffnung mehr bestünde, dass man die misslichen Lebensumstände wie etwa chronische Krankheiten oder dauerhafte Arbeitslosigkeit langfristig gesehen beseitigen kann. Wird eine Maxime auf diese Weise situationsspezifisch präzisiert, lässt sie sich widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken. Allerdings sind Maximen gerade dadurch charakterisiert, dass sie sehr generell sind und unabhängig von situationsspezifischen Gegebenheiten formuliert werden. Kritik hervorgerufen hat auch Kants Ausschluss von pragmatischen Folgenüberlegungen beim Universalisierungstest und sein berühmtes Diktum, das einzig Gute in der Welt sei der gute Wille des Handlungssubjekts (vgl. GMS, BA 1). Wenn die moralische Dimension auf die reine Subjektivität der inneren Gesinnung reduziert wird, scheint der Einzelne unplausiblerweise von jeder Verantwortung für die konkreten Folgen seines Tuns freigesprochen zu werden (vgl. Kap. 6.2). Mit dem im eigenen Kopf durchzuspielenden rein logischen Universalisierungsprinzip droht das Verständnis für die Perspektive der Betroffenen Anwendungsproblem vernachlässigt Konkretionsgrad der Maximen unklar Vernunft-/ Autonomieethik keine Folgenüberlegungen 45316_Fenner_SL4b.indd 144 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="145"?> 145 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E zu verblassen, deren Interessen oder Wohlergehen doch gerade von der Moral zu schützen sind. Wenngleich man bei der Begründung und Beurteilung von Maximen die Auswirkungen bei ihrer Befolgung auszublenden hat, sind aber empirisch-pragmatische Überlegungen zumindest bei der Anwendung der mit unvollkommenen Pf lichten verbundenen moralischen Maximen in konkreten Handlungssituationen bedingt zulässig. Will man beispielsweise nach dem Grundgesetz „Hilf anderen Menschen in Not! “ (GMS, BA 56) handeln, muss man die Hilfsbedürftigkeit konkreter Menschen erkennen und die eigenen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Hilfestellung und deren erwartbare Folgen abschätzen. Wenn jedoch die zu prüfenden Maximen bereits am Denkkriterium scheitern und zu strengen Kategorischen Imperativen in Form von Verboten und vollkommenen Pf lichten führen, scheint der häufig gegen Kants Vernunftethik erhobene Rigorismusvorwurf berechtigt zu sein: Da die Maximen situationsunspezifisch formuliert werden müssen und die Kategorischen Imperative keine Ausnahmen in der Praxis zulassen, ist dem Handelnden kein f lexibles und kontextsensibles Reagieren auf konkrete Situationen möglich. So ist nach Kant eine Ausnahme vom strikten Lügeverbot nicht einmal im extremen Fall erlaubt, wenn jemand von einem mörderischen Verfolger nach dem Verbleib des im eigenen Haus versteckten unschuldigen Opfers gefragt wird (vgl. dazu Kap. 6, Anschauungsbeispiel 3). Ausdruck dieses Rigorismus ist auch Kants Dualismus von Pflicht und Neigung. Denn moralisches Handeln ist nach Kant ausschließlich ein Handeln aus Pflicht, d. h. aus Achtung vor dem Moralprinzip (vgl. GMS, BA 14). Wer aber nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung oder Furcht pflichtmäßig handelt wie z. B. ein vor seiner finalen Tat ängstlich zurückschreckender Suizidkandidat, handelt nach Kant nicht moralisch (vgl. ebd., BA 10). Auch ein altruistisches Handeln aus Sympathie, Mitleid oder Menschenliebe könnte niemals moralisch sein, wie es Friedrich Schiller in den Xenien beklagte: „Gern dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin“. In späteren Schriften hat Kant allerdings die Konkurrenz zwischen Pflicht und Neigung abgeschwächt und Möglichkeiten ihrer Vereinbarkeit herausgearbeitet, sofern die Neigungen geeignet kultiviert werden (vgl. dazu Rigorismus: kategorische Geltung Dualismus von Pflicht und Neigung 45316_Fenner_SL4b.indd 145 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="146"?> 146 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Pauer-Studer, 53 f../ Hübner, 165 ff.). Da sich Pflicht und Neigung keineswegs notwendig ausschließen, dürften moralische Handlungen durchaus mit Neigung ausgeführt werden, wenn sich nur der Wille am Kategorischen Imperativ orientiert. Kritik • Anwendungsprobleme vernachlässigt • Ausschluss pragmatischer Folgenüberlegungen und mangelndes Verständnis für die Perspektive der Betroffenen • Rigorismus durch kategorische Verbindlichkeit der situationsunspezifisch formulierten moralischen Maximen • Entgegensetzung von Pflicht und Neigung Diskursethik (Apel/ Habermas) Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas haben im 20. Jahrhundert Kants konstruktivistisches Begründungsmodell aufgegriffen und zu einer eigenständigen prominenten Moraltheorie der Gegenwart weiterentwickelt. Wesentlich für diese Erneuerung war die sich in den 1930er Jahren zunächst in der Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft vollziehende linguistische Wende („linguistic turn“), in der die Sprache als unhintergehbare Bedingung des Denkens erkannt und Philosophie in Sprachphilosophie transformiert wurde: Nach Auffassung der „sprachanalytischen Philosophie“ lassen sich sämtliche Probleme der traditionellen Philosophie nur mittels Sprachuntersuchungen lösen, also z. B. moralphilosophische Fragen durch Analyse der Moralsprache wie bei Richard Hare (vgl. 1983, Kap. 2). Da auch die Vernunft sprachbedingt ist und wir moralische Urteile nur dank unserer Sprache fällen können, stellt die Sprache zweifellos eine grundlegende Bedingung für ethische Erwägungen dar. Die Diskursethiker interessieren sich dabei vornehmlich für die pragmatische Funktion der Sprache, d. h. für das, was wir tun, wenn wir sprechen. Anders als Kant wählen sie nicht eine isolierte und „reine“ praktische Vernunft als Ausgangspunkt des konstruktivistischen Verfahrens einer reflexiven Moralbegründung, sondern Sprechhandlungen in der menschlichen Gemeinschaft: Schlecht geeignet für die Klärung von Geltungsansprüchen normativer Aussa- 5 .2 .2 linguistic turn Sprechhandlungen 45316_Fenner_SL4b.indd 146 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="147"?> 147 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E gen ist ein strategisches Handeln, bei dem man mit Mitteln der Gewalt, Suggestion und Verhandlungstaktiken die Meinungen und Handlungen der anderen im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen versucht. Erforderlich ist vielmehr ein kommunikatives Handeln mit den Zielen gegenseitiger Verständigung, Herstellung eines rationalen Konsenses und Koordination der unterschiedlichen Handlungen. Ein solches kommunikatives Handeln ist gewöhnlich unmittelbar eingebettet in pragmatische Alltagssituationen, in denen die Wahrheit von Wirklichkeitsaussagen und die Gültigkeit bestimmter Normen fraglos vorausgesetzt wird. Demgegenüber werden in einem Diskurs auf einer Metaebene solche unausdrücklich erhobenen Geltungsansprüche problematisiert, indem die Kontrahenten Gründe und Argumente für ihre Position ins Feld führen. So werden spezifisch im praktischen Diskurs die bislang im Gespräch unhinterfragt zugrunde gelegten Handlungsregeln auf ihre normative Richtigkeit hin geprüft. Man bezeichnet ein solches begriffliches und auf Begründung abzielendes argumentatives Denken als „diskursiv“. Diskurs: Dialog auf der Grundlage von Argumenten zur metakommunikativen Prüfung von Geltungsansprüchen, die beim kommunikativen Handeln in lebensweltlichen Kontexten erhoben werden praktischer Diskurs: Anspruch auf normative Richtigkeit von Handlungsregeln theoretischer Diskurs : Anspruch auf Wahrheit von Wirklichkeitsaussagen Anschauungsbeispiel Kommunikatives Handeln: Zwei ältere Damen empören sich über die verkommenen Sitten einer Gruppe von Jugendlichen mit vergammelten Klamotten und knatternden Mopeds. Sie erheben unausdrücklich den Geltungsanspruch, dass „man“ in diesem Alter „ordentlich“ auszusehen hat. Praktischer Diskurs: Die im kommunikativen Handeln als selbstverständlich vorausgesetzten Geltungsansprüche werden in Rede und Gegenrede problematisiert. So behaupten die beiden Damen, das ungepflegte Äußere und kommunikatives Handeln Diskurs praktischer Diskurs Definition strategisches Handeln 45316_Fenner_SL4b.indd 147 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="148"?> 148 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E der durch die Gruppe veranstaltete Radau ließen auf einen schlechten Charakter schließen. Dem entgegnen die Jugendlichen, hinter einer Fassade bürgerlicher Ordnung verberge sich oft eine unehrliche Doppelmoral. Gegen diese Scheinhaftigkeit opponieren sie mit ihrem ungezwungenen Verhalten. (nach Pieper 2017, 179) Wenn wir in gesellschaftlichen oder politischen Diskussionen moralische Urteile fällen oder anfechten, für bestimmte moralische Handlungsregeln oder Grundsätze plädieren oder sie bekämpfen, beteiligen wir uns offenkundig aktiv an einem praktischen Diskurs. Die moralische Richtigkeit einer Handlungsweise kann aber grundsätzlich gar nicht anders geprüft werden als auf diskursive Weise, d. h. durch den Austausch von Gründen und Argumenten. Wer also die ethische Grundfrage „Wie soll ich handeln? “ stellt, steht gewissermaßen immer schon in einem Diskurs. Im ersten Schritt des reflexiv-rekonstruktiven Verfahrens analysieren die Diskursethiker diese alltägliche Praxis des argumentativen Diskurses näher, um die sprachpragmatischen Bedingungen moralischen Denkens und Handelns aufzudecken. Sie versuchen zu zeigen, dass wir durch diese Teilnahme an einem praktischen Diskurs immer schon bestimmte Regeln des Diskurses akzeptiert haben. So müssen wir alle Gesprächsteilnehmer als gleichberechtigte Partner anerkennen, kommunikativ und argumentativ statt strategisch handeln, auf einen rationalen Konsens abzielen, alle Ansprüche begründen und nur den Zwang des besseren Arguments gelten lassen (vgl. Habermas 1996, 96 ff.). Diese Diskursregeln bilden die unhintergehbaren Voraussetzungen des moralischen Argumentierens und eines praktischen Diskurses bzw. ganz allgemein jedes Argumentierens und jeder Art von Diskurs. Sie müssen vom Argumentierenden immer schon kontrafaktisch unterstellt werden, obgleich sie in realen gesellschaftlichen Diskursen oft nur annähernd erfüllt sein mögen. Wer die Geltung der Diskursregeln bestreitet, begeht nach Darstellung der Diskursethiker einen pragmatischen oder performativen Selbstwiderspruch (von engl. „to perform“) als ein Widerspruch zwischen dem, was er explizit sagt, und dem, was er tut, indem er dies sagt (vgl. Werner, 143). Denn indem er diese Behauptung äußert, hat er sich durch sein Tun auf die Regeln des argumentativen Diskurses eingelassen Diskursregeln performativer Selbstwiderspruch 45316_Fenner_SL4b.indd 148 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="149"?> 149 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E und implizit die Diskursregeln akzeptiert. Würde er sie jedoch explizit verleugnen, verhielte er sich genauso selbstwidersprüchlich wie jemand, der behauptet: „Es gibt keine Wahrheit! “. Wer nämlich diese Behauptung aufstellt, erhebt durch den Handlungsvollzug für seine Aussage ebendiesen Geltungsanspruch auf Wahrheit, den er im expliziten Aussageinhalt bestreitet. Im zweiten Schritt der reflexiven Begründung wird versucht, aus diesen notwendigen Bedingungen moralischer Entscheidungsfindung das oberste Moralprinzip abzuleiten: Wer die Diskursbedingungen akzeptiere, erkenne implizit das diskursethische Moralprinzip an. Damit habe er nämlich anerkannt, dass ein normativer Geltungsanspruch sich diskursiv einlösen lassen muss. Als moralisch richtig kann daher eine strittige Norm nur dann gelten, wenn sie unter den Teilnehmern eines realen praktischen Diskurses Zustimmung findet und insbesondere keiner von den direkt Betroffenen berechtigte Gegenargumente vorbringen kann. Ähnlich wie bei Kants Universalisierungsprinzip wird geprüft, ob bestimmte moralische Normen als öffentliche Regelungen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens allgemein akzeptabel sind und aufgrund dessen universelle Geltung beanspruchen dürfen. Dabei verbürgt wohlgemerkt nicht jeder faktische Konsens moralische Richtigkeit, sondern nur ein begründeter, rationaler Konsens als Resultat eines praktischen Diskurses. Die Diskursregeln begünstigen in diesem kommunikativen Prüfverfahren nicht nur die Konsensfindung, sondern können als Regeln der Unparteilichkeit betrachtet werden. Denn durch diese Regeln wird die Einnahme des unparteiischen Standpunktes der Moral gesichert (vgl. Diskursregeln Diskursregeln (Auswahl): • Jedes sprach- und handlungsfähige Wesen darf am Diskurs teilnehmen und seine Bedürfnisse, Wünsche und Interessen äußern. • Alle Gesprächsteilnehmer werden als zurechnungsfähige, wahrhaftige und vernünftige Gesprächspartner anerkannt. • Es wird kommunikativ statt strategisch gehandelt: Alle Ansprüche müssen argumentativ gerechtfertigt werden und Ziel des Diskurses ist der Konsens. • Jede Verzerrung der Sprechsituation durch innere oder äußere Zwänge ist ausgeschlossen. Es herrscht allein der Zwang des besseren Arguments. diskursethisches Moralprinzip rationaler Konsens unparteiischer Standpunkt der Moral 45316_Fenner_SL4b.indd 149 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="150"?> 150 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Habermas 1996, 75): Alle Teilnehmer erfahren dieselbe reziproke Anerkennung, ihre Standpunkte und Interessen werden gleich berücksichtigt und alle versuchen sich im Sinne eines universellen Rollentausches in die Situation und die Interessenlage der anderen hineinzuversetzen. Die Diskursethiker beanspruchen, mit dieser diskursreflexiven Moralbegründung und der Transformation des Kantianismus zahlreiche Schwächen des kantschen Universalisierungsmodells überwunden zu haben (vgl. Apel, 220 ff. / Habermas 1996, 77 f.): Kants isoliertes Einzelsubjekt, das im monologischen Käfig seines Denkens die Verallgemeinerungsfähigkeit von Maximen testen soll, wird durch die reale Diskursgemeinschaft und den intersubjektiven praktischen Diskurs ersetzt. In diesem können konkrete Bedürfnisse, Wünsche und Interessen aller Diskursteilnehmer zur Sprache gebracht werden, und die Folgen der Handlungen bzw. der Befolgung einer Handlungsnorm werden in Bezug auf die Interessen aller Beteiligten geprüft. Alle Vernunftsubjekte, insbesondere die direkt von der Normenbefolgung Betroffenen müssen der Handlungsmaxime im Laufe eines realen praktischen Diskurses ihr reflexives Einverständnis geben. Diskursethisches Moralprinzip: Nur diejenige Norm ist ethisch legitim, die bei allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). Die meisten gegenwärtigen Moralphilosophen stimmen zwar darin überein, dass sich allgemein gültige Normen heute nur noch auf dem Weg gemeinsamer Argumentation finden lassen. Gleichwohl gibt es zahlreiche Einwände gegen die diskursethische Variante einer konstruktivistischen Moralbegründung. So wird dem Begründungsgang etwa entgegengehalten, ein moralischer Skeptiker oder Nihilist könnte sich dem Diskurs einfach verweigern. Es sei ein intellektualistischer Fehlschluss, die im praktischen Diskurs geltenden Regeln auch für jede andere kommunikative Praxis als verbindlich zu postulieren (vgl. dazu Werner, 143 f.). Nur derjenige scheint sich schließlich in einen performativen Widerspruch zu verwickeln, der sich am Diskurs beteiligt und Behauptungen mit einem Geltungsanspruch aufstellt. Aus Sicht der Diskursethiker würde jedoch eine Disuniverseller Rollentausch Definition Kritik Diskursverweigerung: kein performativer Selbstwiderspruch 45316_Fenner_SL4b.indd 150 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="151"?> 151 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E kursverweigerung nichts Geringeres bedeuten als die Auf kündigung der Mitgliedschaft in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft und in der soziokulturellen Lebensform, sodass die Alternative letztlich nur die Flucht in den Selbstmord oder eine schwere Geisteskrankheit wäre (vgl. Habermas 1996, 109 f.). Bei dieser etwas überzogenen Verteidigungsstrategie wird offenbar fälschlicherweise vorausgesetzt, dass man sich nicht nur punktuell und strategisch, sondern generell der Diskurspraxis entzöge. Zumindest ergibt sich aber ein Widerspruch zum eigenen praktischen Selbstverständnis, weil jedes rationale Handlungssubjekt stets nach der besten Lösungsmöglichkeit in der jeweiligen Handlungssituation fragt. Dabei muss sich der Handelnde bemühen, möglichst alle Argumente eines realen Diskurses zu antizipieren, die prinzipiell dafür und dagegen vorgebracht werden könnten. Somit ist im Grunde schon das einsame stille Nachdenken „virtuell intersubjektiv“ und auf den unbegrenzten Diskurs hin geöffnet (vgl. dazu Werner, 144). Ähnliche Argumente lassen sich auch gegen jemanden anführen, der strategisch statt kommunikativ handelt und seinen Interessenstandpunkt mit Gewalt oder dem autoritären Ausschluss andersdenkender Gesprächspartner durchzusetzen versucht (vgl. Habermas 1996, 111 f.; 101): Es wäre irrational und performativ widersprüchlich zu behaupten, man hätte sich von der Richtigkeit einer moralischen Norm überzeugt, nachdem man bestimmte Personen zum Schweigen gebracht oder manipuliert hat. Der am weitaus häufigsten gegen die Diskursethik vorgebrachte Einwand lautet, ein rein argumentativer, zwangsfreier und unbegrenzter Diskurs sei unter Realitätsbedingungen völlig unmöglich. Besonders realitätsfremd scheint das Ideal einer „unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft“ und eines prinzipiell unabgeschlossenen Diskurses zu sein, weil reale Diskursgemeinschaften immer begrenzt sind und realen Debatten insbesondere in institutionalisierten, z. B. politischen Zusammenhängen gewöhnlich ein enger zeitlicher Rahmen gesetzt ist (vgl. Apel, 223). Auch können sich rein praktisch gesehen in der realen Gesprächssituation niemals alle potentiell von den Folgen der Normenbefolgung Betroffenen beteiligen, zumal keineswegs alle Menschen kommunikationsfähig sind und möglicherweise auch zukünftig lebende Generationen und also noch gar nicht Geborene Spätfolgen zu spüren haben werden. Auf diese Kritik haben idealer Diskurs unrealistisch 45316_Fenner_SL4b.indd 151 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="152"?> 152 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Diskursethiker mit folgenden konzeptuellen Zusatzelementen reagiert: Damit die „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ keine bloß notwendige kontrafaktische Unterstellung bleibt, hat Apel zwei verantwortungsethische Ergänzungsprinzipien formuliert. Langfristig müssten sich Menschen in all ihrem Tun und Lassen darum bemühen, a) das Überleben der Menschheit als realer Kommunikationsgemeinschaft zu schützen und b) die Institutionalisierung idealer Gesprächsbedingungen in die Wege zu leiten (vgl. Apel, 429 ff.). Nach Habermas müssen nichtkommunikationsfähige oder noch nicht geborene Personengruppen wie etwa kleine Kinder, Demenzkranke oder zukünftige Generationen in einem advokatorischen Diskurs durch Stellvertreter repräsentiert werden, die deren Interessen angemessen einbringen und ihr mögliches Einverständnis zu den fraglichen Normen prüfen (vgl. Habermas 1996, 133). Natürlich kann man immer noch entgegnen, dass sich kaum jemand die exakten Folgen der Normbefolgung für solche Personengruppen vorstellen könne. Zumindest in Bezug auf moralisch relevante elementare menschliche Grundbedürfnisse dürfte dies aber durchaus möglich sein. Ein unüberwindbares Problem bei der Durchführung realer praktischer Diskurse wird vielfach auch in der großen Heterogenität der Bedürfnisse und Interessen der Menschen gesehen. Angesichts stark divergierender Interessen und Ansprüche lässt sich erfahrungsgemäß selbst dann nicht immer oder doch nicht binnen nützlicher Frist ein rationaler Konsens finden, wenn alle Beteiligten zu kommunikativem Handeln und einem fiktiven Rollentausch bereit sind. Darauf lässt sich entgegnen, dass zumindest einige grundlegende diskursgefährdende Prinzipien wie etwa diskriminierende, z. B. rassistische oder sexistische Grundsätze oder egoistische Regeln wie diejenige, immer zu lügen, wenn es dem eigenen Vorteil dient, eindeutig ausgeschieden werden können. Um Interessenbzw. Normenkonflikte lösen und eine allgemeine diskursive Zustimmung zu einer Regel erzielen zu können, scheint man hingegen auf gemeinsame, übergreifende „höhere Interessen“ oder „Bedürfnisse allgemein menschlicher Natur“ zurückgreifen zu müssen (vgl. Ricken, 174). Nach Apel sind grundsätzlich alle interpersonal kommunizierbaren Bedürfnisse ethisch relevant, verdienen aber nur dann allgemeine Anerkennung, wenn sie durch Argumente interpersonal gerechtfertigt werden können. Dazu scheint es sich nicht verantwortungsethische Ergänzungsprinzipien advokatorischer Diskurs Heterogenität der Interessen: kein Konsens 45316_Fenner_SL4b.indd 152 05.03.2020 12: 20: 27 <?page no="153"?> 153 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E notwendig um allen Menschen gemeinsame Grundbedürfnisse handeln zu müssen, sodass also nicht nur die bei allen Menschen identisch vorliegenden Interessen „universalisierbar“ sind. Vielmehr reicht es aus, wenn sie sich „auf dem Wege der Argumentation mit den Bedürfnissen aller übrigen in Einklang bringen lassen“ (Apel, 425). So stehen sich im obigen Anschauungsbeispiel offenkundig das Bedürfnis nach Ruhe und Gepflegtheit älterer Menschen und das Bedürfnis der Jugendlichen nach freiem Austoben und ausgefallenem Geschmack gegenüber. Beide Grundbedürfnisse sind allgemein menschlicher Natur und lassen sich in den Grenzen spezifischer Altersgruppen universalisieren, weshalb ihre Befriedigung allgemein geboten werden kann (vgl. Pieper 2017, 180). Es müsste im praktischen Diskurs ein wechselseitiger Rollentausch vorgenommen und eine einvernehmliche Lösung gefunden werden, indem etwa jede Interessengruppe im Lebensraum der anderen auf vermeidbare Bedürfnisfrustrationen verzichtet. Ein noch grundsätzlicherer Vorwurf betrifft die fehlenden rationalen Kriterien, um die Berechtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Ansprüche mit Blick auf eine strittige Handlungsnorm und damit die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung zu prüfen. Habermas bestreitet, dass es irgendwelche Evidenzen oder Bewertungskriterien gebe, die der gemeinsamen diskursiven Auseinandersetzung vorausliegen (vgl. 1992, 165). Bedürfnisinterpretationen oder Deutungsperspektiven könnten genau dann als angemessen gelten, wenn sie sich auf der Grundlage eines wechselseitigen Rollentausches und gegenseitiger Kritik als berechtigt ausweisen. Ebenso fehlen vorgängige Beurteilungskriterien, um gute und schlechte Argumente voneinander zu unterscheiden. Gute Gründe und Argumente seien schlicht all diejenigen, die auf der Grundlage aller relevanten Informationen aus der Perspektive aller Beteiligten nachvollziehbar und überzeugend seien. In ethischer Hinsicht können es beispielsweise Argumente sein, die auf moralische Intuitionen (Intuitionismus) oder auf den gesellschaftlichen Gesamtnutzen (Utilitarismus) verweisen. Die Diskursethik kann daher als eine sehr „offene Konzeption normativer Ethik“ gelten, als eine Art „Rahmenethik“ für die Diskussion unterschiedlicher Begründungsformen und normativer Überzeugungen (Werner, 145). Obgleich entsprechend auch eindeutige Kriterien für die Rationalität eines einmal erfehlende rationale Kriterien offenes Konzept: Rahmenethik 45316_Fenner_SL4b.indd 153 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="154"?> 154 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E langten Konsenses und die moralische Richtigkeit der allgemein akzeptierten Normen fehlen, kann der in die Diskursethik eingebaute „Fallibilismus“ und die Vorläufigkeit des einmal erlangten Konsenses doch kein prinzipieller Grund gegen die Orientierung am diskursethischen Verfahren zur Prüfung moralischer Normen sein (vgl. Habermas 1992, 165). Denn auch die Naturwissenschaften liefern keineswegs absolut sicheres, sondern nur bestmöglich methodisch abgesichertes, empirisch belegtes und intersubjektiv überprüf bares Wissen, ohne dass dieses deswegen wertlos wäre. Genauso wie naturwissenschaftliche Tatsachenbehauptungen können sich die im praktischen Diskurs begründeten moralischen Normen als falsch und revisionsbedürftig erweisen, wenn in Zukunft analog zu empirischen Gegenevidenzen bislang übersehene Gegenargumente auftauchen. Ziel argumentativer Begründung kann immer nur größtmögliche zum gegebenen Zeitpunkt erreichbare Sicherheit und Gewissheit darüber sein, dass Behauptungen wahr oder normativ richtig sind (vgl. Kuhlmann, 314). Kritik • kein performativer Selbstwiderspruch bei Diskursverweigerung • ideale Diskursbedingungen faktisch unerreichbar: Unmöglichkeit eines zwangsfreien unbegrenzten Diskurses • Unmöglichkeit eines Konsenses im (Normal)Fall von Interessenkonflikten • lediglich „Rahmenethik“: fehlende Kriterien für Bewertung der subjektiven Interessen und der Qualität der Argumente Handlungsreflexiver Ansatz (Gewirth/ Steigleder) Ein weiterer beachtlicher Begründungsversuch der Gegenwartsethik wurde Ende des 20. Jahrhunderts von Alan Gewirth vorgelegt und von Klaus Steigleder systematisiert und weiterentwickelt. Das Begründungsverfahren des handlungsreflexiven Ansatzes ist gleichfalls konstruktivistisch, weil nach den grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit moralischen Urteilens und Handelns gefragt wird. Ausgangspunkt der Rekonstruktion 5 .2 .3 45316_Fenner_SL4b.indd 154 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="155"?> 155 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E ist aber nicht die menschliche Vernunft wie bei Kant oder die kommunikative Praxis wie bei der Diskursethik, sondern die Handlungsfähigkeit der Menschen. Auch dieser Ausgangspunkt ist sehr plausibel und voraussetzungsarm, indem er auf keinen ontologischen oder weltanschaulichen Annahmen basiert. Hätten Menschen gar nicht die elementare Fähigkeit zu handeln, würden sich nämlich Gedanken über das richtige menschliche Handeln schlicht erübrigen und Ethik wäre völlig sinnlos. Wie bei der in Kapitel 2.1 entwickelten Handlungsdefinition wird das Handeln nach Gewirth und Steigleder wesentlich charakterisiert durch Absichtlichkeit oder Zielgerichtetheit und Freiwilligkeit (vgl. Gewirth, 27/ Steigleder, 38 f.): Die handelnde Person will stets ein Ziel erreichen, das sie positiv bewertet und also für „gut“ oder ein „Gut“ hält. Handlungsfähigkeit meint entsprechend die Fähigkeit, sich absichtlich und freiwillig Ziele zu setzen und diese auch realisieren zu können. Im ersten Schritt der rekonstruktiv-reflexiven Moralbegründung wird nun nach den notwendigen Voraussetzungen dieses Handelnkönnens gefragt. Dabei geht es nicht um konkrete Mittel oder Güter, die mit Blick auf ganz spezifische Handlungsziele wie das Schreiben eines Buches oder das Bauen eines Hauses erforderlich sind. Aufgedeckt werden sollen vielmehr diejenigen Bedingungen oder Güter, die ganz unabhängig von konkreten subjektiven Handlungszielen von jedem Handlungssubjekt als „gut“ angesehen werden müssen. Auf diese Weise gelangt man nicht zu einem rein formalen Testverfahren zur Prüfung von Handlungsregeln oder Normen wie bei Kant und den Diskursethikern, sondern auf material gehaltvolle „Güter“ oder Voraussetzungen. Um welche handelt es sich genau? Bei der Reflexion über die Bedingungen menschlicher Handlungsfähigkeit stößt Gewirth im ersten Schritt des rekonstruktiven Begründungsverfahrens auf die beiden konstitutiven Güter („generic goods“) „Freiheit“ und „Wohlergehen“ (vgl. 27). Freiheit („freedom“) oder „Freiwilligkeit“ („voluntariness“) umfasst verschiedene Aspekte, die in Kapitel 7.2 genauer ausdifferenziert werden: In einem positiven Sinn setzt Handlungsfähigkeit voraus, dass jemand sein Verhalten kontrollieren kann und sein Handeln selbst zu bestimmen vermag (vgl. Gewirth, 52; 252). Negativ betrachtet ist ein Handelnder nur dann frei, wenn Gewalt, physischer oder psychischer Zwang und Täuschung durch Handlungsfähigkeit notwendige (konstitutive) Güter für Handlungsfähigkeit Freiheit 45316_Fenner_SL4b.indd 155 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="156"?> 156 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E andere Personen fehlen. Da soziale Zwänge und Handlungsbeschränkungen in der Realität fast immer graduell vorhanden sind, bleibt dabei allerdings systematisch unklar, bei welchem Ausmaß wie beispielsweise einer Inhaftierung die Handlungsfähigkeit der Betroffenen abhandenkäme. Während das Gut der „Freiheit“ mehr die prozedurale Seite des Handelns betrifft, geht es beim „Wohlergehen“ eher um substantielle Güter (vgl. Gewirth, 60 ff./ Steigleder, 56; 162): Wohlergehen („well-being“) wird zumeist in einem ganz weiten Sinn als Gesamtheit der Voraussetzungen zur Verfolgung von Lebenszielen verstanden. Das Wohlergehen eines Handelnden kann aber durchaus auch von besonderen, individuellen Handlungszielen und deren Erreichung abhängen. Dies gilt hauptsächlich für die „Güter zweiter Ordnung“, die zusammen mit den „Elementargütern“ zum „Wohlergehen“ der handelnden Personen beitragen: Elementargüter („basic goods“) sind die für jedes Handeln unbedingt notwendigen Fähigkeiten oder Vorbedingungen wie das Leben, physische und psychische Integrität, geistige Ausgeglichenheit und Handlungszuversicht sowie auch konkrete Mittel wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft (vgl. Gewirth, 54). Bei den weniger dringlichen Gütern zweiter Ordnung werden nochmals die „Güter der Nichtverminderung“ und „Zuwachsgüter“ unterschieden (vgl. ebd., 210 f.): Nichtverminderungsgüter („non-substractive goods“) werden zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit und des Niveaus der Erfüllung der eigenen Ziele benötigt. Dazu zählen z. B. die Fähigkeit zur Zukunftsplanung, das Wissen über handlungsrelevante Fakten und die Nutzung der eigenen Ressourcen zur Zielerreichung, die etwa durch Betrogen- oder Bestohlenwerden verletzt werden können. Zuwachsgüter („additive goods“) hingegen dienen der Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit und der Erhöhung des Niveaus der Erfüllung persönlicher Ziele. Dazu gehören Erziehung, Bildung, Selbstachtung und Achtung durch andere, die etwa durch herablassendes Verhalten oder mangelhafte Unterstützung gefährdet werden. Nachdem im ersten Schritt des konstruktivistischen Begründungsverfahrens die handlungskonstitutiven Güter benannt wurden, kann im zweiten Schritt daraus das Moralprinzip abgeleitet werden. Bei diesem Begründungsgang geht Gewirth von der Perspektive der handlungsfähigen Person aus, die sich die Wohlergehen Elementargüter Güter zweiter Ordnung Nichtverminderungsgüter Zuwachsgüter 45316_Fenner_SL4b.indd 156 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="157"?> 157 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E grundlegenden Voraussetzungen ihres Handelns reflexiv vergegenwärtigt (vgl. Gewirth, 78 ff./ Steigleder, 115 f.): Auch wenn diese Person nicht ununterbrochen handelt, muss sie doch notwendig urteilen, dass Freiheit und Wohlergehen konstitutive Güter für ihr Handelnkönnen darstellen. Offenkundig können aber diese beiden Güter von anderen handelnden Personen eingeschränkt werden, weshalb das Handlungssubjekt mit gleicher logischer Notwendigkeit wollen muss, dass diese Güter durch niemanden beeinträchtigt werden. Es muss also einen normativen Anspruch auf diese beiden Güter erheben, der aber auf dieser Stufe der Argumentation lediglich ein „prudentielles Recht“ („prudential right“) darstellt. Würde es diesen Rechtsanspruch als handelnde Person nicht erheben, wäre dies wiederum ein performativer Selbstwiderspruch (vgl. Kap. 5.2.2). Da sich das Handlungssubjekt diesen Rechtsanspruch aber allein aufgrund der Tatsache der Handlungsfähigkeit zuschreiben muss, ist es genötigt, auch jedem anderen handlungsfähigen Wesen diesen legitimen Anspruch zuzugestehen (vgl. dazu Düwell, 158 f.). Wenn in diesem weiteren Schritt der Argumentation die individuelle Perspektive der handelnden Person zugunsten des universellen Standpunkts der Moral verlassen wird, bekommen die Rechte eine moralische Dimension. Durch die logische Verallgemeinerung oder Universalisierung des Rechts aller handlungsfähigen Wesen auf die handlungskonstitutiven Güter gelangt man nun leicht zum handlungsreflexiven Moralprinzip oder „principle of generic consistency“ kurz: PGC), demzufolge beim Handeln stets die handlungskonstitutiven Güter der betroffenen Personen geschützt werden sollen (vgl. Gewirth, 121/ Steigleder, 123). Man darf also die konstitutiven Rechte der anderen Personen nicht grundlos einschränken bzw. muss in Gewirths Worten „stets in Übereinstimmung mit den konstitutiven Rechten der Empfänger seiner Handlungen wie auch seiner selbst handeln“ (Gewirth, 121/ Steigleder, 123). Prinzip konstitutiver Konvergenz 45316_Fenner_SL4b.indd 157 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="158"?> 158 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Prinzip konstitutiver Konvergenz (PKK): Jeder Handelnde soll stets die handlungskonstitutiven Güter aller vom Handeln Betroffenen respektieren und schützen. (nach Gewirth, 121/ Steigleder, 123) konstitutive Güter: 1. Freiheit (z. B. Selbstbestimmung, Freiheit von Gewalt/ Zwang/ Täuschung) 2. Wohlergehen : a) elementare Güter (z. B. Leben, physische und psychische Integrität, Nahrung, Kleidung, Obdach) b) Güter zweiter Ordnung : Nichtverminderungsgüter (z. B. relevantes Faktenwissen, Fähigkeiten zur Zukunftsplanung und Ressourcennutzung) Zuwachsgüter (z. B. Erziehung, Bildung, Selbstachtung, Achtung) Definition Positiv hervorzuheben ist, dass sich der handlungsreflexive Ansatz für die Begründung der Menschenrechte eignet und die handlungskonstitutiven Rechte von den Vertretern explizit als „Menschenrechte“ verstanden werden (vgl. Gewirth, 64/ Steigleder, 183). Dabei beschränken sich diese Rechte durchaus nicht nur auf negative Rechte, von anderen nicht in seiner Handlungsfähigkeit verletzt zu werden. Vielmehr können darüber hinaus auch positive Rechte auf Unterstützung durch andere mitgemeint sein, damit alle ihre Handlungsfähigkeit erhalten oder wiedererlangen können (vgl. Steigleder, Kap. 5). Begründen lassen sich daher die in Menschenrechtsdeklarationen aufgeführten Rechte auf Leben, physische und psychische Integrität oder Meinungsfreiheit genauso wie Rechte auf Existenzminimum, medizinische Grundversorgung oder kostenlose Schulbildung. Es liegt jedoch der Einwand nahe, dass bei diesem Ansatz solche Rechte lediglich den handlungsfähigen Menschen mit ausreichend Rationalität, Bewusstsein und Selbstbewusstsein zukommen, nicht aber beispielsweise Schwerstbehinderten oder Dementen. Nach Gewirths Proportionalitätsprinzip hängt der Grad an Besitz der konstitutiven Rechte von den jeweiligen vorhandenen Merkmalen der Handlungsfähigkeit ab (vgl. 141). Steigleder macht demgegenüber das Potentialitätsargument geltend, demzufolge alle Angehörigen der Spezies Mensch über die Potentialität zur Handlungsfähigkeit verfügen (vgl. 184 ff.). Kritik Menschenrechte nicht alle Menschen handlungsfähig 45316_Fenner_SL4b.indd 158 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="159"?> 159 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Kritisch ist auch anzumerken, dass klare Abgrenzungskriterien zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Gütern fehlen, die Zuordnung der aufgeführten Beispiele von notwendigen Gütern zu den einzelnen sich in einer hierarchischen Ordnung befindenden Güterkategorien nicht immer nachvollziehbar ist und gewisse Rechte auf verschiedenen Ebenen auftauchen. So findet sich etwa das Recht, nicht belogen und betrogen zu werden, sowohl bei den Freiheitsrechten als auch den Nichtverminderungsgütern. Auch mag die für die Anwendung des Moralprinzips notwendige nähere inhaltliche Bestimmung der Güter bei den negativen Freiheitsrechten und den elementaren Gütern noch weitgehend kontext- und kulturunabhängig gelingen. Demgegenüber sind die weniger dringlichen Güter zweiter Ordnung und insbesondere die auf die Erweiterung der Handlungsfähigkeit abzielenden Zuwachsgüter stark situations- und personenabhängig. Wenn konstitutive Güter aber durch staatliche Gesetze und Institutionen gesichert oder erweitert werden sollen, wäre beispielsweise das Zuwachsgut „Bildung“ in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft zu konkretisieren auf bestimmte Schulsysteme. Die Vertreter dieses Ansatzes fordern zur genaueren Interpretation der handlungskonstitutiven Rechte demokratische prozedurale Aushandlungsprozesse, sodass letztlich diskursethische Verfahren in Anspruch genommen werden (vgl. Gewirth, 306/ Steigleder, 172). Kritik • fehlende eindeutige Kriterien für die Trennung notwendiger und nichtnotwendiger Güter • Zuordnung der Güter und Rechte zur Hierarchie der Güterkategorien unklar • Interpretation und Konkretisierung der Güter in verschiedenen situativen oder soziokulturellen Kontexten erforderlich (durch demokratische Verfahren/ Diskurse) keine klaren Abgrenzungskriterien notwendige Interpretation/ Konkretisierung 45316_Fenner_SL4b.indd 159 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="160"?> 160 o b j E � t I V I � t I � c h E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E Übungsaugaben 1. Wodurch sind objektivistische Begründungsformen charakterisiert? 2. Martha sieht, wie ihr Mann Max auf dem Spesenformular seiner Firma die Fahrzeiten erheblich zu seinen Gunsten aufrundet. Max begründet sein Verhalten so: „Das tun doch meine Kollegen in der Firma auch! “ Wie ist dieses Verhalten aus ethischer Perspektive zu bewerten? 3. Wie gehen konstruktivistische Ethiker bei der Begründung vor? Welches sind die wichtigsten Positionen und wie lauten deren Moralprinzipien? Literatur Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, Bd. 2, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1988. Gewirth, Alan: Reason and Morality, Chicago 1978. Habermas, Jürgen: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 6. Auflage, Frankfurt a. M. 1996. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. VII, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, 12. Auflage, Frankfurt a. M. 1993, zitiert als GMS bzw. KpV und nach den Ausgaben A/ B. Moore, George E : Principia Ethica, Stuttgart 1996. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch eines ethischen Personalismus, Bern 1954. Steigleder, Klaus: Grundlegung der normativen Ethik. Der Ansatz von Alan Gewirth, Freiburg/ München 1999. 45316_Fenner_SL4b.indd 160 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="161"?> 161 Grundtypen der Ethik Inhalt 6.1 Konsequentialismus/ Teleologie: bestmögliche Handlungsfolgen 6.2 Deontologie/ Gesinnungsethik: Pflicht zu guten Handlungsweisen 6.3 Tugendethik: guter Charakter der Persönlichkeit 6.4 Kombinierbarkeit der drei Haupttypen Zusammenfassung Ethische Theorien lassen sich nicht nur nach den verschiedenen Begründungsmethoden kategorisieren, sondern auch nach unterschiedlichen inhaltlichen Fokussierungen: Als die wichtigste normativ-ethische Klassifikation gilt der Gegensatz zwischen Konsequentialismus (Teleologie), bei dem eine Handlung mit Blick auf ihre Folgen oder Konsequenzen beurteilt wird (6.1), und der Deontologie (Gesinnungsethik), bei der für die Bewertung einer Handlung primär die Gesinnung der handelnden Person und ihre Pflichterfüllung ausschlaggebend ist (6.2). Die Tugendethik als dritte ethische Grundorientierung grenzt sich klar von einer solchen Prinzipien- oder Regelethik ab und rückt die Charakterhaltung der handelnden Person in den Fokus der ethischen Betrachtung. 6 45316_Fenner_SL4b.indd 161 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="162"?> 162 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Nachdem in den beiden vorangegangenen Kapiteln 4 und 5 verschiedene Begründungsmodelle der philosophischen Ethik analysiert wurden, geht es in diesem Kapitel um unterschiedliche inhaltliche Fokussierungen in der Ethik. Denn bei der ethischen Beurteilung menschlicher Handlungen können diese aus ganz verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: Von der ersten zentralen Beurteilungskategorie, den Handlungsfolgen oder Konsequenzen eines Handelns oder Verhaltens war schon oft die Rede, insbesondere in den Kapiteln zur Handlungstheorie und zum Utilitarismus (vgl. Kap. 2.2/ 4.2). In gesellschaftlichen ethischen Diskussionen steht häufig die Frage im Vordergrund, wer für bestimmte aufgetretene negative Folgen verantwortlich ist und vor den Betroffenen, vor der Öffentlichkeit oder vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Das konkrete Ergebnis einer Handlung ist aber keineswegs das einzig relevante inhaltliche Beurteilungskriterium, sondern es werden meist auch die Gesinnung der handelnden Person und die zu diesem misslichen Resultat führende konkrete Handlung an sich betrachtet: Es spielt in vielen Fällen eine nicht unerhebliche Rolle für die ethische Bewertung, ob die für unerwünschte Folgen verantwortlichen Personen eine gute oder böse Absicht hatten und nach welchen moralischen Prinzipien sie gehandelt bzw. welche Pflichten oder Rechte sie verletzt haben. Die Unterscheidung zwischen diesen zwei Perspektiven gilt in der Ethik allgemein als die wichtigste Klassifikation normativ-ethischer Theorien, wenngleich die Bezeichnungen und die genauen Definitionsvorschläge für die beiden gegensätzlichen Grundorientierungen teilweise stark voneinander abweichen. Während in begrifflich-konzeptueller Hinsicht „teleologische Ethik“ und „deontologische Ethik“ bzw. „konsequentialistische Ethik“ und „Gesinnungsethik“ die direkten Gegensatzpaare bilden, steht im Folgenden für die Fokussierung auf die Handlungsfolgen die Kombination Konsequentialismus/ Teleologie (Kap. 6.1) und für die zweite Bewertungshinsicht der Verpflichtung des Handlungssubjekts zu bestimmten Handlungsweisen Deontologie/ Gesinnungsethik (Kap. 6.2). Handlungsfolgen, Konsequenzen einer Handlung Handlung an sich, Gesinnung der Person 45316_Fenner_SL4b.indd 162 05.03.2020 12: 20: 28 <?page no="163"?> 163 E t h I � c h E r � o n � t r u � t I V I � � u � : r E f l E x I V E b E g r ü n d u n g � � o d E l l E In der moralischen Alltagspraxis beurteilen wir aber nicht nur die konkreten Folgen und die persönlichen Motive bei isolierten Einzelhandlungen, sondern häufig auch den Charakter oder die moralische Qualität der dahinterstehenden Persönlichkeiten: Bei der Tugendethik als der dritten Grundorientierung in der Ethik rückt noch stärker als bei der zweiten Perspektive die Person selbst mit ihrer Charakterhaltung, Handlungsdisposition und Lebensweise in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtung. Denn jemand kann entweder zufällig oder durchgehend moralisch oder unmoralisch handeln, und dies scheint gleichfalls ethisch relevant zu sein (Kap. 6.3). Methodisch wird so vorgegangen, dass in den Kapiteln 6.1-6.3 zunächst jeder der drei Grundtypen sozusagen in seiner „Reinform“ charakterisiert, anhand der nachfolgenden Anschauungsbeispiele illustriert und kritisch geprüft wird. Erst in Kapitel 6.4 werden dann gemäßigte Varianten und Mischformen vorgestellt, um die Frage nach der Kombinierbarkeit der von den drei Theorietypen herausgearbeiteten unterschiedlichen ethischen Bewertungskriterien zu klären. Ziel des Kapitels ist es aber nicht, eine der drei Grundorientierungen als die „richtige“ oder insgesamt überzeugendste herauszustellen. Anschauungsbeispiel 1 Georg, Chemiker und Vater von drei kleinen Kindern, findet nach der Promotion keine Arbeit. Ein Kollege könnte ihm nun eine gut bezahlte Stelle in einem Labor vermitteln, das Forschung auf dem Gebiet der chemischen und biologischen Waffen betreibt. Trotz der großen Sorge um seine Familie schreckt Georg vor der Annahme der Stelle zurück, weil er aus Überzeugung gegen biologische und chemische Waffen ist. Darf oder soll er die Stelle annehmen? (vgl. Ricken, 300 f., nach Bernhard Williams) Charakterhaltung der Person 45316_Fenner_SL4b.indd 163 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="164"?> 164 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Anschauungsbeispiel 2 Nachdem am 11.9.2001 islamistische Terroristen ein entführtes Flugzeug in einen der Türme des World Trade Center in New York krachen ließen, gerät erneut ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen in die Hände von Terroristen. Die Maschine wird direkt auf die vollbesetzte Münchner Allianz-Arena zugesteuert, wo sie zum Absturz gebracht werden soll. Dies bedeutete den Tod von 70.000 ahnungslosen Zuschauern. Darf oder soll der Luftwaffenmajor oder eine Zivilperson aus moralischer Sicht das Flugzeug abschießen? (nach Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“) Anschauungsbeispiel 3 Ein Deutscher hat während der Herrschaft der Nationalsozialisten einen verfolgten Juden bei sich zuhause im Keller versteckt. Eines Tages klingelt die Polizei an der Tür und fragt ihn, ob der Jude hier zu finden sei. Darf oder soll der Mann in dieser Situation lügen? (nach Kant 1997) Konsequentialismus/ Teleologie: bestmögliche Handlungsfolgen Unter Konsequentialismus bzw. konsequentialistische Ethik werden alle Ethikmodelle zusammengefasst, bei denen die ethische Beurteilung einer Handlung ausschließlich von den Handlungsfolgen oder Konsequenzen abhängt. Moralisch richtig ist in jeder Situation genau diejenige Handlung, die zu den bestmöglichen Handlungsfolgen bzw. einem Maximum an guten Konsequenzen führt. Dabei sind sowohl die zeitgleich eintretenden Wirkungen als auch später eintreffende Folgen zu berücksichtigen. Wer jedoch mit welchen Absichten oder Motiven handelt oder gar was für einen Charakter jemand aufweist, spielt für die ethische Bewertung aus dieser Optik keine Rolle. Eine Fokussierung auf das Ergebnis oder den Erfolg einer Handlung ist äußerst naheliegend, weshalb auch bei empirischen Umfragen etwa zur Einschätzung der ethischen Legitimität des Flugzeug-Abschusses 6 .1 Konsequentialismus/ konsequentialistische Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 164 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="165"?> 165 � o n � E q u E n t I a l I � � u � / t E l E o l o g I E : b E � t � ö g l I c h E h a n d l u n g � f o l g E n eines von Terroristen entführten Flugzeugs in Anschauungsbeispiel 2 die allermeisten Menschen die Konsequenzen als das ausschlaggebende Entscheidungskriterium erachten. Schließlich sind uns Folgenabschätzungen aus dem Alltag wohlvertraut, z. B. von Kosten-Nutzen-Analysen in der Wirtschaft oder Technikfolgenabschätzungen bei der Entwicklung neuer Technologien. Dabei ist es natürlich erst einmal nur eine rein empirische Frage, welche konkreten Folgen ein bestimmtes Handeln mit Sicherheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit in der raumzeitlichen Wirklichkeit mit sich bringen wird und wie sich diese ermitteln lassen. Eine ethische Frage ist jedoch, wie die zu erwartenden Folgen ethisch zu bewerten sind und welche Wertmaßstäbe zu diesem Zweck herangezogen werden können. In einer ersten Annäherung ist aus konsequentialistischer Sicht genau diejenige Handlung geboten, die den Zustand der Welt insgesamt verbessert oder möglichst viel Gutes für die Welt oder die Gesellschaft bewirkt (vgl. Bleisch u. a. 2011, 55). Die genauen Beurteilungskriterien oder normativen Standards werden aber von den verschiedenen Vertretern des Konsequentialismus unterschiedlich bestimmt, sodass eine „Verbesserung“ sowohl mehr Gerechtigkeit und Menschenrechte in moralischer Hinsicht als auch die Steigerung des Glücks oder Gesamtnutzens im außermoralischen Sinn bedeuten kann. Während monistische Theorien nur ein einziges Gut wie z. B. Glück oder Lust auszeichnen, gibt es in pluralistischen Konzeptionen mehrere Güter wie z. B. persönliche Zuneigung, ästhetischer Genuss oder Erkenntnis bei George Moore (vgl. Moore, 261; 270). Die konsequentialistischen Moralprinzipien werden im Konsequentialismus nicht aufwändig begründet, sondern gelten als intuitiv einsichtige Faustregeln, die zur Maximierung der gewünschten Güter anleiten. Abgeleitet von griechisch „telos“ („Ziel, Zweck“) steht Teleologie oder teleologische Ethik für Ansätze, bei denen eine Handlung ausschließlich an der Verwirklichung eines vormoralischen Guten als Handlungsziel bemessen wird (vgl. Düwell u. a., 16 f./ Ricken, 287). Ein klassischer Ansatz der teleologischen Ethik ist der in der Antike dominierende Eudaimonismus, bei dem das letzte Ziel menschlichen Strebens das Glück bildet. Nach einem von William Frankena eingeführten Abgrenzungsmerkmal teleologischer Ethiktypen gegenüber deontologischen bestimmen diese zuerst das außermoralisch „Gute“ im Sinne des Wünschens- Bewertungsmaßstab: Verbesserung der Welt monistische vs. pluralistische Theorien Teleologie/ teleologische Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 165 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="166"?> 166 g r u n d t y p E n d E r E t h I � werten oder Vorteilhaften, um dann das moralisch Richtige als bestmögliche Förderung des Guten zu definieren (vgl. Frankena, 32-37). Bei onto-teleologischen Ethiken der Antike fällt diese klare Trennung zwischen dem vormoralisch Guten und dem moralisch Richtigen allerdings schwer, weil die Zielvorgabe des menschlichen Strebens durch die vernünftige Ordnung von Natur bzw. Kosmos vorgegeben wird und damit schon „moralisch“ in einem weiten Sinn ist (vgl. Kap. 1.1/ Hübenthal, 63). Grundsätzlich ist jede teleologische Ethik zugleich auch eine konsequentialistische, weil das außermoralisch Gute als Handlungsziel immer auch eine beabsichtigte Handlungsfolge darstellt. „Konsequentialismus“ als das weitere Konzept beschränkt sich zum einen aber nicht nur wie die teleologische Ethik oder die sogenannte Verantwortungsethik auf die voraussehbaren und wahrscheinlichen Handlungsfolgen, die das Handlungssubjekt zu beachten und für die es die Verantwortung zu übernehmen hat. Vielmehr umfasst er darüber hinaus auch eine Erfolgsethik, bei der sämtliche faktischen, auch unbeabsichtigten und sogar unvorhersehbaren Folgen einer Handlung in die Bewertung einbezogen werden. Zum anderen ist „Teleologie“ auch deswegen der engere Begriff, weil nur das außermoralisch Gute etwa in Form von Glück oder Präferenzerfüllung wie bei subjektivistischen Begründungsmodellen (vgl. Kap. 4), nicht aber moralische Kriterien wie Gerechtigkeit Bewertungsmaßstäbe sein können. Paradebeispiel für eine zugleich konsequentialistische und teleologische Position ist der Utilitarismus (vgl. Kap. 4.2). Aus teleologischer Perspektive müsste Georg im ersten Anschauungsbeispiel die Stelle annehmen, um das Wohlergehen oder Glück seiner Familie zu fördern. Beim zweiten Anschauungsbeispiel erforderte das utilitaristische Nutzenkalkül eindeutig den Abschuss des Passagierflugzeugs, weil der Tod von 164 Insassen das geringere Übel bzw. die kleinere Verminderung der Glückssumme bedeutet als derjenige von 70.000 Stadionbesuchern. Auch im dritten Anschauungsbeispiel wäre mit Blick auf die positive Konsequenz der Rettung des Juden das Verschweigen der Wahrheit nicht nur erlaubt, sondern geboten - sofern kein Regel-Konsequentialismus vertreten wird (vgl. dazu Kap. 6.4). Abgrenzung Konsequentialismus/ Teleologie 45316_Fenner_SL4b.indd 166 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="167"?> 167 � o n � E q u E n t I a l I � � u � / t E l E o l o g I E : b E � t � ö g l I c h E h a n d l u n g � f o l g E n Konsequentialistische Ethik (weiteres Konzept): Moralisch richtig ist diejenige zur Verfügung stehende Handlungsalternative mit den bestmöglichen Folgen („Konsequenzen“). Die ethische Bewertung bemisst sich ausschließlich an den Handlungsfolgen. • schreibt vor, welches die relevanten Bewertungskriterien für „gute“ Folgen oder die „Verbesserung“ des Weltzustandes sind • ethische Prinzipien sind Faustregeln ohne eigenen moralischen Wert und fordern dazu auf, bestimmte Güter zu maximieren Teleologische Ethik (engeres Konzept): Moralisch richtig ist diejenige zur Verfügung stehende Handlungsalternative, bei der möglichst viele außermoralische Güter als Ziel („telos“) der Handlung verwirklicht werden z.B.: • Aristoteles’ Tugendethik : höchstes Gut = Glück • Benthams Utilitarismus : höchstes Gut = Lust • Nietzsches Egoismus : höchstes Gut = Selbstvervollkommnung Da die wesentliche Funktion von moralischen Prinzipien und Normen im Schutz der Menschen vor schädlichen Folgen rücksichtsloser Handlungen besteht, scheinen Handlungsfolgen notwendigerweise auch ein zentrales Beurteilungskriterium für das Handeln sein zu müssen. Allerdings betrifft ein erster Einwand die Praktikabilität des Konsequentialismus, weil sich in vielen Handlungssituationen kaum alle (Spät)Folgen vorhersehen lassen. Schon rein konzeptuell gesehen ist es problematisch, wie in der Erfolgsethik alle faktischen Folgen zur Bewertungsgrundlage einer geplanten Handlung zu machen. Denn eine Bewertung könnte dann letztlich nicht prospektiv, d. h. im Voraus, sondern nur retrospektiv, also hinterher und womöglich erst Jahrzehnte später vorgenommen werden, wenn die Kausalkette weitreichender Folgen zum Stillstand kam (vgl. Quante, 137). Obgleich aus der Perspektive der Betroffenen natürlich sämtliche faktischen Folgen relevant sind, kann das Handlungssubjekt sinnvollerweise nur für voraussehbare Folgen verantwortlich gemacht werden (vgl. Kap. 2.2). In Extremsituationen wie in Anschauungsbeispiel 2 scheint zwar eine exakte empirische Prognose darüber schwierig, ob die Terroristen nicht noch rechtzeitig im Cockpit überwältigt werden können bzw. wo genau das Flugzeug andernfalls zum Absturz käme und wie viele Menschen tat- Definitionen Kritik Problem der Praktikabilität 45316_Fenner_SL4b.indd 167 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="168"?> 168 g r u n d t y p E n d E r E t h I � sächlich Schaden nähmen. Diesem Argument der Unsicherheit lässt sich aber entgegenhalten, dass in den meisten alltäglichen Handlungssituationen durch Bemühungen um relevante Informationen sehr wohl eine Abschätzung der erwartbaren Folgen in hinreichender Näherung möglich ist. Neben diesen empirischen Anwendungsschwierigkeiten gibt es aber noch zahlreiche ethische Bedenken, die bereits bei der Kritik des Utilitarismus ausführlich besprochen wurden (vgl. Kap. 4.2). Das größte Problem einer ausschließlichen Folgenorientierung ist die Instrumentalisierung der einzelnen Menschen, weil zumindest bei der teleologischen Orientierung am vormoralisch Guten lediglich die Verbesserung des Gesamtzustandes der Welt oder die Steigerung des Gesamtnutzens für die Gesellschaft zählt. Wie im Extrembeispiel des Flugzeugabschusses heiligt der Zweck dann sämtliche Mittel, sodass für einen guten Zweck selbst Töten oder Foltern aus utilitaristischer Perspektive geboten sein können. Nur wenn auch moralische Güter wie Rechte oder Gerechtigkeit zu den Maßstäben der konsequentialistischen Folgenbeurteilung zählen, werden Würde und Rechte der einzelnen Betroffenen geachtet. Schließlich droht der Konsequentialismus zu einer moralischen Überforderung der Menschen zu führen, weil man seine Ressourcen mit Blick auf das moralische Ziel permanenter Weltverbesserung fast immer besser einsetzen könnte. So wäre es moralisch geboten, statt am Feierabend ins Kino zu gehen sich beispielsweise für ehrenamtliche Entwicklungshilfe zu engagieren oder das Eintrittsgeld an eine Hilfsorganisation zu spenden (vgl. Bleisch u. a. 2011, 59/ Kap. 7.4). Kritik Kritik am Konsequentialismus/ Teleologie: • Praktikabilität: schwierige Voraussage sämtlicher Folgen • Zweck heiligt die Mittel: Instrumentalisierung von Einzelpersonen • moralische Überforderung: Appell zur ständigen Weltverbesserung Instrumentalisierung der Menschen moralischen Überforderung 45316_Fenner_SL4b.indd 168 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="169"?> 169 d E o n t o l o g I E / g E � I n n u n g � E t h I � : p f l I c h t Z u g u t E n h a n d l u n g � w E I � E n Deontologie/ Gesinnungsethik: Pflicht zu guten Handlungsweisen Abgeleitet von griechisch „to deon“ („das Erforderliche, Pflichtgemäße“) geht die Deontologie bzw. deontologische Ethik von in sich selbst moralisch richtigen oder falschen Handlungsweisen aus, die entsprechend ge- oder verboten sind und mit einer Pflicht zu ihrem Ausführen oder Unterlassen verbunden sind. Die Pflicht zu einer bestimmten Handlung ergibt sich aus der Einsicht in ihre moralische Richtigkeit, ganz unabhängig von den zu erwartenden positiven oder negativen Konsequenzen. Entscheidend für die ethische Bewertung einer Handlung sind also nicht Verbesserungen des objektiven Weltzustandes, sondern die Handlungsgründe und die Absicht der handelnden Personen, ihre Pflichten zu erfüllen. Damit die moralische Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung erkannt werden kann und sich die Menschen in ihrem Handeln daran orientieren können, stellen deontologische Ansätze Sollensforderungen in Form konkreter Normen oder allgemeiner Moralprinzipien auf. Konkrete Verbote oder Gebote wie das Lügeverbot und Hilfsgebot mit den entsprechenden Pflichten sind daher für diesen Ethiktyp charakteristisch. Daneben wurde eine große Zahl voneinander abweichender allgemeiner Moralprinzipien und Testverfahren entwickelt, anhand derer sich einzelne Handlungen oder konkrete Normen prüfen lassen. Viele deontologische Theoretiker verwenden große Sorgfalt bei einer von empirisch-pragmatischen Folgenüberlegungen unabhängigen Begründung moralischer Prinzipien wie etwa Kants Kategorischem Imperativ, insbesondere bei konstruktivistischen Begründungsmethoden (vgl. Kap. 5.2.1). Oft liegt ihnen als systematischer Grundgedanke die Universalisierbarkeit von Handlungen zugrunde, womit deontologische Ansätze eine wichtige moralische Grundintuition einfangen (vgl. Hübner, Kap. 5.1). Denn eine Handlungsweise kann prinzipiell nur dann geboten oder erlaubt sein, wenn es wünschbar oder akzeptabel wäre, dass alle Menschen dies täten. Zu dieser Begründungsfigur zählt im weiten Sinn auch die Forderung der Goldenen Regel, die eine mehr als 2.000-jährige Tradition aufweist und in zahlreichen Kulturen und Religionen überliefert ist: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem 6 .2 Deontologie/ deontologische Ethik Verbote/ Gebote Moralprinzipien Universalisierbarkeit von Handlungen 45316_Fenner_SL4b.indd 169 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="170"?> 170 g r u n d t y p E n d E r E t h I � andern zu“ bzw. positiv gewendet: „Behandle die anderen so, wie Du selbst von Ihnen behandelt werden willst.“ Auch hier geht es im kleinen Maßstab um die Universalisierbarkeit der eigenen Handlungsweise, um „Reziprozität“ (Wechselseitigkeit), gegenseitige Achtung und Gleichbehandlung. Deontologische Ansätze formulieren Pflichten häufig aber auch mit Blick auf die vom Handeln Betroffenen als Rechtsträger, deren Ansprüche erfüllt werden sollen: Im deontologischen Verständnis haben Einzelpersonen unbedingt zu achtende moralische Rechte z. B. auf Würde, Leben oder körperliche Unversehrtheit, sodass sie niemals als Mittel zu einem noch so guten Zweck instrumentalisiert werden dürfen. Gemäß der Gesinnungsethik bemisst sich der ethische Wert einer Handlung ausschließlich an der guten Absicht oder eben „Gesinnung“ des Handlungssubjekts, ungeachtet der tatsächlich eintreffenden Handlungsfolgen. Eine „gute Absicht“ oder „reine Gesinnung“ liegt dann vor, wenn die handelnde Person den „guten Willen“ hat, das moralisch Richtige oder Pflichtgemäße zu tun. Damit ist offenkundig, dass jede Gesinnungsethik immer auch eine deontologische Ethik im oben beschriebenen Sinn darstellt. So wie Max Weber die Bezeichnung „Gesinnungsethik“ als Gegenbegriff zur „Verantwortungsethik“ einführte, handelt es sich aber um eine Extremposition innerhalb der deontologischen Ethik und somit um das engere Konzept (vgl. Weber, 80). Ihre besondere Radikalität hinsichtlich der Ausblendung der Handlungsfolgen kommt etwa im Gemeinspruch „Fiat iustitia et pereat mundus“ zum Ausdruck: „Gerechtigkeit soll walten, und gehe die Welt darüber zugrunde.“ Selbst wenn aus der „Flamme reiner Gesinnung“ üble Folgen resultieren, wird dafür anders als in der Verantwortungsethik nicht die handelnde Person, sondern die Welt verantwortlich gemacht. Weber nennt als Vertreter Kant, der tatsächlich den „guten Willen“ bisweilen als einen für sich glänzenden „Juwel“ mit „vollem Wert an sich“ ganz unabhängig von seiner Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit gepriesen hat (vgl. GMS, BA 4). Zur Gesinnungsethik zählt aber v. a. auch die jüdisch-christliche Ethik, deren Motto lautet: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“ Während der Ursprung der Teleologie in der griechischen Philosophie der Antike liegt, verdankt sich die Deontologie dem jüdisch-christlichen Kontext mit den unbedingt zu befolgenden, von Gott gesandten zehn Gebo- Gesinnungsethik moralische Rechte 45316_Fenner_SL4b.indd 170 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="171"?> 171 d E o n t o l o g I E / g E � I n n u n g � E t h I � : p f l I c h t Z u g u t E n h a n d l u n g � w E I � E n ten der Bibel (vgl. Ricken, 286). Bei weniger radikal gesinnungsethischen deontologischen Ethikmodellen werden Handlungen zwar nicht auf der Ebene der Begründung der Moralprinzipien, sehr wohl aber bei deren Anwendung miteinbezogen. So fordert beispielsweise das diskursethische Moralprinzip dazu auf, in einem realen praktischen Diskurs die Akzeptabilität der Folgen für alle Betroffenen und damit die Universalisierbarkeit einer Handlung zu prüfen (vgl. Kap. 5.2.2). Ähnlich muss beim Handeln gemäß dem handlungsreflexiven Moralprinzip abgeklärt werden, ob durch das geplante eigene Handeln bzw. seine Folgen nicht grundlegende Güter anderer Menschen beeinträchtigt werden (vgl. Kap. 5.2.3). Grund für den ethischen Wert der im Prüfverfahren positiv getesteten Handlungsweisen sind aber nicht die erwünschten Handlungsfolgen, sondern die Verpflichtung der handelnden Personen gegenüber den deontologischen Moralprinzipien. Aus gesinnungsethischer Perspektive dürfte Georg aus Anschauungsbeispiel 1 die Stelle trotz der Notlage seiner Familie nicht annehmen, um seiner reinen Gesinnung bzw. seiner richtigen Überzeugung von der Illegitimität der Produktion chemischer Waffen treu zu bleiben. In Anschauungsbeispiel 2 darf das Flugzeug deontologisch gesehen nicht abgeschossen werden, weil damit das Recht auf Leben der Passagiere missachtet und sie entgegen Kants Instrumentalisierungsverbot als Mittel zur Rettung der Arenabesucher missbraucht würden. Dieser deontologischen Begründung bedient sich auch der deutsche Staat bei seinem Verbot eines solchen Abschusses eines Flugzeugs, der mit der verfassungsgemäßen Garantie des Rechts auf Leben und Menschenwürde aller Bürger nicht vereinbar sei. Während ein Luftwaffenmajor als Amtsträger mit seiner Weisungspflicht an geltendes Recht gebunden ist, könnten jedoch Zivilpersonen oder beispielsweise auch die Piloten im Cockpit sehr wohl ethische Überlegungen zur Rettung der 70.000 Menschen durch den Abschuss der Maschine oder z. B. auch durch einen absichtlichen Absturz des Flugzeugs außerhalb des Stadions anstellen (vgl. dazu Kap. 6.4). Hinsichtlich der Frage nach der Legitimität einer Notlüge in Anschauungsbeispiel 3 unterscheidet Kant zwischen streng und bedingungslos zu erfüllenden vollkommenen Pflichten wie z. B. der Pflicht zur Ehrlichkeit und den verdienstvollen, je nach eigenen Möglichkeiten zu erfüllenden unvollkommenen 45316_Fenner_SL4b.indd 171 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="172"?> 172 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Pflichten wie der Hilfspflicht (vgl. Kap. 5.2.1). Da vollkommene Pflichten höherrangig sind und im Konfliktfall den Vorzug haben, dürfte der Mann nicht lügen und müsste den versteckten Juden verraten und ihn damit den Nazis ausliefern. Deontologische Ethik (weiteres Konzept): Moralisch richtig sind diejenigen Handlungen, bei denen das Handlungssubjekt seine Pflichten („to deon“) erfüllt durch das Einhalten von Sollensforderungen wie konkreten Normen oder allgemeinen Prinzipien oder der Rücksichtnahme auf die Rechte der Betroffenen. Es gibt an sich ge- und verbotene Handlungen. • legt die verpflichtenden Normen, Prinzipien oder Rechte fest • ethische Prinzipien werden unabhängig von Folgenüberlegungen begründet und haben eine eigenständige moralische Bedeutung z.B.: • Diskursethik : diskursethisches Moralprinzip • handlungsreflexiver Ansatz : Prinzip konstitutiver Konvergenz = gemäßigter deontologischer Ethiktyp : Handlungsfolgen werden bei der Anwendung der Moralprinzipien berücksichtigt Gesinnungsethik (engeres Konzept): Moralisch richtiges Handeln bemisst sich ausschließlich an der Absicht („Gesinnung“) des Handlungssubjekts, das keine Verantwortung trägt für die Handlungsfolgen. (Gegensatz: „Verantwortungsethik“) • Schreibt Pflichten vor bzw. die Art und Weise, wie der Einzelne seinen subjektiven Willen bestimmen soll z.B.: • Kants Ethik des „guten Willens“ • jüdisch-christliche Ethik der Bergpredigt = radikaler deontologischer Ethiktyp bezüglich des Ausblendens der Handlungsfolgen Ein großer Vorzug der deontologischen Grundorientierung besteht zweifellos in der Einfachheit und leichten Handhabbarkeit klarer Regelwerke wie etwa der biblischen 10 Gebote, die schwierige konsequentialistische Folgenabschätzungen erübrigen und Orientierungssicherheít schaffen. Allerdings kann natürlich bei den einzelnen vorgeschlagenen konkreten Normen oder allgemeinen Moralprinzipien Kritik geübt werden bezüglich Gehalt, Auswahl oder Begründung. Auch führen deontologische Ansätze in der moralischen Alltagspraxis häufig zu kaum lösbaren Definitionen Kritik 45316_Fenner_SL4b.indd 172 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="173"?> 173 d E o n t o l o g I E / g E � I n n u n g � E t h I � : p f l I c h t Z u g u t E n h a n d l u n g � w E I � E n Pflichtenkollisionen wie in Anschauungsbeispiel 3 zwischen Hilfspflicht und Lügeverbot, weil nicht in allen Modellen eine klare Hierarchie der Pflichten aufgestellt wird wie bei Kant. Am meisten Kritik ziehen radikale gesinnungsethische Positionen auf sich mit ihrer einseitigen Devise „Auf die gute Absicht kommt es an! “, die zu einem gänzlichen Ausblenden der Handlungsfolgen als einem wesentlichen Kriterium für die ethische Beurteilung von Handlungen verleitet. Erfahrungsgemäß führt aber selbst die beste moralische Absicht mitunter zu unerwünschten Folgen gemäß dem Sprichwort: „Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut! “. Obgleich ungünstige äußere Umstände unsere Pläne unvorhergesehenermaßen durchkreuzen können, sind wir grundsätzlich nicht nur für unsere innere Gesinnung verantwortlich, sondern auch für das, was wir von uns selbst und der Welt wissen und wie gut wir die Folgen unseres Handelns voraussehen und beeinflussen können (vgl. Kap. 2.2). Wo Deontologen auf die kategorische Gültigkeit moralischer Prinzipien oder Normen pochen und die ethische Urteilskraft vernachlässigen, liegt ein unangemessener Rigorismus vor. Ein blindes Befolgen relevanter Pflichten oder Rechte scheint nicht moralisch richtig sein zu können, wenn durch eine einmalige Pflichtverletzung der Untergang der Welt oder verheerende Folgen für einzelne Betroffene hätten verhindert werden können wie z. B. die Auslieferung des Juden an die Nazi-Verfolger durch eine Notlüge oder die Überwältigung der Terroristen in Anschauungsbeispiel 2. Noch extremer und als Paradox deontologischer Verbote bekannt ist das Verbot eines Tyrannenmords, weil hier das Ausführen einer einzigen verbotenen Handlung eine Vielzahl anderer verbotener Handlungen verhindern könnte (vgl. Kap. 6.4). Weniger rigoristisch als monistische Theorien mit nur einem höchsten Moralprinzip sind pluralistische deontologische Theorien wie die von William Ross, die von verschiedenen prima-facie-Pflichten ohne absolute Verbindlichkeit und ohne klare Hierarchie ausgehen (vgl. Ross, Kap. 2). Je nach Situation können sie einen unterschiedlichen Verpflichtungsgrad haben und müssen im Konfliktfall durch Überlegungen gegeneinander abgewogen werden - womit allerdings ein Verlust der eben positiv hervorgehobenen Orientierungssicherheit einhergeht. Pflichtenkollisionen Ausblenden der Handlungsfolgen Rigorismus monistische vs. pluralistische Theorien 45316_Fenner_SL4b.indd 173 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="174"?> 174 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Kritik Kritik an der Deontologie/ Gesinnungsethik • Ausblenden der Handlungsfolgen als wesentliches Beurteilungskriterium • Problem der Pflichtenkollision ungelöst • Rigorismus bei der Befolgung der Normen und Prinzipien trotz verheerender Folgen Kritik an der Goldenen Regel Die als weltweit erstes universelles Moralprinzip geltende Goldene Regel wird häufig überschätzt, etwa wenn sie in religiösen Kontexten wie in Küngs Weltethos-Projekt als „unverrückbare, unbedingte Norm für alle Lebensbereiche“ gepriesen wird (vgl. Küng, 181 f.). Auch wird sie oft in einem Atemzug mit Kants Kategorischem Imperativ genannt, obwohl dieser sich ausdrücklich von dieser „trivialen“ Formel abgrenzte (vgl. Kant, GMS, BA 69). Nach der wörtlich verstandenen Goldenen Regel muss man sich bei diesem Testverfahren überlegen, ob man selbst vor dem Hintergrund der eigenen kontingenten faktischen Interessen die geplante Behandlungsweise wollen würde. Dabei legt sich eine utilitaristische und insbesondere präferenzutilitaristische Deutung nahe, weil man sich die zu erwartenden Konsequenzen der Handlung für das eigene Wohlergehen bzw. seine persönlichen Präferenzen vergegenwärtigt. Der Nachteil der Goldenen Regel besteht entsprechend darin, dass die Bedürfnisse und Wünsche der anderen immer nur aus der empirischen Ich-Perspektive wahrgenommen werden (vgl. Ott, 75). Dies ist so lange unproblematisch, als identische allgemeinmenschliche Interessen vorliegen wie diejenigen, nicht getötet oder belogen zu werden. Im Fall ungleicher Ausgangsbedingungen oder asymmetrischer Beziehungen führt jedoch die Anwendung der Goldenen Regel zu moralisch fragwürdigen bis absurden Resultaten. So dürfte ein Masochist aufgrund seiner Lust am Gequältwerden seine Mitmenschen quälen, und Reiche wären nicht verpflichtet, Armen zu helfen, weil sie selbst natürlich keine milden Gaben benötigen. Um angesichts der im Alltag vorherrschenden Heterogenität der Interessenlagen und Lebenssituationen die Goldene Regel einsetzen zu können, wäre sie folgendermaßen zu präzisieren: „Du sollst den anderen so behandeln, wie Du selbst behandelt kontingente Ich- Perspektive Kritik Goldene Regel 45316_Fenner_SL4b.indd 174 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="175"?> 175 t u g E n d E t h I � : g u t E r c h a r a � t E r d E r p E r � ö n l I c h � E I t werden möchtest, wenn Du Dich mit seinen Bedürfnissen und Interessen in seiner Situation befändest.“ Allerdings verfehlt das uneingeschränkte Befolgen der Wünsche der anderen im Zeichen eines absoluten Altruismus die angestrebte Reziprozität bei weitem, sodass die Idee eines imaginativen Rollentausches lediglich eine grobe Hilfestellung bei der letztlich kommunikativ vorzunehmenden Lösung von Interessenkonflikten bilden kann. Indem die Goldene Regel aber bei den je eigenen Erfahrungen mit Verletzungen durch Mitmenschen anknüpft und damit große persönliche Betroffenheit schafft, vermag sie schon Kleinkinder zum Respekt gegenüber anderen und zum Transzendieren des eigenen Interessenstandpunktes zu animieren. Da die Goldene Regel keinen hinreichend bestimmten Grundsatz darstellt und jenseits des unmittelbaren Nahbereichs in komplexeren sozialen Zusammenhängen rasch an ihre Grenzen stößt, ist primär ihre Veranschaulichung des allgemeinen deontologischen Grundgedankens wechselseitiger Rücksichtnahme zu würdigen. Tugendethik: guter Charakter der Persönlichkeit Aus der Perspektive der Tugendethik hängt die Bewertung einer Handlung davon ab, ob diese Ausdruck eines guten Charakters oder der richtigen Haltung der handelnden Person ist. Anders als in der Deontologie wird großer Wert darauf gelegt, dass Menschen nicht nur in einzelnen Handlungssituationen, sondern konstant, zuverlässig oder „habituell“ („gewohnheitsmäßig“) das moralisch Richtige tun. Ziel dieses dritten Ethiktyps ist daher die Ausbildung fester Charakterdispositionen, um den moralischen Standpunkt im Sinne einer festen inneren Einstellung in der Persönlichkeit zu verankern. Unter Tugend wird genau eine solche durch gezielte fortgesetzte Übung erworbene Charakterhaltung oder Disposition verstanden, aufgrund derer ein Mensch in jeder Situation stets auf das ethisch Richtige ausgerichtet ist und dieses aus einer moralischen Motivation heraus auch tut. Heute klingt der Begriff „Tugend“ freilich etwas verstaubt, nachdem er in der Neuzeit für ethisch weniger bedeutsame „instrumentelle“ bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Sparsamkeit verwendet wurde. In Antike und Mittelalter war die Tugendethik aber der dominierende Ethiktyp mit den Hauptvertretern Platon, keine Lösung für Interessenkonflikte 6 .3 Tugendethik Tugend 45316_Fenner_SL4b.indd 175 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="176"?> 176 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Aristoteles und Thomas von Aquin, wobei die aristotelische Ethik als Modell für alle späteren Ansätze gelten kann: Ausgangspunkt der ethischen Überlegungen bildet stets die Frage, wie die Menschen ein gelingendes gutes Leben eingebettet in die Gemeinschaft führen können. Da die dem Menschen „eigentümliche Leistung“ („ergon“) in der Ausübung der Vernunft besteht, kann das Gute für den Menschen nach Aristoteles nur in einem Handeln gemäß einer höchstentwickelten oder „tugendhaften“ Vernunft im Sinn von griechisch „arete“ („Bestform“/ „Tugend“) bestehen (vgl. Aristoteles, 1098a, 6-15). Dabei umfasst die Tugendhaftigkeit der Vernunft einerseits dianoetische oder Verstandestugenden wie Weisheit und Klugheit, andererseits die für das menschliche Zusammenleben entscheidenden ethischen oder Charaktertugenden wie Tapferkeit oder Großzügigkeit (vgl. ebd., 1103a, 3-25). Während die Klugheit („phronesis“) als eine Art praktische Vernunft oder moralische Urteilskraft in einer gegebenen Situation das ethisch Richtige bestimmen muss, sorgen die beim Einüben eines solchen vernunftgeleiteten Handelns antrainierten Charaktertugenden für ein quasi-automatisch richtiges Handeln (vgl. Horn 2019, 238/ Hübner, 122). Da die natürlichen Neigungen und Gefühle vernunftmäßig kultiviert und auf die Vernunft hin geordnet sind, tut die tugendhafte Person das moralisch Richtige stets mit Leichtigkeit und Freude, ohne großes Nachdenken und Anstrengungen zur Selbstmotivation. Tugendethik: Moralisch richtig ist eine Handlung dann, wenn sie eine tugendhafte Person, d. h. eine Person mit einem guten Charakter in dieser Handlungssituation ausführen würde. Tugend: durch Übung erworbene Grundhaltung, dank der eine Person in jeder Situation das ethisch Richtige tut Neoaristotelismus Nachdem die Tugendethik in der Neuzeit in den Hintergrund trat, erlebt sie seit den 1950er Jahren eine Renaissance. Grund dafür war ein verbreitetes, als erstes von Elizabeth Anscombe formuliertes Unbehagen an der teleologischen und deontologischen Prinzipien- und Regelethik, die in ihrem Formalismus gutes Leben Verstandesvs. Charaktertugenden Definitionen Kritik an Prinzipien- und Regelethik 45316_Fenner_SL4b.indd 176 05.03.2020 12: 20: 29 <?page no="177"?> 177 t u g E n d E t h I � : g u t E r c h a r a � t E r d E r p E r � ö n l I c h � E I t weltfremd wirkt und keine angemessen komplexe Theorie des moralischen Handlungssubjekts liefert (vgl. Wils, 536). Da die Aspekte der moralischen Wahrnehmung von konkreten Handlungssituationen und der Motivation der Handlungssubjekte ausgeblendet werden, bestehe eine große Kluft zwischen dem Wissen um die richtigen Moralprinzipien und dem tatsächlichen Handeln der Menschen. Im Ausgang von der aristotelischen teleologischen Interpretation der menschlichen Natur kam es in der Gegenwart teilweise zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen des Neoaristotelismus: Alasdair MacIntyre vertritt beispielsweise eine kommunitaristische Variante, bei der Tugenden stark traditionsgebunden sind und durch gemeinsame Praktiken und Rollenbilder in einer konkreten Gemeinschaft oder „Kommune“ vermittelt werden müssen (vgl. MacIntyre, Kap. 15). Dieser Traditionalismus in der Tugendethik nimmt allerdings relativistische Züge an (vgl. Kap. 8.2). Daneben gibt es aber auch essentialistische und perfektionistische Ansätze, die wie Aristoteles von wesentlichen („essentiellen“), in der menschlichen Natur vorfindlichen und durch geeignete Tugenden zu „perfektionierenden“ Eigenschaften und Fähigkeiten ausgehen: Wie die Stacheln im Leben der Bienen und die Zähne im Leben der Raubtiere die entscheidende Rolle spielen, sollen nach Philippa Foot auch die natürlichen Qualitäten der Spezies Mensch mit den entsprechend erforderlichen Tugenden wie vorausschauende Planung und Verlässlichkeit die für alle Menschen verbindliche Lebensform vorgeben (vgl. Foot, 56-61). Anders als MacIntyre hebt Martha Nussbaum die Nichtrelativität menschlicher Tugenden hervor, weil diese in den allgemeinmenschlichen, in allen Kulturen und Traditionen gleichen Grunderfahrungen und Grundfähigkeiten verankert sind: 1. nicht vorzeitig zu sterben, bevor das Leben nicht mehr lebenswert ist; 2. Gesundheit; 3. Erleben von Freude und Vermeidung von Schmerzen; 4. Gebrauch der Sinne und Denkkräfte; 5. Beziehungen zu Menschen und Tieren; 6. Fähigkeit zur Lebensplanung; 7. Teilnahme am politischen Leben; 8. Naturverbundenheit; 9. Humor und Spiel; 10. Selbstbestimmung und minimale Handlungsfreiheit (vgl. Nussbaum, 200 f.). Mit solchen Listen der für ein gutes menschliches Leben notwendigen Grundfähigkeiten will Nussbaum nicht bestehende Traditionen festigen, sondern eine Entscheidungsgrundlage für Neoaristotelismus 45316_Fenner_SL4b.indd 177 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="178"?> 178 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Fragen der Entwicklungshilfe und globalen Gerechtigkeit bereitstellen (vgl. Kap. 7.3). Der tugendethische Grundtyp ist dem Einwand ausgesetzt, dass kaum eine präzise inhaltliche Auskunft über das moralisch Richtige gegeben wird. Wenn das ethisch Richtige definiert wird als dasjenige, was der „Tugendhafte“ in einer bestimmten Handlungssituation tun würde, ist die Argumentation zirkulär und formelhaft leer. Meist wird kein konkreter Katalog von Tugenden genannt, deren Auswahl außerdem zu begründen wäre. Während selbst elementare konsensfähige Tugenden wie Ehrlichkeit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit inhaltlich keineswegs eindeutig sind und in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche Handlungsweisen erfordern, dürften andere Charaktermerkmale wie Bescheidenheit, Loyalität oder Durchsetzungsfähigkeit strittiger und noch stärker kontext- und rollenabhängig sein. Auch bei einer Bezugnahme auf die „menschliche Natur“ wie in essentialistischen perfektionistischen Ansätzen bleiben die zu fördernden menschlichen Grundfähigkeiten sehr vage und allgemein, oder es werden in Form eines Zirkelschlusses die gewünschten Tugenden in die Natur des Menschen hineininterpretiert, um daraus wieder abgelesen werden zu können (vgl. Kap. 5.1.1). Da ein „artgerechtes Verhalten“ nicht unbedingt auch im ethischen Sinn „gut“ sein muss, legt sich beim engen Naturalismus der menschlichen Natur ähnlich wie beim weiten Naturalismus der Vorwurf eines „naturalistischen“ bzw. „essentialistischen Fehlschlusses“ nahe (vgl. ebd./ Horn 2019, 264). Wo Tugendethiker sich statt an der menschlichen Natur an traditionellen Lebensformen wie im Kommunitarismus orientieren, begehen sie hingegen einen Traditions-Fehlschluss und tendieren zu einem fragwürdigen Wertkonservatismus (vgl. Kap. 3.2). Nicht zuletzt tragen tugendethische Ansätze wenig bei zur Lösung aktueller ethischer Streitfragen oder schwieriger Entscheidungssituationen wie etwa in obigen Anschauungsbeispielen: Ein Tugendethiker kann die zur Auswahl stehenden Einzelhandlungen eigentlich gar nicht beurteilen, ohne die Charakterhaltung und dauerhafte Motivlage der jeweiligen handelnden Personen zu kennen. Selbst rollenspezifische Tugenden wie z. B. Hilfsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit und Mitleid als typische Tugenden des ärztlichen „Berufsethos“ helfen in medizinischen Konfliktfällen wie Abtreibung oder Sterbehilfe kaum weiter, Kritik Tugendkatalog unterbestimmt Zirkelschluss naturalistischer Fehlschluss Traditions- Fehlschluss 45316_Fenner_SL4b.indd 178 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="179"?> 179 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n weil für eine begründete Entscheidung allgemeine Kriterien erforderlich wären. Ethisch unzulänglich sind die beiden möglichen tugendethischen Vorgehensweisen, entweder kommunitaristisch und streng konservativ an einem auf Hippokrates in der Antike zurückgehenden ärztlichen Rollenverständnis festzuhalten, oder das richtige Handeln einfach dem persönlichen Urteilsvermögen des jeweiligen tugendhaften behandelnden Arztes zu überlassen. Kritik • keine inhaltliche Bestimmung der Tugenden • naturalistische/ essentialistische Ansätze: - - Zirkelschluss - naturalistischer/ essentialistischer Fehlschluss • traditionalistische Ansätze: - - Traditions-Fehlschluss - Relativismus • kein Beitrag zu aktuellen moralischen Konflikten und Streitfragen Kombinierbarkeit der drei Haupttypen Nach der gängigen Darstellung in der Ethik handelt es sich bei den drei Ethiktypen um einander ausschließende Grundorientierungen, sodass man sich für eine der drei entscheiden müsste. Zweifellos arbeiten die drei Haupttypen jeweils unterschiedliche ethische Kriterien heraus, die prinzipiell voneinander unabhängig und nicht aufeinander rückführbar sind (vgl. Bratu u. a., 1). Die ethische Relevanz des einen Kriteriums bedeutet aber keineswegs die Ungültigkeit der beiden anderen, sondern sie lassen sich durchaus miteinander kombinieren. Korrekt ist allerdings, dass sich die drei theoretischen Positionen in einem engen und absoluten Sinn verstanden gegenseitig widersprechen. So ist die ausschließliche Orientierung an den Folgen einer Handlung im Rahmen des Konsequentialismus schwerlich vereinbar mit der absoluten Verpflichtung zum rigorosen Befolgen bestimmter 6 .4 Unabhängigkeit der drei Kriterien Unvereinbarkeit der Theorien im engen/ absoluten Sinn 45316_Fenner_SL4b.indd 179 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="180"?> 180 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Sollensforderungen innerhalb der Deontologie. Es handelt sich dabei aber um die zwei extremen Pole einer breiten Skala mit vielen Zwischenstufen, auf denen den Handlungsfolgen und der Gesinnung der Handlungssubjekte jeweils unterschiedlich viel Bedeutung beigemessen wird. Abgesehen von wenigen „Reinformen“ wie dem Utilitarismus seitens des Konsequentialismus und Kants Vernunftethik seitens der Deontologie lassen sich die meisten historisch vorfindlichen ethischen Theorien nicht vollständig einem einzigen Idealtyp unterordnen. Wie bei allen Typenbildungen stellen die Ethiktypen lediglich grobe Vereinfachungen und Idealisierungen dar, die als nützliche Hilfsmittel zur Orientierung in der Vielfalt der ethischen Theorielandschaft dienen sollen. In ethischen Diskussionen können die drei Theorietypen am besten als optische Linsen eingesetzt werden, die verschiedene Facetten moralischer Phänomene sichtbar machen (vgl. Bleisch u. a. 2011, 53). Dank verschiedener solcher Linsen kann es gelingen, die Komplexität einer ethischen Fragestellung oder die Tiefe eines moralischen Konflikts besser zu erfassen. Dabei können sich die jeweiligen inhaltlichen Fokussierungen als unterschiedlich geeignet für die Lösung verschiedener moralischer Probleme erweisen. Angesichts der Schwerpunktsetzung auf die Argumentationstheorie in dieser Einführung liegt es nahe, die von konsequentialistischen und deontologischen Theorien herausgearbeiteten Grundtypen moralischen Urteilens als verschiedene Argumentationsformen zu interpretieren. Auf diese Weise versteht es sich von selbst, dass die verschiedenen Perspektiven und Beurteilungskategorien in einer komplexen ethischen Argumentation kombinierbar sind, sich gegenseitig relativieren können und gegeneinander abgewogen werden müssen. Da sich aber auf einer theoretischen philosophischen Ebene die Frage nach dem Vorzug der Theorietypen und einer Hierarchisierung ihrer unterschiedlichen ethischen Kriterien aufdrängt, sollen im Folgenden die wichtigsten systematischen Stärken und Schwächen der Fokussierungen zusammengefasst und einige gemäßigte Varianten von Konsequentialismus und Deontologie bzw. konsequentialistisch-deontologische Mischtheorien vorgestellt werden. lediglich Idealtypen Grundtypen als Argumentationsformen 45316_Fenner_SL4b.indd 180 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="181"?> 181 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n Radikaler (absolutistischer) und gemäßigter Konsequentialismus Der Konsequentialismus und insbesondere der Utilitarismus gelten insofern zu Recht als eine Art „Moral des gesunden Menschenverstandes“, als wir im Alltag bei der Frage „Wie soll ich handeln? “ meist nach optimalen Handlungsfolgen Ausschau halten und Sinn oder Ziel der Moral die Verbesserung des Wohlergehens der Menschen darstellt (Pfeifer, 65). Obwohl die Konsequenzen zweifellos ein ganz zentrales moralisches Beurteilungskriterium bilden, kann sich aber die Bewertung einer Handlung nicht ausschließlich an der Maximierung außermoralischer Güter wie Glück oder Präferenzerfüllung der Menschen bemessen. Vielmehr ist auch relevant, auf welche Weise die Nutzenmaximierung oder Verbesserung des Weltzustandes erreicht wurde, sodass also der Zweck keineswegs generell die Mittel heiligt. Zu erinnern ist an den ethisch klar zu verurteilenden Transplantationsfall im Rahmen der Utilitarismus-Kritik, bei dem einer gesunden Person unfreiwilligerweise sämtliche Organe entnommen werden, um zahlreiche Patienten auf der Intensivstation zu retten, die ohne sofortige Organspende verstorben wären (Kap. 4.2). In Anschauungsbeispiel 2 hingegen wäre zwar eindeutig die gezielte Ausschaltung der Terroristen als Akt der Notwehr legitim und als bestmögliche konsequentialistische Handlungsoption geboten, damit die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und konkret der Schaden von über 70.000 Menschen abgewendet werden könnten. Ein Abschuss des von den Terroristen entführten Flugzeugs und damit die Inkaufnahme des Todes der 164 unschuldigen Bordpassagiere scheint jedoch ethisch unzulässig zu sein, wenn das Flugzeug noch weit von der Arena entfernt ist und die Absicht der Terroristen noch nicht klar erkennbar ist. Solange lediglich eine diffuse Bedrohungslage besteht, ist die „Opferung“ unschuldiger Menschen als Mittel zum guten Zweck nicht hinlänglich rechtfertigbar. Nur in unmittelbaren außerordentlichen Notlagen kann es ethisch erlaubt sein, das Leben unschuldiger Menschen in einem zahlenmäßigen utilitaristischen Kalkül miteinander zu „verrechnen“. Es sind akute Ausnahmesituationen, in denen aufgrund der gegebenen Umstände nicht allen Menschen geholfen werden kann wie z. B. auch in medizinischen Notfällen mit zahlreichen Verletzten nach einem Unfall oder bei der Knappheit der legal zur Verfügung stehenden Spenderorgane. Um mit den besten Aussichten auf Erfolg Konsequentialismus 45316_Fenner_SL4b.indd 181 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="182"?> 182 g r u n d t y p E n d E r E t h I � helfen zu können, ist es dann ethisch geboten, nach allgemein rechtfertigbaren teleologischen Kriterien wie z. B. individueller Bedürftigkeit und zu erwartendem Nutzen für die Einzelnen vorzugehen. Weder das Recht auf Leben noch auf medizinische Hilfe der in der Folge eventuell versterbenden vernachlässigten Menschen wird durch die Entscheidung der Ärzte verletzt, weil diese keinen Einfluss haben auf den Versorgungsnotstand (vgl. Ricken, 309 f.). Da nur ihr Nichthandeln ethisch verwerflich wäre, kommen sie um eine Entscheidung für eine Priorisierung der Hilfsbedürftigen nicht herum. Ein radikaler oder absolutistischer Konsequentialismus mit der ausschließlichen Orientierung an den Handlungsfolgen ist also nicht überzeugend, zumal wenn es bei ihrer Bewertung rein um die Maximierung außermoralischer Güter geht wie in der Teleologie. Die konsequentialistische Ethik bedarf offenkundig einer Korrektur durch deontologische Prinzipien und Bewertungskriterien wie Respekt vor Individualrechten, Gleichbehandlung oder Gerechtigkeit, damit der Blick auf die einzelnen Menschen nicht verloren geht und eine eklatante Ungleichbehandlung oder aktue Unterversorgung Einzelner verhindert werden kann (vgl. Hübner, 233 f.). Eine gemäßigte konsequentialistische Ethik oder Mischtheorie ergänzt und begrenzt das teleologische Kriterium der Gesamtnutzen-Maximierung durch solche genuin moralische Kriterien, die explizit in die eigene Theorie integriert werden. Entsprechend der Definition in Kapitel 6.1 können aber bei der Bewertung der Konsequenzen auch von vornherein moralische Kriterien berücksichtigt werden, sodass sich das Ziel also z. B. als Vermehrung von Gerechtigkeit auf der Welt konkretisieren lässt. Eine im Utilitarismus-Kapitel bereits vorgestellte typische Mischtheorie ist außerdem der Regel-Konsequentialismus bzw. Regel-Utilitarismus, bei dem nicht wie im üblichen Handlungs-Konsequentialismus einzelne Handlungen bewertet werden. Vielmehr fordert er zum Befolgen derjenigen Normen auf, deren allgemeine Einhaltung den Weltzustand verbessert (vgl. Kap. 4.2). Regel-Konsequentialisten könnten gegen willkürliche Menschenopfer zur Verbesserung des Weltzustandes mit dem Hinweis auf die dadurch ausgelöste Angst in der Bevölkerung argumentieren, müssten aber die Lüge zur Rettung des Juden in Anschauungsbeispiel 3 verbieten. Da nicht mehr die einzelne Handlung auf ihren Nutzen hin bewertet wird wie radikaler oder absolutistischer Konsequentialismus gemäßigter Konsequentialismus: notwendige Ergänzung durch deontologische Prinzipien 45316_Fenner_SL4b.indd 182 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="183"?> 183 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n bei der Reinform des Konsequentialismus, kämpft man mit den gleichen Problemen wie die Deontologie (vgl. unten). Anders als bei deontologischen Ansätzen ist die Einhaltung der Normen wie beispielsweise des Lügeverbots letztlich aber immer noch lediglich instrumentell geboten und das Lügen oder Töten also nicht an sich verboten (vgl. dazu Bratu u. a., 2). Radikale (absolutistische) und gemäßigte Deontologie Grundsätzlich richtig scheint auch die deontologische Kernthese zu sein, dass es „an sich“ betrachtet moralisch inakzeptable Handlungsweisen wie das Töten oder Foltern unschuldiger Menschen gibt und dass genuin moralische Kriterien und Prinzipien wie Unparteilichkeit, gegenseitige Achtung, Gleichbehandlung oder Gerechtigkeit verpflichtend sind. Ein verantwortliches ethisches Handeln erfordert das Einhalten der für ein friedliches Zusammenleben unverzichtbaren Basisnormen und die Achtung grundlegender Individualrechte wie Recht auf Leben, Würde und Freiheitsrechte. Als problematisch erwies sich aber eine radikale oder absolutistische Deontologie bzw. Gesinnungsethik, bei der sämtliche Handlungsfolgen ausgeblendet werden und der gesunde Menschenverstand bzw. die moralische Urteilskraft durch das blinde Befolgen kategorischer Sollensforderungen verkümmern. Denn in Anschauungsbeispiel 3 wäre dann wie gesehen keine Notlüge zur Rettung des Juden erlaubt, sodass er den Nazi- Schergen ausgeliefert werden müsste (vgl. Kap. 6.2). Häufig gelten jedoch Rechte als „Trümpfe“ und fordern das Unterlassen sämtlicher gegen Rechte der Betroffenen verstoßender Handlungen selbst dann, wenn sie den bestmöglichen Weltzustand herbeiführen oder seine massive Verschlechterung verhindern würden (vgl. dazu Bratu u. a., 3). Aus Sicht eines deontologischen Absolutismus dürften auch mörderische Tyrannen oder Terroristen mit übelsten Absichten wie in Anschauungsbeispiel 2 nicht getötet werden, obgleich sie auf schwerwiegende Weise gegen Rechte anderer verstoßen haben und ihre Machenschaften mit rechtlichen oder anderen Mitteln nicht mehr zu stoppen sind. Denn aus deontologischer Sicht ist anders als im Konsequentialismus das Verhindern von Morden anderer Menschen nicht geboten, sondern jeder muss sich nur selbst an die Pflicht halten, nicht zu töten und zum Mörder zu werden (vgl. Ricken, 302). Wie gezeigt radikale oder absolutistische Deontologie Deontologie 45316_Fenner_SL4b.indd 183 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="184"?> 184 g r u n d t y p E n d E r E t h I � sind wir aber sehr wohl in einem normativen Sinn verantwortlich für das, was wir zwar nicht selbst aktiv tun, aber bewusst zulassen (vgl. Kap. 2.2). Um einen moralischen Rigorismus der Gesinnung zu vermeiden, wäre von einer relativen Ausnahmslosigkeit deontologischer Sollensforderungen mit gewissen Ausnahmeregelungen oder generellen Einschränkungen auszugehen. Vorzugswürdig sind gemäßigte deontologische Ansätze, bei denen die Anwendung des moralischen Testverfahrens für Handlungen oder Handlungsregeln den Miteinbezug der Handlungsfolgen vorsieht wie z. B. in der Diskursethik oder im handlungsreflexiven Ansatz. Abweichungen von konkreten Geboten oder Verboten oder allgemeinen Moralprinzipien dürften aber nur erlaubt sein, wenn es mit Blick auf die zu erwartenden negativen Konsequenzen einer Handlung schwerwiegende Gründe dafür gibt wie z. B. beim nicht hinnehmbaren Schicksal des Juden. Nach einer gemäßigten deontologischen oder Mischtheorie muss im Fall voraussehbarer negativer Handlungsfolgen eine Abwägung zwischen den Pflichten des Handlungssubjekts und den schlimmen Folgen für alle vom Handeln Betroffenen vorgenommen werden. Da die Verpflichtung gegenüber den Sollensforderungen nur bis zu einem bestimmten Schwellenwert gilt, spricht man bei diesen moderaten Ansätzen bisweilen von einer Grenzwert- oder Schwellendeontologie. Dabei besteht die große Schwierigkeit natürlich darin, das konsequentialistische Zusatzkriterium der „Schwelle“ genau zu bestimmen und zu begründen. Wie soeben beim Konsequentialismus erläutert ist die Anwendung teleologischer Prinzipien insbesondere in der paradigmatischen Situation der Notwehr ethisch zulässig oder in akuten Notlagen, in denen nicht alle Menschen gerettet werden können. Gemäßigte Deontologen rechtfertigen unter solchen Umständen das Töten von unschuldigen Menschen anhand des Prinzips der Doppelwirkung, das im Rahmen der Handlungstheorie bereits erläutert wurde (vgl. Kap. 2.2): Eine Handlung ist ethisch erlaubt, wenn sie eine doppelte Wirkung hat und die beabsichtigten Handlungen an sich gut und die negativen Folgen als die unerwünschte zweite Wirkung lediglich in Kauf genommene Folgen sind. Dies lässt sich anwenden auf Anschauungsbeispiel 2 für den Fall, dass sich das von den Terroristen entführte Flugzeug im direkten Anflug auf die Arena befindet und der Abschuss einen Akt der Verteidigemäßigte Deontologie: relative Ausnahmslosigkeit der Prinzipien bei negativen Folgen gemäßigte deontologische oder Mischtheorie 45316_Fenner_SL4b.indd 184 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="185"?> 185 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n gung darstellt (vgl. oben): Der Abschuss des von Terroristen entführten Flugzeugs ist dann auch aus gemäßigter deontologischer Sicht erlaubt, weil das Ziel und die vordergründige gute Absicht oder Gesinnung die Rettung der 70.000 Arenabesucher ist. Der aufgrund der Ausnahmesituation mit der Verwirklichung dieses Ziels notwendig verbundene Tod der 164 Flugzeuginsassen bildete lediglich eine in Kauf genommene Folge und könnte als „Kollateralschaden“ bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass die unschuldigen Menschen auch den Absturz der Maschine über der Arena nicht überleben würden, werden sie in diesem Fall nicht instrumentalisiert. Denn ihr Tod ist kein Mittel zur Erreichung des Ziels der Rettung, sondern eine notwendige Folge der zur Erreichung des Ziels notwendigen Handlung (vgl. dazu das Trolley-Problem in Übungsaufgabe 3). Tugendethik und Fazit Bezüglich der Tugendethik schließlich ist es unbestreitbar, dass in der moralischen Alltagspraxis die moralische Haltung der Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung ist und erst sie für ein durchgängiges moralisches statt strategisch-punktuelles moralkonformes Handeln sorgt. Als unangemessen zurückzuweisen ist aber die Forderung, dass die konsequentialistische und deontologische Prinzipien- oder Regelethik vollständig durch die Tugendethik abgelöst werden soll. Eine kontextsensible Wahrnehmung der Handlungssituation und die Verfestigung moralischer Einstellungsweisen durch Charakterbildung und soziale Praktiken sind vielmehr nur in Verbindung mit den prinzipiengeleiteten Ethiktypen sinnvoll. Tugendethische Bemühungen haben so gesehen eher instrumentellen Charakter und gehören strenggenommen in den Zuständigkeitsbereich der Moralpsychologie und -pädagogik (vgl. Kap. 8.4). Um die ethischen Kriterien der beiden anderen oppositionellen Regel- und Prinzipienethiken in ein Verhältnis zueinander zu bringen, ließe sich in grober Annäherung formulieren: Einerseits stecken deontologische Rechte, Prinzipien und Normen sozusagen den Rahmen ab, innerhalb dessen ein Entscheiden und Handeln nach konsequentialistischen Kriterien erlaubt ist (vgl. Bratu u. a., 1). Andererseits finden auch das Befolgen deontologischer Sollensforderungen und der Schutz von Rechten ihre Grenzen da, wo die Konsequenzen des Handelns oder Unterlassens inakzeptabel sind. Tugendethik: moralpsychologische Ergänzung der Prinzipien-/ Regelethik 45316_Fenner_SL4b.indd 185 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="186"?> 186 g r u n d t y p E n d E r E t h I � Die Bedeutung der Handlungsfolgen in unterschiedlichen Ethiktypen: konsequentialistische Ethik Erfolgsethik faktische Folgen ausschlaggebend gemäßigte konsequentialistische Ethik Berücksichtigung deontologischer Prinzipien (Rechte, Gerechtigkeit) beabsichtigte Folgen/ Ziele des Handelns ausschlaggebend z. B. - moralisch gute Konsequenzen - Regel-Konsequentialismus gemäßigte deontologische Ethik Einfließen konsequentialistischer Überlegungen in Anwendung moralischer Prinzipien z. B. - Prinzip der Doppelwirkung - Diskursethik - handlungsreflexiver Ansatz Gesinnungsethik Absicht des Handlungssubjekts ausschlaggebend z. B. - Ethik der Bergpredigt - Vernunftethik (Kant) deontologische Ethik Verantwortungsethik/ teleologische Ethik voraussehbare bzw. beabsichtigte Ziele (außermoralische Güter) ausschlaggebend z. B. - Eudaimonismus - Utilitarismus ausschließliche Bedeutung wichtige Bedeutung keine Bedeutung 45316_Fenner_SL4b.indd 186 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="187"?> 187 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n Übungsaufgaben 1. Unter welchen grundlegend verschiedenen Gesichtspunkten oder inhaltlichen Fokussierungen kann das menschliche Handeln beurteilt werden und wie lauten die dazugehörigen ethischen Theorietypen? 2. Worin unterscheiden sich die „konsequentialistische“ von der „teleologischen“ und die „deontologische“ von der „Gesinnungsethik“? 3. In der philosophischen Ethik wird folgendes sogenanntes Trolley-Problem diskutiert: Bei diesem konstruierten Fall hat der Fahrer die Kontrolle über die Straßenbahn (engl. „trolley“) verloren, die direkt auf eine Weiche zurollt. Würde die Weiche nicht umgestellt, würden fünf auf dem dahinterliegenden Gleisabschnitt liegende Straßenbahnarbeiter überfahren, im anderen Fall nur ein einziger. Darf oder soll der Lokführer oder eine andere Person die Weiche umstellen? Wie würde man aus konsequentialistischer und deontologischer Sicht argumentieren? Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, 2. Auflage, München 1995 (zitiert nach der Bekker-Ausgabe). Frankena, William K .: Analytische Ethik, München 1972. Hübenthal, Christoph: Teleologische Ansätze, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2011, S. 61-68. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995. Nussbaum, Martha C : Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, in: Steinfath, Holmer (Hrsg.): Was ist ein gutes Leben? Frankfurt a. M. 1998, S. 196-234. 45316_Fenner_SL4b.indd 187 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="188"?> Werner, Micha: Deontologische Ansätze, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2011, S. 122- 127. 45316_Fenner_SL4b.indd 188 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="189"?> 189 Werte, Prinzipien, Rechte und Normen Inhalt 7.1 Leben 7.2 Freiheit 7.3 Gerechtigkeit 7.4 Wohltätigkeit Zusammenfassung Um menschliches Handeln rechtfertigen oder begründen zu können, beziehen wir uns ständig auf irgendwelche Normen, Rechte, Werte oder Prinzipien. Zunächst werden in diesem Kapitel daher diese normativen Phänomene definiert und das Problem moralischer Konflikte oder Dilemmata diskutiert, mit dem wir in der moralischen Alltagspraxis immer wieder konfrontiert sind. Danach werden die vier fundamentalsten Werte und Prinzipien genauer analysiert, die in gesellschaftlichen Diskussionen und der Moralphilosophie äußerst präsent sind und sich bei genauerer Betrachtung als sehr vielschichtig erweisen: Leben (7.1), Freiheit (7.2), Gerechtigkeit (7.3) und Wohltätigkeit (7.4). 7 45316_Fenner_SL4b.indd 189 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="190"?> 190 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Normen Um menschliches Handeln rechtfertigen oder bewerten zu können, sind gewisse Maßstäbe oder Kriterien unabdingbar. Wenn wir ethisch argumentieren, beziehen wir uns daher ständig auf irgendwelche Normen, Werte oder Prinzipien. Oft schwingen sie in unseren normativen Äußerungen mit, ohne dass wir uns ihrer völlig bewusst sind. Wir setzen ihre Geltung dann unhinterfragt als selbstverständlich voraus. Aufgabe der philosophischen Ethik ist es wie gesehen, solche versteckten normativen Annahmen und Voraussetzungen aufzudecken und kritisch zu reflektieren, sie zu begründen oder zu revidieren (vgl. Kap. 1.2). Im bisherigen Teil war vorwiegend von moralischen Normen die Rede: Moralische Normen sind Handlungsregeln, die zu bestimmten Handlungsweisen im menschlichen Zusammenleben auffordern und den Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben. Obgleich faktisch in einer Gemeinschaft geltende moralische Normen veränderlich sind, sich widersprechen oder sich als falsch erweisen können, lassen sich viele Basisnormen wie „Du sollst nicht töten! “ oder „Du sollst Notleidenden helfen! “ philosophisch begründen und als legitime normative Verbote oder Gebote ausweisen (vgl. Kap. 7.1-7.4). Außerhalb des Bereichs von Ethik und Moral kennen wir noch juristische und technische Normen: Technische Normen sind pragmatische Anweisungen zu einem effizienten Umgang mit Gegenständen in der Außenwelt, beispielsweise zur richtigen Bedienung einer Kaffeemaschine oder dem korrekten Umgang im Straßenverkehr. Bei rechtlichen Normen hat die Nichtbeachtung der im geltenden Gesetzestext verankerten allgemeinen Vorschriften institutionalisierte Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen zur Folge, wohingegen nicht schriftlich fixierte moralische Normen lediglich mit sozialen Sanktionen wie Verachtung, Tadel oder Ausgrenzung verbunden sind (vgl. Kap. 1.1). Werte Die meisten moralischen Normen lassen sich bei genauerem Hinsehen auf bestimmte zugrunde liegende Werte zurückbuchstabieren. Werte sind bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards, von denen sich einzelne Individuen oder Gruppen in ihrem Verhalten leiten lassen. Es sind grundlegende und tief moralische Normen technische Normen rechtliche Normen Werte 45316_Fenner_SL4b.indd 190 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="191"?> 191 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n verankerte Vorstellungen darüber, was in einer Gemeinschaft als richtig und erstrebenswert gilt. Als allgemeine Zielorientierungen befinden sie sich auf einer anderen, höheren Ebene als die konkreten Handlungsanweisungen in Form von Normen: Während den Werten eine allgemeine Orientierungsfunktion zukommt, leiten die Normen zur konkreten Umsetzung der abstrakten Werte an. So ließe sich die Norm „Du sollst Notleidenden helfen! “ auf den abstrakten Wert „Hilfsbereitschaft“ oder die Norm „Du sollst nicht töten! “ auf den sehr allgemeinen Wert „Leben“ zurückführen. Normen und Werte bestärken sich in einer kulturellen Gemeinschaft gegenseitig. Nur in der Wertphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts wurde ein selbständiges „Reich der Werte“ (Nicolai Hartmann) neben dem Bereich der Tatsachen angenommen, in dem sich „objektive Werte“ in einer feststehenden Hierarchie befinden. Die dabei im Hintergrund stehende Auffassung des moralischen Realismus wurden im Zusammenhang mit dem Intuitionismus bereits kritisiert (vgl. Kap. 5.1.2). In gegenwärtigen Werte-Debatten wird häufig kein Unterschied gemacht zwischen „faktischen Werten“ und „Werten als normative Größe“, wie er implizit bereits bei der Definition von „Moral“ als einer Gesamtheit von Normen und Werten eingeführt wurde (vgl. Kap. 1.1): Faktische Werte im Sinne eines sozialwissenschaftlichen heuristischen Konzepts sind Werte, die in einer bestimmten Gemeinschaft anerkannt wurden oder werden und durch diese Abhängigkeit von einer historischen Gesellschaft prinzipiell veränderlich, relativ und partikulär sind. Solche empirisch-soziologisch beschreibbaren kollektiven Zielsetzungen sind keineswegs immer rational und aus ethischer Sicht gut begründet, sondern können auch triebhaft, emotional, weltanschaulich oder religiös besetzt sein. Häufig ist der Gehalt solcher Werte wie beim Beschwören von „christlichen Werten“ oder „europäischen Werten“ durchaus unklar oder kontrovers, wobei das Festhalten an traditionellen Werten zumeist einem konservativen Bedürfnis des Bewahrens altehrwürdiger Traditionen entspringt. Werte als normative Größen im Sinne eines ethischen normativen Konzepts müssen demgegenüber rational und diskursiv-argumentativ begründet werden und erheben einen universellen Geltungsanspruch, weil sie idealerweise von allen vernünftigen Lebewesen eingesehen werden können. Auf einer höheren Reflexionsebene der Sozialethik oder Moralphilosophie faktische Werte Werte als normative Größen 45316_Fenner_SL4b.indd 191 05.03.2020 12: 20: 30 <?page no="192"?> 192 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n müssen die faktisch anerkannten Werte auf der Gegenstandsebene kritisch hinterfragt und gegebenenfalls revidiert werden (vgl. Kap. 1.2). Über die Geltung und den genauen Gehalt der „christlichen Werte“ beispielsweise ist ein gesellschaftlicher Diskurs nötig, weil sich konservative „Familienwerte“ wie die unauflösliche Ehe zwischen Mann und Frau und die traditionellen Geschlechterrollen als problematisch erwiesen haben und „religiöse Werte“ wie Glaube, universelle Liebe oder Hoffnung aufgrund des vorausgesetzten Glaubens an einen persönlichen Gott in einer säkularen Gesellschaft keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können. Statt sich beim Handeln an einer simplen und starr vorgegebenen Werthierarchie orientieren zu können, müssen Werte vielmehr in kleinteiligen Debatten der Angewandten Ethik bezüglich konkreter Handlungsfelder ausdifferenziert, präzisiert und gegeneinander abgewogen werden, so z. B. die Grundwerte „Freiheit“ der schwangeren Frau und „Leben“ des Embryos in der medizinethischen Abtreibungsfrage oder „Freiheit“ und „Sicherheit“ in medienethischen Kontexten. faktische Werte Werte als normative Größen sozialwissenschaftliches heuristisches Konzept ethisches normatives Konzept veränderliche, in einer konkreten Gesellschaft anerkannte Werte diskursiv begründete Werte, die alle Menschen anerkennen sollen Prinzipien Auf derselben abstrakten Ebene wie die Werte sind die Prinzipien zu lokalisieren. Prinzipien (von lateinisch „principium“: „Anfang, Ursprung, Grundlage“) sind allgemeine oberste Grundsätze, die sich wie Axiome in der Mathematik für den Auf bau eines ganzen Wissensgebietes eignen. In der Ethik haben viele Philosophen nach einem höchsten Moralprinzip als einem letzten einheitsstiftenden Grundsatz gefahndet, aus dem sämtliche konkreten Normen abgeleitet bzw. anhand dessen faktisch vorgefundene Normen kritisiert werden können. Beispiele wären Kants Kategorischer Imperativ (Kap. 5.2.1) oder das utilitaristische Prinzip des größtmöglichen Nutzens für die größtmögliche Zahl (Kap. 4.2). An die Stelle eines solchen einheitlichen umfassenden Prinzipien 45316_Fenner_SL4b.indd 192 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="193"?> 193 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n methodischen Prinzips können auch eines oder mehrere inhaltliche Prinzipien treten, die bestimmte Werte verkörpern. So ist die Rede vom „Prinzip Freiheit“, „Prinzip Gerechtigkeit“ oder vom „Solidaritätsprinzip“ gemäß den Werten „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“. Man setzt dann den jeweiligen Grundwert absolut und appelliert in einem ethischen Grundsatz an alle Menschen, ihr Leben in den Dienst dieses Wertes zu stellen. Der Einzelne soll es sich also zum höchsten Leitprinzip machen, diese Werte in der Interaktion mit anderen Menschen zu respektieren bzw. so oft wie möglich zu realisieren. Beim Ausformulieren solcher praktischer Grundsätze erkennt man, dass es sich letztlich auch um Normen handelt. Sie befinden sich aber auf einem sehr allgemeinen, abstrakten Niveau und leiten gleichsam als Basisnormen dazu an, wie wir unser Leben als Ganzes führen sollen: etwa „Handle so, dass Du die Freiheit Deiner Mitmenschen nicht beeinträchtigst! “ („Freiheit“) oder „Sei stets hilfsbereit! “ („Hilfsbereitschaft“). Obwohl es statt einer klaren Abgrenzung lediglich eine graduelle Abstufung zwischen Prinzipien und Normen gibt, sind viele Normen bereits situations- oder personenspezifisch konkretisiert. Das Prinzip oder die allgemeine Grundnorm „Sei hilfsbereit! “ könnte etwa ausdifferenziert werden zu den Normen: „Du sollst Notleidenden helfen! “, „Du sollst Ertrinkende retten! “, „Du sollst Organe spenden! “ etc. Rechte Während Prinzipien und Normen Anweisungen an Handlungssubjekte darstellen, damit sie sich anderen Personen gegenüber auf bestimmte Weise verhalten, artikulieren die Rechte Ansprüche der Menschen, von ihren Mitmenschen bzw. vom Staat auf bestimmte Weise behandelt zu werden. Hier findet also sozusagen ein Perspektivenwechsel in der Handlungsrichtung statt. Rechte sind berechtigte, von einer Gemeinschaft anerkannte Ansprüche von Individuen gegenüber Einzelpersonen, der Gemeinschaft oder dem Staat. Im Unterschied zu juristischen Rechten sind moralische Rechte wie die Menschenrechte nicht an bestimmte politische Verfassungen gebunden und mit institutionalisierten Sanktionen ausgestattet. Sie haben vielmehr universelle, überstaatliche Geltung und sollen allen Menschen auf der Welt als Menschen zukommen. Gleich wie die Moralprinzipien verkörpern moramethodische/ inhaltliche Prinzipien Rechte juristische vs. moralische Rechte 45316_Fenner_SL4b.indd 193 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="194"?> 194 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n lische Rechte größtenteils Basiswerte wie etwa den Wert „Leben“ beim „Recht auf Leben“ oder „Freiheit“ beim „Recht auf Freiheit/ Selbstbestimmung“. So ist es das Ziel der Menschenrechtsorganisationen, allen Individuen das Recht auf Leben sowie grundlegende Freiheitsrechte wie die Rechte auf Selbstbestimmung oder Meinungsfreiheit gegen äußere Eingriffe zu sichern. Wert: Prinzip Norm: Recht: allgemeine Leitvorstellung darüber, was richtig/ erstrebenswert ist oberster einheitsstiftender allgemeiner Grundsatz der Handelnden konkrete, personen- und situationsspezifische Handlungsregel berechtigter und anerkannter Anspruch gegenüber anderen Anschauungsbeispiel Freiheit (vgl. Kap. 7.2) Handle so, dass Du die Freiheit Deiner Mitmenschen nicht beeinträchtigst! Zwinge niemanden mit Gewalt zu etwas! Respektiere fremde berechtigte Interessen! Recht auf Freiheit Wohltätigkeit (vgl. Kap. 7.4) Sei stets hilfsbereit! Gib einem Hungernden zu essen! Rette einen Ertrinkenden! kein Recht auf Hilfeleistung (außer in speziellen Beziehungen) In diesem Kapitel werden vier fundamentale Werte, Prinzipien, Normen und Rechte ausgewählt, die sowohl im moralischen Alltagsdiskurs als auch in der Moralphilosophie omnipräsent sind: die Konzepte Leben (Kap. 7.1), Freiheit (Kap. 7.2), Gerechtigkeit (Kap. 7.3) und Wohltätigkeit (7.4). Neben ihrer philosophisch-begriff lichen Analyse wird es v. a. um die Frage gehen, ob und wie sie sich ethisch begründen lassen. Zunächst soll aber ein kurzer Blick geworfen werden auf die aus der Alltagspraxis Definitionen 45316_Fenner_SL4b.indd 194 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="195"?> 195 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n bekannte Situation, in der es zu einer Kollision zwischen verschiedenen konkreten Werten, Prinzipien, Rechten oder Normen kommt: Ein moralischer Konflikt liegt dann vor, wenn in einer Handlungssituation zwei normative Forderungen aufeinanderstoßen und nicht gleichzeitig realisiert werden können. Bei der Erfüllung des einen Grundsatzes muss dann eine Verletzung eines anderen in Kauf genommen werden. Von einer Zuspitzung dieses moralischen Konf likts zu einem moralischen Dilemma spricht man, wenn die moralisch gebotenen Handlungsweisen völlig gleichberechtigt und gleich wichtig sind. Wo sich nicht beide moralischen Pf lichten erfüllen lassen, stellen sich erfahrungsgemäß Gefühle von Ohnmacht und Bedauern ein. Sie werden bisweilen als Einwand gegen eine kognitivistische Ethik gesehen (vgl. Ricken, 241 f.). Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Unmöglichkeit einer kognitivistischen Ethik durch die Tatsache solcher Dilemmata in keiner Weise bewiesen ist. Am beliebtesten sind folgende beiden moralischen Konf likte, benannt nach dem Autor Jean-Paul Sartre und der Kunstfigur Heinz: Anschauungsbeispiel 1: Sartre-Dilemma Ein Pariser Student fragt sich im Zweiten Weltkrieg, ob er nach England in den Widerstand gegen die Deutschen gehen soll. Er müsste dann aber seine verwitwete Mutter verlassen, die nur noch für ihn lebt und vollständig auf seine Hilfe angewiesen ist. Sein Weggang würde sie in Verzweiflung stürzen. Trotzdem fühlt er sich verpflichtet, sich den Kämpfenden anzuschließen und damit auch den Tod seines im Krieg gefallenen Vaters zu „rächen“. Wie soll er handeln? (nach Sartre, 17) moralischer Konflikt moralisches Dilemma 45316_Fenner_SL4b.indd 195 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="196"?> 196 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Anschauungsbeispiel 2: Heinz-Dilemma Eine Frau in Europa leidet an einer besonderen Krebsart und ist dem Tod nahe. Soeben hat man ein höchstwahrscheinlich wirksames Mittel gegen diese Krankheit entwickelt. Es kann aber nur in der Apotheke des Erfinders und Herstellers gekauft werden, der eine Unsumme für eine kleine Dosis verlangt. Heinz, der Ehemann der Kranken, sammelt verzweifelt Geld unter seinen Freunden und versucht auch, mit dem Apotheker zu verhandeln. Als alle Bemühungen ohne Erfolg bleiben, bricht er in die Apotheke ein, um das Mittel für seine Frau zu stehlen. Hat er richtig gehandelt? (nach Kohlberg, 65) Sartre-Dilemma Im ersten Dilemma von Jean-Paul Sartre kollidieren genau besehen nicht unterschiedliche Prinzipien und entsprechende Pf lichten, sondern zwei Konkretisierungsweisen ein und desselben Prinzips der Hilfeleistung oder Wohltätigkeit (vgl. Kap. 7.4). Ein Dilemma besteht dann also nicht auf der Ebene der Pf lichten bzw. generellen Prinzipien, sondern auf der darunterliegenden Ebene der situationsspezifischen Normen. Es kann hier keine detaillierte Analyse der beiden Handlungsalternativen und der zu berücksichtigenden Aspekte wie z. B. der Garantenstellung gegenüber der Mutter oder des Rachemotivs vorgenommen werden, die vielleicht das vermeintliche moralische Dilemma zu einem moralischen Konf likt hinabstufen würden. Vielmehr soll davon ausgegangen werden, dass sich wie bei einem echten moralischen Dilemma unter Berücksichtigung sämtlicher Kriterien und Gründe die beiden Pf lichten als gleich groß erweisen. Nach Sartre lassen die Vernunft und jede herkömmliche Moral den jungen Mann in dieser Situation völlig im Stich, sodass eine radikal subjektive Wahl in absoluter Freiheit erforderlich sei. Fasst man aber am Ende eines sorgfältigen kognitiven Erwägungsprozesses aller ethischer Argumente und Gegenargumente eine Entscheidung für eine der gleich guten Handlungsoptionen, ist diese in jedem Fall ethisch richtig (vgl. Williams, Kap. 11 § 6; 269). Wenn sich im Nachhinein Bedauern oder Schuldgefühle einstellen, weil der junge Mann entweder die Mutter allein zurücklässt oder die Widerstandskämpfer nicht unterstützen kann, ist dies ethisch irrelevant. Es gilt näm- 45316_Fenner_SL4b.indd 196 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="197"?> 197 � o � b I n I E r b a r � E I t d E r d r E I h a u p t t y p E n lich das formale Prinzip des Sollen-Können-Grundsatzes zu beachten, demzufolge ein Sollen immer ein Können voraussetzt: Wenn ein Mensch etwas aufgrund physischer, psychischer oder situativer Einschränkungen nicht tun kann, ist er automatisch vom moralischen Sollen entlastet. Da ein Mensch zur gleichen Zeit immer nur eine Handlung ausführen kann, soll er auch von zwei ethisch gleichwertigen nur eine realisieren. Irrational und ethisch verwerf lich wäre lediglich das Unterlassen beider Handlungen mit der Begründung, dass kein eindeutiges Vorzugskriterium gefunden wurde. Sollen setzt Können voraus Heinz-Dilemma Beim Heinz-Dilemma kollidieren die beiden Prinzipien oder Basisnormen „Achte fremdes Eigentum! “ bzw. „Du sollst nicht stehlen! “ und „Sei hilfsbereit oder wohltätig! “ bzw. situationsspezifisch konkretisiert „Hilf Menschen in einer Notlage! “. Bei Lawrence Kohlbergs empirischen Befragungen ergab sich, dass Menschen mit einem höheren Entwicklungsstand des moralischen Urteilens mehrheitlich das Stehlen von Heinz gutheißen (vgl. Kohlberg, 287; 410 f.): Sie beurteilen den Einbruch von Heinz als die moralisch richtige Handlungsoption, weil das „Recht auf Leben“ universeller sei als ein gesetzlich geregeltes „Recht auf Eigentum“. Kohlberg ist darüber hinaus überzeugt, auch gemäß kantischem und utilitaristischem Moralprinzip müsse man dem Stehlen eindeutig den Vorzug geben. Es lässt sich aber durchaus in Zweifel ziehen, ob diese Interpretation korrekt ist und das Dilemma so leicht aufgelöst werden kann. Aus der Perspektive des Präferenzutilitarismus dürfte der Wunsch zu leben tatsächlich stärker sein als das Interesse des Apothekers an der kleinen, wiederherstellbaren Dosis des Medikaments, sodass Stehlen die bessere Option wäre. Gegen die utilitaristische Ethik spricht jedoch wie gesehen die Missachtung individueller Rechte und des Prinzips Gerechtigkeit (vgl. Kap. 4.2). Nach Kants Vernunftethik hingegen wären verschiedene Rechte und Pflichten zu unterscheiden, die sich in einer hierarchischen Ordnung befinden. Entgegen der Annahme von Kohlbergs Sollen-Können- Grundsatz Grundsatz 45316_Fenner_SL4b.indd 197 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="198"?> 198 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Probanden ist das „Recht auf Eigentum“ keineswegs nur ein juristisch-konventionelles, sondern auch ein moralisches Recht. Denn es handelt sich um die Kehrseite der moralischen Norm „Du sollst nicht stehlen! “, die sich auf das Grundprinzip Gerechtigkeit zurückführen lässt. Genau besehen besteht der Konflikt aber gar nicht zwischen dem „Recht auf Eigentum“ und dem „Recht auf Leben“, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar rangiert das „Recht auf Leben“ eindeutig höher als das „Recht auf Eigentum“ bzw. der Wert menschlichen Lebens höher als der Wert des Eigentums, weshalb ein Diebstahl als weniger gravierend als ein Mord einzustufen ist. Auch wenn Heinz aus moralischen Gründen vor dem fraglichen Diebstahl zurückschreckte, würde er jedoch das Recht auf Leben seiner Frau keineswegs verletzen und sie töten, weil es sich dabei lediglich um ein Abwehrrecht gegenüber Tötungsabsichten von außen handelt (vgl. Kap. 7.1). Dem „Recht auf Eigentum“ kann also nicht das „Recht auf Leben“ entgegengestellt werden, sondern allenfalls ein „Recht auf Wohltätigkeit“. Ein solches moralisches Recht auf Wohltätigkeit gibt es aber höchstens in sogenannten Garantenstellungen beispielsweise zwischen Mutter und Kind oder Arzt und Patient, in abgeschwächter Form auch in speziellen Beziehungen wie der Verbindung zwischen Eheleuten (vgl. Kap. 2.4). Grundsätzlich ist jedoch die allgemeine Pflicht zur Wohltätigkeit in Kants Termini immer nur eine „unvollkommene Pflicht“ (vgl. Kap. 5.2.1): Sie ist eingeschränkt durch die Handlungsmöglichkeiten, die der helfenden Person zur Verfügung stehen. Heinz scheint alle legitimen Mittel ausgeschöpft zu haben, um das Leben seiner Frau zu retten. Da es sich bei der Achtung gegenüber fremdem Eigentum um eine „vollkommene Pflicht“ mit absolutem Vorrang gegenüber allen unvollkommenen handelt, dürfte er das Recht auf Eigentum des Apothekers nicht antasten. Aus kantischer Sicht hätte Heinz folglich den Diebstahl unterlassen müssen, weil moralische Rechte nicht verletzt werden dürfen. Bei vielen alltäglichen moralischen Konflikten kann es helfen, nach folgendem Schema die relevanten Rechte, Prinzipien oder Werte in eine hierarchische Ordnung zu bringen (vgl. Pfeifer,-128): 45316_Fenner_SL4b.indd 198 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="199"?> 199 l E b E n 1. Es müssen alle Werte, Prinzipien und Rechte in Betracht gezogen werden, die in einer bestimmten Handlungssituation relevant sind. 2. Moralische Rechte dürfen nicht verletzt werden. 3. Die höherrangigen Prinzipien verdienen den Vorzug. 4. Bei gleichwertigen Prinzipien oder Grundrechten muss ein Kompromiss gefunden werden, der alle Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt. 5. Erst dann kommen situationsspezifische Nutzenüberlegungen bezüglich der zu erwartenden Folgen für die Einzelnen ins Spiel, um konkrete, anwendungsorientierte Normen zu formulieren. Leben Menschliches Leben scheint ein schlechthin unhinterfragbares Gut und ein unüberbietbarer Höchstwert zu sein. Der es schützende Grundsatz „Du sollst nicht töten! “ gilt in den meisten Kulturen als oberstes Prinzip. Dem Tötungsverbot bzw. der Pflicht zum Lebensschutz korrespondiert das „Recht auf Leben“, das sich weit oben an der Spitze von Menschenrechtskatalogen sowie von den sie sanktionierenden politischen Grundgesetzen befindet (vgl. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 2; Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland, Art. 2, Abs. 2). Wo dieses Recht nicht absolut gilt wie in Ländern mit einer Todesstrafe, wird es eingeschränkt auf unschuldiges Leben. Sogar Kant hält es im Rahmen seiner Straftheorie für angemessen, Mörder zu töten, d. h. einen Mord mit einer Tötung zu vergelten (vgl. Kant, MS A200/ B230). Auch werden auf der Ebene der Normen immer wieder situationsspezifische Ausnahmen formuliert. So gilt in den meisten Völkern mit schriftlicher Rechtskultur ein Töten aus Notwehr oder im Krieg als ethisch legitim. Doch wie lässt sich ein solches elementares Lebensrecht und das Prinzip des Tötungsverbots begründen? Oder erübrigt sich hier jedes Weiterfragen, weil dieser Grundwert intuitiv einsichtig ist und keiner weiteren Begründung bedarf (vgl. Wuketits, 48)? Stellt das „menschliche Leben“ wirklich als solches einen absoluten Wert dar, unabhängig von seiner Qualität oder Beschaffenheit? Vorzugsregeln für alltägliche moralische Konflikte 7 .1 oberstes Prinzip absolutes Recht 45316_Fenner_SL4b.indd 199 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="200"?> 200 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Wenn das Leben als absoluter Wert betrachtet wird, kann dies auf verschiedene Weise begründet werden. Implizit oder explizit handelt es sich häufig um theologische Begründungen, die nichtreligiöse Menschen ohne die vorausgesetzten Glaubensannahmen nicht überzeugen können: Tief in der hebräischen und christlichen Tradition verwurzelt ist die lange Zeit dominierende Lehre von der „Heiligkeit des Lebens“ (vgl. Kuhse, 75). Sie basiert auf der Vorstellung des Lebens als „Geschenk Gottes“, das der Mensch bewahren und fruchtbar machen soll. Nur der allmächtige Gott wäre dann befugt, über Leben und Tod der Menschen zu entscheiden (vgl. Aquin, 165). Dieses Analogie- Argument ist aber ungeachtet der strittigen religiösen Prämissen sehr schwach, weil ein Geschenk definitionsgemäß in das Eigentum des Beschenkten übergeht und dieser daher frei darüber verfügen kann. In teleologischen Theorien wie etwa derjenigen von Hans Jonas wird die Werthaftigkeit allen Lebens durch ihm innewohnende Zwecke gerechtfertigt, die nachgerade zum Schutz des Lebens auffordern (vgl. Jonas, 159). Im nachmetaphysischen Zeitalter ist ein solcher ethischer Realismus aber kaum mehr vertretbar, bei dem die Menschen unabhängig von ihren Überzeugungen und Begründungen existierende absolute Werte in der Wirklichkeit vorfinden sollen (vgl. Kap. 5.1.2). Unter Ärzten und Psychiatern wird zur Verteidigung des unantastbaren Werts menschlichen Lebens zumeist von einem für alle Menschen intuitiv einsehbaren biologischer Vitalwert ausgegangen, der das rein biologische Am-Leben-Sein zu einem Gut an sich macht. Dagegen lässt sich aber einwenden, dass es neben dem Am-Leben-Sein noch andere Vitalwerte wie etwa Gesundheit oder Lebenslust gibt (vgl. Wolf 1991, 244). Obgleich das Leben als solches natürlich die Bedingung aller anderen Vitalwerte und damit den fundamentalsten Wert darstellt, kann dieser positive Grundwert gleichsam „überstimmt“ werden durch zu viele negative Zusatzwerte. Dies könnte etwa der Fall sein bei einem unheilbaren, unter starken Schmerzen leidenden Kranken oder Schwerstbehinderten. Wird im Gegensatz zur Annahme eines absoluten Werts von einem relativen Wert menschlichen Lebens ausgegangen, ist dieser Wert abhängig von der Qualität des Lebens bzw. der subjektiven Einschätzung der Lebensqualität durch die Personen selbst. Denn offenkundig lebt der Mensch anders als die meitheologische Begründung Heiligkeit des Lebens medizinisch: biologischer Vitalwert 45316_Fenner_SL4b.indd 200 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="201"?> 201 l E b E n sten Tiere nicht einfach in den Tag hinein, sondern führt sein Leben und bezieht ständig dazu Stellung. Damit er sein Leben als wertvoll erleben kann, müssen über den Vitalwert eines puren Am-Leben-Seins hinaus noch zahlreiche andere soziale, kulturelle und geistige Werte wie z. B. Sicherheit oder soziale Anerkennung realisiert sein. Ohne Werturteile über das Gelingen des eigenen Lebens in all seinen Hinsichten könnten die Einzelnen gar keine individuellen Lebenspläne entwickeln, weshalb individuelle Kriterien der Lebensqualitätsbewertung unabdingbar sind (vgl. Quante 2010, 35). Da die Menschen in soziale Interaktions- und Anerkennungsprozesse eingebunden sind, braucht es darüber hinaus auch gesellschaftliche Diskussionen über intersubjektiv-rationale Lebensqualitätsbewertungen beispielsweise zur Rechtfertigung des Gesundheitssystems (vgl. ebd., 40). Das ethische und juristische Recht auf Leben ist jedoch gänzlich entkoppelt von Lebensqualitäts-Bewertungen und gilt daher völlig unabhängig davon. Der Grund dafür ist das an späterer Stelle zu erläuternde ethische und juristische Recht auf Selbstbestimmung oder „Willensfreiheit“ (vgl. Kap. 7.1): Jeder Mensch hat das alleinige Bestimmungsrecht darüber, wie und wie lange er leben will. Solange eine Person am Leben zu sein wünscht, darf sie von niemandem daran gehindert werden und hat ein Recht auf Leben im Sinne des Lebensschutzes vor äußeren Übergriffen. In der Medizinethik wird die schwierige Frage nach der moralischen Schutzwürdigkeit des noch nicht selbstbestimmungsfähigen und teilweise noch nicht empfindungsfähigen vorgeburtlichen Lebens diskutiert, weil es bisweilen zu einer Kollision vom Recht auf Leben des Kindes mit dem Recht auf Selbstbestimmung der Schwangeren kommt (vgl. Fenner 2010, 80-97). Ist jemand demgegenüber am Lebensende etwa durch Verunglückung oder Demenz nicht mehr zur Äußerung eines Lebens- oder Sterbewunsches fähig, ist seine in der Patientenverfügung dokumentierte selbstbestimmte Entscheidung oder sein rekonstruierter mutmaßlicher Wille ausschlaggebend (vgl. ebd., 71). Von den in Kapitel 4 und 5 vorgestellten Moraltheorien bietet sich beispielsweise die utilitaristische Begründung mit dem Prinzip des größtmöglichen Nutzens für die größtmögliche Zahl an. Bentham und seine Gesinnungsgenossen gingen davon aus, dass sich die Nutzensumme am leichtesten dank einer Er- Lebensqualitätsbewertung Recht auf Leben utilitaristische Begründung 45316_Fenner_SL4b.indd 201 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="202"?> 202 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n höhung der Zahl lustfähiger Wesen steigern lässt (vgl. Birnbacher 2002, 100). Um eine optimale Nutzensumme zu erzielen, müsste man infolgedessen sowohl die Geburtenrate steigern als auch Tötungen verhindern. Denn wer lustfähige Wesen tötet, nimmt ihnen die Chance auf ihr „praemium vitae“, d. h. den Vorteil und Gewinn des Lebens (vgl. Wolf 1991, 244). Gemäß einem „common sense“-Verständnis soll die Fähigkeit der Menschen, überhaupt Erfahrungen machen und z. B. wahrnehmen, denken und wünschen zu können, dem menschlichen Leben einen irreduziblen Eigenwert verleihen (vgl. Nagel, 15 f.). Auch dieses handlungsutilitaristische Argument für ein Lebensrecht und ein Tötungsverbot ist jedoch fragwürdig. Denn zwar sind die Menschen während der Dauer ihres Lebens fähig, positive Erfahrungen zu machen, Lust zu empfinden und Präferenzen zu erfüllen. Es gibt aber genauso die Möglichkeit, negative Erfahrungen oder Enttäuschungen zu erleben, konstant unter starken Schmerzen oder Unlust zu leiden oder über Jahrzehnte hinweg keines seiner bedeutsamen Ziele erfolgreich realisieren zu können. Da das „praemium vitae“ unter bestimmten Lebensbedingungen ausbleiben kann, vermag es schwerlich dem Leben als solchem einen positiven Wert zu vermitteln. Handlungsutilitaristisch betrachtet scheint es vielmehr sogar dazu aufzurufen, Menschen zu töten, die der fraglichen Vorteile des Lebens für immer beraubt sind. Ein schwerstbehindertes Kind oder ein notorischer Gewaltverbrecher sind möglicherweise nicht nur zu einem freudlosen Leben verdammt, sondern verursachen bezüglich ihres sozialen Umfeldes eine erhebliche Nutzenverminderung. Hier wie in vielen anderen Fällen führte daher die konsequente Anwendung des utilitaristischen Prinzips einer Maximierung der Nutzensumme zu einer Missachtung persönlicher Rechte auf Selbstbestimmung und in eine moralische Katastrophe (vgl. Kap. 4.2). Da allgemein gültige Normen heute nach weitgehender Übereinstimmung nur noch in gemeinsamen praktischen Diskursen begründet werden können, bietet sich alternativ dazu eine diskursethische Begründung an (vgl. Kap. 5.2.2): Das Tötungsverbot wäre genau dann ethisch legitim, wenn alle vernünftigen Lebewesen ihm in einem praktischen Diskurs zustimmen (könnten). Wohl verspüren nicht alle Menschen unter allen möglichen widrigen Umständen den Wunsch weiterzuleben, weil wie erwähnt neben der Quantität auch die Qualität diskursethische Begründung 45316_Fenner_SL4b.indd 202 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="203"?> 203 l E b E n des Lebens zählt. Alle Menschen haben aber eine starke Abneigung dagegen, wider ihren eigenen Willen von anderen getötet zu werden. Müsste man nämlich ständig um sein Leben bangen, würde die minimale Sicherheit fehlen, die es braucht, um überhaupt positive Erfahrungen und Erfüllungserlebnisse machen zu können. Denn die relative Gewissheit, sich seines Lebens vor anderen sicher zu sein, gehört zu den grundlegenden Entfaltungsbedingungen menschlichen Lebens. Ein Leben, das man in ständiger Angst vor Übergriffen seitens seiner Mitmenschen lebt, kann kein qualitativ befriedigendes sein. Aus diesem Grund müssten rationale Subjekte dem Tötungsverbot zustimmen und damit das Recht auf Leben aller potentiellen Interaktionspartner anerkennen. Bei Kleinkindern, Demenzkranken und geistig Behinderten, die weder einem Wunsch nach Leben oder Schutz vor Fremdtötung Ausdruck geben noch sich an einem rationalen Diskurs beteiligen können, wären die entsprechenden Bedürfnisse advokatorisch (stellvertretend) zu vertreten. Nicht zuletzt kommt auch eine handlungsreflexive Begründung in Frage, bei der nach den notwendigen Voraussetzungen der menschlichen Handlungsfähigkeit gesucht wird, weil ohne menschliche Handlungsfähigkeit ethische Ref lexionen über das richtige menschliche Handeln schlicht sinnlos wären (vgl. Kap. 5.2.3). Da ein toter Mensch natürlich nicht mehr handeln kann, stellt das biologische Am-Leben-Sein die grundlegendste Bedingung des Handelnkönnens dar. Somit zählt das Leben zu den „konstitutiven“ und „elementaren Gütern“, die niemand bei anderen Menschen durch sein Handeln beeinträchtigen darf. Jeder Handelnde muss daher das für sich selbst notwendig eingeforderte Recht auf Leben mit logischer Notwendigkeit auch allen anderen zuerkennen, die als Mitglieder der Spezies Mensch wenigstens potentiell handlungsfähig sind (vgl. Steigleder, 184 ff.). Da dieses Recht auf Leben grundsätzlich nur ein Abwehrrecht gegenüber anderen Menschen oder den politischen Machthabern darstellt, ist daran aber keine absolute Lebenspf licht geknüpft. Wird die Handlungsfähigkeit und die Lebensqualität eines Menschen durch andere schwierige Lebensbedingungen irreversibel eingeschränkt, könnte er sich gleichwohl für die selbstbestimmte Beendigung seines Lebens entscheiden. handlungsreflexive Begründung 45316_Fenner_SL4b.indd 203 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="204"?> 204 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Wert: elementarster Wert hinsichtlich menschlicher Handlungsfähigkeit Prinzip: Töte keinen (unschuldigen) Menschen! Recht: unverletzliches Recht auf Leben Normen: Ausnahmeregelungen im Krieg, bei Notwehr oder zur Bestrafung von Mördern Freiheit „Freiheit“ ist ein Grund- und Schlüsselbegriff der philosophischen Ethik: Zum einen postulieren viele Ethiker in der Nachfolge Kants, das Wesen oder das Kernziel einer Moral sei es, größtmögliche Freiheit für alle Mitglieder einer Handlungsgemeinschaft zu garantieren (vgl. Pieper 2017, 18). Zum andern setzt ethische Praxis immer schon eine bestimmte Art von menschlicher Freiheit voraus. Wäre der Mensch in seinem Handeln vollständig durch physikalische Gesetze determiniert, könnte man ihn schwerlich für sein Handeln verantwortlich machen. Ethisch gut kann daher „nur eine Handlung heißen, die sowohl aus Freiheit geschieht als auch Freiheit (des Handelnden und der durch die Handlung Betroffenen) zum Ziel hat“ (ebd., 49). Doch es gibt eine Vielzahl von Freiheitstheorien und „Freiheit“ ist ein multivoker, d. h. mehrdeutiger Begriff, sodass verschiedene Bedeutungsaspekte zu unterscheiden sind. Hilfreich ist dabei die grundlegende formale Differenzierung zwischen einer äußeren „Handlungsfreiheit“ und einer inneren „Willensfreiheit“, auch wenn es in der Philosophie Abweichungen bei den genauen Begriffsdefinitionen gibt (vgl. Wildfeuer, 359). Begrifflicher Zugang: Handlungs- und Willensfreiheit Wie die Bezeichnung bereits sagt, bezieht sich Handlungsfreiheit primär auf menschliches Handeln: Ein Mensch ist handlungsfrei oder frei in seinem Handeln, wenn ihm keine inneren oder äußeren Einschränkungen, Hindernisse oder Zwänge im Wege stehen. Da diese Form von Freiheit wesentlich negativ als eine „Freiheit von“ Fremdbestimmung oder sonstigen Handlungsschranken definiert ist, wird sie auch als negative Freiheit Leben 7 .2 Schlüsselbegriff Handlungsfreiheit negative Freiheit 45316_Fenner_SL4b.indd 204 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="205"?> 205 f r E I h E I t bezeichnet. Es ist offenkundig, dass unter irdischen raumzeitlichen Bedingungen eine absolute oder totale Hindernisfreiheit unmöglich ist und sie daher immer nur graduell vorkommt: Unser Handeln ist immer vielfältig begrenzt durch äußere Umstände wie Naturgesetze und faktische Gegebenheiten oder durch innere Charakterschwächen, Krankheiten oder Ausbildungsdefizite. Wenn jemand beispielsweise in einer Diktatur lebt, in einem abgelegenen Bergdorf wohnt oder unter einer Gehbehinderung leidet, entfallen einige Handlungsmöglichkeiten, die ihm in einer liberalen Demokratie, einer Großstadt oder mit gesunden Beinen offenstehen würden. Ein Wegfall von natürlichen oder sozialen, äußeren oder inneren Handlungsbeschränkungen bedeutet aber immer auch einen Zugewinn an positiven Handlungsmöglichkeiten. Die positiv gewendete Wahl- oder Willkürfreiheit vereinigt sowohl Aspekte der Handlungsals auch Willensfreiheit und meint die Fähigkeit, zwischen Handlungsoptionen auswählen zu können. Sie ist umso größer, je weniger Hindernisse und je mehr Handlungsalternativen vorhanden sind. Unabhängig von allen Hemmnissen könnte man dann tatsächlich (fast) alles tun, was man tun will, und man hätte immer auch anders handeln können. Als positive Freiheit oder „Freiheit wozu“ bezeichnet man aber in aller Regel nicht diese Willkürfreiheit, sondern die Willensfreiheit. Bei diesem positiven Freiheitskonzept steht nicht das äußere Freisein von Handlungsschranken im Zentrum, sondern die innere Bedingung des Wollens oder Ergreifens bestimmter Handlungsoptionen. Der Wille ist die mentale, also geistige Fähigkeit einer Person, selbständige Akte der Entscheidung und der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen vornehmen und die Verwirklichung der gewählten Handlungsabsichten einleiten zu können. Statt sich von sinnlichen Begierden, faktischen Wünschen, situativen oder sozialen Zwängen leiten zu lassen, muss die Person selbst Ursprung ihres Handelns sein und den Inhalt ihres Wollens aufgrund vernünftiger Überlegungen selbst bestimmen. Wichtige Voraussetzungen für Willensfreiheit sind eine hinlängliche Kenntnis der handlungsrelevanten physischen, psychischen und situativen Gegebenheiten und eigenen spontanen Wünsche sowie eine kritische Distanz und ref lexive Stellungnahme zu ihnen. Gemäß Harry Frankfur- Wahl-/ Willkürfreiheit Willensfreiheit 45316_Fenner_SL4b.indd 205 05.03.2020 12: 20: 31 <?page no="206"?> 206 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n ts einf lussreicher Stufentheorie des Willens muss sich eine Person in einem Ref lexionsprozess für „Wünsche zweiter Ordnung“ entscheiden, durch die sich Wünsche erster Ordnung bewerten lassen (vgl. Frankfurt, 71): Während Wünsche erster Ordnung unmittelbar auf ein erstrebtes Objekt oder einen ersehnten Zustand gerichtet sind, beziehen sich Wünsche zweiter Ordnung auf solche Wünsche erster Ordnung. Wünsche zweiter Ordnung können Ideale sein wie Coolness oder Hilfsbereitschaft sowie weiterreichende Ziele wie einen bestimmten Beruf erlernen oder eine Familie gründen. Sie legen fest, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Entscheidend für Willensfreiheit ist der Akt der Identifikation mit einem konkreten Wunsch erster Ordnung, der dadurch eine besondere Zugehörigkeit zur Person erhält (vgl. ebd., 93/ Bieri, 382). Da Wünsche zweiter Ordnung den Kern des eigenen Selbstverständnisses und des normativen Selbstbildes ausmachen, ist Willensfreiheit gleichbedeutend mit Selbstbestimmung oder Autonomie („Selbst-Gesetzgebung“). Willensfrei ist eine Person dann, wenn nur die Wünsche erster Ordnung handlungswirksam werden, die mit einem identitätsstiftenden Wunsch zweiter Ordnung übereinstimmen. Im Unterschied zur Handlungsfreiheit ist für Willensfreiheit kennzeichnend, dass man sich auch anders hätte entscheiden können. Während man sich alles Mögliche und völlig Unrealistische wünschen kann, können nur die auf ihre Realitätsnähe und die Konsequenzen ihrer Erfüllung geprüften Wünsche zum Willen werden und als Ziele oder Zwecke das Handeln lenken (vgl. Bieri, 37 ff.; 51 f.). Der Gegenstandsbereich des Wollens ist daher durch die gleichen Einschränkungen wie die Handlungsfreiheit limitiert, also beispielsweise durch die vorgefundene und höchstens langfristig beeinflussbare natürliche oder soziale Wirklichkeit und die persönlichen Anlagen und Fähigkeiten. So kann beispielsweise der Wunsch, als Opernsängerin an der Mailänder Scala aufzutreten, bei durchschnittlichem Gesangstalent nicht zum realitätsorientierten Handlungsziel und Gegenstand eines aktiven Wollens werden. Umgekehrt schränken aber die für Willensfreiheit notwendigen Ideale oder Ziele immer auch die individuelle Handlungsfreiheit einer Person ein, weil z. B. für eine Professorin oder Mutter nicht mehr sämtliche prinzipiell möglichen Handlungsoptionen in Frage kommen. Eine akademische Wünsche erster/ zweiter Ordnung Wünsche/ Ziele 45316_Fenner_SL4b.indd 206 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="207"?> 207 f r E I h E I t Karriere bringt etwa mit sich, seine Arbeitsstadt nicht mehr frei wählen zu können und auf viele faktische Wünsche erster Ordnung etwa nach Bequemlichkeit, Hobbys oder Nahbeziehungen verzichten zu müssen. Da die handlungsregulierenden umfassenden Ziele aber ihrerseits frei gewählt wurden, konstituieren sie gerade erst die innere Freiheit des Willens: Statt ständig zwischen verschiedenen Handlungsalternativen hin- und hergerissen zu werden, verleihen sie unserem Wollen und Handeln Stabilität und Entscheidungssicherheit. Nur wenn wir im Einklang mit unserem normativen Selbstbild handeln, tun wir das, was wir wirklich wollen. Und nur dann sind wir im emphatischen Sinne (willens-)frei. Um aber die Verwirklichung seiner Wünsche zweiter Ordnung einleiten zu können und die auf einer höheren Ref lexionsstufe als negativ bewerteten Wünsche erster Ordnung zum Verschwinden zu bringen, braucht es zusätzlich noch bestimmte psychische Fähigkeiten: Selbstregulationsfähigkeit oder Selbststeuerungsfähigkeit meint die Gesamtheit der bewussten und unbewussten Vorgänge, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, ihre Emotionen und ihre spontanen Handlungsimpulse kontrollieren und regulieren. Sie beinhaltet die Willensstärke als Fähigkeit, seine aufgrund vernünftiger Überlegungen gewählten Ziele durch absichtliches und realitätsgerechtes Handeln notfalls gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. Damit sich ein Mensch in seinem Handeln überhaupt an Gründen orientieren und seine Wünsche zweiter Ordnung handlungswirksam werden lassen kann, müssen bei ihm diese von Geburt an unterschiedlich ausgeprägten grundlegenden Fähigkeiten schon in früher Kindheit trainiert werden (vgl. Kap. 8.4). Selbstregulationsfähigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 207 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="208"?> 208 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Handlungsfreiheit Willensfreiheit betrifft: Handeln betrifft: Willen negativ : Freiheit wovon? positiv : Freiheit wozu? Abwesenheit von Hindernissen Selbstwahl und Zielverfolgung Möglichkeit, unabhängig von inneren oder äußeren Handlungsschranken zwischen (unendlich) vielen Handlungsalternativen auswählen zu können mentale Fähigkeit, mit Blick auf die persönlichen Ideale und Wertvorstellungen zwischen gegebenen Handlungsalternativen eine Entscheidung treffen und die Verwirklichung seiner Handlungsziele einleiten zu können Empirisch-despkriptiver Zugang: Determinismus und Indeterminismus Nur am Rande erwähnt sei hier die gegenwärtig kontrovers diskutierte empirisch-deskriptive Frage, ob der „Determinismus“ oder der „Indeterminismus“ die Realität korrekt beschreiben. Träfe der harte physikalische Determinismus zu, wären das ganze Universum und auch sämtliche den mentalen Entscheidungsprozessen zugrunde liegenden neuronalen Vorgänge vollständig den Naturgesetzen unterworfen und jede menschliche Handlung ginge alternativlos aus einem Komplex von Ursachen hervor. Es gäbe weder Handlungsnoch Willensfreiheit und es träfe die philosophische These des „Inkompatibilismus“ zu, derzufolge Determinismus und Freiheit unvereinbar sind (vgl. Wildfeuer, 360). Da die Rede von Freiheit, Verantwortung oder moralischer Schuld dann illusionär wäre, scheidet ein physikalischer oder physiologischer Determinismus als Grundlage einer ethischen Theorie aus. Der empirische Nachweis von Bereitschaftspotentialen im Gehirn vor dem Fällen einer bewussten Entscheidung wie in den neurobiologischen Experimenten von Benjamin Libet und seinen Nachfolgern lässt aber keineswegs nur den voreiligen Schluss auf einen neuronalen Determinismus und das Fehlen von Willensfreiheit zu, sondern auch die von Libet selbst gelieferte Interpretation einer bewussten Veto- oder Kontrollmöglichkeit des Willens (vgl. Hildt, Kap. 3). Umgekehrt können neuere Erkenntnisse wie Heisenbergs Unschärferelation oder die Chaos-Theorie zwar den harten psysikalischen Determinismus erschüttern und einen zumindest partiellen Indetermi- Definitionen Determinismus vs.Indeterminismus harter physikalischer Determinismus 45316_Fenner_SL4b.indd 208 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="209"?> 209 f r E I h E I t nismus mit Zufallserscheinungen belegen, aber keineswegs eine angemessene Grundlage für selbstbestimmte Entscheidungsfindungen von Individuen bereitstellen. Als metaphysische, d. h. das sinnliche Wahrnehmbare überschreitende Thesen lassen sich weder der Determinismus noch der Indeterminismus beweisen oder widerlegen. In der neueren Freiheitsdebatte vertreten viele Philosophen wie etwa Michael Pauen oder Daniel Dennett anstelle eines harten einen weichen psychologischen Determinismus, der mit Freiheit und Verantwortung kompatibel sei und daher der philosophischen Position des „Kompatibilismus“ zuzurechnen ist (vgl. ebd., 358): Der Wille eines Individuums soll ihnen zufolge nicht durch äußere psychische oder soziale Zwänge, sondern durch dessen eigene, zeitlich vorausgehende und ursächlich wirkende Charakterzüge, Wünsche oder Handlungsbegründungen bestimmt werden. Gemäß den obigen Ausführungen läge hier aber höchstens in einem schwachen Sinn Willensfreiheit vor, weil die Freiheit im Wollen verlangt, dass man sich nicht nur von allen fremden, sondern auch von den eigenen Wünschen, Überzeugungen und Handlungsmotiven distanziert. Für das Verständnis einer für die Ethik grundlegenden Willensfreiheit scheint es wesentlich zu sein, dass Menschen zu ihren faktisch aus vielfältigen erzieherischen Einflüssen und biographischen Erfahrungen herstammenden Wünschen und Handlungsgründen aus reflexiver Distanz Stellung beziehen und diese verwerfen oder anerkennen können (vgl. Höffe 2007, 263 ff.). Ein ergebnisoffenes ethisches Reflektieren und Abwägen sowie sämtliche rationalen Gründe und Argumente müssen zwar neuronal repräsentiert werden, lassen sich aber nicht auf neuronale Zustände reduzieren. Sie unterliegen nicht wie physikalische Ursachen den Naturgesetzen mit ihrer Natur- oder Ereigniskausalität, sondern den Gesetzen der Logik und Argumentation mit der Möglichkeit einer intentionalen „Kausalität aus Freiheit“, Akteurs- oder Urheberkausalität (vgl. Kant: KpV, A 83 ff.). Der freie Wille kann daher als eine Art Prüf- und Suspensionsvermögen begriffen werden, mit Hilfe dessen der «Urheber» sich im Laufe eines häufig länger dauernden komplexen Wunsch- und Willensbildungsprozesses für bestimmte Handlungsoptionen entscheidet und diese handlungswirksam werden lässt. weicher psychologischer Determinismus Ereignisvs. Urheberkausalität  45316_Fenner_SL4b.indd 209 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="210"?> 210 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Ethischer Zugang: Recht auf Handlungs- und Willensfreiheit Zu klären ist aus ethischer Sicht neben den basalen definitorisch-begrifflichen und empirisch-deskriptiven Fragen aber vor allem diejenige, welche Art von Freiheit moralisch zu schützen ist. Außer Zweifel steht, dass die Willensfreiheit als Grundlage jeder ethischen Praxis nicht verletzt werden darf. Gewirth zählt die Freiheit der Selbstbestimmung im Rahmen seiner handlungsreflexiven Moralbegründung zu den „konstitutiven Gütern“, auf die jeder Mensch ein Recht hat (vgl. Kap. 5.2.3). In den meisten Verfassungen wird das Recht auf Selbstbestimmung den Bürgern auch als ein juristisches Recht garantiert: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ (Art. 2, Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes). Willensfreiheit als Fähigkeit zur Selbstbestimmung verleiht dem Menschen nach Kant einen absoluten Wert und eine innere Würde, die gleichfalls ein sowohl moralisches als auch juristisches Recht darstellt (vgl. GMS, A/ B 78): „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1, Abs. 1). Menschliche Würde als Autonomie wird in Kants Worten insbesondere da verletzt, wo jemand von seinen Mitmenschen zu einem Objekt gemacht wird, über das sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen nach Belieben verfügen (vgl. Kap. 5.2.1). Schwerwiegende Verletzungen des Freiheitsrechts stellen daher alle Formen der Ausübung physischer Gewalt wie etwa Vergewaltigungen, Unterdrückung und Folter, aber auch des psychischen Drucks dar. Darüber hinaus bedrohen auch alle Versuche der Täuschung oder Manipulation anderer Personen die menschliche Willensfreiheit, sodass auch sie ethisch illegitim sind. Weniger eindeutig zu bejahen als bei der Willensfreiheit ist die Frage nach der Schutzwürdigkeit eines Rechts auf Handlungsfreiheit, da sich hier sofort die weitere Frage nach dessen Reichweite stellt: Natürlich braucht der Mensch zum Handeln einen gewissen Handlungsspielraum, sodass gemäß handlungsref lexivem Ansatz auch die Handlungsfreiheit der Mitmenschen nicht grundlos eingeschränkt werden darf. Die Bedeutung oder der Wert konkreter Handlungsoptionen ist aber relativ und hängt von den Idealen und Zielen ab, die jemand in seinem Leben verfolgt. Es wäre sicherlich vermessen und in Raum und Zeit gar nicht sinnvoll, von seinen Mitmenschen Rücksichtnahme auf eine subjektive totale Willkürfreiheit ohne jede Handlungsschranken einzufordern (vgl. oben). Die Handlungsfreiheit Recht auf Selbstbestimmung Recht auf Handlungsfreiheit 45316_Fenner_SL4b.indd 210 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="211"?> 211 f r E I h E I t eines Menschen darf aber auch nicht derart von seinem sozialen Umfeld eingeengt werden, dass sich sein Handeln in einer Anpassung an vorgegebene Rollenmuster und Lebensformen erschöpft. Zu sichern sind ausreichende Handlungsspielräume für eine selbstbestimmte Lebensführung, z. B. durch ein permissives, d. h. entgegenkommendes soziales Umfeld und ein geeignetes Institutionennetz. Allen Menschen müssten zumindest die lebensnotwendigen Güter zur Stillung der basalen Bedürfnisse nach Nahrung, Obdach und Sicherheit zur Verfügung stehen, damit niemand im täglichen Kampf ums pure biologische Am- Leben-Sein gefangen bleibt und nur die beiden Handlungsalternativen Überleben oder Sterben kennt. Willensfreiheit Handlungsfreiheit Wert absoluter und unverletzlicher Wert, der die Würde des Menschen ausmacht relativer Wert in Bezug auf Ziele und Ideale, die Individuen in ihrem Leben verfolgen Prinzip Handle so, dass du niemanden als bloßes Objekt behandelst (Willensfreiheit) und die Handlungsfreiheit der vom Handeln Betroffenen nicht grundlos einschränkst! Recht unverletzliches Recht auf Würde Recht auf ausreichenden Handlungsspielraum zur selbstbestimmten Lebensführung Normen physische Gewalt, psychischen Zwang, Täuschung und Manipulation unterlassen allen Menschen ein Mindestmaß an materiellen, sozialen und institutionellen Bedingungen zur Verfügung stellen Freiheit 45316_Fenner_SL4b.indd 211 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="212"?> 212 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Gerechtigkeit Anschauungsbeispiel 1 Der kleine Hans feiert seinen zehnten Geburtstag und darf seine besten Spielgefährten einladen. So hat sich eine bunt gemischte Gruppe von acht Kindern im Alter von 5-15 Jahren versammelt, die teilweise direkt aus der Schule, aus dem Fußballtraining oder von einem anderen Familienfest kommen. Sie sind also in ganz unterschiedlichem Maß gesättigt und verschieden groß. Als die Mutter die Geburtstagstorte schneiden will, zögert sie und überlegt, wie sie die Torte schneiden und verteilen soll. Was wäre gerecht? Anschauungsbeispiel 2 In einem mittelgroßen Betrieb gibt es fünf Angestellte, die alle gleich viel verdienen, aber unterschiedlich viel leisten. Max bearbeitet zehn Aufträge an einem durchschnittlichen Arbeitstag, seine Kollegen, die z.T. noch Anfänger oder weit weniger kommunikativ sind, erledigen maximal fünf. Max fragt sich seit längerer Zeit, ob das gerecht sei. Anschauungsbeispiel 3 In einem Lokal arbeiten drei Kellner, die alle gleich viel arbeiten, aber an einem Tag ganz unterschiedlich viel Trinkgeld einnehmen. Ist das gerecht oder wie sähe eine gerechte Lösung aus? „Gerechtigkeit“ gilt als das grundlegendste normative Prinzip des zwischenmenschlichen Zusammenlebens schlechthin: Genauso wie „Glück“ und „gutes Leben“ die Grundbegriffe der „Individual“- oder „Strebensethik“ bilden, steht im Zentrum der Sozial- oder Sollensethik das Ideal der Gerechtigkeit (vgl. Kap. 1.2). Während das soeben erläuterte abstrakte Prinzip „Freiheit“ eher die Bedingungen sowie das globale Fernziel ethischer Praxis festschreibt, fungiert das Prinzip „Gerechtigkeit“ als praxisnaheres Beurteilungskriterium menschlicher Interaktionen. Das Prinzip „Behandle Deine Mitmenschen gerecht! “ ist besser 7 .3 Grundbegriff der Sozial-/ Sollensethik 45316_Fenner_SL4b.indd 212 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="213"?> 213 g E r E c h t I g � E I t handhabbar als die Forderung, die Handlungsfreiheit seiner Mitmenschen nicht grundlos einzuschränken (vgl. Kap. 7.2). Fragt man nach der Begründbarkeit des Werts oder Prinzips Gerechtigkeit, braucht man sich lediglich das materiale Kennzeichen moralischen Handelns zu vergegenwärtigen (vgl. Kap. 1.1). Denn der objektive oder unparteiische Standpunkt der Moral verlangt, unter Absehung von persönlichen Freundschafts- oder Feindschaftsbeziehungen die Bedürfnisse und berechtigten Interessen aller vom Handeln Betroffenen in gleicher Weise zu berücksichtigen. Wer diesen Standpunkt einnimmt und sein Handeln von dieser höheren objektiven Warte aus plant, handelt in einem noch sehr allgemeinen und nicht weiter spezifizierten Sinn gerecht. Die Göttin der Gerechtigkeit, die „Justitia“, wird daher in der bildenden Kunst seit jeher mit einer Augenbinde dargestellt: Sie darf nicht sehen, wer welche Interessen vertritt. Die Waage in ihrer Hand symbolisiert die Aufgabe, jeder Partei das ihr Gebührende zuzumessen. Die Frage, wieso man gerecht handeln oder Ansprüche auf gerechte Behandlung berücksichtigen soll, ist also letztlich identisch mit der paradoxalen individualethischen Frage „Warum überhaupt moralisch sein? “ (vgl. Kap. 1.3). Genauso wie „Freiheit“ ist aber auch „Gerechtigkeit“ ein schillernder und vieldeutiger Begriff, der auf ganz heterogene Weisen gebraucht wird und zu zahllosen philosophischen Modellen und Theorien Anstoß gab. Dabei lassen sich aber in Gerechtigkeitsdiskursen zwei gegensätzliche Grundverständnisse voneinander abgrenzen, die verschiedene Intuitionen von Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen: Sowohl in alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen als auch in philosophischen Gerechtigkeitstheorien dominiert die Idee von Gleichheit oder Egalität als Kern von Gerechtigkeit. Das auf Aristoteles zurückgehende grundlegende Gleichheitsgebot fordert, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln (vgl. Aristoteles, 1130bff.). Es dürfen also bei Menschen unter vergleichbaren Bedingungen oder Umständen keine willkürlichen Unterschiede gemacht werden, wenn es z. B. um die Verteilung von Vorteilen und Lasten oder Rechten und Pf lichten geht. Bei diesem komparativen und relativen interpersonal-egalitären Gerechtigkeitsmodell (1) steht ein interpersonaler Vergleich im Zentrum, wie er typischerweise in sozialen Verteilungssituationen mit mehreren beteiligten unparteiischer Standpunkt der Moral Gleichheitsgebot: Gleiche gleich behandeln interpersonalegalitäres Gerechtigkeitsmodell 45316_Fenner_SL4b.indd 213 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="214"?> 214 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Personen vorgenommen werden muss. Im Kontrast zu dieser Grundidee von Gerechtigkeit als Gleichheit steht die Gerechtigkeitsvorstellung, derzufolge den Menschen ein Vorteil oder Nutzen bzw. Nachteil oder Schaden absolut gesehen zusteht, ganz unabhängig davon, was anderen Menschen zukommt. Der auf Platon zurückgehende Grundsatz in seiner viel zitierten lateinischen Version „suum cuique tribuere“ besagt, dass jemandem in einem individuellen Sinn aufgrund seiner spezifischen inhärenten Merkmale wie z. B. Bedürftigkeit, Konstitution oder Begabungen das ihm Zukommende gewährt werden soll (vgl. Platon, Pol., 442c-443a). Bei diesem personenbezogen-inegalitären Gerechtigkeitsmodell (2) wird jede Person für sich und unter absoluten Maßstäben betrachtet, wohingegen Gleichheit zwischen den Menschen anders als im egalitären Verständnis kein Beurteilungskriterium, sondern höchstens ein Nebenprodukt darstellt (vgl. Krebs, 17 ff.). Interpersonal-egalitäre Gerechtigkeit (1) Auch wenn die meisten philosophischen Gerechtigkeitstheorien dem interpersonal-egalitären Modell zuzurechnen sind, unterscheiden sich doch ihre jeweiligen Antworten auf die von Amartya Sen aufgeworfene Frage „Equality of what? “ erheblich (vgl. Sen, 353). Denn es ist überhaupt nicht klar, worauf sich die Gleichheit genau beziehen soll und was also gleich auf alle Menschen verteilt werden soll: Gefordert wird z. B. eine Gleichheit an Grundgütern etwa in Form eines Pakets gleicher Grundrechte und Grundfreiheiten (John Rawls), Gleichheit an sozialen Chancen mit den dafür notwendigen Ressourcen (Ronald Dworkin), die Gleichheit an Wohlergehen oder Chancen auf Wohlergehen (Richard Arneson) oder die Gleichheit an basalen Fähigkeiten zur Verfolgung eigener Lebenspläne (Amartya Sen). Wenn gemäß dem interpersonal-egalitären Gleichheitsgebot nur Gleiche gleich, Ungleiche aber ungleich behandelt werden sollen, stellt sich zudem die Frage: Welche Unterschiede zwischen den Personen sind ethisch relevant und sollen beachtet werden? Beim Ideal einer angemessenen Gleichheit müssen die Gesichtspunkte angegeben werden, unter denen Personen als gleich oder ungleich zu betrachten sind. In Frage kämen Unterschiede bezüglich Alter, Bedürfnissen, Talenten, Qualifikationen personenbezogeninegalitäres Gerechtigkeitsmodell Gleichheit wovon? angemessene Gleichheit 45316_Fenner_SL4b.indd 214 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="215"?> 215 g E r E c h t I g � E I t etc. Offenkundig spielen in verschiedenartigen Verteilungssituationen, Gemeinschaftsformen und Handlungsbereichen solche Unterscheidungsmerkmale entweder gar keine Rolle oder es sind jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte relevant, sodass es auf diese Frage keine einheitliche Antwort geben kann. Als heuristischer Grundsatz könnte jedoch gelten, dass die Behandlung der Menschen als gleich und damit die Gleichverteilung Vorrang haben sollte. In der aristotelischen Terminologie kann beim Gleichheitsprinzip von einer arithmetischen Gerechtigkeit gesprochen werden, weil hier auf „arithmetische“ Weise im Sinn von rein „zahlenmäßig-rechnerisch“ jedem das Gleiche bzw. gleich viel von etwas zugeteilt wird. Es müssten gute Gründe für die Berücksichtigung bestimmter Unterschiede zwischen den Menschen vorliegen, um anstelle dieses „arithmetischen“ das „geometrische“ Gerechtigkeitsmodell zur Anwendung zu bringen. Bei der geometrischen Gerechtigkeit werden die Individuen unterschiedlich behandelt, wobei wie beim geometrischen Strahlensatz (a: b- = c: d) jeder proportional zu bestimmten persönlichen Merkmalen, Fähigkeiten oder Leistungen das „Seine“ bekommt: Wer sich doppelt verdient gemacht hat, hätte beispielsweise einen doppelt so hohen Anspruch auf die zu verteilenden Güter. arithmetische Gerechtigkeit geometrische Gerechtigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 215 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="216"?> 216 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n 1) Interpersonal-egalitäre Gerechtigkeit 2) Personenbezogeninegalitäre Gerechtigkeit • Idee : angemessene Gleichheit in einem interpersonalen Vergleich • Grundsatz : Gleiche werden gleich, Ungleiche ungleich behandelt • Vertreter : Aristoteles, Egalitaristen • Idee : Erfüllung absoluter personenbezogener Standards • Grundsatz : Jeder Einzelne bekommt das ihm Zustehende • Vertreter : Platon, Nonegalitaristen 1a) arithmetische Gerechtigkeit 1b) geometrische Gerechtigkeit • Gleichheit kein Kriterium (höchstens Nebenprodukt) • kein interpersonaler Vergleich • alle Betroffenen werden in der relevanten Hinsicht als gleich betrachtet • Jedem das Gleiche (gleich viel von etwas) • Unterschiede bei individuellen Bedürfnissen, Leistungen, Qualifikationen oder Begabungen werden proportional berücksichtigt • Jedem das Seine (nach den gleichen Regeln) Gemäß dem erwähnten heuristischen Prinzip müsste man der Mutter in Anschauungsbeispiel 1 raten, nach dem arithmetischen Gerechtigkeitsmodell (1a) vorzugehen und den Kuchen je nach der Anzahl der Kinder in gleich große Stücke zu teilen. Als relevanter Gesichtspunkt für eine unterschiedliche Behandlung kommt zwar der ungleiche Hunger der Kinder in Frage, weil diese teilweise direkt vom Fußballtraining oder von einem anderen Familienfest kommen. Kuchen eignet sich aber schlecht zur Stillung physiologischer Grundbedürfnisse, sodass sich die Verteilaktion typischerweise im Surplus-Bereich abspielt. So gesehen erübrigt es sich, auf komplizierte Weise aus verschiedenen Faktoren wie Größe, Alter, Gewicht und kulinarischer Vorgeschichte den unterschiedlichen Sättigungsgrad der Kinder zu errechnen. Andere relevante Gründe für den Übergang vom arithmetischen zum geometrischen Verteilungsmodell (1b) könnten allenfalls Gerechtgkeitsbegriffe 45316_Fenner_SL4b.indd 216 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="217"?> 217 g E r E c h t I g � E I t sein, dass einzelne Kinder viel mehr bei der Hausarbeit oder der Partyvorbereitung mitgeholfen oder bei einem Wettbewerb am besten abgeschnitten haben. Ähnlich müssten sich in Anschauungsbeispiel 3 spezielle Gründe angeben lassen, die eine stark voneinander abweichende Höhe des Trinkgeldes rechtfertigen würden, z. B. besondere Freundlichkeit und Gewandtheit des einen im Unterschied zur Griesgrämigkeit und Ungeschicklichkeit des anderen. Ansonsten ist auch hier das arithmetische Prinzip (1a) gerechter, sodass die zufälligen Unterschiede bei der Trinkgeldeinnahme nach Dienstschluss untereinander auszugleichen wären. Ethisch gesehen unbefriedigend als „Auflösung“ des moralischen Problems der Gerechtigkeit sind Verweise auf den mutmaßlichen empirischen Umstand, dass es über Tage oder Wochen hinweg automatisch zu einem Ausgleich käme. Ungerecht scheint jedoch die Bezahlung der Mitarbeiter nach dem Stundenlohn in Anschauungsbeispiel 2 zu sein, wenn ihre Leistungen bis zu 50% voneinander abweichen. Für eine proportionale Verteilung nach dem geometrischen Gerechtigkeitsmodell (1b) spricht, dass Max offenkundig qualifizierter, kommunikativer und viel leistungsfähiger als seine Arbeitskollegen ist. Dagegen ließe sich höchstens argumentieren, auch Max sei einmal Anfänger gewesen und hätte seine herausragenden Qualitäten erst im Laufe der Jahre erworben. Entscheidend im geometrischen Gerechtigkeitsmodell ist die Anwendung gleicher formaler Regeln für alle Mitarbeiter, sei es nun die Berücksichtigung der Anzahl der Aufträge, Dienstjahre oder sozialen Verpflichtungen der Mitarbeiter. Bei den meisten ethischen und rechtlichen Debatten über Gerechtigkeit geht es nicht um konkrete Einzelfälle, sondern um Verteilungsregeln oder Verteilungsresultate in der Solidargemeinschaft, in Institutionen, Vereinen oder sonstigen Formen freier Kooperation. In solchen komplexen Gemeinschaftsformen ist es besonders wichtig, dass die Kriterien oder Regelungen der Verteilung von Vorteilen und Lasten nachvollziehbar begründet werden. Wiederum ist arithmetische Gleichheit weniger problematisch, wenn beispielsweise der Staat allen Bürgern gleiche Rechte und Pflichten auferlegt. Begründet werden müssten jedoch der Ausschluss Einzelner von bestimmten Freiheits- oder Partizipationsrechten oder eine unterschiedliche Behandlung z. B. bei der Besteuerung, wo etwa Kriterien wie die Höhe des Einkommens, Familienstand und Kinderzahl geltend gemacht wergleiche formale Regeln für alle Begründungsforderung 45316_Fenner_SL4b.indd 217 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="218"?> 218 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n den können. In formaler Hinsicht müssen solche Kriterien 1. von vornherein und ohne Blick auf zukünftige individuelle Anwärter festgelegt werden, 2. allgemein bekannt gegeben werden und 3. streng allgemein für alle Interessenten gleich gelten, sodass sie gleichsam mit verbundenen Augen angewendet werden können. Die allgemeine Bekanntgabe der Kriterien bringt zugleich den Vorteil mit sich, dass sie der öffentlichen Kritik ausgesetzt sind. 4. In inhaltlicher Hinsicht dürfen die Kriterien nicht willkürlich sein, sondern müssen sich mit Blick auf die jeweiligen spezifischen Zielsetzungen oder Aufgaben einer Institution oder Vereinigung begründen lassen. So lässt sich eine unterschiedliche Berücksichtigung der Anwärter beispielsweise bei der Vergabe von knappen Studienplätzen oder Stipendien anhand von Bewertungskriterien wie Vorwissen, Motivation und Eignung der Kandidaten für einen bestimmten Bildungsgang rechtfertigen, weil diese für ein erfolgreiches Studium relevant sind. Andere Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht oder Ausbildungsstand der Eltern dürfen als irrelevante Gründe jedoch keinen Einfluss auf den Selektionsprozess haben. Ebenso wäre nach einer Forderung von Michael Walzer in seiner einschlägigen Publikation Sphären der Gerechtigkeit zu verhindern, dass die Position einer Person im privaten, beruflichen, religiösen oder politischen Bereich Auswirkungen hat auf ihre Bevorzugung oder Benachteiligung in anderen Bereichen. Nur weil beispielsweise jemand einen hohen politischen Rang einnimmt oder Universitätsprofessor ist, hat er keinen legitimen Anspruch auf Vorteile in anderen Bereichen wie etwa eine bessere medizinische Versorgung oder bessere Bildungschancen für seine Kinder (vgl. Walzer, 49 f.). Bedingungen für Verteilungsregeln/ -kriterien in institutionellen Kontexten formale inhaltliche 1) von vornherein und unparteiisch festgelegt 2) allgemein bekannt gegeben und öffentlicher Kritik ausgesetzt 3) streng allgemein, d. h. für alle gleich geltend 4) nicht willkürlich, sondern sich aus den spezifischen Zielsetzungen oder Aufgaben einer Institution ergebend formale Bedingungen inhaltliche Bedingung Verteilungsregeln 45316_Fenner_SL4b.indd 218 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="219"?> 219 g E r E c h t I g � E I t In allen institutionalisierten Gemeinschaftsformen oder instrumentellen Vereinigungen mit bestimmten Zielen oder Aufgaben gibt es individuelle Rechte und Pflichten der Gerechtigkeit. Auch ohne einen schriftlich fixierten Vertrag unterschrieben zu haben, verspricht jedes Mitglied einer Interessengemeinschaft implizit, einen bestimmten Beitrag zur Erfüllung der gemeinsam anvisierten Aufgaben zu leisten. Wer beispielsweise in einem Laienorchester mitspielt, das für einen größeren Konzertauftritt probt, verspricht implizit, auf dieses gemeinsame Ziel der öffentlichen Aufführung hinzuarbeiten. Es ist dann eine Forderung der Gerechtigkeit, sich nach Maßgabe der vorhandenen Freizeit und Kraft für die Erfüllung des Versprechens einzusetzen. Fehlt ein Orchestermitglied zu oft, ist schlecht vorbereitet oder verpasst gar den Konzerttermin, handelt es ungerecht und verletzt seine Gerechtigkeitspflicht, weil es das kollektive Ziel eines erfolgreichen Konzertes gefährdet. Die anderen Musiker haben infolge des impliziten Versprechens sozusagen ein Recht auf sein engagiertes Mitwirken. Genauso verhält es sich bei einer studentischen Arbeitsgruppe, die sich gemeinsam auf eine Prüfung vorbereitet: Teilt ein Student kurz vor der Prüfung seinen Kommilitonen mit, er hätte den ihm zugeteilten Stoff nicht wie vereinbart für die anderen zusammengefasst, verletzt er seine Pflicht der Gerechtigkeit und das Anspruchsrecht der anderen auf gerechte Behandlung. Wo soziale Bindungen mit implizitem oder explizitem Versprechen vorliegen, korrespondiert der Gerechtigkeitspflicht des Handelnden somit das Recht auf Gerechtigkeit seitens der Interaktionspartner. Kritik des Non-/ Inegalitarismus: personenbezogen-inegalitäre Gerechtigkeit (2) Gegen die in der Moderne vorherrschende Orientierung an Gleichheit im interpersonal-egalitären Gerechtigkeits-Verständnis opponieren seit Ende des 20. Jahrhunderts Vertreter des Non- oder Inegalitarismus, zu denen etwa Avishai Margalit, Michael Walzer oder Angelika Krebs zählen. Sie halten das komparative und relative Kriterium der Gleichheit für ein völlig unangemessenes Maß oder Ziel von Gerechtigkeit und setzen sich stattdessen für eine personenbezogen-inegalitäre Gerechtigkeit ein (2): Bei Gerechtigkeitsfragen sei der Vergleich mit anderen Menschen Rechte/ Pflichten der Gerechtigkeit Non-/ Inegalitarismus 45316_Fenner_SL4b.indd 219 05.03.2020 12: 20: 32 <?page no="220"?> 220 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n unangebracht, weil es allein darauf ankomme, was jedem Einzelnen aufgrund seiner konkreten Bedürfnisse, Verdienste oder Ansprüche nach absoluten Maßstäben zusteht. Obgleich Nonegalitaristen am Ende genauso wie Egalitaristen ein gleiches Set an Freiheits- oder Menschenrechten für alle Menschen fordern, spielt Gleichheit doch bei der Begründung ihrer Forderung keine Rolle (vgl. Krebs, 16 ff.; 30 ff.). Das Ziel ist es vielmehr, den einzelnen Menschen z. B. durch den Zugang zu Nahrung, Obdach oder medizinischer Grundversorgung menschenwürdige Lebensbedingungen zu verschaffen. Typischerweise wird in einem nonegalitaristischen Schwellenkonzept eine sehr niedrige Schwelle basaler Bedürftigkeit bestimmt, deren Überschreiten im Zeichen der Gerechtigkeit allen Menschen ermöglicht werden soll. Auch wenn sich bezüglich Nahrung oder medizinischer Grundversorgung noch am ehesten auf empirisch-deskriptive Weise „absolute“ Maßstäbe definieren lassen, sind aber selbst grundlegende Güter wie „Existenzminimum“ oder „soziale Zugehörigkeit“ kulturspezifisch zu konkretisieren und wären in diesem Sinn auch „(kultur)relativ“ (vgl. ebd., 18). Das stärkste Argument der Nonegalitaristen bei der Widerlegung des Egalitarismus ist das sogenannte Levelling-down-Argument, demzufolge die Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder auch durch Nivellierung nach unten realisiert werden könnte. Es wären dann z. B. auch das gleiche Elend aller Menschen oder die gleichmäßige Unterdrückung eines ganzen Volkes „gerecht“ und ethisch legitim. Egalitaristen täten daher gut daran, das Gebot einer „angemessenen“ Gleichheit in Richtung auf eine qualifizierte Gleichheit zu präzisieren: Ethisch vertretbar kann es nur sein, jedem Menschen ein hinreichendes Maß an Grundgütern, Freiheiten, Lebenschancen etc. zu garantieren. Für die meisten egalitaristischen Gerechtigkeitstheoretiker ist Gleichheit aber keineswegs ein Selbstzweck oder Eigenwert, wie von Nonegalitaristen unterstellt wird. Denn Ungleichheiten können überhaupt nur ethisch relevant sein, wenn sie die Lebensaussichten oder das gute Leben der Einzelnen beeinflussen (vgl. dazu Knell, 577). Schwellenkonzept Levelling-down- Argument 45316_Fenner_SL4b.indd 220 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="221"?> 221 w o h lt ä t I g � E I t Wert: absoluter und unverletzlicher Wert Prinzip: Behandle alle Menschen, die sich in den situationsspezifisch relevanten Gesichtspunkten ähnlich sind, gleich, die sich darin unterscheiden, ungleich! Recht: Recht auf Gerechtigkeit in sozialen Gemeinschaftsformen wie Institutionen (Staat, Schulen) und instrumentellen Vereinigungen (studentische Arbeitsgruppe, Orchester etc.) Pflicht: unbedingte Pflicht in Institutionen, Vereinen, Betrieben etc. Normen: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich zu behandeln! Zahle den Lohn je nach Leistung aus! Verteile die Mahlzeiten je nach Bedürftigkeit! Wohltätigkeit Während Gerechtigkeit als elementar-höchstes Kriterium im zwischenmenschlichen Zusammenleben gilt, bildet Wohltätigkeit das optimal-höchste Kriterium (vgl. Höffe 2004, 29 f.). Der Begriff „Wohltätigkeit“ ist eng verwandt mit „Hilfeleistung“ oder „Fürsorge“ sowie „Wohlwollen“. Anders als die ersten beiden Begriffe betont „Wohlwollen“ weniger das Moment des Handelns als die voluntativ-affektive Komponente. Im Grunde stehen aber alle Bezeichnungen für die ethische Haltung, bei der man das Gute für den anderen um des Guten willen erstrebt. Man kümmert sich also nicht um das Wohl des anderen, um von ihm oder anderen gelobt oder belohnt zu werden, sondern damit es dem anderen wieder besser geht. Das Gebot der Wohltätigkeit steht in der Tradition der christlichen allgemeinen Nächstenliebe, die etwa in der biblischen Parabel vom barmherzigen Samariter Ausdruck findet (vgl. Lukas, 10.30-37). Im Gegensatz zu einer Liebe in gleichrangigen, symmetrischen Beziehungen der Freundschaft oder Partnerschaft betreffen die Zuwendungsformen der Wohltätigkeit oder Fürsorge vorwiegend asymmetrische Verhältnisse wie diejenigen zwischen Wirtschaftsmächten und Entwicklungsländern oder zwischen Eltern und Kindern. Doch wieso sollen wir unseren Nächsten oder sogar Fernsten helfen? Lässt sich aus der Hilfsbedürftigkeit oder dem Wollen der anderen ein moralisches Sollen ableiten? Es ist zwar in der philosophischen Ethik weitgehend unbestritten, dass Menschen im Sinne negativer Pflichten nieman- 7 .4 Wohltätigkeit/ Hilfeleisung/ Fürsorge/ Wohlwollen negative Pflichten Gerechtigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 221 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="222"?> 222 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n dem Schaden zufügen dürfen (vgl. Rawls, 136/ Gosepath, 217): Sie sollen es unterlassen, andere Menschen in ihrer physischen oder psychischen Integrität zu verletzen oder ihnen ihr Eigentum wegzunehmen. Ob es darüber hinaus aber auch positive Pflichten der Wohltätigkeit oder Hilfeleistung gibt, wird kontrovers diskutiert. Anders als bei „negativen“ Pflichten müsste bei „positiven“ nicht nur ein bestimmtes Handeln unterlassen werden, sondern aktiv etwas für die Verbesserung der Lage der Mitmenschen getan werden. Wenn wie im „Libertarismus“ der Wert der Freiheit der Individuen verabsolutiert wird, kann das Unglück oder das Wollen anderer Menschen keine positiven Hilfspflichten rechtfertigen (vgl. dazu Bleisch u. a. 2009, 16 f.). Den anderen Gutes zu tun wird dann häufig statt als „Pflicht“ als „Tugend“ oder als bloß „verdienstvoll“ oder „supererogatorisch“ („übergebührlich“) bezeichnet und dem Prinzip der „Benevolenz“ oder der „charity“ zugeordnet (vgl. ebd., 14/ Gosepath, 217). Nicht anders als bei der Begründung des Gerechtigkeitsprinzips kann man sich aber bei der Begründung positiver Hilfspflichten bzw. des Prinzips Wohltätigkeit auf die moralische Grundforderung des unparteiischen Standpunktes berufen (vgl. Kap. 1.1). Während dieses materielle Kennzeichen der Moral beim Gerechtigkeitsprinzip auf die menschliche Grundsituation der sozialen Interaktion wie Tausch, Verteilung oder Konflikt angewendet wurde, bezieht man es bei der Wohltätigkeit auf die anthropologische Grunderfahrung des Angewiesenseins auf die Hilfe und Unterstützung durch Mitmenschen. Wenn beispielsweise in asymmetrischen Situationen ein Wohlhabender einem Bedürftigen begegnet, soll er sich wie beim Prinzip der „Goldenen Regel“ in den Fremden hineinversetzen und sich fragen: Wie möchte ich behandelt werden, wenn ich mich mit seinen Bedürfnissen und Interessen in seiner Lage befände (vgl. Kap. 6.2)? Keineswegs soll man aber im Zeichen eines bedingungslosen Altruismus die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten derjenigen der Notleidenden vollständig ausblenden. Nachdem man sich unter Zurückstellung der eigenen Interessen imaginativ und emotional auf die fremden Standpunkte eingelassen hat, dürfen vielmehr auch die eigenen wieder ins Blickfeld rücken. Während bei negativen vollkommenen Pflichten wie beim Verbot zu töten die zu unterlassende Handlung klar definiert ist, bleiben unvollkommene Pflichten notwendig offen und erfordern eine Inpositive Pflichten unparteiischer Standpunkt der Moral vollkommene vs. unvollkommene Pflichten 45316_Fenner_SL4b.indd 222 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="223"?> 223 w o h lt ä t I g � E I t teressenabwägung im jeweiligen konkreten Einzelfall (vgl. Kap. 5.2.1/ Gosepath, 218 f.). Obwohl über die ethisch relevanten Kriterien bei der Beurteilung von Notwendigkeit, Art und Ausmaß wohltätiger Handlungen keine Einigkeit besteht, lassen sich einige wichtige Anhaltspunkte für diesen individuellen Abwägungsprozess formulieren: Eindeutig fällt die Interessenabwägung in aller Regel aus, wo sich jemand in einer existenzbedrohlichen Notlage befindet und sich ohne fremde Hilfe nicht aus ihr befreien kann (vgl. Gosepath, 213). Solche typischen asymmetrischen Situationen wären etwa die Notlagen von ertrinkenden oder hungernden Menschen oder von Opfern von Naturkatastrophen oder Gewaltverbrechen. Es werden dann wesentliche menschliche Grundbedürfnisse etwa nach Nahrung, Sicherheit oder physischer und psychischer Integrität verletzt, sodass das pure Überleben oder ein menschenwürdiges Leben in Gefahr sind. Da in solchen existentiellen Notlagen die Interessenabwägung stets zugunsten der Hilfesuchenden ausfallen dürfte, wird eine schadenabwehrende Wohltätigkeit in diesen Fällen zumeist als positive Pflicht angesehen (vgl. ebd., 219). So könnte beispielsweise jemand auf dem Fußweg zu einer Abendesseneinladung von Freunden ein im nahegelegenen See ertrinkendes Kind erblicken. Obwohl er nass und schmutzig wird, womöglich auf das Essen verzichten muss und die Gastgeber über sein Ausbleiben besorgt sind, hat er die Pflicht, das Kind zu retten. Denn der Genuss eines kurzen und prinzipiell wiederholbaren gemeinsamen Abendessens kann nicht den Wert eines menschlichen Lebens aufwiegen und das Unterlassen mit negativen Folgen für andere rechtfertigen. Wenn jemand das vor seinen Augen ertrinkende Kind nicht rettet, trägt er nicht die kausale, aber die normative Verantwortung für die negativen Folgen seines Unterlassens (vgl. Kap. 2.3). Sogar rechtlich gesehen handelte es sich um eine straf bare „unterlassene Hilfeleistung“. Nicht immer fällt die Interessenabwägung so deutlich aus wie bei existenziellen Notlagen, in denen ein Menschenleben oder die menschliche Würde in Gefahr stehen. Stets gilt jedoch der Sollen-Können-Grundsatz, demzufolge jemand immer nur je nach seinen physischen und psychischen Kräften, finanziellen und zeitlichen Mitteln sowie allfälligen anderen Pflichten helfen soll. So hat eine Mutter mit drei kleinen Kindern nicht die schadenabwehrende Wohltätigkeit Sollen-Können- Grundsatz 45316_Fenner_SL4b.indd 223 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="224"?> 224 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n Pflicht, einer alten, gebrechlichen Dame über die Straße zu helfen, auch wenn keine anderen Passanten herbeieilen. Die Sorgepflicht für ihre Kinder ist hier sicherlich vorrangig. Aber auch ein Nichtschwimmer ist schwerlich verpflichtet, ein ertrinkendes Kind zu retten. Denn eine unterlassene Hilfeleistung oder Wohltätigkeit liegt nur da vor, wo jemand tatsächlich die Not des anderen hätte verhindern können. Zudem fällt die Hilfspflicht auch dann grundsätzlich schwächer aus, wenn jemand selbstverschuldet und wissentlich in eine Notsituation geriet (vgl. Gosepath, 229). Steuert beispielsweise ein Geschäftsmann trotz verschiedener Warnungen durch einen Geschäftsfreund infolge seiner Misswirtschaft auf den Konkurs zu, darf er von ebendiesem keine finanzielle Unterstützung mehr erwarten. Auch braucht niemand einem anderen Hilfe zu leisten, der ein unethisches Ziel anstrebt. Gerät etwa ein Ausbeuter in einem fremden Land durch die wachsende öffentliche Kritik und die protestierenden Tagelöhner in Bedrängnis, hat er keinen berechtigten Anspruch auf Hilfeleistung durch die dort stationierten Diplomaten. Noch schwieriger zu beurteilen sind dringliche Notlagen, die nicht im unmittelbaren Nahbereich, sondern weit außerhalb des eigenen Gesichtskreises liegen. Ist jeder wohlhabende Bürger unserer westlichen Industriestaaten dazu verpflichtet, einen großzügigen freiwilligen Beitrag zur Entwicklungshilfe zu leisten oder die Patenschaft eines Kindes in der Dritten Welt zu übernehmen (vgl. Kap. 2.4)? Nach Peter Singer haben die Wohlhabenden eine universelle individuelle Hilfspflicht gegenüber allen Notleidenden auf dieser Welt, solange der dafür in Kauf zu nehmende Schaden den Nutzen der Hilfsbedürftigen nicht übersteigt (vgl. 2009, 48 f.). Statt beispielsweise neue Kleider zu kaufen, die nicht dem dringenden Zweck des unmittelbaren Warmhaltens dienen, soll das Geld einer Hilfsorganisation gespendet werden (vgl. ebd., 43). Ebenso müssten die Bessergestellten auf den Besuch kultureller Anlässe wie Konzerte oder Kinos verzichten und sich stattdessen politisch für die Verbesserung der Lebenssituation der Schlechtergestellten engagieren. Dagegen lässt sich einwenden, dass die räumliche und soziale Distanz sehr wohl ein ethisch relevantes Unterscheidungsmerkmal darstellt (vgl. Bleisch u. a. 2009, 18 ff.): Während im Fall des vor den eigenen Augen ertrinkenden Kindes klar ist, wer wem was schuldet, ist die Not der Menschen auf universelle individuelle Hilfspflicht 45316_Fenner_SL4b.indd 224 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="225"?> 225 w o h lt ä t I g � E I t der ganzen Welt für den Einzelnen unüberschaubar. Der große Spielraum bei der Erfüllung unvollkommener Pflichten wie der Hilfspflicht befreit zwar keineswegs von der Pflicht, auf welche Art auch immer überhaupt zu helfen. Die Verantwortungszuschreibung bei der Wohltätigkeit für Menschen in fernen Ländern ist aber offenkundig viel komplexer als beim ertrinkenden Kind, weil es unzählige Hilfsbedürftige sowie auch potentielle Helfer gibt (vgl. ebd., 21/ Gosepath, 228). Um Kindern in Entwicklungsländern nachhaltig zu helfen, braucht es statt einer einmaligen Aktion letztlich eine langfristige und koordinierte Unterstützung. Da hinter der Not oft tiefgreifende strukturelle Probleme stehen und individuelle Einzelaktionen lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen, scheint die universelle Hilfspflicht eher auf politischer Ebene zu verordnen zu sein. Moralisch verantwortlich für die Verbesserung der Lage der Bedürftigen wäre dann ein Kollektiv wie der Staat, das den Einzelnen einen jeweils angemessenen Anteil der gemeinsamen Mitverantwortung zuweist. Singers Postulat einer universellen individuellen Hilfspflicht scheint eine moralische Überforderung darzustellen, wenn sie von Wohlhabenden einen einschneidenden Lebenswandel und unzumutbare Opfer wie z. B. den Verzicht auf kulturelle Aktivitäten verlangt (vgl. Bleisch u. a. 2009, 13/ Gosepath, 229). Eindeutig zu weit ginge auch das Gebot einer bereichernden Wohltätigkeit, das von Individuen oder Kollektiven eine Steigerung des Wohlergehens der Mitmenschen oberhalb der Schwelle eines menschenwürdigen Lebens fordert (vgl. Knell, 466 f.): Niemand ist generell dazu verpflichtet, Luxuswünsche seiner Mitmenschen wie z. B. nach einer Weltreise zu erfüllen. Wichtige Aspekte bei der Beurteilung sind also die Dringlichkeit der Wohltätigkeit und die Zumutbarkeit der Opfer. Wie die erwähnten Unterscheidungskriterien „elementar“ für Gerechtigkeit und „optimal“ für Wohltätigkeit andeuten, haben die beiden ethischen Prinzipien ein unterschiedliches Gewicht. Während ausbleibende Wohltätigkeit oder Großzügigkeit Enttäuschung hervorruft, lösen Gerechtigkeitsverstöße Empörung oder Protest aus. Das Prinzip Gerechtigkeit rangiert ethisch gesehen höher als das Prinzip Wohltätigkeit, weshalb es im Konfliktfall Vorrang haben sollte (vgl. Höffe 2004, 29). Obgleich gegebenenfalls ein verzweifelter Student seine Bachelorprüfung nur dank Gebot bereichernder Wohltätigkeit Prinzip Gerechtigkeit vs. Wohltätigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 225 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="226"?> 226 w E r t E , p r I n Z I p I E n , r E c h t E u n d n o r � E n einer besseren Note bestünde als er verdient, wäre Wohltätigkeit hier ethisch verwerflich. Denn eine solche Missachtung der für alle Studierenden verbindlichen gleichen Bewertungskriterien für Leistungsnachweise wäre eindeutig ungerecht. Anders als bei der Gerechtigkeit ist bei der Wohltätigkeit ganz allgemein und sogar mit Blick auf spezielle existenziell bedrohliche Notlagen unklar, ob es ein Recht auf Wohltätigkeit gibt. Denn das Prinzip Gerechtigkeit greift im Grunde nur im öffentlichen Rahmen einer Institution oder in anderen sozialen Gemeinschaftsformen, in denen jemand für andere Menschen eine verantwortungsvolle Aufgabe übernimmt oder sich mehrere Personen gegenseitig die kooperative Hinarbeit auf ein bestimmtes Ziel versprechen. Wie gezeigt haben die betroffenen Personen in diesem Rahmen ein Recht auf gerechte Behandlung (vgl. Kap. 2.3). Beim Prinzip Wohltätigkeit bilden aber besondere Beziehungen wie z. B. die typischen „Garantenstellungen“ der Eltern zu ihren Kindern oder des Arztes zu seinen Patienten eher Ausnahmefälle, in denen die „Garanten“ zur Fürsorge verpflichtet sind und die Kinder oder Patienten eindeutig ein Recht auf Wohltätigkeit besitzen (vgl. Kap. 2.4). Abgesehen von einer politischen Institutionalisierung der Hilfeleistung ergibt sich aber die Pflicht zur schadenabwendenden Wohltätigkeit zumeist aus einer aktuellen Notsituation heraus, sodass die Pflichtenträger völlig unbestimmt sind (vgl. Gosepath, 219/ Knell, 463): Der Hilfsbedürftige hat dann kein Recht auf Wohltätigkeit, weil unklar ist, wem gegenüber er ein solches Recht geltend machen könnte. Wert: nach Gerechtigkeit höchster Wert im zwischenmenschlichen Zusammenleben Prinzip: Hilf allen Menschen, die sich in Deiner unmittelbaren Nähe befinden, um ihrer selbst willen (ohne Aussicht auf Belohnung)! Recht: kein Recht, außer in besonderen helfenden Beziehungen (Kinder - Eltern oder Patienten - Arzt) Pflicht: eingeschränkte Pflicht gegenüber Menschen in einer Notlage, sofern dafür kein noch größeres Übel in Kauf genommen werden muss Normen: Rette einen Ertrinkenden! Spende Organe! Gib einem Hungernden zu essen! Recht auf Wohltätigkeit Wohltätigkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 226 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="227"?> 227 w o h lt ä t I g � E I t Übungsaufgaben 1. Was versteht man unter Werten, Prinzipien, Rechten und Normen? Nennen Sie ein Beispiel aus der moralischen Alltagspraxis. 2. Worin unterscheiden sich die Handlungs- und Willensfreiheit und inwiefern sind die beiden Freiheitsformen moralisch relevant? 3. In welcher Rangfolge stehen das Prinzip Gerechtigkeit und das Prinzip Wohltätigkeit und mit welchen Rechten und Pflichten sind sie verbunden? Literatur Bleisch, Barbara und Schaber, Peter: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Weltarmut und Ethik, 2. durchges. Aufl., Paderborn 2009, S. 9-36. Frankfurt, Harry: Freiheit und Selbstbestimmung, Ausgewählte Texte hrsg. von Betzler, Monika und Guckes, Barbara, Berlin 2001. Gosepath, Stefan: Notlagen und institutionell basierte Hilfspflichten, in: Bleisch, Barbara und Schaber, Peter (Hrsg.): Weltarmut und Ethik, 2. durchges. Aufl., Paderborn 2009, S. 213-246. Krebs, Angelika (Hrsg ): Gleichheit oder Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2000. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/ New York 1992. Wildfeuer, Armin G : Freiheit, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2011, S. 358-365. 45316_Fenner_SL4b.indd 227 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="228"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 228 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="229"?> 229 Kritik an der rationalistischen Ethik Inhalt 8.1 Nonkognitivismus: Nichtbegründbarkeit normativer Aussagen 8.2 Traditionsrelativismus: Unmöglichkeit einer universellen Moral 8.3 Gefühlsethik: Vernachlässigung der motivationalen Grundlage 8.4 Moralerziehung: Vernachlässigung der Moralpsychologie Zusammenfassung Im letzten Kapitel kommt die Kritik an der in der Neuzeit dominierenden Form einer rationalistischen Ethik zu Wort, die sich ausschließlich an die menschliche Vernunft und ihre Einsichtsfähigkeit richtet und moralische Urteile und Prinzipien allein mittels diskursiv-rationaler Argumentation begründen zu können meint. Im Gegensatz zum Kognitivismus, dem alle bislang vorgestellten Theorien zuzuordnen sind, bestreitet der Nonkognitivismus, dass normative Aussagen sich rational begründen lassen (8.1), und der Traditionsrelativismus hält sie nur innerhalb einer Tradition oder kulturellen Gemeinschaft für begründbar (8.2). Da die Kluft zwischen der moralischen Einsicht und dem tatsächlichen Handeln der Menschen im Alltag oft groß ist, weist die Gefühlsethik auf die von der rationalistischen Ethik vernachlässigten Gefühle als motivationale Grundlage hin (8.3) und die Moralpädagogik oder Moralerziehung beschäftigt sich mit dem Erwerb der für moralisches Handeln entscheidenden Fähigkeiten und Handlungsdispositionen (8.4). 8 45316_Fenner_SL4b.indd 229 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="230"?> 230 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � In ihrem „Mainstream“ ist die neuzeitliche philosophische Ethik insofern eine rationalistische Ethik, als sie die Einsicht in die moralische Richtigkeit von Normen und Prinzipien ausschließlich mittels der menschlichen Vernunft (lat. „ratio“) für möglich hält. Deren Begründung und Legitimation soll allein über allgemein einsehbare diskursiv-rationale Argumente erfolgen, ganz unabhängig von subjektiven Gefühlen oder Intuitionen und traditionellen, religiösen oder weltanschaulichen Menschenbildern oder Orientierungssystemen. Seitens einiger Philosophen und v. a. Theologen wird jedoch immer wieder Kritik laut an diesem Anspruch der Vernunft, einen ungebundenen, perspektivenfreien, universellen Standpunkt der Moral einnehmen und alleinige Quelle einer ethischen Orientierung der Menschen sein zu können (vgl. Herms, 527). Zweifellos trifft es zu, dass auch eine philosophisch-säkulare rationalistische Ethik auf einem bestimmten, stark von der philosophischen Auf klärung geprägten Welt- und Menschenbild basiert und diese Denkvoraussetzungen offenlegen sollte. Es handelt sich aber lediglich um ein ganz elementares Vorverständnis von Mensch und Welt, das heute auch unter den meisten religiösen Menschen konsensfähig sein dürfte (vgl. Fenner 2016, 67 ff.): Eine rationalistische Ethik stützt sich bei anwendungsorientierten Urteilen und Normen auf wissenschaftliche Erkenntnisse und setzt ein wissenschaftliches Weltbild voraus, weil sich ein methodisch gesichertes und intersubjektiv überprüftes Wissen als am zuverlässigsten bei der Erklärung der Welt und der Lösung praktischer Probleme erwies. Darüber hinaus werden Menschen als rationale, autonome Subjekte angesehen, die prinzipiell in der Lage sind, sich auf der Basis vernünftiger Überlegungen für bestimmte Handlungsziele zu entscheiden und deren Verwirklichung einzuleiten (vgl. Kap. 7.2). Keineswegs wird aber bei dieser minimalanthropologischen These unter einem „autonomen Subjekt“ wie von den Kritikern unterstellt eine völlig ungebundene, geschichts- und gemeinschaftslose reine Vernunftinstanz verstanden, die zweifellos eine reine Fiktion darstellte. Gemeint ist lediglich, dass der Mensch aufgrund seiner Ref lexionsfähigkeit mehr ist als ein bloßes Trieb- und Gesellschaftswesen und weder von inneren Neigungen noch äußerem Sozialisationsdruck völlig determiniert wird. Leugnete man die typisch menschlichen Fähigkeiten zur Ref lexion und bewertenden Stelrationalistische Ethik aufklärerisches Welt- und Menschenbild wissenschaftliches Weltbild rationale, autonome Subjekte 45316_Fenner_SL4b.indd 230 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="231"?> 231 w o h lt ä t I g � E I t lungnahme zu den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und sozialen Prägungen sowie die Fähigkeit zum Handeln nach Gründen, gäbe es keine Zurechenbarkeit von Handlungen und keine Verantwortlichkeit für sein Tun. Wenn sich eine begründungsorientierte und handlungszentrierte neuzeitliche Ethik aber auf das Begründen allgemeiner Prinzipien für die Bewertung von Handlungen beschränkt und sich ausschließlich an die menschliche Vernunft richtet, hat sie ein Motivationsproblem. Denn der Mensch ist kein reines Vernunftwesen, sondern ein naturales Lebewesen mit mannigfaltigen Bedürfnissen, Gefühlen und darauf basierenden Interessen. Zudem ist er eingebunden in ein soziales Umfeld, von dem er in seinem Selbstbild und seinen Bewertungsmaßstäben wesentlich beeinflusst wird. Durch die Vernachlässigung von persönlichen Gefühlen, Werthaltungen, sozialen Beziehungen und kulturellen Gepflogenheiten droht die rationalistische Ethik völlig wirkungslos zu bleiben. Sie verfehlte damit das schon von Aristoteles formulierte Ziel der Ethik, die Menschen moralisch besser zu machen: Ethik betreibe man nicht, um zu wissen, was gut ist, sondern um ein besserer Mensch zu werden (vgl. Aristoteles 1103b, 27). Die moralische Alltagspraxis zeigt, dass die Kluft zwischen moralischer Einsicht und moralisch richtigem Handeln oft groß ist. So haben mittlerweile fast alle Menschen erkannt, dass die Ausbeutung der Natur und die Klimaerwärmung gestoppt werden sollten, aber bei Weitem nicht alle handeln entsprechend dieser Einsicht. Im Gegensatz zur neuzeitlichen Ethik war die antike Ethik wesentlich handlungsleitend und personenzentriert, weil sie auf die Veränderung der Persönlichkeit zielte und mithilfe mentaler und praktischer Übungen aus philosophischen Anfängern oder „Toren“ philosophische „Weise“ machen wollte (vgl. Horn 1998, Kap. 1; 5). Während Philosophie damals als eine Lebensform und Seelentherapie verstanden wurde und das Handeln der Menschen leiten sollte, erwartet heute von einem Ethikprofessor niemand mehr eine besondere Charakterbildung oder Lebensführung. neuzeitliche Ethik: begründungsorientiert und handlungszentriert antike Ethik: handlungsleitend und personenzentriert 45316_Fenner_SL4b.indd 231 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="232"?> 232 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Antike Ethik: Moderne Ethik: • handlungsleitend und personenzentriert • Ziel : Änderung der Persönlichkeit und ihrer Lebensform mittels Charakterbildung und Übungen • begründungsorientiert und handlungszentriert • Ziel : theoretische Begründung ethischer Handlungsprinzipien ohne Persönlichkeitsbildung, allenfalls Einüben in ethisches Argumentieren Innerhalb der philosophischen Ethik gibt es aber viele kritische Gegenströmungen gegen die einseitige Ausrichtung der rationalistischen neuzeitlichen Ethik auf die bestmöglichen Begründungsverfahren zum Aufweis der richtigen menschlichen Handlungsweisen, die in diesem Kapitel diskutiert werden sollen. Bereits vorweggenommen wurde die heute eine Renaissance erlebende Tugendethik, die großen Wert auf die Charakterbildung und den Erwerb von festen Grundhaltungen wie Besonnenheit, Mäßigung und Willensstärke legt (vgl. Kap. 6.3). Ganz radikal in Frage gestellt wird die rationalistische oder „kognitivistische“ Ethik aber durch den Nonkognitivismus, der schon die rationale Begründbarkeit normativer Aussagen leugnet (vgl. Kap. 8.1). Ähnlich weisen der Traditionsrelativismus und die kommunitaristische Ethik den von der rationalistischen Ethik erhobenen Universalitätsanspruch von Normen und Prinzipien zurück, weil diese immer schon in tradierte Praktiken eingebettet seien und nur für die jeweilige soziale Gemeinschaft Gültigkeit hätten (Kap. 8.2). Die Gefühlsethik widmet sich der Rolle der in der rationalistischen Philosophie stiefmütterlich behandelten Gefühle, die eine wichtige motivationale Grundlage des Handelns bilden können (Kap. 8.3). Schließlich wird auch vermehrt das Themendefizit der Moralerziehung in der gegenwärtigen Ethik bemängelt, weil eine erfolgreiche Veränderung menschlicher Einstellungsweisen und Handlungsdispositionen den Miteinbezug moralpsychologischer und moralpädagogischer Erkenntnisse voraussetzt (Kap. 8.4). Gegenströmungen zu rationalistischer Ethik antike/ moderne Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 232 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="233"?> 233 w o h lt ä t I g � E I t Nonkognitivismus: Nichtbegründbarkeit normativer Aussagen Anschauungsbeispiel Andrea ist ungewollt schwanger und hat sich soeben vom Erzeuger des Kindes getrennt. Sie erwägt eine Abtreibung, um ihre gerade beginnende berufliche Karriere nicht zu gefährden. Zudem rechnet sie sich aus, ohne Kind leichter einen Partner zu finden, mit dem sie später eine Familie gründen könnte. Sie bespricht sich mit zwei Freundinnen: Christiane , die selbst in einer ungewollt kinderlosen Partnerschaft lebt, rät ihr vehement davon ab, die Schwangerschaft zu beenden. Nur wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr steht, gibt es ihrer Ansicht nach einen legitimen Grund für das Töten eines beginnenden menschlichen Lebens. Barbara , die nach einem abgeschlossenen Studium erfolgreich eine berufliche Laufbahn in Angriff genommen hat, rät ihr mit derselben Emphase zu einer Abtreibung. Denn sie ist überzeugt, ein Kind würde zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen sowohl Andreas berufliche als auch private Perspektive erheblich verschlechtern. (nach Quante, 41 f.) Das Gespräch mit ihren Freundinnen erweckt bei Andrea den Eindruck, beide würden lediglich ihre persönlichen Wertvorstellungen und Wünsche in Bezug auf ihr eigenes Leben äußern. Es stellt sich bei ihr Unbehagen ein, weil solche subjektiven Ratschläge ihr keine wirkliche Hilfe bei der Beantwortung der Frage „Wie soll ich handeln? “ sind. Es kommen in ihr sogar Zweifel auf, ob es überhaupt allgemeine ethische Beurteilungskriterien oder Prinzipien für menschliches Handeln gibt. Gemäß einem weit verbreiteten Verdacht kann es in der Ethik gar keine objektiv richtigen oder wahrheitsfähigen Aussagen geben, sondern lediglich subjektive und relative Meinungen (vgl. Bleisch u. a. 2011, 6; 114 f.). Zu gesichertem Wissen scheint man nur in den Naturwissenschaften gelangen zu können, wo Thesen über empirische Tatsachen anhand von objektivierbaren Methoden und Experimenten intersubjektiv überprüft werden können. Gemäß der wissenschaftstheoretischen Position des logischen Empirismus oder Positivismus der 1920er Jahre sind neben empirischen Tat- 8 .1 45316_Fenner_SL4b.indd 233 05.03.2020 12: 20: 33 <?page no="234"?> 234 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � sachenaussagen nur noch logische Sätze wie „Der Kreis ist rund“ überhaupt sinnvoll. Entsprechend schrieb Ludwig Wittgenstein, einer ihrer Väter: „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben“ (6.4.2). Innerhalb der Ethik ist es die Metaethik, die sich mit der Frage nach der Begründbarkeit von ethischen Prinzipien und dem Status und der objektiven Gültigkeit von normativen Aussagen beschäftigt (vgl. Kap. 1.2). Eine ihrer wichtigsten Unterscheidungen ist diejenige zwischen „Kognitivismus“ und „Nonkognitivismus“, abgeleitet vom lateinischen Begriff „cognitio“ für „Erkenntnis“. Alle bisher vorgestellten ethischen Theorien sind dem Kognitivismus zuzuordnen, weil ihnen zufolge moralische Urteile einen kognitiven Gehalt haben und rational begründbar und wahrheitsfähig sind. Genauso wie auch die Argumentationstheorien setzen diese Moraltheorien immer schon voraus, dass normative Aussagen Behauptungen mit einem Geltungsanspruch auf Wahrheit bzw. genauer auf normative Richtigkeit darstellen (vgl. Kap. 3). Da der Objektivitätsanspruch von normativem Wissen im Bereich der praktischen Philosophie ein gänzlich anderer ist als derjenige von empirischem Wissen in den Naturwissenschaften, wird der Wahrheitsbegriff dabei nur in einem analogen Sinn verwendet. Im Gegensatz zum Kognitivismus bestreitet der in diesem Kapitel im Zentrum stehende Nonkognitivismus, dass es sich bei normativen Äußerungen um rational begründbare und wahrheitsfähige Behauptungen handelt. Dieser Position zufolge sehen sie zwar auf den ersten Blick aus wie Behauptungen mit einem objektiven Wahrheitsanspruch, aber genau besehen verfolgt jemand mit solchen Äußerungen im Gespräch vielmehr ganz verschiedene sprachpragmatische Funktionen: Gemäß der etwa von Alfred Ayer vertretenen nonkognitivistischen Variante des Emotivismus haben normative Aussagen einen affektiven Gehalt und dienen dazu, subjektive Gefühle der Zustimmung oder Ablehnung des Sprechers zum Ausdruck zu bringen (vgl. Ayer, 141). Sie können daher weder wahr noch falsch sein, sondern nur aufrichtig oder unaufrichtig. So werden beispielsweise mit dem Urteil „Stehlen ist verboten“ nur subjektive Gefühle der Missbilligung, Verabscheuung oder des Entsetzens bekundet, weshalb der Emotivismus bisweilen auch als „Boo-and-hooray-ethics“ bezeichnet wird. Charles Stevenson als weiterer Vertreter hebt Metaethik Kognitivismus Nonkognitivismus Emotivismus 45316_Fenner_SL4b.indd 234 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="235"?> 235 w o h lt ä t I g � E I t die appellative und suggestive Komponente solcher Gefühlsäußerungen hervor, mit denen die Sprecher die Gefühle und Motivlagen der Adressaten beeinflussen wollen (vgl. Stevenson, 121 f.). Im erwähnten Beispiel würde also implizit mitgeteilt: „Du sollst Stehlen auch entsetzlich finden und dies entsprechend unterlassen! “. Beim wesentlich von Richard Hare geprägten Präskriptivismus (zu lat. „präscribere“: „vorschreiben“) werden normative Aussagen demgegenüber als Vorschriften oder Befehle an die Gesprächspartner interpretiert, die genauso wenig wie Gefühlsbekundungen wahr oder falsch sein können (vgl. Hare 1997, 19 f.). „Stehlen ist verboten“ meint dann nichts anderes als „Stehle nicht! “ oder „Ich befehle Dir, nicht zu stehlen! “. Kognitivismus: Normative Aussagen sind Behauptungen, die wahrheitsfähig und rational begründbar sind. Nonkognitivismus: Normative Äußerungen sind keine wahrheitsfähigen und rational begründbaren Behauptungen, sondern haben eine sprachpragmatische Funktion wie das Ausdrücken von Gefühlen, das Appellieren oder Befehlen. Beispiele prominenter nonkognitivistischer Positionen: - Emotivismus: Normative Aussagen bringen Gefühle zum Ausdruck. - Präskriptivismus: Normative Aussagen sind Vorschriften, Befehle. Anschauungsbeispiel Normative Aussage: „Stehlen ist unfair! “ Emotivismus: „Ich finde Stehlen entsetzlich! “ Präskriptivismus: „Ich fordere Dich auf, nicht zu stehlen! “ Diese radikalen nonkognitivistischen Positionen haben in der Gegenwartsphilosophie nur noch wenige Anhänger. Auch wenn ethische Diskussionen zweifellos häufig sehr emotional geführt werden und moralische Urteile immer auch appellative und prä- Präskriptivismus Definitionen 45316_Fenner_SL4b.indd 235 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="236"?> 236 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � skriptive Komponenten enthalten, lassen sie sich schwerlich auf diese Aspekte reduzieren. Mit Blick auf die gesamte moralische Sprachpraxis lässt sich kaum bestreiten, dass beim Miteinander- Argumentieren stets Ansprüche auf objektive Gültigkeit bzw. normative Richtigkeit erhoben werden. Gesellschaftliche und politische Diskussionen genauso wie Fachdiskurse über ethische Streitfragen wären schlechterdings sinnlos unter der Annahme, die Gesprächsbeiträge stellten nichts anderes dar als Gefühlsbekundungen oder Befehle. Wenn etwa Andrea aus dem eingangs geschilderten Anschauungsbeispiel bei der Abtreibungsfrage von ihren Freundinnen nur subjektive, biographisch geprägte Stellungnahmen zu hören bekommt oder in öffentlichen gesellschaftlichen Diskussionen die verschiedenen Meinungen dazu heftig und ohne Einigung aufeinanderprallen, löst dies zwar Enttäuschungen aus. Gerade diese Enttäuschungsreaktionen zeigen aber an, wie sehr wir von der intersubjektiven Begründbarkeit moralischer Normen überzeugt sind. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein starkes, logisch zwingendes Argument für den Kognitivismus, sondern nur um ein schwaches Plausibilitätsargument. Denn der Glaube an die Objektivität und Begründbarkeit von moralischen Normen oder Urteilen könnte gleichwohl ein „Irrtum“ sein, wie es der gegenwärtig etwa von John Mackie vertretene moralische Skeptizismus behauptet (vgl. Mackie, 50): Er erblickt einen wesentlichen Grund für diese irrtümliche Annahme im starken sozialen Druck, der beim Lernen moralischer Gebote und Verbote auf die Heranwachsenden ausgeübt wird. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass der Schluss von einer zweifelhaften Genese moralischer Überzeugungen mittels Indoktrination auf einen fragwürdigen Geltungs- und Begründungsanspruch dieser Überzeugungen einen „genetischen Fehlschluss“ darstellt. Mackie führt außerdem noch das „Argument der Relativität“ an, bei dem es um den im folgenden Kapitel zu erläuternden ethischen Relativismus geht (vgl. ebd., 40 f.). Plausibilitätsargument moralicher Skeptizismus 45316_Fenner_SL4b.indd 236 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="237"?> 237 t r a d I t I o n � r E l a t I V I � � u � : u n � ö g l I c h � E I t E I n E r u n I V E r � E l l E n � o r a l Kritik Plausibilitätsargument : Seit Jahrtausenden geführte rationale Diskussionen in Ethik und Recht darüber, wie wir handeln sollen, wären absurd. Traditionsrelativismus: Unmöglichkeit einer universellen Moral Anschauungsbeispiele: deskriptiver Relativismus Anschauungsbeispiel 1: Bei den Inuit gab es die Tradition, alte und schwache Menschen zu töten. Man wollte damit unter der Bedingung extremer Lebensmittelknappheit den restlichen Stammesmitgliedern das Überleben sichern. Anschauungsbeispiel 2: In ländlichen Gebieten Indiens ist Frauen während der Menstruation der Zutritt zur Küche und zu ihrem Arbeitsplatz verwehrt. Denn die Frauen gelten als „unrein“ und man fürchtet die Verunreinigung durch ihr Blut. Genauso alt wie die Ethik selbst sind die Zweifel an der universellen Gültigkeit der Moral und die Erfahrung ihrer Relativität, wie sie im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Sophisten formulierten: Moralische Normen seien von Menschen für Menschen gemacht, sodass der Mensch auch in Sachen Moral das „Maß der Dinge“ sei (Protagoras). Die relativistische Kritik an einer rationalistischen Ethik richtet sich damit gegen den metaethischen Universalismus, demzufolge moralische Normen allgemein gültig sind und unabhängig vom persönlichen Standpunkt und Kontext für alle nachvollziehbar begründet werden können (vgl. Düwell u. a. 2011, 15). Dem hält der metaethische Relativismus entgegen, moralische Urteile und Normen seien nicht an sich richtig oder falsch und hätten keinen universellen Geltungsanspruch, sondern seien immer nur für eine bestimmte Person, traditionelle Gemeinschaft oder Kultur richtig und gültig (vgl. 8 .2 metaethischer Universalismus metaethischer Relativismus 45316_Fenner_SL4b.indd 237 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="238"?> 238 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Rippe, 498; 500). Zumeist stützt sich der metaethische Relativismus auf die ethnologische oder soziologische Position des deskriptiven Relativismus mit seiner These, dass es eine nichtreduzierbare Vielfalt an moralischen Überzeugungen verschiedener Personen, Gruppen oder Traditionen gibt. Obwohl eine faktische Vielfalt an Moralvorstellungen und ein Dissens in vielen ethischen Fragen kaum sinnvoll bestritten werden können, wäre jedoch deren Reichweite genauer zu prüfen (vgl. Hübner, 65/ Bleisch 2011, 120). Denn es besteht eine große Übereinstimmung in grundlegenden Prinzipien und Werten wie Würde, Gerechtigkeit, Tötungs-, Lüge- und Betrugsverbot, und divergierende moralische Normen lassen sich teilweise auf tieferliegende Basisnormen oder Werte zurückführen. Kulturrelative Konkretisierungs- und Umsetzungsweisen derselben Prinzipien können häufig durch das Studium der verschiedenen traditionellen Lebenseinstellungen, Welt- und Menschenbilder erklärt werden. So widerspricht das Handeln der Inuit aus Anschauungsbeispiel 1 nicht unbedingt dem allgemeinen Gebot des Respekts vor älteren Menschen, wenn die winterliche Extremsituation der Nahrungsmittelknappheit und der für Ältere unzumutbar gewordenen Nahrungssuche sowie auch der starke Glaube an ein Leben nach dem Tod berücksichtigt werden. Aber selbst wenn die empirisch vorgefundene kulturelle Vielfalt an Moralvorstellungen sich nicht reduzieren ließe, beweist dies noch lange nicht die Richtigkeit des metaethischen Relativismus und damit die kulturrelative Geltung aller moralischer Normen. Denn es könnte vielmehr sein, dass nur eine der vorhandenen moralischen Überzeugungen wahr oder objektiv richtig ist und alle anderen Irrtümer darstellten. Normativer Relativismus: Traditions- oder Kulturrelativismus Der ethische Relativismus in einem engeren Sinn ist normativ und damit eine Position der normativen Ethik. Da sich der „normative Relativismus“ in aller Regel auf unterschiedliche Normen und Werte in verschiedenen Traditionen oder Kulturen bezieht, wird er auch als „Traditions-“ oder „Kulturrelativismus“ bezeichnet. Dem normativen Relativismus, Traditions- oder Kulturrelativismus zufolge ist dasjenige Handeln gut, das in der jeweiligen Gemeinschaft, Tradition oder Kultur des Handelnden als deskriptiver Relativismus normativer Relativismus (Traditions-/ Kulturrelativismus) 45316_Fenner_SL4b.indd 238 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="239"?> 239 t r a d I t I o n � r E l a t I V I � � u � : u n � ö g l I c h � E I t E I n E r u n I V E r � E l l E n � o r a l richtig gilt. Daraus leitet sich zum einen die Forderung ab, gemäß den traditionseigenen normativen Standards zu urteilen und zu handeln. Zum anderen ist der normative Relativismus mit dem Verbot der Nichteinmischung in andere Traditionen verknüpft, weil die Angehörigen einer anderen Kultur ihr Handeln ebenso an den ethischen Maßstäben der eigenen Gemeinschaft orientieren sollen. Daher wäre es moralisch falsch, Handlungsweisen von Menschen eines anderen Kulturkreises von außen nach traditionsfremden Prinzipien zu bewerten. Man hätte also beispielsweise nicht das Recht, vor dem westlichen kulturellen Hintergrund das Töten alter Menschen bei den Inuit als entwürdigend oder den Ausschluss der menstruierenden Frauen in Indien als diskriminierend zu verurteilen. Die Relativisten fordern daher Toleranz, wodurch sie viele Sympathien gewinnen. Genau besehen ist aber ein solches allgemeines Toleranzgebot inkonsistent. Denn damit wird ein universeller Geltungsanspruch erhoben, den es anders als im Universalismus im ethischen Relativismus eigentlich gar nicht geben kann (vgl. Rippe, 498). Vielmehr müsste ein Relativist sogar tolerieren, wenn Mitglieder einer anderen Kultur den normativen Relativismus ablehnen und ihre Normen anderen Gruppen mit Gewalt aufoktroyieren. Konsequenterweise müsste auch auf einen Katalog von grundlegenden Menschenrechten verzichtet werden, wodurch internationalen Menschenrechtsorganisationen mit ihrem Kampf z. B. für die Chancengleichheit der Frauen oder menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Menschen auf der Welt die Legitimationsbasis entzogen wäre. Häufig wird der ethische Relativismus dem Nonkognitivismus zugerechnet, weil er keine universellen traditionsunabhängigen Rationalitätsmaßstäbe oder Begründungsverfahren akzeptiert und moralische Normen als Ausdruck kultureller Gepflogenheiten betrachtet (vgl. Hübner, 53). Ein metaethischer und normativer Relativist leugnet aber nicht zwangsläufig die Möglichkeit der rationalen Begründbarkeit und Richtigkeit moralischer Normen, sondern schränkt den Anspruch auf ihre Geltung und Richtigkeit nur ein auf die Grenzen der jeweiligen Kultur. Nichteinmischungsgebot Toleranzforderung Kritik Nonkognitivismus/ Kognitivismus eingeschränkter Begründbarkeitsanspruch 45316_Fenner_SL4b.indd 239 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="240"?> 240 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Ethischer Relativismus (Nonkognitivismus bzw. eingeschränkter Kognitivismus): Deskriptiver Relativismus : Es existiert faktisch eine Vielzahl verschiedener ethischer Überzeugungen in unterschiedlichen Gruppen und Traditionen, die sich nicht reduzieren lässt. Metaethischer Relativismus : Keine Normen oder Werte sind universell gültig und objektiv richtig, sondern sie sind lediglich relativ, nur gültig für eine bestimmte Gemeinschaft, Kultur oder Epoche. Normativer (Traditions-/ Kultur)Relativismus : Jeder soll nach den Normen und Werten urteilen und handeln, die in seiner Tradition oder Gesellschaft als richtig gelten. Niemand darf sich in Handlungsweisen fremder Kulturen einmischen, sondern erforderlich ist Toleranz. In der Philosophie ist es der Kommunitarismus, der in Opposition zum neuzeitlich-aufgeklärten „Liberalismus“ die Bedeutung überschaubarer, traditionell geeinter Gemeinschaften („Kommunen“) für die moralische Identität und Moralität der Einzelnen betont: Nur die in einer Gemeinschaft gelebten, in traditioneller kollektiver Praxis befolgten und kontrollierten Normen dürfen als begründet gelten und können den Mitgliedern Orientierungshilfe leisten (vgl. MacIntyre, Kap. 15/ Taylor, 15-64). Hingegen zersetzen aus kommunitaristischer Sicht sowohl die dem Projekt der Auf klärung entspringenden abstrakten universalistischen Formen der Moralbegründung als auch der emotivistische Subjektivismus des 20. Jahrhunderts den notwendigen tradierten moralischen Rahmen. Angesichts des konservativen Festhaltens an gewachsenen Traditionen droht zwar die Gefahr eines repressiven ethischen Konventionalismus, der die faktisch tradierten Normen für die richtigen erklärt und von allen Mitgliedern blinde Unterwerfung fordert (vgl. Kap. 6.3). Es führt aber keineswegs notwendig zum moralischen Skeptizismus und Subjektivismus eines Nonkognitivismus, wenn Kommunitarier den Glauben an apriorische universelle Normen aufgegeben haben und die Kontext- und Praxisabhängigkeit solcher Normen betonen. Es bleibt vielmehr die Möglichkeit des Austausches von Gründen und Ar- Definitionen Kommunitarismus 45316_Fenner_SL4b.indd 240 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="241"?> 241 t r a d I t I o n � r E l a t I V I � � u � : u n � ö g l I c h � E I t E I n E r u n I V E r � E l l E n � o r a l gumenten sowie von Erfahrungen bezüglich menschlicher Lebensformen, Krisen und Konflikte, auch über kulturelle Grenzen hinweg (vgl. Nussbaum, 206 f.). Im Gegensatz zu einem radikalen ethnologischen oder sprachphilosophischen Kulturrelativismus würde sich mit Blick auf Anschauungsbeispiel 2 kaum ein Kommunitarier für das Arbeitsverbot der menstruierenden indischen Frauen als eine erhaltenswerte lokale Tradition einsetzen. Vielmehr plädiert insbesondere die Kommunitarierin Martha Nussbaum bei ihrem entwicklungspolitischen Engagement dafür, benachteiligte und schlechter ausgebildete Minderheiten oder Volksgruppen erst einmal „aufzuklären“ und mit den fehlenden Grundgütern zu versorgen (vgl. ebd., 198 ff.). Bezüglich obiger Anschauungsbeispiele wäre es also ethisch geboten, den Inuit ausreichende Nahrungsmittel zukommen zu lassen, sodass sich das Töten der Alten erübrigte. Den indischen Frauen müssten sichere hygienische Binden zur Verfügung gestellt, ihr Selbstbewusstsein als Frauen gestärkt und ihre Kenntnisse über den Menstruationszyklus verbessert werden. Da man ihnen aber nicht im Zeichen eines überheblichen Eurozentrismus eine fremde Kultur überstülpen darf, bliebe es den betroffenen Gruppen freigestellt, sich weiterhin an die tradierten Normen zu halten, sie zu verwerfen oder zu modifizieren. Die mit einem radikalen Traditionsrelativismus verbundenen Probleme treten deutlicher hervor, seit sich die Konfliktpotentiale zwischen verschiedenen religiösen und kulturellen Gemeinschaften infolge zunehmender Migrationsbewegungen verschärfen. Denn ohne ein Minimum an kultureller Homogenität und gemeinsamen moralischen Basisnormen droht die Segregation von Minderheitskulturen und die Bildung von Parallelgesellschaften, die sich an ihren eigenen Werten und Handlungsvorschriften orientieren (vgl. Fenner 2016, 235). Die für ein friedliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft unabdingbaren allgemeingültigen Gesetze und moralischen Normen lassen sich aber in einer liberalen säkularen Demokratie nur mithilfe allgemein verständlicher Gründe und Argumente rechtfertigen, die keine spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrundannahmen voraussetzen (vgl. ebd., 219). Wenn also beispielsweise in Deutschland immer mehr Jungen und Mädchen beschnitten und als Minderjährige zwangsverheiratet werden, Kritik Gefahr Parallelgesellschaften 45316_Fenner_SL4b.indd 241 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="242"?> 242 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � reichen für die Legitimation dieser fragwürdigen Praxis kulturrelativistische Argumente der Wahrung identitätsstiftender Traditionen nicht aus. Auch das geltende Recht auf Religionsfreiheit erlaubt religiösen Menschen kein Handeln, gegen das starke ethische Argumente wie die Wahrung des Kindeswohls oder des öffentlichen Friedens sprechen und das aus diesen Gründen allgemein verboten ist. Blinde Toleranz und ein Schweige- und Nichteinmischungsgebot scheinen aber selbst da ethisch unzulässig, wo außerhalb des eigenen Kulturkreises Minderheiten oder ganze Völker unterdrückt werden. Angebracht ist vielmehr eine kritische Intoleranz, die fremde Kulturen zum Gespräch herausfordert (vgl. Pieper 2017, 44). Wo der interkulturelle Diskurs verweigert wird und alle Argumente auf dogmatische Verabsolutierung der kulturellen oder religiösen Überzeugungen stoßen, sind Protest und gegebenenfalls Sanktionen legitim. Oftmals ist es dabei wirkungsvoller, das kritische Bewusstsein der Mitglieder der betreffenden Kultur selbst zu stärken oder wie oben dargelegt deren Lebensbedingungen zu verbessern. Ethisch erforderlich ist also weniger unkritische Toleranz als vielmehr allseitige Offenheit für einen interkulturellen Diskurs über das, was für alle Menschen an Grundgütern und Rechten unverzichtbar ist. Denn nur durch ein Miteinander-Argumentieren lassen sich Normen für ein konfliktfreies Zusammenleben, für internationalen Frieden und globale Gerechtigkeit begründen. Dabei ist diese Begründung ethischer Normen und Prinzipien etwas prinzipiell anderes als ihre faktische Geltung in einem kulturellen oder interkulturellen Kontext. Kritik • universeller Geltungsanspruch des Toleranzgebots widersprüchlich: alle Verstöße gegen moralische Normen durch Angehörige fremder Kulturen müssten toleriert werden • keine universellen Menschenrechte und kein interkultureller Diskurs zur Sicherung von Frieden und globaler Gerechtigkeit notwendig: kritische Intoleranz interkultureller Diskurs 45316_Fenner_SL4b.indd 242 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="243"?> 243 g E f ü h l � E t h I � : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o t I V a t I o n a l E n g r u n d l a g E Gefühlsethik: Vernachlässigung der motivationalen Grundlage Da sich die neuzeitliche rationalistische Ethik ganz auf die Begründung ethischer Kriterien und Prinzipien konzentriert, geraten Gefühle und Intuitionen aus dem Blickfeld. Denn für solche rationalen Begründungsverfahren sind nur allgemein einsehbare Vernunftgründe und -argumente zulässig, nicht aber subjektive und „kontingente“ (zufällige) Gründe. Kritiker der rationalistischen Ethik machen jedoch darauf aufmerksam, dass die Vorstellungen und Erkenntnisse der Vernunft ohne Gefühle kraftlos und leer sind: Ohne die motivationale Kraft oder den Antrieb der Gefühle lasse sich die Kluft zwischen moralischem Wissen und Handeln gar nicht überbrücken. Nach David Hume beispielsweise ist die Vernunft überhaupt nur „Sklave der Affekte“ und kann daher unmöglich von sich aus zu moralischem Handeln motivieren (Hume 1978, 153). Sicherlich haben alle schon die Erfahrung gemacht, dass die eigene Gefühlslage in Spannung steht zu den rationalen Einsichten. Obgleich man weiß, was in einer bestimmten Situation ethisch richtig ist, tut man es z. B. nicht aus Angst, Eigenliebe oder gekränkter Ehre. Kant hat bei seinem dualistischen Ansatz den Widerstreit zwischen moralischer Pflicht und sinnlich-affektiver Neigung drastisch illustriert (vgl. GMS, BA 11 f.). In der Ethik gibt es zwei gegensätzliche Positionen zur Frage, ob rationale Gründe zum Handeln motivieren können: Gemäß dem Internalismus gibt es eine innere oder „interne“ Verbindung zwischen dem Überzeugtsein von rationalen Gründen und starken Motiven, diesen entsprechend zu handeln. Demgegenüber ist diese Verbindung laut Externalismus nicht notwendig, sondern nur kontingent, sodass es zur Ausführung der Handlung zusätzlich noch „externer“ Motive wie Furcht vor Sanktionen oder Hoffnung auf Anerkennung durch die Gemeinschaft bedarf (vgl. Scarano, 450 f.). Auch wenn sich moralische Gründe sicherlich nicht automatisch in Motive transformieren und z. B. durch entgegenstehende egoistische Motive durchkreuzt werden können, versuchen wir im Alltag mit größerem oder geringerem Erfolg, unser Handeln und dasjenige anderer mit Gründen und Argumenten zu steuern. In der gegenwärtigen Ethik dominieren intentionalistische Theorien (vgl. Döring, 28). 8 .3 Internalismus vs. Externalismus 45316_Fenner_SL4b.indd 243 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="244"?> 244 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Verhältnis von Gründen und Motiven in der Moralphilosophie Internalismus Externalismus innere, „interne“ Verbindung äußere, kontingente Verbindung Überzeugungen von rationalen Gründen sind starke Motive, so zu handeln für das Ausführen der Handlung sind zusätzlich externe Motive wie Gefühle oder Wünsche erforderlich Unter Gefühlsethik werden sämtliche Moralphilosophien zusammengefasst, die Gefühle als Beurteilungsinstanz und Triebfeder für moralisches Handeln betrachten (vgl. Forschner, 92). Bisweilen wird statt von „Gefühlsethik“ als Gegenmodell zum „Rationalismus“ auch von „Sensualismus“ oder „Sentimentalismus“ (engl. „sentimentalism“) gesprochen. Eine Gefühlsethik ist häufig eine empiristische Ethik, weil sie ethische Urteile und Prinzipien auf eine empirische Basis zurückführt. So eruiert beispielsweise Arthur Schopenhauer als Grundtriebfedern menschlichen Handelns den Egoismus, die Bosheit und das Mitleid, wobei nur das Mitleid als Fundament der Ethik in Frage kommt (vgl. Schopenhauer, 107). Nicht immer ist aber der Gegensatz zwischen rationalistischer und Gefühlsethik ein ausschließlicher, wie etwa der Blick auf die Moral-Sense-Philosophie im England des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt: Vertreter wie Anthony Shaftesbury oder Francis Hutcheson nehmen einen „moral sense“ bzw. ein „moralisches Gefühl“ an, das sowohl ein spezifisches Erkenntnisorgan des moralisch Richtigen als auch eine Motivationskraft für das entsprechende Handeln darstellt. Entgegen empiristischen Fehlinterpretationen besteht dabei eine große Nähe zum „Intuitionismus“ als Position des kognitivistischen Objektivismus, weil das moralische Gefühl unmittelbaren Zugang zu objektiven, moralischen Tatsachen verschaffen soll (vgl. Forschner, 90/ Kap. 5.1.2). Während Gefühlsethiker unter moralischen Gefühlen zumeist „personenbezogene Gefühle“ wie Sympathie oder Mitleid verstehen (a), können damit aber auch „normengebundene Gefühle“ wie Scham oder Empörung gemeint sein (b). Gefühlsethik empiristische Ethik Moral-sense- Philosophie 45316_Fenner_SL4b.indd 244 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="245"?> 245 g E f ü h l � E t h I � : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o t I V a t I o n a l E n g r u n d l a g E Gefühlsethik: Gefühle sind Beurteilungsinstanz und Triebfeder moralischen Handelns. Gefühlsethik a) personenbezogene Gefühle: • Mitgefühle mit anderen Menschen • z.B. Sympathie, Mitleid b) normengebundene Gefühle: • Gefühle aufgrund der Überzeugung von der Richtigkeit bestimmter Normen • z. B. Scham, Empörung a) personenbezogene Gefühle Bei ihrer Kritik an der rationalistischen Ethik erblicken die Moral-Sense-Philosophen Hutcheson, Hume und Adam Smith die Grundlage der Moral in der Sympathie als einem allgemeinen „Mitgefühl“ der Menschen, das sowohl Mitleid als auch Mitfreude umfasst. Im Gegensatz zu Hobbes pessimistischem egoistischem Menschenbild postulieren sie, die Menschen seien aufgrund von Sympathiegefühlen zu wohlwollendem, altruistischem Handeln fähig. In der Nachfolge Arthur Schopenhauers setzen in der Gegenwart etwa Ursula Wolf und Lawrence Blum auf das Mitleid als negative Variante des Mitgefühls. Als moralisch bedeutsam wird heute gerne auch die Empathie als Fähigkeit hervorgehoben, sich in den emotionalen Zustand anderer Personen hinenzufühlen und ihn selbst nachzuempfinden. So leidet man beispielsweise mit dem Unglück einer fremden Person mit und möchte ihr Leid und die ihr zugestoßenen Übel beseitigen, als wären es die eigenen. Im Fall von Zuneigung zu Mitmenschen kommt es zu wohlwollendem Handeln, weil man das Glück der anderen genauso befördern will wie das eigene. Da die mitfühlende Person ihren eigenen Standpunkt transzendiert und sich in die anderen Menschen hineinversetzt, scheint es sich dabei um eine elementare Form des unparteiischen Standpunktes der Moral zu handeln. Die gängige Kritik an der Gefühlsethik lautet jedoch, solche personengebundenen Definition moralische Gefühle personenbezogene Gefühle Sympathie/ Mitgefühl Kritik 45316_Fenner_SL4b.indd 245 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="246"?> 246 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Gefühle seien höchst unzuverlässig, selektiv und parteiisch: Mitgefühle als Handlungsmotive sind deswegen subjektiv und kontingent, weil sie gewöhnlich stark mit dem Knüpfen und Lösen persönlicher Beziehungen schwanken. Erfahrungsgemäß empfinden wir mit unseren Konkurrenten oder mit fernstehenden und völlig unbekannten Menschen z. B. in Krisenregionen Afrikas kaum Mitgefühl. Wenn aber bestimmte Personen privilegiert werden, verfehlt man offenkundig die für den moralischen Standpunkt erforderliche Objektivität und Unparteilichkeit (vgl. Kap. 1.1). Oder ließe sich vielleicht das Mitgefühl mit seinen Nächsten sukzessive auf alle Menschen dieser Welt ausweiten? Schopenhauer und Wolf gehen tatsächlich davon aus, dass sich zunächst nur selektive und sporadische Gefühlsregungen zu einer affektiven Grundhaltung oder Tugend verfestigen können und damit eine „universalisierte Sympathie“ oder ein „generalisiertes Mitleid“ möglich machen (vgl. Wolf, 81/ Leist 1993, 175). Ein linearer und quantitativer kontinuierlicher Übergang von einer partikularen Moral im Nahbereich zu einer universellen Moral allgemeiner Menschenliebe scheint aber illusionär zu sein (vgl. Bayertz, 213 ff.). Denn für diesen „Übergang“ braucht es gewissermaßen einen Kategorienwechsel oder „Sprung“, der nur mithilfe zusätzlicher rationaler Faktoren wie allgemeiner Kriterien eines „guten menschlichen Lebens“ oder universeller Moralprinzipien gelingen kann. Um der Parteilichkeit moralischer Gefühle entgegenzuwirken, räumen Hume und Smith der Vernunft eine bedeutsame Rolle ein: Bei Hume sind die moralischen Gefühle der Sympathie oder Menschenliebe kommunikativ vermittelt und führen zu einer Billigung derjenigen Eigenschaften, die von einem allgemeinen Standpunkt aus wegen ihres Nutzens für das Wohl der Gesellschaft geschätzt werden (vgl. Hume 1978, 335 ff./ 1984, 152 ff.). Indem die Gefühle durch vernünftige Überlegungen und eine Abstraktion vom eigenen Interessenstandpunkt „berichtigt“ werden müssen, gelangt Hume zu einer vermittelnden Position zwischen Gefühlsethikern und Rationalisten. Ähnlich findet sich bei Smith die Figur eines „unparteiischen Zuschauers“, der die Angemessenheit der Gefühle aller Betroffenen in einer Situation überprüft und die Förderung des eigenen oder fremden Leids nur im Fall der Verträglichkeit mit dem Glück aller anderen zulässt (vgl. 17 f.; 122 ff.). subjektiv und parteiisch universelle Sympathie/ generalisiert Mitleid 45316_Fenner_SL4b.indd 246 05.03.2020 12: 20: 34 <?page no="247"?> 247 g E f ü h l � E t h I � : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o t I V a t I o n a l E n g r u n d l a g E Genau besehen sind also nicht sämtliche faktischen reaktiven personenbezogenen Gefühle moralisch wertvoll, sondern nur vernünftige, bedachte oder unparteiische Gefühle. Aus rationalistischer Sicht müsste daher eine Gefühlsethik ein klares Unterscheidungskriterium angeben, um moralisch „richtige“ von „falschen“ Gefühlen unterscheiden zu können. b) normengebundene Gefühle In der gegenwärtigen Ethik erfahren die Gefühle wieder mehr Aufmerksamkeit, seit in den 1960er Jahren kognitivistische Gefühlstheorien auf kamen (vgl. Döring, 28 f.). Im Unterschied zu „physiologischen“ oder „Empfindungstheorien“ gehen kognitivistische Gefühlstheorien davon aus, dass Gefühle durch kognitive Bewertungen von Ereignissen oder Situationen konstituiert werden. Normengebundene moralische Gefühle basieren entsprechend auf moralischen Urteilen, in denen Handlungssituationen auf relevante moralische Normen hin bewertet werden. Am besten bekannt sind die sich einstellenden Gefühle eines „guten“ oder „schlechten Gewissens“, wenn wir moralkonform handeln bzw. gegen anerkannte Normen verstoßen. Eine zentrale Rolle in Ernst Tugendhats Ethik spielen die negativen Gefühle der „Scham“ oder „Empörung“, die sich bei eigenen oder fremden Normenübertretungen einstellen (vgl. Tugendhat, 36 ff.). In all diesen Fällen liegen den moralischen Gefühlen mehr oder weniger bewusste Überzeugungen von der Richtigkeit bestimmter Normen zugrunde. Die Gefühle begleiten aber nicht kontingenterweise die moralischen Urteile, sondern erst beide zusammen bilden die moralische Billigung oder Missbilligung. Wie ästhetische Urteile „Das ist schön“ oder „Das ist hässlich“ notwendig mit bestimmten Gefühlseinstellungen verkoppelt sind, scheinen es auch moralische Urteile wie „Das ist ungerecht“ zu sein (vgl. Steinfath, 120 f.). Selbst in der ausgeprägt rationalistischen Ethik Kants soll ein „Gefühl der Achtung“ vor dem Sittengesetz zu demjenigen Handeln motivieren, das sich beim Universalisierungstest als richtig erwies (Kant, KpV, A 133/ Kap. 5.2.1). In einer Gefühlsethik auf der Grundlage des Kognitivismus werden vernunftbasierte Gefühle als taugliche Handlungsmotive rehabilitiert und scheinen eine internalistische Position nahezulegen (vgl. Döring, 34). vernünftige, unparteiische Gefühle normengebundene Gefühle kognitivistische Gefühlstheorien 45316_Fenner_SL4b.indd 247 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="248"?> 248 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � Allerdings können normengebundene Gefühle wie moralische Empörung z. B. über eine ungerechte Behandlung erst einmal nur ein Indiz für ein tatsächliches Unrecht sein. Es wäre im Einzelfall zu prüfen, ob die in der Empörung zum Ausdruck kommende Gerechtigkeitsvorstellung angemessen ist und ob überhaupt jemand gegen dieses Ideal verstoßen hat. Während die rationalen Einsichten ohne Gefühle leer sind, sind Gefühle ohne Prüfung der zugrunde liegenden Wertvorstellungen blind. Kritik a) Kritik an personenbezogenen Gefühlen : Gefühle sind oft subjektiv, parteiisch und ungerecht → nur „bedachte“ bzw. vernünftige und „universelle“ bzw. unparteiische Gefühle berücksichtigen b) Kritik an normengebundenen Gefühlen: Normen und Wertvorstellungen werden vorausgesetzt → Prüfung der zugrunde liegenden moralischen Überzeugungen durch rationalistische Ethik Rationale ethische Urteile ohne moralische Gefühle sind leer. Moralische Gefühle ohne rational geprüfte ethische Urteile sind blind. Moralerziehung: Vernachlässigung der Moralpsychologie Welche Aufgabe die Ethik über die Begründungsleistung hinaus übernehmen kann und soll, darüber gehen die Meinungen in der Gegenwart weit auseinander: Ethik macht die Menschen nicht besser und erzeugt mittels Argumentation keinen guten Willen, erklären klipp und klar die einen (vgl. Pieper/ Thurnherr, 8). Im Ethikstudium oder -unterricht könnte es dann lediglich darum gehen, theoretische Kenntnisse grundlegender ethischer Begriffe und Theorien zu vermitteln und allenfalls in Diskussionen über konkrete Anschauungsbeispiele zu moralischen Konflikten oder Dilemmata praktische Fähigkeiten des ethischen Reflektierens Kritik Merksätze 8 .4 45316_Fenner_SL4b.indd 248 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="249"?> 249 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E und Argumentierens sowie der Kritikfähigkeit und Selbstdistanzierung zu fördern. In gewisser Weise mag der gängige Vorwurf an die philosophische Ethik als wissenschaftlicher Disziplin tatsächlich etwas naiv anmuten, sie mache die Menschen nicht wirklich moralisch besser. Denn schließlich erwartet auch niemand, dass durch ein Theologiestudium ein Ungläubiger religiös wird oder das Studium der Germanistik erfolgreiche Schriftsteller hervorbringt. Andere Philosophen rufen jedoch dazu auf, die zu Unrecht vernachlässigten Themenfelder der Moralerziehung, Moralpädagogik und Moralpsychologie in die Ethik zu integrieren (vgl. Höffe 2007, 34). Um an dem von Aristoteles formulierten Ziel der Ethik festhalten zu können, müsse die erzieherische und bildende Aufgabe der antiken Ethik zurückgewonnen werden (vgl. Kap. 8, Einleitung). Nicht anders als viele andere Tätigkeiten auch lässt sich moralisch richtiges Handeln letztlich nur durch wiederholtes gezieltes Üben erwerben, wie es ein aristotelischer Grundsatz besagt (vgl. Aristoteles 1103a, 33): Genauso wie man Bauen nur durch Bauen und Gitarrespielen nur durch Gitarrespielen lernt, kann man Gerechtigkeit nur durch gerechtes Handeln einüben. Grundsätzlich gilt jedoch klarzustellen: Erklärungen und Empfehlungen bezüglich wirksamer Veränderungen menschlicher Einstellungsweisen und Handlungsdispositionen sind logisch zu unterscheiden von Fragen nach der Begründung des moralisch Richtigen. Strenggenommen gehören Fragen der Moralerziehung nicht mehr zum Aufgabenbereich der „Allgemeinen Ethik“, sondern zu demjenigen einer eigenständigen Bereichsethik der „Angewandten Ethik“: der pädagogischen Ethik. Gleichwohl seien zum Schluss ein paar wesentliche Einsichten der Moralpsychologie und -pädagogik zusammengestellt. Dabei steht fest, dass die Moralerziehung möglichst früh anzusetzen hat. Denn der Mensch kommt weder als moralisch gutes noch als moralisch schlechtes Wesen zur Welt, und er entwickelt sich auch nicht aufgrund eines biologischen Programms notwendig in die eine oder andere Richtung. Vielmehr müssen die für moralisches Handeln unabdingbaren Fähigkeiten möglichst früh in der Kindheit unter kompetenter Anleitung entwickelt und trainiert werden. Die Moralerziehung vollzieht sich also zu einem großen Teil bereits im Elternhaus. Moralpsychologische und -pädagogische Studien untersuchen, unter welchen Bedingungen die von Geburt an egozentrisch auf Ziel: Menschen besser machen Aufgabe der pädagogischen Ethik 45316_Fenner_SL4b.indd 249 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="250"?> 250 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � ihre Bedürfnisbefriedigung fokussierten Kleinkinder am besten die Fähigkeiten zum Transzendieren des eigenen Standpunktes erlangen: Zu einer moralischen Persönlichkeit scheint man nur in einem Umfeld heranwachsen zu können, in dem genügend Vorbilder moralischen Handelns und moralischer Interaktionen zugegen sind. Denn am meisten lernt das Kind durch Nachahmen von Bezugspersonen, zusätzlich noch durch Erzählungen und Märchen. Wichtige Voraussetzungen für den Erwerb einer moralischen Einstellung ist a) ein vertrauensvolles und verlässliches Verhältnis zu den wichtigen Bezugspersonen. Nur wenn ein Kind Liebe und Zuwendung erfährt, wird in ihm Gegenliebe und das Bedürfnis erweckt, den geliebten Personen nachzueifern und so zu werden wie seine Vorbilder (vgl. Rawls, 532 f.). b) In solchen liebevollen Beziehungen kann sich eine habituelle „moralische Sensibilität“ herausbilden, die eng verwandt ist mit „Sympathie“ und „Empathie“ (vgl. Keller, 30): Man lernt und macht es sich zur Gewohnheit, sich in die anderen Personen hineinzuversetzen und sie im Lichte ihrer Bedürfnisse, Empfindungen und Erwartungen wahrzunehmen. Gleichzeitig ist es aber auch unabdingbar, dass die Eltern c) klare und erklärbare Regeln aufstellen und diese vorbildhaft befolgen (vgl. Maiss, 237). Kinder müssen die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und -bewertung, zum Belohnungsaufschub und zur Selbstmotivation lernen, indem die Eltern deutliche Ansagen wie „Warte noch ein bisschen“ wiederholen und die kindlichen Gefühle und Gedanken als eine Art Anleitung zur Selbstreflexion ständig kommentieren etwa mit „Macht Dich das jetzt traurig? “. Selbstregulationsfähigkeit lautet das übergeordnete Konzept, das sowohl die negativ definierte Fähigkeit zur Selbstkontrolle bzw. Hemmung der unwillkürlich auftauchenden und den eigenen Zielen widersprechenden Triebe, Motive und Gefühle als auch die positive Willensstärke als Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Ziele umfasst (vgl. Kap. 7.2). Solange das Kind die elterlichen Regeln als von außen kommende, nicht selbst gewählte Anordnungen verinnerlicht, befindet es sich nach dem viel beachteten, auf Jean Piagets Erkenntnissen auf bauenden dreistufigen Modell der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg auf dem Niveau einer heteronomen Moral (vgl. Kohlberg, 51 f.): Während es im ersten präkonventionellen Stadium den Regeln aus Furcht vor Strafen seitens der Eltern folgt, akzeptiert es sie im zweiten konventionellen Stadium, vertrauensvolle Beziehungen moralische Sensibilität klare Regeln Selbstregulationsfähigkeit heteronorme Moral 45316_Fenner_SL4b.indd 250 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="251"?> 251 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E weil es als Mitglied der Familie oder einer größeren Gruppe anerkannt und geliebt werden möchte. Ethisch am bedeutsamsten ist der Übergang von einer solchen heteronomen Moral zum dritten postkonventionellen Stadium einer autonomen Moral. Denn letztlich kann man weder durch pures Nachahmen von Vorbildern noch durch Gehorsamkeit aus Furcht vor Strafen oder sozialer Ausgrenzung moralisch richtiges Handeln lernen. Moralisch richtig handelt nämlich erst derjenige, der die moralischen Regeln nicht mehr als äußeren Zwang erlebt, sondern der ihre Vernünftigkeit und Richtigkeit eingesehen hat (vgl. Kap.- 1.2). Die frühkindliche Moralerziehung hat aber wichtige Voraussetzungen für die autonome Moral geschaffen: So haben die Heranwachsenden im konventionellen Stadium gelernt, die Interessen und Gefühle der Nahestehenden beim eigenen Handeln in Rechnung zu stellen (b). Nun geht es darum, den hypothetischen Rollentausch zu verallgemeinern und einzusehen, dass die dabei ermittelte Handlung für alle Betroffenen die bestmögliche ist. Gleichfalls als wichtige Vorbereitung haben sie bei der Unterwerfung unter die Regeln einer heteronomen Moral Selbstbeherrschung, moralische Selbstkontrolle und Verzicht auf schnelle egoistische Interessenbefriedigung eingeübt (c). Auf der Stufe der autonomen Moral empfindet man immer noch moralische Gefühle wie Scham oder Empörung bei Regelverstößen, nur liegt jetzt eine Selbstbindung an die Regeln aus Einsicht vor. In der handlungsleitenden und personenzentrierten antiken Tugendethik wurden zahlreiche Übungen entwickelt, damit das als moralisch richtig Erkannte habituell in die Praxis umgesetzt wird (vgl. Horn 1998, 34-43): Durch literarische, dialogische oder monologische Übungen sollen Selbstprüfung, Selbstdistanz und -kritik gefestigt und die moralische Haltung tief in der Persönlichkeit verankert werden. Bei den imaginativen Übungen ruft man gezielt die Vorstellung bestimmter moralisch relevanter Handlungssituationen hervor, um die Standhaftigkeit der Gefühlsdispositionen und Einstellungen zu erproben. Unter moralischen Übungen fasst man alle Techniken der Selbstermahnung, Gewissensprüfung oder des offenen Geständnisses eigener Fehler zusammen. Die Moralerziehung vollendet sich also gewissermaßen in der Selbsterziehung (vgl. Höffe 2007, 35). Aber auch äußere institutionelle und gesellschaftliche Maßnahmen können erheblich zu einer Festigung und Stabilisierung eines „rationalistischen Ethos“ beitragen: In der Schule autonome Moral literarische/ dialogische/ monologische Übungen imaginative Übungen moralische Übungen Höhepunkt: Selbsterziehung institutionelle Unterstützung 45316_Fenner_SL4b.indd 251 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="252"?> 252 � r I t I � a n d E r r a t I o n a l I � t I � c h E n E t h I � lässt sich nach Kohlbergs Modell der „Just Community“ der Gemeinschaftssinn und das Verantwortungsbewusstsein hinsichtlich des Allgemeinwohls fördern, indem die Schüler aktiv an der gemeinsamen Gestaltung des Schullebens beteiligt werden (vgl. Dietrich, 441). Darüber hinaus ist eine rationalistische Ethik auf „entgegenkommende Lebensformen“ und demokratische Institutionen angewiesen, die in den Heranwachsenden eine stark internalisierte Selbstkontrolle und eine „Schubkraft von Motiven“ anlegen (Habermas 1992, 25). moralische Erziehung durch Elternhaus: a) Nachahmung moralischer Vorbilder b) Fähigkeit, sich (emotional) in andere hineinzuversetzen c) Unterwerfung unter vorgegebene Regeln, Selbstbeherrschung, Verzicht auf egoistische Interessenbefriedigung heteronome Moral moralische Selbsterziehung: • literarische/ dialogische/ monologische Übungen zur Selbstprüfung und -kritik • imaginative Übungen: Standhaftigkeit • moralische Übungen: Selbstermahnung, Gewissensprüfung institutionelle und gesellschaftliche Unterstützung: • demokratische Partizipation • Diskursstrukturen zur Förderung von Gemeinschaftssinn und Verantwortungsbewusstsein autonome Moral Moralerziehung 45316_Fenner_SL4b.indd 252 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="253"?> 253 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E Übungsaufgaben 1. Wie lauten die wichtigsten Positionen des Nonkognitivismus und wie deuten diese jeweils die konkrete Aussage „Du sollst hier nicht rauchen! “? Was kann gegen den Nonkognitivismus eingewendet werden? 2. In welchen ethischen Theorien spielen Gefühle eine wichtige Rolle? Welche? 3. Worin unterscheiden sich der „metaethische“, „deskriptive“ und „normative Relativismus“ und inwiefern sind die Forderungen des normativen Relativismus problematisch? Literatur Ayer, Alfred J : Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970. Hare, Richard M : Die Sprache der Moral, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1997. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, Hamburg 1978. Mackie, John: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart 2000. Morscher, Edgar: Kognitivismus/ Nonkognitivismus, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph u. a. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3. aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2011, S. 36-48. Rippe, Klaus-Peter: Relativismus, in: Düwell, Marcus, Hübenthal, Christoph und Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik, 3., aktual. Aufl., Stuttgart/ Weimar 2002, S. 498-501. Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977. Stevenson, Charles L : Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke, in: Grewendorf, Günther und Meggle, Georg (Hrsg.): Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a. M. 1974, S. 116-139. 45316_Fenner_SL4b.indd 253 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="254"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 254 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="255"?> 255 Schluss Es mag bei einigen Lesern Enttäuschung hervorgerufen haben, dass die mehr als 2.000-jährige philosophische Beschäftigung mit ethischen Fragen zu keiner Einigung auf die „richtige Ethik“ geführt hat. Tatsächlich gibt es keine endgültige und logisch zwingende Ethik, die als festgefügte Doktrin gelehrt und gelernt werden könnte (vgl. Ach u. a., 26). Aufgabe einer Ethik-Einführung besteht stattdessen darin, in größtmöglicher methodischer Offenheit einen breiten Überblick über die wichtigsten Themenfelder, Theorietypen und Prinzipien zu geben. Um dem Leser eine eigene kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ansätzen zu erleichtern, wurden immer auch Gründe und Argumente für und gegen bestimmte Positionen angeführt. Auch wenn keine Ethiktheorie perfekt ist, haben doch viele Philosophen mit ihren begrifflichen Differenzierungen, Modellen und Beurteilungskriterien wichtige Beiträge zur Beantwortung der Frage „Wie soll ich handeln? “ geleistet. Sie haben uns damit ein ethisches Rüstzeug zur Verfügung gestellt, mit dem sich ethische Fragestellungen differenzierter bearbeiten lassen. Es wäre zwar ein vermessenes und unangebrachtes Ziel einer solchen Einführung, sämtliche positiven Beiträge der Philosophiegeschichte zu einer umfassenden integrativen Ethik-Theorie zusammenfügen zu wollen. Gleichwohl soll aber abschließend zumindest versucht werden, die wichtigsten Prinzipien in einen gewissen systematischen Zusammenhang miteinander zu bringen. Dabei ist zwangsläufig selektiv vorzugehen, sodass bei aller Bemühung um Neutralität und Sachlichkeit in der Darstellung etwas stärker meine eigenen konzeptuellen Präferenzen zum Vorschein treten. Eine erste Grundregel in der Ethik bildet sozusagen eine flankierende Maßnahme, um von vornherein falsche Erwartungen gegenüber den handelnden Personen abzuwehren: Das Prinzip 9 keine „richtige Ethik“ ethisches Rüstzeug 45316_Fenner_SL4b.indd 255 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="256"?> 256 � c h l u � � „Sollen impliziert Können“ besagt, dass niemand zu etwas ethisch verpflichtet sein kann, das außerhalb seiner Handlungs- und Einflussmöglichkeiten liegt. So kann es für einen Nichtschwimmer nicht ethisch geboten sein, ein im Meer ertrinkendes Kind zu retten. Wenn er alles in seiner Macht stehende für die Rettung des Kindes tat wie z. B. Hilfe suchen, Notruf absetzen etc., trägt er keine moralische Schuld oder Verantwortung, auch wenn das Kind ertrinkt. Natürlich sollte dieses Prinzip zur Abwehr unangemessener moralischer Forderungen nicht dazu missbraucht werden, sich moralischen Verpflichtungen zu entziehen. Als bloß vorgeschobene Ausrede ist die simple Formulierung „Das kann ich nicht“ ethisch verwerflich. Sollen-Können-Grundsatz : Sollen impliziert Können Die Moral als Grundbegriff der im Zentrum dieser Einführung stehenden Sozial- oder Sollensethik wurde definiert als Gesamtheit der Normen und Wertvorstellungen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens, die in einer bestimmten Gemeinschaft faktisch gelten oder kontrafaktisch gelten sollten (vgl. Kap. 1.1). Von prudentiellen Überlegungen im Rahmen der Individual- oder Strebensethik grenzt sich moralisches Denken und Handeln durch ein formales und materiales Kriterium ab. Gemäß der formalen Bedingung für Moral erheben ethische Normen oder Prinzipien stets einen Anspruch auf universelle Gültigkeit, d.h. sie müssen für alle Menschen unter vergleichbaren Bedingungen gleichermaßen verbindlich sein. Wenn es beispielsweise ethisch falsch ist, Abfall im Freien liegen zu lassen, muss dies für alle Menschen verboten sein. Im Unterschied zu subjektiven Geschmacksurteilen etwa über Vanille- oder Schokoladeneis müssen normative Aussagen universalisierbar sein. Das formale Kennzeichen universeller Gültigkeit lässt sich als formales Gleichheitsgebot oder formales Universalisierungsprinzip formulieren: Sollen-Können- Grundsatz flankierende Maßnahme formales Kriterium für Moral Universalisierbarkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 256 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="257"?> 257 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E formales Universalisierungsprinzip/ Gleichheitsgebot: Was in einer bestimmten Situation für eine Person ethisch richtig/ falsch ist, muss für jede andere Person mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen und unter ähnlichen Umständen ethisch richtig/ falsch sein. Diese Forderung nach universeller Gültigkeit von moralischen Normen ist zwar erst einmal nur ein rein formales Prinzip, das für jede wie auch immer geartete Moral oder Moraltheorie gilt. Gleichwohl ist damit bereits auch etwas über die möglichen Inhalte der für alle Menschen gleichermaßen verbindlichen Handlungsregeln ausgesagt. Handlungsweisen können nämlich nur dann geboten, erlaubt oder verboten werden, wenn das Ausführen oder Unterlassen solcher Handlungen durch sämtliche Menschen wünschenswert ist (vgl. Hübner, Kap. 5.1). Damit stellt die Universalisierbarkeit von Handlungen ein fundamentales inhaltliches Kriterium für die Beurteilung menschlicher Handlungen und der sie regulierenden Normen dar. Am schönsten kommt diese Forderung nach Universalisierbarkeit in Immanuel Kants berühmtem deontologischem Moralprinzip des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck, einem rein formalen Testverfahren für Handlungsregeln oder Maximen: Man soll sich die Regel des geplanten eigenen Handelns als allgemeines Gesetz vorstellen und prüfen, ob die Verallgemeinerung zu einem Widerspruch im Denken oder Wollen führt. Denn rein logisch gesehen kann etwas nicht geboten sein, wenn es nicht für alle Menschen als ein allgemeines Gesetz gelten könnte (vgl. Kap. 5.2.1). Wäre es beispielsweise ein allgemeines Gesetz zu lügen, wo es dem eigenen Vorteil dient, würde die soziale Institution des Versprechens vollständig untergraben, sodass sich diese Handlungsregel nicht widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken lässt. Kategorischer Imperativ: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte! (nach Kant, KpV, AB 52) formales Kriterium: Universalisierbarkeit Universalisierbarkeit von Handlungen Kategorischer Imperativ 1. Prinzip der Universalisierbarkeit von Handlungsweisen bzw. -regeln 45316_Fenner_SL4b.indd 257 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="258"?> 258 � c h l u � � Das in der Alltagspraxis viel häufiger verwendete Verallgemeinerungsprinzip ist demgegenüber ein konsequentialistisches Prinzip, weil hier die Aufmerksamkeit auf die negativen Folgen einer von allen Menschen ausgeführten Handlungsweise gelenkt wird. Wenn wir etwa einen Schwarzfahrer enttarnen oder jemanden beim Entsorgen des Mülls im Freien ertappen, appellieren wir an das Verantwortungsbewusstsein unserer Mitmenschen: „Stell Dir vor, was passieren würde, wenn alle Menschen so handeln würden wie Du! “, oder: „Wo kämen wir hin, wenn jeder das täte? “. Diese Argumente sind am sinnvollsten einsetzbar bei Handlungsweisen mit einem Kumulationsproblem, bei denen nicht schon die Folgen einer Einzelhandlung negativ sind: Solange nur ein einziger oder wenige Menschen gleichsam als Trittbrettfahrer schwarzfahren oder ihren Müll im Freien entsorgen, sind die Folgen vernachlässigbar. Erst das Kumulieren der Handlungsfolgen vieler Akteure zeitigt katastrophale Wirkungen, z. B. den Konkurs der öffentlichen Straßenbahn oder die Zerstörung des frei zugänglichen Landstücks. Solche Problemkonstellationen sind typisch für den gesamten Bereich des Umweltverhaltens. Eine Großzahl der Menschen kümmert sich trotz besseren Wissens nicht aktiv um den Schutz der Umwelt und des Klimas, weil die negativen Folgen des eigenen Handelns nicht sofort, sondern erst Generationen später und als Resultat kollektiver Praxis sichtbar werden. Allerdings stellte der Schluss von der Regel „Nicht alle dürfen X tun“ auf „Keiner darf X tun“ einen logischen Trugschluss dar, weil dabei die Alternative „Nur einige wenige dürfen X tun“ übersehen wird. Es müssten sich aber für Ausnahmeregelungen im Einzelfall allgemein nachvollziehbare relevante Gründe angeben lassen, z. B. eine Gehbehinderung als Grund für das Benutzen eines Privatautos in einem Stadtzentrum mit permanent verstopften Straßen und viel zu hoher Feinstaubbelastung. Verallgemeinerungsprinzip: Wenn die Folgen inakzeptabel wären, wenn alle Menschen etwas Bestimmtes tun würden, sollte niemand dies tun. (nach Singer 1975, 86) Bezüglich des inhaltlichen Kennzeichens von Moral trifft man auf folgende Kernidee moralischen Denkens und Handelns: Es Verallgemeinerungsprinzip 2. Prinzip der Universalisierbarkeit von Handlungsweisen bzw. -regeln inhaltliches Kriterium für Moral 45316_Fenner_SL4b.indd 258 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="259"?> 259 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E gilt, den individualethischen, prudentiellen Standpunkt der eigenen Interessen und seines persönlichen Glücksstrebens zu überschreiten („transzendieren“) und die Perspektiven aller beteiligten Personen gleich zu bewerten wie die eigene. Die traditionsreiche und alltagstaugliche Goldene Regel ist zwar wie gesehen keine hinreichend bestimmte Handlungsregel, kann aber zum Transzendieren des eigenen Interessenstandpunktes und zum Sich-Hineinversetzen in seine Mitmenschen animieren: „Was Du nicht willst, was man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“ (vgl. Kap. 6.2). Sie ist insbesondere in der Moralerziehung sehr beliebt, weil sie an die persönlichen Erfahrungen mit Verletzungen durch andere Menschen anknüpft und sehr anschaulich und einfach ist. Während sich der Rollentausch der Goldenen Regel am besten für direkte Interaktionen zwischen zwei Personen im unmittelbaren Nahbereich eignet, lässt sich vom typischen objektiven oder unparteiischen Standpunkt der Moral aus auch eine größere Gruppe von Beteiligten oder das Wohl der ganzen Gesellschaft bzw. das Gemeinwohl in den Blick nehmen. Moralische Urteile können niemals von einem subjektiven egozentrischen Standpunkt aus gefällt werden, sondern erfordern stets einen unvoreingenommenen, distanzierten und universellen Standpunkt und müssen sich gegenüber allen vernünftigen Personen rechtfertigen lassen. Eine Entscheidung gilt dann als moralisch richtig, wenn die Interessen aller Betroffenen angemessen und unparteiisch, d. h. ohne jede Bevorzugung sympathischer Einzelpersonen oder Gruppen berücksichtigt werden. Entsprechend lässt sich als materiales Charakteristikum von Moral das Prinzip der Unparteilichkeit formulieren: Prinzip der Unparteilichkeit (Basisprinzip): Moralisch richtig ist eine Handlung oder eine Norm, wenn dabei von einem unparteiischen Standpunkt aus alle Interessen angemessen berücksichtigt werden. Dieses sehr allgemein gehaltene Prinzip wirft die Fragen auf, was denn hier eine „angemessene“ Berücksichtigung der Interessen meint und wie Interessenkonflikte gelöst werden können. Da alle Menschen Wünsche und Interessen haben, die sie erfüllen möchten, hat der Präferenzutilitarismus eine große anthropologische Anfangsplausibilität: Ihm zufolge ist dasjenige Handeln Goldene Regel unparteiischer Standpunkt der Moral materiales Kriterium: Unparteilichkeit Präferenzutilitarismus 45316_Fenner_SL4b.indd 259 05.03.2020 12: 20: 35 <?page no="260"?> 260 � c h l u � � moralisch richtig, bei dem maximal viele Präferenzen möglichst vieler Menschen erfüllt werden (vgl. Kap. 4.2). Als erheblicher Nachteil erwies sich allerdings beim Utilitarismus allgemein, dass eine Kritik der Lüste oder Präferenzen fehlt. Es müssten aber aus dem Nutzenkalkül zumindest uninformierte, gesundheitsschädigende und asoziale Interessen wie z. B. rassistische Interessen an der Schädigung von Fremden ausgeschlossen werden. Anders als beim Präferenzutilitarismus müssen die Interessen aller Betroffenen bei der Diskursethik in einem realen praktischen Diskurs mit Gründen und Argumenten verteidigt werden (vgl. Kap. 5.2.2). Als intersubjektiv gerechtfertigt gelten nur diejenigen, die der Kritik aller Gesprächsteilnehmer standhalten. Nur diese sind universalisierbar in dem Sinne, dass sie sich mit den Bedürfnissen aller anderen in Einklang bringen lassen. Wenn in einem Konflikt zwischen einem Jazztrompeter und seinem ruhebedürftigen Nachbarn beide Parteien die den jeweiligen individuellen Präferenzen zugrundeliegenden Interessen an freier Kunstausübung und an Erholung anerkennen und sich auf bestimmte Übezeiten einigen, wären diese Interessen durchaus universalisierbar. Bei der Durchführung eines realen praktischen Diskurses ergibt sich allerdings das Problem, dass oft nicht alle Beteiligten kommunikativ-konsensorientiert statt strategischerfolgsorientiert handeln und nie ausschließlich der Zwang des besten Arguments ohne jede systematische Verzerrung der Gesprächssituation herrscht. Auch ist die Diskursethik eher eine Art „Rahmenethik“, weil sie alle ethischen Begründungsformen und Beurteilungskriterien zulässt und sich die Qualität und Vernünftigkeit der Argumente erst in einer gemeinsamen rationalen, kritischen Prüfung im praktischen Diskurs ergeben muss. Diskursethisches Prinzip der Konsensfindung: Diejenige Handlung (oder diejenige Norm) ist ethisch richtig, die von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). Im Unterschied zu den bisher genannten eher formalen Verfahren zur Realisierung des objektiven Standpunkts der Moral gibt es auch Versuche, den Inhalt der moralischen Rücksichtnahme präziser zu bestimmen. Denn wenn der Sinn oder das Grundverständnis von Moral in der Rücksichtnahme der Menschen auf Diskursethik Hilfsmittel zur Realisierung der Unparteilichkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 260 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="261"?> 261 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E alle von ihrem Tun und Lassen Betroffenen besteht, stellt sich die Frage nach den genauen Hinsichten bei der moralisch gebotenen unparteiischen Rücksichtnahme. Es liegt nahe, von fundamentalen, für jedes gute menschliche Leben bedeutsamen allgemeinmenschlichen Bedürfnissen und Interessen auszugehen, die bei allen Menschen gleichermaßen geschützt oder befördert werden sollen. In der Philosophie wird häufig allgemeiner nach objektiven „Gütern“ als Bedingungen oder Mitteln für einen gelingenden menschlichen Lebensvollzug gesucht. So werden etwa im handlungsreflexiven Ansatz in einem reflexiv-rekonstruktiven Verfahren elementare Bedingungen oder „Güter“ aufgedeckt, die jeder Mensch benötigt, um überhaupt handlungsfähig zu sein und seine persönlichen Interessen verfolgen zu können (vgl. Kap. 5.2.3). Dazu zählen etwa Freiheit von Zwang, Freiheit zur Selbstbestimmung, Nahrung, Kleidung und Obdach zur Stillung der primären physiologischen Bedürfnisse sowie Erziehung und Bildung. Das Prinzip konstitutiver Konvergenz oder allgemeiner das Prinzip gleicher notwendiger Güter verlangt, diese elementaren handlungskonstitutiven Güter bei allen Menschen gleich zu berücksichtigen und nicht grundlos zu vermindern. Da es um den Schutz elementarer allgemeinmenschlicher Interessen geht, dürfte man auf diese Weise ähnliche Resultate erzielen wie beim Gedankenexperiment eines fiktiven Vertragsschlusses interessenorientierter Individuen im Kontraktualismus (vgl. Kap. 4.3). Prinzip gleicher notwendiger Güter: Diejenige Handlung ist ethisch richtig, bei der die notwendigen handlungskonstitutiven Güter der Betroffenen nicht grundlos eingeschränkt werden. Bei der Frage nach einer „angemessenen“ und „unparteiischen“ Berücksichtigung der berechtigten Interessen aller Beteiligten kann man folglich auf ein Set von handlungskonstitutiven Gütern oder identischen fundamentalen Interessen aller Menschen zurückgreifen. Man gelangte dank dieser Konkretisierung des Prinzips der Unparteilichkeit zu einer „Minimalmoral“ als minimalem allgemeinmenschlichem Konsens. Unzulänglich wäre es sicherlich, wie im Utilitarismus lediglich die maximal zu erreichende Gesamtsumme an subjektiver Lust oder erfüllten Präfehandlungsreflexiver Ansatz Prinzip gleicher notwendiger Güter Kontraktualismus Utilitarismus 1. Konkretisierung des Prinzips der Unparteilichkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 261 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="262"?> 262 � c h l u � � renzen zum Maßstab zu erheben. Denn das Ausmaß an individuellem Nutzen oder Schaden kann dann sehr ungleich und unfair verteilt sein. Als eine zweite Konkretisierungsmöglichkeit des höchsten allgemeinen Prinzips der Unparteilichkeit kann man hingegen das Gerechtigkeits-Prinzip oder allgemeine Gleichheitsgebot betrachten (vgl. Kap. 7.3): Unparteiisch im Sinne von gerecht handelt, wer die Gleichen gleich und die Ungleichen ungleich behandelt. Nach welchen Gesichtspunkten Personen im Sinne einer solchen angemessenen Gleichheit als gleich oder ungleich zu betrachten sind, kann je nach Situation, Gemeinschaftsform oder Handlungsbereich sehr unterschiedlich sein. So verlangt Gerechtigkeit beispielsweise Chancengleichheit in einer Gesellschaft und gleiche Menschenrechte für alle Menschen auf der Welt. In anderen Fällen kann jedoch Gleichheit Ungerechtigkeit bedeuten, sodass die Verteilung von Vorteilen oder Lasten proportional zu individuellen Bedürfnissen, Begabungen oder Leistungen vorzunehmen wäre. Die Verteilungsregeln oder -kriterien etwa für begrenzte Güter, Studien- oder Arbeitsplätze müssen aber insbesondere in institutionellen Zusammenhängen für alle Interessenten gleich gelten, von vornherein und unabhängig von den potentiellen Anwärtern festgelegt und allgemein bekannt gemacht werden. In inhaltlicher Hinsicht dürfen sie nicht willkürlich sein, sondern müssen sich mit Blick auf die jeweiligen spezifischen Zielsetzungen oder Aufgaben einer Institution, eines Vereins oder Unternehmens begründen lassen. Prinzip der Gerechtigkeit: Behandle alle Menschen unter vergleichbaren Bedingungen gleich und Menschen, die sich in relevanten Gesichtspunkten unterscheiden, ungleich, und zwar proportional zu den individuellen Bedürfnissen, Begabungen, Qualifikationen oder Leistungen. Verteilungsregeln oder kriterien müssen für alle Interessenten gleich gelten und mit Blick auf die spezifische Zielsetzung einer Institution oder Gemeinschaftsform begründet werden. All diese Prinzipien können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich moralisch richtiges Handeln im Ernstfall niemals bloß in einer rein technischen Anwendung bestimmter allgemeiner, abstrakter Prinzipien oder Kriterien erschöpfen kann. Vielmehr Gleichheitsgebot 2. Konkretisierung des Prinzips der Unparteilichkeit 45316_Fenner_SL4b.indd 262 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="263"?> 263 � o r a l E r Z I E h u n g : V E r n a c h l ä � � I g u n g d E r � o r a l p � y c h o l o g I E bleibt es letztlich eine Sache des individuellen Urteilsvermögens und der situationsgerechten Abwägung. Anwendungsspezifische, konkrete Antworten auf die Frage „Wie soll ich handeln? “ erfordern in der Praxis neben geschulter Reflexions- und Argumentationskompetenzen ein hohes Maß an Empathie und Kontextsensibilität. 45316_Fenner_SL4b.indd 263 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="264"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 264 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="265"?> 265 Anhang Inhalt 10.1 Lösungen zu den Übungsaufgaben 10.2 Glossar 10.3 Bibliographie 10.4 Sach- und Personenregister Lösungen zu den Übungsaufgaben Kapitel 1 1. Ethik: Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine, begründete Aussagen darüber macht, wie man handeln soll. Moral: Gesamtheit der in einer Gemeinschaft geltenden Wertvorstellungen und Normen, die nicht aufgrund bloßer Übereinkunft gelten, sondern der Einsicht entspringen, dass sie die bestmögliche Form menschlichen Zusammenlebens garantieren. Metaethik: Teilbereich der philosophischen Ethik, der ethische Grundbegriffe und methodische Begründungsverfahren analysiert. 2. Kennzeichen von moralischem Denken/ Handeln: formales Kriterium: Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit materiales Kriterium: Einnahme des unparteiischen Standpunkts 3. zwei Perspektiven in der Ethik: a) der Strebensethik/ Individualethik/ Philosophie des Glücks, abzielend auf das für das Individuum Gute (Glück, positive Selbstbeziehung): • prudentielles Argument, z. B. bezüglich Peters Verhältnis zu seiner jungen Sekretärin: Verlust der Familie könnte Pe- 10 10 .1 45316_Fenner_SL4b.indd 265 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="266"?> 266 a n h a n g ter tief treffen und Verhältnis zur Sekretärin dürfte nicht von Dauer sein. b) der Sollensethik/ Sozialethik/ Moralphilosophie, die sich um das für die Gemeinschaft Gute (Moral, gerechtes Zusammenleben) kümmert: • moralisches Argument, z.B.: Peter darf seine Frau und die vier Kinder nicht im Stich lassen, weil sie auf ihn angewiesen sind. Kapitel 2 1. Verhalten (Handlung im weiten Sinn): Gesamtheit der Körperbewegungen und körperlichen Ausdrucksweisen von lebendigen Organismen • physische Ursache: physischer Zustand oder Ereignis, Naturgesetze • Ereigniskausalität • z.B.: niesen, gähnen, stolpern, Bein brechen etc. Handlung (im engen Sinn): absichtliche zielgerichtete Tätigkeit, um bestimmte gewünschte Veränderungen in der Welt vorzunehmen • mentale Ursache: Intention/ Absicht des Handlungssubjekts • intentionale Kausalität • z.B.: Einführung in die Ethik lesen, Prüfung vorbereiten etc. 2. Das Handlungssubjekt ist verantwortlich für: • beabsichtigte Folgen (=-Handlungsziel) • indirekt (mit-)beabsichtigte, in Kauf genommene Folgen (=-Mittel/ Nebenwirkungen) • nicht beabsichtigte und nicht vorausgesehene, aber prinzipiell voraussehbare Folgen (=-individuelles Wissensdefizit) 3. Unterlassen: Nichtausführen einer Handlung, die jemand auch hätte tun können (sei dies wissentlich oder unwissentlich, willentlich oder unwillentlich) • ethisch relevante Fälle: - Unterlassen hat negative Folgen für Person selbst oder für andere Betroffene - man unterlässt etwas, wozu man sich verpflichtet hat oder was man tun sollte Spezialfall Zulassen: Jemand tut etwas ganz bewusst nicht, obwohl er die Situation und die Folgen seines Unterlassens 45316_Fenner_SL4b.indd 266 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="267"?> 267 l ö � u n g E n Z u d E n ü b u n g � a u f g a b E n adäquat erfasst und den unabhängig von ihm ablaufenden Kausalprozess stoppen könnte. Im Unterschied zum Handeln ist man hier aber nicht die mentale Ursache des Geschehens und seiner negativen Konsequenzen. • ethisch viel schärfer zu verurteilen als Fälle des unwissentlichen, unwillentlichen Unterlassens Kapitel 3 1. Vgl. das Toulmin-Schema in Kapitel 5.1.1. 2. Konklusion: Jeder Embryo hat ein Recht auf Leben. Es stellen sich aber viele Fragen bezüglich der präskriptiven Prämisse: Wieso sollen alle Mitglieder der homo sapiens ein Recht auf Leben haben, aufgrund welcher spezifischer Merkmale, die anderen Lebewesen nicht zukommen? Verfügen Embryonen bereits über diese typisch menschlichen Eigenschaften oder gibt es ethisch relevante Zäsuren in der Entwicklung eines Menschen von der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen bis zur Geburt? 3. Es handelt sich in beiden Fällen um Dammbruchargumente, deren Schwäche darin besteht, dass Zukunftsprognosen generell unsicher sind. Man müsste in diesem Fall also fragen, ob die kausale Verbindung zwischen den einzelnen Gliedern wirklich zwingend ist oder ob man die negativen Folgen mit Regelungen verhindern könnte: a) typisches Kettenargument: Es könnte auch sein, dass die Verlängerung einmalig ist. Zudem ließe sich die Frist so setzen, dass negative Konsequenzen für den Studierenden ausbleiben. b) Präzedenzfall: Es ist eher unwahrscheinlich, dass alle eine Fristverlängerung beantragen. Man müsste verallgemeinerbare Gründe anführen, wieso man bei diesem Studenten eine Ausnahme gewährt. Kapitel 4 1. In subjektivistischen Begründungsmodellen werden normative Aussagen im Rückgriff auf subjektive Interessen, Wünsche, Präferenzen oder gewünschte psychische Zuständen wie Lust oder Glück der Menschen begründet. 45316_Fenner_SL4b.indd 267 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="268"?> 268 a n h a n g 2. Kritik am Utilitarismus: • hedonistische Interpretation des Nutzens problematisch • keine exakte Anwendung des Nutzenkalküls • keine Kritik der Bedürfnisse, Wünsche und Interessen • Problem der Gerechtigkeit ungelöst • Menschenwürde und Menschenrechte nicht berücksichtigt • Instrumentalisierung der einzelnen Menschen zugunsten der Nutzenmaximierung • Zweck der Nutzenmaximierung scheint alle Mittel zu rechtfertigen 3. Wird der Kontraktualismus als argumentativer Kunstgriff eingesetzt, um Egoisten oder Skeptiker zu moralischem Verhalten zu überreden, wird die Moral instrumentalisiert. Die Individuen haben dann keine moralische Gesinnung, sondern bleiben Egoisten, die lediglich moralkonform handeln. Gehen die Kontraktualisten andererseits nur methodisch von egoistischen Subjekten aus, werden die moralischen Vorbedingungen (gegenseitige Anerkennung, Interessensymmetrie, faire Ausgangschancen) eines legitimen Vertragsschlusses nicht genau angegeben und begründet. Zudem führt ein hypothetischer Vertrag grundsätzlich nicht zu faktischen Verpflichtungen, sodass man auf ein System von Sanktionen angewiesen ist. Kapitel 5 1. Objektivistische Begründungsmodelle versuchen, moralische Sollensforderungen unabhängig von empirischen Zuständen oder Interessen konkreter Subjekte zu begründen. Die Objektivität normativer Aussagen kann dabei entweder in der Übereinstimmung mit einer außerhalb der Subjekte existierenden Wirklichkeit wie im moralischen Realismus oder in allgemeinen kognitiven, pragmatischen oder sozialen Bedingungen moralischen Urteilens oder Handelns wie im Konstruktivismus begründet sein. 2. Es liegt ein Sein-Sollen-Fehlschluss vor, wie er für ein naturalistisches Argumentieren mit der Ableitung normativer Forderungen aus deskriptiven Tatsachenaussagen über die „Natur“ in einem weiten Sinn, d. h. der empirisch erfassbaren, faktisch vorgefundenen Wirklichkeit typisch ist: Es ist der 45316_Fenner_SL4b.indd 268 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="269"?> 269 l ö � u n g E n Z u d E n ü b u n g � a u f g a b E n falsche Schluss von der Tatsache, dass alle anderen auch so handeln, darauf, dass diese Handlungsweise ethisch richtig ist. 3. Konstruktivistische Ethiker fragen in einem ersten Schritt nach den kognitiven, pragmatischen, sozialen oder sprachlichen Bedingungen moralischen Urteilens oder Handelns. Unterschiedliche Vertreter haben die universelle Struktur der menschlichen Vernunft (Kant) oder der Sprache (Hare), allgemeine Argumentationsregeln (Apel/ Habermas) oder die Grundlagen menschlicher Handlungsfähigkeit (Gewirth) geltend gemacht. In einem zweiten Schritt leitet man aus diesen notwendigen Bedingungen menschlicher Moralität die Kriterien richtiger moralischer Urteile oder Handlungen ab, z.B.: • Kants Kategorischer Imperativ als höchstes Moralprinzip (Universalisierungsprinzip): Handle so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte. • Diskursethisches Moralprinzip: Nur diejenige Norm ist ethisch legitim, die von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). • Gewirths „Prinzip konstitutiver Konvergenz“: Jeder Handelnde sollte stets in Übereinstimmung mit den konstitutiven Rechten der Empfänger seiner Handlungen wie auch seiner selbst handeln. Kapitel 6 1. Menschliches Handeln kann unter folgenden drei Hinsichten ethisch beurteilt werden: a) mit Blick auf die Folgen oder Konsequenzen einer Handlung wie im Konsequentialismus b) mit Blick auf die Gesinnung des Handlungssubjekts oder die Handlung an sich betrachtet wie in der Deontologie c) mit Blick auf den guten Charakter oder die Handlungsdisposition der handelnden Person wie in der Tugendethik 2. Teleologische Ethik ist der engere Begriff als „konsequentialistische“, weil nur die beabsichtigen Handlungsfolgen (Ziel: „telos“) berücksichtigt werden und es um die Verwirklichung außermoralischer Güter geht. Typische Vertreter: Utilitarismus, Erfolgsethik. 45316_Fenner_SL4b.indd 269 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="270"?> 270 a n h a n g Gesinnungsethik ist der engere Begriff als „deontologische“, weil hier Folgenüberlegungen radikal ausgeblendet werden und nur die „gute Absicht“ zählt. Typische Vertreter: Kant, christliche Ethik 3. Auf das Trolley-Problem geben die verschiedenen Ethiktypen folgende Antworten: • konsequentialistische/ teleologische Argumentation: Die Weiche muss umgestellt werden, weil der Tod eines Menschen das geringere Übel bzw. den besseren Weltzustand darstellt als der Tod von fünf. • streng deontologische Argumentation (Kant): Man darf die Weiche nicht umstellen, weil man nicht töten darf (in sich schlechte Handlung) und den einen Mann nicht für die Rettung der fünf instrumentalisieren darf. • gemäßigte deontologische Argumentation: Die Weiche umzustellen ist erlaubt, weil der eine Mann dadurch nicht instrumentalisiert wird und sein Lebensrecht durchaus respektiert wird. Gemäß dem Prinzip der Doppelwirkung liegt der Handlung nämlich die gute Absicht zugrunde, die fünf Menschen zu retten (an sich gute Handlung), wohingegen der Tod des einen Manns nur eine in Kauf genommene Folge darstellt. Kapitel 7 1. Wert Prinzip Recht Norm Allgemeine Leitvorstellung darüber, was richtig/ erstrebenswert ist oberster einheitsstiftender allgemeiner Grundsatz berechtigter allgemein anerkannter Anspruch konkrete, situationsspezifische Handlungsregel z.B. Freiheit Handle so, dass Du die Freiheit Deiner Mitmenschen nicht beeinträchtigst. Recht auf Freiheit Zwinge niemanden mit Gewalt zu etwas! 45316_Fenner_SL4b.indd 270 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="271"?> 271 l ö � u n g E n Z u d E n ü b u n g � a u f g a b E n 2. Handlungsfreiheit Willensfreiheit betrifft: Handeln betrifft: Willen Abwesenheit von Hindernissen Selbstwahl und Zielverfolgung Möglichkeit, unabhängig von inneren oder äußeren Handlungsschranken zwischen (unendlich) vielen Handlungsalternativen auswählen zu können mentale Fähigkeit, die gegebenen physischen, psychischen und situativen Gegebenheiten auf selbstgesetzte, vernunftmäßig begründete Ideale oder Wertorientierungen hin zu beurteilen und die Verwirklichung seiner Handlungsziele einzuleiten eingeschränktes Recht auf Überlebenssicherung und einigermaßen permissives soziales Umfeld unbedingtes Recht 3. Das Prinzip Gerechtigkeit hat unbedingten Vorrang gegenüber dem Prinzip Wohltätigkeit. In bestimmten sozialen Gemeinschaftsformen wie Institutionen (Staat, Schulen) oder instrumentellen Vereinigungen (Vereinen, Unternehmen) haben die Beteiligten bestimmte klar definierte Rechte und Pflichten. Gerechtigkeit erfordert, dass für alle die gleichen Regeln der Verteilung von Vorteilen und Lasten gelten und diese mit Blick auf die Zielsetzung der jeweiligen Gemeinschaftsform begründet werden. Demgegenüber hat auch ein extrem hilfsbedürftiger Mensch mit der Ausnahme spezieller Garantenverhältnisse (Kinder-Eltern oder Patienten-Arzt) kein Recht auf Wohltätigkeit, da die Pflichtenträger völlig unbestimmt sind. Denn die Wohltätigkeitspflicht ist eingeschränkt durch die Möglichkeiten der zufälligen Zeugen einer Notlage und durch die Interessenabwägung zwischen den in Kauf zu nehmenden Übeln seitens der Hilfspersonen und der Not der Hilfesuchenden. Kapitel 8 1. Emotivismus: Normative Aussagen bringen Gefühle zum Ausdruck, z. B. „Ich finde es furchtbar, dass Du hier rauchst! “ Präskriptivismus: Normative Aussagen sind imperativische Aufforderungen oder Befehle, z. B. „Ich fordere Dich dazu auf, hier nicht zu rauchen! “ 45316_Fenner_SL4b.indd 271 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="272"?> 272 a n h a n g Ein wichtiges Plausibilitätsargument lautet, dass wir in rationalen Diskursen nach begründeten Antworten auf die Frage „Wie soll ich handeln? “ suchen und sämtliche gesellschaftlichen und politischen Debatten über ethische Streitfragen unter nonkognitivistischen Voraussetzungen sinnlos wären. 2. Emotivismus: normative Äußerungen sind nichts anderes als bloßer Gefühlsausdruck • Ayer, Stevenson Gefühlsethik: Gefühle sind Triebfedern moralischen Handelns a. normengebundene Gefühle: Achtung, Scham • Kant, Tugendhat b. personenbezogene Gefühle: Mitleid, Sympathie • Schopenhauer, Ursula Wolf 3. Deskriptiver Relativismus: Es existiert empirisch eine Vielzahl verschiedener ethischer Überzeugungen, die sich nicht reduzieren lässt. Metaethischer Relativismus: Es gibt keine universellen Normen oder Werte. Sie sind immer nur relativ für eine bestimmte Person, Gesellschaft oder Epoche. Normativer Relativismus (Traditions-/ Kulturrelativismus): Jeder soll nach den Normen und Werten urteilen und handeln, die in seiner Tradition als richtig gelten. Die normative Aufforderung zur Toleranz gegenüber fremden Kulturen und das Nichteinmischungsgebot führt zur absurden Konsequenz, dass man jegliche Verstöße gegen moralische Normen und sogar ein gewaltsames Aufoktroyieren von Normen durch eine andere soziokulturelle Gruppe hinnehmen müsste. Ethisch erforderlich ist aber weniger unkritische Toleranz als vielmehr allseitige Offenheit für einen interkulturellen Diskurs über das, was für alle Menschen an Grundgütern und Rechten unverzichtbar ist. Glossar advokatorisch: stellvertretend a priori (Geg.: a posteriori): vor jeder Erfahrung, erfahrungsunabhängig 10 .2 45316_Fenner_SL4b.indd 272 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="273"?> 273 g l o � � a r a posteriori (Geg.: a priori): aus der Erfahrung, erfahrungsgemäß asymmetrisch (Geg.: symmetrisch): auf beiden Seiten ungleich deduktiv (Geg.: induktiv): ableitend, das Besondere aus dem Allgemeinen herleitend deontologisch (Geg.: teleologisch): Begründungsform, bei der es auf die Pflicht zur Einhaltung bestimmter Sollensforderungen oder Rechte ankommt deskriptiv (Geg.: präskriptiv/ normativ): beschreibend empirisch: die Erfahrung betreffend epistemologisch: erkenntnistheoretisch etymologisch: die Herkunft, Geschichte und Grundbedeutung eines Wortes betreffend explizit (Geg.: implizit): ausdrücklich, deutlich falsifizieren (Geg.: verifizieren): eine Hypothese durch ein Gegenbeispiel widerlegen implizit (Geg.: explizit): unausdrücklich mitgemeint, mit inbegriffen induktiv (Geg.: deduktiv): vom Einzelnen zum Allgemeinen hinführend konsequentialistisch: Begründungsform, bei der es auf die Handlungsfolgen ankommt konstituieren: begründen, festsetzen konstitutiv: bestimmend, grundlegend metaphysisch: die Erfahrung und das sinnlich Wahrnehmbare übersteigend monistisch (Geg.: pluralistisch): von einem einzigen Grundprinzip ausgehend multivok: mehrdeutig normativ (Geg.: deskriptiv): wertend, vgl. „präskriptiv“; der Aufforderungscharakter ist mit einer moralischwertenden Komponente verknüpft Ontologie: Lehre vom Sein, von den Ordnungs- und Wesensbestimmungen des Seienden ontologisch: die Lehre vom Sein betreffend performativer Selbstwiderspruch: Widerspruch im Sagen/ Meinen und Tun per se: an sich, aus sich selbst heraus petitio principii: Beweisfehler, bei dem in der Beweisführung ein selbst erst noch zu beweisender Begriff oder Satz verwendet wird pluralistisch (Geg.: monistisch): die Vielfalt normativer, weltanschaulicher oder gesellschaftlicher Phänomene betreffend 45316_Fenner_SL4b.indd 273 05.03.2020 12: 20: 36 <?page no="274"?> 274 a n h a n g Prämisse: Voraussetzung präskriptiv (Geg.: deskriptiv): vorschreibend, auffordernd (erlaubend/ verbietend) semantisch: die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke betreffend symmetrisch (Geg.: asymmetrisch): auf beiden Seiten gleich teleologisch (Geg.: deontologisch): Begründungsform, bei der es auf die Verwirklichung guter Ziele ankommt transzendent: die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren überschreitend zu etwas Übersinnlichem hin transzendental: die jeder Erfahrung vorangehenden (apriorischen) menschlichen Erkenntnisformen betreffend (Kant) transzendieren: die Grenzen der Erfahrung und des sinnlich Erfahrbaren auf etwas Übersinnliches hin überschreiten verifizieren (Geg.: falsifizieren): die Richtigkeit einer Behauptung beweisen Bibliographie 10 .3 Ach, Johann und Siep, Ludwig: Ethik zur Einführung, in: Ach, Johann, Bayertz, Kurt (Hrsg.): Grundkurs Ethik, Bd. 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Gewirth, Alan---135, 154-158, 210, 269 Griffin, James---99 H Habermas, Jürgen---146, 148, 150-153 Hare, Richard---95, 146, 235, 269 Hobbes, Thomas---106-f., 112, 245 Höffe, Otfried---99, 140, 209, 221, 225, 249, 251 Horn, Christoph---32, 51, 133, 176, 178, 231, 251 45316_Fenner_SL4b.indd 279 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="280"?> 280 a n h a n g Hume, David---120, 243, 245, 246 J Jonas, Hans---49, 200 K Kant, Immanuel---136-146, 149-f., 170-174, 209-f., 247, 257 Kohlberg, Lawrence---196-f., 250, 252 Krebs, Angelika---219 Küng, Hans---78, 174 L Leist, Anton---246 Luckner, Andreas---30 M MacIntyre, Alasdair---177, 240 Mackie, John---236 McDowell, John---133 Mill, John Stuart---92-94, 97, 103, 131 Mohr, Hans---126 Moore, George---118, 120, 128, 132, 165 N Nagel, Thomas---202 Nietzsche, Friedrich---89, 90, 132 Nussbaum, Martha---177, 241 P Pieper, Annemarie---153, 204, 242, 248 Platon---29, 99, 132, 175, 214 Q Quante, Michael---86, 89, 201 R Rachels, James---58 Rawls, John---106, 109, 214, 250 Ricken, Friedo---8, 40, 44, 46, 51, 55, 152, 165, 171, 182-f., 195 Ross, David---133 S Sartre, Jean-Paul---195-f. Scheler, Max---132-f. Schopenhauer, Arthur---244, 245-f. Sen, Amartya---214 Sidwick, Henry---92 Singer, Marcus G. ---14, 258 Singer, Peter---95, 224-f. Smith, Adam---245-f. Spencer, Herbert---126 Steigleder, Klaus---154, 155-158 Stemmer, Peter---107, 110 Stevenson, Charles---234 Stirner, Max---89, 90 T Taylor, Charles---240 Thomas von Aquin---176, 200 Toulmin, Stephen---64-66, 69, 121, 124 Tugendhat, Ernst---247 V Vollmer, Gerhard---126 W Walzer, Michael---218-f. Weber, Max---170 Wittgenstein, Ludwig---234 Wolf, Jean-Claude---87-f., 91, 200 Wolf, Ursula---245, 272 45316_Fenner_SL4b.indd 280 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="281"?> 281 � a c h r E g I � t E r Sachregister 10 .5 A Achtung/ Selbstachtung---30, 156, 170, 183 Altruismus---27, 88-f., 126, 175, 222 Argumentationsschema---64, 79 Argumente---63-f. --ad hominem (gegen die Person)---75-f. --Analogie----75-f. --Autoritäts----73-f. --Beispiels----74-f. --Dammbruch----72-f. --deduktive---68-f. --Plausibilitäts----71, 236 --schwache/ weiche---71 --Traditions----78-f., 178-f. --tu quoque (Du auch)---76-f. --Wenn-Dann----69-f. Autonomie, s. Freiheit/ Willensfreiheit D Determinismus/ Indeterminismus---208-f. Dilemma, moralisches---195- 198 E Egoismus---87-91 Emotivismus---234-f. Empathie---245, 250 Enthymem---122 Ethik---16, 18 --allgemeine/ angewandte---21 --antike/ neuzeitliche---231-f. --deontologische---162, 169-175, 183-185 --deskriptive---20, 126 --Diskurs----146-154, 260 --empiristische---244 --Erfolgs----166 --evolutionäre---126-128 --Gefühls----244-248 --Gesinnungs----170-172, 183 --hedonistische, s. Hedonismus --Individual-/ Strebens----22, 25, 31-f. --kommunitaristische---177, 240-f. --konsequentialistische---164- 168, 181-183 --Meta----20, 234 --normative/ deskriptive---19-f. --pädagogische---249 --philosophische/ theologische---17 --rationalistische---230 --Sozial-/ Sollens----22, 32, 212-f., 256 --teleologische---165-168 --Tugend----163, 175-179, 185, 232 --utilitaristische, s. Utilitarismus --Verantwortungs----166, 170 --Vernunft----136-146 Eudaimonismus---165 F Fehlschlüsse --genetischer---236 --hedonistischer---130 --intellektualistischer---150 --naturalistischer---120, 129, 178-f. --Sein-Sollen----120, 127, 130 --Traditions----78, 178 45316_Fenner_SL4b.indd 281 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="282"?> 282 a n h a n g --Zirkelschluss (logischer Zirkel)---123, 135, 178 Freiheit---155, 204-212 --Handlungs----204-f. --Willens----205, 210 --Willkür----205 G Garantenstellung---198, 226 --Gefangenendilemma---105 Gefühle, moralische---245-248 Gerechtigkeit---212-221, 262 --arithmetische/ geometrische---215 --interpersonale, egalitäre---213- 216 --personenbezogene, inegalitäre---214, 216, 219-f. Glück---22-f., 25, 86, 93 Goldene Regel---169, 174-f., 259 Güter---89, 102, 154-159, 261 H Handlung---38-41 --Definition---39 --enger/ weiter Sinn---38 --Handlungsfolgen---42-50, 162, 168 --mentale/ physische Ursache---39, 55 handlungsreflexiver Ansatz---154-157, 261 Hedonismus---93-95, 128-131 I Interessen, aufgeklärte---87 Internalismus/ Externalismus---243-f. Intuitionismus---118, 131-134 K Kategorischer Imperativ---138- 146, 257 Kognitivismus---234 Kommunitarismus, s. Ethik/ kommunitaristische Konstruktivismus, ethischer---116-f., 134-136 Kontraktualismus---104, 106-113, 261 Kulturrelativismus, s. Relativismus L Liberalismus---106, 240 M Mitleid---245 Moral---11-15, 18-f. --autonome/ heteronome---250-f. --enger/ weiter Sinn---11 --faktische/ normative Größe---12 --Kennzeichen---14, 256 --moralischer unparteiischer Standpunkt---14, 81, 213, 221, 259 --moralkonform---27-29, 111 Moralerziehung---248-253 Moralphilosophie, s. Sozialethik Moral-Sense-Philosophie---244 Münchhausen-Trilemma---135 N Naturalismus---118-131, 178 Naturrecht---123 Neoaristotelismus---176-179 Nonkognitivismus---230, 233-237 Normen --moralische/ rechtliche/ konventionelle---15-f., 190 O Objektivismus/ Subjektivismus, ethischer---86-f., 116 45316_Fenner_SL4b.indd 282 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="283"?> 283 � a c h r E g I � t E r P Partikularismus, ethischer---133-f. Pflichten --negative/ positive---139-f., 221-f. --universelle Hilfs----224-f. --vollkommene/ unvollkommene---198, 222-f. Philosophie---17 --Moral-, s. Sozial-/ Sollensethik --politische-/ Rechts----18 --praktische/ theoretische---17 --Sprach----146 Präskriptivismus---235 Prinzip der Doppelwirkung---43, 184 Prinzipien---192-f. R Rational choice theory---104-f. Realismus, ethischer---116-118 Rechte---193 --auf Freiheit---101, 210-f. --auf Gerechtigkeit---219 --auf Leben---197-f., 199-204 --auf Wohltätigkeit---196, 226-f. --Menschen----100-f., 158, 193, 220, 239 Relativismus, ethischer---232, 237-242 S Selbstregulationsfähigkeit---207, 250 Sentimentalismus---244 Skeptizismus, moralischer---236, 240 Sollen-Können-Grundsatz---197, 223, 256 Sophisten---106, 237 Spieltheorie---105 Syllogismus, praktischer---66-69 T Toleranz---239, 242 Traditionsrelativismus, s. Relativismus Trolley-Problem---185, 187 Tugend---175-179, 185, 232 U Universalisierbarkeit---14, 110, 169-f., 237, 256-f. Unterlassen---50-59 Utilitarismus---91-104, 166, 181-f., 262 --Definition---93 --Durchschnittsnutzen/ Nutzensummen----97 --Handlungs-/ Regel----96-f. --klassischer (hedonistischer)---93 --Präferenz----94-f., 259 --qualitativer/ quantitativer---93-f. V Verallgemeinerungsprinzip---258 Verantwortung---11, 15, 40-50, 56-59 Vertragstheorie, s. Kontraktualismus W Werte --Definition---190 --faktische/ normative Größe---191-f. Wohltätigkeit---221-226 Würde---101, 143, 170-f., 210 45316_Fenner_SL4b.indd 283 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="284"?> 45316_Fenner_SL4b.indd 284 05.03.2020 12: 20: 37 <?page no="285"?> ,! 7ID8C5-cfdbgf! ISBN 978-3-8252-5316-5 Dagmar Fenner Ethik 2. Auflage Immer wieder sehen wir uns vor die ethische Grundfrage gestellt: „Wie soll ich handeln? “ Dagmar Fenner definiert alle wichtigen Begriffe der philosophischen Ethik und stellt die bedeutendsten Konzepte vor. Der Band gibt damit einen systematischen Überblick über die ethischen Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge untereinander. Eine Fülle von Beispielen aus der ethischen Alltagspraxis und zahlreiche Abbildungen und Tabellen erleichtern den Zugang ebenso wie die unkomplizierte Sprache. Übungsaufgaben mit Lösungen dienen der Kontrolle des Lernfortschritts. Ethik 2. A. Fenner Lehrbücher mit einem klaren Konzept: ▶ Definitionen, Beispiele und Zusammenfassungen erleichtern den Überblick ▶ Testfragen fördern das Verständnis ▶ ideal für die Prüfungsvorbereitung basics basics Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Philosophie 53165 Fenner_basics-2989.indd 1 53165 Fenner_basics-2989.indd 1 05.03.20 09: 23 05.03.20 09: 23