Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union
0511
2020
978-3-8385-5346-7
978-3-8252-5346-2
UTB
Domenica Dreyer-Plum
Was ist 2015 in der sogenannten Migrationskrise passiert? Wie ist die darauf antwortende Politik zu bewerten? Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenz- und Asylpolitik? Und was sind die gesellschaftlichen und politischen Gründe dafür, dass das Politikfeld seit den späten 1990er Jahren zunehmend auf europäischer Ebene gestaltet wird?
Die Autorin liefert ausgewogene Antworten, indem zum einen die Genese des Politikfeldes vor dem Hintergrund der Schengen-Kooperation historisch und politisch aufgearbeitet wird. Zudem erläutert sie, wie die Institutionen ihr Mandat genutzt haben und welche Standards bei der Einreise, Visavergabe und in Asylverfahren laut EU-Recht gelten. Dabei werden auch die Schwachstellen beleuchtet, die den andauernden Streit um die Ausrichtung der europäischen Grenz- und Asylpolitik prägen.
<?page no="0"?> Domenica Dreyer-Plum Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5346 <?page no="2"?> Dr. Domenica Dreyer-Plum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. <?page no="3"?> Domenica Dreyer-Plum Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union UVK Verlag · München <?page no="4"?> UVK Verlag ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Nymphenburger Straße 48 · 80335 München Internet: www.uvk.de © 2020 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck UTB-Nr.: 5346 ISBN 978-3-8252-5346-2 (Print) ISBN 978-3-8385-5346-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5346-2 (ePub) Einbandmotiv: © iStockphoto, AlxeyPnferow Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Für meine Eltern <?page no="7"?> 11 1 13 2 17 2.1 17 2.1.1 20 2.1.2 21 2.2 26 2.2.1 27 2.2.2 32 2.3 38 3 41 3.1 45 3.1.1 46 3.1.2 50 3.2 56 3.2.1 57 Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union Historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext des europäischen Integrationsprozesses . . . . . . . Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenz- und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schengen und Theorien europäischer Integration . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Schengen-5 zu Schengen-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Grenzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 3.2.2 60 3.2.3 63 3.3 66 3.3.1 67 3.3.2 75 3.3.3 83 3.4 86 3.4.1 87 3.4.2 94 3.4.3 98 3.5 101 3.6 104 4 109 4.1 111 4.1.1 112 4.1.2 114 4.1.3 119 4.2 121 4.2.1 122 4.2.2 124 Rechtsinstrumente zur gemeinsamen Steuerung der europäischen Grenzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frontex: Gründung, erste Einsätze und rechtliche Entwicklung der europäischen Grenzschutzagentur . . . . Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische Grenzpolitik (Schengener Grenzkodex) . . . . Europäische und nationale Visatitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzschutz und Asyl: Einreise ohne Dokumente . . . . . . Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Lage an den Außengrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzschutz und Kooperation an den Außengrenzen . . . Zur Praxis der Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streit um die europäische Grenzpolitik seit 2015 . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asylpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung . . . . . . . . . . . Was bedeutet Asyl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR: Internationale Konvention und Organisation zum Flüchtlingsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention für den europäischen Asylschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komptenzen der EU in der Asylpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Asylpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prägende Rechtsinstrumente der gemeinsamen Asylpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 4.3 131 4.3.1 132 4.3.2 141 4.3.3 145 4.3.4 149 4.4 154 4.4.1 154 4.4.2 159 4.4.3 162 4.5 168 4.5.1 170 4.5.2 186 4.6 195 5 201 6 205 217 Geltende Bestimmungen in der europäischen Asylpolitik: Gemeinsames Europäisches Asylsystem . . . . . . . . . . . . . . Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens: die Dublin-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . Verpflichtungen der europäischen Staaten beim Umgang mit Asylsuchenden: die Aufnahmerichtlinie . . . . . . . . . . . Gemeinsame Regeln bei der Begutachtung eines Asylantrags: die Verfahrensrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien für internationalen Schutz: die Anerkennungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zahlen zu Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dublin-Transfers und Ausgleichsmechanismen . . . . . . . . Divergierende nationale Asylpolitik trotz gemeinsamer Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 . . . . . . . . . Krisensituation im Sommer 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politischer Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Abkürzungsverzeichnis Abs. Absatz AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union EASO Unterstützungsbüro für Asylfragen (Agentur) EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreihei‐ ten (auch: Europäische Menschenrechtskonvention) endg. endgültig EP Europäisches Parlament Eurojust Justizbehörde der Europäischen Union (Agentur) Europol Stafverfolgungsbehörde der Europäischen Union (Agentur) EU Europäische Union EuGH Gerichtshof der Europäischen Union EUV Vertrag über die Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FRA Fundamental Rights Agency, dt. Grundrechtsagentur Frontex Grenzschutzagentur (Agentur, von frz.: frontières extérieures) GFK Genfer Flüchtlingskonvention iVm in Verbindung mit k.A. keine Angabe lit. Buchstabe KOM Kommission mwN mit weiteren Nachweisen SDÜ Schengener Durchführungsübereinkommen <?page no="12"?> SIS Schengen-Informationssystem UAbs. Unterabsatz UNO United Nations Organization, dt.: Vereinte Nationen UNHCR United Nations High Commissioner for Refuees, dt: Hochkom‐ missar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge VIS Visa-Informationssystem Abkürzungsverzeichnis 12 <?page no="13"?> 1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union Flucht, Asyl und Migration sind keine nationalen oder europäischen, son‐ dern globale Themen, die Fragen globaler Gerechtigkeit betreffen und libe‐ rale Demokratien mit der Frage konfrontieren, ob individuelle Rechte (Asyl) oder staatliche Souveränität (Grenzschutz) Vorrang erhalten. Flucht, Asyl und vor allem Schutzgewährung sind mit der Zuwanderung im Jahr 2015 von mehr als 1 Mio. Menschen nach Europa - und vor allem nach Deutschland und Schweden - zu Topthemen der Tagespolitik gewor‐ den. Rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und der Front National (seit 2018: Rassemblement National) in Frankreich nutzen bewusst fremdenfeindliche Parolen, um ihre Wählerschaft in diesem Segment zu gewinnen. Demge‐ genüber stehen PolitikerInnen und BürgerInnen, die eine humanitäre Asyl‐ politik im Sinne rechtsstaatlicher Grundwerte einfordern. Seit 2015 ist die Asylpolitik nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene eine Streitfrage mit dem Potenzial, Gesellschaften zu spalten. Asylpolitik ist unter den geltenden rechtlichen Bestimmungen immer auch Grenzpolitik, weil es bisher nicht möglich ist, ein Visum zu beantra‐ gen, um in einem europäischen Land wegen politischer oder religiöser Verfolgung Schutz zu suchen. Daher ist die irreguläre Einreise unter Nut‐ zung von Schleusernetzwerken oft die einzige Möglichkeit für Asylsu‐ chende, unter Umgehung der geltenden Einreisebestimmungen nach Eu‐ ropa zu gelangen. Die Politikfelder Grenze und Asyl sind in der Justiz- und Innenpolitik angesiedelt und liegen teilweise in der Kompetenz der Europäischen Union, teilweise in mitgliedstaatlicher Souveränität. In jedem Fall erfolgt die Um‐ <?page no="14"?> 1 Als Unionsrecht wird das Recht der Europäischen Union bezeichnet. Die Europäische Union wurde mit dem Vertrag von Maastricht (1993) gegründet, doch erst seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009) wird das Recht der Europäischen Union als Unionsrecht bezeichnet. Zuvor wurde das Recht als Gemeinschaftsrecht bezeichnet und umfasste das Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomge‐ meinschaft (Euratom). Letztere existiert institutionell unabhängig von der Europäi‐ schen Union fort. Zum Unionsrecht zählen einerseits die Verträge als sogenanntes Pri‐ märrecht und andererseits das durch die europäischen Organe geschaffene Recht, zum Beispiel Verordnungen und Richtlinien. Dieses Recht wird auf Grundlage der Verträge geschaffen und als Sekundärrecht bezeichnet. setzung des Unionsrechts 1 in den Mitgliedstaaten durch deren Behörden und Akteure. Während die Kontrolle der Außengrenzen prinzipiell in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, so unterliegen die Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Schengener Rechtsprinzipien, die die Offenheit der Grenzen zur Gewährleistung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsehen. Die Asylpolitik ist stärker europäisiert als andere Politikfelder und dennoch divergieren sowohl die Asylentscheidungen zwi‐ schen Mitgliedstaaten als auch die Leistungen gegenüber Asylsuchenden erheblich. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich allerlei Fragen: Wer sind die ent‐ scheidenden Akteure in der europäischen Grenzpolitik respektive Asylpo‐ litik? Welche Verantwortung trägt die Europäische Union (EU) und welche Kompetenzen sind ihr zur Gestaltung der Außengrenzschutz- und Asylpo‐ litik übertragen worden? Welche Möglichkeiten haben die Mitgliedstaaten, die europäische Politik mitzugestalten? Durch welche Rechtsinstrumente haben die europäischen Institutionen bisher die Grenz- und Asylpolitik ge‐ prägt? Welche Regeln gelten und welche Bedeutung haben sie in der Asyl‐ schutzkrise seit 2015? Ziel dieses Lehrbuchs ist es, einen Überblick über die bestehenden euro‐ päischen Regeln in den Bereichen der Grenz- und Asylpolitik zu geben. Da‐ bei wird es wichtig sein, den engen Zusammenhang zwischen beiden Be‐ reichen aufzuzeigen und die Kompetenzverwebungen zwischen nationaler und europäischer Ebene aufzuzeigen. Zunächst widmen wir uns dem historischen und politischen Hintergrund der Vergemeinschaftung europäischer Grenz- und Asylpoiltik, die wesent‐ lich im Integrationsprojekt Schengen begründet liegt (Kapitel 2). Darauf folgt eine genaue Betrachtung der Grenzpolitik mit einem Blick auf politische 1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union 14 <?page no="15"?> Ziele und praktischen Grenzschutz, Einreisebestimmungen und Konflikte (Kapitel 3). Dem folgt eine Auseinandersetzung mit der Asylpolitik (Kapitel 4) anhand folgender Fragen: Was bedeutet Asyl? Seit wann bestimmt die Europäische Union über europäische Asylpolitik? Mit welchen Mitteln wird Asylpolitik gestaltet? Was ist der Kern des politischen Streits um europäi‐ sche Asylpolitik? Im Schlusskapitel (Kapitel 5) werden die wichtigsten Ant‐ worten auf die aufgeworfenen Fragen festgehalten. 1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union 15 <?page no="17"?> 2 Im luxemburgischen Schengen - im Dreiländereck von Luxemburg, Frankreich und Deutschland - wurde 1985 der Vertrag über die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen unterzeichnet, woraus sich die Bezeichnung des Schengenraumes ableitet. 2 Historische Grundlagen Die europäische Grenz- und Asylpolitik ist ebenso wie andere Politikfelder erst im Laufe der europäischen Integrationsgeschichte in die Gemeinschafts‐ politik hineingewachsen. Als wesentliche Erklärung für die schrittweise Vergemeinschaftung der Grenz- und Asylpolitik gilt der Kooperationsbe‐ ginn im sogenannten Schengenraum 2 in den 1980er Jahren. Der politische Wille zur Realisierung einer der Grundfreiheiten der Römischen Verträge - freier Personenverkehr (Art. 3 Abs. c EWG-Vertrag) - leitete zunächst Deutschland und Frankreich an, in Kooperation mit den Benelux-Staaten die Öffnung ihrer Binnengrenzen zu verwirklichen. In diesem Kapitel wird in das Thema eingeführt, indem der Beginn der politischen Zusammenarbeit in Grenz- und Asylfragen skizziert (Kapitel 2. 1) und die Grenz- und Asyl‐ politik als typisches Beispiel für europäische Integrationsprozesse bespro‐ chen werden (Kapitel 2. 2). 2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses Mit dem Begriff europäischer Integrationsprozess ist die Entwicklung der eu‐ ropäischen Rechtsgemeinschaft gemeint, die in den 1950er Jahren begonnen und bis heute nicht abgeschlossen ist. Im Jahr 1952 unterzeichneten sechs europäische Staaten einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der die transnationale Zusammenlegung dieser kriegsin‐ tensiven Märkte vorsah. Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxem‐ burg erhofften sich in der Nachkriegszeit von dieser Zusammenarbeit ei‐ nerseits die Rückgewinnung des Vertrauens ineinander, andererseits be‐ stimmte der wirtschaftliche Wiederaufbau die politische Agenda der Gründerstaaten. Die Zusammenarbeit in den Industriezweigen Kohle und Stahl sollte wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand generieren. Dieses <?page no="18"?> Anliegen hielten die Unterzeichner auch in der Präambel des Vertrags fest. Ihr Ziel war es „durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschtitt der Werke des Friedens beizutra‐ gen“ und zeigten sich „entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammen‐ schluß [sic! ] ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errrichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und ver‐ tiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen“ (EGKS-Vertrag, Präambel). Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige internationale Behörde (Hohe Behörde) war mit der Aufgabe betraut, die Ziele des Vertrags durch Verwal‐ tungsakte zu verwirklichen. Kontrolliert wurde diese Behörde durch einen Rat, in dem die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten waren; sowie durch eine parlamentarische Versammlung, in die gewählte Abge‐ ordnete der nationalen Parlamente für die jährliche Sitzungsperiode ent‐ sandt wurden. Die folgenden knapp 70 Jahre seit Gründung der Europäischen Gemein‐ schaft für Kohle und Stahl - die auch als Montanunion bezeichnet wird - sind gleichermaßen geprägt durch Prozesse der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft. Die Aufnahme neuer Mitgliedsländer hat die Gemein‐ schaft von ursprünglich sechs auf 28 Mitgliedstaaten wachsen lassen. Zur Vertiefung zählt die wachsende Zuständigkeit der europäischen Gemein‐ schaft in immer mehr Politikfeldern und gleichzeitig die Intensivierung der Zusammenarbeit. Die Kooperationsbereiche wurden zunächst auf einen gemeinsamen Markt ausgedehnt (Römische Verträge, 1957 unterzeichnet, 1958 in Kraft getreten), dann um Kooperationen im Bereich Forschung und Technologie, Umwelt, Sozialpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik erweitert (Einheitliche Europäische Akte, 1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten). Die Justiz- und Innenpolitik, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Wirtschafts- und Währungsunion sind in den 1990er Jahren hinzugetreten (Maastrichter Vertrag, unterzeichnet 1992, in Kraft getreten 1993). Alle Verträge und Re‐ formen gehen in den 2007 unterzeichneten und 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ein. Immer mehr Politikfelder liegen nun in der ausschließlichen Zuständig‐ keit der Europäischen Union, darunter gemäß Art. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Zollunion, Wettbewerbsre‐ geln im Binnenmarkt, Währungspolitik, Handelspolitik. In weiteren Berei‐ 2 Historische Grundlagen 18 <?page no="19"?> chen teilen sich die Europäische Union und die Mitgliedstaaten die Kompe‐ tenzen, darunter gemäß Art. 4 AEUV: Binnenmarkt, Sozialpolitik, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, Energie, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Forschung und Techno‐ logie. Schließlich gibt es Bereiche, in denen die Europäische Union die Maß‐ nahmen der Mitgliedstaaten unterstützt und koordiniert, darunter gemäß Art. 6 AEUV: Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Verwal‐ tungszusammenarbeit. Doch auch die institutionelle Organisation unterlag tiefgreifenden Ver‐ änderungen. Von einer technokratischen Struktur der Montanunion (1952/ 1953), die zunächst ganz auf die Hohe Behörde (heute: Europäische Kommission) ausgerichtet war, wurde mit der Unterzeichnung der Römi‐ schen Verträge (1957) ein System geschaffen, das die exekutiven Regie‐ rungsvertreter im Rat zu den Entscheidungsträgern der Gemeinschaft machte. Es folgte die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parla‐ ments (1979) und seit der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem Koope‐ rationsverfahren die stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Gesetzgeber. Seit dem Lissabonner Vertrag (2009) sind Rat und Parlament in den meisten Politikbereichen gleichberechtigte Gesetzgeber. Europäische Politikentwicklung basiert nun überwiegend auf Vorschlägen der Kommis‐ sion, die vom Rat der EU und vom Europäischen Parlament gelesen, geändert und beschlossen werden. Immer mehr Entscheidungen werden nun durch qualifizierte Mehrheiten statt nach dem lange im Rat dominierenden Ein‐ stimmigkeitsprinzip verabschiedet. Fragen zu Grenzen und Asyl rückten ab den 1980er Jahren im Zuge der Schengen-Politik (ab 1984) und der Neuausrichtung der europäischen Inte‐ gration mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1985-1987) auf die Agenda der europäischen Politik. Formal fällt die Grenz- und Asylpolitik unter die Justiz- und Innenpolitik eines Staates. Es handelt sich um eine der Kernkompetenzen des Staates, schließlich bedeutet die Kontrolle über die Einreise die Kompetenz, darüber zu entscheiden wer sich im Land aufhalten darf. Damit wird - gerade bei langfristigen Aufenthaltstiteln - auch über die Komposition der Gemein‐ schaft entschieden. Unter diesen Vorzeichen ist es geradezu revolutionär, dass die Mitglied‐ staaten der Europäischen Union mit dem Schengener Abkommen die Grund‐ freiheiten der Römischen Verträge von 1957 - freier Waren-, Dienstleis‐ tungs- Personen- und Kapitalverkehr - verwirklichten, indem sie Kontrollen 2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses 19 <?page no="20"?> an den gemeinsamen Landesgrenzen abschafften und zuließen, dass die Au‐ ßengrenzen der kooperierenden Staaten zu Außengrenzen der Schengen‐ gemeinschaft und damit zu gemeinsamen Außengrenzen wurden. 2.1.1 Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik Grenz- und Asylpolitik werden klassischerweise dem Innenressort zuge‐ ordnet. Dies ist auch auf europäischer Ebene nicht anders. Doch die Be‐ zeichnung entspricht nicht dem üblichen Sprachgebrauch: Im Vertrag von Lissabon wird die Innen- und Justizpolitik der Europäischen Union unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusammengefasst. Dazu zählen die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwande‐ rung, justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie polizeili‐ che Zusammenarbeit (Kapitel 1-5 des Titels V, AEUV). Die Politikfelder Grenze, Asyl und Einwanderung werden zwar gleich‐ rangig aufgelistet, es gibt allerdings erhebliche Unterschiede bei den Kom‐ petenzzuweisungen zwischen nationaler und europäischer Ebene. Während die Binnengrenzenpolitik ein Gemeinschaftsfeld ist, bleibt der Außengrenz‐ schutz in der Souveränität der jeweiligen Mitgliedstaaten. In der Einwanderungspolitik gibt es lediglich vereinzelte gemeinsame Ansätze wie die Blaue Karte, die hochqualifizierten Arbeitskräften den Auf‐ enthalt im europäischen Raum für mehr als drei Monate ermöglichen soll (Richtlinie 2009/ 50/ EG v. 25. 5. 2009). Überwiegend bleibt die Einwande‐ rungspolitik jedoch in der Domäne der Mitgliedstaaten und ist dort als in‐ nenpolitisches Streitthema bekannt. Ebendiese politische Brisanz auf natio‐ naler Ebene macht eine Europäisierung bis auf weiteres undenkbar. Die Asylpolitik ist von den drei Bereichen das am weitesten entwickelte europäische Politikfeld. Von 1999 bis 2013 ist in zwei Etappen ein umfas‐ sendes Regelwerk entstanden, das alle Schritte eines Asylverfahrens von der Antragstellung bis zu den Rechten als anerkannter Flüchtling festlegt. Doch wie jedes europäisierte Politikfeld bleibt auch die Asylpolitik davon abhän‐ gig, dass die Mitgliedstaaten die Vorgaben vor Ort gewährleisten. Die Europäisierung dieser Bereiche variiert also stark. Grenzschutz und Einwanderungspolitik liegen weiterhin in nationaler Verantwortung und werden auf europäischer Ebene lediglich koordiniert. Die Asylpolitik hin‐ gegen ist ein europäisches Thema. Hinzu kommt die Koordinierung der jus‐ tiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Daraus ergibt sich die Agenda 2 Historische Grundlagen 20 <?page no="21"?> der Innen- und Justizminister bei ihren regelmäßigen Tagungen im Rat der EU. Die politischen Leitlinien in diesem Politikfeld werden vom Europäi‐ schen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten festgelegt (Art. 68 AEUV). 2.1.2 Die Grenz- und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften Die Grenz- und Asylpolitik ist erst 1999 mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam zu einem gemeinsamen europäischen Politikfeld geworden. Diese funktionale wie politische Vertiefung europäischer Integration lässt sich jedoch unmittelbar mit dem Gründungsvertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahr 1957 in Verbindung bringen. Im Zen‐ trum der Gründungsverträge (und damit am Beginn der europäischen Intg‐ ration) stand die Errichtung eines gemeinsamen Marktes: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitglied‐ staaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Ge‐ meinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine grö‐ ßere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zu‐ sammengeschlossen sind.“ (Art. 2 EWG-Vertrag) Um diesen gemeinsamen Markt zu errichten, sollten zunächst Zolltarife in‐ nerhalb der Gemeinschaft abgeschafft werden, um den freien Warenaus‐ tausch innerhalb der neu gegründeten Wirtschaftsgemeinschaft zu ermög‐ lichen (Art. 3 lit. a EWG-Vertrag). Der freie Warenverkehr ist eine der vier Grundfreiheiten, die in den Römischen Verträgen als Ziele der Gemeinschaft festgelegt wurden und bis heute den Charakter der Europäischen Union prägen (Titel I, insbesondere Art. 9 EWG-Vertrag). Ein Großteil der Rechtsetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene lässt sich auf diese vier Hauptziele zurückführen: Freier Warenver‐ kehr, freier Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalver‐ kehr (Titel I und III, EWG-Vertrag, insbesondere Art. 9, 48, 52, 59 EWG-Ver‐ trag). Der freie Personenverkehr war zunächst streng auf den Markt begrenzt und bedeutete die Freiheit, in einem der Mitgliedstaaten eine Arbeit aufzu‐ nehmen und unabhängig von Staatsangehörigkeit beschäftigt und entlohnt 2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses 21 <?page no="22"?> zu werden (Art. 48 Abs. 2 EWG-Vertrag). Ebenso wie sich Bürger frei in einem der Mitgliedstaaten niederlassen können, gilt dies auch für Unter‐ nehmen bspw. durch die Gründung von Tochtergesellschaften (Art. 52 f. EWG-Vertrag). Die Dienstleistungsfreiheit sollte es jedem Unternehmer ermöglichen, seine Dienstleistungen im gesamten Raum der Wirtschaftsgemeinschaft an‐ zubieten (Art. 59 EWG-Vertrag). Bisherige Beschränkungen - gerade auch verwaltungsrechtlicher Natur (Anerkennung usw.) - sollten schrittweise abgebaut werden. Schließlich galt es die Beschränkungen des Kapitalverkehrs soweit auf‐ zuheben, wie es „für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwen‐ dig ist“ (Art. 67 EWG-Vertrag). Der Vertrag sah vor, dass solche Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission vom Rat zunächst einstimmig und nach Ab‐ lauf einer Übergangsphase von acht Jahren mit qualifizierter Mehrheit an‐ genommen würden (Art. 69 EWG-Vertrag). Offensichtlich gerieten die Freiheiten des Marktes in Konflikt mit den physichen Grenzen der Mitgliedstaaten. Durch Grenzkontrollen kam es zu Verzögerungen beim Transport von Waren, doch auch der Personenverkehr wurde dadurch beeinträchtigt. Insofern stand die Grenzpolitik den Grund‐ freiheiten des Gemeinsamen Marktes und damit dem Hauptziel und Motiv der Gründungsverträge entgegen. Wollte man die Freiheiten verwirklichen, so brauchte es eine Öffnung der traditionell national kontrollierten Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Die funktionale Notwendigkeit der Öffnung von Grenzen zwischen den beteiligten Staaten lag damit auf der Hand. Die informelle Kooperation in den Bereichen Justiz, Inneres, Asyl und Grenzen begann bereits in den 1970er Jahren (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Doch zu einer ver‐ bindlichen Initiative dieser Art kam es erst 1984 mit einem deutsch-franzö‐ sischen Regierungsabkommen und dem 1985 unterzeichneten Schengener Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Darin ist die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Gemeinsamen Marktes festgelegt. Bevor dieses politi‐ sche Ziel verwirklicht werden konnte, brauchte es gemeinsame Standards bei der Einreise in den Wirtschaftsraum und bei der Frage, wann unter wel‐ chen Bedingungen durch welchen Staat Asyl gewährt wird. Denn die Ab‐ schaffung von Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten bedeutete, dass die Außengrenze eines Mitgliedstaates zur Außengrenze des gesamten Wirtschaftsraums wurde. Wer in den europäischen Wirtschaftsraum ein‐ 2 Historische Grundlagen 22 <?page no="23"?> reiste, konnte sich bei der Aufhebung von Binnengrenzkontrollen prinzipiell frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen. Die Einheitliche Europäische Akte (1987) hielt vertraglich fest, dass die Personenfreizügigkeit durch die Abschaffung der Kontrollen an den Bin‐ nengrenzen der Gemeinschaft bis Ende 1992 auf eine neue Stufe gehoben werden sollte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte war der EWG-Ver‐ trag um folgenden Artikel 8a ergänzt worden: „Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezem‐ ber 1992 gemäß dem vorliegenden Artikel […] den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfaßt [! ] einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist.“ Diese Öffnung der Binnengrenzen sollte mit gemeinsamen Regeln bei den Außengrenzkontrollen und der Schaffung einer gemeinsamen Einwande‐ rungs- und Asylpolitik einhergehen, wofür die Gemeinschaft aber zunächst kein vertragliches Mandat erhielt. Hier bestand also eine rechtliche Lücke zwischen dem Vertragsziel der Einheitlichen Europäischen Akte, die die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen innerhalb von sechs Jahren vorsah, ohne jedoch der Kommission ein Mandat zur Schaffung flankierender recht‐ licher Maßnahmen zum Außengrenzschutz, zur Einreise und zur Gestaltung der Asylpolitik zu erteilen (Morijn 2017: 186). Tatsächlich handelten die Mitgliedstaaten zunächst außerhalb des recht‐ lichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Wirtschaftsgemein‐ schaft begleitende Maßnahmen der Einreise- und Asylpolitik aus. Es wurden mehrere ad-hoc-Arbeitsgruppen gegründet, die sich mit den von der Grenz‐ politik berührten Feldern befassten, darunter zu den Bereichen Einwande‐ rung (Außengrenzkontrollen, Visa, Asyl), justizielle Kooperation, TREVI (Polizei, Sicherheit, Terrorismus) und CELAD zur Bekämpfung der Drogen‐ kriminalität (Morijn 2017: 186). So entstand 1990 im Zuge des Schengener Abkommens das Dubliner Übereinkommen ebenfalls als völkerrechtliches Instrument, das aber erst 1997 in Kraft trat. Es enthielt einen Kriterienkatalog, nach dem geprüft wer‐ den sollte, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zustän‐ dig ist. So sollte verhindert werden, dass Asylanträge in mehreren Mitglied‐ staaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt werden. Die Frist zur Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen verstrich indes im Dezember 1992. Es dauerte noch mehrere Jahre bis die Binnengrenzkon‐ 2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses 23 <?page no="24"?> trollen zunächst an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten 1995 tatsächlichen aufgehoben wurden. Im Vertrag von Maastricht (1992 unterzeichnet/ 1993 in Kraft getreten) wurde die Asylpolitik erstmals als Bereich „gemeinsamen Interesses“ defi‐ niert (Art. K.1 Abs. 1 EGV-Maastricht), doch zunächst kein Mandat für asyl‐ politische Rechtsinstrumente erteilt. Der Vertrag von Maastricht hatte damit zwar den Rahmen für europäische Entscheidungsfindung in der Justiz- und Innenpolitik geschaffen, die in der neu gegründeten Europäischen Union noch streng nach intergouvernementalen Prinzipien funktionierte (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Der Vertrag ermöglichte zunächst nicht mehr als die Verabschiedung unverbindlicher gemeinsamer Positionen, die im Sinne völkerrechtlicher Vorschriften von den jeweiligen nationalen Parlamenten ratifiziert werden mussten (Art. K.2 Abs. 2 EGV-Maastricht). Diese Vorgaben stellten sich als ineffizient heraus, sodass in diesem Bereich kaum politische Ergebnisse generiert wurden (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Erst der Vertrag von Amsterdam (1997 unterzeichnet, 1999 in Kraft ge‐ treten) benannte konkrete Aufträge zur Rechtsetzung im Bereich Asyl (Art. 73 lit. i und lit. k EGV-Amsterdam). Die europäischen Institutionen - zu diesem Zeitpunkt Europäische Kommission und Rat der EU unter Anhö‐ rung des Europäischen Parlaments - sollten Maßnahmen beschließen, um nach objektiven und fairen Kriterien festzulegen, wer für die Prüfung eines Asylantrages zuständig sei. Dies entspricht inhaltlich dem, was bisher durch das Dubliner Übereinkommen geregelt wurde. Tatsächlich wurde auf Grundlage des Mandats im Vertrag von Amsterdam eine Verordnung erlas‐ sen, die als Dublin-II-Verordnung (VO (EG) Nr. 343/ 2003 v. 18. 2. 2003, Abl. Nr. L 50/ 1 v. 25. 2. 2003) bekannt ist und als Nachfolgeinstrument des Dub‐ liner Übereinkommens die Bestimmungen dieses Instruments in weiten Tei‐ len übernimmt. Der Vertrag von Amsterdam ist gleichzeitig der Vertrag, mit dem der be‐ stehende Schengener Besitzstand, darunter (1) das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985, (2) das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990, (3) die Beitrittsprotokolle und -übereinkommen mit Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden, (4) die Be‐ schlüsse und Erklärungen, die vom Exekutivausschuss auf Grundlage des Durchführungsübereinkommens erlassen wurden; in das Gemeinschafts‐ 2 Historische Grundlagen 24 <?page no="25"?> 3 Der Vertrag von Amsterdam benennt im Anhang die Elemente des Schengen-Besitz‐ standes, der im Protokoll B Nr. 2 in das Recht der Europäischen Union einbezogen wird. 4 Dazu: Beschluss 2004/ 927/ EG des Rates vom 22. Dezember 2004 über die Anwendung des Verfahrens des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemein‐ schaft auf bestimmte Bereiche, die unter Titel IV des Dritten Teils dieses Vertrags fallen, ABl. L 396/ 45 v. 31. 12. 2004. recht aufgenommen wurde. 3 Inzwischen gilt der Schengener Besitzstand als das Rückgrat der EU-Einwanderungs- und Asylpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 1). Für die Grenz- und Asylpolitik bleibt vorrangig wichtig, dass durch den Vertrag von Amsterdam der supranationale Politikmodus für die Bereiche Einwanderung, Asyl und Grenzkontrollen eingeführt wurde. Zwar blieb der Vergemeinschaftungsprozess unter Wahrung von Ausnahmeregeln zu‐ nächst unvollständig, was in Folgeverträgen jedoch korrigiert wurde (Hail‐ bronner und Thym 2016a: 2, Rn 3). Der Vertrag von Nizza (2001 unterzeichnet, 2003 in Kraft getreten) er‐ weiterte das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf weitere Politikberei‐ che, sodass nach einer Übergangsphase von fünf Jahren erste Mehrheitsbe‐ schlüsse in diesem sensiblen Politikfeld möglich wurden (Art. 67 Abs. 5 EGV-Nizza, Vertrag von Nizza v. 26. 2. 2001, ABl. Nr. C 321E/ 37 v. 29. 12. 2006 und Protokoll Nr 35 (zu Art 67), ABl. Nr. C321E/ 317 v. 29. 12. 2006). Daraufhin führte der Rat eine Brückenklausel ein, die mehr Politikfelder dem qualifi‐ zierten Mehrheitsabstimmungen unterwarf und das Europäische Parlament im Mitentscheidungsverfahren stärker in den Rechtsetzungsprozess einbe‐ zog. 4 Der neu geschaffene europäische Raum brachte zudem neue sicherheits‐ politische Herausforderungen mit sich: Beim Wegfall der Binnengrenzen braucht es mehr Kooperation in Polizei- und Justizangelegenheiten. Eine solche engere Kooperation wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehen (1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten), im Vertrag von Maastricht wurden erste Bereiche der Justiz- und Innenpolitik in die euro‐ päische Zusammenarbeit aufgenommen (1993) doch teilweise erst im Ver‐ trag von Lissabon (2007 unterzeichnet, 2009 in Kraft getreten) in die Ge‐ meinschaftspolitik verlegt. Ein weiteres Folgeabkommen in diesem Sinne beschlossen die damals elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen wiederum als zwischenstaatliches Abkommen im Jahr 2005 über die grenzüberschrei‐ tende polizeiliche, strafrechtliche und justizielle Zusammenarbeit (Prümer 2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses 25 <?page no="26"?> 5 Die amtliche Bezeichnung des Abkommens lautet: Abkommen über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terroris‐ mus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration. Signatar‐ staaten sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Spanien. Beigetreten sind darüber hianus Finnland, Slowenien, Ungarn, Norwegen, Bulgarien, Rumänien und Island. 6 Art 77-80 AEUV stimmen mit den Artikeln III-265-268 des Vertrags über eine Verfassung für Europa überein, der nicht in Kraft trat, vgl. ABl. Nr. C310/ 1 v. 16. 12. 2004. Vertrag). 5 Darunter fällt zuvorderst Informationsaustausch sowie die Zu‐ sammenarbeit zur Verhinderung von Straftaten im Bereich Terrorismus, Kriminalität und Migration im Schengenraum. Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz- und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der spä‐ ter ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde. 6 Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissa‐ bon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supra‐ nationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines inte‐ grierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV). 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist Im vorherigen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die Kooperation der ursprünglichen Schengenstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Nie‐ derlande und Luxemburg den Beginn und die Notwendigkeit für die euro‐ päische Grenz- und Asylpolitik geschaffen hat. Es ist bemerkenswert, dass die Verwirklichung eines zentralen Vertrags‐ ziels der Römischen Verträge - nämlich die Grundfreiheit der Personenfrei‐ zügigkeit zu realisieren und durch die Abschaffung von Binnengrenzkon‐ trollen den Handel und Austausch zu erleichtern - zunächst im völkerrechtlichen Rahmen statt im Rechtsrahmen der Wirtschaftsgemein‐ schaft geschehen ist. Im Folgenden wird genauer beleuchtet, wie das Schengener Abkommen entstanden ist, welche Implikationen es für die heutige Grenz- und Asylpo‐ 2 Historische Grundlagen 26 <?page no="27"?> litik hat und weshalb Schengen aus integrationstheoretischer Perspektive als spill-over-Beispiel europäischer Integration gelten kann. Besonders interessiert die Entstehung der sogenannten Dublin-Kriterien, die im Rahmen der Schengener Kooperation ausgearbeitet wurden und bis heute sowohl Anker als auch größter Streitpunkt der europäischen Asylpo‐ litik sind. 2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten Den Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bun‐ deskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Pro‐ jekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzich‐ teten. Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevöl‐ kerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staa‐ ten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirt‐ schaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schen‐ genkooperation verfügte - mit der Ausnahme Luxemburgs - jeder Schen‐ genstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den ge‐ samten Schengenraum bedeutete. Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschafts‐ gemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeich‐ net. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Tou‐ risten, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengen‐ raum zu bewegen. Das Schengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der au‐ ßerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 27 <?page no="28"?> wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z. B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärter‐ staaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind. Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Ams‐ terdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/ 435/ EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, wäh‐ rend es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt. Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum er‐ geben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließ‐ lich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zu‐ dem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informations‐ system, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt. Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständig‐ keitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Fest‐ stellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wur‐ den. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung voraus‐ gehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitglied‐ staat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war. Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem 2 Historische Grundlagen 28 <?page no="29"?> 7 Vgl. Art. 31 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention: „Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flücht‐ linge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrecht-mä‐ ßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“ Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge an‐ erkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitglied‐ staat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Erst‐ einreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinrei‐ seprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständig‐ keit für ein Antragsverfahren. Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schen‐ genraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarkt‐ projektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umge‐ kehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen. Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwi‐ schenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außen‐ grenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen hetero‐ genen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende. Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese ter‐ ritoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine ir‐ reguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völker‐ rechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt. 7 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 29 <?page no="30"?> 8 Zur historischen Bedeutung des Flüchtlingsrechts im Deutschland der Nachkriegszeit: Schimany (2014: 33). Aufgrund strenger Luftfahrtkontrollen im Gegensatz zu weniger stark kontrollierten (und kontrollierbaren) Land- und Seeaußengrenzen der Ge‐ meinschaft, ergibt sich ein Schwerpunkt der irregulären Einreise in den ländlichen und maritimen Außenbereichen der Gemeinschaft. Das ver‐ pflichtet die Mitgliedstaaten mit Außengrenze zu strengen Kontrollen, weil sie mit der Sicherung ihrer Außengrenzen Verantwortung für das Funktio‐ nieren der Freizügigkeit und für die Sicherheit im Schengenraum tragen. Das Prinzip befördert also Strategien, die Asylzuwanderung zu verhindern oder zumindest zu minimieren, was in Konflikt steht mit den humanitären Prinzipien des Flüchtlinsgrechts (dazu mehr in Kapitel 4. 1). Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylge‐ richtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Ver‐ schiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151). Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, wes‐ halb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaf‐ ten gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz ver‐ ankert war. 8 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort ent‐ sprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394). Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf po‐ litisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verant‐ wortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetz‐ gebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten - und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier 2 Historische Grundlagen 30 <?page no="31"?> 9 Schengenraum und Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nicht deckungsgleich. Als Nicht-EU-Staaten sind Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz am Schen‐ genraum beteiligt. Irland nimmt nicht am Schengenraum teil. Dänemark ist grundsätz‐ lich Schengenstaat, entscheidet allerdings über jede neu getroffene Maßnahme, ob es diese anwendet. Über einen Sonderstatus verfügen Andorra, Monaco, San Marino, Va‐ tikanstadt, Ceuta und Melilla. der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861). Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwen‐ derstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slo‐ wenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn. 9 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Ver‐ gleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flücht‐ lingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015). Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu er‐ reichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016). Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Af‐ ghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Ge‐ messen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportiona‐ lität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsyste‐ 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 31 <?page no="32"?> men ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schwe‐ den) (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Eu‐ ropäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015). Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nord‐ europäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Er‐ rungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden. 2.2.2 Schengen und Theorien europäischer Integration Die Europäische Union ist als politisches System in ständiger Entwicklung begriffen. Darauf deuten unter anderem die regelmäßigen Vertragsrevisio‐ nen, die zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Kompetenzen in ver‐ schiedenen Politikfeldern und zur Feinkalibrierung institutioneller Beteili‐ gung geführt haben. Die ständige Entwicklung macht es schwierig, die europäische Gemein‐ schaft theoretisch eindeutig zu greifen. Es erklärt auch, warum es mittler‐ weile unzählige theoretische Ansätze zur europäischen Integration gibt (zur Einführung in die Theorien europäischer Integration: Rosamond 2000; Grimmel und Jakobeit 2009; Bieling und Lerch 2012). Theorien europäischer Integration versuchen retrospektiv bestimmte In‐ tegrationsprozesse mithilfe ausgewählter Variablen zu erklären. Zugleich wollen sie eine Prognose über den zu erwartenden Verlauf der Integration liefern. Im Mittelpunkt der europäischen Integrationstheorien steht die Be‐ antwortung der Frage, warum die Mitgliedstaaten bereit waren, nationale Souveränitätsrechte an die Gemeinschaft abzutreten - zu Beginn der Inte‐ 2 Historische Grundlagen 32 <?page no="33"?> 10 Weitere wichtige und bedenkenswerte Ansätze können hier nicht behandelt werden, dazu zählen: Föderalismus, Mehrebenenansatz (Multi-Level-Governance), Historischer und supranationaler Institutionalismus, konstruktivistische Ansätze u. v. m. Mehr dazu findet sich in den unter 2. 3 empfohlenen Lehrbüchern zu Theorien europäischer Inte‐ gration. gration ebenso wie im Verlauf der Integration durch eine zunehmende Kom‐ petenzverlagerung. Die Grenzpolitik ist eines dieser sensiblen Politikfelder, weil sie mit der nationalen Souveränität in Verbindung steht, zu entscheiden, wer unter welchen Bedingungen den Boden eines Staates betreten darf. Verknüpft mit der Einwanderungspolitik betrifft sie die Komposition einer Gesellschaft und damit einen eindeutigen Kern nationaler Politik (Bürgerschaft). Asyl‐ politik ist ein weiteres Beispiel für ein stark in der Innenpolitik verankertes Politikfeld. Mit der Ausgestaltung des Asylsystems handelt eine Gesellschaft ihre Bereitschaft zu humanitärer Hilfe und Offenheit gegenüber Nichtbür‐ gern aus. In beiden Bereichen ist beobachtbar, wie der gemeinsame Markt - als ursprüngliches singuläres Integrationsziel - mit den damit verbundenen vier Grundfreiheiten sukzessive politischen Raum greift: Will man den Markt zu einem Markt zusammenwachsen lassen, so müssen die Grenzen innerhalb des Marktes durchlässiger werden, insbesondere um die Verwirk‐ lichung der Grundfreiheiten zu erreichen (Waren, Dienstleistungen, Kapital, Personen). Es gibt nur eine Handvoll Integrationstheorien, die einen ganzheitlichen Ansatz bei der Erfassung europäischer Integrationsprozesse verfolgen und über Jahrzehnte hinweg rezipiert werden. Hier haben sich die als überholt geltende, aber immer noch einflussreiche Theorie des Neofunktionalismus aus den 1950er und 1960er Jahren durchgesetzt und als Kontrapunkt gewis‐ sermaßen die Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus, der seine Wurzeln in den 1980er Jahren hat. Die Entwicklung der Vergemeinschaftung von Grenz- und Asylpolitik soll aus beiden theoretischen Perspektiven kurz beleuchtet und erklärt werden. 10 Die Theorie des Neofunktionalismus stammt aus der Disziplin der Inter‐ nationalen Beziehungen, die sich damit befasste, welche Art der Kooperation (wirtschaftlich, politisch) zur Friedenssicherung bzw. zunächst einmal zur Vertrauensbildung nach den Weltkriegen beitragen könnte (Deutsch 1954; Haas 1958; Mitrany 1944, 1965). 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 33 <?page no="34"?> Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges formulierte David Mitrany Mög‐ lichkeiten zwischenstaatlicher Kooperation, was als Funktionalismus be‐ zeichnet wurde (Mitrany 1944). Internationalisierungsprozesse förderten demnach die Herausbildung thematisch spezialisierter und suprastaatlicher Organisationen, wie am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deutlich wurde (Mitrany 1965: 119-149). Ernst B. Haas entwickelte diese Theorie in Bezug auf die europäische Ge‐ meinschaft unter dem Begriff des Neofunktionalismus weiter. Demnach ma‐ chen Kompetenzverlagerungen von der nationalen auf die suprastaatliche Ebene Sinn, solange das supranationale Zentrum politische Aufgaben besser bewältigen kann als die einzelnen Nationalstaaten (Haas 1958: 238-317). Wirtschaftliche Kooperation wurde als unpolitisch erachtet und daher als besonders geeignet für pragmatische und unideologische Zusammenarbeit eingestuft. Aus der Notwendigkeit, die Ziele der Gemeinschaft in einem be‐ grenzten Bereich zu erreichen, ergab sich in diesem Verständnis gewisser‐ maßen automatisch die Kooperation in sensiblen politischen Bereichen (Haas 1958: 238-317). Dieses Konzept des funktionalen spill-over wurde von Leon Lindberg definiert als eine Situation, in der ein vorgesehenes (Ver‐ trags-)Ziel nur erreicht werden kann, wenn bestimmte Maßnahmen ergrif‐ fen werden, die wiederum die Notwendigkeit für weitere Maßnahmen schaf‐ fen (Lindberg 1963: 10). Anders formuliert: Aufgrund von Kooperation in einem Bereich A wird es notwendig in einem Bereich B zusammenzuarbei‐ ten, um die Ziele in Bereich A zu erreichen. Das Ausstrahlen der Kooperation in einem Politikfeld auf ein anderes, bzw. die Tatsache, dass Kooperation in einem Politikfeld zur notwendigen Zusammenarbeit in einem anderen Politikfeld führt, wird bis heute als spill-over-Prozess bezeichnet und ist ein zentraler Begriff in der Terminolo‐ gie der Europaforschung. In dieser Lesart zog die Zusammenarbeit an den Binnengrenzen bald die Kooperation an den Außengrenzen nach sich - jedenfalls die Klärung der Frage, wie damit umzugehen ist, dass das Überschreiten der Außengrenze eines Schengenstaates die Bewegungsfreiheit im gesamten Schengenraum impliziert, woraus unter anderem politische Fragen zur Koordinierung von Asylanträgen entstehen. Daraus wird ersichtlich: Sollen die Ziele eines ge‐ meinsamen Marktes vollumfänglich erreicht werden, so berührt dies mit‐ telfristig auch Politikbereiche wie die Innen- und Justizpolitik. 2 Historische Grundlagen 34 <?page no="35"?> Was den Integrationsprozess im Schengenraum kennzeichnet ist der zu‐ nächst bilateral (deutsch-französisch) begonnene, von einer Handvoll Staa‐ ten (Benelux) unterstützte Vorstoß für ein Integrationsprojekt, der schließ‐ lich als Gemeinschaftsprojekt im Gemeinschaftsrecht verankert wurde. Das Einwanderungs- und Asylrecht ist jedoch spätestens seit Inkrafttre‐ ten des Vertrags von Lissabon nicht mehr nur ein spill-over-Produkt des Ge‐ meinsamen Marktes, sondern ein eigenständiges Politikfeld innerhalb des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Kay Hailbronner und Daniel Thym belegen diese Einschätzung damit, dass das Recht in diesem Bereich nicht mehr als „flankierende Maßnahmen“ bezeichnet wird (Hail‐ bronner und Thym 2016a: 3-4, Rn 5). Dem kann hinzugefügt werden, dass die Gewährung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 3 Abs. 2 EUV-Lissabon als politisches Ziel verankert wurde, noch vor der Erwähnung des Binnenmarktes in Art. 3 Abs. 3 EUV-Lissabon. So eman‐ zipierte sich der Politikkomplex Justiz und Inneres zunehmend als europäi‐ sches Politikfeld. Einen alternativen Erklärungsansatz und einen Perspektivwechsel er‐ möglicht der Liberale Intergouvernementalismus. Die Theorie hat Andrew Moravcsik in den 1990er Jahren formuliert (1993: 473-524) und gilt als Fort‐ entwicklung der Theorie des Intergouvernementalismus (Hoffmann 1968). Dieser Theorieansatz hat seine Wurzeln in den Wirtschaftswissenschaften und versucht mit Hilfe von rational-choice-Annahmen, Entscheidungen so‐ wie Strukturen und Entwicklungen im europäischen Integrationsprozess zu erläutern (Craig 2011: 17). Übergreifende Theorieschulen in den Internatio‐ nalen Beziehungen sind der Realismus der Nachkriegszeit und der Neorea‐ lismus der 1980er Jahre; gelegentlich wird der Intergouvernementalismus auch als Konföderalismus oder Pluralismus bezeichnet (Peters 2001: 199 mwN). Im Intergouvernementalismus wird streng zwischen dem innerstaatli‐ chen und dem internationalen System unterschieden, eine Verflechtung der Ebenen oder die Charakterisierung der Europäischen Union als politisches System mit staatsähnlichen Strukturen wird nicht anerkannt (Peters 2001: 199). In diesem Verständnis wird die Vertragsgemeinschaft als Staatenver‐ bund gesehen; eine internationale Organisation die von ihren Mitgliedstaa‐ ten und deren politischer Legitimation abhängig bleibt (Kirchhof 2012: 876 ff., Rn 43 ff.). Diese Charakterisierung der Europäischen Union ist durch die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt worden: 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 35 <?page no="36"?> Die EU ist ein Verbund, „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker - d. h. die Staatsangehörigen Bürger - der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. (BVerfGE 123, 267 (348) - Lis‐ sabon) Als wichtigste Akteure gelten die Mitgliedstaaten, die ihre Präferenzen auf‐ grund ihrer nationalen Interessen bilden und in den intergouvernementalen Prozess einbringen. Der Integrationsprozess wird solange aufrechterhalten, wie das europäische Regieren effizienter ist als auf nationaler Ebene. Ein wesentliches Ziel der Integration ist demnach Effizienz. Zu den Grundannahmen der Theorie zählt, dass Staaten als rationale En‐ titäten handeln, dass sie ihre nationalen Präferenzen innerstaatlich bilden und diese im intergouvernementalen Prozess aushandeln; supranationale Organen können in diesem Verständnis nicht wesentlich auf den Integrati‐ onsverlauf Einfluss nehmen (Craig 2011: 17). Aufgrund der strikten Trennung der Ebenen spricht Andrew Morvacsik vom two-level-game (Moravcsik 1993: 514-517): In dieser Argumentation er‐ folgt die Verlagerung von nationaler Souveränität auf europäische Ebene aus dem Kalkül, dass sich die Staats- und Regierungschefs gegenüber der Opposition im Heimatstaat unabhängig machen. Zusammenarbeit erfolgt entweder durch die Zusammenlegung von Souveränitätsrechten auf euro‐ päischer Ebene (pooling) oder die tatsächliche Abgabe an die europäischen Institutionen (delegation). Beide Souveränitätsabgaben bergen nach inter‐ gouvernementaler Logik Risiken und Chancen (Moravcsik 1993: 507-514). Durch delegation wird Entscheidungsfindung effizienter. Im europäischen System wurden bereits in der Montanunion Aufgaben an die Hohe Behörde (später: Europäische Kommission) delegiert. Das Risiko besteht jedoch darin, dass Entscheidungen entgegen individueller nationaler Interessen in Kauf genommen werden müssen. Demgegenüber bleiben die Mitgliedstaaten in Person ihrer Minister an solchen Entscheidungsprozessen stärker beteiligt, bei denen die Kompetenzen lediglich zusammengelegt wurden. Auch hier sind im Einzelfall Beschlüsse gegen die Positionen einzelner Staaten möglich (Beispiel: Mehrheitsentscheidungen im Rat), doch die Entscheidungen sind in der Praxis sehr stark am Konsensprinzip ausgerichtet und ermöglichen den Mitgliedstaaten deutlich mehr Einflussnahme (mehr dazu: Craig 2011: 18-19). 2 Historische Grundlagen 36 <?page no="37"?> In dieser Lesart liegt die Kooperation bei der Binnengrenzpolitik im In‐ teresse der Mitgliedstaaten. Das dahinter liegende Motiv ist die Verwirkli‐ chung der Grundfreiheiten des Marktes. Durch die Aufhebung der Binnen‐ grenzkontrollen wird der gemeinsame Markt effizienter, was für alle Beteiligten einen Gewinn darstellen dürfte. Die dadurch implizierte Verge‐ meinschaftung der Außengrenzen ist solange im Interesse aller, wie die Grenzsicherung durch die jeweiligen Außengrenzstaaten effizient abgesi‐ chert ist. Kommt es jedoch zu erheblichen Defiziten und damit zu Rückwir‐ kungen auf den europäischen Raum insgesamt, stellt sich die Vergemein‐ schaftung der Außengrenzen als Risiko dar. Die Grenz- und Asylpolitik ist sehr stark von pooling gekennzeichnet. Der Lissabonner Vertrag ermöglichte die geteilte Komptenz in Grenz- und Asy‐ langelegenheiten. An Gesetzgebungsprozessen sind die Mitgliedstaaten stark beteiligt und letztlich bleiben die Mitgliedstaaten für die Grenz- und Asylpo‐ litik selbst verantwortlich, was nicht zuletzt an den Defiziten der Rechtshar‐ monisierung sichtbar ist. Delegation ist in sehr begrenztem Maße bei der Aus‐ lagerung von Grenzschutzaktivitäten an die Agentur Frontex und das Monitoring zu Asylanfragen in der Agentur für Aslyfragen zu beobachten. Aus welchen nationalen Präferenzen lässt sich hingegen die schrittweise Vergemeinschaftung erklären? Die teilweise Vergemeinschaftung der Grenz- und Asylpolitik bedeutet innenpolitisch die Möglichkeit, unange‐ nehme Politikentscheidungen der Grenz- und Asylpolitik nach Brüssel schieben zu können. In dieser Lesart wird das two-level-game als bewusstes blame-shifting analysiert. Demnach engagierten sich die Justiz- und Innen‐ minister für eine teilweise Verlagerung ihrer Ressorts auf die europäische Ebene, um unliebsame Entscheidungen und die negativen Reaktionen darauf ebenfalls auf die europäische Ebene zu verschieben (so argumentiert: Gui‐ raudon 2000, ähnlich: Parkes 2010, anders: Kaunert und Léonard 2012, Ripoll Servent und Trauner 2014, Trauner und Ripoll Servent 2016). Doch ist diese Erklärung hinreichend? Immerhin beinhaltet die Verlagerung auf europäi‐ sche Ebene das erhebliche Risiko, politische Entscheidungen umsetzen zu müssen, die den nationalen Interessen widersprechen. Im Liberalen Intergouvernementalismus ist dieser stufenweise Prozess der Effizienz europäischer Entscheidungen geschuldet und der Möglichkeit nationaler Regierungen, durch gemeinsame Politik auf europäischer Ebene gegenüber nationalen politischen Akteuren mehr Spielraum zu erlangen bzw. politische Verantwortung in unliebsamen Fragen zu delegieren. 2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist 37 <?page no="38"?> 2.3 Zusammenfassung und Literatur Das Wichtigste in Kürze: Historische Grundlagen Kernmotiv der europäischen Integration war der gemeinsame Markt. Als Kernprinzipien dieses Gemeinsamen Marktes fungierten die vier Grund‐ freiheiten (Warenverkehr, Personen, Dienstleistungen, Kapital). Wenn Wa‐ ren, Personen und Dienstleistungen an der Grenze nicht halt machen sollen, dann brauchte es über kurz oder lang eine Überwindung der physischen Grenzen, die bisher an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten die Ein- und Ausreise von Personen und Waren kontrollierten. Eine solche Abschaffung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten führte dazu, dass die Außen‐ grenzen einzelner Mitgliedstaaten zu Außengrenzen aller Mitgliedstaaten des Wirtschaftsraums wurden. Daraus erwuchs eine funktionale wie poli‐ tische Notwendigkeit zur Übereinkunft über Krtierien bei Grenzschutz, Ein‐ reise- und Asylgewährung. Die Grenz- und Asylpolitik wuchs aus diesen Wirkungszusammenhängen im Zuge der Schengener Kooperation in den Rechtskorpus der Europäischen Union hinein. Mit dem Ziel der Personenfreizügigeit im Gemeinsamen Markt gab es bereits seit den Gründungsverträgen von (1958) ein Vertrags‐ ziel, das die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Grenzen der teilneh‐ menden Staaten anvisierte. Doch erst mit der Unterzeichnung des Schen‐ gener Abkommens im Juni 1985 wurde dieses Ziel Wirklichkeit. Zunächst schafften Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten die Kontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen 1995 ab. Dadurch entwickelte sich ein ge‐ meinsamer Raum ohne Binnengrenzen mit gemeinsamen Außengrenzen, weshalb Absprachen zum Umgang mit Einreise, Kurzaufenthalten und Asyl‐ fragen notwendig wurden. So entstanden Folgeabkommen, wozu das Dub‐ liner Übereinkommen von 1990 zählte, das die Zuständigkeit der Mitglied‐ staaten für Asylanträge regelte und dessen Kriterien im Kern bis heute fortgeführt werden. Der Vertrag von Maastricht (1993) überführte erste innen- und justizpo‐ litische Bereiche in das Gemeinschaftsrecht und definierte Asylpolitik als gemeinsames Interesse. Mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) wurden zum ersten Mal konkrete Mandate zur Rechtsetzung in der europäischen Innen- und Justizpolitik formuliert. Der Vertrag von Lissabon (2009) bestä‐ tigte dieses Mandat durch eine Ausweitung der Aufträge zur Rechtsetzung durch die europäischen Organe in den Bereichen Grenze, Asyl und Einwan‐ derung. 2 Historische Grundlagen 38 <?page no="39"?> Literatur zum Weiterlesen: Zur europäischen Integrationsgeschichte: D INAN , D E S M O ND . 2014. Europe Recast: A History of European Union (Basingstoke: Palgrave Macmillan: ). E P P L E R , A NN E G R E T und H E N R IK S C H E L L E R . 2013. Zur Konzeptionalisierung europäi‐ scher Desintegration: Zug- und Gegenkräfte im europäischen Integrationspro‐ zess (Baden-Baden: Nomos). S C H O R K O P F , F R ANK . 2015. Der Europäische Weg. Grundlagen der Europäischen Union, 2. Auflage (Tübingen: Mohr Siebeck: ). VAN M IDD E LAA R , L U U K . 2016. Vom Kontinent zur Union: Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa (Berlin: Suhrkamp). W E ID E N F E LD , W E R N E R . 2013. Die Europäische Union: Akteure, Prozesse, Herausfor‐ derungen (München: Fink). Zur Einführung in Theorien europäischer Integration: B I E LIN G , H AN S -J ÜR G E N und M A R IKA L E R C H (Hrsg.). 2012. Theorien der europäischen Integration (Wiesbaden: Springer VS). G R IMM E L , A ND R E A S und C O R D J AK O B E IT . 2009. Politische Theorien der Europäischen Integration: Ein Text- und Lehrbuch (Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissen‐ schaften). L E U F F E N , D I R K , B E R TH O LD R ITT B E R G E R und F R ANK S C HIMM E L F E NNI G (2012). Diffe‐ rentiated Integration. Explaining Variation in the European Union (Basingstoke: Palgrave Macmillan). R O S AM O ND , B E N . 2000. Theories of European integration (Basingstoke: Macmillan). Zur Einführung in europäische Politikprozesse: B U O NANN O , L AU R I E und N E IL L N U G E NT . 2013. Policies and Policy Processes of the European Union (Basingstoke: Palgrave Macmillan). C INI , M I C H E L L E und N I E V E S P É R E Z -S O LÓR ZAN O B O R R A GÁN (H R S G .). 2019. European Union Politics, 6. Auflage (Oxford: Oxford University Press). C R AI G , P AU L und G RÁINN E D E B ÚR CA (H R S G .). 2011. The Evolution of EU Law (Ox‐ ford: Oxford University Press). H IX , S IM O N und B JØR N H ØY LAND (H R S G .). 2011. The Political System of the European Union, 3. Auflage (Basingstoke: Palgrave Macmillan). W AL LAC E , H E L E N , M A R K A. P O L LAC K und A LA S DAI R Y O U N G (H R S G .) 2014. Policy-Ma‐ king in the European Union, 7. Auflage (Oxford: Oxford University Press). 2.3 Zusammenfassung und Literatur 39 <?page no="40"?> Schengenraum - Geschichte und Politik: B O S S O N G , R A P HA E L und T O B IA S E TZ O LD . 2018. Die Zukunft von Schengen, SWP Ak‐ tuell 53 (Stiftung für Wissenschaft und Politik), S. 1-8. P E E R S , S T E V E . 2013. The Future of the Schengen System (Stockholm: Sieps). Z AI O TTI , R U B E N . 2011. Cultures of Border Control: Schengen and the Evolution of Europe’s Frontiers (Chicago: University of Chicago Press). Fachzeitschriften mit aktuellen Publikationen zum Thema: European Constitutional Law Review, European Journal of Political Research, Eu‐ ropean Law Journal, European Societies, integration, Journal of Common Market Studies, Journal of Contemporary European Research, Journal of European Integra‐ tion, Journal of European Integration History, Journal of European Public Policy, West European Politics 2 Historische Grundlagen 40 <?page no="41"?> 3 Grenzpolitik der Europäischen Union Eine Grenzpolitik der Europäischen Union gibt es streng genommen nicht, weil die Europäische Union nicht über die ausschließliche Zuständigkeit in der Grenzpolitik verfügt. Die Grenzpolitik zählt zur Innenpolitik eines Lan‐ des. Auf europäischer Ebene wird dieser Politikbereich mit der Umschrei‐ bung Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezeichnet. Im Vertrag von Lissabon (2009) wird der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als ein politischer Hauptbereich bezeichnet, in dem sich die Euro‐ päische Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten teilt (Art. 4 Abs. 2 lit. j. AEUV). Bei geteilter Zuständigkeit agieren die europäischen Institutionen nur in‐ soweit es die Vertragsziele vorgeben bzw. politische Ziele im Politikbereich nur durch europäische Standards verwirklicht werden können. Hier greift das Subsidiaritätsprinzip: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht wer‐ den können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ (Art. 5 Abs. 3 EUV) Die genauen Ziele zur Erreichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Art. 67 genannt: (1) Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden. (2) Sie stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert wer‐ den, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwande‐ rung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mit‐ gliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist. […] (3) Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämp‐ fung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Ko‐ <?page no="42"?> ordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Straf‐ rechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichen‐ falls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten. (4) Die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grund‐ satz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Ent‐ scheidungen in Zivilsachen. Diese detailgenaue Legitimierung zur Rechtsetzung wird als Prinzip der be‐ grenzten Einzelermächtigung bezeichnet. Demnach wird die Europäische Union bzw. die in ihrem Namen wirkenden europäischen Institutionen für jede Tätigkeit spezifisch legitimiert (Art. 4 Abs. 1 EUV). Ausdrücklich ist im Vertrag festgehalten, dass die europäischen Institutionen bzw. die Europäi‐ sche Union die Identität der Mitgliedstaaten, ihre verfassungsrechtliche Or‐ ganisation und grundlegenden politischen Strukturen achtet, wozu auch die nationale und regionale Selbstverwaltung zählt (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Die nationale Grenzpolitik betrifft die Integrität der Mitgliedstaaten und ist ein besonders sensibler Bereich für die nationale Sicherheit, die weiterhin ausdrücklich in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt: „Sie [Anm.: die Union] achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbe‐ sondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“ (Art. 4 Abs. 2 Satz 2-3 EUV) Die nationale Sicherheit stellt ein hohes Gut für jeden Staat dar und zählt zu den Grundpfeilern der staatlichen Aufgaben. Gerade auch im Verhältnis zu den BürgerInnen ist die nationale Sicherheit eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben. Entsprechend wird diesem Gut hohe politische Priorität einge‐ räumt. Auch wenn die Binnengrenzkontrollen aufgehoben werden, so kön‐ nen Gründe der nationalen Sicherheit für die vorübergehende Wiederein‐ führung von Grenzkontrollen führen. Diese kann die Europäische Union (in dem Fall: die Kommission) den Mitgliedstaaten nicht verwehren. Tatsächlich erfordert das Schengenrecht, dass die Mitgliedstaaten die Personenfreizü‐ gigkeit so hochachten, dass sie für die außerordentliche Wiedereinführung von Grenzkontrollen Anträge stellen müssen. Dies kann die Kommission den Mitgliedstaaten jedoch nicht verwehren. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 42 <?page no="43"?> So erklärt sich auch, weshalb der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts unter den Vorbehalt gestellt wird, dass Maßnahmen greifen, die die grenzberührenden Themenfelder Kriminalität, Einwanderung und Asyl betreffen: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem - in Verbindung mit ge‐ eigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität - der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ (Art. 3 Abs. 2 EUV) Auffallend ist die Formulierung, dass die Union ihren Bürgern diesen Raum „bietet“. Er muss also nicht geschaffen werden, sondern ist bereits Realität. Dennoch werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Mandate für diesen Politikbereich formuliert. Tatsächlich betreffen diese Mandate zur Rechtsetzung vor allem die Bereiche Asyl, Einwanderung und Kontrolle an den Außengrenzen. Diese Regelungen zielen alle darauf ab, den nach innen geschaffenen Raum nach außen hin zu kontrollieren bzw. abzu‐ sichern. Demnach besteht der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts überweigend aus Maßnahmen, die diese Freiheit, Sicherheit und Rechte gegenüber Dritten absichern. Die Freiheit dieses Raums verweist einerseits auf freiheitliche Grundprin‐ zipien einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung. In konkretem Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verweist der Begriff auf die Personenfreizügigkeit, die eine wesentliche Errungenschaft des Raums ohne Binnengrenzen darstellt. Das Recht im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts schafft positive Rechte für die Bürger der Union: Zum einen werden grundsätzlich die Rechtsordnungen und Grundrechte innerhalb der Verfassungen der Mit‐ gliedstaaten geachtet. Konkret soll durch den gemeinsamen Raum der Zu‐ gang zum Recht für die Bürger vereinfacht werden, was durch den Grund‐ satz der grenzüberschreitenden gegenseitigen Anerkennung von Rechtsprechung im Zivilrecht realisiert werden soll. Bezüglich der Sicherheit sieht der Vertrag zum anderen vor, dass die Mit‐ gliedstaaten ohne den Umweg über die europäischen Institutionen oder Unionsrecht direkt miteinander kooperieren. Dazu können sich die zustän‐ digen Dienststellen und Verwaltungen der Mitgliedstaaten „Formen der Zu‐ sammenarbeit und Koordinierung“ einrichten, „die sie für geeignet halten“ (Art. 73 AEUV). 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 43 <?page no="44"?> In Bezug auf die Grenzpolitik entwickelt die Union eine Politik, mit der a) sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehö‐ rigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden; b) die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sichergestellt werden soll; c) schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen einge‐ führt werden soll. (Art. 77 Abs. 1 AEUV) Diesem Politikauftrag wird in diesem Kapitel nachgegangen, indem fol‐ gende Fragen besprochen werden: Welche der genannten Ziele hat die Eu‐ ropäische Union bereits erreicht? Wie sieht die Grenzpolitik in der Theorie - im Recht - und in den Mitgliedstaaten - in der Praxis - aus? Auf welchem Stand ist das europäische Grenzschutzsystem? Wie arbeitet es und welche Kritik gibt es daran? Zunächst nähern wir uns diesen Fragen, indem wir die Lage an der Grenze betrachten (Kapitel 3. 1). Wir wollen wissen, welche Bewegungen in den vergangenenen Jahren an den Außengrenzen der Europäischen Union be‐ obachtbar waren und welche Bedeutung diese für den Schengenraum haben (3. 1. 1). Daraufhin ordnen wir ein, wie sich das Schengensystem und das europäische Grenzschutzsystem in Tandem entwickeln (3. 1. 2). Dann be‐ trachten wir die geltenden Einreisebestimmungen für Kurz- und Langzeit‐ aufenthalte in der Europäischen Union (3. 1. 3). Die bestehenden Bestim‐ mungen und die Realität an der Grenze vergleichen wir mit den strategischen Zielen für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die die Staats- und Regierungschefs seit 1999 in regelmäßigen Ab‐ ständen verfasst haben (3. 1. 4). Im Folgenden gehen wir genauer auf die Kompetenzen der Europäischen Union ein (Kapitel 3. 2) und halten fest, über welches Mandat die Europäische Union für eine gemeinsame Grenzpolitik verfügt (3. 2. 1) und welche Rechts‐ instrumente bisher zum Aufbau eines europäischen Grenzschutzmanage‐ ments genutzt wurden (3. 2. 2). In Kapitel 3. 3 greifen wir diese Bestimmungen auf und setzen uns mit den gemeinsamen Verfahren zu Einreisekontrollen auseinander, die die Euro‐ päische Union mit dem Schengener Grenzkodex geschaffen hat (3. 3. 1). Auch die gemeinsame Visapolitik rückt in den Fokus als Kontrollinstrument (3. 3. 2). Daraufhin wird behandelt, welche Einreisemöglichkeiten Asylsu‐ chende unter diesen Bedingungen haben (3. 3. 4). 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 44 <?page no="45"?> 11 Für die Balkanroute gibt es mehrere Alternativen, im Sommer 2015 wurde zunächst folgende Route genutzt: Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland; später auch: Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und: Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Österreich bzw. Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich sowie Albanien, Mon‐ tenegro, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Slowenien, Österreich. Kapitel 3. 4. konzentriert sich dann auf die Geschehnisse an der Grenze selbst und die Umsetzung der Grenzpolitik in den Mitgliedstaaten: Wie stellt sich die Lage an den Außengrenzen dar? (3. 4. 1) Wie sieht Grenzschutz in der Praxis an den Außengrenzen aus, welche Akteure sind daran beteiligt? (3. 4. 2) Und kann man die Binnengrenzen des Schengenraums tatsächlich ohne Kontrollen passieren? (3. 4. 3) Schließlich beschäftigen wir uns mit Konflikten der europäischen Grenz‐ politik, besonders in Zusammenhang mit der Asylzuwanderung über das Mittelmeer (3. 5). Wir diskutieren die geographischen Asymmetrien des gül‐ tigen europäischen Grenzschutzsystems, analysieren den fortwährenden politischen Streit um die europäische Grenzpolitik und halten fest, welche Entwicklung sich andeutet. 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen Rechnet man die See- und Landaußengrenzen der Europäischen Union in Kilometern zusammen, so summieren sich etwa 14.000 km. Die üblichen Einreisepunkte sind internationale Flug- und Seehäfen sowie offizielle Grenzübertrittspunkte. Darüber hinaus erfolgen irreguläre Einreisen seit Beginn der 2000er Jahre vor allem an den Land- und Seegrenzen der Mit‐ gliedstaaten Griechenland, Italien, Malta und Spanien. Während der Asyl‐ zuwanderung von 2015 sind hunderttausende Menschen von der Türkei nach Griechenland und anschließend über die sogenannte Balkanroute Richtung Österreich, Deutschland und Schweden gewandert. 11 Die Begrifflichkeiten rund um Grenzen und Migration sind mitunter un‐ scharf. In Bezug auf Grenzschutz wird oft synonym von Grenzmanagement und Grenzkontrollen gesprochen. Gerade bei den Begriffen Grenzmanage‐ ment und Grenzkontrollen sind jedoch deutliche Unterschiede festzuma‐ chen (so Zaiotti 2017: 107): Während sich Kontrollen spezifisch auf Aktivi‐ täten zur Überprüfung an der Grenze beziehen (bspw. die Überprüfung einer Identität oder eines Transports), so handelt es sich beim Management um‐ 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 45 <?page no="46"?> fassender um Aktivitäten an der Grenze, die darauf abzielen ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen - bspw. die Zahl irregulärer Ankünfte zu reduzieren). Grenzmanagement ist also deutlicher an Politikgestaltungsprozesse ge‐ knüpft als konkrete Kontrollen. Diese sind ein Teil des Grenzmanagements, weshalb die Begriffe beide Bestandteile des Grenzschutzes sind, jedoch nicht synonym verwendet werden sollten. In diesem Kapitel befassen wir uns mit der Auflösung der Grenzen zwi‐ schen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch die Kooperation im wachsenden Schengenraum (3. 1. 1). Danach blicken wir auf die strategi‐ schen Ziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den die Mitgliedstaaten seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) sukzessive auf‐ bauten (3. 1. 2). 3.1.1 Von Schengen-5 zu Schengen-26 Welche Ziele wurden mit dem Schengenraum verbunden? Die politischen Vordenker auf deutscher und französischer Seite erhofften sich vom Schengenraum die Schaffung eines europäischen Raumes, in dem man sich ohne Grenzkontrollen frei bewegen kann, was den Austausch zwi‐ schen Menschen, aber auch den Handel erleichtert und damit ein grundle‐ gendes Fundament des gemeinsamen Marktes realisiert. Wann sind welche Mitgliedstaaten dem Schengen-Raum beigetreten? Als Gründerstaaten gelten Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien. Es folgten in der Reihenfolge der Erweiterungen der Wirtschaftsgemeinschaft Portugal, Spanien, Griechenland, Österreich bis Mitte der 1990er Jahre. Im Jahr 1996 wurde der Schengenraum um Däne‐ mark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden erweitert. Danach wuchs im Zuge der großen EU-Erweiterung von 2004 auch der Schengenraum um Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. Bulgarien und Rumänien folgten 2007, ein Jahr später Liechtenstein und Kroatien im Jahr 2013. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 46 <?page no="47"?> Beitritte zum Schengenraum chronologisch Jahr Beitritt (in Klammern jeweils das Jahr der tatsächlichen Abschaffung der Kontrol‐ len an den Binnengrenzen 1990 Belgien (1995), Deutschland (1995), Frankreich (1995), Italien (1998), Lu‐ xemburg (1995), Niederlande (1995) 1991 Portugal (1995), Spanien (1995) 1992 Griechenland (2000) 1995 Österreich (1998) 1996 Dänemark (2001), Finnland (2001), Island (2001), Norwegen (2001), Schwe‐ den (2001) 2004 Estland (2007), Lettland (2007), Litauen (2007), Malta (2007), Polen (2007), Schweiz (2008), Slowakei (2007), Slowenien (2007), Tschechien (2007), Ungarn (2007), Zypern (bislang nur teilweise Anwendung) 2007 Bulgarien, Rumänien (bislang nur teilweise Anwendung) 2008 Liechtenstein (2011) 2013 Kroatien (bislang nur teilweise Anwendung) Anmerkung: Beitritt zum Abkommen bzw. Ratifikation ist nicht gleichbedeutend mit Wegfall der Grenzkontrollen. Oft braucht es drei bis fünf Jahre, bis die Grenzkontrollen faktisch wirklich abgeschafft sind. Im Sonderfall Zypern steht dies aufgrund des Konflikts mit der Türkei noch aus. Welche Effekte ergaben sich aus der Schengenpolitik für die Innen- und Justizpolitik der EU? Aus dem Wegfall der Grenzkontrollen zwischen Schengenstaaten ergab sich die Notwendigkeit, über Kontrollen an den Außengrenzen ins politische Gespräch zu kommen und Vereinbarungen für Aufenthalte im europäischen Raum zu kommen. Das gilt für Kurzaufenthalte (Visumtitel) ebenso wie für Asylschutz und langfristige Aufenthaltstitel. Wer zählt heute zum Schengen-Raum? Wer partizipiert außerdem an der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik? Die Mehrheit der EU-Staaten sind auch Schengen-Vertragsstaaten. Lediglich Irland nimmt ausdrücklich nicht am Schengenraum teil. Hingegen gibt es 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 47 <?page no="48"?> einige Nicht-EU-Staaten, die dennoch am Schengenraum partizipieren. Das sind die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz. Eine Ausnahmesituation ergibt sich für Andorra, Monaco, San Marino und Vatikanstadt. Diese Staaten pflegen sehr enge Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten, unterhalten daher auch keine Grenzkontrollen, sind jedoch keine Schengenstaaten. Das bedeutet, dass sie kein Visum für den Schengenraum erteilen können und keinen Zugriff auf das Schengener Informationssystem haben. Einen Sonderstatus haben die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Hier ist der kleine Grenzverkehr mit Marokko grenzfrei, während Marokkaner ansonsten regulär ein Visum beantragen müssen. Auch der Fährverkehr nach Gibraltar wird kontrolliert. Welche Vorteile sind mit dem Schengen-Raum verbunden? Grenzkontrollen sorgen sehr oft für Verzögerungen beim Grenzübertritt. Zudem verdeutlichen Kontrollen, dass es Grenzen gibt. Fallen diese weg, wird ein gemeinsamer Raum erst erfahrbar. Ein praktischer Nebeneffekt ist auch für den grenzüberschreitenden Handel, dass dieser effizienter und da‐ mit kostengünstiger abgewickelt werden kann. Durch den Wegfall der Grenzkontrollen fallen Hürden im Austausch weg, das gilt auf persönlicher wie wirtschaftlicher Ebene. Wer profitiert besonders von Schengen? Exporte wie Importe werden günstiger und effizienter, dies kann zu mehr Handelsaustausch und günstigeren Verbraucherpreisen führen. Für Schen‐ genraumstaaten ohne Außengrenze fungieren die übrigen Schengenstaaten wie eine Pufferzone zu den Außengrenzen. Im aktuell gültigen Schengen‐ recht bedeutet es auch, dass weniger Asylsuchende die landumschlossenen Schengenstaaten erreichen. Für Unionsbürger bedeutet Schengen in erster Linie, dass sie an der Grenze zu Nachbarstaaten nicht mehr kontrolliert werden. Die politische Diskussion um den Schengenraum dreht sich hingegen hauptsächlich um flankierende Maßnahmen, die den Verlust der Kontrollen an den Binnen‐ grenzen und den faktischen gemeinsamen Außengrenzen kompensieren (Thym 2016: 33, Rn 3). Diese flankierenden Maßnahmen betreffen die Be‐ reiche Visa, Polizeikooperation, Kriminalität und Einwanderung. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 48 <?page no="49"?> Wer verfügt über einen Sonderstatus im Schengenraum? Wer nun der Europäischen Union beitritt, kann sich dem Schengenraum nicht entziehen. Seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) ist das Schengen‐ recht in Unionsrecht integriert, was neue Beitrittsländer zur Teilnahme am Schengenraum verpflichtet. Irland hat für sich einen Ausnahmestatus durchgesetzt. 26 Staaten sind Vollanwender-Staaten, d. h. die Schengenbe‐ stimmungen werden vollständig angewendet. Bulgarien, Kroatien und Ru‐ mänien erteilen bisher noch keine einheitlichen Schengen-Visa und führen teilweise noch Personenkontrollen an Binnengrenzen durch. Die Anwen‐ dung der Schengen-Bestimmungen in Zypern hängen noch von der Beile‐ gung des Zypern-Konfliktes ab. Was ist der rechtliche Status des Schengen-Besitzstandes? Mit dem Vertrag von Amsterdam ist der bis dahin entwickelte Schengener Besitzstand mit dem Schengener Abkommen, Durchführungsübereinkom‐ men, Dublin Übereinkommen und Visakodex durch ein Protokoll in Ge‐ meinschaftsrecht überführt worden. Irland und Dänemark erwirkten für sich Sonderregelungen. Während sich Irland dem Schengenraum komplett entzieht, hat Dänemark eine Sonderposition ausgehandelt, wonach Däne‐ mark über jeden einzelnen durch den Rat beschlossenen Schengen-Rechts‐ akt entscheidet, ob es diesen in nationales Recht umsetzt. Aufgrund der komplexen Komposition des Schengenraumes handelt es sich um eine Form der verstärkten Zusammenarbeit, die zwar formal alle Mitgliedstaaten umfasst, gleichzeitig jedoch de jure und damit auch de facto Ausnahmeregelungen zulässt, die für einen uneinheitlichen gemeinsamen Raum sorgen (Thym 2016: 32, Rn 2). Viele zunächst zwischenstaatlich beschlossene Regeln wurden inzwi‐ schen durch europäische Rechtsinstrumente ersetzt, was zeigt, dass das Schengenrecht reguläres Unionsrecht geworden ist (Thym 2016: 32, Rn 2). Zu den wichtigsten Rechtsinstrumenten zählen in Folge des Amsterdamer Vertrags der Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/ 2006 v. 15. 3. 2006, ABl. Nr. L 105/ 1, inzwischen Verordnung (EU) 2016/ 299 v. 9. 3. 2016, ABl. Nr. L 77/ 1 v. 23. 3. 2016, letzte Änderung v. 11. 6. 2019) und der Visakodex (Verordnung (EG) Nr. 810/ 2009 v. 13. 7. 2009, ABl. Nr. L 243/ 1 v. 15. 9. 2009, letzte Änderung v. 12. 4. 2016). 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 49 <?page no="50"?> Welche Rolle spielt Sicherheit im Schengenraum? Die ursprünglich von den Gründerstaaten für eine Handvoll Schengenstaa‐ ten eingeführten flankierenden Maßnahmen im Bereich Visa, Einwande‐ rung, Asyl und Grenzschutz sind inzwischen zum Rückgrat der Zusamen‐ arbeit im Bereich europäischer Justiz- und Innenpolitik geworden (Thym 2016: 33, Rn 3). In der Literatur wird dieser Prozess als Versicherheitlichung beschrieben und kritisiert, weil die Innenminister die Politikgestaltung in diesem Bereich stark geprägt haben mit ihrem Fokus auf Sicherheit und Kriminalitätsbe‐ kämpfung (dazu ursprünglich Guiraudon 2000; rezipiert von Parkes 2010; Kaunert und Léonard 2012). Daniel Thym wendet ein, dass die Justiz- und Innenpolitik im Zuge der schrittweisen Überführung des Politikbereichs in einen Entscheidungsmodus, der die qualifizierte Mehrheit und die Beteili‐ gung des Parlaments erfordert, weniger stark von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist (Thym 2016: 33, Rn 3). Spätestens im Zuge der Terroranschläge von Paris im Januar und No‐ vember 2015 ist die Sicherheitsthematik wieder stärker in den Vordergrund der Schengenpolitik gerückt. Frankreich führte mit Verweis auf die Terror‐ gefahr wieder Grenzkontrollen ein. Im Zuge der Migrationskrise von 2015/ 2016 führten zudem Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen wieder Grenzkontrollen mit Verweis auf die nationale Si‐ cherheit ein. Gemäß Schengenrecht ist die Wiedereinführung von Grenzkontrollen rechtmäßig, sofern diese „unter außergewöhnlichen Umständen“ durch‐ geführt und „für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung“ (VO (EU) 2016/ 399, Art. 25 Abs. 1) beschränkt sind. Sollte eine Bedrohungslage länger andauern, so können die Grenzkontrollen jeweils um 30 Tage ver‐ längert werden. Der Gesamtzeitraum, in dem Kontrollen an Binnengren‐ zen durchgeführt werden, sollte jedoch zwei Jahre nicht überschreiten (Art. 25 Abs. 4 VO (EU) 2016/ 399). In Deutschland, Frankreich, Schweden und Dänemark dauern punktuelle Grenzkontrollen jedoch bereits seit 2015/ 2016 an. 3.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Mit dem Schengener Abkommen ist die Außengrenzsicherung für alle am Schengenraum teilnehmenden Staaten zu einem Thema gemeinsamen In‐ 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 50 <?page no="51"?> teresses geworden. Notwendigerweise braucht es Übereinkünfte dazu, wie die Grenzsicherung aussehen soll. Die strategische Planung in diesem Politikbereich obliegt dem Europäi‐ schen Rat und damit den Staats- und Regierungschefs, nicht der Europäi‐ schen Kommission (Art. 68 AEUV). Diese Strategien wurden in Mehrjahre‐ sprogrammen von den Staats- und Regierungschefs festgehalten (ausführlich: Dreyer-Plum 2017: 172-184). Das erste Strategiepapier: Programm von Tampere (1999) Das erste Programm dieser Art war das Programm von Tampere (Europäi‐ scher Rat 1999). Dieses Strategieprogramm erarbeiten die Staats- und Re‐ gierungschefs im Europäischen Rat in Folge des Amsterdamer Vertrags, dem ersten Vertrag der gemeinschaftliche Politikziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorsah (Art. 61 EGV-Amsterdam). Das Pro‐ gramm von Tampere enthielt innen- und justizpolitische Ziele für den Zeit‐ raum 2000 bis 2004. Dem Freiheitsgut der Unionsbürger wurde hohe Priorität eingeräumt. Das Freiheitsprinzip sollte nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs Grundlage für die gesamte Innen- und Justizpolitik sein. Freiheit ist nicht selbstverständlich und gilt in der Gemeinschaft als hohes politisches Gut: „Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen. Dies erfordert wiederum, daß die Union gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitiken entwickelt und dabei der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der Außengrenzen zur Beendung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung derjenigen, die diese organi‐ sieren und damit zusammenhängende Delikte im Bereich der internationalen Kriminalität begehen, Rechnung trägt.“ (Programm von Tampere, Einleitung) Hier wird die enge Verwebung von Einreise und Asyl, Kriminalität und Mi‐ gration vor dem Hintergrund der Grenzsicherung deutlich. Mit konkretem Bezug zur Grenzpolitik wurden drei Prioritäten formuliert: 1. Partnerschaft mit Herkunftsländern von Asylsuchenden und Mi‐ 1. granten; bessere Bedingungen in Heimatstaaten schaffen, um Ein‐ wanderung zu reduzieren (§§ 11-12). 2. Gemeinsames Europäisches Asylsystem schaffen: Anwendung 2. Genfer Flüchtlingskonvention durch Anerkennung Nichtzurückwei‐ 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 51 <?page no="52"?> sungsprinzip, außerdem gemeinsame Standards bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen; gleiche Kriterien bei der Entschei‐ dung über Asylanträge (§§ 13-17). 3. Migrationsströme effizient steuern: Informationskampagnen in Tran‐ 3. sit- und Herkunftsstaaten durchführen, Kriminalität in der Migration be‐ kämpfen (Schlepper, die aus der Not der Asylsuchenden Profit schla‐ gen); Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten (§§ 22-27). Es folgte das Haager Programm aus dem Jahr 2004, das für den Zeitraum 2005 bis 2009 ausgearbeitet wurde. Programm von Den Haag (2004): Sicherheit und Grundrechtschutz Einige politische Ziele des Programms von Tampere waren bereits erreicht: die Dublin-Verordnung, die Aufnahme- und Anerkennungsrichtlinie waren verabschiedet worden, drei wesentliche Elemente des Gemeinsamen Euro‐ päischen Asylsystems. Damit wurden erste Ziele des Amsterdamer Vertrags und des Programms von Tampere verwirklicht. Auch bei der Harmonisie‐ rung der Grenzkontrollen stellte der Europäische Rat Fortschritte fest. Entworfen wurde das Haager Programm unter dem unmittelbaren Ein‐ druck der Anschläge auf Madrid im März 2004, ebenso wie der Terroran‐ schläge auf die USA im Jahr 2001. Es überrascht daher wenig, dass das Haa‐ ger Programm stärker noch als das Programm von Tampere von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist. Dennoch war den Staats- und Regierungschefs wichtig, dass Freiheit das wichtigste und do‐ minante Prinzip im Raum ohne Binnengrenzen bleibt und entsprechend weiter ausgebaut würde. Das Haager Programm war mit seiner Verabschie‐ dung Ende 2004 auf das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ausgerichtet (der jedoch in Frankreich und in den Niederlanden in nationalen Referenden scheiterte und nicht in Kraft trat). Die Organe und die Gemeinschaft sollten auf die Grundrechtecharta vorbereitet werden, die mit dem Verfassungs‐ vertrag bindend werden sollte. Der Europäische Rat erwog eine stärkere und wirkungsvolle Verzahnung von Visaantragsverfahren, Einreise- und Ausreiseverfahren beim Über‐ schreiten der Außengrenzen (Europäischer Rat 2004). In Bezug auf Grenzkontrollen forderte der Europäische Rat, dass Infor‐ mationen und Daten über Wanderungsbewegungen erhoben, weitergege‐ ben und ausgetauscht sowie verwendet würden, um Migrationsbewegungen zu steuern (Europäischer Rat 2004: 17). Dazu sollten auch die bisherigen 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 52 <?page no="53"?> Informationssysteme weiter ausgebaut werden. Menschen- und Freiheits‐ rechte gerieten mit sicherheitspolitischen Erwägungen in Konflikt: „Die Sicherheit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist dringlicher denn je, insbesondere in Anbetracht der Terroranschläge […]. Die Bürger Europas erwarten zu Recht von der Europäischen Union, dass sie im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Probleme wie illegale Einwanderung, Menschenhandel und -schmuggel, Terrorismus sowie organisierte Kriminalität und deren Verhü‐ tung gemeinsam und noch wirksamer vorgeht, dabei jedoch die Achtung der Grundfreiheiten und -rechte sicherstellt.“ (Europäischer Rat 2004: 12) Die Einreisepolitik und die Beziehung zu Transit- und Herkunftsstaaten rückten ins Zentrum europäischer Überlegungen zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Zum verbesserten Um‐ gang mit Asyleinwanderung sah das Haager Programm bis 2010 die Ein‐ richtung einer europäischen Agentur vor. Diese sollte intergouvernemental organisiert sein und die Mitgliedstaten bei Asylfragen, Verfahren und Rück‐ führungen unterstützen (später VO (EU) Nr. 439/ 2010, weitere Litetratur dazu Geiger/ Khan/ Kotzur/ Kotzur 2017, Art. 78 AEUV, Rn 6 mwN). Das Programm von Stockholm (2010) Das Stockholmer Programm war für den Zeitraum 2010 bis 2014 ausgelegt und setzte die allgemeinen Ziele von Tampere und Den Haag fort. Ziel des gemeinsamen Raums war ein „offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ (Europäischer Rat 2010: Titel). Die Grenzpolitik berührte drei Themenfelder: (1) illegale Einwanderung und Kriminalität, (2) gemeinsame Asylpolitik sowie (3) die Einreise von Drittstaatsangehörigen zu Studien- und Arbeitszwecken. Der illegalen Einwanderung und grenzüberschreitenden Kriminalität sollte durch ein integriertes Grenzmanagement sowie die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern begegnet werden (§ 6. 1. 6). Die europäi‐ sche Grenzschutzagentur Frontex sollte vermehrt Risikoanalysen über Mi‐ grationsrouten erstellen und diese Routen überwachen. Zudem sollte Frontex gestärkt werden, indem das Mandat für Frontex präzisiert und aus‐ geweitet wurde und „einheitliche Grenzüberwachungsstandards“ ange‐ wandt würden (§ 5. 1, weiterhin: 8-9). Die gemeinsame Asylpolitik sollte vor allem durch den Ausbau des ein‐ gerichteten Unterstützungsbüros für Asylfragen vorangetrieben werden. Ziel war es, einen Schutz- und Solidaritätsraum zu schaffen, in dem ein eu‐ 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 53 <?page no="54"?> ropäisches Asylverfahren angewandt und ein einheitlicher Asylstatus erteilt würde (§§ 3, 5-7). Darüber hinaus ermahnten sich die Staats- und Regie‐ rungschefs gegenseitig, die bestehenden Rechtsakte des Gemeinsamen Eu‐ ropäischen Asylsystems einheitlich umzusetzen (§§ 3, 7). Schlussfolgerungen von Ypres (2014): Kaum noch eine Vision Im Jahr 2014 tagte der Europäische Rat in Ypres und verabschiedete mit den Schlussfolgerungen vom 26./ 27. Juni 2014 ein Papier (EUCO 79/ 14), das in der Reihe der Strategieprogramme steht, jedoch substanziell kaum mit den Programmen von Tampere (1999), Den Haag (2004) und Stockholm (2010) vergleichbar ist. Der Ypres Plan ist auf 13 Paragraphen begrenzt und enthielt wenig substanzielle Orientierung für die weitere Ausgestaltung der euro‐ päischen Justiz- und Innenpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 5, Rn 8). Während das Programm von Tampere noch von Enthusiasmus für das neue europäische Politikfeld geprägt war, so konzentrierte sich das Haager Programm auf den Kampf gegen den Terrorismus und das Stockholmer Pro‐ gramm versuchte die Balance zwischen Sicherheit und Grundrechten vor dem Hintergrund des Vertrags von Lissabon auszuloten; das Programm von Ypres lässt hingegen keine klare inhaltliche Ausrichtung erkennen (Hail‐ bronner und Thym 2016a: 5, Rn 8). Welche Funktion erfüllen die Strategieprogramme? Im Wesentlichen geben sie eine allgemeine politische Orientierung für die Fortentwicklung europäischer Politik im Bereich Justiz und Inneres. Kay Hailbronner und Daniel Thym weisen darauf hin, dass sie doktrinal weniger wichtig sind als Vertragsziele, weil sie politisch und nicht rechtlich bindend sind (Hailbronner und Thym 2016a: 6, Rn 9). Trotz ihres rechtlich begrenzten Gewichtes hatten sie jedoch politische Bedeutung, die zuletzt aber nachlässt. Das wurde auch durch eine Zwischenevaluation im Jahr 2017 bestätigt, bei der in einem Workshop zwar drängende Arbeitsfelder definiert, aber kein Strategieplan ausgearbeitet wurde (Rat der EU 2017). Die nachlassende Be‐ deutung der Strategieprogramme kann allerdings auch so gedeutet werden, dass der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Reife erlangt hat, in dem die politische Programmierung weniger relavant ist, weil die recht‐ lichen Instrumente in den Bereichen Grenzkontrollen, Einreise, Asyl bereits ausgearbeitet sind (Hailbronner und Thym 2016a: 6, Rn 9). Aus der Chronologie der Mehrjahresprogramme lassen sich die übergrei‐ fenden Prioritäten für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 54 <?page no="55"?> 12 Art. 70 ermöglicht Maßnahmen des Rates auf Vorschlag der Kommission, „nach denen die Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit der Kommission eine objektive und unpar‐ teiische Bewertung der Durchführung der unter diesen Titel fallenden Unionspolitik durch die Behörden der Mitgliedstaaten vornehmen, insbesondere um die umfassende Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu fördern.“ gut ablesen: Grundrechte werden zwar seit dem Haager Programm von 2004 voran gestellt, die größte Sorge bereitet den Politikern jedoch die irreguläre (Asyl-)Zuwanderung in die Europäische Union. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Strategieprogramme und steht in Verbindung mit der Be‐ kämpfung illegaler Einwanderung und Kriminalität. Nach und nach rücken die Themen Asyl, Grenze und Migration in den Strategieprogrammen zu‐ sammen. Das letzte Arbeitstreffen 2017 fand unter der Präsidentschaft Estlands und unter Einbeziehung von externen Experten statt. Festgehalten wurden Pro‐ bleme, die im Raum ohne Binnengrenzen in den vorherigen Jahren deutlich geworden sind und anstehende Themen. Das Papier unterschied sich damit deutlich von den bisherigen Agenda-Strategien. Es handelte sich eher um eine Rückschau aus der ein Ausblick generiert wurde auf notwendige Hand‐ lungsfelder (Rat der EU 2017). Unter dem Eindruck der Migrationskrise von 2015 trugen die Mitgliedstaaten wichtige Themenfelder für die zukünftige Gestaltung der europäischen Justiz- und Innenpolitik zusammen: Migration, Asyl, Schengen, Sicherheit, Antiterrorismus, digitale Fragen, Cybercrime, e-evidence, Datensicherung, Informationsaustausch, justizielle Kooperation und Grundrechte (Rat der EU 2017: 2). Als Hauptaufgaben wurden die ef‐ fektive Anwendung, konsistente Umsetzung und Konsolidierung der beste‐ henden europäischen Rechtsakte erachtet (Rat der EU 2017: 3). Ein Lösungs‐ vorschlag wurde gleich mitgeliefert: Die jeweilige Präsidentschaft und die Kommission sollen gemäß Art. 70 AEUV 12 stärker kontrollieren, ob und wie Unionsrecht im Bereich Jusitz und Inneres umgesetzt wird. Mit Blick auf die Migrationskrise von 2015 reifte die Einschätzung, dass die Europäische Union nicht über die notwendigen Instrumente verfüge, um ad-hoc auf derartige Krisen zu reagieren. Die EU verließe sich in ihrer poli‐ tischen Herangehensweise stets auf rechtliche Instrumente, doch politische Krisen erforderten ad-hoc politische Handlungen und operative Einsätze, hieß es in der Rückschau: „As regards operational activities, the EU still lacks credible crisis management tools, which would ensure the rapid and sustainable deployment of adequate re‐ 3.1 Grenzen der Europäischen Union - Auflösung der Binnengrenzen 55 <?page no="56"?> sources, both human and technical, the organisation of hotspots with clear func‐ tional objectives and the appropriate interaction with international partners.“ (Rat der EU 2017: 4) Einen tatsächlichen Ansatz dazu, wie Situationen wie die Migrationskrise effektiver gehandhabt werden könnten, sucht man in dem Papier jedoch vergeblich. Der einzig konkrete Vorschlag in diesem Zusammenhang ist der Ausbau von Agenturen der Gemeinschaft: dem Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und der Grundrechtsagentur (FRA). Die Bedeutung der europäischen Agenturen kann kaum unterschätzt werden. An ungeahnter Stelle finden sich hier auch strategische Aussagen über die Politikentwick‐ lung, wie im Fall der Neugründung der Agentur Frontex. In der 2016 verabschiedeten Verordnung zur Neugründung von Frontex als Europäische Grenzschutz- und Küstenwache wird als allgemeines Ziel die „Entwicklung und Einführung einer integrierten Grenzverwaltung“ für die nationale und unionale Ebene genannt. Diese seit notwendig, um den freien Personenverkehr innerhalb der Union zu gewährleisten und Sicher‐ heit im gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu gewährleisten (VO (EU) 2016/ 1624, Erwägungsgrund 3). Zugespitzt auf die Politik an den Außengrenzen formulierten die gemein‐ samen Gesetzgeber Europäische Kommission, Rat der EU und Europäisches Parlament die strategischen Ziele der Grenzpolitik wie folgt: „Ziel ist, das Überschreiten der Außengrenzen effizient zu steuern und Migrati‐ onsdruck sowie potenzielle künftige Bedrohungen an diesen Grenzen zu bewäl‐ tigen, und somit einen Beitrag zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension zu leisten und ein hohes Maß an innerer Si‐ cherheit in der Union sicherzustellen.“ (VO (EU) 2016/ 1624, Erwägungsgrund 3). Die Kompetenz dazu lag erst seit wenigen Jahren in den Händen der Ge‐ meinschaft. 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik Grenzpolitik ist eines der klassischen Politikfelder, die in der nationalen Souveränität liegen. Wie im Kapitel 2 dargestellt, ist die zwischenstaatliche Kooperation im Schengenraum wesentlicher Grund für die Entwicklung 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 56 <?page no="57"?> europäischer Grenzpolitik, die zum ersten Mal 1986 in der Einheitlichen Eu‐ ropäischen Akte angesprochen wurde. In diesem Kapitel soll es darum gehen, wie das Mandat für eine europäi‐ sche Grenzpolitik Eingang in die europäischen Verträge gefunden hat (3. 2. 1) und welche Rechtsinstrumente genutzt werden, um dieses Mandat umzusetzen (3. 2. 2). 3.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Grenzpolitik Während die Einheitliche Europäische Akte durch den neuen Artikel 8a vorgab, einen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen, enthielt sie keine Be‐ stimmungen und vor allem keine Kompetenzverlagerung der Grenzpolitik auf europäische Ebene. Der Vertrag von Maastricht (1993) ermöglichte eine europäische Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, die aber zu‐ nächst noch deutlich von intergouvernementalen Entscheidungsmustern (Einstimmigkeitsprinzip) geprägt waren. Das heißt die Europäische Kom‐ mission erhielt zunächst keine Rechtsetzungsaufträge zu Grenz- oder Asyl‐ fragen. Erst der Vertrag von Amsterdam (1999) führte die Schaffung eines euro‐ päischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in das Gemein‐ schaftsrecht ein. Der europäische Raum ist in diesem Vertrag erstmalig eine ausdrückliche Zielbestimmung, um den freien Personenverkehr als Grund‐ pfeiler der Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu verwirklichen: „Die Union setzt sich folgende Ziele: die Förderung des wirtschaftlichen und so‐ zialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeifüh‐ rung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftli‐ chen und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrags umfaßt [! ].“ (Art. 2 EUV-Amsterdam) Dieser Zielkatalog verdeutlicht zum einen, wie die Grenzpolitik der Euro‐ päischen Union mit dem Binnenmarkt und der Währungsunion zusammen‐ hängt. Zum anderen werden diese Politikbereiche in Verbindung gebracht mit politischen Zielen, die durch die Politik erreicht werden sollen: sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, wirt‐ schaftlicher und sozialer Zusammenhalt. Diese Ziele sind einerseits wirt‐ 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik 57 <?page no="58"?> schaftlicher Natur (wirtschaftlicher Fortschritt, hohes Beschäftigungsni‐ veau), andererseits gesellschaftlicher Natur (sozialer Fortschritt) und enthalten zudem gleichzeitig normative Dimensionen (Nachhaltigkeit, Aus‐ gewogenheit, Fortschritt, Zusammenhalt). Was bedeutet das? Auch wenn wir Grenzpolitik isoliert betrachten, ist ihre spezifische Ausformung im europäischen Rechtssystem doch eine un‐ mittelbare Folge des gemeinsamen Marktes und seiner Ziele - ein gemein‐ samer Wirtschaftsraum mit Binnenmarkt, Grundfreiheiten und Währungs‐ union. Zur Spezifikation wie dieser Raum ohne Binnengrenzen aussehen soll, hieß es im Vertrag von Amsterdam nüchtern: Die „Tätigkeit der Gemein‐ schaft […] umfaßt […] Maßnahmen hinsichtlich der Einreise und des Per‐ sonenverkehrs nach Titel IV“ (Art. 3 Abs. 1 lit. d EGV-Amsterdam). Faktisch entsprach die Zielsetzung für einen Raum ohne Binnengrenzen der Überfüh‐ rung des bisherigen Schengenraums auf die europäische Agenda. Für die europäischen Institutionen bedeutete es eine Kompetenzerweiterung, da im Titel IV des EGV-Amsterdam sehr konkrete Rechtsetzungsmandate genannt wurden, mit denen die Institutionen beauftragt wurden. Die Schaffung des europäischen Raums umfasste Maßnahmen in der Einwanderungs- und Asylpolitik, justizielle Kooperation in Zivilsachen (vor allem Anerkennung von Gerichtsentscheidungen in Zivilsachen), sowie die polizeiliche und jus‐ tizielle Kooperation in Strafangelegenheiten. Was prägt diesen gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzen? Schaut man auf den einführenden Artikel im Vertrag von Amsterdam zu „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Per‐ sonenverkehr“, so dominieren restriktive Politikmuster, die auf Kontrolle, Schutz und Eindämmung gerichtet sind: „Zum schrittweisen Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erläßt [! ] der Rat […] Maßnahmen zur Gewährleistung des freien Personenver‐ kehrs […] Maßnahmen in bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, Asyl und Einwanderung […] sowie Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität.“ (Art. 61 Abs. 1 lit. a EGV-Amsterdam) Weiterhin enthielt der Vertrag von Amsterdam einen Auftrag, Maßnahmen zu erlassen, dass Personen generell nicht mehr an Binnengrenzen kontrol‐ liert werden, egal ob es sich um Unionsbürger oder Drittstaatsangehörige handelte (Art. 62 Abs. 1 EGV-Amsterdam). Konsequenterweise sollten 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 58 <?page no="59"?> gleichzeitig Maßnahmen erlassen werden, die einheitliche Verfahren für das Überschreiten der Außengrenze der Mitgliedstaaten vorsahen (Art. 62 Abs. 2 lit. a EGV-Amsterdam). Vor allem sollten sich die Mitgliedstaaten auf Ver‐ fahren und Voraussetzungen einigen, nach denen ein Einreisevisum für ei‐ nen maximal dreimonatigen Aufenthalt gewährt würde (Art. 62 Abs. 2 lit. b EGV-Amsterdam). Drittstaatsangehörige sollten mit einem solchen Visum Reisefreiheit im Raum ohne Binnengrenzen genießen (Art. 62 Abs. 3 EGV-Amsterdam). Auch hier wird sichtbar: die Schaffung des Raums bezog sich im Bereich der Grenzpolitik auf klare Regeln an der Außengrenze, um die Realität des Raums ohne Binnengrenzen zu kompensieren. Im Vertrag von Lissabon (2009) wurde der Raum der Freiheit, der Sicher‐ heit und des Rechts als Politikbereich definiert, in dem die Europäische Union fortan über eine geteilte Zuständigkeit verfügte. Im Rahmen der ge‐ teilten Zuständigkeit konzentrierte sich die Aufgabe der Union auf die Ko‐ ordinierung und Unterstützung der Mitgliedstaaten bei den vertraglich ge‐ nannten Zielen zur Grenzpolitik, die Einwanderung, Asyl und Außengrenzkontrollen betrafen. Die gleichzeitigen Vorgaben für Grenzkontrollen und Visa in einem Artikel im Vertragswerk (Art. 77 Abs. 1 AEUV) können als ein Zeichen gedeutet werden, dass der EU-Vertrag einen Mehrebenen‐ ansatz bei Einreisekontrollen beinhaltet, wonach sowohl Abläufe an den Grenzen wie Kontrollen und auch extraterritoriale Entwicklungen durch Aktivitäten auf hoher See und Kooperationen mit grenzrelevanten Dritt‐ staaten berücksichtigt werden (Thym 2016: Rn 38-41). In Artikel 79 Abs. 1 wird das Ziel der europäischen Grenzpolitik zugespitzt: „Die Union entwickelt eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Pha‐ sen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behand‐ lung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat auf‐ halten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll.“ Der Regelungsinhalt europäischer Rechtsetzung zu Einreise und Grenzkon‐ trollen konzentrierte sich auf rechtliche Harmonisierung bei administrati‐ ven Abläufen und auf die Zusicherung des Rechtsschutzes. Die Agentur Frontex kann dabei als ein Beispiel verstanden werden, wie eng Kooperation auch weit unterhalb einer Vergemeinschaftung europäi‐ scher Grenzpolitik aussehen kann. Die individuellen Entscheidungen wer‐ den weiterhin durch die jeweiligen Behörden auf nationaler Ebene getroffen. 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik 59 <?page no="60"?> 3.2.2 Rechtsinstrumente zur gemeinsamen Steuerung der europäischen Grenzpolitik Grundsätzlich lassen sich die durch Recht geschaffenen Instrumente zur Steuerung der Grenzpolitik in drei Bereichen identifizieren: (1) Materielles Recht: Europäisches Sekundärrecht (Verordnungen und Richtlinien) zur Gestaltung der europäischen Grenzkontrollen, zur Festle‐ gung der gemeinsamen Visabestimmungen und Grundprinzipien beim Asyl‐ schutz. Zur Vorbereitung von gemeinsamen Rechtsinstrumenten ist in der Europäischen Kommission die Generaldirektion für Justiz, Freiheit und Si‐ cherheit zuständig. Ihre Aufgabe konzentriert sich darauf, die Mitgliedstaaten bei Kooperationen in der Innen- und Justizpolitik zu unterstützen. Die euro‐ päischen Institutionen schaffen Unionsrecht, das grundsätzlich gemeinsame Standards beim Grenzschutz regelt und zur Vereinheitlichung der Erteilung von Visatiteln im Schengenraum beiträgt. Koordinierend werden auch die europäischen Agenturen Europol, Eurojust und Frontex tätig, die ebenfalls durch Unionsrecht (Verordnungen) gegründet wurden (Abschnitt 3). (2) Informationssysteme, die die Umsetzung der Rechtsinstrumente er‐ möglichen, darunter das Schengener Informationssystem (SIS I und II), Eu‐ rodac, Eurosur und das Visa-Informationssystem (VIS). Das erste Informationssystem zur Überwachung der Bewegungen an der Grenze, zum Datenaustausch und zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten war das Schengener Informationssystem der ersten Generation. Es handelte sich um eine Datenbank, die auf Grundlage von Art. 92 des Schengener Durchführungsübereinkommens eingerichtet wurde. So sollte „die öffentli‐ che Sicherheit und Ordnung einschließlich der Sicherheit des Staates und die Anwendung der Bestimmungen dieses Übereinkommens im Bereich des Personenverkehrs“ gewährleistet werden (Art. 92 SDÜ). Im SIS wurden Da‐ ten ebenfalls auf Grundlage des Schengener Durchführungsabkommens er‐ fasst (Art. 94-125 SDÜ). Die nicht-öffentliche Datenbank war nur für Schen‐ genstaaten sowie für Europol und Eurojust zugänglich (Beschluss 2007/ 533/ JI des Rates v. 12. 06. 2007, ABl. Nr. L 205 v. 07. 08. 2007, Anhang II, 1. 6., 1. 7). Im Schengener Informationssystem wurden Daten von Personen erfasst, die zur Fahndung ausgeschrieben waren, die vermisst gemeldet wurden oder die vormals irregulär eingereist waren. Das Schengener Informationssystem der zweiten Generation löste 2013 das vorherige System ab, das für maximal 15 Mitgliedstaaten konzipiert war (Durchführungsbeschluss (EU) 2015/ 2019 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 60 <?page no="61"?> 13 SIS II beruht auf einer kombinierten Rechtsgrundlage mit dem SIS-II-Beschluss 2007/ 533/ JI v 12. 6. 2007, ABl. Nr. L 205/ 63 v. 7. 8. 2007 und der SIS-II Verordnung (EG) Nr. 1987/ 2006 v. 20. 12. 2006, ABl. Nr. L 381/ 4 v. 28. 12. 2006. v. 29. 01. 2015, ABl. Nr. L 44 v. 18. 02. 2015). Das neue Schengener Informati‐ onssystem ermöglichte über das System SIRENE (Supplementary Information Request at the National Entry) als Schnittstelle zwischen den nationalen und den zentralen Daten, den Zugriff durch Sicherheitsbehörden auf Informa‐ tionen über die Ausschreibungen aus dem Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II). 13 Als weiteres Informationssystem dient Eurodac den Schengenstaaten zur Umsetzung der Bestimmungen zu Grenz-, Einreise- und Asylpolitik, vor al‐ lem jedoch der Dubliner Prinzipien (Verordnung (EG) Nr. 2725/ 2000, ABl. Nr. L 316 v. 15. 12. 2000, Art. 24 Abs. 3; inzwischen: VO (EU) Nr. 603/ 2013 v. 26. 06. 2013, ABl. Nr. L 180/ 1 v. 29. 06. 2013). In Eurodac werden die Finger‐ abdrücke von Asylsuchenden ab 14 Jahren aufgenommen. Auch Eurodac beruht ähnlich wie SIS aus einem zentralen System und Kontaktstellen für die Fingerabdruckdaten in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Die Daten werden anonymisiert, indem jedem Fingerabdruckset eine Kennnummer zugeordnet wird. (VO (EG) Nr. 2725/ 2000, Art. 5 Abs. 1). Die Fingerabdruck‐ daten in Eurodac sind eine wichtige Beweisgrundlage im Asylverfahren, wenn es um die Klärung der Frage geht, welcher Mitgliedstaat für die Prü‐ fung eines Asylantrags zuständig ist. Denn ein "Treffer" in Eurodac bedeutet, dass der Antragsteller bereits in einem anderen Mitgliedstaat registriert wurde, bspw. wegen Ersteinreise dort. Sofern weder Visum noch familiäre Beziehungen zum aktuellen Aufenthaltsstaat vorliegen, ist der Staat für die Prüfung des Antrags zuständig, in dem zuerst die Fingerabdrücke des An‐ tragstellers registriert wurden. In zwei weiteren Fällen werden Drittstaats‐ angehörige in Eurodac registriert: wenn sie einen Asylantrag stellen oder wenn sie sich länger in einem Staat aufgehalten haben, als es ihr Aufent‐ haltstitel (Visum) zuließ. Seit 2013 hat die Agentur Europol erleichterten Zugang zu den Daten in Eurodac (VO (EU) Nr. 603/ 2013, Art. 7). Eurosur ist ein satellitenbasiertes Informations- und Netzwerksystem, das per Verordnung im Oktober 2013 gegründet wurde und schon zwei Monate später im Einsatz war (VO (EU) Nr 1052/ 2013 v. 22. 10. 2013, ABl. Nr. L 295 v. 6. 11. 2013). Es schaffte im Wesentlichen die Datengrundlage für die Grenz‐ überwachung durch die Grenzschutzagentur Frontex. Mit Hilfe von Eurosur werden Daten von Satelliten, Drohnen und Radargeräten übermittelt. Vor 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik 61 <?page no="62"?> allem der Mittelmeerraum wird dadurch beobachtet und kontrolliert, sodass selbst Schlauch- und Fischerboote vom System erfasst werden können. Das Visa-Informationssystem (VIS) ist seit 2011 in Kraft und speichert biometrische Daten in Zusammenhang mit Visaanträgen, die aufgrund man‐ gelnder rechtlicher Grundlagen nicht im Schengener Informationssystem hinterlegt werden können (mehr dazu in Epiney und Egbuna-Joss 2016). Das Informationssystem wird vor allem genutzt, um gefälschte Visa und Betrug mit Visa aufzuspüren. (3) Agenturen, die an der Schnittstelle zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Unionsrecht und oft unter Nutzung der Informationssysteme operativ in Spezialbereichen tätig sind. Dazu zäh‐ len Frontex im Grenzschutz, das Europäische Unterstützungsbüro für Asyl im Asylschutz und weitere Agenturen, die im Raum der Freiheit, der Si‐ cherheit und des Rechts angesiedelt sind, darunter Europol, Eurojust und die Grundrechtsagentur. Gerade in Politikbereichen, in denen die Europäische Union und die Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeiten ausüben, überneh‐ men Agenturen wichtige operative Tätigkeiten und verbinden dadurch die nationlen mit der europäischen Ebene. Europol ist eine Agentur, die der inneren Sicherheit der Europäischen Union verpflichtet ist und Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung schwerer internationaler Kriminalität und Terrorismus unterstützt. Europol wurde 2009 durch mehrere Beschlüsse gegründet, die inzwischen von einer Ver‐ ordnung abgelöst wurden (VO (EU) 2016/ 794 v. 11. 05. 2016, ABl. Nr. L 135/ 53 v. 24. 05. 2016). Die Schwerpunkte der operativen Arbeit von Europol mit Bezug zur Grenzpolitik (Einwanderung, Einreise, Asyl) betreffen Beihilfe zur illegalen Einwanderung, Menschenhandel und mobile Gruppierungen der organisierten Kriminalität. Dabei ist bemerkenswert, dass „Beihilfe zur ille‐ galen Einwanderung“ nicht in der Liste der Kriminalitätsformen auftaucht, die gemäß Art. 3 Abs. 1 der Europol-Verordnung zum Aufgabenbereich der Agentur zählt, lediglich „Schleuserkriminalität“ wird genannt (VO (EU) 2016/ 794 v. 11. 05. 2016, Anhang I). Eine weitere Agentur, die im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen wurde, ist Eurojust (errichtet durch Beschluss 2002/ 187/ JI des Rates v. 28. 2. 2002, ABl. Nr. L 63/ 1 v. 6. 3. 2002, ersetzt durch Verordnung (EU) 2018/ 1727 v. 14. 11. 2018, ABl. Nr. L 295/ 138 v. 21. 11. 2018). Eurojust unterstützt die nationalen Ermittlungs- und Vollzugsbehörden bei der Ver‐ folgung schwerer grenzüberschreitender und organisierter Kriminalität. Auf 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 62 <?page no="63"?> justizieller Ebene versteht sich Eurojust als Partner und Fachzentrum im Dienst der Europäischen Union. Vor allem der schweren grenzüberschreitenden Kriminalität soll durch die Unterstützungsarbeit von Eurojust durch Koordinierung der nationalen Justizbehörden, Ermittlungen und Strafverfolgungsverfahren begegnet wer‐ den (etwa 2.000 Fälle pro Jahr). Die Topthemen mit Grenzbezug sind: Ter‐ rorismus, Drogenhandel, Menschenhandel, Betrug, Korruption, Computer‐ kriminalität, Geldwäsche und sonstige Aktivitäten des organisierten Verbrechens. Die wohl wichtigste Agentur in der Grenzpolitik ist Frontex. Sie gilt als operativer Arm der EU an den Außengrenzen. Ganz wesentlich ist die Zu‐ sammenarbeit der nationalen Verbindungsbeamten an der Schnittstelle zwi‐ schen Frontex und den Mitgliedstaaten. Zu den Schlüsselaufgaben zählt die Mitverantwortung für den Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; die Bekämpfung grenzübergreifender Kriminalität und Vorbeu‐ gung von Terrorakten. 3.2.3 Frontex: Gründung, erste Einsätze und rechtliche Entwicklung der europäischen Grenzschutzagentur Gegründet wurde Frontex 2004 per Verordnung (VO (EG) Nr. 2007/ 2004, ABl. Nr. L 349/ 1 v. 25. 11. 2004). Zum vorrangigen Mandat der Agentur zählt die Unterstützung der Mitgliedstaaten bei ihrer operativen Zusammenarbeit an der Außengrenze der Europäischen Union (Art. 3), die Anfertigung von Ri‐ sikoanalysen zur Situation an der Außengrenze (Art. 4), die Unterstützung bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten (Art. 5) sowie technische und operative Unterstützung an der Außengrenze (Art. 7) und bei Rückführun‐ gen (Art. 9). Die Aufgabe der Agentur ist nicht weniger als die „Wirksamkeit“ der Grenzen zu fördern (Art. 1 Abs. 2) und damit eine Kernfunktion im „in‐ tegrierten Grenzschutz“ zu übernehmen (Erwägung 1). Nach Einschätzung von Seline Trevisanut spiegelt die Gründung von Frontex den Wunsch der Mitgliedstaaten nach effektivem Außengrenzschutz, der Zusammenarbeit und Solidarität an der Außengrenze vor dem Hintergrund des gemeinsamen Schengenraums (Trevisanut 2014: 106). Zum ersten Einsatz kam es 2005. Spanien bat um Unterstützung bei der Kontrolle der Einreise auf den Kanarischen Inseln, die seit Beginn der 2000er Jahre zunehmend irreguläre Anlandungen von Migranten aus Mauretanien und Senegal verzeichneten (sogenannte westafrikanische Route: Westafrika 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik 63 <?page no="64"?> - Kanaren/ Spanien). Der Einsatz Hera begann im Juli 2006. Allein im Mai 2006 hatten etwa 5.000 Menschen die Kanarischen Inseln aus Westafrika erreicht (Seehase 2013: 213). Frontex unterstützte Spanien dabei, die Mi‐ granten zu identifizieren, also ihre Identität festzustellen und daraufhin Rückführungen vorzubereiten. Auf Grundlage von bilateralen Rückfüh‐ rungsvereinbarungen zwischen Spanien und Senegal sowie Mauretanien, wurden in dem Jahr 6.076 Menschen aus Marokko, Senegal, Mali, Gambia und Guinea zurückgeführt (Frontex 2007: 12). Drei Jahre nach Errichtung der Agentur war das wichtigste Ziel, mit der neuen Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 863/ 2007 v. 11. 7. 2007, ABl. Nr. L 199/ 30 v. 31. 7. 2007) eine rechtliche Grundlage für die zügge Bereitstellung von Soforteinsatzteams zu schaffen. Es handelte sich um sogenannte Rapid Border Invertention Teams, die Verordnung wurde deshalb auch als RA‐ BIT-VO bezeichnet. Nun konnte Frontex auf Anruf eines Mitgliedstaates in‐ nerhalb weniger Tage ein Soforteinsatzteam zusammenstellen. Diese Re‐ form wurde auch als Beitrag verstanden, um den Schengener Grenzkodex (VO (EG) Nr. 562/ 2006) umzusetzen. Für Frontex blieb es problematisch, dass sich die Agentur bei Einsätzen zum Grenzschutz zwischen europäischem Recht (ihr rechtliches Fundament) und nationalem Recht (das gültige Recht im Einsatzgebiet) bewegte. Diese Problematik wurde durch die Verordnung von 2007 nicht aufgehoben. 2011 erfuhr Frontex eine substanzielle Ausweitung des Mandats (Verord‐ nung (EU) Nr. 1168/ 2011 v. 25. 10. 2011, ABl. Nr. L 304/ 1 v. 22. 11. 2011) . Die wichtigste vertragliche Grundlage für neue Aufgaben der Agentur fand sich im 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon in Art. 77 Abs. 1 lit. c, wonach „schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außen‐ grenzen eingeführt werden soll.“ Unabhängig davon muss die Rechtsetzung zu Einreise und Grenzkontrollen den Prinzipien der Subsidiarität und Ver‐ hältnismäßigeit entsprechen (Thym 2016: 36, Rn 7). Europäische Rechtset‐ zung soll dort ansetzen, wo die Mitgliedstaaten nicht mehr effektiv eigen‐ ständig handeln können (Thym 2016: 36, Rn 7). Die Kontrolle der Außengrenzen ist von den Mitgliedstaaten mit Außengrenze nicht alleine zu stemmen und die Nachbarstaaten sind zur Mitverantwortung angehalten, weil sie aufgrund des Raums ohne Binnengrenzen von den Geschehnissen an den Außengrenzen ihrer Nachbarn unmittelbar betroffen sind. So wurde Frontex durch die Verordnung (EU) Nr. 1168/ 2011 ein Mandat für jegliche Einsätze europäischer Grenzschutzteams übertragen. Das Per‐ sonal dafür rekrutierte Frontex fortan einerseits aus dem eigenen Mitarbei‐ 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 64 <?page no="65"?> terstab sowie andererseits aus einem Pool von nationalen Grenzschutzbe‐ amten, die an die Agentur abgeordnet wurden. Frontex wurde nun ausdrücklich zur Berücksichtigung des Nichtzurückweisungsprinzips aus der Genfer Flüchtlingskonvention aufgefordert (Art. 1 Abs. 2), ebenso zur Achtung von Grundrechten (Art. 1 Abs. 2, Art. 2a) und humanitären Ver‐ pflichtungen bei Seenotrettungen (Art. 2 Abs. 1 lit. da). Die Aufgaben der Agentur wurden genauer gefasst: Risikoanalysen sollten die Kapazitäten der Mitgliedstaaten zum Umgang mit besonderen Belastungen an der Außen‐ grenze umfassen (Art. 1 Abs. 3 lit. a Ziffer i), die Agentur sollte sich zudem aktiv an der Forschung beteiligen (Art. 1 Abs. 9). Im Vergleich zu den vor‐ angehenden Verordnungen wurde die Informationsauswertung zu Abläufen in Herkunfts- und Transitstaaten sowie zur irregulären Migration auf den wichtigsten Routen intensiviert. Die Grenzschutzagentur arbeitete eng mit Europol zusammen, bezog wesentliche Daten für ihre Risikoanalysen von Europol. Frontex-Mitarbeiter führten Interviews mit Asylsuchenden und Migranten durch, um aussagekräftige Daten über die Motivlage der Wan‐ derungsbewegungen zu sammeln, die wiederum in die Risikoanalysen ein‐ flossen und regelmäßig in Quartalsberichten veröffentlicht wurden. Zu‐ sammengefasst schaffte die neue Rechtsgrundlage einerseits mehr Klarheit und andererseits mehr Erfordernisse zum Grundrechtschutz (Ryan 2016a: 201, Rn 8). Das Jahr 2016 markierte einen weiteren Meilenstein für Frontex. Als Ant‐ wort auf die Migrationskrise von 2015 schlug die Kommission unter ande‐ rem die Neugründung der Grenzschutzagentur als Europäische Grenz- und Küstenwache vor. Im Vergleich zur bisherigen Rechtsgrundlage lassen sich folgende Veränderungen durch die Verordnung von 2016 (VO (EU) 2016/ 1624 v. 14. 09. 2016, ABl. Nr. L 251/ 1 v. 16. 09. 2016) feststellen: Zum einen erfolgte die Umbenennung in Europäische Grenz- und Küstenwache (zuvor „Euro‐ päische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union“, frz.: l’Agence européenne pour la gestion de la coopération opérationelle aux frontières extérieures des États membres, Kurzform: Frontex von frontières extérieures, dt. Außengrenzen). Zudem wurden Aufgaben in folgenden Bereichen erweitert: Bekämpfung grenz‐ übergreifender Kriminalität und Vorbeugung von Terrorismus, Kontrolle der Migrationsströme, mehr Verantwortung für den Schutz der Außengren‐ zen zusammen mit den Mitgliedstaaten, und um all diese Aufgaben zu be‐ wältigen: eine Aufstockung der finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen, aber auch: verstärkte Informations- und Rechenschaftspflich‐ 3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik 65 <?page no="66"?> ten gegenüber Rat der EU und Europäischem Parlament sowie Maßnahmen zur Sicherung von Grundrechten bei Tätigkeiten der Agentur. Die Agentur selbst sieht ihr Agieren im Zentrum des integrierten Grenz‐ managements. Ihre Aufgabe sei es, „auf europäischer Ebene für eine inte‐ grierte Grenzverwaltung an den Außengrenzen“ zu sorgen, „um das Überschreiten der Außengrenzen effizient zu steuern. Dies schließt die Bewältigung des Migrationsdrucks sowie potenzieller künftiger Bedrohungen an diesen Grenzen ein, wobei gleichzeitig zur Bekämpfung von schwerer Krimina‐ lität mit grenzüberschreitender Dimension beigetragen werden soll, um ein hohes Maß an innerer Sicherheit innerhalb der Union unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte und der Wahrung der Freizügigkeit in diesem Raum zu gewähr‐ leisten.“ (VO (EU) 2016/ 1624, Art. 1). Die Agentur versteht sich als Hüter des Schengenraumes, der als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union gilt. Dieser europäi‐ sche Raum ist Grundlage eines geeinten Europas, in dem BürgerInnen und Güter den freien Grenzverkehr innerhalb der Gemeinschaft genießen (Frontex 2019b: 36). Der Exekutiv-Direktor von Frontex hob hervor, dass mit der Neugrün‐ dung der Europäischen Grenz- und Küstenwache erstmalig klar und deutlich das Grenzmanagement („management of the external borders“) eine gemein‐ same Verantwortung der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten wurde (Frontex 2017b: 2). Frontex unterstützt die Mitgliedstaaten beim Grenzschutz und bewertet die Kapazitäten und Einsatzbereitschaft der ein‐ zelnen Mitgliedstaaten im Grenzschutz. Frontex obliegt es nun auf Anruf eines Mitgliedstaates, zur Grenzsiche‐ rung auf hoher See Einsätze zu planen und durchzuführen und dabei auch Schiffe, Flugzeuge und Personal (Grenzbeamte) bereitzustellen. Dabei greift Frontex insbesondere bei der technischen Ausrüstung stark auf die von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellte Ausrüstung zurück. 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik Die europäische Grenzpolitik ist einerseits geprägt durch das Recht, das im Zuge der Schengener Kooperation als zwischenstaatliches Recht beschlos‐ sen wurde und andererseits durch die Einbindung dieses Besitzstandes in 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 66 <?page no="67"?> das Gemeinschaftsrecht (mit dem Vertrag von Amsterdam, 1999) und den Rechtsinstrumenten, die aufgrund dieses Vertrags und den folgenden Ver‐ trägen den europäischen Institutionen aufgetragen wurden. Drei Bereiche interessieren uns in diesem Kapitel besonders: Als erstes begutachten wir die Entwicklung des Schengener Grenzkodexes seit 2006 (Kapitel 3. 3. 1), der die grundsätzlichen Standards für das Übertreten von Außengrenzen, Kontrollen an Außengrenzen und die vorübergehende Wie‐ dereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen regelt. Zweitens widmen wir uns den Visatiteln, die von den Schengenstaaten auf Basis gemeinsamer Übereinkünfte erteilt werden (Kapitel 3. 3. 2), befassen uns aber auch mit besonderen Visatiteln für den Schengenraum, die von den Mitgliedstaaten nach ihrem einzelstaatlichen Recht erteilt werden. Drittens widmen wir uns der Frage, welche Möglichkeiten Asylsuchende vor diesem rechtlichen Hin‐ tergrund haben, in die Europäische Union einzureisen (Kapitel 3. 3. 3). 3.3.1 Europäische Grenzpolitik (Schengener Grenzkodex) Der Schengener Grenzkodex sollte die Abschaffung der Grenzkontrollen an Binnengrenzen und die daraus resultierende Verlagerung der Grenzkon‐ trollen an die Außengrenze kompensieren. Er ist damit gewissermaßen eine regulative Antwort auf das Schengener Abkommen von 1985 und dem Durchführungsübereinkommen von 1990. Der Schengener Grenzkodex ist eine Verordnung, die die Umsetzung des Schengenrechts gewährleisten soll (zunächst Verordnung (EG) Nr. 562/ 2006 v. 15. 3. 2006, ABl. Nr. L 105/ 1, inzwischen Verordnung (EU) 2016/ 299 v. 9. 3. 2016, ABl. Nr. L 77/ 1 v. 23. 3. 2016, letzte Änderung v. 11. 6. 2019). Als Verordnung gelten die Rechtsvorschriften unmittelbar, ohne dass sie extra in nationales Recht der Mitgliedstaaten umgewandelt werden müssen. Die aktuell gültige Verordnung stammt aus dem Jahr 2016, die jedoch inhaltlich eine Kontinuität zu der ersten Verordnung aus dem Jahr 2006 dar‐ stellt. Insgesamt wurde der Schengener Grenzkodex (VO (EG) Nr. 562/ 2006) bisher durch sieben Verordnungen geändert: Die Verordnung 296/ 2008 er‐ weiterte die bestehenden Regeln zu den Durchführungsbefugnissen der Kommission (VO (EG) Nr. 296/ 2008 v. 11. 3. 2008, ABl. Nr. L 97/ 60 v. 9. 4. 2008). Mit der Verordnung (EG) Nr. 81/ 2009 wurde die Nutzung des Visa-Informa‐ tionssystems (VIS) im Rahmen des Schengenkodexes festgelegt (VO (EG) Nr. 81/ 2009 v. 14. 1. 2009, ABl. Nr. L 35/ 56 v. 4. 2. 2009). Der Visakodex wurde 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 67 <?page no="68"?> mit der Verordnung (EG) Nr. 810/ 2009 v. 13. 7. 2009 bestimmt (ABl. Nr. L 243/ 1 v. 15. 09. 2009). Die Verordnung (EU) Nr. 265/ 2010 v. 25. 3. 2010 regelte die Bewegungs‐ freiheit von Personen mit einem Visum für einen längerfristigen Aufenthalt (ABl. Nr. L 81/ 1 v. 31. 3. 2010), während die Verordnung (EU) Nr. 610/ 2013 v. 26. 6. 2013 eine Reihe von Klarstellungen und Ergänzungen zu Visa und Ge‐ richtsbarkeit durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Sinne von Art. 290 AEUV enthielt (ABl. Nr. L 182/ 1 v. 29. 6. 2013). Die Ver‐ ordnung (EU) Nr. 1051/ 2013 v. 22. 10. 2013 änderte den Schengener Grenz‐ kodex von 2006 durch detailliertere Bestimmungen zur vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an Binnengrenzen in außerge‐ wöhnlichen Situationen sowie Evaluationsmechanismen (ABl. Nr. L 295/ 1 v. 6. 11. 2013). Schließlich wurde der Schengener Grenzkodex durch die Ver‐ ordnung (EU) Nr. 2016/ 399 v. 9. 3. 2016 geändert (ABl. Nr. L 77/ 1 v. 23. 3. 2016), wodurch auch das Recht des Visa-Informationssystems (zuvor VO (EG) Nr. 81/ 2009) in die Verordnung integriert wurde. Die grundlegenden Prinzipien gelten bis heute fort. Dazu zählt der An‐ spruch, dass keine Grenzkontrollen an Binnengrenzen durchgeführt werden (VO (EG) Nr. 562/ 2006 Art. 1, ebenso VO 2016/ 399, Art. 1). Um die dadurch gestiegene Bedeutung der Außengrenzen zu kompensieren, legte der Grenz‐ kodex Regeln für Grenzkontrollen an den Außengrenzen der Union fest (VO (EG) Nr. 562/ 2006 Art. 1, ebenso VO 2016/ 399, Art. 1). Rechtmäßig sind Grenzen nur an den dafür vorgesehenen Grenzübergangsstellen zu über‐ treten (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 4; VO (EU) 2016/ 399, Art. 5). Für Drittstaatsangehörige gilt als Einreisevoraussetzung, dass gültige Reisedokumente vorgelegt werden müssen, ein Visum - sofern dies gemäß Verordnung (EG) Nr. 539/ 2001 v. 15. 3. 2001 (ABl. Nr. L 81/ 1 v. 21. 3. 2001) er‐ forderlich ist - und der Nachweis über den Zweck eines Aufenthalts sowie die Darstellung, dass Lebenshaltungskosten in dem Zeitraum gedeckt wer‐ den können (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 5; VO (EU) 2016/ 399, Art. 6 Abs. 1 lit. b-c). Die Einreise ist nur gestattet, wenn dadurch keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, nationale Sicherheit oder Gesundheit entsteht und kein Mitgliedstaat des Schengenraums eine Einreisesperre gegen den Ein‐ reisenden verhängt hat (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 5; VO (EU) 2016/ 399, Art. 6 Abs. 1 lit. e). Der Aufenthaltszeitraum ist mit maximal 90 Tagen in einem Sechsmonatszeitraum befristet. Bei Aufenthalten darüber hinaus wird in jedem Fall ein Visum fällig. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 68 <?page no="69"?> Bei den Grenzübertrittskontrollen wird eingefordert, dass Kontrollen in einer Art und Weise durchgeführt werden, dass die Menschenwürde der Einreisenden respektiert wird, niemand wegen seines Geschlechts, Alters, seiner Rasse, Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung oder sexu‐ ellen Ausrichtung diskriminiert wird und in jedem Fall bei Kontrollen das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 6; VO (EU) 2016/ 399, Art. 7). Personen, die nicht über eine Einreiseerlaubnis verfügen, kann an der Grenze die Einreise verweigert werden (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 13; VO (EU) 2016/ 399, Art. 14). Gegen Personen, die über keine gültige Aufenthalts‐ erlaubnis verfügen, gilt es gemäß der Rückführungsrichtlinie (2008/ 115/ EG v. 16. 12. 2008, ABl. Nr. 348/ 98 v. 24. 12. 2008) eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (Art. 6). Die Staaten gewähren eine Frist von 30 Tagen, innerhalb derer eine freiwillige Rückkehr erfolgen kann (Art. 7 Abs. 1), ansonsten kann die Rückkehrentscheidung auch als Abschiebung vollstreckt werden (Art. 8). Darüber hinaus gibt es folgende gemeinsame Regeln (jeweils verglei‐ chend in VO (EG) Nr. 562/ 2006 und VO (EU) 2016/ 399): (1) Effizienz an der Außengrenze: Kommt es zu außergewöhnlichen Si‐ tuationen, bspw. zu einem überraschend hohen Verkehrsaufkommen, so können die Grenzübertrittskontrollen in diesen Ausnahmefällen gelockert werden (Art. 8/ Art. 9); durch die Einführung von getrennten Kontrollspuren für Schengen-/ EU-Bürger und Drittstaatsangehörige (Art. 9/ Art. 10). (2) Einheitliche Verfahren bei den Grenzkontrollen, bspw. grundlegend bei der Grenzüberwachung (Art. 12/ Art. 13), bei der Überprüfung der Identität von Einreisenden anhand von Dokumenten (Art. 7/ Art. 8) sowie bei prozeduralen Details, die das Abstempeln von Reisedokumenten betreffen (Art. 10/ Art. 11) oder das Formular für eine Einreiseverweigerung (Art. 13/ Art. 14). (3) Kooperation zwischen Mitgliedstaaten: Hier wird betont, dass die Mitgliedstaaten „eine enge und ständige Zusammenarbeit“ pflegen, worun‐ ter der Informationsaustausch und die operative Zusammenarbeit fallen, die durch die europäische Agentur Frontex unterstützt werden (Art. 16/ Art. 17). Die geänderte Fassung des Schengener Grenzkodexes aus dem Jahr 2013 (VO (EU) Nr. 1051/ 2013) führte eine Eingriffsmöglichkeit der Kommission ein, sobald diese anhand von Evaluierungen „schwerwiegende Mängel bei Kon‐ trollen an den Außengrenzen“ feststellt: Dann kann die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat per Durchführungsakt einen operativen Frontex- 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 69 <?page no="70"?> Einsatz empfehlen (Art. 19 a Abs. 1). Diese Regelung ist mit Art. 21 der Ver‐ ordnung aus dem Jahr 2016 fortgeführt worden. Wenn die Kommission durch Evaluierungsberichte zu der Einschätzung gelangt, dass ein „Mitgliedstaat seine Pflichten in schwerwiegender Weise vernachlässigt“, so kann die Kommission von diesem Staat einen Aktions‐ plan einfordern und ein Verfahren gemäß Art. 26 einleiten, sofern die Si‐ tuation unverändert bleibt. Art. 26 impliziert die Feststellung, dass das „Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insge‐ samt gefährdet ist“. Sobald eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit im europäischen Raum vorliegt, könnte die Kommission die Wiedereinführung von Grenzkontrollen empfehlen. An dieser Änderung ist abzulesen, dass es Defizite bei den Außengrenz‐ kontrollen unter dem Regime des Schengener Grenzkodexes von 2006 gab, so erklärt sich auch der neue Artikel 19. Diese Defizite waren dergestalt, dass die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen als notwendige und sinnvolle politische Antwort erachtet wurde. Diese politi‐ sche Entscheidung hing eng mit der Migrationsentwicklung ab 2011 zusam‐ men. Im Zuge der arabischen Revolutionen in Nordafrika kam es zu exponen‐ tiell zunehmender Migration, hauptsächlich über die zentrale Mittelmeer‐ route nach Italien und Malta. Unter dem gültigen Dublin-System konnte Italien auf keinerlei Entlastung bei der Aufnahme und Versorgung der Mi‐ granten hoffen. Es kam zu einem offen ausgetragenen Streit zwischen Italien einerseits sowie Frankreich und Deutschland andererseits, als Italien den Migranten befristete Visa für den Schengenraum ausstellen wollte, was Deutschland und Frankreich als Verletzung des Schengenrechts betrachte‐ ten. Für eine Situation, in der es zu einer erheblichen Zuwanderung von Mi‐ granten kommt, sodass von einer Ausnahmesituation gesprochen werden kann, die die faire und solidarische Aufnahme von Migranten erfordert, gibt es seit 2001 eine Richtlinie, die aktiviert werden kann (Richtlinie 2001/ 55/ EG, ABl. Nr. L 212/ 12 v. 7. 8. 2001). Doch Deutschland und Frank‐ reich sperrten sich gegen das Ansinnen des damaligen italienischen Minis‐ terpräsidenten Silvio Berlusconi, die Richtlinie zu aktivieren. Ziel dieser Richtlinie ist die Gewährung vorübergehenden Schutzes, und zwar unter Berücksichtigung einer „ausgewogenen Verteilung der Belas‐ tungen […] auf die Mitgliedstaaten“ (Richtlinie 2001/ 55/ EG v. 20. 7. 2001, ABl. Nr. L 212/ 12 v. 7. 8. 2001, Art. 1). Das Bestehen eines Massenzustroms wird 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 70 <?page no="71"?> durch den Rat festgestellt, woraufhin die Kommission einen Prozess in Gang setzt, um einerseits den Schutzbedarf zu identifizieren und andererseits auf eine faire Verteilung der Aufnahme hinzuwirken (Art. 5 Abs. 1). Doch bisher wurde die Richtlinie noch nie aktiviert, weder 2011 noch 2015. Statt der Verantwortung zur Aufnahme und Versorgung von vorüberge‐ hend Schutzsuchenden im Zuge der arabischen Revolution zu begegnen, zeichnete sich die politische Lösung dieser bereits 2011 als „Flüchtlingskrise“ bezeichneten Situation mit Änderungen im Schengener Grenzkodex ab, der die Verantwortung für die Einreise von Personen noch stärker den jeweili‐ gen Staaten mit Außengrenze zuschreibt. Die Kommission erhielt Eingriffs‐ rechte, wenn sie Mängel bei den Außengrenzkontrollen feststellt. Diese konzentrieren sich auf Strategiepläne zum Außengrenzschutz sowie unter Hinzuziehen der Agentur Frontex auf operative Grenzschutzeinsätze. Die Strategien sind damit darauf ausgerichtet, den irregulären Grenzübertritt zu unterbinden, ohne die humanitäre Dimension dieser Situation anzuerken‐ nen und ohne Maßnahmen zu ergreifen, die die Ankunft der Menschen nach lebensgefährlicher Überfahrt über das Mittelmeer bedenkt. Im ersten Schengener Grenzkodex von 2006 tauchte der Begriff „Mängel“ nicht auf, schon gar nicht im Zusammenhang mit Kontrollen an den Au‐ ßengrenzen. Die Reform der Verordnung von 2013 erhöhte durch diese Fo‐ kussierung auf „Mängel“ beim Schutz der Außengrenzen den Druck auf die Staaten mit Außengrenzen, die von irregulärer Einwanderung aus geogra‐ phischen Gründen besonders stark betroffen sind. Der Asylkomplex wurde dabei komplett ausgeklammert. Es wurde ignoriert, wie eng Grenzschutz und Asyl zusammenhängen. Stattdessen wurde die Einführung von Grenz‐ kontrollen im europäischen Raum für den Fall angedacht, dass die unregel‐ mäßigen Einreisen die Ordnung und Sicherheit im europäischen Raum ge‐ fährden. Diesen Ansatz schrieben die Autoren der Verordnung von 2016 fort. Dabei fällt vor allem auf, dass die Bestimmungen und Bedingungen unter denen Grenzkontrollen an den Binnengrenzen wieder eingeführt werden, noch detaillierter wurden (Art. 25-35). Beispielsweise benennt Artikel 26 besondere „Verfahren im Falle außergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen ins‐ gesamt gefährdet ist“ (VO (EU) 2016/ 399, Art. 26 neu). Der Fokus bleibt auf den Schutz des Raumes gerichtet, in dem Freizügig‐ keit gewährleistet werden soll. Störungen dieser Freiheit durch ungewollte Prozesse an der Außengrenze werden als Gefährdungen der nationalen Si‐ cherheit und öffentlichen Ordnung kriminalisiert. Gleichzeitig ist klar, dass 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 71 <?page no="72"?> der Außengrenzschutz immer unvollständig bleiben wird, vor allem im Mit‐ telmeerraum (Hilz 2018: 86). Ein gemeinsamer Raum ohne Binnengrenzen bedeutet indes nicht, dass es überhaupt keine Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaa‐ ten geben darf. Dies hatte der Gerichtshof der Europäischen Union im Jahr 1999 im Fall Wijsenbeek bestätigt. Raum ohne Binnengrenzen dennoch mit Grenzkontrollen: der Fall Wijsenbeek Zum Sachverhalt: Der niederländische Abgeordnete des Europäischen Parlaments Florus Ariël Wijsenbeek weigerte sich Ende 1993 bei einer Grenzkontrolle seinen Pass zu zeigen. Er verwies dabei auf die in den europäischen Verträgen verankerte Unionsbürgerschaft und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, denen er unmittelbare Wir‐ kung zuschrieb und daraus die Unangemessenheit von Passkontrollen ableitete. Daraufhin wurde ein Ordnungsgeld gegen Herrn Wijsenbeek angewiesen, das er nicht zahlte. Aus diesem Grund wurde ein Strafver‐ fahren eingeleitet, das schließlich als Vorabentscheidungsverfahren 1997 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union behandelt wurde. Zur dadurch angestoßenen Diskussion: Laut Einheitlicher Euro‐ päischer Akte von 1986 sollten die Kontrollen an den Binnengrenzen bereits bis Ende 1992 abgeschafft sein. Es wurde zudem moniert, dass das Recht zur Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen weitgehend als zwischenstaatliches Recht ausgehandelt wurde, statt innerhalb der Gemeinschaftsverträge verhandelt zu werden. Hier war‐ fen Abgeordnete des Europäischen Parlaments der Europäischen Kommission Untätigkeit vor und verklagten sie dafür, dass sie nicht längst Vorschläge zur Regulierung flankierender Maßnahmen vorge‐ legt hatte, die es braucht, um die Kontrollfreiheit an den Binnengren‐ zen zu erreichen (C-445/ 93, ABl. Nr. C 1/ 12 v. 4. 1. 1994). John Morijn deutete das Verfahren als bewussten Aktivismus, um einen seit Jahren stagnierenden politischen Prozess durch eine rechtliche Überprüfung zu beschleunigen (Morijn 2017: 179-183). Zur Entscheidung: Der Generalanwalt Georges Costa befand in sei‐ nen Schlussanträgen 1999, dass die Identifikation an der Grenze durch ein Dokument einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Per‐ sonenfreizügigkeit darstelle: Zwar enthalte das Gemeinschaftsrecht ein Recht „sich frei zu bewegen“, doch bedeute es nicht „die automa‐ 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 72 <?page no="73"?> tische, vollständige und allgemeine Beseitigung systematischer Grenz‐ kontrollen beim Überschreiten der Binnengrenzen der Gemeinschaft durch den Angehörigen eines Mitgliedstaats“ (Schlussanträge des Ge‐ neralanwalts Georges Cosmas v. 16. 3. 1999 in der Rechtssache C-378/ 97). Der Gerichtshof folgte dem Generalanwalt und wies die Klage ab. Die Mitgliedstaaten dürfen Identitätsdokumente verlangen und strafrechtlich gegen eine Verweigerung der Vorlage eines ent‐ sprechenden Dokumentes wie im Fall Wijsenbeek vorgehen. Damit er‐ klärte der Gerichtshof verhältnismäßige Kontrollen an den Binnen‐ grenzen für vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht. Obwohl Wijsenbeek vor dem EuGH scheiterte, gilt der Fall als bedeutsam für die substanzielle Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft und des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Quelle: EuGH: Wijsenbeek, C-378/ 97, Urteil des Gerichtshofs vom 21. 9. 1999, ECLI: EU: C: 1999: 439. Parallel zum Verfahren Wijsenbeek, das von 1993 bis 1999 auf mehreren In‐ stanzebenen verhandelt worden war, wurde die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen spürbar und rasant vorangetrieben. 1995 vollzogen die ersten Schengenstaaten die vollständige Abschaffung der Kontrollen an ihren jeweiligen Binnengrenzen, weitere Staaten folgten. Inzwischen bildeten Kontrollen an den Binnengrenzen die Ausnahme. Der Schengener Grenzkodex sah die grundsätzliche Kontrolle an Binnengrenzen nicht vor, ermöglichte aber die vorübergehende Einführung von Grenzkon‐ trollen, solange sie auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet waren, bspw. allgemein zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 21) sowie bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentli‐ chen Ordnung oder inneren Sicherheit“ (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 23). Beide Bedrohungsszenarien ermöglichten einen Spielraum zur Interpre‐ tation. In der aktuell gültigen Verordnung wird die Bekämpfung grenzüber‐ schreitender Kriminalität nicht mehr als möglicher Grund für die Wieder‐ einführung von Grenzkontrollen genannt. Nur wenn „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft be‐ droht“ ist, kann die Wiedereinführung von Grenzkontrollen geltend ge‐ macht werden (VO 2016/ 399, Art. 25 Abs. 1). Nach Abschluss der Grenz‐ kontrollen sind die Staaten verpflichtet, über die Wirkung und Effizienz der Kontrollen zu berichten (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 33; ebenso VO (EU) 2016/ 399, Art. 33). 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 73 <?page no="74"?> Eine praktische Hürde bei der Einführung von Grenzkontrollen liegt je‐ doch darin, dass Grenzkontrollen nur für 30 Tage zulässig sind. Ähnlich wie schon im ersten Schengener Grenzkodex von 2006 müssen die Mitglied‐ staaten bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission die Gründe für die geplante Wiederein‐ führung von Grenzkontrollen mitteilen. Dazu ist anzugeben, welche Ereig‐ nisse oder Gründe eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit darstellen, an welchem Grenzabschnitt und für welche Dauer Grenzkontrollen wieder durchgeführt werden sollen (VO (EG) Nr. 562/ 2006, Art. 24 Abs. 1; VO (EU) 2016/ 399, Art. 27 Abs. 1 lit. a, b und d). Eine unilaterale Einführung von Grenzkontrollen ist nicht ohne Rückkopplung nach Brüssel möglich. So soll die Integrität des Schengen-Systems gesichert werden. Seit 2013 sind die Möglichkeiten zur Wiedereinführung von Grenzkon‐ trollen ausgedehnt worden. Nun können Grenzen bis zu zwei Jahre kon‐ trolliert werden, obwohl die Wiedereinführung von Grenzkontrollen wei‐ terhin grundsätzlich auf 30 Tage begrenzt ist. Doch dieser Zeitraum kann bis auf sechs Monate und unter „außergewöhnlichen Umständen“ bis zu einer Gesamtdauer von zwei Jahren ausgedehnt werden (VO (EU) 2016/ 399, Art. 25 Abs. 4). Grund für die Anpassung der Zeiträume waren einerseits zunehmende unregelmäßige Grenzübertritte in Folge politischer Unruhen in Nordafrika seit 2011 und andererseits dadurch bedingte Differenzen zwischen den Mit‐ gliedstaaten, vor allem zwischen Italien, Frankreich und Deutschland. Der Schengener Grenzkodex enthält zudem Regeln zur Einreiseverwei‐ gerung (Art. 14), wenn Einreisende nicht die Voraussetzungen erfüllen; An‐ sätze zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Art. 17), wozu sachdienli‐ cher Informationsaustausch, aber auch operative Zusammenarbeit im Grenzschutz zählen, die ausdrücklich auch durch die Agentur (Anm: Frontex) ergänzt werden können. Zu möglichen Einsätzen der Agentur nennt Art. 21 Einzelheiten, so kann die Kommission einem Mitgliedstaat auf Grundlage eines Evaluierungsberichts per Durchführungsrechtsakt emp‐ fehlen, Maßnahmen zu ergreifen. Dazu kann auch die Anforderung eines Einsatzes von europäischen Grenzschutzteams (Frontex) zählen. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 74 <?page no="75"?> 3.3.2 Europäische und nationale Visatitel Die regulären Einreisen bzw. kontrollierten Einreisen an Grenzübertritt‐ spunkten machen die hauptsächliche Aktivität an der Grenze aus, wenn auch den anteilmäßig geringer ausfallenden irregulären Einreisen größere politische Aufmerksamkeit gilt. Durch Papiere wie einen gültigen Reisepass und ein gültiges Visum wird die Einreise in den Schengen-/ EU-Raum möglich. Ein Visum muss beantragt werden und impliziert die Erlaubnis zur Einreise, Durchreise oder zum Auf‐ enthalt eines Drittstaatsangehörigen. Oft wird ein Visum in einen Reisepass eingetragen, vor allem wenn es sich um ein längerfristiges Visum handelt. Das ursprüngliche Ziel eines Visums ist die allgemeine Steuerung und Kontrolle von Mobilität bzw. Einreisen. Das Instrument wird zudem immer häufiger genutzt, um unerwünschte Migration zu verhindern oder zumin‐ dest zu reduzieren (Zaiotti 2017: 104). In diesem Kapitel soll auf die Grundprinzipien der Einreise und Visabe‐ stimmungen des Schengenraumes eingegangen werden. Schengenraum und EU-Raum sind aus historischen und politischen Gründen nicht identisch. Rechtsinstrumente für den Schengenraum werden unter dem Dach der eu‐ ropäischen Verträge ausgearbeitet (Art. 77-80 AEUV). Es handelt sich um ein europäisches Politikfeld, dessen Anwendungsraum dann jedoch vom EU-Raum abweicht. Drittstaatsangehörige, die nicht über die Staatsangehörigkeit eines Schengen- oder EU-Staates verfügen, müssen ein Visum zur Einreise bean‐ tragen. Auf europäischer Ebene gibt es ein einheitliches Visum mit 90-tägi‐ ger Aufenthaltsdauer (etwa drei Monate). Dieses Visum gilt dann im ge‐ samten Schengenraum. Für längere Aufenthalte muss ein Visum bei demjenigen Staat beantragt werden, in dem das Hauptreiseziel liegt. Dafür gelten jeweils nationale, landesspezifische Regelungen. Der Beginn der Zusammenarbeit bei der Erteilung von Visa-Titeln ist auf die 1980er Jahre zurückzuführen. Informell begannen einzelne Mitglied‐ staaten in der Trevi-Gruppe vor dem Hintergrund des Schengener Abkom‐ mens über gemeinsame Regeln der Einreise zu sprechen (Meloni 2016: 122, Rn 2). Ein allgemeiner Rahmen für europäische Visatitel wurde im Schen‐ gener Durchführungsübereinkommen 1990 festgelegt. Darin wurden Regeln für die Erteilung eines einheitlichen Visums festgehalten, das für einen kurzfristigen Aufenthalt (in der Regel: 90 Tage) in allen (Schengen-)Mit‐ gliedstaaten gültig sein sollte. Das Schengener Exekutiv-Komitee hatte nicht 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 75 <?page no="76"?> nur zu den Binnengrenzkontrollen, sondern auch zu den Visaregeln Ent‐ scheidungen getroffen, darunter auch konsularische Anweisungen, die als Vorläufer des Visakodexes gelten (Meloni 2006: 43-84). Bereits mit dem Vertrag von Maastricht sind 1993 bestimmte Aspekte der Visapolitik vergemeinschaftet worden (Art. 100 a EGV-Maastricht). So er‐ hielt die Europäische Union die Kompetenz, Regeln für die Ausstellung eines Visums festzulegen und Listen über Herkunftsländer zu erstellen, deren Staatsangehörige ein Visum benötigen, um in den Schengenraum einreisen zu können. In dieser Phase war die Visapolitik ebenso wie alle die Justiz- und Innenpolitik betreffenden Bereiche in der sogenannten dritten Säule angesiedelt, die intergouvernementale Entscheidungsmechanismen vorsah. Unter diesem Entscheidungsmodus ist jedoch zunächst kaum politischer Fortschritt in der Visapolitik erzielt worden (Meloni 2016: 122, Rn 2). Einzig die Gemeinsame Maßnahme 96/ 197/ JI vom 4. 3. 1996 ist dabei zu nennen (ABl. Nr. L 63/ 8 v. 13. 3. 1996). Inhalt dieser Gemeinsamen Maßnahme war die Erstellung einer Liste von Staaten, deren Staatsangehörige Flughafent‐ ransitvisa benötigten. Transitvisa und Einreise bedingen einander indirekt. Dies machte die Eu‐ ropäische Kommission geltend, indem sie ein Verfahren gegen den Rat der EU anstrengte, der die Maßnahme für Transitvisa auf Grundlage von Artikel K.1 (Nummer 3 lit. a und c) verabschiedet hatte. Die rechtliche Grundlage bezog sich auf ein gemeinsames Interesse zur „Bekämpfung der illegalen Einwanderung von Staatsangehörigen dritter Länder“. Der Flughafentransit stellte hingegen ein politisches Problem dar, weil er aufgrund einer restrik‐ tiven Einreise- und Einwanderungspolitik zur irregulären Einreise genutzt wurde. Dem sollte durch ein Flughafentransitvisum vorgebeugt werden. Vor dem EuGH musste dann die Frage geklärt werden, ob Regelungen zum Flughafentransit nicht auch die Einreise in den Gemeinschaftsraum betreffen und damit die Einbeziehung von Kommission und Parlament er‐ fordern (EuGH, Kommission v. Rat, C-170/ 96, Urteil vom 12. 5. 1998, EU: C: 1998: 219, Rn 30-33). Die Kommission klagte gegen die Rechtsgrund‐ lage, die der Rat gewählt hatte (Art. K. 1 Nr. 3 lit. a und c) und machte statt‐ dessen Art. 100 c geltend, wonach die Einbeziehung von Europäischer Kom‐ mission und Europäischem Parlament in den Rechtsetzungsprozess erforderlich sei. Inhaltlich bestand der Unterschied in der zu klärenden Frage darin, ob es sich bei dem Rechtsinstrument um eine Maßnahme handelte, die mit der Einreise in den Gemeinschaftsraum zusammenhängt, oder das 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 76 <?page no="77"?> Übertreten der Außengrenzen davon unberührt bleibt (EuGH, C-170/ 96, Rn 19-22, 32). Der Gerichtshof wies die Klage mit der Begründung ab, dass „ein Visum für den Transit auf Flughäfen seinem Inhaber nicht [erlaube] die Außen‐ grenzen der Mitgliedstaaten im Sinne von Artikel 100 c EG-Vertrag zu über‐ schreiten“, weshalb der Rechtsakt auch nicht unter die Bestimmung falle und folglich das Vorgehen des Rates legitimiert sei (EuGH, C-170/ 96, Rn 32) Diese Klage ist ein Beispiel dafür, dass die supranationalen Institutionen Europäische Kommission und Europäisches Parlament sehr genau darauf schauen, dass ihre vertraglich gesicherten Mitbestimmungsrechte berück‐ sichtigt werden, was - wie in diesem Fall - zur Auslegungsfrage führt, ob ein bestimmter Rechtsakt in ein Politikfeld fällt, das die Mitbestimmungs‐ rechte der supranationalen Organe berührt. Die rechtliche Grundlage für die Einbeziehung von Kommission und Par‐ lament in Einreisefragen wurde dann im Vertrag von Amsterdam (1999) präzisiert. Für die Visapolitik gab es fortan vier verschiedene rechtliche Grundlagen bzw. Maßnahmen-Pakete, die es zu erarbeiten galt. Art. 62 des Vertrags von Amsterdam enthielt in Nr. 2 lit. b den konkreten Auftrag, Vor‐ schriften über Visa zu erlassen, die für Aufenthalte von maximal drei Mo‐ naten gültig sind. Zu diesen Maßnahmen werden (a) Listen für Drittstaats‐ angehörige gezählt, die ein Visum benötigen oder davon befreit werden; (b) Vorschriften über die Verfahren und Voraussetzungen zur Visumertei‐ lung, (c) Vorschriften zur Visumgestaltung sowie (d) Vorschriften für ein einheitliches Visum. Auch die institutionellen Vorgaben für die Ausarbeitung dieser Rechts‐ akte wurden in Art. 67 EGV-Amsterdam klar benannt: In den ersten fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags handelte der Rat der EU einstimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission und nach Anhörung des Eu‐ ropäischen Parlaments. In diesem Szenario blieb der Rat der EU primärer Gesetzgeber. Dies änderte sich jedoch nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren. Dann wurde gemäß Art. 67 für die meisten Maßnahmen standard‐ mäßig das Verfahren nach Art. 251 angewandt, das das Mitbestimmungs‐ recht des Europäischen Parlaments vorsah. Der Rat der EU handelte auf Vorschlag der Europäischen Kommission, legte dem Europäischen Parla‐ ment seine Position vor, das seinerseits Änderungsvorschläge einbringen konnte. Eine Verabschiedung des Rechtsaktes war nur möglich, wenn alle drei Institutionen dem Rechtsakt zustimmten. Im Zweifelsfall geschah dies 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 77 <?page no="78"?> unter Einberufung eines Vermittlungsausschusses oder der Rechtsakt schei‐ terte (vgl. Art. 251 Abs. 3 und 4 EGV-Amsterdam). Es gab jedoch einige Ausnahmen von diesem Vorgehen: Weiterhin ent‐ schied der Rat der EU bei Maßnahmen zur einheitlichen Visumgestaltung auch nach der Übergangsfrist einstimmig statt mit qualifizierter Mehrheit und unter Anhörung des Parlaments (Art. 67 Abs. 3 iVm Art. 62 Nr. 2 lit. b Ziffer iii). Diese Vertragsregelungen verdeutlichen zweierlei: Justiz und Inneres ist ein vielfältig gespaltenes Politikfeld. Entscheidungsmodi und beteiligte In‐ stitutionen variieren je nach betroffener Materie, sogar innerhalb von Ma‐ terien - wie hier im Fall Visa. So kommt es zu einem hochgradig fragmen‐ tierten Rechtssystem. Sofort mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam änderte sich der Entscheidungsmodus für einen Teilbereich der Visapolitik. Der Rat handelte unverzüglich mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und unter Anhörung des Europäischen Parlaments, wenn Verfahren zur Visu‐ merteilung geändert oder wenn Listen über Drittstaatsangehörige erstellt wurden, die ein Visum benötigen bzw. davon befreit sind (vgl. Art. 67 Abs. 2 iVm Art. 62 Nr. 2 lit. b Ziffern i und ii). Das bedeutet, dass der 1996 im Ver‐ fahren C-170/ 96 noch zwischen Rat der EU und Europäischer Kommission umstrittene Kompetenzbereich seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam zur gemeinschaftlichen Rechtsetzung zählt. Noch weiter ging die Vergemeinschaftung nach Ablauf der Übergangsfrist von fünf Jahren für Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung durch Mitgliedstaaten sowie Vorschriften für ein einheitliches Visum (Art. 62 Nr. 2 lit. b, ii und iv), für die nun das Verfahren gemäß Art. 251 EGV gilt. Demzufolge wird das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber: Das Parlament kann Änderungsvorschläge einbringen und Änderungen des Rates der EU ablehnen. Der Visakodex von 2009 (VO (EG) Nr. 810/ 2009) wurde auf Grundlage von Art. 62 Nr. 2 lit. a und lit. b Ziffer ii verabschiedet und regelte Standards und Verfahren für Visakontrollen beim Übertreten der Außengrenze. Zuvor gab es unterschiedliche Regulierungen, teilweise auch unklarer rechtlicher Na‐ tur (bspw. Entscheidungen des Schengener Exekutiv-Komitees oder die Ge‐ meinsame Konsularische Instruktion), die nun durch den Visakodex verein‐ heitlicht wurden (Meloni 2016: 123, Rn 3). Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die Kompetenzen weiter verein‐ facht und vervollständigt (dazu: Thym 2016: 37, Rn 9). Das Mandat für Re‐ 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 78 <?page no="79"?> gelungen bezüglich Visabeantragung und Verfahren ist in Art. 77 Abs. 2 lit. a AEUV enthalten, wonach das Europäische Parlament und der Rat der EU gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen, „die gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und andere kurzfristige Aufent‐ haltstitel“. Auch wenn manches durch die Regulierung vereinfacht wurde, so blieb Visapolitik ein komplexes Thema, insbesondere aufgrund der Überschnei‐ dungen mit anderen Feldern wie Grenzmanagement, Grenzschutz und Asyl. Zumindest jedoch haben sich die Mitgliedstaaten auf gemeinsame Listen geeinigt. Unterschieden wird zwischen Staaten, deren Staatsangehörige bei der Einreise in den Schengenraum ein Visum benötigen und solchen, die davon befreit sind. Eine erste Liste ist 2001 entstanden: Drittstaatsangehörige, die ein Visum zur Einreise in den Schengenraum benöti‐ gen oder davon befreit sind Visumpflicht Visumfreiheit Afghanistan, Ägypten, Albanien, Algerien, Angola, Antigua und Barbuda, Äquatorialguinea, Armenien, Aserbaidschan, Äthiopien, Bahamas, Bahrain, Ban‐ gladesch, Barbados, Belarus, Belize, Benin, Bhutan, Birma/ Myanmar, Bosnien-Herzegowina, Botsuana, Serbien-Montenegro, Burkina Faso, Burundi, China, Côte d’Ivoire, Kongo, Dominica, Dominikanische Re‐ publik, Dschibuti, Mazedonien, Eritrea, Fidschi, Ga‐ bun, Gambia, Georgien, Ghana, Grenada, Guinea, Guinea-Bissau, Guyana, Haiti, Indien, Indonesien, Irak, Iran, Jamaika, Jemen, Jordanien, Kambodscha, Kamerun, Kap Verde, Kasachstan, Katar, Kirgistan, Kiribati, Kolumbien, Komoren, Kongo, Kuba, Kuwait, Laos, Lesotho, Libanon, Liberia, Libyen, Madagaskar, Malawi, Malediven, Mali, Marokko, Marshallinseln, Mauretanien, Mauritius, Mikronesien, Moldau, Mon‐ golei, Mosambik, Namibia, Nauru, Nepal, Nigeria, Nordkorea, Nördliche Marianen, Oman, Pakistan, Pa‐ lau, Papua-Neuguinea, Peru, Philippinen, Ruanda, Russland, Salomonen, Sambia, Sao Tomé und Prin‐ cipe, Saudi-Arabien, Senegal, Seychellen, Sierra Leone, Simbabwe, Sri Lanka, St. Christoph und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Südafrika, Sudan, Suriname, Swasiland, Syrien, Tadschikistan, Tansania, Thailand, Togo, Trinidad und Tobago, Tschad, Tunesien, Türkei, Turkmenistan, Tuvalu, Uganda, Ukraine, Usbekistan, Vanuatu, Vereinigte Andorra, Argentinien, Australien, Bolivien, Bra‐ silien, Brunei, Bulgarien, Chile, Costa Rica, Ecua‐ dor, El Salvador, Estland, Guatemala, Honduras, Is‐ rael, Japan, Kanada, Kroa‐ tien, Lettland, Litauen, Malaysia, Malta, Mexiko, Monaco, Neuseeland, Ni‐ caragua, Panama, Para‐ guay, Polen, Rumänien, San Marino, Schweiz, Sin‐ gapur, Slowakei, Slowe‐ nien, Südkorea, Tschechi‐ sche Republik, Ungarn, Uruguay, Vatikanstadt, Venezuela, Vereinigte Staaten, Zypern 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 79 <?page no="80"?> Drittstaatsangehörige, die ein Visum zur Einreise in den Schengenraum benöti‐ gen oder davon befreit sind Visumpflicht Visumfreiheit Arabische Emirate, Vietnam, Westsamoa, Zentral‐ afrikanische Republik Quelle: Verordnung (EG) Nr. 539/ 2001, ABl. Nr. 81/ 1 v. 21.3.2001, Anhang I und II. Die Liste wurde inzwischen aktualisiert und per Verordnung (EU) Nr. 2018/ 1806 v. 14. 11. 2018 verabschiedet (ABl. Nr. L 303/ 39 v. 28. 11. 2018). Grundsätzlich erscheinen nun die 2004 und 2007 der Europäischen Union beigetretenen Staaten nicht mehr in der Liste der Staaten, die von einem Visum befreit sind (Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Rumänien, Zypern). Folgende Veränderungen ergeben sich: Drittstaatsangehörige, die ein Visum zur Einreise in den Schengenraum benöti‐ gen oder davon befreit sind Visumpflicht Visumfreiheit Abkommen in Aussicht für Befrei‐ ung von Visumpflicht Ecuador Mazedonien, Antigua und Bar‐ buda, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Barbados, Baha‐ mas, Georgien, St. Kitts und Ne‐ vis, Moldau, Montenegro, Mau‐ ritius, Samoa, Serbien, Salomonen, Seychellen, Trini‐ dad und Tobago, Ukraine Vereinigte Arabische Emirate, Dominica, Mikronesien, Gre‐ nada, Kiribati, St. Lucia, Mar‐ schallinseln, Nauru, Peru, Pa‐ lau, Timor-Leste, Tuvalu, St. Vincent und die Grenadinen, Vanuatu, Quelle: Verordnung (EU) Nr. 2018/ 1806, Anhang I und II. Die Verhandlungen mit Drittstaaten über Visumbefreiung für den Schen‐ genraum ist seit dem Vertrag von Lissabon eine ausschließliche Kompetenz der Europäischen Union (auf Grundlage von Art. 77 und 79 AEUV). Als Visakodex wird eine Verordnung von 2009 bezeichnet, die „Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in die‐ sem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum festlegt“ (Verordnung (EU) Nr. 810/ 2009 v. 13. 7. 2009, ABl. Nr. L 243/ 1 v. 15. 9. 2009, 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 80 <?page no="81"?> Art. 1). Substanzielle Ergänzungen erfuhr der Visakodex von 2009 in den Jahren 2012, 2013 und 2016. Im Jahr 2012 wurden Bestimmungen zu Flug‐ hafentransitvisa ergänzt (VO (EU) Nr. 154/ 2012 v. 15. 2. 2012, ABl. Nr. L 58/ 3 v. 29. 2. 2012). Ein Jahr später folgten Vorgaben zur Aufenthaltsdauer im Rahmen eines Kurzzeitvisums (VO (EU) Nr. 610/ 2013 v. 26. 6. 2013, ABl. Nr. L 182/ 1 v. 29. 6. 2013). Im Jahr 2014 legte die Kommission einen Vorschlag für eine umfassende Reform des bislang gültigen Visakodexes vor, darunter 1) Erleichterungen für VIS-registrierte regelmäßig Reisende und 2) ein Rundreise-Visum, das einen Aufenthalt von bis zu einem Jahr im Schengenraum ermöglichen soll, wobei in keinem Mitgliedstaat der Aufenthalt länger als 90 Tage andauern darf (KOM (2014) 163 final v. 1. 4. 2014). Der Vorschlag wude jedoch 2018 zurückgezogen (ABl., Nr. C 233/ 6 v. 4. 7. 2018). Kritisiert wurde an dem Vorschlag, dass kein Passus über humanitäre Visa eingefügt wurde; eine politische Forderung, die den legalen Zugang zum Asylsystem ermöglichen soll und im Zuge des Syrien-Konfliktes als Antwort auf irreguläre Einreisen zur Asylschutzsuche erneut virulent geworden ist (European Union Agency for Fundamental Rights 2014: 69-71). Auch die Visapolitik gilt als Kontrollinstrument des wirksamen Grenz‐ schutzes (Epiney und Egbuna-Joss 2016: 58, Rn 4). Ein Antrag für ein Visum ist vor der geplanten Einreise in den Schengenraum zu stellen, was die Kon‐ trolle vorverlagert und dem angefragten Staat auch die Möglichkeit gibt, eine Einreise nicht zu gestatten. Eine ähnliche Vorverlagerung ist im Komplex der Sanktionen gegen Be‐ förderungsunternehmen erkennbar: Flugbetreiber werden zur Verantwor‐ tung gezogen, wenn sie Reisende in den Schengenraum befördern, die nicht über die nötigen Papiere verfügen (Richtlinie 2004/ 82/ EG v. 29. 4. 2004, ABl. Nr. L 261/ 24 v. 6. 8. 2004). Dass es sich um ein Instrument zur Grenzkontrolle handelt, brachte Art. 1 der Richtlinie zum Ausdruck. Dort heißt es: „Zweck dieser Richtlinie ist es, die Grenzkontrollen zu verbessern und die illegale Einwanderung zu bekämpfen, indem die Beförderungsunternehmen Anga‐ ben über die beförderten Personen vorab an die zuständigen nationalen Be‐ hörden übermitteln.“ Eine weitere Richtlinie aus dem Jahr 2001 nahm die Beförderungsunter‐ nehmen in die Pflicht: Gemäß der Richtlinie 2001/ 51/ EG v. 28. 6. 2001 (ABl. Nr. L 187/ 45 v. 10. 7. 2001) wurden Beförderungsunternehmen zur Rückbe‐ förderung verpflichtet, wenn einem Drittstaatsangehörigen die Einreise verweigert wurde (Art. 2). Die Beförderungsunternehmen müssen dann 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 81 <?page no="82"?> selbst unverzüglich für die Rückbeförderung sorgen oder eine alternative Rückbeförderung schaffen und die Kosten dafür tragen (Art. 3). Andernfalls drohen finanzielle Sanktionen (bis zu 5.000 Euro) je beförderter Person ohne entsprechende Papiere (Art. 4 Abs. 1 lit. a). So wurden private Unternehmen wie Flugbetreiber aktiv an der Grenzkontrolle beteiligt (mehr dazu in Mo‐ reno-Lax 2012). Die Regulierung von Aufenthalten für eine Dauer über 90 Tage hinaus verblieb in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Hier gibt es lediglich eine Richtlinie (2003/ 109/ EG v. 25. 11. 2003, ABl. Nr. L 16/ 44 v. 23. 1. 2004), die den Status von Drittstaatsangehörigen im Schengenraum regelt, die über eine langfristige Aufenthaltsberechtigung in einem Mitgliedstaat verfügen. Meistens steht ein Visum im Zusammenhang mit persönlichen, familiä‐ ren, beruflichen Zielsetzungen eines Antragstellers im Zielstaat. Seit einigen Jahren erteilen eine Handvoll Schengenstaaten zudem ein langfristiges Vi‐ sum, wenn Antragsteller eine nennenswerte Investition im Zielstaat tätigen. Diese Praxis wird kritisch als goldenes Visum bezeichnet, wenn damit ein befristeter Aufenthaltstitel einhergeht bzw. als goldener Pass, wenn die Staatsbürgerschaft erteilt wird und der Begünstigte damit ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in einem spezifischen Mitgliedstaat und damit im gesam‐ ten Schengenraum genießt. Solche „Staatsbürgerschaftsregelungen für In‐ vestoren“ werden von der Europäischen Kommission kritisch beobachtet (COM(2019) endg. v. 23. 1. 2019). Bulgarien, Zypern und Malta praktizieren die weitreichendsten Regelun‐ gen zur Verleihung der Staatsangehörigkeit, die weniger streng sind als die herkömmlichen Einbürgerungsregelungen (Wohnsitzbedingung, sprachli‐ che, kulturelle und/ oder gesellschaftliche Verbindungen mit dem Land), sondern alleine gegen eine Investition im Land (Mindest-Investitionswert in Malta: 850.000 Euro, Bulgarien: 1 Mio. Euro, Zypern: 2 Mio. Euro, siehe COM(2019) 12: 3). Eine solche unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung be‐ deutet automatisch Rechte in anderen EU-Staaten, darunter grundsätzlich das Freizügigkeitsrecht, Zugang zum Binnenmarkt, zur Ausübung wirt‐ schaftlicher Tätigkeiten, aber auch zur Ausübung des passiven und aktiven Wahlrechts. In 20 Mitgliedstaaten werden Aufenthaltsregelungen für Investoren an‐ gewendet, die eine zwar langfristige, aber dennoch befristete Aufenthalts‐ genehmigung ermöglichen (Bulgarien, Tschechische Republik, Estland, Ir‐ land, Griechenland, Spanien, Frankreich, Kroatien, Italien, Zypern, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien und 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 82 <?page no="83"?> Slowakei). In diesen Staaten werden langfristige Aufenthaltsgenehmigun‐ gen (1 bis 5 Jahre) gegen Investitionszahlungen (ab 13.500 Euro in Kroatien, bis 5 Mio. Euro in der Slowakei und Luxemburg) erteilt, oftmals ohne An‐ forderungen an den Wohnsitz und ohne hinreichende Kontrollen zu mögli‐ cher Steuerhinterziehung, Geldwäsche oder Ähnlichem (COM(2019) 12: 7, Fußnoten 41-42). Die Europäische Kommission macht selbst keine Angaben dazu, wer diese Investoren-Visa hauptsächlich nutzt. Aus journalistischen Recherchen geht indes hervor, dass zwei Drittel der Antragsteller Chinesen sind, gefolgt von Russen, Arabern und Indern. Insbesondere aus Sicherheitsgründen warnt die Europäische Kommission vor dieser Praxis, kann aber nur begrenzt da‐ gegen vorgehen, denn das Erteilen von langfristigen Aufenthaltstiteln ebenso wie die Verleihung der Staatsangehörigkeit fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Praxis zur Erteilung von Aufenthaltstiteln als Gegenleistung für In‐ vestitionen steht in offensichtlichem Widerspruch zu den überaus restrik‐ tiven Regeln der Einbürgerung, bei denen regelmäßig Integration von Neu‐ bürgern durch sprachliche und kulturelle Partizipation eingefordert wird. 3.3.3 Grenzschutz und Asyl: Einreise ohne Dokumente Die Verordnungen strukturieren vornehmlich die Abläufe an den Außen‐ grenzen, wie sie regulär ablaufen sollen. So ziemlich alles, was in der Mi‐ grationskrise von 2015 geschehen ist, passt jedoch nicht in diese regulären Abläufe. Das hängt wiederum damit zusammen, dass es keine Möglichkeit gibt, eine Einreiseerlaubnis mit dem Ziel zu erhalten, Asyl zu beantragen. Die Asylsuchenden haben also keine Reisedokumente, die ihre Einreise le‐ gitimieren. Und sie wählen meistens auch nicht die offiziellen Grenzübert‐ rittspunkte, weil sie fürchten an der Grenze abgewiesen zu werden. Statt‐ dessen reisen sie an Grenzübertrittspunkten ein, die so gut wie möglich von ihren Zureisepunkten außerhalb der EU zu erreichen sind. Das waren bisher von Nordafrika und der Türkei kommend hauptsächlich die griechischen, italienischen, maltesischen und spanischen Inseln. Zwischenfälle an Außengrenzen verdeutlichen, dass die Einhaltung des Einreiserechts eine hohe Priorität hat, die auch vor Menschenleben nicht Halt macht. Beispielhaft sei die jahrzehntelange Duldung der Situation im Mittelmeer genannt, die im Zeitraum von 2000 bis 2014 mindestens 23.000 Menschen das Leben kostete (International Organization for Migration 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 83 <?page no="84"?> 2017), bis Italien (Operation Mare Nostrum) und schließlich auch die Euro‐ päische Union (Frontex Operation Triton) Gegenmaßnahmen zur Rettung irregulärer Migranten unternahmen (European Union Agency for Funda‐ mental Rights 2015: 86). Die als fortschrittlich geltenden politischen Systeme der Europäischen Union übten damit eine Grenzpolitik aus, die zu funda‐ mentalen Menschenrechtsverletzungen führte und das Nichtzurückwei‐ sungsprinzip unterwanderte (Benhabib 2004: 2). Das Bekenntnis zum Nichtzurückweisungsprinzip der Genfer Flücht‐ lingskonvention im Schengener Grenzkodex und in der Verordnung zu See‐ grenzen verpflichtet Grenzschützer nach Einschätzung von Daniel Thym jedoch nicht per se den Zugang zum EU-Gebiet zu ermöglichen (Thym 2016: 51, Rn 41). Der im Migrationsrecht spezialisierte Europarechtler Thym hält die Verpflichtung auf das Nichtzurückweisungsprinzip primär für eine proklamatorische Bestätigung der bereits existierenden Menschenrechte, nicht für ein positives Recht an sich. Die Regeln zum Grenzschutz gelten jedoch vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Grundprinzipien wie dem Nichtzurückweisungsprinzip. Dass viele Asylsuchende mit substanziellem Schutzbedarf unter den ir‐ regulär Einreisenden an den Außengrenzen der EU sind, belegen die Daten, die Frontex seit 2008 zur Herkunft und Motivation der irregulär Einreisen‐ den sammelt. Es sind Afghanen, die vor andauernden Turbulenzen zwischen der afghanischen Regierung und Taliban-Rebellen und ebenso vor Diskri‐ minierung im Iran fliehen. Es sind Tunesier, Libyer, Algerier und Ägypter, die vor politischer Instabilität und Gewalt nicht nur während der Arabischen Revolutionen flohen. Schließlich sind es Syrer, die vor dem seit 2011 anhal‐ tenden Bürgerkrieg aus ihrer Heimat fliehen (Frontex 2014: 6). Diese irreguläre Asylzuwanderung wurde jedoch bisher nicht durch eine langfristige Politikstrategie beantwortet, sondern durch punktuelle Aktivi‐ täten, darunter bilaterale Rückführungsabkommen und Grenzschutzein‐ sätze in besonders betroffenen Gebieten wie vor den Kanaren und im Mit‐ telmeer. Lediglich auf die Einrichtung einer europäischen Agentur konnten sich die Mitgliedstaaten verständigen (Verordnung (EG) Nr. 2007/ 2004). Die Agentur zur Grenzsicherung, Frontex, wurde 2004 errichtet und steht den Mitgliedstaaten seitdem koordinierend zur Seite. Ihr zentrales Mandat ist die Eindämmung der irregulären Einreise an den Grenzübertrittspunkten der EU. Dort kann es zur faktischen Zurückweisung kommen, wenn die Einreise in die EU verweigert wird. Ein solches Vorgehen widerspricht offenkundig 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 84 <?page no="85"?> 14 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist auf Grundlage der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten eingerichtet worden. Die Kon‐ vention, die auch als Europäische Menschenrechtskonvention bezeichnet wird, wurde vom Europarat entworfen, 1950 verabschiedet und trat 1953 in Kraft. Der Europarat ist eine eigenständige internationale Organisation, der 47 europäische Staaten angehören. Das System um Europarat, EGMR und EMRK besteht unabhängig von der EU. Die EU bekennt sich ausdrücklich zur Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechts‐ konvention in Art. 6 Abs. 3 EUV und achtet die Rechtsprechung des Europäischen Ge‐ richtshofs für Menschenrechte 15 EGMR, Hirsi Jamaa u. a. v. Italien, Aktenzeichen 27765/ 09, Urteil vom 23. 2. 2012, Rn, 211. dem Nichtzurückweisungsprinzip, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 14 2012 festgestellt hat. 15 Verantwortung für die Annahme von Asylgesuchen auf hoher See: Hirsi Jamaa u. a. vs. Italien Zum Sachverhalt: Im Mai 2009 griff die italienische Küstenwache 35 Seemeilen südlich von Lampedusa drei Boote mit etwa 200 Menschen auf. Bei den Klägern handelt es sich um 11 Somalis und 13 Eritreer. Auf insgesamt drei Booten waren bis zu 200 Menschen, die von der italienischen Küstenwache auf ein Militärschiff verfrachtet und zu‐ rück nach Tripolis, Libyen, gebracht und dort den Behörden übergeben wurden. Zur Entscheidung des Gerichts und ihrer Bedeutung: Im Zuge des Freundschaftsvertrags zwischen Italien und Libyen von 2008 wurden Migranten, die in internationalen Gewässern aufgegrif‐ fen wurden, in ihren Abfahrtshafen in Libyen zurückgeführt. Der EGMR sah damit das Verbot der Folter bzw. der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aus Art. 3 EMRK verletzt, weil Libyen kein sicherer Staat sei: Als einer von sehr wenigen Staaten weltweit hat Libyen nicht die Genfer Flüchtlingskonvention angenommen. Die Richter urteilten, dass sich die Migranten in der Obhut italienischer Vollzugsbeamter und damit in italienischer Jurisdiktion befanden, woraus die Verantwortung der italienischen Justiz für die Migranten auch in internationalen Gewässern erwächst - insbesondere die Ver‐ antwortung, die Migranten nicht nach Libyen zurückzuführen, wo den Migranten gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen. 3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik 85 <?page no="86"?> Was die Entscheidung für die Seenotrettung bedeutet: Wenn Europäer an Seenotrettungen beteiligt sind, dann tragen sie Verantwortung dafür, Migranten nicht dorthin zurückzuführen, wo ihnen ernsthafte Menschenrechtsverletzungen drohen (Art. 3 EMRK). Zum Nachlesen: EGMR: Hirsi Jamaa u. a. v. Italien, Aktenzeichen 27765/ 09, Urteil vom 23. 2. 2012, insbes. Rn, 211. Besonders auffallend waren die Maßnahmen gegen irreguläre Einreisen in den vergangenen Jahren in Ungarn und zuletzt auch in Italien. Ungarn ließ bereits im Herbst 2015 an der 175 km langen Grenze zu Serbien einen Zaun bauen. Dadurch verlagerte sich die Migrationsroute auf die Nachbarländer Kroatien und Slowenien. Die Europäische Kommission kritisierte die unga‐ rische Aktion mit Verweis darauf, dass ein effektiver Zugang zum Asylsys‐ tem weiterhin gewährleistet werden müsste. Zwar verletze der Zaun selbst kein Unionsrecht, doch wenn dies in der Konsequenz bedeutet, dass Men‐ schen mit einem Asylgesuch an der Einreise gehindert werden, dann ver‐ stößt dies gegen europäische Asylrichtlinien (Norman 2015). Dennoch ver‐ schärfte Ungarn die Gesetze: Strafbar macht sich, wer unrechtmäßig den Grenzzaun übertritt - also jenseits der Grenzübertrittspunkte und ohne die notwendigen Papiere. Bei Beschädigung des Grenzzauns droht eine Haft‐ strafe von bis zu fünf Jahren. Italien erhielt 2019 mediale Aufmerksamkeit, als es Nichtregierungsor‐ ganisationen wie Sea Watch und SOS Méditerrannée die Einfahrt in italieni‐ sche Häfen verweigerte. Wenn der effektive Zugang zum Asylsystem verweigert wird, dann wird die Zusage verletzt, dass Menschen Schutz finden, die vor Not, Krieg oder Gewalt fliehen und in der Weltgemeinschaft Schutz suchen. Warum aber wird dieser offenkundige und enge Zusammenhang zwischen der Grenz- und Asylpolitik bislang nicht anerkannt? Dazu ist es notwendig, die euro‐ päische Asylpolitik genauer zu betrachten, die im Gegensatz zum Außen‐ grenzschutz in gemeinsamer Verantwortung liegt (siehe dazu Kapitel 4). 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik Nun da die europäischen Bestimmungen zum Grenzschutz bekannt sind, stellt sich die Frage, wie die Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik agieren. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 86 <?page no="87"?> Denn sie sind für die Umsetzung der Rechtsinstrumente verantwortlich und entscheiden durch ihre Praxis und durch ihre Kooperationen darüber, wie die Grenzpolitik der Europäischen Union aussieht. In diesem Kapitel wird einerseits besprochen, wie sich die Lage an den Außengrenzen darstellt (3. 4. 1), wie der Grenzschutz an der Außengrenze durch die Mitgliedstaaten und Frontex praktiziert wird (3. 4. 2) und anderer‐ seits, wie sich die Kontrollen an den Binnengrenzen darstellen (3. 4. 3). 3.4.1 Zur Lage an den Außengrenzen Jährlich wird die Außengrenze der Europäischen Union etwa 700 Mio. Mal übertreten (Frontex 2018: S. 2). Die irregulären Grenzübertritte bilden daher nur einen Bruchteil der Vorgänge an den Grenzen. In ganz überwiegender Zahl finden Grenzübertritte klar geregelt statt. Die größte Aufmerksamkeit erhält der Grenzschutz dennoch dort, wo Einreisen nicht ordnungsgemäß geschehen. Diese Ordnungswidrigkeit er‐ gibt sich zu einem großen Teil daraus, dass europäische Staaten zwar grund‐ sätzlich Asyl gewähren, jedoch eine reguläre Ankunft von Asylsuchenden in keinster Weise möglich ist. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex begann 2008 mit der syste‐ matischen Dokumentation unregelmäßiger Grenzübertritte an der EU-Au‐ ßengrenze. Ab 2010 wurde nicht nur die Zahl der irregulär Einreisenden, sondern auch ihre Nationalität registriert. Frontex führte Interviews mit ir‐ regulär Einreisenden und analysierte Hintergründe der Migration. Diese Daten verwendete die Agentur einerseits, um Migrationsbläufe retrospektiv darzustellen und andererseits um Migrationsrisiken perspektivisch abzu‐ schätzen. Irreguläre Grenzübertritte an der EU-Außengrenze 2008 bis 2013 2008 2009 2010 2011 2012 2013 175.000 106.200 105.615 141.000 72.500 107.365 Quellen: Frontex 2009: 12; Frontex 2010: 5; Frontex 2012a: 14; Frontex 2012b: 9; Frontex 2013: 9; Frontex 2015: 57. 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 87 <?page no="88"?> Irreguläre Grenzübertritte an der EU-Außengrenze 2014 bis 2018 2014 2015 2016 2017 2018 282.962 1.822.337 511.046 204.718 150.100 Quellen: Frontex 2016: 18-19; Frontex 2018: 18; Frontex 2019a: 9. An diesen Zahlen wird zweierlei erkennbar: Die Zahl der irregulär Einrei‐ senden fluktuiert, pendelt zwischen 2008 und 2013 um die Zahl 100.000. Ab 2014 nimmt diese Zahl deutlich zu und erreicht 2015 einen vorläufigen Hö‐ hepunkt. Warum fluktuieren die Zahlen? Für das Jahr 2011 ist dokumentiert, dass es in vielen nordafrikanischen Staaten den Beginn von politischen Unruhen markiert, so in Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien. Tatsächlich erreich‐ ten in diesem Jahr besonders viele Tunesier Italien und damit die Europäi‐ sche Union auf der Suche nach Schutz, Stabilität oder einem ökonomisch motivierten Neuanfang. Ein Blick auf die Komposition der Migranten ist darüber hinaus aufschlussreich. Welche Nationalitäten sind vor allem vertreten? Seit 2010 dokumentiert Frontex neben den Daten über irreguläre Einreisen auch die Nationalitäten der Einreisenden. Seit einem knappen Jahrzehnt zählen zu den hauptsächlich vertretenen Herkunftsstaaten unter den irre‐ gulär Einreisenden Syrien, Afghanistan und Irak. Häufigste Herkunftsstaaten 2010-2018 Jahr Top 1 Herkunftsstaat Top 2 Herkunftsstaat Top 3 Herkunftsstaat 2010 Afghanistan (k.A.) Algerien (k.A.) Pakistan (k.A.) 2011 Tunesien (27.963) Afghanistan (22.490) Pakistan (k.A.) 2012 Syrien (7.122) Afghanistan (11.431) Eritrea (1.889) 2013 Syrien (12.807) Eritrea (10.398) Afghanistan (8.534) 2014 Eritrea (33.559) Syrien (24.687) Afghanistan (21.377) 2015 Syrien (496.340) Afghanistan (213.635) Irak (92.712) 2016 Syrien (84.585) Afghanistan (53.740) Nigeria (37.554) 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 88 <?page no="89"?> Häufigste Herkunftsstaaten 2010-2018 Jahr Top 1 Herkunftsstaat Top 2 Herkunftsstaat Top 3 Herkunftsstaat 2017 Syrien (19.447) Nigeria (18.309) Côte d'Ivoire (14.300) 2018 Syrien (14.378) Marokko (13.269) Afghanistan (12.666) Quellen: Frontex 2012b: 10; Frontex 2014: 54; Frontex 2016: 18; Frontex 2017a: 19. Anmerkung: Die Zahlen sollten mit größter Vorsicht gelesen werden. Sie vermitteln nicht mehr als einen ungefähren Eindruck von den häufigsten Nationalitäten, die auf den Routen registriert werden. Es gibt mitunter erhebliche Abweichungen. Für Syrien werden im Jahresbericht 2013 25.500 Aufgriffe angegeben (Frontex 2014 : 54), in einer Publikation von 2017 werden jedoch lediglich 12.807 an den Außengrenzen der EU aufgegriffene Syrer für das Jahr 2013 dokumentiert (Frontex 2017a: 19). Zudem ist zu berücksichtigen, dass in den Jahren 2015 bis 2017 die Nationalitäten vieler Einreisender unspezifiziert blieben (bis zu 500.000 im Jahr 2015, etwa jeweils 100.000 in den Jahren 2016 und 2017). Was verraten diese Zahlen? Die Dokumentation der Herkunftsländer deutet darauf hin, dass unter den Migranten zehntausende bis hunderttausende Menschen sind, die vor Krie‐ gen (Syrien, Somalia), kriegsähnlichen Situationen bzw. politischer Instabi‐ lität (Afghanistan, Irak, Sudan, Elfenbeinküste, Mali), Terrorismus (Nigeria), repressiven politischen Regimen (Eritrea) fliehen. Und auch Perspektivlo‐ sigkeit wird immer wieder als wichtiger Migrationsgrund genannt, vor allem in Bezug auf die sehr junge Bevölkerung in vielen afrikanischen Staaten (diese Argumentation wird in Verbindung gebracht mit Migration aus Al‐ gerien, Marokko, Guinea, Gambia aber auch teilweise Nigeria, Mali, Elfen‐ beinküste, Sudan). Die meisten Flüchtlinge suchen zunächst in unmittelbaren Nachbarlän‐ dern ihrer Herkunftsstaaten Schutz (vgl. UNHCR 2019a). An einem Beispiel wird dies sehr deutlich: Millionen Syrer haben seit 2011 im Libanon, in Jor‐ danien und in der Türkei Zuflucht gefunden. Doch die Unterbringungska‐ pazitäten, Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt sind dort begrenzt. Der Krieg in Syrien dauert seit inzwischen acht Jahren an und es verwundert nicht, dass viele Flüchtlinge eine langfristige Lösung für ihre Situation su‐ chen. 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 89 <?page no="90"?> Von denjenigen Menschen, die sich entscheiden, Schutz in Europa zu su‐ chen, bedeutet der Weg dorthin meist zunächst, sich in Lebensgefahr zu bringen. Denn zu den wichtigsten Wegen in den europäischen Raum zählen die südlichen Seeaußengrenzen der Europäischen Union, vorrangig auf drei Routen: Zentrale Mittelmeerroute: nordafrikanisch-italienisch/ maltesische Route Östliche Mittelmeerroute: türkisch-griechische Route Westliche Mittelmeerroute: westafrikanisch-spanische Route Seit zehn Jahren sind die zentrale und die östliche Mittelmeerroute die wich‐ tigsten beiden Routen. Flüchtlinge und Migranten aus dem Nahen Osten reisen überwiegend über die Türkei nach Griechenland in den Schengen‐ raum ein, während Flüchtlinge und Migranten aus Nord- und Subsa‐ hara-Afrika vor allem die Route über das zentrale Mittelmeer wählen, meist über Libyen, das bedingt durch den seit 2011 andauernden Bürgerkrieg po‐ litisch instabil ist. Die östliche Mittelmeerroute gilt vor allem aus physischen Gründen als besonders vulnerabler Grenzabschnitt. Seegrenzen lassen sich prinzipiell schwieriger kontrollieren als Landgrenzen. Im besonderen Fall der Grenze zwischen Türkei und Griechenland kommt hinzu, dass die tausend Inseln Griechenlands oft nur wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt‐ liegen. Aufgriffe auf den drei wichtigsten Migrationsrouten im Fünfjahreszeitraum 2014 bis 2018: Jahr Westliches Mittelmeer Zentrales Mittelmeer Östliches Mittelmeer 2014 7.164 170.664 50.834 2015 7.004 153.964 885.386 2016 10.231 181.459 182.277 2017 23.063 118.962 42.319 2018 57.034 23.485 56.561 Quellen: Frontex 2016: 16, 18-20; Frontex 2017: 18; Frontex 2019a: 16. Die Zahlen verdeutlichen, dass die Seegrenzen der EU und nicht ihre Land‐ grenzen von größter Bedeutung für irreguläre Einreisen sind. Sie verdeut‐ 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 90 <?page no="91"?> lichen zudem, wie stark die irreguläre Einreise auf vier Staaten konzentriert ist: Spanien auf der westlichen, Italien und Malta auf der zentralen und Griechenland auf der östlichen Mittelmeerroute. Weiterhin zeigen die Zah‐ len Fluktuationen bei den Routen. Auf der westlichen Mittelmeerroute kann man seit einigen Jahren wieder eine zunehmende Entwicklung ablesen. Während 2014 nur einige tausend Menschen diese Route wählten, waren es 2016 bereits 10.000 und im Jahr 2018 knapp 60.000 Migranten. Auf der öst‐ lichen Mittelmeerroute waren sehr starke Fluktuationen zu beobachten. Im Jahr 2015 wurde im Vergleich zum Vorjahr ein spontaner und einmaliger Höhepunkt erreicht, der seit 2016 wieder stark rückläufig ist. Vergegenwär‐ tigt man sich, dass das EU-Türkei-Abkommen seit 2016 gilt, so liegt eine Erklärung für diese Zahlen auf der Hand. Auf der zentralen Mittelmeerroute - über zwei Jahrzehnte hinweg eine wichtige Route - lässt sich seit 2017 eine Trendwende erkennen mit deutlich abnehmenden Zahlen. Die westliche Mittelmeerroute war besonders Anfang der 2000er Jahre eine wichtige Route. Vor den Kanarischen Inseln führte die 2004 ins Leben gerufene und 2005 operativ gewordene europäische Agentur Frontex ihren ersten Einsatz durch. Damals war es unhinterfragte Praxis, die Flüchtlings‐ boote zurück nach Mauretanien bzw. Senegal in Westafrika zu eskortieren. Spanien schloss mit den westafrikanischen Staaten Rückübernahme-Ver‐ träge ab, sodass die Route relativ schnell geschlossen war (d. h. deutliche Re‐ duktion der irregulären Einreisezahlen). Auch Italien hatte 2008 einen Ver‐ trag zur Rückübernahme mit Libyen geschlossen - trotz der bekannten katastrophalen Lage in libyschen Flüchtlingslagern und entgegen interna‐ tionaler Kritik. Die innerhalb eines Freundschaftsabkommens beschlossene Rückführungsmaßnahme sah die Rückführung von Flüchtlingsbooten in in‐ ternationalen Gewässern nach Libyen vor, bis diese Praxis durch ein EGMR-Urteil im Jahr 2012 unterbunden wurde (EGMR, Hirsi Jamaa u. a. v. Italien, 27765/ 09, Urteil vom 23. 2. 2012). Griechenland verfügt seit 2016 mit dem EU-Türkei-Abkommen de facto ebenfalls über ein Rückübernahme-Ab‐ kommen. Die Türkei gilt als wichtigstes Transitland für Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg nach Europa. All diese Abkommen deuten darauf hin, dass europäischer Grenzschutz nur in Kooperation mit dritten Partnern funktioniert. Wenn die an den eu‐ ropäischen Außengrenzen stattfindende irreguläre Migration tatsächlich gesteuert werden soll, so ist das nur in Zusammenarbeit mit Drittstaaten möglich, die aufgegriffene Migranten aufnehmen. Die Grenzschutzagentur Frontex ist sich dieser Realität seit den Einsätzen Hera (westliche Route) und 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 91 <?page no="92"?> Hermes (zentrale Mittelmeerroute) bewusst und empfiehlt in ihren Strate‐ gieempfehlungen seit 2011 regelmäßig die Ausweitung von Kooperations‐ verträgen zwischen europäischen Akteuren und Drittstaaten (zu Frontex-Einsätzen ausführlich: Dreyer-Plum 2017: 462-511). Im Laufe der Jahre kam es immer wieder zu Verschiebungen der Migra‐ tionsrouten. Dies hing wesentlich mit den Kooperationen zusammen und unterstreicht, wie sehr nationaler und europäischer Grenzschutz mit Dritt‐ partnern verwoben ist. Diese Kooperationen sind zentral für das Gelingen strenger Kontrollen an den Außengrenzen. Sie liegen jedoch außerhalb der ausschließlichen Kontrollsphäre der Europäischen Union. An dieser Stelle sind die EU-Staaten auf ihre Nachbarn angewiesen. Damit betrifft Grenz‐ schutz in Nord-/ Subsahara-Afrika unmittelbar Grenzaktivitäten im Mittel‐ meer. Die Kooperation mit Drittstaaten - nicht die Aktivitäten der Agentur Frontex - sind zentral für das Gelingen einer strengen Kontrolle an den Au‐ ßengrenzen. Aus dieser Realität erklärt sich auch die strategische Ausrichtung der eu‐ ropäischen Grenzpolitik wie beim EU-Afrika-Gipfel vom Sommer 2015. Ebenfalls daraus erklärt sich die Einschätzung, dass die Bekämpfung der migrationsbefördernden Faktoren wie extreme Armut und Perspektivlosig‐ keit in Herkunftsländern auf der politischen Agenda der EU eine höhere Priorität einnehmen muss, wenn der irregulären Einreise etwas entgegen‐ gesetzt werden soll. Die Zuspitzung der sogenannten Migrationskrise erfuhr die Europäische Union im Sommer 2015. Bereits ab April 2015 zeichneten sich erheblich mehr Ankünfte in Griechenland ab (Frontex 2016: 18). Viele Asylsuchende setzten ihre Flucht von Griechenland aus über den Balkan Richtung Westeuropa fort. In Mazedonien gab es bspw. ein Gesetz, das es Asylsuchenden ermög‐ lichte, innerhalb von 72 Stunden das Land zu durchqueren und dabei öf‐ fentliche Verkehrsmittel zu benutzen ohne belangt zu werden (Frontex 2016: 19). Bis August 2015 hatten bereits mehr als 140.000 Migranten Ungarn er‐ reicht, was Ungarn dazu veranlasste, (a) den Nachbarstaat Serbien, aus dem die meisten Asylsuchenden einreisten, als sicheres Herkunftsland zu erklä‐ ren, (b) Flüchtlinge abzuweisen und (c) einen Zaun zu bauen, um den Grenz‐ übertritt zu erschweren. So wurde die Balkanroute auf die Route Kroatien-Serbien verschoben, auf der täglich etwa 6.400 Menschen die Grenze passierten. In Kroatien wurden sie von den Behörden Richtung Un‐ garn transportiert, woraufhin Ungarn auch an der kroatisch-ungarischen 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 92 <?page no="93"?> Grenze einen Zaun errichtete. In der Folge verlagerte sich die Migrations‐ route im Oktober 2015 auf Slowenien. Hauptsächlich Syrer und Afghanen waren auf dieser Route unterwegs. Doch die große Anzahl von Migranten machte es für die Behörden unmöglich, tatsächlich alle zu identifizieren, weshalb eine große Anzahl von Migranten mit unbekannter Herkunft ein‐ gereist ist (Frontex 2016: 18). Frontex verweist auf das Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), wo‐ nach 1,35 Mio. Menschen im Jahr 2015 Asyl beantragt haben - doppelt so viele wie im Jahr 2014. Als hauptsächliche Nationalitäten werden Syrer (mehr als 334.000), Afghanen (mehr als 168.000) und Irakis (mehr als 114.000) angegeben (Frontex 2016: 30). Die Europäische Union ist weit davon entfernt, die irreguläre Einreise an den Seegrenzen in den Griff zu bekommen. Frontex formulierte 2017: „Irregular migration by sea, and more specifically via the Mediterranean routes, will remain the main modus operandi for illegally crossing the EU’s external bor‐ ders and also one of the most dangerous forms of migrant smuggling and one which often requires humanitarian assistance escorts. To tackle this phenomenon, cooperation among maritime security players and shared use of assets are gaining momentum.“ (Frontex 2018: 41). Die Lage an den Außengrenzen verdeutlicht, dass die Regelwidrigkeit der irregulären Einreise zur Tagesordnung zählt. Frontex spricht in der Analyse von 2018 an, dass davon auszugehen ist, dass die irreguläre Einreise über das Mittelmeer der wichtigste Weg für Schleuser bleibt, der bisweilen hu‐ manitäre Unterstützung in Form von Seenotrettung erfordert. Um der irre‐ gulären Einreise politisch zu begegnen, setzt Frontex auf bemannte Grenz‐ schutzaktivitäten im Mittelmeer und unterstützendes technisches Gerät. Die Durchlässigkeit der Seeaußengrenzen ist problematisch, weil dadurch das Sicherheits- und Schutzversprechen der EU als „Komplementärstück der im Schengen-Raum abgeschafften Binnengrenzkontrollen“ an Glaubwür‐ digkeit verliert, wenn „der Außengrenzschutz unvermeidlich unzulänglich bleibt“ (Hilz 2018: 77). Die Binnengrenzfreiheit gerät dann einerseits poli‐ tisch in Frage und praktisch in Gefahr, wenn der komplementäre und not‐ wendige Außengrenzschutz nicht zur Zufriedenheit der Staatengemein‐ schaft sichergestellt ist. 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 93 <?page no="94"?> 3.4.2 Grenzschutz und Kooperation an den Außengrenzen Die Verantwortung zur Kontrolle der Außengrenzen liegt weiterhin bei den Mitgliedstaaten mit einer Außengrenze. Die Mitgliedstaaten behalten die volle Souveränität sowohl bei der Überwachung und Kontrolle der Außen‐ grenzen als auch bspw. bei Zollangelegenheiten. Die Schengenbzw. EU-Staaten mit Außengrenze befinden sich also in einer besonderen Ver‐ antwortung, mit einem Teil der gesamten Außengrenze des Schengenbzw. EU-Raums betraut zu sein (Kaufhold 2017: 69). Über die physischen Außen‐ grenzen hinaus gelten auch Flughäfen als Außengrenzen, sodass jeder Mit‐ gliedstaat über Außengrenzen verfügt. Durch die Einbeziehung von Beför‐ derungsunternehmen in Grenzkontrollen, sind unregelmäßige Ankünfte jedoch eine große Ausnahme. Die europäische Grenzpolitik ist dennoch sehr stark darauf ausgerichtet, die Unregelmäßigkeit dieser Ankünfte zu kon‐ trollieren und zumindest auf ein überschaubares Maß zu reduzieren. Der Schengener Grenzkodex sieht eine „enge Zusammenarbeit“ der Mit‐ gliedstaaten vor, darunter einfache Kooperationen wie Datenaustausch aber auch die unmittelbare Zusammenarbeit beim Außengrenzschutz: „Zur wirk‐ samen Durchführung von Grenzkontrollen gemäß den Artikeln 7 bis 16 un‐ terstützen die Mitgliedstaaten einander und pflegen eine enge und ständige Zusammenarbeit. Sie tauschen alle sachdienlichen Informationen aus.“ (VO (EU) 2016/ 399, Art. 17 Abs. 1) Der Vertrag von Lissabon sieht den Aufbau eines integrierten Grenz‐ schutzmanagements vor (Art. 77 Abs. 1 lit. c). Die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten wird befördert durch ein gemeinsames Interesse an sicheren Außengrenzen. Zudem leistet Frontex als Grenzschutzagentur Unterstüt‐ zung, um die Kooperation zu erleichern, so heißt es: „Die operative Zusam‐ menarbeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Grenzschutzes an den Außengrenzen wird durch die Agentur koordiniert.“ (VO (EU) 2016/ 399, Art. 17 Abs. 2). Dennoch sind und bleiben die Außengrenzen eines Mitgliedstaates na‐ tionales Hoheitsgebiet und aus dieser Lage ergeben sich bisweilen Grenzen der Kooperation bzw. Vergemeinschaftung der Grenzpolitik. Die Interessen der Mitgliedstaaten werden auf Unionsebene im Ministerrat artikuliert. Blickt man auf die Reaktion des Rates der EU auf den Vorschlag der Euro‐ päischen Kommission für eine neu zu gründende Grenz- und Küstenwache, so zeigte sich, dass unionale Eingriffe in den nationalen Grenzschutz abge‐ lehnt wurden. Stattdessen wurde eine intensivierte Kooperation favorisiert, 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 94 <?page no="95"?> 16 Mehr zu Drohnen, Sensoren und Satellitensystemen der Europäischen Union bei Ajana (2013). die eine gemeinsame „Grenzverwaltung“ aufbaut, bei der das Hoheitsgebiet jedoch unangetasteter Souveränitätsbereich der Mitgliedstaaten bleibt: „Mit dieser Verordnung wird eine Europäische Grenz- und Küstenwache einge‐ richtet, die auf europäischer Ebene für eine integrierte Grenzverwaltung an den Außengrenzen sorgen soll, um das Überschreiten der Außengrenzen effizient zu steuern. Dies schließt die Bewältigung des Migrationsdrucks sowie potenzieller künftiger Bedrohungen an diesen Grenzen ein, wobei gleichzeitig zur Bekämp‐ fung von schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension beigetra‐ gen werden soll, um ein hohes Maß an innerer Sicherheit innerhalb der Union unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte und der Wahrung der Frei‐ zügigkeit in diesem Raum zu gewährleisten.“ (VO (EU) 2016/ 1624, Art. 1) Die integrierte Grenzverwaltung wird zu weiten Teilen von der Europäi‐ schen Grenz- und Küstenwache getragen (VO (EU) 2016/ 1624), besteht aus Grenzkontrollen, die legitime Grenzüberschreitungen erleichtern (Art. 4 lit. a), Risikoanalysen (Art. 4 lit. c), vielfältigen Zusammenarbeitsformen (Art. 4 lit. d-f) sowie aus Such- und Rettungseinsätzen (Art. 4 lit. b) im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 656/ 2014 v. 15. 5. 2014 zur Überwachung der See‐ außengrenzen im Rahmen der von Frontex koordinierten operativen Zu‐ sammenarbeit der Mitgliedstaaten (ABl. Nr. 189/ 93 v. 27. 6. 2014). Der Einsatz modernster Technologien inklusive informationstechnologischer Großsys‐ teme gilt als ein weiterer wichtiger Baustein um die Außengrenzen zu kon‐ trollieren (VO (EU) 2016/ 1624, Art. 4 lit. g). Seit der Jahrtausendwende haben die Schengenstaaten eine Vielzahl tech‐ nologischer Instrumente eingeführt, die nicht selten aus dem militärischen bzw. nachrichtendienstlichen Instrumentarium stammen. Das Ziel ist das Monitoring von Reisenden, die Sammlung von Informationen über Reisen und überhaupt Bewegungen in Datenbanken, um daraus strategische Infor‐ mationen zu gewinnen; die Überprüfung von Identitäten bspw. durch bio‐ metrische Scanner und die Aufklärung auffälliger Bewegungen durch Droh‐ nen, Sensoren und Satellitensysteme (Zaiotti 2017: 102-103). 16 Zu diesen Systemen zählen auch die im Grenzschutz genutzte Datenbank Eurodac sowie das Informationssystem Eurosur. Die Technologien zum Grenzma‐ nagement verstärken die Möglichkeiten des Grenzschutzes und den wirk‐ 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 95 <?page no="96"?> samen Schutz von Außengrenzen, eine Tendenz die in der Literatur als Ver‐ sicherheitlichung bezeichnet wird (Neal 2009; Carrera und Hernanz 2015). Auch Frontex nutzt die Technologien intensiv. Die Kooperation bei Frontex sieht so aus, dass die Mitgliedstaaten nicht ihre Kräfte in einem föderalen Grenzschutz bündeln, sondern die einzelstaatlichen Behörden kooperieren horizontal. Damit liefern sie ein Beispiel, wie weit Zusammenarbeit gehen kann. Für eine tatsächliche europäische föderale Grenzkontrolle reicht indes die vertragliche Grundlage nicht, sondern wäre eine Vertagsänderung nach Art. 48 EUV notwendig (Thym 2016: 42, Rn 2). Der europäische Grenzschutz schließt auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten ein, die sowohl Herkunfts- und Transitstaaten umfassen (VO (EU) 2016/ 399, Art. 4 lit. f). Aus der langjährigen Praxis der Agentur Frontex ist bekannt, dass die Grenzschutzeinsätze im Mittelmeer manchmal lediglich eine Verschiebung der Migrationsroute hervorrufen und eine tatsächliche Reduzierung der irregulären Einreise nur erreicht werden kann, wenn auf der konkreten Route ein Drittstaat die rückgeführten Migranten aufnimmt (ausführlich Dreyer-Plum 2017: 461-511). Dies funktionierte auf der west‐ afrikanischen Route mit Mauretanien und Senegal auf Grundlage von Ver‐ trägen mit Spanien; auf der zentralen Mittelmeerroute kooperierten Italien und Libyen im Zeitraum von 2008 bis 2011 auf Grundlage eines Freund‐ schaftsvertrags. Seit 2016 wird zudem auf der strategisch wichtigen östli‐ chen Mittelmeerroute auf Grundlage eines internationalen Vertrags zwi‐ schen der Europäischen Union und der Türkei eine enge Kooperation zur Rückführung praktiziert. Dies ist mit Art. 17 Abs. 3 des Schengener Grenz‐ kodexes vereinbar: „Unbeschadet der Zuständigkeiten der Agentur können die Mitgliedstaaten mit anderen Mitgliedstaaten und/ oder Drittstaaten an den Außengrenzen weiterhin auf operativer Ebene zusammenarbeiten, was auch den Austausch von Verbin‐ dungsbeamten umfasst, soweit diese Zusammenarbeit die Tätigkeit der Agentur ergänzt.“ Gerade der 2008 geschlossene Freundschaftsvertrag zwischen Italien und Libyen wurde stark kritisiert, weil Libyen nicht die Genfer Flüchtlingskon‐ vention ratifiziert hatte, katastrophale Zustände für Migranten insbesondere aus Subsahara-Afrika bekannt waren und Libyen daher kein Staat ist, der als sicher gelten kann (Ryan 2016b: 244, Rn 3). Der sogenannte Seegrenzenkodex von 2014 (Sea Borders Code) schaffte Klarheit über humanitäre Verpflichtungen und Grenzen der Rückführungen 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 96 <?page no="97"?> auf hoher See (VO (EU) Nr. 656/ 2014). Denn die hauptsächliche Beantwor‐ tung der irregulären Migration durch die skizzierten bilateralen Arrange‐ ments beruhte auf dem Aufgreifen von Migrantenbooten und der Rückfüh‐ rung in ihre Abfahrtshäfen (Ryan 2016b: 244, Rn 2 mwN). Die Seegrenzenverordnung schaffte einen rechtlichen Rahmen für Mit‐ gliedstaaten und Schiffe unter ihrem Kommando, die in die Überwachung der Seeaußengrenzen des Schengenraums involviert waren, die von Frontex koordiniert wurden (Ryan 2016b: 244, Rn 1). Die Verordnung enthielt Regeln für den Aufgriff von Schiffen und Personen sowie zur Seenotrettung, dar‐ unter die Achtung des Nichtzurückweisungsprinzips, Möglichkeiten des Abfangens im Küstenmeer, auf hoher See und in Anschlusszonen (VO (EU) Nr. 656/ 2014, Art. 4-10). Diese Verordnung ist ein sehr gutes Beispiel für die enge Verwebung von Grenz- und Asylpolitik. Hier handelt es sich um ein Instrument, das Akti‐ vitäten bei der Grenzüberwachung betrifft, die im Wesentlichen eine Ant‐ wort auf irreguläre Migration sind. Einerseits muss das Recht an der Grenze durchgesetzt werden. Ein Grundsatz in diesem System lautet: Wer keine Papiere hat, darf nicht einreisen. Andererseits gilt es internationales See‐ recht, internationales Flüchtlingsrecht und europäisches Asylrecht zu ach‐ ten: Macht jemand einen Asylanspruch geltend, dann muss dem nachge‐ gangen werden und dies legitimiert auch eine regelwidrige Einreise in den Schengenraum. Die Rückführung ist nur legitim, wenn dabei weder das Nichtzurückwei‐ sungsprinzip missachtet wird - wonach niemand in ein Land zurückge‐ schickt werden soll, wo ihm ernsthafte Bedrohungen für Leib und Leben drohen, was auf Antrag in einem Asylverfahren zu prüfen ist - noch faktisch Kollektivausweisungen praktiziert werden. Diese Prinzipien entsprechen den normativen Grundlagen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der laufenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men‐ schenrechte. Die Rückkehr von Drittstaatsangehörigen ohne Aufenthaltserlaubnis und ohne Schutzbedarf gilt als wichtiger Baustein, um eine glaubwürdige Ein‐ wanderungs- und Asylpolitik zu schaffen. Frontex ist seit seiner Gründung in Kooperationen zur Umsetzung von Rückführungen einbezogen (VO (EG) Nr. 2007/ 2004, Art. 9), doch seit 2016 nimmt diese Aufgabe eine größere Be‐ deutung im Aufgabenspektrum der Agentur ein (VO (EU) 2016/ 1624, Art. 4 lit. h, Art. 5 Abs. 3, Art. 8 Abs. 1). So gibt es nun auch von Frontex geleitete Rückkehrteams (Art. 8 Abs. 1 lit. o). 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 97 <?page no="98"?> Zahl der durch Frontex rückgeführten Drittstaatsangehörigen Jahr Zahl der rückgeführten Drittstaatsangehörigen 2015 3.576 2016 10.698 2017 14.189 2018 13.729 Quelle: Frontex 2019b. Praktisch und faktisch betrachtet, liegt die Aufgabe von Frontex seit dem Beginn darin, dem Migrationsdruck an den Schengenaußengrenzen zu be‐ gegnen und ihn nach Möglichkeit zu begrenzen (Ryan 2016a: 200, Rn 1). 3.4.3 Zur Praxis der Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen Prinzipiell gilt, dass weder Unionsbürger noch Drittstaatsangehörige an Binnengrenzen einer Kontrolle unterzogen werden. Um dieses Ziel zu er‐ reichen, sahen die europäischen Verträge die Ausarbeitung von Rechtsinst‐ rumenten für die Gestaltung eines Raums ohne Binnengrenzen vor. Dies hat in Form des Schengener Grenzkodexes Gestalt angenommen. Die außerordentliche Wiedereinführung von Grenzkontrollen gilt bei Großveranstaltungen als legitim, bei denen ernsthafte Sicherheitsbedenken bestehen. Die Bundesrepublik Deutschland machte von dieser Ausnahme‐ regelung Gebrauch und führte vorübergehende Grenzkontrollen ein im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006, während des G7-Gipfels auf Schloss Elmau im Jahr 2015 sowie während des G20-Gipfels in Hamburg im Jahr 2017. Im September 2015 führte die außerordentliche Zuwanderung von Asyl‐ suchenden über die sogenannte Balkanroute zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Ungarn, Österreich und Deutschland. Mit Verweis auf die Sicherheitsgefahr - Terroristen könnten die Asylroute für eine verein‐ fachte Einreise nutzen - führte Deutschland die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze ab Herbst 2017 über den vom Schengener Grenzkodex vorgesehenen maximalen Zeitraum von zwei Jahren fort. Die Grenzkontrollen wurden 2019 mit Verweis auf das Migrationspotenzial über 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 98 <?page no="99"?> 17 Daesch (Dāʿisch / Herbst 2017 über den vom Schengener Grenzkodex vorgesehenen maximalen Zeitraum von zwei Jahren fort. Die Grenzkontrollen wurden 2019 mit Verweis auf das Migrationspotenzial über die Mittelmeer- und Balkanrouten erneut um sechs Monate verlängert. Der deutsch-österreichische Grenzabschnitt wird damit bereits seit vier Jahren ununterbrochen kontrolliert. Frankreich führte Grenzkontrollen nach den schweren Terroranschlägen in Paris im November 2015 mit ausdrücklichem Verweis auf die Gefahr durch Terrorismus wieder ein und führte diese fort. Auch Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark führten in den Jahren 2015 bzw. 2016 wieder Grenzkontrollen ein, womit die Vorgaben des Schengener Grenzkodexes deutlich strapaziert werden. Die Europäische Kommission mahnte die Mitgliedstaaten zwar an, zur Offenheit der Binnengrenzen zurückzukehren, ging aber die Überschreitung der Fristen bisher nicht in einem Vertragsverletzungsverfahren an (Bossong und Etzold 2018: 4). Sicherheitsrisiko: IS-Rückkehrer Seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien reisten etwa 5.000 Unionsbürger in das Konfliktgebiet in Irak und Syrien (EPRS 2018: 25), um sich dort terroristischen Organisationen wie Daesch 18 anzuschließen, die auf dem Gebiet Syriens und des Irak die Errichtung eines Kalifats beabsichtigten. Von diesen Kämpfern sind Schätzungen zufolge bis 2016 etwa 30% zurückgekehrt (EPRS 2018: 5, 31). Bei den Rückkehrern beobachtete der Verfassungsschutz eine Spannbreite von „Desillusionierten“ von denen keine Gefahr ausgehe bis hin zu „gewaltbereiten Personen mit Kampferfahrung“ (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2019: 190). Grundsätzlich müsste dabei von einer „weiterhin be- 18 Daesch (Dāʿisch / ﺶﻋاد ) ist das transkribierte arabische Akronym für die sunnitische Terrormiliz, die in Irak und Syrien in staatsähnlichen Strukturen Gebiete beherrscht und sich selbst als „Islamischer Staat“ bezeichnet. Vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird Daesch als terror sche Vereinigung eingestuft, vgl. dazu Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 11495 v. 28.07.2014. ) ist das transkribierte arabische Akronym für die sunnitische Terrormiliz, die bis März 2019 in Irak und Syrien in staatsähnlichen Strukturen Gebiete beherrschte und sich selbst als „Islamischer Staat“ bezeichnet. Vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird Daesch als terroristische Vereinigung eingestuft, vgl. dazu Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 11495 v. 28. 07. 2014. die Mittelmeer- und Balkanrouten erneut um sechs Monate verlängert. Der deutsch-österreichische Grenzabschnitt wird damit bereits seit vier Jahren ununterbrochen kontrolliert. Frankreich führte Grenzkontrollen nach den schweren Terroranschlägen in Paris im November 2015 mit ausdrücklichem Verweis auf die Gefahr durch Terrorismus wieder ein und führte diese fort. Auch Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark führten in den Jahren 2015 bzw. 2016 wieder Grenzkontrollen ein, womit die Vorgaben des Schengener Grenzkodexes deutlich strapaziert werden. Die Europäische Kommission mahnte die Mitgliedstaaten zwar an, zur Offenheit der Binnengrenzen zurückzukehren, ging aber die Überschreitung der Fristen bisher nicht in einem Vertragsverletzungsverfahren an (Bossong und Etzold 2018: 4). Sicherheitsrisiko: IS-Rückkehrer Seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien reisten etwa 5.000 Uni‐ onsbürger in das Konfliktgebiet in Irak und Syrien (EPRS 2018: 25), um sich dort terroristischen Organisationen wie Daesch 17 anzuschlie‐ ßen, die auf dem Gebiet Syriens und des Irak die Errichtung eines Ka‐ lifats beabsichtigten. Von diesen Kämpfern sind Schätzungen zufolge bis 2016 etwa 30 % zurückgekehrt (EPRS 2018: 5, 31). Bei den Rückkehrern beobachtete der Verfassungsschutz eine Spann‐ breite von „Desillusionierten“ von denen keine Gefahr ausgehe bis hin zu „gewaltbereiten Personen mit Kampferfahrung“ (Bundesministe‐ rium des Innern, für Bau und Heimat 2019: 190). Grundsätzlich müsste dabei von einer „weiterhin bestehenden islamistischen Grundhaltung ausgegangen werden“ (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2019: 190). IS-Rückkehrer stellen eine besondere Sicherheitsgefahr dar, weil sie ideologisch radikalisiert, im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ge‐ schult sind, über Kampferfahrung verfügen und ein Risiko für weitere Radikalisierung und Rekrutierung in Europa darstellen (Europol 3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik 99 <?page no="100"?> 2018: 27). Hinzugekommen ist die Problematik um den Umgang mit Ehefrauen und Kindern ehemaliger IS-Kämpfer. Die Frauen verfügen zumeist ebenfalls über eine militärische Ausbildung, sind gleichsam ideologisch radikalisiert und verstehen sich zugleich oftmals als Opfer (Europol 2018: 28). Der Umgang mit IS-Rückkehrern ist auf europäischer wie nationaler Ebene ein wichtiges Thema und betrifft folgende Herausforderungen: 1. Riskobewertung, Gefahrenabschätzung und Strafverfolgung der 1. Rückkehrer 2. Europäischer Informationsaustausch über Rückkehrer 2. 3. Radikalisierung und Rekrutierung versus Ausstiegsprogramme 3. 4. Soziale Wiedereingliederung und psychologische Unterstützung 4. Im Verfassungsschutzbericht 2018 wurde für die kommenden Jahre mit „verstärkten Rückkehrbewegungen“ gerechnet (Bundesministe‐ rium des Innern, für Bau und Heimat 2019: 189), da der Gebietsverlust von Daesch in Syrien und im Irak dazu führe, dass Kämpfer und ihre Angehörigen das Kampfgebiet verlassen (Bundesministerium des In‐ nern, für Bau und Heimat 2019: 190). Einige bemühen sich aktiv um eine Rückkehr, insbesondere um aus Haftlagern zu entkommen. Die Bundesrepublik Deutschland argumentiert jedoch, sie unterhalte keine diplomatischen Beziehungen zu Syrien oder den Kurdengebie‐ ten (Nordsyrien), weshalb auch keine Anliegen der Rückführtung in die Bundesrepublik geprüft werden könnten (Deutscher Bundestag 2017b: 7). Bisher handhaben die Mitgliedstaaten den Umgang mit IS-Rückkeh‐ rern weitgehend als nationale Angelegenheit, über die auf europäi‐ scher Ebene kommuniziert wird (Europol 2017, 2018). Auffallend ist jedoch, wie sehr der Umgang mit IS-Rückkehrern als jeweils nationale Aufgabe verstanden wird, obwohl jeder IS-Rückkehrer für Mitglieder des europäischen Raums Schengen gleichermaßen relevant ist. Dies ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie (Staats-)Grenzen weiter als Kompe‐ tenzräume gedacht werden, obwohl sie in der Praxis an Relevanz ver‐ lieren. 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 100 <?page no="101"?> 3.5 Streit um die europäische Grenzpolitik seit 2015 Die Migrations- und Asylschutzkrise von 2015/ 2016 stellt auch Fragen an die Grenzpolitik der Europäischen Union. Der politische Streit um die Aus‐ richtung der europäischen Asylpolitik hat daher erhebliche Rückwirkungen auf die Grenzpolitik. Vor dem Hintergrund der besprochenen Rechtsgrund‐ lagen stellen sich folgende teilweise ungeklärte Fragen: (1) Ist das Mandat der Europäischen Union zum Grenzschutz ausreichend, um die europäi‐ schen Außengrenzen wirksam zu kontrollieren? (2) Funktionieren Rechts‐ instrumente wie der Schengener Grenzkodex und der Visakodex? Wo deuten Regelverstöße auf Reformbedarf ? (3) Wie kann der irregulären Einreise po‐ litisch und rechtlich begegnet werden? Im Jahr 2018 operierte die Grenzschutzagentur Frontex auf 21 Schiffen. Über ihre tatsächliche Arbeit auf hoher See und im Mittelmeer ist wenig bekannt. In ihren Jahresberichten berichtet die Agentur zwar über die Zahl der aufgegriffenen Migranten, nicht jedoch über die Frage, ob Migranten nach Libyen zurückgeführt werden. Von Frontex aufgegriffene Migranten im Jahr 2018 Route Aufgegriffene Migranten Westliches Mittelmeer 56.800 (Operation Indalo) Zentrales Mittelmeer 23.300 (Operation Themis) Östliches Mittelmeer 55.900 (Operation Poseidon) Quelle: Frontex 2019b: 9. Schätzungsweise sind im Zeitraum 2015 bis 2019 mindestens 156.204 Men‐ schen von zivilen Seenotrettern vor dem Ertrinken im Mittelmeer und der Rückführung nach Libyen gerettet worden. In den Jahren 2015 bis 2017 wa‐ ren 15 Schiffe auf Initiative von Nichtregierungsorganisationen im Mittel‐ meer unterwegs, aktuell sind es nur eine Handvoll Schiffe. Bei der italienischen Seenotrettungsaktion Mare Nostrum, die Italien im Oktober 2013 startete und ein Jahr lang durchführte, wurden etwa 150.000 Menschen gerettet (IOM 2014). Italien rettete also aus eigener Kraft in einem 3.5 Streit um die europäische Grenzpolitik seit 2015 101 <?page no="102"?> 18 Italien kostete die Rettungsaktion nach eigenen Angaben 9 Mio. Euro monatlich, die Europäische Kommission förderte die Aktion mit 1,8 Mio Euro mit Mitteln aus dem Außengrenzenfonds für Notfallmaßnahmen (Europäische Kommission 2014b). Auf die italienische Operation folgte die von Frontex geleitete Operation Triton mit einem Drit‐ tel der Gelder (2,9 Mio. Euro). Zeitraum von zwölf Monaten ähnlich viele Menschen wie sechs zivile See‐ notrettungsorganisationen in einem Vierjahreszeitraum. 18 Gerettete Menschen durch zivile Seenotrettung Organisation Gerettete Menschen bis Mitte 2019 Sea Watch (gegründet 2015 in Berlin, Deutschland) 37.000 Sea-Eye (gegründet 2015 in Regensburg, Deutschland) 14.459 Pro Active Open Arms (gegründet 2015 in Badalona, Spanien) 59.866 Mission Lifeline (gegründet 2016 in Dres‐ den, Deutschland) 1.000 Jugend Rettet (gegründet 2015 in Berlin, Deutschland) 14.000 SOS Mediterranée (gegründet 2015 in Mar‐ seille, Frankreich) 29.879 gesamt 156.204 Quelle: Jugend Rettet 2019, Mission Lifeline 2019, Sea Eye 2019, Sea Watch 2019, SOS Mediteranné 2019. Trotz der kontinuierlich und deutlich zurückgehenden Zahlen von irregulä‐ rer Migration im zentralen Mittelmeer zeigte der italienische Innenminister Matteo Salvini von der Rechtsaußen-Partei Lega Nord im Sommer 2019 den‐ noch äußerste Härte im Umgang mit einzelnen Schiffen der zivilen Seenot‐ retter und verweigerte die Hafeneinfahrt und die Anlandung von einigen Hundert geretteten Migranten in Italien. Dies steht nicht nur in deutlichem Widerspruch zur italienischen Politik in den Jahren 2013 und 2014, sondern auch im Widerspruch zum kontinuierlichen Rückgang der Zahlen von irre‐ gulärer Migration im zentralen Mittelmeer (vgl. Tabellen in Kapitel 3. 4. 1). 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 102 <?page no="103"?> Frontex: Gerettete Migranten in den Jahren 2015 bis 2018 (Stand: 1. 4. 2019) Route Operation Start der Operation Gerettete Menschen Tot oder vermisst Westliches Mittel‐ meer Indalo 3. 5. 2017 79.851 Zentrales Mittel‐ meer Themis (zuvor: Triton) 1. 2. 2018 (zuvor: 1. 11. 2014) 254.986 Östliches Mittel‐ meer Poseidon 1. 1. 2016 94.457 GSVP-Mission Sophia 1. 6. 2015 44.916 Alle Routen 474.210 11.421 Quelle: Rat der EU 2019. Die Initiativen begannen 2014. Zivile Seenotretter berichteten von Angriffen durch die libysche Küstenwache, Anfeindungen durch europäische Akteure, insbesondere durch die italienische und maltesische Regierung, die ihnen Kooperation mit Schleppern vorwarfen und Hafeneinfahrten verwehrten. So wurde das Schuff Iuventa von Jugend Rettet im August 2017 wegen des Verdachts auf Zusammenarbeit mit Schleppern durch die italienische Staats‐ anwaltschaft beschlagnahmt. Ein Schiff der Mission Lifeline wurde im Som‐ mer 2018 von den maltesischen Behörden beschlagnahmt und gegen den Kapitän Claus-Peter Reisch ein Verfahren eingeleitet. Das Schiff soll nicht ordnungsgemäß registriert gewesen sein. Das Schiff Sea-Watch 3 wurde An‐ fang 2019 in Catania beschlagnahmt. Italien droht mit Geldstrafen (bis zu 10.000 Euro, im Sommer 2019 auf bis zu 1 Mio. Euro erhöht) wegen Beihilfe zur irregulären Einwanderung. Unterdessen verfolgte der deutsche Innenminister Horst Seehofer eine politische Initiative, um einen festen europäischen Verteilmechanismus für Flüchtlinge festzulegen, die von ziviler Seenotrettung aufgegriffen werden. Ein solcher Ansatz scheiterte zunächst bei einem Gipfeltreffen der Innen‐ minister im Sommer 2019. Im September vereinbarten die Innenminister von Malta, Frankreich, Italien und Deutschland dann einen freiwilligen Umver‐ teilungsmechanismus: Organisationen wie Sea Watch dürfen wieder in ita‐ lienische Häfen einlaufen und die Migranten betreten in Italien europäi‐ schen Boden. Es erfolgt eine kurze medizinische Untersuchung und eine 3.5 Streit um die europäische Grenzpolitik seit 2015 103 <?page no="104"?> Sicherheitsprüfung. Innerhalb von vier Wochen sollen die Geretteten dann auf die am Kompromiss beteiligten Staaten verteilt werden. Bei einer weiteren Innenministerkonferenz im Oktober desselben Jahres gelang es jedoch nicht, weitere Mitgliedstaaten von der Malta-Einigung zu überzeugen. Es blieb zunächst bei den vier Mitgliedstaaten, die auf Freiwil‐ ligkeit setzen. In deutlichster Opposition zum Umverteilungsplan zeigten sich die Tschechische Republik, Polen, Slowakei und Ungarn. Bulgarien, Zypern und Griechenland legten eigene Pläne zur Umverteilung und Soli‐ darität bei der Aufnahme von Migranten vor, die über die östliche Mittel‐ meerroute in diese Staaten einreisen. Ein Kompromiss steht weiter aus. Die Lage im Mittelmeer deutet auch auf das, was bereits lange auf der politischen Agenda steht: Es braucht Einreisemöglichkeiten für Asylsu‐ chende. Humanitäre Visa wären eine Möglichkeit dafür. Doch dafür gibt es weiterhin keinen politischen Ansatz. 3.6 Zusammenfassung und Literatur Das Wichtigste in Kürze Die europäische Grenzpolitik konzentriert sich auf die Kontrolle und Steue‐ rung der Einreisen in den Schengenraum. Durch die Aufhebung von Kon‐ trollen an den Binnengrenzen hat die Bedeutung wirksamer Kontrollen an den Außengrenzen zugenommen. Bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 war das Ziel formuliert, die Kontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen. Doch fehlte es an einem Mandat für die europäischen Institutionen entsprechende flan‐ kierende Maßnahmen zu erlassen. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (1993) erhielt die Europäische Union erste Kompetenzen für eine gemein‐ same Politik beim Grenzmanagement. Die Vergemeinschaftung dieses Po‐ litikfeldes wurde mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) fortgesetzt und im Vertrag von Lissabon (2009) abgeschlossen. Mit diesem Vertrag erhielten die europäischen Institutionen ein Mandat, ein integriertes Grenzschutzsystem aufzubauen. Der Vertrag von Amsterdam überführte den Schengener Besitzstand in Gemeinschaftsrecht. Fortan wurden Rechtsinstrumente den Schengenraum betreffend in den europäischen Institutionen entwickelt. Dazu zählten we‐ sentlich der Schengener Grenzkodex und der Visakodex. Der Schengener Grenzkodex (zunächst: VO (EG) Nr. 562/ 2006, inzwischen VO (EU) 2016/ 399) 3 Grenzpolitik der Europäischen Union 104 <?page no="105"?> harmonisierte Einreisekontrollen an den Außengrenzen und regelte Ver‐ fahren bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen. Der Visakodex legte fest, nach welchem Verfahren ein Vi‐ sum für den Schengenraum ausgestellt wird. Im Zuge des Visakodexes wur‐ den Listen erstellt, welche Staatsangehörige für die Einreise oder den Transit ein Visum benötigen bzw. davon befreit sind (zunächst: VO (EG) Nr. 539/ 2001, inzwischen VO (EU) 2018/ 1806). Wichtige Akteure an der Schnittstelle zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sind insbesondere bei Politikfeldern mit geteilter Zuständigkeit sogenannte Agenturen, die per Verordnung gegründet wur‐ den. Die wichtigste Agentur in der Grenzpolitik ist F R ONTEX , die 2004 ge‐ gründet und 2005 operativ wurde. Weitere Verordnungen aus den Jahren 2007 und 2011 erweiterten das Mandat der Agentur. 2016 erfolgte die Neu‐ gründung als Europäische Grenz- und Küstenwache. Frontex unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Koordinierung gemeinsamer Aktivitäten zur Kon‐ trolle der Außengrenzen. Die Agentur erstellt Risikoanalysen und liefert durch Interviews mit Migranten Hintergrundinformationen zu Migrations‐ motiven und -routen. Literatur zum Weiterlesen Grenzen und Recht: A G E NT U R D E R E U R O PÄI S C H E N U NI O N FÜR G R U ND R E C HT E , E U R O P A R AT . 2014. Handbuch Zu den Europarechtlichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration (Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union). A Z O U LAI , L O Ï C , and K A R IN D E V R I E S . 2014. EU Migration Law: Legal Complexities and Political Rationales (Oxford: Oxford University Press). B U C K E L , S O N J A . 2013. ‚Welcome to Europe‘ - Die Grenzen des europäischen Migra‐ tionsrechts: Juridische Auseinandersetzungen um das ‚Staatsprojekt Europa‘, (Bielefeld: transcript Verlag). K AU N E R T , C H R I S TIAN . 2010. European Internal Security: Towards Supranational Go‐ vernance in the Area of Freedom, Security and Justice? (Manchester: Manchester University Press). H AIL B R O NN E R , K A Y und D ANI E L T H Y M (H R S G .). 2016. EU Immigration and Asylum Law, 2. AUFLAGE (München: C. H. Beck Hart Nomos: Müchen). 3.6 Zusammenfassung und Literatur 105 <?page no="106"?> Allgemeines zur Grenzpolitik: A ND R E A S , P E T E R und T IM O TH Y S N Y D E R (Hrsg.). 2000. The Wall around the West: State Borders and Immigration Controls in North America and Europe (Lanham: Row‐ man & Littlefield) D E G E R , P E T R A , und R O B E R T H E TTLA G E (Hrsg.) 2007. Der europäische Raum: Die Konstruktion europäischer Grenzen (Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissen‐ schaften). 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Migration in the Mediterranean: Mechanisms of International Cooperation (Cambridge: Cambridge University Press). V AU G HAN -W IL LIAM S , N I C K . 2009. Border Politics: The Limits of Sovereignty (Edin‐ burgh: Edinburgh University Press). Journals mit laufenden Publikationen zum Thema: Common Market Law Review, Comparative European Politics, European Journal of Political Research, European Law Journal, European Political Science, European Po‐ litical Science Review, European Review, European Societies, European Union Po‐ litics, Journal of Contemporary European Studies, Journal of Borderland Studies, Journal of European Integration, Journal of Common Market Studies, 3.6 Zusammenfassung und Literatur 107 <?page no="109"?> 4 Asylpolitik der Europäischen Union Die Asylpolitik der Europäischen Union wuchs schrittweise in den 1990er Jahren über die Vertragsreformen in das Gemeinschaftsrecht hinein. Die Notwendigkeit dafür ergab sich aus dem Raum ohne Binnengrenzen. Die Asylzuwanderung in Folge des Jugoslawienkonfliktes in den 1990er Jahren verstärkte den politischen Druck, Regeln der Zuständigkeit für Asylprüfun‐ gen festzulegen. Zwar hat jeder Mensch das Recht darauf einen Asylantrag zu stellen (vgl. Art. 14 Abs. 1 AEMR). Kein Mensch hat jedoch ein Recht darauf, in einem bestimmten Staat einen Asylantrag zu stellen. Damit be‐ steht ein Grundproblem darin, dass es keine eindeutige Zuständigkeit für die Prüfung und Schutzgewährung gibt. Zudem werden Asylgesuche nicht ausschließlich gestellt wegen eines tatsächlichen Schutzbedarfs. Aufgrund begrenzter Zuwanderungsmöglichkeiten wird mitunter der Asylantrag ge‐ nutzt, um überhaupt europäischen Boden zu erreichen und daraufhin den Aufenthalt in Eigenregie zu verfestigen. Hier könnten nur alternative Ein‐ wanderungsbestimmungen Abhilfe schaffen. Asylzuwanderung als Spezialfall der Zuwanderung bedeutet auch spezi‐ elle Anforderungen an Integrationsbestrebungen, die auf traumatische Er‐ fahrungen der Schutzsuchenden Rücksicht nehmen. Abgesehen davon er‐ fordert Integration auf Seite der Gesellschaft die Bereitschaft Feindbilder abzubauen und Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten. Diese Aufgaben zählen als große Herausforderungen europäischer Gesellschaften, in denen populistische und nationalistische Strömungen zunehmen. Asylgewährung impliziert die Entscheidung eines Staates, in seinem Staatsgebiet einen in seinem Heimatstaat Verfolgung ausgesetzten Men‐ schen wie einen Bürger aufzunehmen. Die Verantwortung für die Prüfung eines Asylantrags ergibt sich, wenn eine Person im Wege eines Asylantrags bei einem Staat um Schutz nachfragt. Die Verantwortung zur Schutzgewäh‐ rung ist eine moralische und ethisch gerechtfertigte Verantwortung. Doch die Aufnahme von Flüchtlingen ist mit finanziellem Aufwand und auch ge‐ sellschaftlichen Integrationsaufgaben verbunden, ein Mehraufwand, bei dem es vermeintlich leichter ist, auf andere zu verweisen. Denn theoretisch könnte jeder Staat in Europa Schutz gewähren. Dieses Dilemma ist auch ein <?page no="110"?> Kernproblem des Streits um die europäische Asylpolitik, die 2015/ 2016 es‐ kalierte und weiterhin ungeklärt ist. Seit dem Vertrag von Lissabon (2009) zählt die Asylpolitik zur Politik im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Im Vertrag ist ein eindeu‐ tiger Auftrag formuliert, eine europäische Asylpolitik zu entwickeln, die im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention ist und schutzbedürftigen Menschen einen langfristigen Aufenthalt in einem der Mitgliedstaaten ge‐ währt: „Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten werden und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlige sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen.“ (Art. 78 Abs. 1 AEUV) Um diese Ziele zu erreichen, hat die Europäische Union im Zeitraum von 1999 bis 2013 in zwei Phasen mehrere Verordnungen und Richtlinien ver‐ abschiedet, die (1) eindeutig festlegen sollen, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist; (2) gleiche Standards und Kriterien bei der Beurteilung von Asylanträgen anlegen; (3) gemeinsame Mindest‐ normen bei der Aufnahme von Flüchtlingen festlegen. All dies dient dem Zweck, im gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzen gleiche Bedingungen bei der Asylgewährung zu schaffen. Es soll für einen Asylantragsteller keinen Unterschied machen, ob er in Italien oder Schwe‐ den seinen Asylantrag stellt. In jedem Mitgliedstaat sollen Flüchtlinge glei‐ che Bedingungen vorfinden. Die Realität zeigt jedoch, dass dies vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, sozio-ökonomischen und gesellschaftli‐ chen Unterschiede trotz der gemeinsam festgelegten Standards nicht ge‐ währleistet werden kann. In Estland oder der Slowakei gestellte Anträge wurden im Jahr 2015 deutlich seltener positiv beschieden als in Großbritan‐ nien oder den Niederlanden (Bauböck 2018: 151). Die Aufnahme in Italien oder Griechenland bedeutet für Asylsuchende eher Obdachlosigkeit als in Schweden oder Deutschland (Pelzer 2011: 265). Genau diese gravierenden Unterschiede sollten durch gemeinsame Rechtsinstrumente beseitigt wer‐ den, was jedoch bisher nicht erreicht werden konnte. Diese Situation hat sich im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise noch verschärft, da viele Mitgliedstaaten gezwungen waren in den Sozialsystemen einschneidende 4 Asylpolitik der Europäischen Union 110 <?page no="111"?> Einsparungen vorzunehmen, die letztlich auch die Asylpolitik betreffen (Trauner 2016: 312-315). Zunächst gilt es zu klären, was Asyl bedeutet (Kapitel 4. 1.), dazu wird der geschichtliche Kontext des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, in dem das heutige Asylkonzept entstanden ist (4. 1. 1). Die Kriterien der Genfer Flüchtlings‐ konvention aus dem Jahr 1951 prägen auch die heutige Asylpolitik, sie wer‐ den im Einzelnen besprochen (4. 1. 2). Daraufhin wenden wir uns den Kom‐ petenzen der Europäischen Union in der Asylpolitik zu (Kapitel 4. 2). Es wird nachgezeichnet, wie sich das Mandat für europäische Asylpolitik in den Verträgen der vergangenen 30 Jahre ausgedehnt hat (4. 2. 1) und nachgehal‐ ten, welche Rechtsinstrumente in der Asylpolitik genutzt werden (4. 2. 2). Dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem als Zusammenspiel verschie‐ dener Rechtsinstrumente widmet sich Kapitel 4. 3. Dazu zählen vor allem die Dublin-Verordnung (4. 3. 1), die Aufnahmerichtlinie (4. 3. 2), die Verfahrens‐ richtlinie (4. 3. 3) und die Anerkennungsrichtlinie (4. 3. 4). In Kapitel 4. 4. soll es dann um die Frage gehen, wie die Mitgliedstaaten die europäische Asyl‐ politik umsetzen. Dazu wird zunächst eingeordnet, wie sich die Lage des Asylschutzes in Europa darstellt (4. 4. 1). Zudem werden die Umsetzung der Dublin-Verordnung und daraus resultierende Probleme (4. 4. 2) sowie die Bedeutung andauernder Unterschiede bei Anerkennungsquoten besprochen (4. 4. 3). Abschließend werden die Konflikte in der Asylpolitik beleuchtet (Kapitel 4. 5), dazu zählt besonders die Migrations- und Asylschutzkrise im Jahr 2015 (4. 5. 1) sowie der seitdem andauernde politische Streit um die Ausrichtung der europäischen Asylpolitik (4. 5. 2). 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung Der Begriff Asyl stammt aus der lateinischen (asylum) bzw. der altgriechi‐ schen Sprache (ἄσυλον bzw. ἄσυλος). Darunter wird ein Zufluchtsort ver‐ standen, der (temporär) Schutz vor Gefahr und Verfolgung bietet. Die sprachliche Verankerung des Begriffs Asyl in der lateinischen und altgrie‐ chischen Sprache deutet bereits darauf hin, dass das Konzept eine zivilisa‐ torische Errungenschaft von Gemeinschaftspolitik ist. In diesem Kapitel soll geklärt werden: Was ist überhaupt Asyl? (4. 1. 1) Um diese Frage zu beantworten wird der Hintergrund der Genfer Flüchtlings‐ konvention beleuchtet (4. 1. 2), denn diese Konvention aus dem Jahr 1951 prägt auch unser heutiges Verständnis von Asyl. 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung 111 <?page no="112"?> 4.1.1 Was bedeutet Asyl? Zum Asylrecht zählen rechtliche Bestimmungen (Unionsrecht und nationale Gesetze), die den vorübergehenden Aufenthalt eines Schutzsuchenden legi‐ timieren und Vorgaben über die Feststellung des Schutzbedarfs machen. Das Asylrecht wird einerseits von einem Staat bzw. einer politischen Gemein‐ schaft gegenüber Schutzsuchenden gewährt. Andererseits kann sich ein In‐ dividuum darauf berufen, wenn es von seinem Heimatstaat keinen Schutz erhält. Als Flüchtling gilt in Europa, wer (1) über keine europäische Staats‐ zugehörigkeit verfügt oder staatenlos ist, (2) eine begründete Furcht vor Verfolgung hat aufgrund von Rasse, Religion, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, (3) sich außerhalb seines Hei‐ matstaates befindet und (4) sich nicht in der Lage sieht, von seinem Hei‐ matstaat geschützt zu werden. Das Asylrecht ist ein individuelles Recht, das es nach Allgemeiner Menschenrechtserklärung jedem Menschen ermög‐ licht, in einem anderen Staat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit um Schutz nachzusuchen. Ein Recht auf die Antragstellung in einem bestimm‐ ten Staat besteht jedoch nicht. Begriffe, Geschichte und Bedeutung Der Begriff Flüchtling bezeichnet eine Person, die sich außerhalb ihres Hei‐ matstaates befindet und aufgrund der dort erfahrenen Verfolgung entweder vom internationalen Flüchtlingswerk UNHCR oder von einem Drittstaat formal als Flüchtling anerkannt wurde. Anders als im medialen und alltäg‐ lichen Sprachgebrauch handelt es sich bei dem Begriff Flüchtling um eine Bezeichnung, die zugleich auf ein abgeschlossenes Antragsverfahren ver‐ weist. Solange ein Antragsverfahren läuft, wäre es korrekt von einem An‐ tragsteller oder Asylsuchenden zu sprechen. Die Europäische Kommission bevorzugt den Begriff internationaler Schutz, um auf einen Schutzstatus hinzuweisen. Dieser Begriff umfasst so‐ wohl den Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention als auch sub‐ sidiären Schutz, ein Schutzstatus der von der Europäischen Union geschaf‐ fen wurde und heutige Gefährdungen berücksichtigt, die von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht eingeschlossen werden. Hintergrund: Geschichte des internationalen Flüchtlingsrechts Auf Grundlage der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und der Genfer Flüchtlingskonvention wird Schutzsuchenden insbesondere wegen politi‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 112 <?page no="113"?> 19 Vgl. Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28. 07. 1951, Genf, besonders Art. 31, 33 (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention). scher und religiöser Verfolgung ein moralisches Recht auf Migration zuge‐ schrieben (Art. 14 Abs. 1 AEMR, Art. 1 Buchstabe A und Art. 31 Abs. 1 GFK). Die Vertragsstaaten verpflichteten sich mit dem Abkommen über die Rechts‐ stellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 durch internationales Recht dazu, keinen Menschen in ein Land zurückzuschicken, in dem diesem Tod oder Folter drohen (sogenanntes non-refoulement-Prinzip). 19 In der Genfer Flücht‐ lingskonvention ist zwar kein Recht auf Asyl festgeschrieben, das von Flüchtlingen beansprucht werden kann. Umgekehrt werden hingegen Si‐ tuationen formuliert, in denen Staaten die Notsituation eines Menschen an‐ erkennen, der wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen seiner po‐ litischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt wird (Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 1 lit. A und C). Diese staatlich ge‐ prägte Perspektive trägt Staaten als zentrale Akteure der Weltgemeinschaft die Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf. Rainer Keil stellt zurecht fest, dass sich das internationale Flüchtlingsrecht seit dem Abkommen von 1951 und dem dazugehörigen Protokoll von 1967 nicht substanziell fortentwickelt hat, sodass die definitorischen Maßstäbe fortgelten, die aus den historischen Erfahrungen von Faschismus und Ho‐ locaust resultierten und nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlagen des Flüchtlingsschutzes markierten (Keil 2009: 61). Besondere deutsche Verantwortung? Es ist unbestritten, dass das internationale Flüchtlingsrecht wesentlich aufgrund der Verfolgungshandlungen der Nationalsozialisten und dem damit verbundenen Holocaust entstanden ist. In der Judenverfolgung kulminierten die drei Verfolgungsgründe, die in die Genfer Flüchtlings‐ konvention Eingang gefunden haben: Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, Verfolgung aus religiösen und politischen Gründen. Einige Staaten verkannten die Dramatik und Eskalation der Juden‐ verfolgung in Deutschland und riegelten ihre Grenzen im Laufe des Zweiten Weltkrieges ab. Diese Tatsache erklärt wesentlich die Art. 31 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Demnach sollen Menschen zum einen nicht bestraft werden, wenn sie aufgrund einer akuten Ver‐ folgungssituation entgegen der gültigen Grenzbestimmungen einrei‐ sen (Art. 31). Zum anderen sollen sie nicht in ein Land zurückgeschickt 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung 113 <?page no="114"?> werden - also auch nicht an der Grenze abgewiesen werden -, in dem ihnen Gefahr für Leib und Leben drohen (Art. 33, sogenanntes Nicht‐ zurückweisungsprinzip, auch als non-refoulement bezeichnet). Vor diesem historischen Hintergrund hat die Bundesrepublik Deutsch‐ land in ihrem Grundgesetz besondere Verantwortung übernommen und ein Grundrecht auf Asyl verankert (Art. 16a). Die praktische Re‐ levanz dieses Artikels ist marginal. Weniger als 1 % der Asylsuchenden wird ein Schutzstatus wegen politischer Verfolgung im Sinne des Grundgesetzes zugestanden. Doch der Geist dieses Artikels versprüht eine besondere Verantwortung und transportiert eine Strahlkraft für Deutschland als sicheres Asylschutzland. In den 1990er Jahren wurde der grundrechtliche Asylschutz im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens und der damit verbundenen gestiegenen Asylzuwanderung auf die euro‐ päischen Verbindlichkeiten eingegrenzt. Es wird von Asylsuchenden nun erwartet, dass sie ihren Antrag im ersten sicheren Drittstaat stel‐ len, den sie erreichen. Diese rechtliche Veränderung trug zur Margi‐ nalisierung des Asylschutzes im Sinne des Grundgesetzes bei. Praktisch betrachtet übernimmt Deutschland trotz der grundgesetzli‐ chen Änderung weiterhin eine wichtige Rolle im Flüchtlingsschutz innerhalb der Europäischen Union, insbesondere während der Asyl‐ schutzkrise von 2015. 4.1.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR: Internationale Konvention und Organisation zum Flüchtlingsschutz Das heutige Verständnis von Asyl ist stark durch die Genfer Flüchtlingskon‐ vention von 1951 geprägt. Sie ist das Ergebnis der tragischen Situation ver‐ folgter Juden während des Zweiten Weltkrieges. Zunächst fanden viele Juden noch in anderen europäischen Staaten und in Nordamerika Schutz, solange bis diese Staaten ihre Einwanderungsgesetze verschärften und damit vielen Flüchtenden den Weg in den Asylschutz verwehrten. Um eine solche Kata‐ strophe nicht noch einmal zuzulassen, wurde die Genfer Flüchtlingskonven‐ tion 1951 verabschiedet, der inzwischen 145 Staaten weltweit beigetreten sind. Demnach soll Menschen Schutz gewährt werden, die aus ethnischen, politi‐ schen oder religiösen Gründen individuell verfolgt werden. Gleichzeitig wurde das persönliche Amt des Hohen Flüchtlingskommis‐ sars der Vereinten Nationen eingerichtet (United Nations High Commissioner 4 Asylpolitik der Europäischen Union 114 <?page no="115"?> for Refugees, UNHCR), dem ein Büro unterstellt wurde, das auch Flücht‐ lingsagentur genannt wird. UNHCR ist mit der Aufgabe betraut, Flüchtlin‐ gen und Staatenlosen Schutz zu bieten. UNHCR gilt als Nachfolgeorganisa‐ tion des Flüchtlingskommissariats des Völkerbundes (1920-1946). Das Mandat des Hohen Kommissars war zunächst auf drei Jahre begrenzt, in denen Menschen unterstützt werden sollten, die im Zuge des Zweiten Welt‐ krieges vertrieben worden waren. Heute ist UNHCR die wichtigste internationale, unabhängige und über‐ staatliche Organisation, die im Bereich Flucht und humanitärer Schutz tätig ist. Zu ihren wesentlichen Aufgaben zählen der Schutz von Menschen (u. a. in Flüchtlingslagern), die vor Verfolgung, Krieg und Gewalt fliehen sowie die Unterstützung von Staatenlosen, Binnenvertriebenen und freiwilligen Rückkehrern. In Krisensituationen stellt UNHCR lebenswichtige humani‐ täre Hilfe zur Verfügung. Darüber hinaus setzt sich die Flüchtlingsagentur für dauerhafte Lösungen ein, darunter Programme zur Umsiedlung, Inte‐ gration und freiwilliger Rückkehr. Zudem haben die Berichte von UNHCR über Krisenregionen und Flücht‐ linge weltweit eine große Bedeutung für Staaten bei der Bewertung von Fluchtgründen. UNHCR berichtet über die Zahl weltweit registrierter bzw. anerkannter Flüchtlinge, über Fluchtbewegungen, die Lage in Herkunfts‐ ländern und Asylsysteme in aufnehmenden Staaten sowie die Betreuung von Flüchtlingslagern. Das internationale Schutzregime ist stark auf Fluchtursachen und Krite‐ rien zur Schutzgewährung zugeschnitten, die in den 1940er und 1950er Jah‐ ren relevant waren. Als begründete Furcht gelten einerseits Verfolgung und andererseits die Abwesenheit von Schutz, denn das Zusammenspiel beider Komponenten macht erst die Flucht notwendig (Dörig et al. 2016: 1123, Rn 10). Zudem wird unterschieden zwischen subjektiven und objektiven Ele‐ menten der Verfolgungsangst: Das subjektive Element bezeichnet die Angst der Person, die Asylschutz beantragt. Dieses subjektive Element erfordert es, die Persönlichkeit eines Antragstellers in die Bewertung mit einzubezie‐ hen. UNHCR argumentiert in dieser Hinsicht, dass psychologische Reaktio‐ nen von Menschen auf ein und dieselbe Situation sehr unterschiedlich aus‐ fallen. Gerade in Bezug auf politische oder religiöse Überzeugungen kann eine Situation für den einen untragbar werden, während sie für den anderen tolerierbar ist (UNHCR 2013). Das objektive Element bezieht sich auf Fakten, die die Furcht vor Verfolgung begründen und in Zusammenhang mit Lage‐ 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung 115 <?page no="116"?> informationen über Herkunftsländer evaluiert werden (ausführlich zu sub‐ jektiver und objektiver Angst vor Verfolgung: Dörig et al 2016: 1123, Rn 10). Weiterhin kann bei den Verfolgungstatbeständen selbst unterschieden werden zwischen Verfolgungsgründen, die askriptiv, also unveränderlich zugeschrieben sind, wie die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Ethnie; oder aber solche Zugehörigkeiten, die bewusst gewählt wurden, wie Religion und politische Überzeugung. Eine Verleugnung der eigenen Überzeugungen darf jedoch von keinem Menschen eingefordert werden, weshalb Schutz vor Verfolgung in diesen Fällen genauso greift. Die sexuelle Identität ist ein per‐ sönlicher Schutzbereich, der erst seit einigen Jahren im europäischen Recht beim Flüchtlingsschutz berücksichtigt wird und von europäischen Gerich‐ ten inzwischen so gehandhabt wird wie Religionsausübung und politische Überzeugung, weil die sexuelle Identität einen elementaren Bestandteil der Lebensführung darstellt. Rasse oder nationale Zugehörigkeit Der primäre Verfolgungsgrund der Genfer Flüchtlingskonvention bezieht sich auf die Rasse oder nationale Zugehörigkeit einer Person. Dies resultiert unmittelbar aus den häufigsten Verfolgungsgründen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diskriminierung aufgrund der Rasse ist bis heute eins der häufigsten Motive, die zur Verfolgung führen und daher für die Einschät‐ zung der Verfolgungssituation von hoher Relevanz bleibt (Dörig et al. 2016: 1185, Rn 6). Als Rassen werden im weitesten Sinne verschiedene eth‐ nische Gruppen verstanden. Rassisch bedingte Verfolgung entsteht in Si‐ tuationen, in denen der Verfolger das Opfer als zugehörig zu einer anderen ethnischen Gruppe wahrnimmt und reale oder vermeintliche Unterschiede feststellt, die die Grundlage für sein Handeln (Verfolger) bzw. Grund der Verfolgungsangt (Verfolgter) sind (UNHCR Handbuch 2013: Rn 68-70). Ähnlich verhält es sich mit Verfolgung aufgrund nationaler Zugehörig‐ keit. Nicht nur Staatsangehörigkeit, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sprachlichen Gruppe können Verfolgungstatbestände sein. Daher gibt es Überlappungen mit Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Rasse. Im Kern geht es darum, dass der Verfolgungstatbestand mit Bezug zu einer politischen Gemeinschaft feststellbar ist, oft handelt es sich um Minderheiten innerhalb einer politischen Gemeinschaft, die sich eth‐ nisch, religiös oder sprachlich von der Mehrheit der Gesellschaft unter‐ scheiden. Verfolgungshandlungen können von politischen Maßnahmen der Benachteiligung und Ausgrenzung bis zum Genozid reichen. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 116 <?page no="117"?> Politische Verfolgung Die Verfolgung aus politischen Gründen bezieht sich auf die politischen Einstellungen und Handlungen eines Individuums, die von den herrschen‐ den Autoritäten nicht akezptiert bzw. toleriert werden (UNHCR Handbuch 2013: Rn 80-86). Da die freie Meinungsäußerung einen Grundpfeiler der freiheitlichen und demokratischen Ordnung ausmacht, gilt sie als bürgerli‐ ches Grundrecht, das es zu verteidigen gilt auch indem Verfolgten Schutz gewährt wird (Dörig et al. 2016: 1190-1191, Rn 19-22). Ein Verfolgungstat‐ bestand ergibt sich jedoch nicht allein aus von der herrschenden Klasse ab‐ weichenden Meinungen, sondern meistens erst in Verbindung mit politi‐ scher Aktivität, die den Behörden bekannt wird oder dem Schutzsuchenden zugeschrieben wird (UNHCR Handbuch 2013: Rn 80-86) Zugehörigkeit zu sozialer Gruppe Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe als Verfolgungstatbestand ist definitorisch am schwierigsten zu fassen. Auch im dem Handbuch von UNHCR findet sich nur eine allgemeine Definition, die von „Personen mit ähnlichem Hintergrund, Gewohnheiten oder sozialer Stellung“ spricht (UNHCR Handbuch 2013: Rn 77). Die Bedeutung des Schutzbedürfnisses aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe war deshalb schon mehrfach Streitthema vor den obersten europäischen Gerichten. Es gibt keine ausgearbeitete Liste, die definiert, wer aufgrund seiner Zu‐ gehörigkeit zu einer sozialen Gruppe unter Verfolgung leidet oder Loyali‐ tätskonflikten ausgesetzt ist. Als mögliche Gruppen gelten benachteiligte Personengruppen sowie Minderheiten innerhalb von politischen Gemein‐ schaften, wie bspw. Frauen, Homosexuelle oder bestimmte Stämme. In der Rechtsprechung sind inzwischen zwei Definitionstraditionen gängig, die eine sozialen Gruppe in Verbindung mit Verfolgung aufgrund bestimmter Merkmale oder der sozialen Wahrnehmung definieren: (1) Bestimmte Merkmale: Eine Gruppe von Menschen teilt ein unverän‐ derliches Merkmal (z. B. Geschlecht oder Ethnie) oder ein Merkmal, das von so grundlegender Bedeutung für die eigene Persönlichkeit ist (z. B. sexuelle Identität und Orientierung), dass niemand gezwungen sein sollte, dieses aufgeben zu müssen. In der Praxis zählen Frauen, Menschen mit Behinde‐ rung, Familien und Kinder oftmals zu sozialen Gruppen, die systematisch benachteiligt werden. 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung 117 <?page no="118"?> (2) Soziale Wahrnehmung: Unabhängig davon, ob eine Gruppe tatsächlich ein gemeinsames Merkmal teilt, wird eine Gruppe von der Gesellschaft ins‐ gesamt ausgegrenzt, was zur faktischen Diskriminierung führt. Vor dem EuGH wurde 2013 die Frage verhandelt, ob im Einzelfall wegen Homosexualität ein Verfolgungstatbestand im Sinne der Genfer Flüchtlings‐ konvention aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe festge‐ stellt werden kann. In diesem Fall befand der EuGH bezogen auf die Merk‐ male, dass die sexuelle Orientierung von grundsätzlicher Bedeutung für die Identität eines Menschen ist, dass niemand gezwungen werden sollte dieses Persönlichkeitsmerkmal zu unterbinden. Deshalb kann eine soziale Gruppe auch als eine Gruppe gelten, die die sexuelle Orientierung als gemeinsames Merkmal aufweisen (EuGH, X, Y und Z, C-199/ 12, C-200/ 12, C-201/ 12, Urteil vom 7. 11. 2013, EU: C: 2013: 720, Rn 46). Zudem tragen strafrechtliche Sanktionen dazu bei, dass Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Identität kriminalisiert und aufgrund „von der Norm abweichenden sexuellen Handlungen“ von der heterosexuellen Mehr‐ heit der Gesellschaft abgegrenzt werden, sodass ihre Existenz als unter‐ scheidbare soziale Gruppe mit eigener Identität verstärkt wird (EuGH, X, Y and Z, C-199/ 12, C-200/ 12, C-201/ 12, EU: C: 2013: 720, Rn 48). Zur Prüfung des Schutzbedarfs wandte der EuGH beide Kriterien kumu‐ lativ an und befand, dass es sich bei den Menschenrechtsverletzungen von Homosexuellen in drei verschiedenen afrikanischen Staaten (homosexuelle Handlungen werden mit einjährigen bis lebenslänglichen Gefängnisstrafen geahndet) um eine Verletzung von Rechten handele, die die Personen auf‐ grund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erleiden. Religiöse Verfolgung Religiöse Verfolgung definiert negativ, was das Recht auf Religionsfreiheit als europäisch geachtetes Grundrecht positiv festlegt: Religionsfreiheit be‐ inhaltet ein persönliches wie kollektives Recht auf Religionsausübung, das privat und öffentlich Gestalt annehmen kann. Zwei Elemente sind dabei von herausragender Bedeutung: (a) einerseits das Recht darauf einen theisti‐ schen, nichttheistischen oder atheistischen Glauben zu haben; (b) anderer‐ seits enthält das Religionsrecht die Möglichkeit, das eigene Leben im Ein‐ klang mit dem gewählten Glauben zu leben. Dies beinhaltet die Möglichkeit zur Teilnahme an Gottesdiensten oder anderen religiösen Handlungen. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 118 <?page no="119"?> 4.1.3 Die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention für den europäischen Asylschutz Die Europäische Union orientiert sich bei der Entwicklung ihrer Asylpolitik an der Genfer Flüchtlingskonvention. Sowohl die Verträge als auch die ein‐ zelnen Rechtsinstrumente beziehen sich direkt auf die Genfer Flüchtlings‐ konvention. In der Genfer Flüchtlingskonvention wird eine begründete Furcht vor Verfolgung definiert, während die europäischen Richtlinien zum Asyl darüber hinaus Fragen beantworten, wie z. B.: Wer ist möglicher schutz‐ bietender Akteur? Welche Regeln gelten beim internen Schutz, also beim Schutz der durch Dritte wie UNHCR innerhalb eines (Verfolgungs-)staates gewährt wird? Ein weit verbreiteter Irrglaube kommt in dem Begriff des Kriegsflüchtlings zum Ausdruck. Dieser suggeriert, dass Flucht vor Krieg bereits Grundlage für internationalen Schutz sei. Doch der Asylschutz ist sehr eng gefasst, höchstpersönlich und individuell, dem ein Zusammenspiel folgender Fak‐ toren zugrundeliegt: ein plausibler Verfolgungsgrund (Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung), eine erwartbare Verfolgungshandlung (durch einen staatlichen oder nicht-staatlichen Verfolgungsakteur), eine be‐ gründete Furcht vor Verfolgung (die sich aus dem Zusammenspiel des Ver‐ folgungsgrundes und der erwartbaren Verfolgungshandlung durch den Ver‐ folgungsakteur ergibt), dann kann einem Antragsteller internationaler Schutz zugesprochen werden, sofern dieser sich außerhalb seines Heimat‐ staates befindet. Bei der Bearbeitung eines Asylantrags gilt es entsprechend die vom Antragsteller dargestellte Verfolgungssituation zu überprüfen. Wenn ein Verfolgungsakteur und ein Verfolgungsgrund, sowie die begründete Furcht vor Verfolgung vorliegen und sich der Antragsteller außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dann besteht eine rechtliche Grundlage dafür, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen, die im Unionsrecht durch Art. 11 der Anerkennungsrichtlinie spezifiziert ist (Richtlinie 2011/ 95/ EU v. 13. 12. 2011, ABl. Nr. L 337/ 9 v. 20. 12. 2011, siehe hierzu ausführlich Dreyer-Plum 2017: 315-316 mwN). Die von der Genfer Flüchtlingskonvention bezeichneten Verfolgungs‐ gründe werden im Einzelnen in Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie (2011/ 95/ EU) genannt: 4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung 119 <?page no="120"?> (1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: a) Der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe; b) der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an re‐ ligiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind; c) der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zuge‐ hörigkeit zu einer Gruppe, dir durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandt‐ schaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird; d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn - die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder die Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und - die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. […] e) unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6 genannten po‐ tenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der An‐ tragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig ge‐ worden ist. Die Einleitung der Definitionen mit dem Wort „insbesondere“ verweist dar‐ auf, dass es sich hier nicht um Ausschluss-Definitionen handelt. Über die genannten spezifischen Definitionen hinaus können Verfolgungstatbe‐ stände auftauchen. Für die Definition der sozialen Gruppe ist in jedem Fall bemerkenswert, dass die beiden aus der Rechtsprechung bekannten Definitionsstränge der Merkmals- und Wahrnehmungsdefinition kumulativ zusammengeführt 4 Asylpolitik der Europäischen Union 120 <?page no="121"?> werden: Wenn eine Gruppe bestimmte Merkmale teilt und Ausgrenzungs‐ tendenzen von der Gesellschaft feststellbar sind, dann kann die Zugehörig‐ keit zu dieser sozialen Gruppe einen Verfolgungstatbestand erfüllen und ei‐ nen internationalen Schutzbedarf begründen (Anerkennungsrichtlinie 2011/ 95/ EU, Art. 10 Abs. 1 lit. d). Ein weiterer Rechtsstatus wird auf europäischer Ebene mit dem subsidiä‐ ren Schutzstatus eingeführt, der von Status und Umfang der Garantien un‐ terhalb des Schutzes der Genfer Flüchtlingskonvention angesiedelt ist. Er bietet Schutz in Notsituationen, die von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gedeckt sind. Ist ein Antragsteller konkreter Lebensgefahr ausgesetzt - sei es durch Menschenrechtsverletzungen oder aufgrund willkürlicher Gewalt innerhalb eines bewaffneten Konfliktes, die zu systematischen Men‐ schenrechtsverletzungen führen, dann kann ein subsidiärer Schutzstatus verliehen werden (Dreyer-Plum 2017: 316-317 mwN). 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik Ähnlich wie in der Grenzpolitik hat sich die Kompetenz der Europäischen Union in der Asylpolitik parallel zu den Bestrebungen entwickelt, einen eu‐ ropäischen Raum ohne Binnengrenzen zu schaffen. Mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) wurde der wichtigste Schritt vollzogen, die Asylpolitik ein Stück weit auf europäische Ebene zu heben. Bereits seit dem Schengener Abkommen von 1985 und dem Durchfüh‐ rungsübereinkommen von 1990 war klar, dass sich die beteiligten Staaten auf Kriterien einigen müssen, wonach ein Mensch im europäischen Raum einen Mitgliedstaat als Ansprechpartner für einen Asylantrag identifizieren kann bzw. wie die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates zur Bearbeitung eines Asylantrages festgelegt wird. Im Zentrum europäischer Asylpolitik steht die Zuschreibung der Zustän‐ digkeit für die Prüfung eines Asylantrags (4. 2. 1), das Mandat weitet sich je‐ doch in den Verträgen zwischen den 1990er und 2000er Jahren sukzessive aus. Auf Grundlage der Verträge entwickelt die Europäische Union Rechtsin‐ strumente, die den Charakter der europäischen Asylpolitik prägen (4. 2. 2.). 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik 121 <?page no="122"?> 4.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Asylpolitik Im Zentrum der europäischen Asylpolitik steht die Frage, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Diese Ausrichtung ist fortwäh‐ rend der Anker aller europäischen asylpolitischen Überlegungen in der Eu‐ ropäischen Union seit dem Abschluss des Schengener Abkommens 1985. Die Ausrichtung der europäischen Asylpolitik auf die Klärung der Zu‐ ständigkeit ist hauptsächlich zwei Gründen geschuldet: Erstens sollte ver‐ mieden werden, dass Asylsuchende lediglich in demjenigen Mitgliedstaat Asyl beantragen, wo sie die besten Aufnahmebedingungen und Anerken‐ nungsquoten erwarten (sogenanntes forum-shopping). Asylsuchende sollten sich ihren Schutzstaat also nicht selbst aussuchen können. Zweitens sollte verhindert werden, dass sich kein Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asyl‐ antrags bereit erklärt und die Asylsuchenden als refugees in orbit von einem an den nächsten Staat weiter verwiesen werden (zu beiden Phänomenen: Hailbronner und Thym 2016b: 1024). Mit dem Dubliner Übereinkommen wurde 1990 der erste Regelsatz zur Zuständigkeit festgelegt. Damit ist das erste Mandat für europäische Asyl‐ politik außervertraglich verankert. Erst gut zehn Jahre später wurde dieses Mandat im Vertrag von Amsterdam im europäischen Recht verankert. 1993 wurde die Asylpolitik im Vertrag von Maastricht als Angelegenheit „von gemeinsamem Interesse“ definiert und noch vor Vorschriften zur Über‐ schreitung von Außengrenzen genannt (Artikel K.1 Nr. 1 EGV-Maastricht). Politische Entscheidungen verblieben zu diesem Zeitpunkt noch im Bereich der Koordinierung und unterlagen intergouvernementalen Entscheidungs‐ prozessen, sodass insgesamt kaum asylpolitisch relevante Instrumente ent‐ standen. Erst im Vertrag von Amsterdam erielten die europäischen Institutionen nennenswerte Kompetenzen in der Asylpolitik (Art. 63 Nr. 1 und 2, Art. 64 Abs. 2 EGV-Amsterdam). Der Vertrag nannte konkrete Mandate für den Er‐ lass europäischer Asylpolitik, darunter die Ausarbeitung von Rechtsinstru‐ menten zur Aufnahme von Asylsuchenden, Regeln bei Asylverfahren, Kri‐ terien zur Anerkennung von Asylsuchenden als Flüchtlinge und das bisher als Dubliner Übereinkommen bekannte Rechtsinstrument, das nach fairen und objektiven Kriterien denjenigen Mitgliedstaat bestimmt, der für die Prüfung und die Gewährleistung aller damit verbundenen Rechte verpflich‐ tet ist. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 122 <?page no="123"?> Art. 63 EGV-Amsterdam: Der Rat beschließt gemäß dem Verfahren des Artikels 67 innerhalb eines Zeit‐ raums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam 1. in Übereinstimmung mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 und dem Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie ein‐ schlägigen anderen Verträgen Asylmaßnahmen in folgenden Bereichen: a) Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat; b) Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten; c) Mindestnormen für die Anerkennung von Staatsangehörigen dritter Länder als Flüchtlinge; d) Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft; 2. Maßnahmen in bezug [sic! ] auf Flüchtlinge und vertriebene Personen in fol‐ genden Bereichen: a) Mindestnormen für den vorübergehenden Schutz von vertriebenen Personen aus dritten Ländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, und von Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen; b) Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Auf‐ nahme von Flüchtlingen und vertriebenen Personen und den Folgen dieser Auf‐ nahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten; Mit der rechtlichen Neuaufstellung der Europäischen Union durch den Ver‐ trag von Lissabon erfolgte eine weitere Übertragung von Kompetenzen, die die Asylpolitik vollständig in den Unionsbereich transferierte (Art. 78 AEUV). Das gemeinsame europäische Asylsystem soll demnach Folgendes umfassen: a) einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsan‐ gehörige; b) einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen c) eine gemeinsame Regelung für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms; d) gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus beziehungsweise des subsidiären Schutzstatus; 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik 123 <?page no="124"?> e) Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständig ist; f) Normen über die Aufnahmebedingungen von Personen, die Asyl oder subsi‐ diären Schutz beantragen; g) Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittländern zur Steuerung des Zu‐ stroms von Personen, die Asyl oder subsidiären beziehungsweise vorübergehen‐ den Schutz beantragen. (Art. 78 Abs. 2 AEUV) Auf Grundlage dieses Mandats wurden die unter dem Vertrag von Amster‐ dam ausgearbeiteten Rechtsinstrumente neu gefasst, tatsächlich aber haupt‐ sächlich durch minimale Änderungen reformiert (Dreyer-Plum 2017: 332-412). Der Vertrag von Lissabon sah die Schaffung eines einheitlichen europäi‐ schen Asylstatus im Einklang mit Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonven‐ tion vor (Art. 78 Abs. 2 AEUV), der bisher jedoch noch nicht erreicht wurde. Der Genfer Flüchtlingskonvention selbst ist die Europäische Union nicht beigetreten, doch in Art. 78 Abs. 1 AEUV bindet sie sich an die Genfer Flüchtlingskonvention. Sie übernimmt die Ansicht, dass die Genfer Flücht‐ lingskonvention und die darin verbrieften Rechte geachtet werden durch Gewährung des Asylrechts. Dies geschieht auf Grundlage der gemeinsamen Asylpolitik, die im Rahmen der gültigen Verträge ausgearbeitet wird. Mat‐ thias Rossi interpretiert Art. 78 AEUV jedoch lediglich als eine „Aufgaben- und Komptenzzuweisungsnorm“ (Calliess/ Ruffert/ Rossi 2016: Art. 78 AEUV Rn 3). Sie sei „rein organisationsrechtlicher Natur und gewährt kein sub‐ jektives Recht auf Asyl“ (Calliess/ Ruffert/ Rossi 2016: Art. 78 AEUV Rn 3, ähnlich Grabitz/ Hilf/ Nettesheim/ Thym 2015: Art. 78 AEUV Rn 16). Eine substanziellere Fundierung des Asylrechts als Menschenrecht lässt sich in der Grundrechtecharta vermuten. Doch auch aus Art. 18 GRCh ist die Ab‐ leitung eines Rechts auf Asyl strittig (Calliess/ Ruffert/ Rossi 2016: Art. 78 AEUV Rn 3). Denn das Asylrechtsverständnis in Art. 18 GRCh fußt ebenfalls auf der Genfer Flüchtlingskonvention. 4.2.2 Prägende Rechtsinstrumente der gemeinsamen Asylpolitik Die EU orientiert sich bei der Gestaltung ihrer Asylpolitik an den Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention und dabei insbesondere am Nichtzurück‐ weisungsprinzip. In dem Wissen, dass es heute über die in den 1940er und 4 Asylpolitik der Europäischen Union 124 <?page no="125"?> 1950er Jahren formulierten Definitionen hinaus Schutzbedarf gibt, hat die Europäische Union in ihrem Asylrecht einen erweiterten Schutztitel einge‐ führt, wonach sich auch Bürgerkriegsflüchtlinge auf Schutzbedarf berufen können. Zur Prüfung eines Schutzantrags kann es nur kommen, wenn sich ein Antragsteller im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats aufhält. Doch Asyl‐ suchende können keine Einreise in Verbindung mit einem Asylgesuch be‐ antragen. Für international Schutzbedürftige gibt es - abgesehen vom Um‐ siedlungs-Programm - keine Möglichkeit aufgrund ihres Schutzgesuchs einzureisen. Der Zugang zum europäischen Schutzsystem ist deshalb de facto nur irregulär möglich, also entgegen der rechtlichen Einreisebestim‐ mungen. Hunderttausende Menschen versuchten in den vergangenen 20 Jahren aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Min‐ destens 30.000 von ihnen haben diesen Versuch bereits mit ihrem Leben bezahlt (International Organization for Migration 2017). Diese Tatsache zeigt den Europäern das Spannungsverhältnis zwischen den ureigenen Wer‐ ten unveräußerlicher Menschenrechte auf Leben und Sicherheit einerseits und einer auf Exklusion gerichteten Grenzpolitik andererseits auf. Letztere konzentriert sich in diesem Spannungsverhältnis weiterhin auf Strategien, die ungeregelte Zuwanderung zu unterbinden. Die höchsten Hürden beste‐ hen daher darin, überhaupt die EU zu erreichen, um einen Asylantrag zu stellen. Erste Rechtsinstrumente für eine gemeinsame Asylpolitik Die Richtlinie zum vorübergehenden Schutzstatus 2001/ 55/ EG v. 20. 7. 2001 ist der erste verbindliche Rechtsakt der europäischen Institutionen zum Asylschutz (ABl. Nr. L 212/ 12 v. 7. 8. 2001). Er soll den unbürokratischen vorübergehenden Schutz von Menschen gewährleisten, ohne einen Asyl‐ status zu überprüfen. Für diesen Schutzstatus gibt es kein Äquivalent im Völkerrecht, weshalb alle Regeln zur Erteilung dieses Schutzstatus sowie der damit verbundenen Rechte und Pflichten vom europäischen Gesetzgeber abhängen (Hailbronner und Thym 2016b: 1035, Rn 23). Zudem ist diese Richtlinie noch nie aktiviert worden, sodass der darin konzipierte Schutztitel bisher keine praktische Relevanz hatte. Es folgte die Ausarbeitung der Dublin- und Eurodac-Verordnungen sowie der Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungsrichtlinien in den Jahren 2003 bis 2005, die das Fundament für das Gemeinsame Europäische Asyl‐ system legten. In der Literatur werden diese Instrumente kritisch gesehen, 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik 125 <?page no="126"?> da sie überaus detaillierte Regelungen enthalten, die einerseits wenig Spiel‐ raum für die Mitgliedstaaten lassen und andererseits aufgrund ihres Detail‐ reichtums unübersichtlich sind und den erreichten asylpolitischen Besitz‐ stand des Unionsrechts verschleiern (Hailbronner und Thym 2016b: 1025; Dreyer-Plum 2017: 258-332). Richtlinien und Verordnungen für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (1999-2005) Neue Instrumente auf europäischer Ebene sollten den klassischen Flücht‐ lingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ergänzen. Dies be‐ rücksichtigt die zunehmenden push-Faktoren für Asylsuche, darunter Bür‐ gerkriege, willkürliche Gewalt und Terrorismus. Um einem erweiterten Schutzbedarf Rechnung zu tragen, gibt es auf europäischer Ebene inzwi‐ schen Konzepte wie subsidiären und vorübergehenden Schutz. Beide Rechtsstellungen sind nicht mit Schutzkategorien des Völkerrechts ver‐ gleichbar. Der vorübergehende Schutz ist ein Instrument, das im Zuge des Jugoslawien-Konfliktes entwickelt wurde. Die Idee ist, dass Menschen eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis erhalten, bis sich die Situation in ih‐ rem Heimatland wieder stabilisiert hat. Der subsidiäre Schutz wurde erstmalig in Art. 15 der Anerkennungsricht‐ linie 2004/ 83/ EG v. 29. 3. 2004 festgeschrieben (ABl. Nr. L 304/ 12 v. 30. 9. 2004, reformiert durch Anerkennungsrichtlinie 2011/ 95/ EU, ABl. Nr. L 337/ 9 v. 20. 12. 2011). Der subsidiäre Schutzstatus kann als zielstaatsbezogener Ab‐ schiebeschutz verstanden werden. Anders als der individualbezogene Flüchtlingsstatus berücksichtigt der subsidiäre Schutzstatus auch kollektive Gefährdungssituationen wie Bürgerkriege. Hier entstehen für den Einzelen Gefahren für Leib und Leben aus der kollektiven Bedrohungslage, ohne dass eine individuelle Gefährdungssituation aufgrund bestimmter Merkmale vor‐ liegt. Neben Bürgerkriegen können auch Naturkatastrophen und Hungers‐ nöte den subsidiären Schutzstatus begründen (Calliess/ Ruffert/ Rossi 2016, Art 78 Abs. 1 AEUV Rn 6). Die Dublin-Verordnung ist ein wesentliches Instrument zur Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen im europäischen Asylsystem (Verord‐ nung (EU) Nr. 604/ 2013 v. 26. 6. 2013, ABl. Nr. L 180/ 31 v. 29. 6. 2013). Dem‐ nach ist für die Prüfung eines Asylantrags derjenige Staat zuständig, der die engste rechtliche Verbindung zum Schutzsuchenden aufweist. Das ist in den allermeisten Fällen durch das Prinzip der Ersteinreise begründet. Dieses Prinzip wird zweitrangig, wenn ein Asylsuchender Familienangehörige in 4 Asylpolitik der Europäischen Union 126 <?page no="127"?> einem anderen Mitgliedstaat hat oder zu einem früheren Zeitpunkt ein Vi‐ sum von einem Mitgliedstaat erhalten hat. Das faktisch in dieser Regelung bedeutsamste Prinzip der Ersteinreise zieht vor allem Mitgliedstaaten mit Außengrenze zur Verantwortung irreguläre Einreisen zu unterbinden. Wenn anhand der Dublin-Verordnung festgestellt ist, welcher Staat zu‐ ständig ist, kann das eigentliche Antragsverfahren beginnen. Für ein gere‐ geltes Verfahren in allen Mitgliedstaaten sorgt die Verfahrensrichtlinie (zu‐ nächst Richtlinie 2005/ 85/ EG v. 1. 12. 2005, ABl. Nr. L 326/ 13 v. 13. 12. 2005, reformiert durch Richtlinie 2013/ 32/ EU v. 26. 6. 2013, ABl. Nr. L 180/ 60 v. 29. 6. 2013). Es fällt auf, dass die Verfahrensrichtlinie bemerkenswert viele Rechte der Asylantragsteller festlegt, die sie gegenüber dem Staat einfordern dürfen: das Recht auf ein Verfahren, das Recht auf persönliche Anhörung, das Recht auf rechtliche Beratung, das Recht auf Kontakt zu Vertretern vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen sowie schließlich das Recht auf Anfechtung einer ablehnenden Entscheidung. Die Aufnahmerichtlinie legt fest, welche Art der Versorgung die Mit‐ gliedstaaten als aufnehmende Staaten absichern müssen (Richtlinie 2003/ 9/ EG v. 27. 1. 2003, ABl Nr. L 31/ 18 v. 6. 2. 2003, reformiert durch Richtlinie 2013/ 33/ EU v. 26. 6. 2013, ABl. Nr. L 180/ 96 v. 29. 6. 2013). Dazu zählen die Ausstellung eines Identitätsdokuments innerhalb von drei Tagen und die Gewährung einer vorübergehenden Aufenthaltsgenehmigung bis über den Schutzstatus entschieden wurde. Die Versorgungsleistungen zum Unterhalt sollen den Grundleistungen der nationalen Sozialhilfe entsprechen, gesund‐ heitliche Versorgung einschließen und „menschenwürdige Lebensbedin‐ gungen“ garantieren (Richtlinie 2003/ 9/ EG: Erwägung 7; Richtlinie 2013/ 33/ EU, Erwägung 11, Art. 5, Art. 17 Abs. 3, Art. 19). Der Zugang zu beruflicher Bildung und zu integrationsfördernden Maßnahmen wie Sprachunterricht wird in dieser Richtlinie geregelt, ebenso wie der Ausschluss vom Arbeits‐ markt bis zu einem Jahr. Im Verfahren wird die individuelle Lage überprüft und Verfolgungserfah‐ rung sowie Verfolgungsgrund durch Asylbehörden nachvollzogen (dazu: Verfahrensrichtlinie 2005/ 85/ EG, inzwischen 2013/ 32/ EU), bis festgestellt werden kann, ob es sich um eine begründete Gefährdung handelt, die einen Schutzstatus und damit einen Aufenthaltstitel in der EU begründet. Dies wird aufgrund der Situation im Heimatland und unter Berücksichtigung völker-, unionsrechtlicher und nationaler Vorgaben festgestellt. Die Flücht‐ lingseigenschaft gründet in der internationalen Schutznorm der Genfer Flüchtlingskonvention, wird ausgelegt durch Art. 11 der Anerkennungs‐ 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik 127 <?page no="128"?> 20 Dieser Kompromiss geht auf den Rat der Europäischen Union zurück, der Aussetzungen von Überstellungen kategorisch ablehnte, vgl. Rat der Europäischen Union 2012: 8. richtlinie und in nationales Recht umgesetzt (Richtlinie 2004/ 83/ EG, inzwi‐ schen 2011/ 95/ EU). Sie gilt als höchster Rechtsstatus innerhalb des Flücht‐ lingsschutzes. Um den europäischen Schutzstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu erlangen, spielt der Verfolgungsgrund eine ent‐ scheidende Rolle. Darunter wird eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Reli‐ gion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen po‐ litischer Überzeugung verstanden. Der Verfolgungsgrund muss in Zusammenhang mit einer begründeten Furcht vor Verfolgung stehen, also einer erwartbaren Verfolgungshandlung. Damit wird die Gefahr umschrie‐ ben, einen „ernsthaften nicht gerechtfertigten Schaden“ zu erleiden, wenn der Schutzsuchende unmittelbar in sein Land zurückkehren würde (Euro‐ päische Kommission 2002: Art. 11 Abs. 1 lit. a). Reformen von 2009 bis 2013 Trotz der präzisen Kriterien und Standards der Rechtsinstrumente stellte die Europäische Kommission große Unterschiede zwischen den Asylsystemen der Mitgliedstaaten fest (Europäische Kommission 2008a: 5). Sowohl die Aufnahmeleistungen als auch die Anerkennungsquoten von Antragstellern aus denselben Herkunftsländern variierten stark. Mit relativen Standards, die im zwischenstaatlichen Vergleich unterschiedlich ausfallen, ließ sich keine Harmonisierung der Leistungen über die Systeme hinweg herstellen. Die Kommission machte daher Effizienz durch Reduzierung der Sekun‐ därmigration auf Grundlage harmonisierter Standards zu ihrem Kernanlie‐ gen im Reformprozess zur zweiten Phase der Rechtsetzung im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, die 2008 begann (Europäische Kommission 2008a: 8). Die Idee war, dass bei einer Angleichung der Bedingungen für Asylsuchende kein Standort in der EU interessanter ist als ein anderer und entsprechend dieser Systemlogik keine Notwendigkeit für Sekundärwan‐ derungen bestehe. Die Pläne der Kommission waren ambitioniert (Europäische Kommission 2008a: 11), doch die tatsächlichen Änderungen sind von geringer Bedeutung. In der neuen Dublin-Verordnung (EU) Nr. 604/ 2013 sind Mechanismen der Frühwarnung verankert, um einer Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems präventiv vorzubeugen (Verordnung (EU) 604/ 2013: Art. 33). 20 In der Verfahrensrichtlinie ist das Anhörungsrecht gestärkt worden, das 4 Asylpolitik der Europäischen Union 128 <?page no="129"?> ausdrücklich bei regulären und beschleunigten Verfahren gilt und damit den kosmopolitischen Gedanken verstärkt, sich Gehör zu verschaffen und auf‐ grund der Schutzbedürftigkeit eine neue Gemeinschaft zu suchen (Richtlinie 2013/ 32/ EU, Art. 15). Neben diesem Anhörungsrecht sind weitere Versor‐ gungsrechte für Antragsteller festgeschrieben, die über die allgemeine Hos‐ pitalität hinausgehen (Richtlinie 2013/ 33/ EU, Art. 17). Die Formulierungen sind allerdings weiterhin an den jeweils nationalen Konzepten wie der So‐ zialhilfe oder der Unterbringungsleistung für Wohlfahrtsbedürftige orien‐ tiert. Ergebnis dieser Verfahren waren auch stärkere Bemühungen um prakti‐ sche Kooperation in der Asylpolitik. Die Einrichtung des Europäischen Un‐ terstützungsbüros für Asylfragen im Jahr 2010 durch die Verordnung (EU) Nr. 439/ 2010 soll die Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts unterstützen und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich Asyl fördern (European Asylum Support Office, kurz: EASO). Konkret bedeutet dies, dass das Unterstützungsbüro den Mitgliedstaaten (1) Auskunft über Herkunftsländer gibt, (2) Wissen über das EU-Asylrecht verbreitet, (3) die Mitgliedstaaten unterstützt, die Schwierigkeiten im Asylsystem haben - worunter auch die Entsendung von Notfallunterstützungsteams fällt, was an die Soforteinsatzteams von Frontex erinnert (EASO Verordnung (EU) Nr. 439/ 2010, ABl. Nr. 132/ 11 v. 29. 5. 2010). Ähnlich wie Frontex befindet sich das Unterstützungsbüro für Asylfragen an einer Schnittstelle zwischen der Europäischen Union und den Mitglied‐ staaten und ist mit einem umfassenden Aufgabenspektrum betraut. Kay Hailbronner und Daniel Thym weisen ausdrücklich darauf hin, dass der ak‐ tuell gültige Art. 78 AEUV keine ausreichende Grundlage für eine föderale Asylbehörde auf europäischer Ebene liefert. Auf Grundlage des geltenden Vertragsrechtes ist es daher nicht möglich, dass die Europäische Union durch eine einzurichtende Behörde anstelle der nationalen Behörden Asylanträge prüft (Hailbronner und Thym 2016b: 1037, Rn 27). Weiterhin ist der Asyl‐ status national geprägt und sogar mit nationalen Auflagen zur Bewegungs‐ freiheit bzw. Residenzpflicht versehen - ganz im Gegenteil zu den Freizü‐ gigkeiten, die Unionsbürger genießen (Dörig et al. 2016: 1115, Rn 2). Im europäischen Raum ohne Binnengrenzen genießen Flüchtlinge und Dritts‐ taatsangehörige nicht die gleichen Freizügigkeitsrechte wie Unionsbürger. Die Bewegungsfreiheit kann vom nationalen Gesetzgeber an wirtschaftliche Unabhängigkeit, Sprachkenntnisse oder die Arbeitsmarktsituation geknüpft sein (Hailbronner und Thym 2016b: 1032, Rn 17). 4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik 129 <?page no="130"?> Humanitäre Visa Weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch das Unionsrecht ermöglichen Zugang zu einem europäischen Staat, um Asyl zu beantragen bzw. Zugang zum Asylverfahren zu erhalten (Dörig et al. 2016: 1119, Rn 15). Da diese Rechtsinstrumente die Regeln für die Anerkennung als Flüchtling festlegen, wäre die Einbindung einer Zugangsordnung hier sinnvoll angelegt. Lediglich das Nichtzurückweisungsprinzip ist in beiden Rechtsordnungen ausdrücklich verankert, was jedoch in deutlichem Widerspruch zur nicht vorhandenen Zugangsregelung steht. Die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten steht offiziell seit langem auf der politischen Agenda. Von der deutschen Bundes‐ regierung wird sie mit dem Ziel der Schlepperbekämpfung verknüpft und soll durch Resettlement-Programme realisiert werden (Bünger und Greuter 2017: 83). Die Europäische Kommission nennt in ihrem Fortschrittsbericht von 2017 das Ziel, legale Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende insbesondere durch Neuansiedlung zu schaffen (Europäische Kommission 2017: 14-15). Was die Kommission nicht anspricht, sind legale Einreisemöglichkeiten zur Antrag‐ stellung. Die Neuansiedlungsprogramme stützen sich oft auf die Expertise von UNHCR und Drittstaaten, die eine Vorprüfung vornehmen und Empfehlun‐ gen aussprechen. Doch auch die EU-Staaten könnten Vorabprüfungen in ih‐ ren Botschaften durchführen. Es wäre denkbar, dass Kriegsflüchtlinge huma‐ nitäre Visa erhalten, um mit diesen Visa in die EU legal einzureisen und ein Asylverfahren anzustrengen. Genau mit einem solchen Fall ist eine christ‐ lich-orthodoxe Familie aus Syrien in einem Eilverfahren bis zum EuGH vor‐ gedrungen (EuGH: X und X vs. Belgien, C-638/ 16, Urteil vom 7. 3. 2017, ECLI: EU: C: 173, Rn 44-45). Die fünfköpfige Familie hatte ein zeitlich befriste‐ tes humanitäres Visum (90 Tage) bei der belgischen Botschaft in Beirut/ Liba‐ non beantragt, das ihnen jedoch verwehrt wurde. Während der Generalanwalt argumentierte, dass ein humanitäres Visum erteilt werden müsse, weil eine Unterlassung zu einer Verletzung des Art. 4 GRCh führen könnte (Endres de Oliveira 2017: 613), kamen die Richter des EuGH zu einem anderen Ergebnis. Der EuGH entzog sich der Prüfung einer Grundrechtskonformität mit Verweis darauf, dass es kein europäisches Se‐ kundärrecht zur Einreise aus humanitären Gründen gebe (EuGH, C-638/ 16, Rn 44-45, dazu Ruffert 2017: 704). In der Argumentation des EuGH hatten die Antragsteller ihr Recht auf ein humanitäres Visum spätestens dann verwirkt, als sie die Motivation für ein humanitäres Visum offenlegten (Asylantragstel‐ lung in der EU), was außerhalb der Bestimmungen des Visakodexes und da‐ mit außerhalb sekundärrechtlicher Bestimmungen läge (EuGH, C-638/ 16, Rn 4 Asylpolitik der Europäischen Union 130 <?page no="131"?> 49-50). Deshalb könnten die Anträge wie geschehen nach nationalem Recht in einer Botschaft begutachtet und entsprechend auch abgelehnt werden (Endres de Oliveira 2017: 614). Widersinnig im Sinne des Flüchtlingsschutzes ist daran folgende kontrafaktische Überlegung, auf die Matthias Ruffert hin‐ weist: Wäre es den Antragstellern gelungen über eine irreguläre Fluchtroute in die EU einzureisen, hätten sie ihren Schutzbedarf substantiieren können und aller Voraussicht nach Schutz erhalten (Ruffert 2017: 704). Hier scheitert die Schutzgewährung erneut am Zugang zum Schutzraum. Diese Problematik zeigt den Vorrang der Grenzvor der Asylpolitik auf, die im Territorialitätsprinzip Ausdruck findet. Deshalb ist die Entscheidung von substanzieller Bedeutung für den Zugang zum Asylverfahren im sekundär‐ rechtlich geregelten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem: Es geht um nichts weniger als den Zugang zum Asylsystem überhaupt (Endres de Oli‐ veira 2017: 614). Es muss daher Aufgabe der Politik sein, Rechtsmittel zu schaffen, die den legalen Zugang zum Schutz ermöglichen (Ruffert 2017: 704). Im Gegensatz dazu zementierte der EuGH durch die Entscheidung das Visarecht als getrennten Rechtsbereich vom internationalen Schutz. Dieser soll gerade nicht über den Umweg eines Visumsantrags erlangt werden können (Ruffert 2017: 704). Damit stützt sich das Gericht auch auf Art. 3 der Verfahrensrichtlinie 2013/ 32/ EU, die eine Antragstellung bei Botschaften der Mitgliedstaaten ausdrücklich ausschließt und motiviert zukünftige Vi‐ sum-Antragsteller dazu, ihre Absichten zu verschweigen und erst nach der Ankunft in der EU mit einer Asylantragstellung zu offenbaren (Kaufhold 2017: 72) bzw. irreguläre Einreisen zu verfolgen. 4.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Asylpolitik: Gemeinsames Europäisches Asylsystem Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ klingt nach einem föderalen Asylsystem, ist tatsächlich aber die Bezeichnung für mehrere Richtlinien und Verordnungen, die seit den 2000er Jahren einige gemeinsame Minimal‐ standards in der Asylpolitik festlegten. Als politisches Ziel fand das Ge‐ meinsame Europäische Asylsystem erstmalig im Strategieprogramm von Tampere (1999) Erwähnung und wurde später im Vertrag von Lissabon (2009) verankert. Die vier wichtigsten Instrumente dieses Systems wurden bereits skizziert und werden in diesem Kapitel im Detail besprochen. Dazu 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 131 <?page no="132"?> wird jeweils auf den rechtlichen Hintergrund, den Regelungsinhalt und Kri‐ tik am Rechtsinstrument eingegangen, darunter die Dublin-Verordnung (4. 3. 1), die Aufnahmerichtlinie (4. 3. 2), die Verfahrensrichtlinie (4. 3. 3) und die Anerkennungsrichtlinie (4. 4. 4). 4.3.1 Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens: die Dublin-Verordnung Die Dublin-Verordnung regelt, welcher Mitgliedstaat des Schengenraumes für die Bearbeitung eines Asylantrages zuständig ist. Dadurch soll erreicht werden, dass die Zuständigkeit klar und eindeutig ist und kein Antragsteller in mehreren Staaten gleichzeitig ein Verfahren verfolgt. Umgekehrt sollte durch präzise Kriterien vermieden werden, dass ein Antragsteller perma‐ nent von einem an den nächsten Staat verwiesen wird, ohne die Chance zu erhalten einen Antrag substanziell darzulegen. Die erste Übereinkunft über gemeinsame objektive Kriterien stammte aus dem Jahr 1990. Mit dem Ver‐ trag von Amsterdam wurde das Dubliner Übereinkommen in den Besitz‐ stand des Gemeinschaftsrechts aufgenommen. 2003 wurden die bisherigen Dublin-Regeln in einer Verordnung vom Rat als Dublin-II-Verordnung ver‐ abschiedet (VO (EG) Nr. 343/ 2003 v. 18. 2. 2003, ABl. Nr. L 50/ 1 v. 25. 2. 2003). Im Jahr 2008 leitete die Kommission eine erneute Reform ein, woraufhin die Dublin-III-Verordnung 2013 von Rat und Parlament verabschiedet wurde (VO (EU) Nr. 604/ 2013 v. 26. 6. 2013, ABl. Nr. L 180/ 31 v. 29. 6. 2013). Seit 2016 ist eine weitere Reform der Verordnung anhängig, es gibt aber bisher keine Einigung im Rat der EU. Im Folgenden wird der rechtliche Hintergrund be‐ leuchtet, die Kernprinzipien und das darin enthaltene problematische Erst‐ einreiseprinzip besprochen, das als hauptsächlicher Grund angeführt wird, warum das Dublin-System schlecht funktioniert und in der Praxis zu unge‐ wollten und dennoch tolerierten Ausgleichsmechanismen führt. Rechtlicher Hintergrund Im Jahr 1990 wurde der internationale Vertrag über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Euro‐ päischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags beschlossen (Übereinkom‐ men über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylan‐ trags - Dubliner Übereinkommen, ABl. Nr. C 254/ 1 v. 19. 8. 1997). Die Un‐ terzeichnung erfolgte in Dublin, weshalb das Abkommen auch den Namen 4 Asylpolitik der Europäischen Union 132 <?page no="133"?> „Dubliner Übereinkommen“ trägt. Diesen Namen hatte die Verordnung von 2003 übernommen, die die Prinzipien des Übereinkommens in Gemein‐ schaftsrecht überführte. Rechtlich hat die Verordnung eine noch höhere Bindungswirkung. Denn im Gegensatz zu einem internationalen Vertrag, dessen Umsetzung von der Vertragstreue der beteiligten Staaten abhängt, gilt eine europäische Verordnung unmittelbar, sie muss nicht erst in natio‐ nales Recht überführt werden. Ihre Einhaltung wird von der Kommission überwacht und kann notfalls vor dem Gerichtshof der Europäischen Union eingeklagt werden. Im Jahr 2013 wurde die sogenannte Dublin-III-Verord‐ nung verabschiedet, die seitdem gültig ist. Regelungsinhalt Die aktuell gültige Verordnung (VO (EU) Nr. 604/ 2013) legt die Kriterien fest, nach denen bestimmt wird, welcher Mitgliedstaat des Schengenraumes für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Umgang mit Minderjährigen Bei Minderjährigen gilt es zunächst zu klären, ob sich Familienangehörige in einem EU-Staat rechtmäßig aufhalten (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 6; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 6 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1), dann wird auch der Antrag des Kindes dort durchgeführt. Sofern ein Minderjähriger keine Angehörigen in der EU hat, übernimmt derjenige Mitgliedstaat das Verfahren, in dem der Antrag gestellt wird (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 6; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 8 Abs. 4). Das heißt Minderjährige sind von Überstellungen in jedem Fall ausgenommen. Achtung der Familieneinheit Die Familieneinheit wird geachtet, weshalb auch bei erwachsenen Antrag‐ stellern zunächst überprüft wird, ob es Familienangehörige in einem der EU-Mitgliedstaaten gibt. In dem Fall wird die Antragsprüfung in diesen Mit‐ gliedstaat verlegt, wo Familienangehörige als anerkannte Flüchtlinge leben (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 7; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 9) oder aktuell ein Asylantragsverfahren durchlaufen (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 8; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 10). Die Familie wird dann in diesem Mitgliedstaat zu‐ sammengeführt und alle Anträge der Familie werden im gleichen Mitglied‐ staat geprüft. 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 133 <?page no="134"?> Visum und Ersteinreiseprinzip Sofern ein Antragsteller über eine Aufenthaltserlaubnis oder ein Visum ei‐ nes Mitgliedstaaates verfügt, ergibt sich daraus die Zuständigkeit für eine Antragsprüfung (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 9; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 12). Wenn weder familiäre noch rechtliche Verbindungen zu einem Mitgliedstaat der EU bestehen, dann greift das Prinzip der ersten Einreise als Kriterium für den Ort der Antragstellung (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 10; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 13 Abs. 1). Um zu bestimmen, ob sich ein Antragsteller in einem Drittstaat aufgehalten hat, wird er/ sie zu seiner Reiseroute befragt. Sofern Fingerabdrücke im europäischen Datensatz von Eurodac registriert wurden, lässt sich der Ersteinreisestaat und damit der zuständige Staat zügig ermitteln (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 10 Abs. 1; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 13 Abs. 1). Dann kann ein Wiederaufnahmegesuch an den betreffenden Mit‐ gliedstaat gestellt werden und in der Folge der Antragsteller zum Zweck der Antragsprüfung in diesen Drittstaat überstellt werden. Es können jedoch auch Indizien und Beweismittel herangezogen werden, um den Übertritt ei‐ ner Land-, See- oder Luftgrenze zu bestimmen und daraus den zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 10 Abs. 1; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 13 Abs. 1). Diese Zuständigkeit endet jedoch zwölf Monate nach dem irregulären Grenzübertritt (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 13 Abs. 1). Im Rückschluss bedeutet dies, dass ein Untertauchen von einem Jahr die Zuweisung an den Staat der ersten Einreise aufhebt. Es ist dann derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Asyl‐ bewerber mindestens fünf Monate ununterbrochen aufgehalten hat (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 10 Abs. 2; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 13 Abs. 2). Sofern keins der genannten Kriterien zutrifft und sich der Ersteinreisestaat nicht ermitteln lässt, regelt die Verordnung seit 2003, dass derjenige Mitgliedstaat für die Bearbeitung des Antrags zuständig ist, in dem der Asylantrag gestellt wurde (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 13). So erklärt sich, warum Antragsteller auf ihrer Einreiseroute über die südlichen Mitgliedstaaten mit stark ausge‐ lasteten Asylsystemen versuchen die Registrierung per Fingerabdruck zu umgehen und die Weiterreise anstreben. Im Sinne der Dubliner Verordnung können sie auf die Antragsprüfung in einem anderen Staat hoffen, wenn es ihnen gelingt die Registrierung zu umgehen, einen Zeitraum von mindestens fünf Monaten in einem Mitgliedstaat zu verbringen und zwölf Monate nach dem Grenzübertritt einen Asylantrag zu stellen. Für den Fall, dass sich das Ersteinreiseland nicht bestimmen lässt, erklärt die Verordnung von 2013 4 Asylpolitik der Europäischen Union 134 <?page no="135"?> zwar nicht automatisch den Mitgliedstaat für verantwortlich, in dem der Antrag gestellt wurde. Letztlich läuft es aber genau darauf hinaus. Fallbeispiel: Amid ist über Griechenland in die Europäische Union eingereist. Ihm ist es gelungen sich einer Registrierung zu entziehen. Seine Fingerab‐ drücke sind daher nicht in Eurodac hinterlegt und er hat zunächst keinen Asylantrag gestellt. Amid schlägt sich weiter bis nach Öster‐ reich durch, wo Freunde von ihm untergekommen sind. Er meldet sich unverzüglich bei den Behörden und stellt einen Asylantrag. Amid wird von den österreichischen Behörden zu seiner Reiseroute befragt. An‐ hand von Amids Handydaten können sie feststellen, dass Amid über Griechenland eingereist ist. Drei Wochen nach Amids Antrag bitten die österreichischen Behörden Griechenland darum, Amids Antrag zu prüfen. Die griechischen Behörden antworten nicht, weshalb Öster‐ reich nach einem Monat davon ausgehen kann, dass dem Wiederauf‐ nahmeersuchen stattgegeben wurde. Daraufhin beginnt eine sechs‐ monatige Frist innerhalb derer Amid von Österreich nach Griechenland überstellt werden muss. Die Kosten für die Überstellung trägt Österreich. Amid möchte der Überstellung nach Griechenland entgehen und taucht deshalb unter. Österreich unterrichtet Griechen‐ land darüber, dass Amid flüchtig ist, wodurch sich die Frist zur Über‐ stellung auf achtzehn Monate verlängert. Humanitäre Klausel Eine Ausnahme von den Kriterien eröffnet die humanitäre Klausel (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 15; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 17), die jedem Mitgliedstaat ermöglicht die Prüfung eines Asylantrags aus „humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben“ zu übernehmen (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 15 Abs. 1; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 17 Abs. 2). Dies wird auch als Recht zum Selbsteintritt bezeichnet. Überstellung und (Wieder-)aufnahme Jeder Mitgliedstaat wird angehalten, innerhalb von zwei Monaten auf ein Gesuch zur Überstellung zu antworten (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 18 Abs. 1; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 21 Abs. 1). Es gibt auch Fälle, in denen eine be‐ schleunigte Antwort innerhalb einer kürzeren Frist erbeten wird, z. B. wenn 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 135 <?page no="136"?> sich der Asylbewerber in Gewahrsam befindet, wegen illegalem Aufenthalt festgenommen wurde oder eine Ausweisung angekündigt wurde (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 17 Abs. 2; VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 21 Abs. 2). Sofern der zuständige Staat das Ersuchen bestätigt, muss der Asylbewerber im Rahmen der Rechtsvorschriften innerhalb von sechs Monaten überstellt werden (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 19 Abs. 3). Diese Frist kann auf maximal achtzehn Monate verlängert werden, wenn der Asylbewerber inhaftiert oder flüchtig ist (VO (EG) Nr. 343/ 2003, Art. 19 Abs. 4). In der Verordnung aus dem Jahr 2013 sind diese Fristen zur Überstellung nicht mehr enthalten. Hingegen gibt es eine neue Frist: Ein Wiederaufnahmegesuch muss innerhalb von zwei Monaten nach einer Eurodac-Treffermeldung gestellt werden, ansonsten wird der ersuchende Mitgliedstaat selbst für die Prüfung zuständig (VO (EU) Nr. 604/ 2013, Art. 23 Abs. 2). Dublin-Verfahren vor dem EGMR: M.S.S. v. Belgien Ein afghanischer Staatsangehöriger wurde gemäß Dublin-Kriterien von Belgien nach Griechenland überstellt. Er klagte vor dem EGMR, weil er seine Grundrechte einerseits durch eine Überstellung nach Griechen‐ land und andererseits wegen der dortigen Aufnahmebedingungen und mangelnder Rechtsmittel verletzt sah (EGMR, M.S.S. v. Belgien, 30696/ 09, Urteil vom 21. 1. 2011, Rn 21). Der EGMR gab dem Antragstel‐ ler recht: Wenn es eindeutige Hinweise auf beträchtliche Mängel im Asyl- und Aufnahmesystem eines Mitgliedstaates gebe (in diesem Fall: Griechenland), dann mache sich ein Staat (hier: Belgien) einer Verlet‐ zung von Art. 3 EMRK schuldig („Niemand darf der Folter oder un‐ menschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“, vgl. dazu EGMR, M.S.S. v. Belgien, Rn 229-230). Zur Einschät‐ zung über die Lage der Asylsysteme wurden vom EGMR Berichte von internationalen Organisationen und unabhängigen Einrichtungen her‐ angezogen (EGMR, M.S.S. v. Belgien, Rn 160, 300, 347-349). Diese bele‐ gen für das Jahr 2010, dass mehr als 40.000 Asylanträge anhängig wa‐ ren, jedoch weniger als 1.000 Unterbringungsplätze für die Antragsteller zur Verfügung standen (EGMR, M.S.S. v. Belgien,: Rn 188, 258). Eine Mehrheit schutzbedürftiger Asylbewerber wurde deshalb dem Risiko der Obdachlosigkeit und totaler Armut ausgesetzt (Pelzer 2011: Rn 264). Darüber hinaus stellten die Richter fest, dass das griechsiche Asylsys‐ tem aufgrund der langen Verfahrensdauer, der niedrigen Anerken‐ nungsrate und den begrenzten Rechtsbehelfsmöglichkeiten wenig 4 Asylpolitik der Europäischen Union 136 <?page no="137"?> 21 Dieser Kompromiss geht auf den Rat der Europäischen Union zurück, der Aussetzungen von Überstellungen kategorisch ablehnte, vgl. Rat der Europäischen Union 2012: 8. Schutz biete (EGMR, M.S.S. v. Belgien, Rn 125-126, 188-190, 233-234, 301, 343). Nach Einschätzung des EGMR sind Asylbewerber unabhängig von ihren individuellen Verfolgungserfahrungen „besonders schutzbedürf‐ tig“, was bei der Aufnahme ebenfalls zu berücksichtigen sei (EGMR, M.S.S. v. Belgien, Rn 251). Quelle: EGMR, M.S.S. v. Belgien, 30696/ 09, Urteil vom 21. 1. 2011. Was unterscheidet die Verordnung 2013 von der aus dem Jahr 2003? Anhand der Quellverweise ist deutlich erkennbar, dass sich insgesamt wenig an der Verordnung geändert hat. Vor allem die Kriterien für die Feststellung welcher Mitgliedstaat zuständig ist, bleiben die gleichen. Die Schutzgaran‐ tien für Minderjährige und Familien wurden gestärkt. Die wesentlichen Än‐ derungen betrafen die Abläufe eines Wiederaufnahmeverfahrens. Die neue Verordnung ist noch präziser bei den Abläufen zum Stellen eines Wieder‐ aufnahmeersuchens und klarer bei der Zuständigkeitsfrage, wenn es zu Fristüberschreitungen kommt. Auch die Fristen während eines Überstel‐ lungsverfahrens sind enger gefasst. Die Kommission hatte zudem die Möglichkeit schaffen wollen, dass Mit‐ gliedstaaten deren Aslysysteme bereits sehr ausgelastet sind, sich von Dub‐ lin-Überstellungen befreien lassen können. In der neuen Dublin-Verordnung (EU) Nr. 604/ 2013 sind Mechanismen der Frühwarnung verankert, um einer Überlastung eines mitgliedstaatlichen Asylsystems präventiv vorzubeugen (Verordnung (EU) 604/ 2013: Art. 33). 21 Eine befristete Aussetzung von Über‐ stellungen wurde hingegen nicht verankert. Ein solcher Aussetzungsmechanismus wurde vom Rat der EU abgelehnt. Tatsächlich hatten die Mitgliedstaaten jedoch im Zuge der Entscheidungen M.S.S. vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Januar 2011 und der Entscheidung N.S. u. a. vor dem Gerichtshof der Europäischen Union im Dezember 2011 Überstellungen nach Griechenland einstellen müs‐ sen. Zudem sind die Mitgliedstaaten durch die Entscheidungen aufgerufen zu prüfen, ob die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat eine men‐ schenwürdige Versorgung erwarten lassen. Aus gravierenden Mängeln im Asylsystem können Grundrechtsverletzungen für Antragsteller entstehen, die es zu verhindern gilt. Auf diese Weise gibt es einen Aussetzungsmecha‐ 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 137 <?page no="138"?> nismus von Überstellungen, der zwar nicht von den betroffenen Mitglied‐ staaten selbst eingefordert werden kann. Stattdessen tragen die Mitglied‐ staaten fortan eine verstärkte Verantwortung für ihre Überstellungsgesuche. Dublin-Verfahren vor dem EuGH: N.S. vs. Secretary of State u. a. Der Gerichtshof der EU entschied im Dezember 2011 in einem Vor‐ abentscheidungsverfahren über die Frage, ob Mitgliedstaaten im Rah‐ men von Dublin-Überstellungen die Grundrechtsituation im ersuch‐ ten Staat überprüfen müssen (EuGH, N.S. u. a. Verbundene Rechtssachen C-411/ 10 und C-493/ 10, Urteil vom 21. 12. 2011, ECLI: EU: C: 2011, Rn 1, 50, 53). Der EuGH befand, dass es „Funktionsstörungen“ in den Aufnahmesys‐ temen der Mitgliedstaaten geben kann, die zu Grundrechtsgefährdun‐ gen der Asylbewerber führen (EuGH, N.S. u. a., C-411/ 10 und C-493/ 10, Rn 81, vgl. Art. 4 der Grundrechtecharta: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden). In dem Fall sollte keine Überstellung erfolgen. In der Konse‐ quenz werden die Mitgliedstaaten für die Grundrechtsverletzungen in den Überstellungsstaaten haftbar gemacht (Canor 2013: 254). Im konkreten Fall galten „systemische Mängel“ als Defizite bei der Aufnahme und im Asylverfahren, darunter Zugang zum Asylverfah‐ ren, das Asylverfahren selbst, Behandlung während des Verfahrens, Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen und die Behandlung nach der Anerkennung (Lübbe 2014: 108). Nach Möglichkeit ist die Dublin-Verordnung anzuwenden, doch wenn erhebliche verwaltungs‐ rechtliche und -technische Mängel bestehen - diese Einschätzung un‐ terliegt strengen Kritierien - gilt es Überstellungen auszusetzen (Hail‐ bronner und Thym 2012: 406). Da es sich bei den Dublin-Regeln um eine europäische Verordnung handelte, wurde unmittelbar geltendes Unionsrecht auf Weisung der obersten europäischen Gerichte ausgehebelt (Canor 2013: 278). Ver‐ waltungsgerichte auf regionaler Ebene wurden dazu angehalten, die Überstellungspraxis kritisch zu prüfen und bei Bedenken auszusetzen. Auf diese Weise wurden regionale Gerichte zu Hütern der Grund‐ rechte in EU-Partnerstaaten (Canor 2013: 285, 287). In der Praxis führte dies zur Ausweitung der Aussetzung von Überstellungen nach Italien (Klepp 2015: 187 mwN), Bulgarien und Ungarn (Bünger und Greuter 2017: 80 mwN). 4 Asylpolitik der Europäischen Union 138 <?page no="139"?> Quelle: EuGH: N.S. (C-411/ 10) gegen Secretary of State for the Home Department und M. E. und andere (C-493/ 10) gegen Refugee Applica‐ tions Commissioner und Minister for Justice, Equality and Law Re‐ form, Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. 12. 2011, ECLI: EU: C: 2011: 865. Kritik an der Verordnung Durch die Offenheit der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten des Schen‐ genraums ergaben sich de facto gemeinsame Außengrenzen, die jedoch de jure nationales Hoheitsgebiet blieben. Die beteiligten Staaten beschlossen Anfang der 1990er Jahre, die Verantwortung für Asylanträge dort zu veror‐ ten, wo die irreguläre Einreise erfolgte. So sollte Fahrlässigkeit bei den Au‐ ßengrenzkontrollen verhindert werden und das Vertrauen bestärkt werden, dass sich alle auf sichere Außengrenzen verlassen können. Genau dieses Prinzip steht nun knapp dreißig Jahre später in der Kritik. Dies hängt mit zwei wesentlichen Entwicklungen zusammen: Zum einen ist die Gemein‐ schaft der Staaten enorm gewachsen, die den Dubliner Prinzipien unterlie‐ gen. Die Außengrenzen der Dubliner Gemeinschaft von zunächst sechs Staaten haben sich Richtung Süden, Norden und Osten verschoben. Er‐ schwerend kommt hinzu, dass Asylsuchende nicht mit einem humanitären Visum oder ähnlichen Dokumenten einreisen können, weshalb sie auf die irreguläre Einreisen zurückgreifen müssen. Dabei sind es vorrangig südliche Staaten, an deren Außengrenzen irreguläre Einreisen erfolgen, darunter Ita‐ lien, Malta, Griechenland und Spanien. Dies hängt wiederum mit der Her‐ kunft und Route der Menschen zusammen, die in Europa um Schutz nach‐ suchen oder sich von der Migration nach Europa bessere Lebensbedingungen erhoffen. Die wichtigsten Transitstaaten sind neben der Türkei die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Libyen. Daher sind die Mittelmeeranrainer die wichtigsten Einreisestaaten in den Schen‐ genraum. Unwucht im Dublin-System Die asymmetrische geographische Verantwortung für die Prüfung von Asyl‐ anträgen ist nur eine von vielen Unwuchten im Dublin-System. Eine weitere Unwucht im europäischen Asylsystem wird durch die stark divergierenden sozialen Standards in den Mitgliedstaaten hervorgerufen. Trotz Harmoni‐ sierungsbestrebungen in der Asylpolitik seit 1999 zeigt sich ein sehr hete‐ 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 139 <?page no="140"?> rogenes Bild im Schengenraum. Die Anreize für Sekundärmigration sind umso stärker, je größer die Unterschiede bei Anerkennungsquoten und Auf‐ nahmebedingungen ausfallen. Selbst bei gleichen Herkunftsländern und Fluchtgründen zeigt sich eine erhebliche Varianz in den Entscheidungsquo‐ ten der Mitgliedstaaten (Bauböck 2018: 151-152 mwN). Und um zu diesen Staaten mit guten Anerkennungsquoten und guten Aufnahmebedingungen zu gelangen, ist ein Umweg über die Staaten notwendig, die überhaupt durchlässige Außengrenzen aufweisen. Auf diese komplexe Problematik der Dublin-Prinzipien wurde schon im Vorfeld der Reform von 2013 vom Gerichtshof der EU in der Entscheidung N.S. u. a. hingewiesen. Auch die Kommission schlug verschiedene Mechanis‐ men wie die Aussetzung von Dublin-Überstellungen vor und regte ein Nach‐ denken über eine Zuständigkeit abhängig vom Antragsort an. Doch die Ver‐ treter im Rat der EU, damals insbesondere Deutschland, Österreich und Großbritannien waren zu einer Reform der Dublin-Verordnung nur bereit, sofern die Kernprinzipien - und damit das Ersteinreiseprinzip und die daraus resultierenden Überstellungen - beibehalten würden (Rat der EU 2010: 9). Allen beteiligten Akteuren ist klar, dass die Dublin-Regeln nicht funktio‐ nieren. Dafür reicht ein Blick auf die Zahlen von bearbeiteten Asylanträgen in der Europäischen Union (Kapitel 4. 4. 1). Diese verdeutlichen, dass die Außengrenzstaaten, in die die Asylsuchenden einreisen, bei weitem nicht allein die Asylanträge prüfen. Konstant hoch sind die Zahlen in Deutschland und Schweden, die geographisch kaum direkt erreichbar sind. Im Zuge der Entscheidungen oberster Gerichte zu Dublin-Verfahren hat bspw. die Bun‐ desrepublik Deutschland in dem gesamten Zeitraum von 2011 bis 2016 keine Wiederaufnahmegesuche an Griechenland gestellt und Überstellungen dorthin komplett ausgesetzt. Die Aussetzung von Überstellungen wegen Überlastung der Zielstaaten ist inzwischen ein fester Bestandteil des Sys‐ tems. Auch das ist nicht unproblematisch, heißt es doch letztlich, dass die Asylsysteme europäischer Staaten als „nicht sicher“ für Asylsuchende ein‐ gestuft werden. Weiterhin ist man weit entfernt von einer politischen Ant‐ wort auf die Frage nach fairer Verantwortungsteilung bei der Zuständigkeit für Asylanträge. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 140 <?page no="141"?> 4.3.2 Verpflichtungen der europäischen Staaten beim Umgang mit Asylsuchenden: die Aufnahmerichtlinie Wenn ein Antragsteller in den europäischen Raum gelangt ist und einen Antrag auf Asyl stellt, so sind die Mitgliedstaaten durch Unionsrecht daran gebunden, gewisse Standards bei der Unterbringung und Versorgung ein‐ zuhalten. Der politische und rechtliche Hintergrund dieser Richtlinie, ihr Regelungsgehalt sowie Kritik an der Richtlinie werden hier besprochen. Rechtlicher Hintergrund In den europäischen Verträgen findet sich erstmals mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags von 1999 ein Auftrag zur Ausgestaltung der euro‐ päischen Asylpolitik, worunter unter Art. 63 Nr. 1 lit. b auch Mindestnormen zählen, die bei der Aufnahme von Asylsuchenden gewährleistet werden sol‐ len. Ziel der gemeinsamen Richtlinie ist es, effiziente Aufnahmesysteme in den Mitgliedstaaten und Grundlagen für menschenwürdige Lebensbedin‐ gungen der Asylsuchenden zu schaffen (Europäische Kommission 2001: Er‐ läuterungen). Insbesondere die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Asylsuchenden in der EU sollten durch die Richtlinie angeglichen werden. Institutioneller Ablauf der Aushandlung Die Kommission berücksichtigte mit ihrem Vorschlag das knapp formulierte Mandat aus dem Vertrag von Amsterdam sowie die strategischen Ziele des Europäischen Rates, die dieser im Mehrjahresprogramm von Tampere fest‐ gelegt hatte. Dabei setzte die Kommission mit ihrem Vorschlag einen Rah‐ men, innerhalb dessen der Rat der EU als Gesetzgeber einzelne Details än‐ derte. Der Rat der EU war zu diesem Zeitpunkt alleiniger Gesetzgeber in der Innen- und Justizpolitik. Er ist jedoch angehalten, das Europäische Parla‐ ment anzuhören. Im Zuge dessen brachte das Europäische Parlament 111 Änderungsvorschläge ein, von denen 26 Anträge Eingang in das endgültige Rechtsinstrument gefunden haben. Allerdings betrafen 21 Fälle davon le‐ diglich die Streichung einer Norm (Europäisches Parlament 2002). Während die Dublin-Verordnung unmittelbar gilt und nicht erst in na‐ tionales Recht umgesetzt werden muss, handelt es sich hier um eine Richt‐ linie, deren Ziele für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Es bleibt aber den Mitgliedstaaten vorbehalten, wie sie die Ziele durch nationales Recht errei‐ chen. Das Rechtsinstrument Richtlinie soll dem Subsidiaritätsprinzip Rech‐ nung tragen, indem es verschiedene Verwaltungs- und Organisationsstruk‐ 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 141 <?page no="142"?> 22 Die Kommission klagte gegen Deutschland, Belgien und Luxemburg wegen Nichtum‐ setzung oder Nichtmitteilung der Umsetzung innerhalb der vorgegebenen Frist; Klagen aufgehoben (Rechtssachen C-496/ 06, C-389/ 06; C-47/ 06); sie klagte zudem gegen Ös‐ terreich und Griechenland, wegen Nichtumsetzung in der vorgegebenen Frist; in beiden Fällen erging ein Urteil (Rechtssache C-102/ 06, C-72/ 06). Siehe auch Kapitel 4. 4. 2. turen der Mitgliedstaaten zulässt. Denn eine Richtlinie ermöglicht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielraum, ohne unnötig zentralistische Vorga‐ ben zu machen. Für die rechtliche Verbindlichkeit bedeutet der Unterschied, dass mögliche Mängel bei der Einhaltung von Regeln einer Verordnung (wie der Dublin-Verordnung) eindeutiger und offensichtlicher sind als die Ein‐ haltung von Richtlinien. Dennoch führte die Europäische Kommission meh‐ rere Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich, Griechenland, Deutschland, Belgien und Luxemburg, die die Aufnahmerichtlinie nicht fristgemäß umgesetzt bzw. nicht darüber berichtet hatten. 22 Regelungsinhalt In der Aufnahmerichtlinie legten die europäischen Institutionen gemeinsam Mindeststandards fest, die bei der Aufnahme von Asylsuchenden gelten sol‐ len. Zuvorderst zählen dazu die Unterbringung und Unterstützung bei der Versorgung, die den Grundleistungen der nationalen Sozialhilfe entsprechen sollen, gesundheitliche Versorgung einschließen und „menschenwürdige Lebensbedingungen“ garantieren (Richtlinie 2003/ 9/ EG: Erwägung 7; 2013/ 33/ EU, Erwägung 11). Bereits 2003 wurde festgelegt, dass für die Unterbringung Räumlichkeiten bereitgestellt werden sollten, bspw. in Unterbringungszentren mit ange‐ messenem Standard, Privathäusern, Wohnungen oder Hotels, was die Richt‐ linie von 2013 ebenfalls aufgriff (2003/ 9/ EG, Art. 14 Abs. 1; 2013/ 33/ EU, Art. 18 Abs. 1). Dabei sollte der Schutz des Familienlebens gewährleistet werden und ein Kontakt zu Nichtregierungsorganisationen, Mitarbeitern von UNHCR und Zugang zu Rechtsbeistand möglich sein (2003/ 9/ EG, Art. 14 Abs. 2; 2013/ 33/ EU Art. 18 Abs. 2). Die gesundheitlichen Leistungen sollten zumindest die Notversorgung sowie die Behandlung von akuten Krankhei‐ ten umfassen (2003/ 9/ EG, Art. 15 Abs. 1; 2013/ 33/ EU, Art. 19 Abs. 1). Beson‐ deren Schutz genießen Menschen, die Opfer von Folter oder schwerer Ge‐ walt geworden sind und entsprechend Unterstützung benötigen (2003/ 9/ EG, Art. 20; 2013/ 33/ EU, Art. 19 Abs. 2). Auch formale und bürokratische Garantien wurden in der Aufnahme‐ richtlinie festgelegt, darunter die Ausstellung eines Identitätsdokuments in‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 142 <?page no="143"?> nerhalb von drei Tagen und die Gewährung einer vorübergehenden Auf‐ enthaltsgenehmigung bis über den Schutzstatus entschieden wurde (2003/ 9/ EG, Art. 6 Abs. 1; 2013/ 33/ EU, Art. 6 Abs. 1). Die Mitgliedstaaten trafen weitreichende Entscheidungen über die Integrationsmöglichkeiten eines Asylsuchenden. So können die Mitgliedstaaten entscheiden, ob sie einem Antragsteller den Zugang zu beruflicher Bildung ermöglichen (2003/ 9/ EG, Art. 12; 2013/ 33/ EU, Art. 16). Die europäische Richtlinie empfiehlt diese in‐ tegrationsfördernden Maßnahmen ebenso wie Sprachkurse, doch die Mit‐ gliedstaaten entscheiden über ihre Anwendung. Besonders restriktiv ist die Regelung zum Arbeitsmarkt: Asylsuchende können bis zu einem Jahr (ab 2013 nur noch bis zu neun Monate) von der Arbeitssuche und damit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden (2003/ 9/ EG, Art. 11 Abs. 1-2; 2013/ 33/ EU, Art. 15 Abs. 1), sie können dauerhaft bei der Arbeitssuche gegenüber Staats- und Unionsbürgern benachteiligt werden durch die sogenannte Vor‐ rangprüfung, die Unionsbürgern Vorrang erteilt (2003/ 9/ EG, Art. 11 Abs. 4; 2013/ 33/ EU, Art. 15 Abs. 2 UAbs. 2). Bereits in der 2003 verabschiedeten Richtlinie hielten die Institutionen fest, dass innerhalb von fünf Jahren eine Evaluation den Reformbedarf auf‐ zeigen und einen Reformprozess einleiten solle. Dies geschah dann unter dem Dach des Lissabonner Vertrags. Diesmal war das Europäische Parla‐ ment gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat der EU. Art. 78 Abs. 2 lit. f AEUV enthielt ein Mandat, wonach das Europäische Parlament und der Rat der EU im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Normen erlassen sol‐ len, „über die Aufnahmebedingungen von Personen, die Asyl oder subsi‐ diären Schutz beantragen“. Was änderte sich mit der Richtlinie 2013? Aufgrund der weit verbreiteten Inhaftierung von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten, sah sich die Kommission vor allem dazu verpflichtet, diesen sensiblen Bereich genauer zu regeln, der einen erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte darstellt (2013/ 33/ EU, Art. 8-11). Ein Asylantragsver‐ fahren selbst stützt ausdrücklich noch keine Inhaftierung (2013/ 33/ EU, Art. 8 Abs. 1). Dennoch kann die Notwendigkeit einer Inhaftierung auf Grundlage dieser Richtlinie argumentiert werden, bspw. weil die Identität oder Staats‐ angehörigkeit eines Antragstellers überprüft werden soll (2013/ 33/ EU, Art. 8 Abs. 3 lit. a), um Beweise im Antragsverfahren zu sichern (2013/ 33/ EU, Art. 8 Abs. 3 lit. b), aus Gründen der nationalen Sicherheit (2013/ 33/ EU, Art. 8 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 143 <?page no="144"?> Abs. 3 lit. e) oder im Zusammenhang mit einer Überstellung im Sinne der Dublin-Verordnung (2013/ 33/ EU, Art. 8 Abs. 3 lit. f). Neu hinzu kam die kostenfreie Rechtsberatung, wenn ein Antragsteller die Entscheidung in seinem Asylverfahren anfechtet (2013/ 33/ EU, Art. 26 Ab. 1-2). Es gibt jedoch die Möglichkeit diese Rechtsberatung zeitlich und finanziell zu begrenzen, insbesondere wenn keine Aussicht auf Erfolg be‐ steht (Art. 26 Abs. 3-4). Eine weitere bedeutende Veränderung betrifft den Zugang zum Arbeitsmarkt, von dem Antragsteller maximal neun statt zwölf Monate ausgeschlossen werden können (2013/ 33/ EU, Art. 15 Abs. 1), wobei den Mitgliedstaaten bei der Handhabung weiterhin Flexibilität und damit effektiv eine Ausdehnung dieser Zugangsfrist eingeräumt wird (2013/ 33/ EU, Art. 15 Abs. 2). Der Zugang zum Arbeitsmarkt bleibt auf Druck des Rates der EU in der Hand der Mitgliedstaaten. Paradoxerweise argumentierte der Rat, die Ver‐ kürzung der Ausschlussfrist sei ein Fortschritt, weil Asylsuchende dadurch schneller selbstständig würden, weniger Leistungen vom Staat bezögen und somit der Gefahr, dass sie auf den Schwarzmarkt ausweichen, vorgebeugt würde (Rat der EU 2013: Anhang III. B.3). Da jedoch die Kommission eine weitere Verkürzung der Frist auf maximal sechs Monate (Europäische Kom‐ mission 2008b, Erw. 14, Art. 15 Abs. 1) und das Europäische Parlament bereits 2002 eine Abschaffung dieser Ausschlussfrist mit dem Argument forderte, dass es sich bei dem Arbeitsmarktzugang nicht um eine Vergünstigung han‐ dele (Europäisches Parlament 2002, Art. 13 Abs. 1 Abänderung 51), ist die restriktive Regelung allein dem Rat zuzuschreiben. Der Rat argumentierte, es handele sich um eine recthliche Verbesserung, dabei trägt er die Verant‐ wortung für die restriktive Regelung. Kritik an der Richtlinie Von den Rechtsinstrumenten im Gemeinsamen Europäischen Asylsystemen ist die Aufnahmerichtlinie diejenige, die am deutlichsten mit monetären Verpflichtungen einhergeht, die die Mitgliedstaaten gegenüber Asylsuchen‐ den und anerkannten Flüchtlingen zu leisten haben. Im Reformprozess zur Richtlinie zeigten sich die beiden Gesetzgeber Rat der EU und Europäisches Parlament sehr zurückhaltend, absolute oder relative Standards festzulegen, auch wenn das das Ziel der Richtlinie ist. Die Bestimmungen zur Unterbrin‐ gung und Versorgung sind allgemein und flexibel gehalten und immer wie‐ der an nationale Bestimmungen und einzelstaatliches Recht rückgekoppelt, sodass Verpflichtungen im Sinne dieser Richtlinie in Frage stehen. So bleiben 4 Asylpolitik der Europäischen Union 144 <?page no="145"?> 23 „Nichtbeachtung der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit“, Klage v. 8. 3. 2006, Europäisches Parlament v. Rat der Europäischen Union, C-133/ 06, ABl. Nr. C 108 v. 6. 5. 2006, S. 12. die Aufnahmesysteme der Mitgliedstaaten auch weit von einer Angleichung der Lebensstandards entfernt, die bei der Aufnahme von Asylsuchenden ge‐ währleistet werden soll. Das überrascht wenig angesichts der Tatsache, dass die Lebensstandards und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten ebenso stark di‐ vergieren. 4.3.3 Gemeinsame Regeln bei der Begutachtung eines Asylantrags: die Verfahrensrichtlinie Wenn ein Asylbewerber einen Antrag gestellt hat, sollen in den Mitglied‐ staaten gleiche Standards und insbesondere Garantien für ein Asylverfahren gelten. Zu diesem Zweck wurde die Verfahrensrichtlinie verabschiedet. Rechtlicher Hintergrund Die Verfahrensrichtlinie dient dem Zweck, gemeinsame Mindeststandards für das Verfahren eines Asylantrags festzulegen. Im Idealfall finden Asyl‐ bewerber demnach die gleichen prozeduralen Abläufe vor, egal in welchem Mitgliedstaat sie ihren Antrag auf internationalen Schutz einreichen. Die Verfahrensrichtlinie soll den Asylsuchenden zudem versichern, dass der Antrag nach rechtsstaatlichen Garantien, fair und wirksam abläuft (2005/ 85/ EG, Erwägung 3, inzwischen 2013/ 32/ EU, Erwägungen 4, 7, 8). Die rechtliche Grundlage für die Richtlinie lieferte zunächst im Vertrag von Amsterdam Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 lit. d EGV, wonach gemeinsame Min‐ deststandards für die Verfahren bei der Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft verabschiedet werden sollten. Der Rechtsetzungs‐ prozess gestaltete sich zunächst schwierig, insbesondere da das Europäische Parlament im ersten Rechtsetzungsverfahren umfangreiche Änderungsvor‐ schläge einreichte, die der Rat der EU komplett ignorierte. In der Folge strengte das Europäische Parlament ein Verfahren vor dem EuGH gegen den Rat an und warf diesem Vertragsbruch 23 vor. Der EuGH entschied zugunsten des Europäischen Parlaments und stärkte damit den Einfluss der Volksver‐ treter im Gesetzgebungsprozess (EuGH, Parlament/ Rat, C-133/ 06, Urteil vom 6. 5. 2008, Slg 2008 I-03189, Rn 66 f.). 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 145 <?page no="146"?> Es folgte mit Art. 78 Abs. 2 lit. d AEUV des Lissabonner Vertrags ein Mandat für „gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus beziehungsweise des subsidiären Schutzstatus“. Regelungsinhalt Die Verfahrensrichtlinie forderte die Mitgliedstaaten dazu auf, eine Behörde zu benennen, die die Asylanträge prüft (2005/ 85/ EG, Art. 4; 2013/ 32/ EU, Art. 4), und festzulegen, ob ein Antrag persönlich oder an einem bestimmten Ort einzureichen ist (2005/ 85/ EG, Art. 6 Abs. 1; 2013/ 32/ EU, Abs. 3). Sie re‐ gelte, dass ein Antragsteller während eines laufenden Asylverfahrens ein Aufenthaltsrecht im Mitgliedstaat erhält (2005/ 85/ EG, Art. 7 Abs. 1; 2013/ 32/ EU, Art. 9 Abs. 1). Den Kern der Richtlinie bildeten jedoch Anforderungen an die Prüfung von Anträgen, also Qualitätsstandards, die die Mitgliedstaaten einzuhalten haben (2005/ 85/ EG, Art. 8; 2013/ 32/ EU, Art. 10). Jeder Antrag wird „einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden“ (2005/ 85/ EG, Art. 8 Abs. 2 lit. a; 2013/ 32/ EU, Art. 10 Abs. 3 lit. a). Für eine Entscheidung über Schutzgewährung sollen Informationen des Hohen Flüchtlingskommisars der Vereinten Nationen (UNHCR) und weitere verfügbare Quellen zu Grunde gelegt werden (2005/ 85/ EG, Art. 8 Abs. 2 lit. b). 2013 wurden diese Quellen präzisiert: Das Europäische Büro für Asylfragen (EASO) und Men‐ schenrechtsorganisationen geben in ihren Berichten zuverlässig Aufschluss über die Lage in den Herkunftsstaaten der Antragsteller (2013/ 32/ EU, Art. 10 Abs. 3 lit. b). Den Asylsuchenden wird zugesichert, dass sie in einer ihnen verständli‐ chen Sprache über den Ablauf des Verfahrens informiert und über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt werden (2005/ 85/ EG, Art. 10 Abs. 1 lit. a; 2013/ 32/ EU, Art. 12 Abs. 1 lit. a). Zu den Pflichten zählt die Zusammenarbeit mit den Behörden und die fristgemäße Vorlage von Informationen über die Begründung ihres Schutzantrages (2005/ 85/ EG, Art. 11 Abs. 1; 2013/ 32/ EU, Art. 13 Abs. 2). Zu ihren Rechten zählt die Kontaktaufnahme zu UNHCR-Mitarbeitern sowie das Recht auf eine Entscheidung „innerhalb ei‐ ner angemessenen Frist“ und in einer ihnen verständlichen Sprache (2005/ 85/ EG, Art. 10 Abs. 1 lit. c-e; 2013/ 32/ EU, Art. 12 Abs. 1 lit. e-f). Bevor eine solche Entscheidung fällt, wird ein Asylbewerber zu einer persönlichen Anhörung eingeladen (2005/ 85/ EG, Art. 12 Abs. 1; 2013/ 32/ EU, Art. 14 Abs. 1). Auf diese Anhörung soll nur verzichtet werden, wenn die Entschei‐ dung ohnehin positiv ausfällt (2005/ 85/ EG, Art. 12 Abs. 2; 2013/ 32/ EU, Art. 14 4 Asylpolitik der Europäischen Union 146 <?page no="147"?> Abs. 2). Die Richtlinie legt auch die Bedingungen der Anhörung fest, wonach die Anhörung im Rahmen einer angemessenen Vertraulichkeit möglichst ohne die Anwesenheit von Familienangehörigen stattfindet (2005/ 85/ EG, Art. 13 Abs. 1-2; 2013/ 32/ EU, Art. 15 Abs. 1) und die Entscheider über die sprachliche und kulturelle Sensibilität verfügen, die Umstände des Antrags zu berücksichtigen (2005/ 85/ EG, Art. 13 Abs. 3; 2013/ 32/ EU, Art. 15 Abs. 3 lit. a). Über die Anhörung wird ein Bericht angefertigt (2005/ 85/ EG, Art. 14; 2013/ 32/ EU, Art. 17). In der reformierten Verfahrensrichtlinie von 2013 wird von den Staaten eingegefordert, dass die Entscheidung dem Antragsteller schriftlich mitzuteilen ist (2013/ 32/ EU, Art. 11 Abs. 1). Sofern die Entschei‐ dung negativ ausfällt, sollen die sachlichen und rechtlichen Gründe dafür dargelegt werden (2013/ 32/ EU, Art. 11 Abs. 2). Während des Antragsverfahrens hat ein Asylbewerber mit der Richtlinie von 2005 zunächst das Recht, auf eigene Kosten rechtlichen Beistand ein‐ zuholen (2005/ 85/ EG, Art. 15 Abs. 1). Der Zugang zu kostenfreier Rechtsbe‐ ratung wird im Rahmen nationaler Rechtsvorschriften vorgeschlagen (2005/ 85/ EG, Art. 15 Abs. 2) und der Umfang solcher Rechtsberatung skiz‐ ziert (2005/ 85/ EG, Art. 16). Erst die Richtlinie von 2013 garantiert auf Antrag kostenfreien Zugang zu rechts- und verfahrenstechnischen Auskünften im erstinstanzlichen Verfahren (2013/ 32/ EU, Art. 19 Abs. 1). Art und Umfang sowie Voraussetzungen für kostenfreie Rechtsberatung und -vertretung werden ebenfalls erst 2013 verankert (2013/ 32/ EU, Art. 20-23). Ferner legte die Richtlinie von 2005 Vorschriften für den Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen (2005/ 85/ EG, Art. 17; 2013/ 32/ EU, Art. 7, 25) und für Gewahrsam fest (2005/ 85/ EG, Art. 18; 2013/ 32/ EU, Art. 26). Eine Asylbewerbung war ausdrücklich kein Haftgrund (2005/ 85/ EG Art. 18 Abs. 1). Dieser Passus entfiel in der Richtlinie von 2013, stattdessen wurde mit Verweis auf die Aufnahmerichtlinie (2013/ 33/ EU, Art. 9) eine sofortige gerichtliche Überprüfung eingefordert, sobald eine Person in Gewahrsam genommen wird (2013/ 32/ EU, Art. 26). Zu den Prüfungsverfahren selbst regelte die Verfahrensrichtlinie, dass eine Prüfung so schnell wie möglich erfolgen solle (2005/ 85/ EG, Art. 23 Abs. 2; 2013/ 32/ EU, Art. 31 Abs. 2). Diese ungenaue Fristvorgabe wurde da‐ durch ergänzt, dass Asylbewerber unterrichtet werden, wenn sich eine Ent‐ scheidung um mehr als sechs Monate verzögert (2005/ 85/ EG, Art. 23 Abs. 2; 2013/ 32/ EU, Art. 31 Abs. 3). Es soll die Möglichkeit geben, gegen eine ab‐ lehnende Entscheidung einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (2005/ 85/ EG, Art. 39; 2013/ 32/ EU, Art. 46). Außerdem sind Folgeanträge auch nach 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 147 <?page no="148"?> einer negativen Entscheidung möglich, wenn der Antragsteller weitere In‐ formationen darlegen kann (2005/ 85/ EG, Art. 32; 2013/ 32/ EU, Art. 40 Abs. 3). Vorrangige und beschleunigte Verfahren sind aus verschiedenen Gründen möglich, zum Beispiel wenn ein Antrag als unzulässig gilt, (a) weil ein an‐ derer Staat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, (b) weil ein anderer Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, (c) wenn ein anderer Staat erster Asylsystaat ist oder (d) der Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat stammt (2005/ 85/ EG, Art. 25; 2013/ 32/ EU, Art. 33, 35-37). Alle diese Fälle werden dann noch genauer gefasst: So wird der „erste Asyl‐ staat“ als der erste Staat definiert, durch den ein Asylbewerber gereist ist und wo er ausreichenden Schutz hätte in Anspruch nehmen können (2005/ 85/ EG, Art. 26 lit. a-b; 2013/ 32/ EU, Art. 38). Als sicherer Drittstaat gilt jedes Land, in dem (a) keine Gefährdung von Leben oder Freiheit aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen politischer Über‐ zeugung droht, (b) das Nichtzurückweisungsprinzip im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gewahrt wird, (c) das Rückführungsverbot eingehal‐ ten wird und (d) die Möglichkeit besteht, einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlinskonvention zu stellen (2005/ 85/ EG, Art. 27 lit. a-d; 2013/ 32/ EU, Art. 38 Abs. 1 lit. a-d). Die Verfahrensrichtlinie sah in diesem Zusammenhang vor, dass der Rat der EU auf Vorschlag der Europäischen Kommission und unter Anhörung des Europäischen Parlaments eine Minimalliste von Ländern zusammenstellt, die von allen Mitgliedstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft werden (2005/ 85/ EG, Art. 29; 2013/ 32/ EU, Anhang I). Für eine solche Definition kom‐ men Staaten in Frage, die die Rechte und Freiheiten der Europäischen Kon‐ vention für Menschenrechte wahren, das Nichtzurückweisungsprinzip der Genfer Flüchtlingskonvention einhalten und einen Rechtsbehelf ermögli‐ chen, wenn Verletzungen dieser Rechte oder Freiheiten beanstandet werden. Was änderte die Richtlinie von 2013? Die Darlegung der Normen hat anhand unzähliger Übereinstimmungen zwischen der Richtlinie von 2005 und 2013 bereits aufgezeigt, dass sich we‐ nig Grundlegendes durch die Reform der Verfahrensrichtlinie geändert hat. Neu sind genauere Fristen, die mehr Klarheit schaffen (2013/ 32/ EU, Art. 6 Abs. 5, 12 Abs. 1 lit. a, 14 Abs. 1 UAbs. 2; 31 Abs. 3). Präziser sind die Vorgaben zu unentgeltlicher Rechtsberatung und den Inhalten der Anhörung geschaf‐ fen (2013/ 32/ EU, Art. 14, 19-23). Ein Rechtsbehelf geht nun mit einem Auf‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 148 <?page no="149"?> enthaltstitel bis zur zweitinstanzlichen Entscheidung einher (2013/ 32/ EU, Art. 46 Abs. 5). Gleichzeitig ist ein beschleunigtes Verfahren in immer mehr Fällen möglich (2013/ 32/ EU, Art. 31 Abs. 8), was den rechtlichen Status von Asylsuchenden schwächt. Kritik an der Richtlinie Ziel der gemeinsamen Verfahrensstandards ist es - ähnlich wie bei den ge‐ meinsamen Standards zur Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen - die Unterschiede in den Asylsystemen der Mitgliedstaaten zu minimieren. Dies wird jedoch weder mit der Richtlinie von 2005 noch mit ihrer refor‐ mierten Form von 2013 erreicht. Dafür behalten sich die Mitgliedstaaten zu viel Spielraum vor. Zudem sind Passagen problematisch, die die Inhaftnahme von Asylsuchenden ermöglichen und damit zu einer Kriminalisierung von Asyl beitragen. In gleicher Weise sind unzählige Definitionen gelistet, die ein beschleunigtes Verfahren ermöglichen. Bemerkenswert bleibt dabei die Garantie auf eine persönliche Anhörung - seit 2013 ausdrücklich auch in beschleunigten Verfahren - eine Garantie für Asylsuchende, wonach ihnen Gehör geschenkt wird (2013/ 32/ EU, Art. 15). 4.3.4 Kriterien für internationalen Schutz: die Anerkennungsrichtlinie Auch bei der Bewertung, ob der Antragsteller verfolgt wird und einen in‐ ternationalen Schutzstatus erhalten sollte, werden gemeinsame Kriterien zugrunde gelegt, die seit 2004 in der Anerkennungsrichtlinie festgehalten sind. Die Anerkennungsrichtlinie ist mit ihrem Inhalt am nächsten an der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie spiegelt wesentliche Prinzipien der Gen‐ fer Flüchtlingskonvention wider, ist aber gleichzeitig deutlich detaillierter als diese. Ziel ist die Definition europäischer Standards, welche Situationen und Bedrohungen einen Flüchtlingsstatus rechtfertigen. Durch den Flücht‐ lingsstatus erhält ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in einem de‐ klaratorischen Akt den Status eines Flüchtlings, was ihm gewisse Aufent‐ halts- und Versorgungsrechte sichert. Rechtlicher Hintergrund Welche Verfolgungssituation ist so schwerwiegend, dass sie einen Anspruch auf Schutz begründet? Diese Frage versuchten die Mitgliedstaaten durch die Ausarbeitung eines gemeinsamen Rechtsinstruments zu beantworten. Der 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 149 <?page no="150"?> Auftrag dazu ergab sich aus Art. 63 EGV Abs. 1 Nr. 1 lit. c. Es sollten „Min‐ destnormen“ geschaffen werden „für den vorübergehenden Schutz von ver‐ triebenen Personen aus dritten Ländern, die nicht in ihr Herkunftsland zu‐ rückkehren können, und von Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen“. Die erste Anerkennungsrichtlinie wurde im Jahr 2004 verabschiedet (2004/ 83/ EG). Ab 2008 begann der Reformprozess der Rechtsintrumente des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Die neue Anerkennungsrichtli‐ nie sollte die Regeln zur Anerkennung des internationalen Schutzes verbes‐ sern. Nach Einschätzung der Europäischen Kommission waren die bisheri‐ gen Regeln zu ungenau und unklar (Europäische Kommission 2009: 3). So erklärte sich die Kommission die weiterhin starke Varianz bei Anerken‐ nungsquoten zwischen den Mitgliedstaaten. Unzufrieden zeigte sich die Kommission auch mit der hohen Zahl von Folgeanträgen und Rechtsbehel‐ fen. Durch die Präzisierung von Begriffen sollten bereits im erstinstanzli‐ chen Verfahren fundierte Entscheidungen ergehen, die weniger angreifbar wären (Europäische Kommission 2009: 3-4). Im Lissabonner Vertrag von 2007 wurde der Anspruch weiter erhöht: In Art. 78 Abs. 2 lit. a und b hieß es, dass es einen „in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige“ geben solle. Daraufhin wurde in einem mehrjährigen Prozess die Richtlinie 2011/ 95/ EU ausgear‐ beitet. Ein einheitlicher Asylstatus ist trotzdem nicht erreicht worden. Die Kriterien zur Erteilung eines Flüchtlingsstatus sind zwar in den Mitglied‐ staaten die gleichen, dennoch variieren die Anerkennungsquoten sehr stark. Regelungsinhalt Im Verfahren wird die individuelle Lage überprüft und Verfolgungserfah‐ rung sowie Verfolgungsgrund durch Asylbehörden nachvollzogen. Darauf‐ hin kann festgestellt werden, ob es sich um eine begründete Gefährdung handelt, die einen Schutzstatus und damit einen Aufenthaltstitel in der EU begründet. Dies wird aufgrund der Situation im Heimatland und unter Be‐ rücksichtigung völker-, unionsrechtlicher und nationaler Vorgaben festge‐ stellt. Die Flüchtlingseigenschaft gründet in der internationalen Schutznorm der Genfer Flüchtlingskonvention und wird durch die der Anerken‐ nungs-Richtlinie spezifiziert (Richtlinie 2004/ 83/ EG, Art. 11; 2011/ 95/ EU, Art. 9, 10). Der Status als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskon‐ vention generiert die umfangreichsten Rechte, die der Flüchtlingsschutz bietet. Um den europäischen Schutzstatus im Sinne der Genfer Flüchtlings‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 150 <?page no="151"?> konvention zu erlangen, spielt der Verfolgungsgrund eine entscheidende Rolle. Darunter wird eine Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Natio‐ nalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung verstanden. Der Verfolgungsgrund muss in Zusammenhang mit einer begründeten Furcht vor Verfolgung stehen, also einer erwartbaren Verfolgungshandlung. Damit wird die Gefahr umschrieben, einen „ernsthaf‐ ten nicht gerechtfertigten Schaden“ zu erleiden, wenn der Schutzsuchende unmittelbar in sein Land zurückkehren würde (Europäische Kommission 2002: Art. 11 Abs. 1 lit. a). Im Zentrum des Flüchtlingsschutzes steht der Schutz des Menschen, ins‐ besondere seiner Menschenwürde. In der Literatur bestehen Differenzen über die Auslegung des Verfolgungstatbestandes und damit dem wohl wich‐ tigsten Artikel der Anerkennungsrichtlinie, der inhaltlich mit Artikel 1 A 2 der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist. Die Einschätzungen gehen darüber auseinander, welche Art von Menschenrechtsverletzungen einen Verfolgungstatbestand erfüllen. Einige Autoren bestehen darauf, dass Men‐ schenrechte nicht zu hierarchisieren sind und die Bedeutung der Verletzung von Menschenrechten immer im Einzelfall zu überprüfen ist (Hathaway und Foster 2014). Einigen kann man sich hingegen weitgehend darauf, dass es bei der Prüfung des Verfolgungstatbestandes um die Bedrohung des Lebens oder der physischen Freiheit als Menschenrechtsverletzung handelt, die ei‐ nen Schutzbedarf begründet (Goodwin-Gill und McAdam 2007: 51-133). Die Anerkennungsrichtlinie selbst ist zumindeset deutlich klarer als die Genfer Flüchtlingskonvention. Als Verfolgungshandlung aus der ein Schutz‐ bedarf entsteht, gilt: Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlings‐ konvention zu gelten, muss eine Handlung a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwer‐ wiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zu‐ lässig ist, oder b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Ver‐ letzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise be‐ troffen ist. […] (Richtlinie 2011/ 95 v. 13. 12. 2011, Art. 9 Abs. 1) 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 151 <?page no="152"?> Zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten von denen gemäß Europäi‐ scher Menschenrechtskonvention keine Abweichung zulässig ist, zählen: Verbot der Folter (Art. 3), Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 4 Abs. 1) sowie Keine Strafe ohne Gesetz (Art. 7). Die Liste von Verfolgungs‐ gründen ist dabei nicht erschöpfend, es können weitere Verfolgungstatbe‐ stände hinzutreten. Wichtig ist, dass in der Richtlinie zwar allgemein von internationalem Schutz die Rede ist, bei der Anerkennung eines Schutzstatus jedoch zwi‐ schen einem Flüchtling gemäß Genfer Flüchtlingskonvention und einem subsidiären Schutzstatus unterschieden wird. Der Flüchtlingsstatus wird nur bei einer individuellen, die Person betreffenden Verfolgungssituation gewährt (2004/ 83/ EG, Art. 13-14, 2011/ 95/ EU, Art. 13-14). Der subsidiäre Schutz wird Menschen gewährt, deren Leben entweder wegen einer To‐ desstrafe oder aufgrund unmenschlicher Bestrafung im Heimatland. In der Realität wird der subsidiäre Schutz jedoch zum überwiegenden Teil gewährt, wenn Menschen Schutz vor einem bewaffneten Konflikt in ih‐ rem Heimatland suchen (2004/ 83/ EG, Art. 15-18, 2011/ 95/ EU, Art. 15-18). Bedeutsam ist die Unterscheidung der Schutzgarantien, weil der Schutzbedürftige mit Flüchtlingseigenschaft deutlich weitreichendere Rechte beim Aufenthaltstitel, beim Zugang zu Beschäftigung und Bil‐ dung sowie Integrationsmaßnahmen und Sozialhilfeleistungen erhält als eine Person mit subsidiärem Schutzstatus (2004/ 83/ EG, Art. 24-28, 33; 2011/ 95/ EU, Art. 24-29). Der gravierendste Unterschied betrifft den Auf‐ enthaltstitel: Während Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskon‐ vention einen Aufenthaltstitel für fünf Jahre erhalten, ist dieser bei sub‐ sidiär Schutzbedürftigen auf ein Jahr begrenzt; es folgen regelmäßige Statusüberprüfungen. Weiterhin legt die Anerkennungsrichtlinie fest, welche Akteure Schutz bieten können. Dazu zählen Staaten, Parteien und (internationale) Organi‐ sationen (2004/ 83/ EG, Art. 7; 2011/ 95/ EU, Art. 7). Auch im Heimatland könne „interner Schutz“ in einem Teil des Landes gewährt werden, sodass mögli‐ cherweise keine Verfolgungsgefahr und entsprechend kein internationaler Schutzbedarf besteht (2004/ 83/ EG, Art. 8; 2011/ 95/ EU, Art. 8). Die Richtlinie berücksichtigte zudem, dass auch nach der Flucht aus dem Heimatland ein Schutzbedarf entstehen kann, woraus Gründe für einen Folgeantrag entste‐ hen können (2004/ 83/ EG, Art. 5; 2011/ 95/ EU, Art. 5). 4 Asylpolitik der Europäischen Union 152 <?page no="153"?> Was änderte sich mit der Richtlinie 2011? In der reformierten Richtlinie von 2011 änderte sich nichts an den Defi‐ nitionen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. Gewäh‐ rung des subsidiären Schutzes. Hingegen wurde das Konzept „interner Schutz“ enger gefasst. Dies soll verhindern, dass Mitgliedstaaten leicht‐ fertig einen Schutzantrag zurückweisen. Beim Verweis auf internen Schutz muss nun gesichert sein, dass es Akteure wie Staaten, internatio‐ nale Organisationen oder Parteien sind, die tatsächlich auch über die nö‐ tige Autorität im besagten Landesteil verfügen, um effektiven Schutz zu gewährleisten (2011/ 95/ EU, Art. 8). Kritik an der Richtlinie Die Anerkennungsrichtlinie sollte Unterschiede aufheben, die bei der Ent‐ scheidungsfindung über einen Schutzantrag zwischen den Mitgliedstaaten zutage treten. Vor allem sollte dadurch die Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union reduziert werden (Europäische Kommission 2002: 4). Wenn die Mitgliedstaaten die gleichen Kriterien anlegen - so die Überlegung - kämen sie auch zu den gleichen Entscheidungen. Trotz der präzisen Kri‐ terien und Standards der Rechtsinstrumente stellte die Europäische Kom‐ mission bei der Evaluation des Rechtsinstruments weiterhin große Unter‐ schiede zwischen den Asylsystemen der Mitgliedstaaten fest (Europäische Kommission 2008a: 5). Sowohl die Aufnahmeleistungen als auch die Aner‐ kennungsquoten von Antragstellern aus denselben Herkunftsländern vari‐ ierten stark. Mit relativen Standards, die im zwischenstaatlichen Vergleich unterschiedlich ausfallen, ließ sich keine Harmonisierung der Leistungen über die Systeme hinweg herstellen. Interessant ist die Begriffswahl in Bezug auf den politisch gewollten ein‐ heitlichen Asylstatus und die gemeinsamen Verfahrensregeln auf dem Weg zur Erteilung eines solchen Status. Die damit verbundene Begriffswahl deu‐ tet auf eine deutliche Unterscheidung bei der Verbindlichkeit hin: Während der Asylstatus „einheitlich“ sein soll (Deutsch: einheitlich, Englisch: uni‐ form, Französisch: uniforme), so werden dafür lediglich „gemeinsame“ Ver‐ fahrensregeln angestrebt (Deutsch: gemeinsam, Englisch: common, Franzö‐ sisch: commun). Darin sehen Daniel Thym und Kay Hailbronner einen semantischen Hinweis, dass die prozeduralen Vorgaben einen weniger star‐ ken Grad der Vereinheitlichung vorsahen als der Asylstatus selbst (Hail‐ bronner und Thym 2016b: 1036, Rn 24). Vor dem Hintergrund der Subsidia‐ rität werden dadurch auch die jeweiligen Eigenheiten nationaler 4.3 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 153 <?page no="154"?> Verwaltungs- und Justizsysteme respektiert. Der einheitliche Asylstatus wurde jedoch bisher nicht erreicht. 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 4.4.1 Zahlen zu Asyl Im Jahr 2018 bezifferte UNHCR die Zahl der Menschen auf der Flucht auf 70,8 Mio, darunter sind 41,3 Mio. Binnenvertriebene, 25,9 Mio. Flüchtlinge und 3,5 Mio. Asylsuchende (UNHCR 2019: 2). Etwa 80 % der Flüchtlinge lebten in Nachbarländern ihrer Heimatstaaten - also nicht in Europa oder anderen westlichen Ländern. 57 % der bei UNHCR registrierten Flüchtlinge stammten aus drei Staaten: Syrien (6,7 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.) und Südsudan (2,3 Mio.) (UNHCR 2019: 3). Hauptherkunftsstaaten UNHCR-registrierter Flüchtlinge (Stand: Ende 2018) Herkunftsstaat Menschen in Mio. Syrien 6,7 Afghanistan 2,7 Südsudan 2,3 Myanmar 1,1 Somalia 0,9 Quelle: UNHCR 2019: 3. Als Hauptaufnahmeland galt die Türkei, die bis Ende 2018 etwa 3,7 Mio. Flüchtlinge aufgenommen hatte. In Pakistan lebten 1,4 Mio. Flüchtlinge, ge‐ folgt von Uganda (1,2 Mio.), Sudan (1,1 Mio.) und Deutschland (1,1 Mio.) (UNHCR 2019: 3). 4 Asylpolitik der Europäischen Union 154 <?page no="155"?> Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge (Stand: Ende 2018) Staat Aufgenommene Flüchtlinge Türkei 3,7 Mio. Pakistan 1,4 Mio. Uganda 1,2 Mio. Sudan 1,1 Mio. Deutschland 1,1 Mio. Quelle: UNHCR 2019: 3. Setzt man die Zahl der Flüchtlinge in ein Verhältnis zur lokalen Bevölkerung, so ergibt sich ein etwas anderes Bild und es rücken noch weitere Staaten in das Blickfeld, die vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse viel Verantwortung im Asylschutz übernehmen, darunter kleine Staaten wie der Libanon und Jordanien, aber auch afrikanische Staaten wie Tschad und Uganda. In der Europäischen Union zählen Schweden und Malta zu denje‐ nigen Staaten, die gemessen an ihrer Bevölkerungszahl die meisten Flücht‐ linge aufnahmen. Zahl von Flüchtlingen per 1.000 Einwohner (Stand: Ende 2018) Staat Flüchtlinge per 1.000 Einwohner Libanon 156 Jordanien 72 Türkei 45 Tschad 29 Uganda 26 Sudan 26 Schweden 25 Südsudan 23 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 155 <?page no="156"?> Zahl von Flüchtlingen per 1.000 Einwohner (Stand: Ende 2018) Staat Flüchtlinge per 1.000 Einwohner Malta 20 Djibuti 19 Quelle: UNHCR 2019: 21. Bezogen auf die Europäische Union ergibt sich folgendes Bild: Entwicklung der Asylantragszahlen in der Europäischen Union 2010-2013 2010 2011 2012 2013 Asylanträge EU-gesamt 259.400 309.040 335.290 431.090 Flüchtlinge EU-gesamt 1.394.390 1.356.007 1.339.598 977.025 Flüchtlinge und Asylsu‐ chende EU-gesamt 1.653.790 1.665.047 1.674.888 1.408.115 EU-Bevölkerung gesamt 503.170.618 504.494.374 504.060.345 505.166.839 Anteil Flüchtlinge/ Asyl‐ suchende im Verhältnis zur EU-Bevölkerung 0,33 % 0,33 % 0,33 % 0,28 % Quelle: Europäisches Parlament 2019. Entwicklung der Asylantragszahlen in der Europäischen Union 2014-2018 2014 2015 2016 2017 2018 Asylanträge EU-gesamt 626.960 1.321.600 1.259.955 705.705 646.060 Flüchtlinge EU-gesamt 1.090.833 1.326.701 1.863.881 2.283.199 2.476361 Flüchtlinge und Asylsu‐ chende EU-gesamt 1.717.793 2.648.301 3.123.836 2.988.904 3.122.421 EU-Bevölke‐ rung gesamt 506.944.075 508.450.856 510.152.681 511.522.671 512.379.225 4 Asylpolitik der Europäischen Union 156 <?page no="157"?> Entwicklung der Asylantragszahlen in der Europäischen Union 2014-2018 2014 2015 2016 2017 2018 Anteil Flücht‐ linge/ Asylsu‐ chende im Verhältnis zur EU-Bevölke‐ rung 0,34 % 0,52 % 0,61 % 0,58 % 0,61 % Quelle: Europäisches Parlament 2019. Was wird an diesen Zahlen erkennbar? An diesen Zahlen ist einerseits die Entwicklung von Asylanträgen in einem Zehnjahreszeitraum ablesbar, die sich selbst im Ausnahmejahr 2015 pro‐ portional darstellt. Andererseits wird deutlich, dass der Anteil von aner‐ kannten Flüchtlingen und Asylsuchenden einen Anteil von weit weniger als 1 % bezogen auf die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausmacht. Auch die Zahlen bearbeiteter Anträge in den verschiede‐ nen Mitgliedstaaten bewegen sich über die Jahre hinweg in ähnlichen Be‐ reichen. Es sind nicht nur die Außengrenzstaaten, die Asylanträge bearbei‐ ten, auch wenn das die Dublin-Regeln auf den ersten Blick erwarten lassen. Durchweg hohe Antragszahlen haben Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden. Die Varianz deutet zum einen darauf, welche Mitgliedstaaten für Asylsuchende attraktiv sind; sie deutet zum anderen darauf, wo bereits Diaspora-Gemeinschaften von Flüchtlingen etabliert sind. Asylantragszahlen in den EU-Mitgliedstaaten 2010, 2014, 2018 Mitgliedstaat 2010 2014 2018 Belgien 26.080 22.710 22.530 Bulgarien 1.025 11.080 2.535 Tschechische Republik 775 1.450 1.690 Dänemark 5.065 9.430 3.570 Deutschland 48.475 202.645 184.180 Estland 35 155 95 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 157 <?page no="158"?> Asylantragszahlen in den EU-Mitgliedstaaten 2010, 2014, 2018 Mitgliedstaat 2010 2014 2018 Irland 1.935 1.450 3.670 Griechenland 10.275 9.430 66.965 Spanien 2.740 5.615 54.050 Frankreich 52.725 64.310 120.425 Kroatien k.A. 450 800 Italien 10.000 64.625 59.950 Zypern 2.875 1.745 7.765 Lettland 65 375 185 Litauen 495 440 405 Luxemburg 780 1.150 2.335 Ungarn 2.095 42.775 670 Malta 175 1.350 2.130 Niederlande 15.100 24.495 24.025 Österreich 11.045 28.035 13.710 Polen 6.540 8.020 4.110 Portugal 155 440 1.285 Rumänien 885 1.545 2.135 Slowenien 240 385 2.875 Slowakei 540 330 175 Finnland 3.085 3.620 4.500 Schweden 31.850 81.180 21.560 Vereinigtes Königreich 24.335 32.785 37.730 EU gesamt 259.290 622.020 646.055 Quelle: Europäisches Parlament 2019. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 158 <?page no="159"?> 4.4.2 Dublin-Transfers und Ausgleichsmechanismen Die Asylpolitik der Mitgliedstaaten ist nicht deckungsgleich mit den Vor‐ gaben des auf europäischer Ebene verabschiedeten Asylrechts, allen voran der Dublin-Verordnung. Das wird daran ersichtlich, wie die Asylantrags‐ zahlen in der Europäischen Union verteilt sind. Ein Blick auf die Asylant‐ ragszahlen in den vergangenen Jahren verdeutlicht, dass das Ersteinrei‐ seprinzip längst in der Realität nicht mehr als Grundprinzip des europäischen Asylsystems funktioniert. Während also formal noch das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium für die Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats fortgilt, spielt es für die Wirklich‐ keit der Asylantragstellung im europäischen Raum bereits eine nachge‐ ordnete Rolle: Funktionsmängel in den Asylsystemen von Griechenland, Italien, Ungarn und Bulgarien führen einerseits zu einer für Flüchtlinge unkalkulierbaren Dub‐ lin-Rechtsprechungslotterie, anderseits [sic! ] zu relativ wenigen Rückführungen in die an sich zuständigen Ersteinreisestaaten, die in keinem vernünftigen Ver‐ hältnis zum enormen Aufwand stehen.“ (Göbel-Zimmermann, Eichhorn und Bei‐ chel-Benedetti 2018: Rn 1029). Zudem wurden Rücküberstellungen in den vergangenen Jahren für einzelne Mitgliedstaaten ausgesetzt, meist aus einem Zusammenwirken heraus von überlasteten Asylsystemen und Grundrechtsgefährdungen der Asylsuchen‐ den. Ein deutliches Beispiel dafür ist das griechische Asylsytem. Mehrfach wurden die Bedingungen der Aufnahme, Obdachlosigkeit von Asylsuchen‐ den, überaus geringen Anerkennungsquoten von Flüchtlingen, kollektive Abschiebungen und mangelnder Rechtsschutz vor obersten europäischen Gerichten angefochten (Beispiele dafür sind die Verfahren M.S.S. v. Belgien vor dem EGMR und N.S. u. a. vor dem EuGH, vgl. dazu S. 136 und S. 138). Beide Gerichte stellten fest, dass die Praxis Griechenlands nicht mit euro‐ päischem Recht vereinbar sei, insbesondere nicht mit den Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und der Grundrechtecharta (Hail‐ bronner und Thym 2016b: 1027, Rn 29). Ähnlich kritischen Einschätzungen wie das griechische Asylsystem un‐ terliegt das ungarische Asylsystem. Das Berliner Verwaltungsgericht hob bereits im Januar 2015 die Abschiebung eines Asylsuchenden nach Un‐ garn auf. Zwar wäre Ungarn nach Dubliner Kriterien für die Prüfung des Asylantrags zuständig gewesen, doch entschied das Gericht, dass eine 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 159 <?page no="160"?> Überstellung wegen systemischer Mängel im ungarischen Asylsystem nicht möglich sei. Im ungarischen Asylsystem würden Asylsuchende re‐ gelmäßig ohne Angabe von Gründen mehrere Monate inhaftiert, sodass eine Verletzung von Art. 6 der Grundrechtecharta anzunehmen sei: Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Verwaltungsgericht Ber‐ lin, Beschluss vom 15. 01. 2015, Az VG 23 L 899. 14). In diesem Fall wurde die Bundesrepublik damit durch Selbsteintritt zuständig für die Prüfung des Asylantrags. Die Bundesrepublik Deutschland setzte zudem ab August 2015 für eine bestimmte Gruppe von Schutzsuchenden - Syrer - die Überprüfung der Zuständigkeit gemäß Dubliner Kriterien aus und trat im Einklang mit Art. 17 der Dublin-Verordnung selbst für die Prüfung aller Anträge von Syrern ein, die in Deutschland gestellt wurden. Dublin-Verfahren und Transfers 2018 Mitglied‐ staat Asylan‐ träge einge‐ reicht im Jahr 2018 Wieder‐ aufnahme‐ ersuchen (Dublin- Verfahren, outgoing) Dublin transfers (outgoing) Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Ver‐ hältnis zu Dublin- Verfahren Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Verhältnis zu einge‐ reichten Asylanträgen Belgien 22.530 8.384 897 10,7% 4,0% Bulgarien 2.535 141 52 36,8% 2,1% Tschechische Republik 1.690 141 k.A. k.A. k.A. Dänemark 3.570 1.260 576 45,7% 16,1% Deutschland 184.180 54.906 9.209 16,8% 5,0% Estland 95 10 8 80% 2,1% Irland 3.670 780 14 1,8% 0,6% Griechen‐ land 66.965 5.038 5.447 108% 8,4% Spanien 54.050 7 2 28,6% 0,004% Frankreich 120.425 45.358 3.533 7,8% 3,0% 4 Asylpolitik der Europäischen Union 160 <?page no="161"?> Dublin-Verfahren und Transfers 2018 Mitglied‐ staat Asylan‐ träge einge‐ reicht im Jahr 2018 Wieder‐ aufnahme‐ ersuchen (Dublin- Verfahren, outgoing) Dublin transfers (outgoing) Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Ver‐ hältnis zu Dublin- Verfahren Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Verhältnis zu einge‐ reichten Asylanträgen Kroatien 800 191 10 5,2% 1,3% Italien 59.950 4.628 189 4,1% 0,3% Zypern 7.765 135 10 7,4% 0,1% Lettland 185 16 6 37,5% 3,2% Litauen 405 40 20 50% 4,9% Luxemburg 2.335 1.141 291 25,5% 12,5% Ungarn 670 277 53 19,1% 8,0% Malta 2.130 615 45 7,3% 2,1% Niederlande 24.025 8.619 1.849 21,5% 7,7% Österreich 13.710 5.262 2.291 43,5% 16,7% Polen 4.110 221 67 30,3% 2,3% Portugal 1.285 220 22 10% 1,6% Rumänien 2.135 245 27 11,0% 1,3% Slownien 2.875 823 0 0% 0% Slowakei 175 69 15 21,7% 8,6% Finnland 4.500 435 183 42,1% 4,1% Schweden 21.560 3.549 935 26,3% 4,3% Großbritannien 38.840 5.510 209 3,8% 0,6% EU-28 646.055 148.021 25.960 17,5% 4,0% Island 775 229 114 49,8% 14,7% Liechten‐ stein 165 94 19 20,2% 11,5% 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 161 <?page no="162"?> 24 Darauf weisen Ripoll Servent und Bendel (2017) hin und zitieren Toshkov (2014). 25 Alle hier genannten Zahlen sind dokumentiert im Asylum Information Database 2019 und ECRE 2019. Dublin-Verfahren und Transfers 2018 Mitglied‐ staat Asylan‐ träge einge‐ reicht im Jahr 2018 Wieder‐ aufnahme‐ ersuchen (Dublin- Verfahren, outgoing) Dublin transfers (outgoing) Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Ver‐ hältnis zu Dublin- Verfahren Anteil von Dublin- Überstellun‐ gen im Verhältnis zu einge‐ reichten Asylanträgen Norwegen 2.660 1.042 280 26,9% 10,5% Schweiz 15.160 5.941 1.313 22,1% 8,7% Gesamt 669.025 155.327 27.686 17,8% 4,1% Quelle: Eurostat 2020a, 2020b, 2020c. 4.4.3 Divergierende nationale Asylpolitik trotz gemeinsamer Standards Ein weiterer Beleg dafür, dass das Unionsrecht nicht die erwünschte Har‐ monisierung in der Asylpolitik hervorbringt, sind die stark divergierenden Anerkennungsquoten von Asylsuchenden. Die Anerkennungsrichtlinie liefert einen umfangreichen Prüfkatalog für die Feststellung eines Schutzstatus. Das Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) stellt Hintergrundinformationen zu Herkunftsländern und Schutz‐ bedarf zur Verfügung. Dennoch fallen Asylentscheidungen je nach Mit‐ gliedstaat unterschiedlich aus. In der Literatur wird daher von einer „asylum lottery“ (Asyllotterie) ge‐ sprochen. 24 Dieser Begriff betont, dass der rechtliche Status eines Menschen weniger von seiner objektiv wie subjektiv zu fassenden (Verfolgungs-)si‐ tuation abhängt, sondern vielmehr davon, in welchem Mitgliedstaat sein Antrag bearbeitet wird. Die Varianz ist dabei erheblich. Dies soll an dem Beispiel von irakischen, afghanischen und türkischen Antragstellern ver‐ deutlicht werden: 25 Im Jahr 2018 hatte ein Iraki die besten Chancen auf einen Schutzstatus in Italien (94.2%). Demgegenüber gewährte Bulgarien lediglich in 12 % der Fälle 4 Asylpolitik der Europäischen Union 162 <?page no="163"?> einen Schutzstatus. Dazwischen variierten die Anerkennungsquoten für irakische Schutzsuchende, die in Griechenland (69,4%), Slowenien (60 %), Finnland (53 %) Deutschland (45,9%) und Norwegen (43.3%) eher Schutz fan‐ den als in Belgien (31,2%) und Schweden (26 %). Die Anerkennung von af‐ ghanischen Schutzsuchenden variierte im selben Jahr zwischen 98,4 % (Ita‐ lien) und 24 % (Bulgarien). Weiterhin waren die Chancen auf einen Schutzstatus in Deutschland (52,2%), Belgien (50,6%) und Schweden (33 %) deutlich schlechter als in Slowenien (77,7%), Finnland (73,4%) und Griechen‐ land (70,9%). Türkische Anträge wurden in 89,7 % der Fälle in Norwegen positiv entschieden, in Bulgarien hingegen 0 %. Die Chancen auf einen Schutzstatus in Belgien, Finnland (jeweils 62 %) und Schweden (61 %) waren besser als in Slowenien (50 %) und Deutschland (47 %). Die Zahlen verdeutlichen wiederum zweierlei: Erstens bestärken sie die These einer Asyllotterie, weil Anträge aus denselben Herkunftsländern in den Mitgliedstaaten dramatisch divergierende Anerkennungsquoten her‐ vorbringen (besonders stark bei türkischen Anträgen mit einer Varianz zwi‐ schen 0 und 89,7%). Zudem zeigen sich länderspezifische Entscheidungs‐ quoten bei den Mitgliedstaaten: Im Jahr 2018 zeigten Italien, Griechenland und Slowenien durchgehend hohe Anerkennungszahlen; während Deutsch‐ land, Schweden und insbesondere Bulgarien seltener einen Schutzstatus ge‐ währten. Inzwischen haben diese teilweise dramatischen Differenzen bei den An‐ erkennungsquoten ebenfalls dazu beigetragen, dass Mitgliedstaaten in be‐ stimmten Fällen nicht das Dublin-Verfahren anwenden, obwohl es ange‐ bracht wäre. Im Jahr 2018 haben nationale Gerichte in verschiedenen Mitgliedstaaten entschieden, afghanische Antragsteller nicht an Deutsch‐ land, Österreich, Belgien, Schweden, Finnland oder Norwegen zu übergeben, weil die dortigen restriktiven Asylentscheidungen gegenüber Afghanen eine Abschiebung befürchten lassen. Das europäische Asylsystem entfernt sich damit trotz gemeinsamer eu‐ ropäischer Standards und Rechtsvorgaben immer weiter von einer einheit‐ lichen Asylpolitik. Das ist eine Entwicklung, die gerade durch gemeinsame Standards bei der Aufnahme, in Verfahren und bei der Anerkennung von Flüchtlingen aufgehoben werden sollte. 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 163 <?page no="164"?> Asylanträge (absteigend) im Jahr 2018 mit Anerkennungsquoten Mitgliedstaat Asylanträge Positive Entscheidungen Anerkennungsquote Deutschland 179.110 75.940 42 % Frankreich 115.045 32.725 28 % Italien 95.210 30.670 32 % Österreich 34.525 15.020 44 % Griechenland 32.340 15.210 47 % Schweden 31.320 10.640 34 % Großbritannien 28.860 10.100 35 % Belgien 19.020 9.675 51 % Spanien 11.875 2.895 24 % Niederlande 10.285 3.620 35 % Finnland 4.440 2.405 54 % Polen 2.735 375 14 % Dänemark 2.625 1.315 50 % Zypern 2.475 1.215 49 % Bulgarien 2.110 740 35 % Malta 1.500 645 43 % Luxemburg 1.390 1.000 72 % Tschechien 1.385 155 11 % Rumänien 1.295 595 46 % Irland 1.175 1.005 85 % Portugal 1.045 625 60 % Ungarn 960 365 38 % Kroatien 435 135 31 % Litauen 270 135 50 % Lettland 125 30 24 % 4 Asylpolitik der Europäischen Union 164 <?page no="165"?> 26 EGMR, Case 30696/ 09 M.S.S. v. Belgium, 21.01.2011, para 172, 188, 258. Die griechische Regierung bestätigte die Zahlen im Verfahren. Effektiv ist eine überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden obdachlos und lebt in Armut, dazu auch Marei Pelzer (2011: 264). 27 Silja Klepp betont (2015: 175), dass dieser Ausnahmezustand bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden mit den Ankünften im Jahr 2013 zugenommen hat, doch bereits seit den 1990er Jahren ein Problem ist. Dies hängt in Italien vor allem damit zusammen, dass die Verwaltung von Asylzentren an private Akteure ausgegliedert ist, was nationale Reformen im Asylsystem verhindert (dazu S. 179). Asylanträge (absteigend) im Jahr 2018 mit Anerkennungsquoten Mitgliedstaat Asylanträge Positive Entscheidungen Anerkennungsquote Slowakei 80 45 52 % Nicht-EU-Staaten (Schengenraum) Schweiz 17.000 15.225 90 % Norwegen 2.115 1.460 69 % Island 380 105 28 % Liechtenstein 40 10 28 % EU+ gesamt 581.955 217.400 37 % Quelle: Eurostat 2019. Aufgrund der Dublin-Kriterien (Ersteinreiseprinzip) müssten die Asylsu‐ chenden ihre Fälle streng genommen in den Peripheriestaaten Griechenland, Ungarn, Bulgarien, Italien oder Malta verfolgen. Doch viele dieser Außen‐ grenzstaaten haben schwache Asylsysteme und leisten nur wenige Garan‐ tien bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen. Beispielsweise ist für Griechenland für das Jahr 2010 dokumentiert, dass weniger als 1.000 Unterbringungsplätze für etwa 40.000 Asylsuchende zur Verfügung stan‐ den. 26 Ähnliche Bedingungen sind aus Italien bekannt, wo im Jahr 2002 ge‐ schlossene Internierungslager als Antwort auf die zunehmende Ankunft ir‐ regulärer Migranten eingrichtet wurden. 27 Ironischerweise wurden diese Haftanstalten für Asylsuchende als attraktiv erachtet, im Gegensatz zu der vorherigen Obdachlosigkeit in Italien (Klepp 2015: 182). Malta praktizierte eine umfassende Inhaftierungspolitik, was von unabhängigen Beobachtern 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 165 <?page no="166"?> als indirekte Abschreckungsstrategie kritisiert wurde (European Union Agency for Fundamental Rights 2014: 52-53). Diese Beobachtungen verwundern angesichts des gemeinsam ausgear‐ beiteten Asylsystems, das mit gemeinschaftlich beschlossenenen Rechts‐ instrumenten einheitliche Standards bei der Aufnahme und im Ablauf von Asylverfahren vorgibt. Auch strukturelle Organisationsmerkmale üben Einfluss auf den erfolg‐ reichen Umgang mit Asylzuwanderung. Staaten wie Deutschland, Großbri‐ tannien, die Niederlande, Frankreich, Schweden gelten als stark regulative Staaten mit gut funktionierenden Asylsystemen. Demgegenüber werden Griechenland, Italien und Portugal identifiziert als Staaten mit weniger ef‐ fektiven Verwaltungsstrukturen, die sich auch nach europäischen Verwal‐ tungsreformen der Asylsysteme deutlich von den nördlichen Nachbarn un‐ terscheiden (Zaun 2017: 13-16, 120, 172-176, 242, 248). Die Umsetzung des Asylrechts ist nicht effektiv, das gilt für viele Mit‐ gliedstaaten (Thielemann 2012). Sichtbar wird es nicht zuletzt an den vielen Vertragsverletzungsverfahren, die die Europäische Kommission gegen die Mitgliedstaaten einleitete, weil sie die Richtlinien des Gemeinsamen Euro‐ päischen Asylsystems nicht fristgerecht umsetzten oder versäumten, dar‐ über zu berichten. Vertragsverletzungsverfahren in der ersten Phase des Gemeinsamen Europäi‐ schen Asylsystems Rechtsinstrument Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, Verfahren eingestellt Vertragsverletzungsverfahren und Urteil ergangen 2004/ 83/ EG (Anerken‐ nungsrichtlinie) Malta (C-269/ 08), Griechen‐ land (C-220/ 08), Niederlande (C-190/ 08), Portugal (C-191/ 08) Spanien (C-272/ 08), Großbri‐ tannien und Nordirland (C-256/ 08), Schweden (C-322/ 08), Finnland (C-293/ 08) 2005/ 85/ EG (Verfahrens‐ richtlinie) Griechenland (C-130/ 08) Irland (C-431/ 10) 2003/ 9/ EG (Aufnahem‐ richtlinie) Deutschland (C-496/ 06), Bel‐ gien (C-389/ 06), Luxemburg (C-47/ 06), Österreich (C-102/ 06), Grie‐ chenland (C-72/ 06) 4 Asylpolitik der Europäischen Union 166 <?page no="167"?> Rechtsdurchsetzung in der zweiten Phase des Gemeinsamen Europäischen Asyl‐ systems Rechtsinstrument Aufforderungsschreiben der Kom‐ mission (Nichtmitteilung über Maßnahmen zur Umsetzung) Mit Gründen versehene Stellung‐ nahme der Kommission 2011/ 95/ EU (Anerken‐ nungsrichtlinie) Bulgarien, Spanien, Polen, Slo‐ wenien, Ungarn 2013/ 32/ EU (Verfahrens‐ richtlinie) Belgien, Bulgarien, Deutsch‐ land, Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Li‐ tauen, Luxemburg, Malta, Po‐ len, Rumänien, Schweden, Slo‐ wenien, Spanien, Tschechische Republik, Un‐ garn und Zypern Griechenland, Bulgarien, Un‐ garn (jeweils Verstoß gegen Bestimmungen der Richtlinie) 2013/ 33/ EU (Aufnahme‐ richtlinie) Belgien, Bulgarien, Deutsch‐ land, Estland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Li‐ tauen, Luxemburg, Malta, Ös‐ terreich, Polen, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spa‐ nien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern Bulgarien (Verstoß gegen Richtlinie) In den meisten Fällen werden die Vertragsverletzungsverfahren schnell wie‐ der eingestellt, sobald die Überführung in nationales Recht abgeschlossen ist. Doch es sind auch einige Verfahren dabei, die die Verweigerung der Ko‐ operation in der Asylpolitik adressieren bzw. spezifisches nationales Recht als unvereinbar mit Unionsrecht anprangern. Im Juni 2017 leitete die Europäische Kommission Vertragsverletzungs‐ verfahren gegen die Tschechische Republik, Ungarn und Polen ein, da diese ihren Verpflichtungen zur Umverteilung von Flüchtlingen aus dem Ratsbe‐ schluss vom 14. und 22. September 2015 nicht nachkamen (Europäische Kommission 2017a). Die Rechtmäßigkeit dieses Ratsbeschlusses hatten Un‐ garn und die Slowakei erfolglos vor dem EuGH angefochten (vgl. S. 192). Die Chance zur Stellungnahme vergaben die drei Staaten, sodass die Kom‐ mission die Staaten vor dem EuGH anklagte. Gegen Ungarn strengte die Europäische Kommission zudem ein Vertrags‐ verletzungsverfahren wegen der im Oktober 2017 verabschiedeten Rechts‐ vorschriften an, die nach Einschätzung der Kommission gegen die Richtlinie 4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik 167 <?page no="168"?> 2013/ 32/ EU über Asylverfahren, die Richtlinie 2008/ 115/ EG über Rückfüh‐ rungen, die Richtlinie 2013/ 33/ EU über Aufnahmebedingungen und gegen mehrere Bestimmungen der EU-Grundrechte verstoßen. Im Juli 2018 erhob die Europäische Kommission Anklage gegen Ungarn wegen der Unvereinbarkeit ungarischer Rückführungs- und Asylpolitik mit europäischem Recht (Europäische Kommission 2018). In Ungarn kön‐ nen Asylanträge nur noch in Transitzonen an der Grenze gestellt wer‐ den, zudem wird der Zugang zu den Transitzonen restriktiv gehandhabt. Zwar sind Transitzonen mit europäischem Recht vereinbar, doch nur wenn sie im Einklang mit Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie sind. Die Kommission sah diese Richtlinie jedoch in folgenden Punkten ver‐ letzt: (a) effektiver Zugang zum Asylverfahren gefährdet durch Eskort zur ungarisch-serbischen Außengrenze, (b) maximal vierwöchiger Aufenthalt in einer Transitzone wird überschritten (c) besonderer Schutz für beson‐ ders schutzbedürftige Asylsuchende wird nicht gewährleistet. Zudem wurden Rückführungsbescheide nicht individuell ausgestellt, was das Nichtzurückweisungsprinzip verletzt. 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 Die Verhandlungen um ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem wurden in zwei Rechtsetzungsphasen geführt und dauerten 14 Jahre. Blickt man auf die Folgejahre seit Verabschiedung der reformierten Rechtsinstrumente im Jahr 2013, so muss man feststellen, dass es das europäische Asylsystem wie auf dem Papier ausgearbeitet nicht gibt. Tatsächlich variieren die Asylsys‐ teme so stark, dass es trotz gemeinsamer Rechtsgrundlagen kein einheitli‐ ches Asylverfahren und auch keine einheitlichen Aufnahmebedingungen gibt. In einigen Mitgliedstaaten sind die Mängel im Aufnahmesystem so gravierend, dass es bereits seit 2011 zur Aufhebung der bestehenden euro‐ päischen Regeln des gemeinsamen Asylsystems kam. Dies geschah aus der Befürchtung heraus, die Bedingungen in griechischen Aufnahmelagern ge‐ fährdeten Grundrechte von Asylsuchenden, was sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Januar 2011 mit der Entscheidung M.S.S. v. Belgien, als auch der Gerichtshof der EU in der Entscheidung N.S. und 4 Asylpolitik der Europäischen Union 168 <?page no="169"?> 28 Vgl. EGMR, M.S.S. v. Belgien, Aktenzeichen 30696/ 09, Urteil vom 21. 01. 2011, Rn, 229-230; sowie EuGH, N.S. u. a., C-411/ 10 und 493/ 10, Urteil vom 21. 12. 2011, Slg 2011 I-13905, Rn 76, 81, vgl. dazu Canor 2013: 254; Hailbronner und Thym 2012: 406; Dreyer 2014: 362-365; Dreyer-Plum 2017: 281-284. andere im Dezember 2011 bestätigten. 28 Die Aussetzung der Überstellungen nach Griechenland bedeutete eine faktische - wenn auch jeweils zeitlich befristete - Aufhebung der Dubliner Regeln. Trotz dieser bekannten Mängel im europäischen Asylsystem wurden we‐ der politische noch rechtliche Initiativen ergriffen, um langfristige Lösungen zu finden und die europäische Asylpolitik auf neue Grundlagen zu stellen. Im Jahr 2014 nahm die Zahl der in der Europäischen Union gestellten Asyl‐ anträge deutlich zu. In der ersten Jahreshälfte 2015 hatten bereits fast 500.000 Menschen die Europäische Union erreicht und baten um Asyl. Europa schaute dabei zu, wie Menschen zu Fuß von Griechenland über den Balkan nach Ungarn und Österreich wanderten und von dort aus versuchten, weiter nach Deutschland und mitunter bis Schweden zu gelangen. Die Regeln der Zuständigkeit bei Verfahren und bei der Aufnahme waren nicht aufrecht‐ zuerhalten. Auf Vorschlag der Kommission oder eines Mitgliedstaates hätte der Rat einen Beschluss über das Bestehen eines Massenzustroms fassen können (gemäß Richtlinie 2001/ 55/ EG, Art. 5), doch dazu kam es nicht. Das mag damit zusammenhängen, dass die Richtlinie davon ausgeht, dass es sich um eine eindeutige Gruppe von Vertriebenen handelt, die vorübergehenden Schutz benötigt. Die Zusammensetzung der Asylsuchenden von 2015 war jedoch heterogen, auch wenn Syrer die größte Gruppe unter ihnen aus‐ machte. Eine solche Feststellung hätte den vorübergehenden Schutz für zu‐ nächst ein Jahr und eine „ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind“ vorgesehen (2001/ 55/ EG, Art. 1). Doch von einer ausgewogenen Ver‐ teilung der Aufgaben in der Migrations- und Asylschutzkrise 2015 blieben die Staaten weit entfernt. Stattdessen wurde vielfach auf mitunter kurzfris‐ tige nationale Lösungen zurückgegriffen. In diesem Kapitel wird zunächst skizziert, was im Sommer 2015 passierte und als Migrationsbzw. Asylschutzkrise bezeichnet wird (4. 5. 1). Dass es sich auch um eine Krise europäischer Politik handelte, zeigte die begrenzte Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen ebenso wie der Rück‐ 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 169 <?page no="170"?> 29 Dazu UNHCR 2016a. Demnach haben 1.008.770 Menschen im Jahr 2015 die EU über das Mittelmeer erreicht, 861.473 erreichten Griechenland von der Türkei aus, 153.600 setz‐ ten von Ägypten, Libyen und Tunesien nach Italien über. Weitere 3.810 werden vermisst oder sind bei der Überfahrt gestorben. 30 UNHCR 2016b,. Den Angaben zufolge leben 2,71 Mio. syrische Flüchtlinge in der Türkei, 1,07 Mio. Syrer haben im Libanon Zuflucht gefunden, Jordanien beherbergt weitere 639.704 Syrer. Die Daten werden laufend aktualisiert. griff auf nationale Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten. Das abschlie‐ ßende Kapitel (4. 5. 2) behandelt den politischen Streit seit 2015. 4.5.1 Krisensituation im Sommer 2015 Im Jahr 2015 erlebte die EU eine beispiellose Flüchtlingszuwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten, besonders über die östliche Mittelmeer‐ route und den Westbalkan. 29 Aus Syrien und dem Irak flohen die Menschen vor dem Bürgerkrieg und vor der Terrormiliz Daesch. Über vier Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge fanden Zuflucht im Libanon, in der Türkei und Jor‐ danien. 30 Meistens nahmen sie kleine Schlauchboote und wagten damit die Überfahrt von der Türkei auf griechische Inseln. Von dort aus ging der Weg weiter auf das Festland und über den Balkan vor allem nach Österreich, Deutschland, Schweden oder in die Niederlande. Weitere Migranten aus Nordafrika, Subsahara-Afrika, aus Balkanstaaten und asiatischen Ländern erreichten in dieser Zeit die EU. Registrierung und Ersteinreiseprinzip Während der Migrationskrise von 2015 ignorierten die Außengrenzstaaten mitunter das Ersteinreiseprinzip und ließen die Migranten in ihre Zielstaa‐ ten, hauptsächlich Deutschland und Schweden weiterreisen (Trauner 2016: 319). Bereits vor der Zuspitzung im Jahr 2015 wurde argumentiert, dass Griechenland und Italien unzureichende Grenzsicherungsmaßnahmen un‐ ternommen und die Vorgaben der Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie nicht eingehalten hätten (Lehner 2015: 366). Dazu wurden die unzureichende Re‐ gistrierung von Schutzsuchenden und infolgedessen die Duldung von deren Weiterreise in andere EU-Staaten gezählt (Lehner 2015: 368). Insofern trugen die Mittelmeeranrainer indirekt zur Aussetzung der Dubliner Regeln bei, weil damit der Ersteinreisestaat nicht zweifelsfrei dokumentiert war. Dem ging voraus, dass die südeuropäischen Außengrenzstaaten systematisch und 4 Asylpolitik der Europäischen Union 170 <?page no="171"?> 31 Bereits die Reform der Dublin-Verordnung von 2003 führte zu Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten und wurde zum Konflikt zwischen Staaten mit und solchen ohne Außengrenze. Deutschland, Österreich und Großbritannien forderten ein, »dass das ordnungsgemäße Funktionieren der Dublin-II-Verordnung das Kernstück jedes künf‐ tigen Gemeinsamen europäischen Asylsystems« sein muss, vgl. Rat der Europäischen Union 2010: 9. 32 Andere Zahlen nennt die Kommission, die für das Jahr 2014 insgesamt 626.000 Asyl-An‐ tragsteller verzeichnet (Europäische Kommission 2015b: Erwägung 4); zur allgemeinen Problematik der Asylzahlen vgl. Kleist 2015. auf Druck mitteleuropäischer Staaten 31 mit der Aufgabe überfordert waren, „gleichzeitig die EU-Außengrenzen und die sie massenweise ohne Erlaubnis passierenden Flüchtlinge wirksam zu schützen“ (Kaufhold 2017: 69, Her‐ vorhebung im Original). Verzeichnete die EU im Jahr 2014 noch die irreguläre Einreise von 219.000 Menschen an den südlichen Außengrenzen der EU (UNHCR 2015: 5), 32 stieg diese Zahl im Jahr 2015 drastisch auf etwa 1,2 Mio. an (UNHCR 2016c: 7). Deutschland und Schweden bearbeiteten im Jahr 2015 die Hälfte der in Eu‐ ropa gestellten Asylanträge, obwohl sie keine nennenswerten Außengren‐ zen haben und keine Ersteinreisestaaten sind (Eurostat 2017). Die wichtigste Reiseroute der irregulären Einreisenden führte im Jahr 2015 zwischen Griechenland und Mittel-/ Nordeuropa über die Balkanroute. Im Spätsommer kam es dabei zu einer Zuspitzung der Situation in Ungarn. Dort wurde eine Weiterreise der Migranten abrupt unmöglich. Erst eine In‐ tervention der deutschen und österreichischen Bundeskanzler ermöglichte eine Weiterreise Richtung Österreich und Deutschland. Mit der Weiterreise wurde die Anwendung der Dublin-Verordnung mit dem Ersteinreiseprinzip ausgesetzt, an der gerade Deutschland jahrzehntelang strikt festgehalten hatte (Rat der Europäischen Union 2010: 9). Nachträglich rechtfertigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Situation damit, dass dies „nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ“ (Merkel 2015: 5) gewesen sei, der eine besondere Verantwortung aufgetragen habe. Bei der folgenden politischen Debatte untermauerte sie ihre Entscheidung mit Verweis auf das Menschenbild ihrer Partei und der individuellen Ver‐ folgungssituation von Menschen (Merkel 2015: 24). An der österreichisch-deutschen Grenze Immer wieder wurde der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel der Vor‐ wurf gemacht, sie habe „rechtswidrig“ die Grenzen geöffnet und die Asylsu‐ 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 171 <?page no="172"?> chenden aus Ungarn nach Deutschland unkontrolliert einreisen lassen. Was ist dran an dieser Einschätzung? Fakt ist, dass es im Schengen-Raum längst keine geschlossenen Grenzen mehr gab, weshalb es auch keine Grenzöffnung geben konnte. Fakt ist auch, dass es für den sprunghaften Anstieg von regis‐ trierten Asylsuchenden in Ungarn nicht die notwendigen Unterbringungs- und Versorgungskapazitäten gab. Hatten im gesamten Jahr 2012 noch 2.155 Menschen in Ungarn um Schutz nachgesucht, so hatten sich dafür in der ers‐ ten Jahreshälfte 2015 bereits 150.000 Menschen registriert. Dies überforderte das ungarische Aufnahmesystem (EMN 2016: 5). Asylanträge in Ungarn 2012 bis 2018 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2.155 18.895 42.775 177.135 29.430 3.390 670 Quelle: Eurostat 2018. European Migration Network 2015, UNHCR 2015-2019. Anfang September spitzte sich die Lage zu. Tausende Migranten waren am ungarischen Hauptbahnhof sowie im ungarisch-österreichischen Grenz‐ städtchen Bicske gestrandet. Sie entschieden sich schließlich, zu Fuß auf den Weg Richtung Österreich zu machen. Die Nacht vom 4./ 5. September 2015 und die Mär von der „Grenzöffnung“ Ungarn schickte am Freitag, 4. September 2015 eine diplomatische Note nach Wien: Tausende Flüchtlinge hätten sich zu Fuß auf den Weg zur ungarisch-österreichischen Grenze gemacht. Wie (auf welcher rechtlichen Grundlage) solle Ungarn mit ihnen umgehen? Der öster‐ reichische Bundeskanzler Werner Faymann reagierte nicht unmittel‐ bar, sondern telefonierte zunächst mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. In der Zwischenzeit tagte der Krisentstab in Ungarn. Regierungschef Viktor Orbán versuchte vergeblich Werner Faymann zu erreichen. Er entschied darauf, die Flüchtlinge mit Bussen von der Autobahn und dem Bahnhof abzuholen und zur ungarisch-österrei‐ chischen Grenze zu befördern. Er ließ den österreichischen Bundes‐ kanzler und die deutsche Bundeskanzlerin unterrichten, ohne direkt mit den beiden zu sprechen. Werner Faymann und Angela Merkel te‐ lefonierten und waren sich einig: Die Flüchtlinge würden sich nur 4 Asylpolitik der Europäischen Union 172 <?page no="173"?> durch Gewalt aufhalten lassen und das wäre nicht tragbar. Deutsch‐ land und Österreich wollten aufgrund der humanitären Notlage eine Ausnahmereglung mit Ungarn vereinbaren und die Flüchtlinge pas‐ sieren lassen. Daraufhin verhandelten die Außenminister Deutsch‐ lands, Österreichs und Ungarns im Anschluss an ein Außenminister‐ treffen in Brüssel am Abend des 4. September 2015 über den genauen Wortlaut der gemeinsamen Pressemeldung. Deutschland und Öster‐ reich wollten in die Meldung aufnehmen, dass es sich um eine „hu‐ manitäre Notlage“ handele. Ungarn beharrte auf der Streichung des Wortes „humanitär“. Dieses Wort assoziiere eine ungarische Überfor‐ derung bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge. Gleich‐ zeitig prüfte das Auswärtige Amt die rechtliche Grundlage der Ent‐ scheidung mit dem Ergebnis, dass Deutschland von seinem Selbsteintrittsrecht (Art. 17) gemäß der Dublin-Verordnung Gebrauch machen könne. Am nächsten Tag telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem französischen Präsidenten, François Hollande, und bat um die Aufnahme von 1.000 Flüchtlingen. Dieser stimmte zu, forderte aber gleichzeitig eine europäische Lösung, von der er wusste, dass sie schwer zu erreichen ist. Auch Angela Merkel strebte eine europäische Lösung an, telefonierte mit den europäischen Regierungschefs, erhielt eine Absage nach der anderen. In einem Fernsehstatement der Regie‐ rung zu der Entscheidung vom späten Freitagabend wurde betont, dass es sich um eine Ausnahme handele. Doch die Entscheidug, einige Busse passieren zu lassen, entwickelte eine Eigendynamik. Die Ereignisse zeigten, dass die Kommunikation zwischen Ungarn, Deutschland und Österreich so weit eskalierte, dass Ungarn einseitig eine Entscheidung traf, die Deutschland und Österreich enorm unter Druck setzte, sofort zu handeln. Es gab nur die Wahl, entweder die Flüchtlinge abzuweisen - möglicherweise unter Einsatz von staatli‐ cher Gewalt - oder die Einreise zu gewähren. Quellen: Blume et al 2016, Alkoussa et al 2016, Lohse und Löwenstein 2016. Außengrenzschutz, Dublin-Kriterien und Selbsteintritt im Krisenjahr 2015 Der dieser denkwürdigen Entscheidung in der Nacht vom 4./ 5. September 2015 folgende Diskussion um Recht und Unrecht bei der Anwendung und 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 173 <?page no="174"?> Aussetzung des Unionsrechts - vor allem der Dubliner Verordnung - müs‐ sen folgende Aspekte zur Dublin-Verordnung und zum Selbsteintritt hinzu‐ gefügt werden: Alle Mitgliedstaaten behalten in diesem System die alleinige Verantwortung über ihre Außengrenzen. Der Außengrenzschutz und die Einreisekontrolle obliegen damit den Mitgliedstaaten. Hier können weder andere Mitgliedstaaten noch die Europäische Kommission, Frontex oder ein sonstiger Akteur intervenieren. Jeder Mitgliedstaat kann technische, ope‐ rationale und personelle Unterstützung durch die europäische Agentur Frontex erhalten. Nur auf ausdrückliche Einladung eines Mitgliedstaates werden Grenzschutzaktivitäten gemeinsam durchgeführt. Das bedeutet: Je‐ der Mitgliedstaat mit Außengrenze ist für diese Grenzen verantwortlich. Kein anderer Mitgliedstaat soll für die Vorgänge an der Außengrenze eines Mitgliedstaates verantwortlich gemacht werden. Ohne selbst an der Außen‐ grenze ihrer Kooperationspartner aktiv werden zu können, müssen sich die Schengenstaaten also darauf verlassen können, dass Vorgänge dort nicht zur Belastung für die Schengen-Gemeinschaft insgesamt werden. Das erfordert Vertrauen und entspricht im Kern einem umgekehrten Solidaritätsverständ‐ nis, wie es die Kommission bei der Ausarbeitung der Dublin-Verordnung von 2003 formulierte: Die schrittweise Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gemäß den Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Eu‐ ropäischen Gemeinschaft gewährleistet wird, setzt voraus, dass jeder Mitglied‐ staat gegenüber den anderen für seine Handlungen im Bereich der Einreise und des Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen verantwortlich ist und die Konse‐ quenzen seiner Asylpolitik im Geiste der Solidarität und der Verantwortung tra‐ gen muss. Die Zuständigkeitskriterien müssen diesen Grundsatz widerspiegeln. (Europäische Kommission: KOM(2001)447, 26. 07. 2001, Erwägungsgrund 8) Die Kriterien sollen gerade berücksichtigen, dass bei Ersteinreisen und den daraus resultierenden Asylanträgen nicht auf die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten gezählt werden kann. Diese positive Solidarität ist jedoch niemals ausgeschlossen. Im Gegenteil, die humanitäre Klausel der Dub‐ lin-Verordnung ermöglicht es jedem Mitgliedstaat seit 2003, sich unabhängig von den zutreffenden Dublin-Kriterien aus humanitären Gründen selbst für die Prüfung eines Asylantrags für zuständig zu erklären (Europäische Kom‐ mission: KOM(2001) 447, 26. 07. 2001, Art. 16). Seit 2013 ist dieser Selbstein‐ tritt als „Ermessensklausel“ erweitert worden: 4 Asylpolitik der Europäischen Union 174 <?page no="175"?> „Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verord‐ nung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.“ (VO 2013/ 604, Art. 17 Abs. 1) Zu keinem Zeitpunkt ist eine strenge Anwendung der Dublin-Kriterien und des damit einhergehenden bürokratischen Aufwandes der Prüfung und Überstellung verpflichtend. Vielmehr handelt es sich um einen Schutzme‐ chanismus. Die Dubliner Kriterien sind also vor allem dazu gedacht, klare Zuständigkeiten festzulegen, damit eindeutig und ausschließlich ein Mit‐ gliedstaat für eine Antragsprüfung zuständig ist; damit es keine parallelen oder aufeinander folgenden Asylanträge in verschiedenen Schengenstaaten gibt. Darüber hinaus verpflichteten der Europäische Gerichtshof für Men‐ schenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Union in ähnlichen Ur‐ teilen aus dem Jahr 2011 die Anwenderstaaten des Schengen-Raums zur maßvollen Prüfung ihrer Überstellungen im Rahmen des Dubliner Überein‐ kommens (siehe S. 136-139). Eine Überstellung sollten die Staaten nicht durchführen, wenn diese eine Gefährdung der Grundrechte der Antragstel‐ ler bedeuten kann. Eine solche Gefährdung ist gegeben, wenn es systemische Defizite bei der Aufnahme und Versorgung von Antragstellern im Aufnah‐ meland gibt. Die Gewährleistung einer menschenwürdigen Unterbringung und Versorgung ist Grundbedingung für die Achtung der Grundrechte von Asylantragstellern. Die Bundesregierung folgte also der Rechtsprechung der obersten euro‐ päischen Gerichte aus dem Jahr 2011, zum Schutz der Grundrechte der Asyl‐ bewerber von Überstellungen abzusehen und stattdessen vom Selbsteint‐ rittsrecht Gebrauch zu machen. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte der Gerichtshof im Verfahren Jafari im Jahr 2016. EuGH-Entscheidung zur Flüchtlingspolitik des Sommers 2015: Jafari Zum Sachverhalt: Zwei afghanische Staatsbürgerinnen, Khadija und Zainab Jafari, stell‐ ten in Österreich Asylanträge, nachdem sie über Griechenland, Ma‐ zedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien eingereist waren. Öster‐ reich erklärte die Anträge für unzulässig, da die Antragstellerinnen über Griechenland und Kroatien illegal in den Schengenraum einge‐ 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 175 <?page no="176"?> reist seien (Rn 33). Aufgrund systemischer Mängel im griechischen Asylsystem hielt Österreich eine Überstellung dorthin für unmöglich und schlussfolgerte gemäß Art. 13 Abs. 1 der Dublin-Verordnung (Ersteinreiseprinzip) die Zuständigkeit Kroatiens, wogegen die Be‐ troffenen klagten und insbesondere darauf verwiesen, dass sie von den kroatischen und slowenischen Behörden dabei unterstützt worden seien, nach Österreich zu gelangen und dort einen Antrag zu stellen. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof legte dem EuGH schließ‐ lich mehrere Fragen in einem Vorabentscheidungsverfahren vor, die darauf zielten zu klären, (1) ob die Duldung eines „illegalen Grenz‐ übertritts“ mit einer Einreisegenehmigung (Visum) gleichzusetzen ist und (2) ob die Situation einer hohen Zahl von Asylsuchenden zu einer Einschränkung der gültigen Dublin-Regeln führt (Rn 36). Zum Urteil: Der Gerichtshof stellte fest, dass der Begriff „illegaler Grenzübertritt“ in der Verordnung und auch in Unionsrechtsakten mit thematischem Bezug nicht definiert ist (Rn 61-66). Daher müsse dem Wortlaut nach gelten, dass ein Grenzübertitt illegal ist, wenn die gel‐ tenden Voraussetzungen nicht eingehalten werden (Rn 74). Dafür sind im vorliegenden Fall die Regelungen des Schengener Grenzkodexes entscheidend (Rn 75), die für Kroatien gelten (Rn 76). Zu den Fragen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs: (1) Der Gerichtshof verneinte in seiner Auslegung, dass die Duldung einer unregelmäßi‐ gen Einreise einer Einreiseerlaubnis (Visum) gleichkommt und betont vielmehr, dass derjenige Staat für die Prüfung eines Asylverfahrens zuständig ist, der die (Erst-)Einreise gestattet. (2) Bezüglich der Aus‐ nahmesituation des Sommers 2015 hält der Gerichthof fest, dass die außergewöhnlich hohe Zahl von Migranten, die im Sommer 2015 in den europäischen Raum einreisten, keine Aussetzung der bestehenden Regeln (Dublin) legitimiert. Jeder Mitgliedstaat bleibt - auch in einer außergewöhnlichen Situation - für seine Handlungen im Bereich der Einreise und des Aufenthalts verantwortlich und damit auch für die Konsequenzen, die daraus erwachsen (Rn 88). Warum die Entscheidung als relevant für die deutsche Flücht‐ lingspolitik erachtet wurde: Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzugn stand der illegale Grenzübertritt und die daraus resultierende Frage der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung eines Asylantrags. Hier wurde die Parallele zu Angela Merkels Entscheidung gesehen, tausende Mi‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 176 <?page no="177"?> granten die österreichisch-deutsche Grenze passieren zu lassen, die über Griechenland und Ungarn „illegal“ in den Schengenraum einge‐ reist waren. Eine Passage des Gerichts liest sich wie eine unmittelbare Antwort auf die Infragestellung dieser politischen Entscheidung mit einer eindeutigen Legitimierung. So formulierten die Richter, dass die Mitgliedstaaten im Geiste der Solidarität und unter Nutzung der Be‐ fugnis aus Art. 17 Abs. 1 der Dublin-Verordnung „einseitig oder in Abstimmung mit dem betreffenden Mitgliedstaat [Anm. im deutschen Streitfall: Ungarn] beschließen, bei ihnen gestellte Anträge auf inter‐ nationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie nach den in in der Ver‐ ordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind.“ (Rn 100). Der Gerichtshof betonte zudem, dass ein Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, nationalen Interessen oder internationalen Verpflichtungen von den Einreisevoraussetzungen absehen und die Einreise von Drittstaatsangehörigen im Einklang mit dem Schengener Grenzkodex gestatten kann (Rn 79). Zur Bewertung des Urteils: Die Entscheidung ist sehr facettenreich. Ihre Bewertung ging deshalb auseinander. Die drei wichtigsten Er‐ gebnisse sind folgende: Erstens, die Dublin-Verordnung gilt auch in Krisenzeiten wie im Fall der außergewöhnlich hohen Zuwanderungs‐ zahl im Jahr 2015 (Rn 54). Zweitens, ein Mitgliedstaat kann im Ein‐ klang mit der Dublin-Verordnung und dem Schengener Grenzkodex von den darin festgeschriebenen Einreisevoraussetzungen abweichen, wenn humanitäre Gründe, nationale Interessen oder internationale Verpflichtungen dies gebieten (Rn 79). Drittens hat der Gerichtshof die Mitgliedstaaten an das vielfältige Instrumentarium erinnert, das den Mitgliedstaaten bei der Aufarbeitung der Migrationskrise zur Verfü‐ gung steht. Unter Beachtung des Solidaritätsprinzips gemäß Art. 80 AEUV gelte für die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Ein‐ wanderung „der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Auftei‐ lung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ (Rn 100). Quellle: EuGH, Jafari, C-646/ 16, Urteil des Gerichtshofs (Große Kam‐ mer) vom 26. Juli 2017, ECLI: EU: C: 2017: 586. Zur Diskussion der deutschen Flüchtlingspolitik Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis sprechen in einer lesenswerten Aufarbeitung des Streits um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung von 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 177 <?page no="178"?> einer „Rechtsbruch-Legende“, die vom ehemaligen Verfassungsrichtern Udo Di Fabio (2016: 116-121) zu Unrecht genährt wurde und nachhaltige Wir‐ kung im Parteien- und Politsystem der Bundesrepublik entfaltete (Detjen und Steinbeis 2019). In der gründlichen Aufarbeitung werden nicht nur die juristischen und medialen Reaktionen auf die deutsche Flüchtlingspolitik beleuchtet. Vielmehr wird darüber hinaus deutlich, wie sehr das nationale Recht im Bereich Grenze und Asyl vom europäischen Recht überlagert wird (Detjen und Steinbeis 2019: 75-89). Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Anfang September 2015 tausende Migranten, die in Ungarn in prekären Verhältnissen lebten, an der österreichisch-deutschen Grenze einreisen zu lassen und auch in den Folgetagen und Wochen die Grenze nicht zu schließen, wurde daraufhin in foglenden Punkten in Frage gestellt: 1. War es rechtmäßig, den Schutzsuchenden an der österreichisch-deut‐ 1. schen Grenze die Einreise zu gewähren? Zwar können Binnengrenzen im Schengenraum für einen bestimmten Zweck und Zeitraum vorübergehend kontrolliert werden. Eine Zurückwei‐ sung von Schutzsuchenden ist jedoch weder im Schengener Bestitzstand (zum Zeitpunkt der Krise: Art. 13 Abs. 1, VO (EG) Nr. 562/ 2006, seit 2016: Art. 14 Abs. 1, VO (EU) 2016/ 399) noch laut Dublin-Verordnung vorgesehen (Art. 3 Abs. 1, VO (EU) Nr. 604/ 2013). Dennoch appellierten Staatsrechtler an die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze (siehe besonders die Beiträge in De‐ penheuer und Grabenwarter 2016): „Die Staatsgrenze und die praktische Macht zu ihrer Kontrolle sind […] staatskonstituierend.“ (Di Fabio 2016: 64). In der Diskussion über die deutsche Flüchtlingspolitik verschob sich die Perspektive von der rechtmäßigen Einreise von Schutzsuchenden auf Mög‐ lichkeiten der rechtmäßigen Zurückweisung von Schutzsuchenden (Detjen und Steinbeis 2019: 65). Einige Staatsrechtler argumentierten (Peukert et al 2016), dass ein Asylantrag im Land des Aufenthalts gestellt werden müsse und verwiesen auf Art. 20 Abs. 4 der Dublin-Verordnung; ein Passus der primär verhindert, dass ein Antragsteller in einer Botschaft eines anderen Mitgliedstaates Asyl beantragt: „Stellt ein Antragsteller bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates einen Antrag auf internationalen Schutz, während er sich im Hoheitsgebiet eines an‐ deren Mitgliedstaats aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitglied‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 178 <?page no="179"?> staates dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält.“ (VO (EU) Nr. 604/ 2013 v. 26. 6. 2013, Art. 20 Abs. 4). Zudem wurde auf die grundsätzliche Rechtmäßigkeit einer Einreiseverwei‐ gerung nach Art. 13 Abs. 4 des Schengener Grenzkodexes verwiesen: Da‐ nach stellen die Grenzschutzbeamten sicher, „dass ein Drittstaatsangehöri‐ ger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.“ Gleichzeitig heißt es allerdings im ersten Ab‐ schnitt des zitierten Artikels 13, dass Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz von den Bestimmungen der Einreiseverweigerung ausgenommen sind. Ungeachtet dessen wurde aus dieser kombinierten Lesart gefolgert, dass sich die Antragsteller an der österreichisch-deutschen Grenze noch im Ho‐ heitsgebiet Österreichs befanden und dort ihren Asylantrag hätten geltend machen müssen. Dem hielten Europa- und Migrationsrechtler wie Kay Hail‐ bronner und Daniel Thym entgegen, dass das Dublin-System keine Zurück‐ weisung an der Grenze kenne, sondern nur eine konstruktive Zurückwei‐ sung an den nachweislich zuständigen Staat (Hailbronner und Thym 2016c: 762). Nicht Österreich, sondern Staaten wie Griechenland, Ungarn oder Kroatien wären gemäß Dublin-Verordnung Zielstaaten der Überstellung. Diese Staaten waren jedoch im September 2015 überlastet bzw. kooperierten nicht, wodurch sich der generelle Selbsteinritt der Bundesrepublik recht‐ fertigt (Bast und Möllers 2016, Zweifel bei Wendel 2016). Hinzu kommt, dass der Transitraum an der Grenze kein Niemandsland ist. Wenn Antragsteller auf deutschem Territorium deutschen Bundespoli‐ zisten begegnen, befinden sie sich in deutscher Jurisdiktion. Dass Jurisdik‐ tion unabhängig vom Territorialitätsprinzip zur Verantwortung verpflichtet ist, spätestens seit der Entscheidung Hirsi Jamaa bekannt (siehe S. 85); zumal Art. 3 Abs. 1 der Dublin-Verordnung ausdrücklich die Grenze und den Tran‐ sitbereich als zulässige Antragsorte auflistet: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt.“ Die Dublin-Verordnung enthält eine weitere Klarstellung, die in der Zuständigkeitsfrage die Position von Hailbronner und Thym sowie Bast und Möllers stützt: „Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen worden, so wird der die Zuständigkeit 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 179 <?page no="180"?> prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.“ (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Dub‐ lin-Verordnung (EU) Nr. 604/ 2013) Bei mangelnder Registrierung oder systemischen Mängeln im Asylsystem des Ersteinreisestaates geht die Zuständigkeit damit an denjenigen Mit‐ gliedstaat, der die Zuständigkeit prüft - im Falle der Lage an der österrei‐ chisch-deutschen Grenze 2015 damit an die Bundesrepublik über. Dann be‐ steht eine Dublin-Zuständigkeit für die Prüfung der Asylbegehren durch Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 der Dublin-Verordnung. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages befassten sich mit der Frage, ob ein Selbsteintritt nur individuell oder auch „pauschal und für Asylsuchende, die das Bundesgebiet noch nicht erreicht haben, er‐ klärt worden ist“ (Deutscher Bundestag 2016: 9). Das Bundesamt für Migra‐ tion und Flüchtlinge hatte über eine Twitter-Nachricht im August 2015 er‐ klärt, dass es die Dublin-Verfahren für syrische Staatsangehörige faktisch nicht weiterverfolge (Deutscher Bundestag 2016: 9). Gleichzeitig betonten die Juristen des Bundestages in einem weiteren Dokument, dass „die Aus‐ setzung von Dublin-Prüfungen […] keine Aussetzung der Dublin-III-Ver‐ ordnung“ bedeute (Deutscher Bundestag 2017a: 5) und kamen zu dem Schluss, dass der freiwilligen Übernahme von Pflichten durch die EU-Mit‐ gliedstaaten gemäß der Dublin-Verordnung nichts entgegenstehe (Deut‐ scher Bundestag 2016: 9). Zudem ist das Selbsteintrittsrecht an keine konkreten Bedingungen ge‐ knüpft, wie der EuGH selbst in einem Verfahren im Jahr 2013 feststellte. Das Selbsteintrittsrecht der Dublin-Verordnung ist an keine konkreten Bedin‐ gungen geknüpft. Diese Entscheidung traf der EuGH im Jahr 2013 im Vor‐ abentscheidungsverfahren im Fall Halaf. Ein Gericht aus Bulgarien hatte die Frage vorgelegt, ob die Selbsteintrittsklausel (auch als Souveränitätsklausel bezeichnet) an humanitäre - bspw. familiäre - Gründe gekopppelt sei. Dies verneinte das Gericht (EuGH: Halaf, C-528/ 11, Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 30. 5. 2013, ECLI: EU: C: 2013: 342, Rn 25. 1). 2. War es richtig, die Schutzsuchenden in so großer Zahl aufzunehmen? 2. Es gibt grundsätzlich keine nationale, europäische oder völkerrechtliche Rechtsgrundlage, die eine unbegrenzte Einreise von Schutzsuchenden ein‐ fordert. Auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäi‐ schen Menschenrechtskonvention gibt es trotz eines Rechts auf Asyl keinen Anspruch auf Einreise in einen Staat, über dessen Staatsangehörigkeit ein 4 Asylpolitik der Europäischen Union 180 <?page no="181"?> Mensch nicht verfügt. Die Entscheidung, eine Einreise zu gewähren, bleibt immer der Souveränität eines Staates überlassen. Doch sind die Staaten an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonven‐ tion und Mitgliedstaaten der Europäischen Union zudem an das Unionsrecht gebunden. Während die Zurückweisung von Migranten möglich wäre, so ist die Zurückweisung eines Schutzsuchenden mit diesen Verpflichtungen nicht vereinbar. Die Unterscheidung, ob ein begründeter Schutzanspruch vorliegt oder ein Migrationsbestreben zur Verbesserung der Lebensverhält‐ nisse, kann in der Situation der Grenzkontrolle nicht ad-hoc geklärt werden. Rechtsphilosophen wenden bei Debatten um mögliche Kontingente oder Obergrenzen zu Recht ein, dass auch moralische Fragen zum Tragen kom‐ men müssen: Ist es vertretbar Menschen abzuweisen, weil ihre Ankunft möglicherweise Einschränkungen unserer Lebensweise zur Folge haben könnte? „Is it morally permissible to deny asylum when admitting larg numbers of needy peoples into our territories would cause a decline in our standards of living? And what amount of decline in welfare is morally permissible before it can be invoked as grounds for denying entry to the persecuted, to the needy, and the oppressed? “ (Benhabib 2004: 37). Gerade vor dem Hintergrund relativer Aufnahmezahlen muss auch diese ethische Argumentation berücksichtigt werden: Es ist bereits darauf hinge‐ wiesen worden, dass der Anteil derjenigen, die in der Europäischen Union Schutz gesucht bzw. gefunden haben, lediglich etwa 0,5 % der Bevölkerung entspricht (vgl. S. 156). Die Zahl der Neuankömmlinge in Europa blieb vor dem Hintergrund globaler Fluchtbewegungen angesichts von über 70 Mil‐ lionen Flüchtlingen weltweit überschaubar (UNHCR 2019a: 2). Aus den humanitären Verpflichtungen der EU-Staaten ergab sich in der Zuspitzung der Lage im Jahr 2015 eine akute Verantwortung für die Auf‐ nahme der Schutzsuchenden. Aufgrund komplexer Migrationsgründe lässt sich jeweils erst im Laufe eines Asylverfahrens klären, ob ein Schutzbedarf besteht oder eine Zurückweisung und Rückführung zulässig ist. Nicht die Aufnahme der Schutzsuchenden und Migranten ist zu kritisieren, sondern die Tatsache, dass diese Aufgabe nicht solidarisch von der gesamten EU-Staatengemeinschaft übernommen wurde, sondern im Wesentlichen von einer Handvoll Staaten geschultert wurde, die für die kurzfristige Auf‐ nahme einer so großen Zahl von Migranten nicht vorbereitet waren und deshalb an ihre organisatorischen und logistischen Grenzen gelangten bzw. 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 181 <?page no="182"?> überfordert waren. Klaus Gärditz erinnert zurecht daran, dass weniger die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge, als vielmehr das administrative Scheitern im Umgang damit eine Krise für die Staatengemeinschaft dar‐ stellte: „Das Krisenhafte an der Flüchtlingskrise ist auch weniger die Zahl der Menschen, die einwandern, sondern das Scheitern (überwiegend unverschuldet) überforder‐ ter Verwaltungsstäbe, Einwanderung zu verwalten und menschenwürdig aufzu‐ fangen.“ (Gärditz 2016: 118-119) Ähnlich bewertet es Wolfram Hilz in einem Beitrag über Europa und die Flüchtlinge, in dem er die quantitative Herausforderung der Zuwanderung angesichts globaler Migrationsbewegungen relativiert und die soziale Inte‐ gration als Herausforderung hervorhebt: „Die Herausforderung liegt meist auch nicht in einer völligen Ablehnung von Flüchtlingen, sondern in der zeitlichen Perspektive und den schlecht kalkulier‐ baren Folgeaufgaben der Flüchtlingsaufnahme. Spontane Bereitschaft zur huma‐ nitär-motivierten Nothilfe ist etwas anderes als die Herausforderung der mittel- oder gar langfristigen Integration von Neuankömmlingen in eine Gesellschaft. Die Anzahl der Schutzsuchenden in Kombination mit der vielfach in Europa fest‐ zustellenden Unsicherheit, wer ‚die Fremden‘ sind, ob sie zu ‚uns‘ wirklich passen, und ob ein Zusammenleben so gestaltet werden kann, wie die Aufnahmegesell‐ schaften dies wollen, ist also ein wesentlicher Teil dieser Herausforderung.“ (Hilz 2018: 75) Die Bewertung des Gelingens der Folgeaufgaben spielt in der rückschauen‐ den Betrachtung der politischen Entscheidungen des Jahres 2015 eine zen‐ trale Rolle. Ein wichtiger Aspekt ist dabei wiederum, dass sich die Migrati‐ onsbewegung Richtung Europa im Jahr 2015 ebenso wie in den Jahren zuvor und danach als eine Mischung aus Flucht- und Migrationsgründen darstellte, die vom Einwanderungs- und Asylrecht der Europäischen Union nicht an‐ gemessen beantwortet werden können. Aufgrund einer weiterhin national gesteuerten und weitgehend restriktiv gehandhabten Einwanderungspolitik, bleibt oft nur der Weg über den Asyl‐ antrag, um überhaupt in den europäischen Raum einreisen zu können. Gleichzeitig gibt es für schutzbedürftige Personen keine Möglichkeit außer‐ halb des europäischen Raums einen entsprechenden Antrag geltend zu ma‐ chen und über geregelte Wege - bspw. mit einem humanitären Visum - einzureisen. Genau daraus ergeben sich Konfliktsituationen an der Außen‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 182 <?page no="183"?> grenze sowe in ihrer Zuspitzung die Lage aus dem Jahr 2015. Der tradierte Rechtskanon zum Flüchtlingsschutz vermag die Migrationsbewegungen nicht adäquat zu beantworten. Flucht- und Migrationsgründe sind vielfälti‐ ger geworden als es das internationale Flüchtlingsrecht und die Ergänzun‐ gen aus dem Unionsrecht abbilden könnten. Auch daraus ergeben sich Fra‐ gen über die Richtigkeit der politischen Entscheidungen des Jahres 2015, auch wenn in der konkreten Situation rechtlich wie ethisch begründete, hu‐ manitär gerechtfertigte Entscheidungen getroffen wurden. 3. War es rechtmäßig, in den Tagen und Wochen nach der Einzelfall‐ 3. entscheidung den Ausnahmezustand an der österreichisch-deutschen Grenze nicht zu beenden? Einer der lautstärksten Kritiker der deutschen Flüchtlingspolitik war der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer. Er prangerte die „Herrschaft des Unrechts“ an der österreichisch-deutschen Grenze an und gab beim ehemaligen Verfassungsrichter und Bonner Staatsrechtler Udo Di Fabio ein Gutachten in Auftrag, um zu klären, ob der Bund gegenüber den Ländern seine verfassungsrechtlichen Pflichten durch die unkontrollierte Gewährung der Einreise von Schutzsuchenden verletze. Die Thesen Udo Di Fabios räumten einer Klage des Freistaates Bayern gegen die Bundesregie‐ rung vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolgschancen ein. Doch zu einem Verfahren kam es nicht. Im Kern argumentierte Di Fabio in seinem gut 100 Seiten starken Gutachten wie folgt: Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beruht auf den Regelwerken von Schengen und Dublin, die jedoch im Zuge der Migrationskrise 2015 zusammengebrochen seien (Di Fabio 2016: 66, 77-78, 82): „Das geltende europäische Recht nach Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischer Weise nicht mehr beachtet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf.“ (Di Fabio 2016: 82) Daraus leitete Di Fabio nicht nur eine Berechtigung, sondern geradezu eine Verpflichtung des Bundes ab, natio‐ nale Maßnahmen zu ergreifen um einen effizienten Grenzschutz wieder‐ herzustellen (2016: 83). Wichtigstes Motiv war dabei die innere Sicherheit. Doch auch die Belastung der Länder durch die unkontrollierte Einreise wurde berücksichtigt: Während dem Bund die ausschließliche Gesetzge‐ bungskompetenz im Grenzschutz und der Einwanderung obliegt, ist es Auf‐ gabe der Länder für die Unterbringung, Versorgung sowie Integration der Schutzsuchenden und damit für die Durchführung von Aufenthalts- und Asylgesetz zu sorgen (Di Fabio 2016: 27-28). 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 183 <?page no="184"?> Im Ergebnis befand Di Fabio, dass „in mehrfacher Hinsicht verfassungs‐ rechtliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern zur Begrenzung des massenhaften und unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen“ beständen (2016: 101). Dazu zähle, „die Mängel im Schengenregelsystem und im Dub‐ linverfahren zu beseitigen.“ (Di Fabio 2016: 101) Zu diesem Zweck verfügt der Bund über politische und rechtliche Mittel und Wege, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gutachtens im Januar 2016 sah Di Fabio „das erfor‐ derliche Mindestmaß an politischer Anstrengung eher unterschritten als erfüllt“ (Di Fabio 2016: 101). Die Überlagerung durch Unionsrecht fand jedoch insgesamt nur wenig Beachtung in Di Fabios Gutachten. Zwar stellte er eine problematische „Di‐ vergenz der Zuständigkeiten“ fest, insoweit Migrationspolitik als europäi‐ sches Interesse gelte, während die Außengrenzkontrolle weiterhin in der Kompetenz der Nationalstaaten liege (Di Fabio 2016: 77). Doch die syste‐ matische Nichtanwendung der Schengen- und Dublin-Regularien hoben in der Argumentation Di Fabios erstens deren Verbindlichkeit auf und recht‐ fertigten zweitens nationale Maßnahmen zur Wiederherstellung der ver‐ fassungsgemäßen Ordnung (2016: 66, 82, 92, 105). Die Staatsrechtler Jürgen Bast und Christoph Möllers kritisierten einer‐ seits die Fixierung auf Grenzkontrollen und Möglichkeiten der Abweisung von Schutzsuchenden als politisch und (europa-)rechtlich zu kurz gedacht und andererseits die daraus abgeleiteten auf Konfrontation und Konflikt ausgerichteten Handlungsempfehlungen: „Das Gutachten nutzt fragwürdige staatstheoretische Argumente, um den Bund zu europarechtswidrigen Alleingängen anzuhalten, die dieser den Ländern an‐ geblich verfassungsrechtlich schuldet. Das ist steil. Man kann dieses Gutachten auch als Zeugnis einer Verhärtung des politischen Klimas sehen, in dem nun ehemalige Verfassungsrichter ihre hohe Reputation dazu verwenden, einer de‐ mokratischen Regierung einen Rechtsbruch zu unterstellen, ohne diesen konkret benennen zu können.“ (Bast und Mölllers 2016) Auch der Gerichtshof der Europäischen Union rügte eine solche Auslegung, indem er in einem Urteil im Jahr 2017 klarstellte, dass das Regelwerk von Dublin auch in einer Krisensituation gelte. Am Rande der Erläuterungen im Fall Jafari bezeichneten die Richter den Selbsteinritt als probates Mittel, um andere Mitgliedstaaten in einer Überlastungssituation solidarisch zu unter‐ stützen. Eine grundlegende Änderung der bestehenden Dublin-Regeln hal‐ ten die Richter - wie bereits 2011 in der Entscheidung N.S. u. a. (siehe S. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 184 <?page no="185"?> 136-139) angemahnt - für dringend notwendig. Eine Reform des Dubliner Regelwerks könne jedoch nicht durch richterliche Entscheidung erfolgen, sondern unterliege dem Gesetzgebungsverfahren. Die Diskussionen, die um die Geschehnisse an der österreichisch-deutschen Grenze entstanden sind, verdeutlichen in vielfältiger Weise die fortgeschrit‐ tene Verwebung von Recht und Politik auf nationaler und europäischer Ebene: a. Der Außengrenzschutz ist den Mitgliedstaaten im Regelwerk Schen‐ a. gen weitgehend entzogen, das hat weitreichende Konsequenzen be‐ sonders für die nationale Sicherheit aller beteiligten Staaten. b. An den Binnengrenzen gibt es begrenzte Möglichkeiten einen effek‐ b. tiven Grenzschutz zu gewährleisten. c. Das Dubliner Regelwerk gilt, auch wenn es sich in einer Situation wie c. an der österreichisch-deutschen Grenze als ineffizient und nicht nutz‐ bar erweist. Gleichzeitig erfüllt das Dubliner System mit dem Prinzip der koordinierten Zurückweisung eines seiner Kernanliegen: dass Schutzsuchende nicht von Staat zu Staat immer weiter verwiesen werden (refugees in orbit, siehe S. 122). d. Die Bundesregierung hat bei ihren flüchtlingspolitischen Entschei‐ d. dungen im Jahr 2015 das Unionsrecht geachtet und sich gegen einen nationalen Alleingang entschieden. Durch die Aufnahme von hun‐ derttausenden Flüchtlingen hat die Bundesrepublik humanitäre Ver‐ antwortung übernommen und sich durch den Selbsteintritt solida‐ risch mit Greichenland, Italien und Ungarn gezeigt, deren Asylsysteme in der Migrationskrise besonders gefordert waren. An der gültigen Dublin-Verordnung wird sichtbar, wo die Lücke im Flücht‐ lingsschutz besteht: Flüchtlingsschutz ist weit mehr als ein deklatorischer Akt, einen Menschen nicht abzuschieben und ihm stattdessen einen Schutz‐ titel zu verleihen. Denn dort, wo die Zuständigkeitsfrage geklärt ist, begin‐ nen die eigentlichen Fragen: Wie wird effektiver Schutz und schließlich auch die Integration von Menschen gewährleistet, die nicht heimkehren können? Wenn die Verantwortung dafür an die Peripherie-Staaten mit Außengrenzen - insbesondere im Mittelmeerraum - abgeschoben wird, also in die Nähe der Krisenherde - ist dies nicht nur unfair gegenüber diesen Staaten, son‐ dern auch gegenüber den Schutzsuchenden, die in den Außengrenzstaaten nur begrenzte Ressourcen zur Schutzgewährung vorfinden (Bauböck 2018: 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 185 <?page no="186"?> 142). Dies wird unter dem Druck der Folgewirkungen der Finanz- und Wirt‐ schaftskrise umso deutlicher (Trauner 2016: 312-315). Die Migrationskrise hat vor allem gezeigt, dass der Flüchtlingsschutz in der EU noch nicht ausreichend harmonisiert ist und dass es an Solidarität, Verantwortungsteilung und Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten man‐ gelt (Ripoll Servent und Bendel 2017: 65). Die Migrationskrise ist daher zu‐ vorderst Ausdruck des Unwillens und der Unfähigkeit der Mitgliedstaaten zur tatsächlichen Zusammenarbeit in diesem sensiblen Politikbereich (Zaun 2017: 255). Eine politische Krise ist daraus geworden, weil die Mitgliedstaa‐ ten keine Bereitschaft zeigten, ein System zu etablieren, das tatsächlich Ver‐ antwortungsteilung realisiert, wie es das Solidaritätsprinzp aus Art. 80 AEUV einfordert. 4.5.2 Politischer Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 Die politische Uneinigkeit über die zukünftige Ausrichtung der europäi‐ schen Asylpolitik betrifft alle Stufen des Asyls von der Frage nach dem Zu‐ gang zum Asylsystem bis zur Integration im Ankunftsstaat: (1) Zugang: Welche Zugangsmöglichkeiten zum Asylsystem soll es geben? Was muss dafür in der Grenzpolitik geändert werden? Sind humanitäre Visa eine Option? Können Anträge außerhalb der Europäischen Union geprüft werden? (2) Zuständigkeit: Wie sollte die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asyl‐ antrags ermittelt werden? Wie kann dabei eine ausgewogene Aufgabentei‐ lung erreicht werden? Soll es Möglichkeiten geben durch finanzielle Soli‐ darität die Aufnahme von Asylsuchenden in anderen (EU-)Staaten zu fördern? (3) Solidarität: Welche ausgleichenden Mechanismen sind denkbar? Wie könnte die Umverteilung von schutzbedürftigen Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union im Sinne der Flüchtlinge und der Mitgliedstaaten ge‐ staltet werden? Was sind die normativen Rahmenbedingungen zum Umgang mit der Krise von 2015? Der Grundsatz zur Kooperationspflicht ist in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert. Art. 80 AEUV erfordert zudem die besondere Solidarität in Grenzschutz, Migration und Asyl. Lastenteilung gerade bei Asylfragen ist bereits beim Treffen der Staats- und Regierungschefs 1999 mit dem Programm von Tam‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 186 <?page no="187"?> pere zu einer verbindlichen Priorität geworden. Und auch die Massenzu‐ strom-Richtlinie sieht eine kollektive Antwort vor, wenn es eine erhebliche Asylzuwanderung gibt, die einen einzelnen Mitgliedstaat überfordert. Die gemeinsame Entscheidungsfindung im Bereich Grenzen und Asyl ist mit der Schaffung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems begonnen worden. Es gibt zudem ein EU-weites System zum Datenaustausch und eu‐ ropäische Agenturen, die die Zusammenarbeit in Grenz- und Asylbelangen erleichtern. Vor diesem Hintergrund müssten die erforderlichen Kapazitäten zum Umgang mit der Asylzuwanderung im Krisenjahr 2015 und in der Be‐ wältigung der Folgewirkungen gegeben sein (Bauböck 2018: 142). Legislative Maßnahmen für eine Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik Seit der Verabschiedung der Verordnung und Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Jahr 2013 sind die legislativen Aktivitäten in der europäischen Grenz- und Asylpolitik weitgehend zum Erliegen gekom‐ men (Müller-Graff und Repasi 2015). Die politischen Aktivitäten zur Beant‐ wortung der Asylschutzkrise konzentrieren sich seit 2015 auf ad-hoc Maß‐ nahmen. Selbst die überfällige Reform der Dublin-Verordnung bleibt anhängig. (1) Zugang Seit 2015 wird wieder intensiv über die Bearbeitung von Asylanträgen au‐ ßerhalb der Europäischen Union diskutiert. Eine ähnliche Initiative gab es bereits in einem Kommissionspapier aus dem Jahr 2003 (Europäische Kom‐ mission 2003: 10; sowie erneut aufgegriffen in Europäische Kommission 2014a: 8). Vorschläge dieser Art gab es bereits regelmäßig seit den 1980er Jahren (damals von Dänemark vorgeschlagen), jeweils verbunden mit mehr oder weniger Beteiligung des UNHCR/ der UNO. Bisher scheitert diese Stra‐ tegie auch an den Transitstaaten - bspw. nordafrikanische Staaten - die nicht dazu bereit sind, solche Prüfzentren in ihren Staaten einzurichten und als Außenposten der europäischen Asylpolitik zu fungieren. 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 187 <?page no="188"?> 33 Zu den europäischen Staaten, die am Neuansiedlungsprogramm von UNHCR teilneh‐ men, gehören z. B. Deutschland, Frankreich, Schweden, Großbritannien. Die größten Kontingente nehmen jedoch USA und Kanada auf, dazu: UNHCR (2019): Resettlement Data Finder, https: / / rsq.unhcr.org/ en/ #oF8j (29. 8. 2018). 34 Der Verteilungsschlüssel wird nach Bevölkerungszahl (40 %), Wirtschaftskraft (Ge‐ samt-BIP) (40 %), unter Berücksichtigung der Zahl spontaner Asylanträge 2010-2014 je 1 Mio. Anwohner (10 %) und der Arbeitslosenquote (10 %) ermittelt (Kommission 2015b: Erwägung 9). Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union nutzen bereits jetzt das Instrument der Neuansiedlung, 33 um den Flüchtlingen den Weg der irregu‐ lären Migration zu ersparen und damit auch der Kriminalität der Schlepper etwas entgegenzusetzen. Kooperationspartner ist dabei das Flüchtlingswerk der UNO, UNHCR. Gemeinsam mit UNHCR werden Neuansiedlungspro‐ gramme umgesetzt. UNHCR nominiert dafür schutzbedürftige Flüchtlinge, die dann legal als anerkannte Flüchtlinge in den europäischen Raum ein‐ reisen. Durch die Neuansiedlung erhalten Schutzsuchende außerhalb der EU eine legale Einreiseperspektive (Kommission 2015b: Erwägung 7). Wolfram Hilz weist zurecht darauf hin, dass die Europäische Kommission bereits im Frühjahr 2015 und damit deutlich vor der Zuspitzung der Krise einen Vorschlag zur Neuansiedlung von UNHCR-registrierten Flüchtlingen aus Nordafrika, dem Mittleren Osten und dem Horn von Afrika vorlegte (Hilz 2018: 81). Das Pilotprojekt fiel jedoch mit der Aufnahme von 20.000 Asylsuchenden in der gesamten EU über einen Zeitraum von zwei Jahren (Kommission 2015b: Erwägung 10) äußerst gering aus. 34 Zwar sollten die Zahlen sukzessive gesteigert werden mit einem jüngst vorgeschlagenen Programmplan zur Ausweitung des Neuansiedlungsprogramms auf eine Kontingentzahl von 50.000 Flüchtlingen, die auf Empfehlung des UNHCR insbesondere bis 2019 aus Libyen in der EU neu angesiedelt werden sollen (Europäische Kommission 2017d: 18). Seit April 2016 darf zudem für jeden irregulär über die Ägäis in Grie‐ chenland eingereisten Flüchtling aus der Türkei, ein UNHCR-zertifizierter Flüchtling legal in die EU einreisen (EU-Türkei-Erklärung v. 18. 3. 2016). Die Erklärung konstituiert einen Meilenstein in der europäischen Asylpolitik seit 2015 und hat erheblich zur Reduzierung der Asylzuwanderung in die EU beigetragen (UNHCR 2017: 42; Europäische Kommission 2017b: 3). Doch ist die auf Zurückweisung und kompensatorische Aufnahme setzende Erklä‐ rung vereinbar mit dem Nichtzurückweisungsprinzip aus Art. 78 AEUV und Art. 18 GRCh? 4 Asylpolitik der Europäischen Union 188 <?page no="189"?> Dieser Frage begegnete das erstinstanzliche Gericht der EU in einem Ver‐ fahren, das von drei Asylsuchenden vorgebracht wurde. Den drei Klägern drohte die Abschiebung in die Türkei, nachdem ihre Asylverfahren im be‐ schleunigten Verfahren nach Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung in Grie‐ chenland durchgeführt und abgelehnt wurden. Die Kläger fochten die Recht‐ mäßigkeit des Abkommens aufgrund der Verletzung des Nichtzurückweisungsprinzips an. Hier hätte eine Entscheidung über das „grund- und menschenrechtliche Fundament der Flüchtlingspolitik“ (Bast 2017: Abs. 2) und damit über den normativen Gehalt des europäischen Flüchtlingsrechts ergehen können. Doch die Richter entzogen sich einer materiellrechtlichen Bewertung der Erklärung und wiesen die Klage wegen Unzuständigkeit mit der Begründung ab, es handele sich bei der EU-Türkei-Erklärung nicht um Unionsrecht, sondern um eine internationale Vereinbarung, die im Völker‐ recht verortet sei. Der Rückführungskomponente der EU-Türkei-Erklärung steht die tat‐ sächliche Neuansiedlung gegenüber. Innerhalb des ersten Jahres nach In‐ krafttreten der Erklärung berichtete die Europäische Kommission von ins‐ gesamt 6.254 Syrern, die auf Grundlage des Abkommens in der EU neu angesiedelt wurden (Europäische Kommission 2017b: 10). Diese extrem re‐ striktive Aufnahmezahl im Rahmen des Neuansiedlungsprogramms offen‐ barte eine Wende in der Asylzuwanderung über das Mittelmeer: die An‐ künfte von Asylsuchenden im Mittelmeer ging 2016 deutlich zurück. (2) Zuständigkeit Auch einen Reformvorschlag für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hatte die Kommission bereits 2015 mit der Migrationsagenda ins Gespräch gebracht (Hilz 2018: 85). Im Juli 2016 legte die Europäische Kommission ein Maßnahmenpaket vor, das die bisherigen Richtlinien des Gemeinsamen Eu‐ ropäischen Asylystems in Verordnungen überführen und die bisherigen Verordnungen (wie Dublin und Eurodac) reformieren soll. Wenn die Auf‐ nahme-, Verfahrens- und Anerkennungsrichtlinien Verordnungen werden, dann sind sie unmittelbar anwendbar und müssen nicht in nationales Recht überführt werden. Es wäre zu erwarten, dass die darin enthaltenen Stan‐ dards dann verbindlicher wären. Im Kern werden die bisherigen Rechtsinstrumente einfach weitergeführt. Das gilt insbesondere für die Dublin-Verordnung, für die seit 2016 ein Re‐ formvorschlag vorliegt (COM(2016) 270 endg., 4. 5. 2016). Seitdem wurde der Vorschlag bereits 29 Mal im Rat der EU erörtert. Dies deutet darauf hin, dass 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 189 <?page no="190"?> die Mitgliedstaaten politisch weit von der Annahme des Reformvorschlags entfernt sind. Woran liegt das? Da die Kriterien der Dublin-Verordnung mit dem problematischen Grundprinzip der Ersteinreise weiterhin gelten sollen (COM(2016) 270, Art. 4 Abs. 1), muss der Konflikt den „automatischen Kor‐ rekturmechanismus für die Zuweisung“ betreffen, der einzigen wirklichen Neuerung im Reformvorschlag der Dublin-Verordnung (COM(2016) 270, Art. 44 Abs. 1). Dabei handelt es sich um einen Mechanismus, der zur aus‐ gleichenden Zuständigkeit führen soll, indem die Zahl der aufgenommenen Schutzsuchenden in ein Verhältnis zur Bevölkerungszahl und Wirtschafts‐ kraft eines Mitgliedstaates gesetzt werden. Übersteigt die Zahl der Asylsu‐ chenden 150 % dieser Referenzzahl, so leitet ein anzulegendes Informations‐ system einen automatisierten Korrekturmechanismus zur Umverteilung ein (COM(2016) 270, Art. 34 Abs. 2, Art. 44). Antragsteller werden dann Mit‐ gliedstaaten zugewiesen, die die geringste Zahl an Flüchtlingen im Verhält‐ nis zu ihrer Bevölkerung und Wirtschaftskraft aufweisen. Eine Ausstieg‐ soption aus diesem Mechanismus ermöglicht ein Passus über „finanzielle Solidarität“ (COM(2016) 270, Art. 37). Mitgliedstaaten könnten sich demnach der Umverteilung entziehen, am Ende eines Jahres zahlen sie dann als Kom‐ pensationsleistung für jeden Antragsteller, den Sie hätten aufnehmen müs‐ sen, 250.000 Euro als solidarischen Ausgleich. Der Referenzschlüssel enthält sinnvolle Indikatoren, um die Zuständig‐ keit für Asylverfahren nicht allein nach geographischen Prinzipien, sondern nach Kapazitäten festzulegen, die sich an der Wirtschaftskraft und Bevöl‐ kerungsgröße orientieren. Allerdings wird die Bürokratie in der Asylpolitik damit auf eine neue Stufe gehoben. Der Korrekturmechanismus funktioniert wie Eurodac in einer zweiten Dimension: Während Eurodac die Zuständig‐ keit eines Staates A feststellt, kann der Korrekturmechanismus dazu führen, dass ein Staat C zur Verantwortung gezogen wird, während sich der An‐ tragsteller im Staat B aufhält. Ein solches Szenario stellt die Effizienz der Dublin-Verordnung in Frage. Die Europäische Kommission erläutert, dass der Korrekturmechanismus zu einer permanenten ausgleichenden Verantwortungszuschreibung beitra‐ gen soll (COM(2016) 270: 4). In politischer Anlehnung an die ad-hoc-Be‐ schlüsse des Rates vom September 2015 zur Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in die übrigen Mitgliedstaaten, soll mithilfe des Referenzschlüssels eine dauerhafte Umverteilung herbei‐ geführt werden, die faktisch die geographischen Asymmetrien der irregu‐ lären Migration ausgleicht. 4 Asylpolitik der Europäischen Union 190 <?page no="191"?> 35 EuGH, Slowakei u. Ungarn gegen Rat der EU, Verbundene Rechtssachen C-643/ 15, C-647/ 15, Urteil vom 6. 9. 2017, ECLI: EU: C: 2017: 631, Rn 80-84, 103, 135, 150, 170, 189, 194, 205, 224, 261, 278, 310, 345. Der EuGH wies die Klage vollumfänglich ab, u. a. mit der Begründung, dass die Regelung tatsächlich und in verhältnismäßiger Weise dazu beiträgt, dass Griechenland und Italien die Folgen der Asylschutzkrise von 2015 be‐ wältigen konnten, vgl. Rn 96-97, 218. (3) Solidarität Für Aufsehen sorgten im September 2015 zwei Beschlüsse des Rates zur so‐ lidarischen Umsiedlung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland mit verpflichtendem Verteilungsschlüssel (Rat der Europäi‐ schen Union 2015a, 2015b: § 17), wogegen Ungarn und die Slowakei erfolglos klagten. 35 Im Kern handelte es sich um Umsiedlungsprogramme für Flücht‐ linge, die zunächst auf freiwilliger Basis (Rat der Europäischen Union 2015a) und dann auf Grundlage eines Mehrheitsbeschlusses verpflichtende Auf‐ nahmequoten vorsahen (Rat der Europäischen Union 2015b) und auf die Migrationsagenda der Europäischen Kommission zurückgehen. Eigentlich gilt im Rat der Innenminister die informelle Regel des Konsenses bei der Entscheidungsfindung. Dies hängt damit zusammen, dass es sich um ein sensibles Politikfeld nationaler Souveränität handelt. Auch deshalb gilt der Mehrheitsbeschluss im Rat zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU als bemerkenswert (Trauner 2016: 320). Die Umverteilung sollte innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein. Nach Ablauf dieser Frist berichtete die Europäische Kommission im Sep‐ tember 2017 in ihrem 15. Fortschrittsbericht über den Stand der Umvertei‐ lung (Europäische Kommission 2017c). Demnach wurden innerhalb von zwei Jahren insgesamt 55.390 Menschen statt der nach Ratsbeschlüssen vor‐ gesehenen und zugewiesenen 160.000 Menschen mit Schutzbedarf innerhalb der EU umgesiedelt. Lediglich Finnland erreichte die Zuweisungen nach den Ratsbeschlüssen. Lettland und Luxemburg wiesen eine hohe Umsiedlungs‐ quote auf, dennoch blieben sie unterhalb ihrer Zuweisungen zurück. Alle anderen Mitgliedstaaten sind weit hinter ihren Zuweisungsquoten zurück‐ geblieben. Nur eine Handvoll Umsiedlungen umgesetzt haben die Tsche‐ chische Republik und Bulgarien. Ungarn und Polen haben entgegen des Ratsbeschlusses keine Flüchtlinge aufgenommen (Europäische Kommission 2017c: Anhänge 1-3). 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 191 <?page no="192"?> EuGH-Entscheidung zum Umsiedlungsbeschluss von 160.000 Schutzbedürftigen aus Griechenland und Italien in die übrigen Mitgliedstaaten der EU: Slowakei und Ungarn vs. Rat der Euro‐ päischen Union Zum Sachverhalt: Angesichts der Krisensituation im Mittelmeer und einem „außergewöhnliche[n] Zustrom von Migranten“ (EuGH, Ver‐ bundene Rechtssachen C-643/ 15 und C-647/ 15, Rn 2) legte die Kom‐ mission auf Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Umsiedlung von 120.000 Asylsuchende zugunsten von Italien (15.600 Personen), Griechenland (50.400 Perso‐ nen) und Ungarn (54.000 Personen) vor (Rn 5, Verweis auf Europäische Kommission 2015c). In mehreren Ratsstizungen wurde der ursprüng‐ liche Vorschlag der Kommission geändert: Ungarn entzog sich der Umsiedlungsmaßnahme und wollte ausdrücklich nicht als Außen‐ grenzstaat bezeichnet werden. In geänderter Fassung wurde der Be‐ schluss am 22. September 2015 gegen die Stimmen der Tschechischen Republik, Ungarns, Rumäniens und der Slowakei und unter Enthal‐ tung Finnlands vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen. Die Slowakei und Ungarn beantragten daraufhin in den verbundenen Rechtssachen C-643/ 15 und C-647/ 15 vor dem EuGH, den Beschluss für nichtig zu erklären. Als Klagegründe brachten sie unterschiedliche Argumente vor. Die Slowakei argumentierte, dass das institutionelle Gleichgewicht bei der Entstehung des Beschlusses nicht eingehalten worden war, insbesondere die nationalen Parlamente nicht umfassend einbezogen wurden. Zudem sah die Sloakei die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzipien sowie Formvorschriften verletzt (Rn 38). Ungarn reklamierte, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV grundsätzlich un‐ geeignet als Rechtsgrundlage sei, führte zudem Defizite bei der Ein‐ haltung von Formvorschriften, der Verhältnismäßigkeit, Rechtssicher‐ heit und Normenklarheit an (Rn 39-45). Polen unterstützte die Anträge der Slowakei und Ungarns, während Belgien, Deutschland, Griechen‐ land, Frankreich, Italien, Luxemburg, Schweden und die Kommission die Anträge des Rates als Streithelfer unterstützten (Rn 35). Zum Urteil: Der Gerichtshof würdigte ausführlich alle Klagepunkte, die von der Slowakei und Ungarn vorgebracht wurden. Beide Staaten hatten moniert, dass es sich bei dem Umsiedlungsbeschluss nicht um 4 Asylpolitik der Europäischen Union 192 <?page no="193"?> eine „vorläufige Maßnahme“ handele, sondern um einen Rechtsakt, der im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätte ergehen müssen. Der Gerichtshof beleuchtete das Ziel von Art. 78 Abs. 3 AEUV, wonach Maßnahmen ergriffen werden sollen um schnell auf Notsituationen zu reagieren, wofür kein ordentliches Gesetzgebungsverfahren notwen‐ dig sei (Rn 82). Um „effektiv und schnell auf eine aufgrund eines plötz‐ lichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen eintretende Notlage zu reagieren“ (Rn 77), sei ein breites Instrumentarium an Maßnahmen notwendig, worunter der Umsiedlungsbeschluss eindeutig zu fassen sei. Die Formvorschriften wurden nach Einschätzung des Gerichtshofs eingehalten, die Anhörung des Parlaments beachtet und damit auch das institutionelle Gleichgewicht geachtet (Rn 169). Die Stellung‐ nahme nationaler Parlamente war demnach nicht notwendig, da es sich nicht um einen Gesetzgebungsakt handelte (Rn 193). Um zu be‐ werten, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wurde, musste das Ziel der Maßnahme - die Entlastung der Asylsysteme in Grie‐ chenland und Italien - überprüft werden (Rn 212). Den Umsiedlungs‐ mechanismus ordnete das Gericht als Teil eines Bündels von Maß‐ nahmen ein, das sich auf eine Datenanalyse stützte (Rn 222). Eine Verletzung der Verhältnismäßigkeit konnte das Gericht daher nicht feststellen. Insgesamt entkräftete der Gerichtshof alle Klagegründe, weshalb die Klagen abgewiesen wurden (Rn 345). Reaktionen auf das Urteil: Die Slowakei und Ungarn erklärten, dass sie das Urteil nicht respektieren würden und verwiesen darauf, dass der Umsiedlungsmechanismus ohenhin nicht funktioniere. Inzwi‐ schen gibt es gewissermaßen Folge-Verfahren vor dem EuGH: Die Kommission leitete 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Po‐ len (C-715/ 17), Ungarn (C-718/ 17) und die Tschechische Republik (C-719/ 17) ein, weil diese Staaten sich weiterhin weigerten, Flücht‐ linge gemäß des Umsiedlungsbeschlusses aufzunehmen. Den Schluss‐ anträgen der Generalanwältin Eleanor Sharpston vom 31. 10. 2019 war zu entnehmen, dass die drei Staaten gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen haben. Der Gerichtshof folgte der Ein‐ schätzung der Generalanwältin in seinem Urteil vom 2. April 2020. In ihren abschließenden Bemerkungen hatte die Generalanwältin zudem an grundlegende Prinzipien der Rechtsgemeinschaft wie Rechtsstaat‐ lichkeit, loyale Zusammenarbeit und Solidarität erinnert und hatte 4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 2015 193 <?page no="194"?> damit die Bedeutung des Verfahrens über den konkreten Fall hinaus, hervorgehoben. Quelle: EuGH: Slowakische Republik und Ungarn gegen Rat der Eu‐ ropäischen Union, Verbundene Rechtssachen C-643/ 15 und C-647/ 15, Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. September 2017, ECLI: EU: C: 2017: 631; EuGH: Schlussanträge der Generalanwältin Ele‐ anor Sharpston vom 31.10.2019, Rechtssache C-715/ 17 Europäische Kommission gegen Republik Polen, Rechtssache C-718/ 17 Europäi‐ sche Kommission gegen Republik Ungarn, Rechtssache C-719/ 17 Eu‐ ropäische Kommission gegen Tschechische Republik, ECLI: EU: C: 2019: 917. Neuausrichtung der Grenz- und Asylpolitik? Neben ihren Vorschlägen für Neuansiedlungsprogramme unterstützte die Europäische Kommission die südlichen Grenzstaaten seit 2015 verstärkt bei der Registrierung von Flüchtlingen und konzentrierte sich an der Grenze auf die Begrenzung der Weiterreise (Markard und Heuser 2016: 165). Um die Kontrolle über die Asylzuwanderung an den Außengrenzen zu wahren, wurden sogenannte hotspots eingerichtet, die als Registrierungszenten gel‐ ten, wo eine erste Identitätsprüfung stattfindet und eine Einschätzung zur Aussicht auf einen internationalen Schutzantrag gemacht wird. Zur Praxis der in Griechenland und Italien eingerichteten hotspots zählt die breit an‐ gelegte Inhaftierung von Schutzsuchenden, was unionsrechtlich als proble‐ matisch gilt (Markard und Heuser 2016: 165). Es mangelt an zulässigen Haftgründen, auch das rechtsstaatliche Prinzip der Einzelfallprüfung, der Zugang zu Information und Beratung sowie Alternativen zur Haft würden zu selten geprüft (Markard und Heuser 2016: 168-169, 171). Zwei Jahre nach dem turbulenten Jahr 2015 legte die Kommission im September 2017 einen Fortschrittsbericht über Errungenschaften der Mi‐ grationsagenda vor und schlug eine generelle Überarbeitung dieses Systems vor (Europäische Kommission 2017d: 14). Die Antwort auf die Migrations- und Asylschutzkrise seit 2015 ist ein Mix aus Maßnahmen von Frontex-Ein‐ sätzen über ad-hoc-Umsiedlungen bis hin zu intensivierter Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten, vor allem mit der Türkei (Hailbronner und Thym 2016b: 1026, Rn 26, 28, 36). Der EU gelang es jedoch bisher nicht, eine institutionelle und politisch wie rechtlich tragfähige Antwort auf die Herausforderungen von 2015 zu 4 Asylpolitik der Europäischen Union 194 <?page no="195"?> finden (Trauner 2016: 93). Die notwendige Solidarität, die angesichts der großen Unterschiede zwischen aufnehmenden und unwilligen Staaten von der Europäischen Kommission stärker eingefordert werden müsste, bricht sich nicht Bahn (Trauner 2016: 93). Stattdessen hält die Kommission mit ihrem Vorschlag für eine neue Dublin-Verordnung weiterhin am Ersteinrei‐ seprinzip fest (Europäische Kommission 2016: 16, vgl. dazu Marx 2016b: 374). Statt tatsächlich einen Reformvorschlag im Sinne der Solidarität (Art. 80 AEUV) vorzulegen, setzt sich zunächst das Prinzip der Ersteinreise aus dem Dubliner Übereinkommen der frühen 1990er Jahre anachronistisch fort (Marx 2016b: 374-376). 4.6 Zusammenfassung und Literatur Das Wichtigste in Kürze Der Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist der wichtigste Schutzstatus, der die umfassendsten Rechte gewährt (Aufent‐ haltstitel, Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt). Dieser Status wird Men‐ schen zuerkannt, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer Nationa‐ lität, Ethnie, Religion oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe individuell verfolgt werden. Darüber hinaus wurde im europäischen Recht der subsidiäre Schutzstatus eingeführt, der Menschen Schutz bietet, die zwar nicht individuell verfolgt werden, dennoch einer Lebensgefahr ausgesetzt sind, bspw. durch kriegerische Konflikte. In einigen Mitglied‐ staaten des Schengenraums gibt es zudem mit einem humanitären Schutz‐ titel die Möglichkeit aus familiären, gesundheitlichen oder kulturellen Grün‐ den vorübergehenden Schutz zu bieten. Im Jahr 2018 lebten in der Europäischen Union 512 Mio. Unionsbürger, etwa 2,48 Mio. anerkannte Flüchtlinge und etwa 646.000 Asylsuchende. Der Anteil von anerkannten Flüchtlingen und Asylsuchenden beträgt damit rund 0,6 % der Gesamtbe‐ völkerung der Europäischen Union. Die Asylpolitik ist seit Anfang der 1990er Jahre auf der europäischen Agenda. In den Kompetenzkatalog der Europäischen Union fand sie 1999 mit dem Vertrag von Amsterdam Eingang. Seitdem wurden in zwei Phasen Rechtsinstrumente erlassen, um ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem aufzubauen. Dazu zählt die Dublin-Verordnung, die denjenigen Staat be‐ stimmt, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Die Verordnung basierte auf dem Dubliner Übereinkommen von 1990, einem zwischenstaat‐ 4.6 Zusammenfassung und Literatur 195 <?page no="196"?> lichen Vertrag. Im Zentrum dieses Übereinommens und den folgenden Dub‐ lin-Verordnungen (2003, 2013) stand das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Asylsuchende, die irregulär in die Europäische Union bzw. den Schengen‐ raum einreisten, über kein Visum eines Mitgliedstaates verfügten und keine Verwandte in einem Mitgliedstaat hatten, mussten ihren Asylantrag dort stellen, wo sie zuerst in den Schengenraum eingereist waren. Dieses Prinzip gilt bis heute fort und ist ein wesentlicher Streitpunkt der europäischen Asylpolitik, weil dadurch die Außengrenzstaaten in besonderer Verantwor‐ tung der europäischen Asylpolitik stehen und es bisher keine dauerhaften Ausgleichsmechanismen gibt. Tatsächliche Ausgleichsmechanismen, die in den verganenen Jahren praktiziert wurden, sind: (1) Aussetzungen von Überstellungen, weil die Grundrechte von Asylsuchenden aufgrund der Aufnahme- und Verfahrensbedingungen in den südlichen Außengrenzstaa‐ ten gefährdet waren (auf Grundlage von EuGH-Entscheidung N.S. u. a., C-411/ 10), (2) Kontingente zur Umsiedlung innerhalb der Europäischen Union (Ratsbeschluss im September 2015), (3) technische Unterstützung durch Frontex und EASO, (4) finanzielle Unterstützung durch den Asyl-, Mi‐ grations- und Integrationsfonds. Neben der Dublin-Verordnung wurden 2003 bis 2005 drei Richtlinien ver‐ abschiedet, die gemeinsame Standards bei der Aufnahme von Asylsuchen‐ den, während des Asylverfahrens und bei der Anerkennung von Schutzbe‐ rechtigten schaffen sollten. Die Aufnahmerichtlinie legte fest, dass Asylsuchende ein Dach über dem Kopf erhalten und entweder in Asylzent‐ ren, Hotels oder Wohnungen untergebracht werden. Zudem sollten sie So‐ zialhilfeleistungen erhalten, die dem jeweils nationalen Niveau entsprechen. Die Asylverfahrensrichtlinie sah vor, dass jedem Asylsuchenden eine per‐ sönliche Anhörung garantiert wurde, selbst bei beschleunigten Verfahren, die bspw. an der Grenze, in Flughafentransitzonen oder bei unzulässigen Anträgen durchgeführt werden. Die Richtlinie definierte, in welchen Situa‐ tionen Anträge als unzulässig gelten. Gleichzeitig garantierte sie den Asyl‐ suchenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten, um gegen eine negative Entschei‐ dung vorzugehen. Mit der Anerkennungsrichtlinie wurden die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention aufgelistet und detailliert, wer sich für einen Schutzstatus qualifiziert. Zudem wurde mit dieser Richtlinie der subsidiäre Schutzstatus eingeführt, der über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus Situationen definiert, aus denen heutzutage Schutzbedarf entsteht. 2011 bis 2013 wurden alle drei Richtlinien reformiert. Inhaltlich hat sich aber kaum etwas an den Richtlinien geändert. Auch 15 Jahre nach der Ver‐ 4 Asylpolitik der Europäischen Union 196 <?page no="197"?> abschiedung gemeinsamer europäischer Vorgaben gibt es erhebliche Unter‐ schiede bei der Aufnahme, Versorgung und bei den Anerkennungsquoten. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass die Umsetzung der asylpolitischen Instrumente bei den Mitgliedstaaten liegt. Auch die Migrationskrise von 2015 erklärt sich zum Teil durch die erheb‐ lichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, die eine starke Motiva‐ tion für die Weiterreise boten. Die große Mehrheit der Migranten war zwar über Griechenland eingereist , dann jedoch über die sogenannte Balkanroute - durch Staaten außerhalb des EU- und Schengenraums wie Albanien, Mon‐ tenegro, Bosnien-Herzegowina und Serbien - über Ungarn wieder in den Schengenraum eingereist und versuchten nach Österreich, Deutschland oder Schweden zu gelangen. Dies führte (1) zu einer humanitären Krise für die Migranten, (2) zum Streit zwischen den Staaten entlang der Balkanroute von Griechenland bis Schweden, (3) zu einer politischen Krise auf europäi‐ scher Ebene. Aktuell werden über die Richtlinien und die Dublin-Verordnung des Ge‐ meinsamen Europäischen Asylsystems erneut verhandelt. Es gibt Anstren‐ gungen dazu, eine verbindliche und dauerhafte Verteilungsquote für Asyl‐ suchende in der Europäischen Union festzulegen, die die Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten berücksichtigt. Erheblicher Widerstand gegen eine solche Lösung kommt jedoch aus vielen osteuropäi‐ schen Staaten. Ein Ende des andauernden Streits um die Ausrichtung der europäischen Asylpolitik ist daher nicht in Sicht. Literatur zum Weiterlesen Einwanderungs- und Asylrecht der Europäischen Union: C H E TAIL , V IN C E NT , P HILI P P E D E B R U Y C K E R und F R AN C E S C O M AIANI (H R S G .). 2016. 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Zwar sind Akteure wie die eu‐ ropäische Agentur Frontex als Mittler zwischen der EU und den Mitglied‐ staaten in den Grenzschutz eingebunden, doch letztlich bleibt dieser in na‐ tionaler Hand. Die Asylpolitik gründet seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) auf umfassenden Mandaten zur Vereinheitlichung europäischer Stan‐ dards in allen Stadien eines Asylverfahrens. Diese rechtliche Vereinheitli‐ chung ist mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem bereits weit vorangeschritten. In der Realität bestehen jedoch weiterhin erhebliche Un‐ terschiede fort, was insbesondere für die Aufnahmebedingungen und An‐ erkennungsquoten in den Mitgliedstaaten gilt. So stellt sich insgesamt wei‐ terhin ein sehr heterogenes europäisches Asylsystem dar, das von dem politisch gewollten einheitlichen europäischen Asylstatus weit entfernt bleibt. Was kennzeichnet die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union? Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union ist stark durch die Ko‐ operation im Schengenraum geprägt. Sowohl die Notwendigkeit als auch die politische Ausrichtung der gemeinsamen Regeln basieren auf dem Schengener Besitzstand der 1980er Jahre. Bis heute wirken die damals ge‐ troffenen Prinzipien fort - in der Asylpolitik besonders das Ersteinreise‐ prinzip des Dubliner Übereinkommens von 1990. Wo liegen die Kernaufgaben der EU in der Grenz- und Asylpolitik? Bei der Ausarbeitung von Rechtsinstrumenten baut die Europäische Kom‐ mission in der Grenzpolitik wesentlich auf das Ziel einer „integrierten Grenzverwaltung“. Einen Auftrag dazu hat die Gemeinschaft im Vertrag von <?page no="202"?> Lissabon (2009) erhalten. In der Praxis zeigt sich - gerade auch aufgrund der Auswirkungen der Grenzpolitik auf die Asylpolitik - dass eine Bündelung gemeinsamer Kapazitäten an den Außengrenzen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Raum ohne Binnengrenzen sinnvoll ist. In der Asylpolitik sind die Kernaufgaben im Vertrag von Lissabon aus‐ buchstabiert. Oberstes Ziel ist die Etablierung eines einheitlichen europäi‐ schen Asylstatus. Das Verfahren zur Erlangung eines internationalen Schutzstatus soll in allen Mitgliedstaaten gleich ablaufen. Aufgrund harmo‐ nisierter Kriterien müssten die Mitgliedstaaten in den Verfahren zu densel‐ ben Ergebnissen kommen und könnten einen einheitlichen Status generie‐ ren. Wegen der heterogen organisierten und ausgestatteten Asylsysteme sind die Mitgliedstaaten davon jedoch noch weit entfernt. Was sind die Streitthemen seit der Krise von 2015? Eine der grundlegenden Differenzen, die im Zuge der Krise von 2015 deutlich geworden sind, betrifft die Auffassung von der grundsätzlichen humanitä‐ ren und moralischen Verpflichtung zur Schutzgewährung. Einige Mitglied‐ staaten weigern sich kategorisch, Asylsuchende aufzunehmen oder sich an einer gemeinsamen Aufnahmepolitik durch Ausgleichszahlungen zu betei‐ ligen. Das erschwert dringend notwendige Reformen zur fairen Verantwor‐ tungsteilung bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen in der Eu‐ ropäischen Union. Die Migrationskrise von 2015/ 2016 hat außerdem verdeutlicht, dass die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union unzulänglich geregelt ist. Gemeinsame Regeln im Bereich Asyl werden von den Mitgliedstaaten teil‐ weise nicht eingehalten (Registrierung, Fingerabdrucknahme) oder deutlich restriktiver ausgelegt (Aufnahmebedingungen). Von einem europäischen Asylsystem kann keine Rede sein. Insbesondere die Umverteilungspolitik des Dubliner Systems erweist sich als politisch untragbar. Wie geht es weiter? Aufgrund der grundlegenden Differenzen sind politische Fortschritte zurzeit nicht zu erwarten. Die von der Kommission in den vergangenen Jahren vor‐ geschlagenen Instrumente versuchen schrittweise Fortschritte zu erzielen, verharren jedoch bisher im Verfahrensstatus. Kommissionspräsidentin Ur‐ sula von der Leyen kündigte 2019 an, die gemeinsame Asylpolitik zur be‐ sonderen Aufgabe zu machen, konkrete Politikvorschläge stehen aus. 5 Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union 202 <?page no="203"?> Wo die größten Defizite sind und wie ihnen begegnet werden kann: Asylschutz zu gewähren ist ein humanitärer wie moralischer Auftrag, der mit vielfältigen politischen Herausforderungen verbunden ist: Verantwor‐ tung für Menchen zu übernehmen, Integration, Gesellschaftspolitik. Die größten Defizite im europäischen Asylsystem zeigen sich bei den drei Themen, die auch im Zuge der Krise seit 2015 in den Fokus gerückt sind: (1) mangelhafte Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Asylsystem: es braucht stattdessen legale Einreisemöglichkeiten wie die Neuansiedlungs‐ programme, die in Kooperation mit UNHCR umgesetzt werden; (2) unfaire Zuständigkeitskriterien für Asylverfahren, die einzelne Mitgliedstaaten deutlich stärker belasten; sinnvoll wären Zuständigkeitskriterien, die die Kapazitäten der Mitgliedstaaten zur Aufnahme und Integration von Flücht‐ lingen stärker berücksichtigen, bspw. anhand von Daten zur Wirtschafts‐ kraft und Bevölkerungsgröße; (3) mangelnde Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander und gegenüber Flüchtlingen. Ein gesellschaftliches Umden‐ ken erfordert einen Prozess, in dem einerseits die moralische Verpflichtung zur Asylgewährung und andererseits die Anerkennung von Migrationsbe‐ wegungen in einer globalisierten Welt zum Ausgangspunkt werden für die echte Gestaltung einer europäischen Asylpolitik. Doch mehr Solidarität braucht es auch im Umgang der Mitgliedstaaten untereinander. Dafür müss‐ ten die Aufgaben in der Grenz- und Asylpolitik stärker als gemeinsame po‐ litische Aufgabe innerhalb des europäischen Raums ohne Binnengrenzen wahrgenommen werden. Langfristige strategische Überlegungen zur Reform der gültigen Einwan‐ derungs- und Asylbestimmungen müssten einbeziehen, wie (a) Migrations‐ bestrebungen jenseits internationalen Schutzbedarfs Richtung Europa an‐ gemessen ermöglicht werden können, (b) der Zugang zum Flüchtlingsschutz legalisiert werdenn kann (z. B. durch humanitäre Visa), sowie gründsätzlich (c) wie Folgeaufgaben der europäischen Asylpolitik solidarisch in der Staa‐ tengemeinschaft geleistetet werden. 5 Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union 203 <?page no="205"?> 6 Literatur A J ANA , B TIHA J . 2013. Asylum, identity management and biometric control. Journal of Refugee Studies 26 (4), S. 576-595. A L K O U S AA , R IHAM , S V E N B E C K E R , N INA B R NADA , A NNA C LAU SS , J ÜR G E N D AHL ‐ KAM P , W ALT E R M A Y R , R AL F N E U KI R C H , J AN P UHL , C H R I S T O P H S C HU LT , W O L F W I E DMANN -S C HMIDT . 2016. Im Wunderland der Verzweifelten, Der Spiegel Nr. 33. A S Y L UM I N F O R MATI O N D ATABA S E (AIDA, managed by European Council on Refugees and Exiles). 2017. Dublin procedure. Dublin statistics, www.asylumineurope.org/ comparator/ asylum-procedure (24. 8. 2019). B A S T , J ÜR G E N , C H R I S T O P H M ÖL L E R S . 2016. 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EU Asylum Policies: The Power of Strong Regulating States (Basingstoke: Palgrave Macmillan). 6 Literatur 216 <?page no="217"?> Register Agentur 62 Allgemeine Menschenrechtserklärung 112 Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 115 Anerkennungsquoten 150, 159, 162- 164 Anerkennungsrichtlinie 119, 128, 149- 151f., 162 Arabische Revolutionen 70, 84 Asyl 111 Asylantrag 134 Asylantragszahlen 156f., 159 Asyllotterie 162 Asylpolitik 110, 119, 124, 163 Asylrecht 112 Asylschutzkrise 101 Asylstatus einheitlicher europäischer 124, 153, 201 Asylsuchende 92 Asylverfahren beschleunigtes Verfahren 148f. persönliche Anhörung 146 Qualitätsstandards 146 Rechtsbehelf 147 Rechtsberatung 144, 147 sicherer Drittstaat 148 Aufnahmerichtlinie 127, 142 Außengrenzen 93 Balkanroute 99 Beförderungsunternehmen 81 Binnenmarkt 57 Drittstaatsangehörige 59, 68, 75, 77, 129 Dubliner Übereinkommen 23, 122, 132, 195 Dublin-System 70 Dublin-Verfahren 160, 163 Dublin-Verordnung 126-128, 132, 137, 141, 159, 174, 189 Einheitliche Europäische Akte 23, 57 Ersteinreiseprinzip 132, 140, 159, 165, 170, 195, 201 Ersteinreisestaat 134 Eurodac 61, 95 Eurojust 62 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 17 Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 136, 175 Europäische Grenz- und Küstenwache 65 Europäisches Sekundärrecht 60 Europol 62, 65 Eurosur 61, 95 EU-Türkei-Abkommen 91 EU-Türkei-Erklärung 188f. Flankierende Maßnahmen 50 Flüchtling 112 Freier Personenverkehr 56, 58 Frontex 53, 56, 59, 63-66, 69, 71, 74, 84, 87, 93, 96, 101, 103, 105, 174, 194, 201 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 51, 9, 168, 187, 189, 201 <?page no="218"?> Genfer Flüchtlingskonvention 65, 84, 112, 114, 119, 124, 149, 195 Gerichtshof der Europäischen Union 72f., 77, 137, 168, 175, 180, 184, 192 Goldener Pass 82 Goldenes Visum 82 Grenzen 45, 68 Grenzkontrollen 42, 47f., 50, 52, 59, 64, 69f., 73, 98 Grenzöffnung 172 Grenzpolitik 41, 44, 53, 56f., 59f., 62, 66, 94 Grenzschutz 63f., 66, 71, 87, 95f., 101, 201 Grenzüberwachung 97 Grundfreiheiten 21 Grundrechtecharta 124 Grundrechtsagentur (FRA) 56 Haager Programm 52 Hauptaufnahmeländer 155 Hauptherkunftsstaaten 154 Herkunftsstaaten 52f., 65, 88, 96, 146, 148 Holocaust 113 Humanitäre Klausel 135 Humanitäre Visa 81, 130, 139 Informationssystem 60f. Inhaftierung 143 Innen- und Justizpolitik 20, 141 Innere Sicherheit 73 Integrierte Grenzverwaltung 66, 95, 201 Irreguläre Einreise 92f., 139 Irreguläre Einwanderung 71 Irreguläre Grenzübertritte 87 Irreguläre Migration 65, 91, 102 Justiz und Inneres 78 Kooperation 94 Korrekturmechanismus 190 Massenzustrom 70, 169, 187 Menschenrechte 151 Migrationsdruck 66 Migrationskrise 50, 55, 92, 170 Migrationsrouten 92 Mittelmeer 83 Mittelmeerraum 185 Mittelmeerroute 91, 96 östliche Mittelmeerroute 90f. westliche Mittelmeerroute 90f. zentrale Mittelmeerroute 90f. Nationale Sicherheit 42f., 50, 143 Neuansiedlungsprogramm 188 Neuansiedlungsprogramme 130, 188 Nichtzurückweisungsprinzip 114, 130, 188 Programm von Tampere 51, 54, 187 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 41, 43, 54, 59, 110 Raum ohne Binnengrenzen 57-59, 64, 70, 72, 109f., 129 Risikoanalysen 65 Rückführung 97 Schengener Abkommen 19, 22, 27, 50 Schengener Grenzkodex 67f., 70f., 73f., 84, 94, 104 Schengener Informationssystem 60 Schengenraum 46-49, 56, 66, 75, 81, 133, 201 Schlepper 103 Seegrenzen 90, 93 Seegrenzenkodex 96 Sekundärmigration 128, 140 Selbsteintritt 135, 174 Solidarität 186, 195, 203 Stockholmer Programm 53 Register 218 <?page no="219"?> Subsidiärer Schutzstatus 126, 152, 195 Subsidiarität 41, 64, 153 Systemische Mängel 138 Terrorismus 53, 63, 65, 99 Transitvisa 76 Umsiedlung 191 Unionsbürger 48, 51, 129 Unterbringung 142 Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) 56, 93 Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) 129 Verfahrensrichtlinie 127, 145, 148, 196 Verfolgung 115 nationale Zugehörigkeit 116 politische Gründe 117 Rasse 116 Religion 118 soziale Gruppe 117 Verfolgungsakteur 119 Verfolgungsgrund 119, 150 Verfolgungshandlung 119, 151 Versicherheitlichung 50, 96 Verstärkte Zusammenarbeit 49 Vertragsverletzungsverfahren 166 Vertrag von Amsterdam 24, 49, 57f., 77, 122, 141, 145 Vertrag von Lissabon 41, 59, 78, 94, 110, 123, 202 Vertrag von Maastricht 24, 57, 76, 122 Visa 59 Visa-Informationssystem 62, 67 Visakodex 78, 80, 130 Visapolitik 76f., 79 Visum 75, 77, 82 Wiederaufnahmegesuch 134, 136, 140 Wiedereinführung von Grenzkontrollen 74, 98 Zivile Seenotrettung 102 Zugang zum Arbeitsmarkt 144 Zugang zum Asylsystem 86, 186, 203 Zugang zum Asylverfahren 131 Zuständigkeit der Europäischen Union 18 Register 219 <?page no="220"?> POLITIKWISSENSCHAFT Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Reinhard Wesel Die UNO Aufgaben und Arbeitsweisen utb L 2019, 340 Seiten €[D] 34,99 ISBN 978-3-8252-5292-2 eISBN 978-3-8385-5292-7 Was ist „die UNO“ - und was nicht? Reinhard Wesels Handbuch bietet auf diese zentrale Frage strukturierende Orientierung: Entstehung und Entwicklung der Organisation der „Vereinten Nationen“ (UNO), ihr Mandat, ihre Struktur, ihre interne Arbeits- und Machtverteilung, die Arbeitsweise und Methoden sowie die einzelnen Arbeitsbereiche werden ausführlich vorgestellt und beleuchtet. Zahlreiche Schaubilder und Tabellen veranschaulichen das nötige Informationswissen. So ergibt sich ein differenziertes Bild von der multilateralen Kooperation von 193 souveränen Staaten mit jeweils unterschiedlicher Struktur, Gesellschaft, politischer Verfassung und ungleichen wirtschaftlichen wie militärischen Machtpotentialen. Das abschließende Kapitel bietet Interpretationen für eine eigenständige kritische Beurteilung, welchen Wert die Vereinten Nationen tatsächlichen haben und wie dieser bestimmt werden kann. <?page no="221"?> ,! 7ID8C5-cfdegc! ISBN 978-3-8252-5346-2 Was ist 2015 in der sogenannten Migrationskrise passiert? Wie ist die darauf antwortende Politik zu bewerten? Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenz- und Asylpolitik? Und was sind die gesellschaftlichen und politischen Gründe dafür, dass das Politikfeld seit den späten 1990er Jahren zunehmend auf europäischer Ebene gestaltet wird? Die Autorin liefert ausgewogene Antworten, indem sie die Genese des Politikfeldes vor dem Hintergrund der Schengen-Kooperation historisch und politisch aufarbeitet. Zudem erläutert sie, wie die Institutionen ihr Mandat genutzt haben und welche Standards bei der Einreise, Visavergabe und in Asylverfahren laut EU-Recht gelten. Dabei werden auch die Schwachstellen beleuchtet, die den andauernden Streit um die Ausrichtung der europäischen Grenz- und Asylpolitik prägen. Politikwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel