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Basiswissen deutsche Wortbildung

0608
2020
978-3-8385-5367-2
978-3-8252-5367-7
UTB 
Elke Hentschel

Dieser Band bietet Studienanfängern grundlegendes Wissen zur Wortbildung des Deutschen. Er ist so konzipiert, dass die einzelnen Kapitel zur Wortbildung bei den verschiedenen Wortarten auch unabhängig voneinander verwendet werden können. Intern sind die Kapitel nach den jeweils verwendeten Wortbildungsverfahren gegliedert. In den entsprechenden Unterkapiteln werden sowohl heimische als auch entlehnte Wortbildungsmorpheme alphabetisch aufgelistet und kurz besprochen. Auf diese Weise kann man sich rasch einen Überblick über die grundsätzlichen Möglichkeiten verschaffen, aber auch umgekehrt bei Bedarf ein einzelnes Morphem schnell auffinden und seine Verwendung nachlesen. Der Band schließt mit einem Glossar der wichtigsten Fachbegriffe und einem Register der Wortbildungsmorpheme.

<?page no="0"?> Elke Hentschel Basiswissen deutsche Wortbildung <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5367 <?page no="2"?> Prof. em. Dr. Elke Hentschel war bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik an der Universität Bern und ist Herausgeberin der Zeitschrift „Linguistik Online“. <?page no="3"?> Elke Hentschel Basiswissen deutsche Wortbildung Narr Francke Attempto Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: artisteer © 2020, iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr.: 5367 ISBN 978-3-8252-5367-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5367-2 (ePDF) <?page no="5"?> Inhalt 1 Was ist ein Wort und wie bastelt man ein neues? Einleitung 11 2 Fußbodenschleifmaschinenverleih oder warum Deutsche (angeblich) nicht Scrabble spielen Die Wortbildung des Substantivs 31 2.1 Fußpilz, Löwin, Unkerich und Unsumme: Modifikation-des Substantivs 32 2.1.1 Kurzgeschichte, Segelschiff und Tanzboden: Komposition 32 2.1.1.1 Fußbodenschleifmaschinenverleih: Komposita aus Substantiv plus Substantiv 33 2.1.1.2 Kurzgeschichte und Vierzylinder: Komposita aus Adjektiv und Substantiv 44 2.1.1.3 Gehhilfe, Studierendenvertretung und Wendepunkt: Komposita aus Verb und Substantiv 45 2.1.1.4 Abwasser, Außenseite und Sofortkredit: Komposita aus Adverbien und Substantiv 47 2.1.1.5 Abluft, Mitschüler, Riesenärger und Unsummen: Zwischen Komposition und Präfigierung 48 2.1.2 Erzfeind, Kapitalist, Konrektor und Hinterbänkler: Modifikation-von Substantiven durch Affixe 51 2.1.2.1 Fehlkauf, Makroebene, Misston und Urabstimmung: Modifizierung von Substantiven mit Präfixen 52 2.1.2.2 Derivation, Männlein, Marxist und Studentin: Modifizierung von Substantiven mit Suffixen 65 2.1.3 Brombeere, Himbeere, Johanniskraut und Lindwurm: Modifikation von Substantiven mit gebundenen lexikalischen Morphemen 90 2.2 Adverbiale, Gebinde, Schlampigkeit und Studierende: Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten 92 2.2.1 Antike, Heiterkeit, Studierende und Eigentum: Derivation von Substantiven aus Adjektiven und Partizipien 92 <?page no="6"?> 6 Inhalt 2.2.1.1 Die Abgeordneten und das Gute: Konversion von Adjektiven und Partizipien zu Substantiven 92 2.2.1.2 Fäulnis, Liebschaft, Präsenz und Radioaktivität: Suffixderivation von Substantiven aus Adjektiven 93 2.3 Blockade, Gelege, Leben und Liebe: Derivation von Substantiven aus Verben 104 2.3.1 Studierende, Abgeordnete und Wandern: Konversion von Verbformen zu Substantiven 104 2.3.2 Eindringling, Gehege, Leistung und Stickerei: Suffixderivation von Substantiven aus Verben 107 2.3.2.1 Anhängsel, Gabe und Verhältnis: Derivation von Substantiven aus Verben mit einheimischen Suffixen 107 2.3.2.2 Bummelant, Friseur und Sponsor: Derivation von Substantiven aus Verben mit entlehnten Suffixen 114 2.4 Das Gegenüber im Hier und Jetzt: Substantive aus anderen Wortarten 121 2.5 UNO, Krimi, Smog und Happi-Happi: Kurzwörter, Kontaminationen und Reduplikationen 121 2.6 Das „Sich-nichts-anmerken-lassen“, das „nichts gesehen haben wollen“ Zwischen Flexion, Syntax und Wortbildung 125 3 Ausufernd, skandalös, taghell und überirdisch: Die Wortbildung des Adjektivs 127 3.1 Knallrot, sattsam, unschön und widerrechtlich: Modifikation von Adjektiven 127 3.1.1 Altklug, meckerfreudig, weinselig und zartbesaitet: Komposition 128 3.1.1.1 Hellgrün, halbgar und nassforsch: Komposition aus zwei Adjektiven 129 3.1.1.2 Bierselig, gedankenverloren und umweltschädlich: Kompositionen aus Substantiv und Adjektiv 131 3.1.1.3 Passgenau, quietschvergnügt und röstfrisch: Kompositionen aus Verb und Adjektiv 134 3.1.2 Außerordentlich, erzböse, gelblich und dualistisch: Adjektivmodifikation mit Affixen 134 <?page no="7"?> 7 Inhalt 3.1.2.1 Außerirdisch, grundverschieden, postfaktisch und uralt: Adjektivmodifikation mit Präfixen im weiteren Sinne 135 3.1.2.2 Alleinig, legalistisch, grünlich und verschiedenerlei: Adjektivmodifikation mit Suffixen 147 3.2 Geharnischt, golden, harmlos und orange: Adjektive aus Substantiven 151 3.2.1 Graus, Hamburger und türkis: Konversion von Substantiven zu Adjektiven 151 3.2.2 Gönnerhaft, halbseiden, individuell und windig: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit Suffixen 152 3.2.2.1 Samten, heldenhaft und wundersam: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit heimischen Suffixen 153 3.2.2.2 Bravurös, funktional und sportiv: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit entlehnten Suffixen 160 3.2.3 Beleibt, gestiefelt, verhasst und verkopft: Pseudopartizipien 165 3.3 Ausufernd, bemannt, beträchtlich und zänkisch: Derivation von Adjektiven aus Verben 166 3.3.1 Frankiert, rasselnd und versunken: Konversion von Partizipien 166 3.3.2 Akzeptabel, habhaft und unaussprechlich: Derivation von Adjektiven aus Verben durch Suffigierung 169 3.3.2.1 Spürbar, klebrig und ausführlich: Derivation von Adjektiven aus Verben mit einheimischen Suffixen 169 3.3.2.2 Blamabel, defensiv und tolerant: Derivation von Adjektiven aus Verben mit entlehnten Suffixen 173 3.4 Heutig, dortig, jenseitig und vorig: Derivation von Adjektiven aus Adverbien und Präpositionen 175 4 Bessern, duzen, verlassen und umarmen: Die Wortbildung des Verbs 177 4.1 Abhängen, befreunden, rumwursteln und tänzeln: Modifikation von Verben 177 4.1.1 Achtgeben und sitzenbleiben: 178 <?page no="8"?> 8 Inhalt 4.1.2 Abschreiben, desinfizieren, erringen und verjagen: Modifikation von Verben mit Präfixen und Verbpartikeln 179 4.1.2.1 Beweinen, enträtseln und vergessen: Heimische untrennbare Präfixe 180 4.1.2.2 Affirmieren, dekontaminieren und exkommunizieren: Entlehnte untrennbare Präfixe 190 4.1.2.3 Um’fahren und ‚umfahren: Launische Verben (mal trennbar, mal nicht) 193 4.1.2.4 Aufstehen, heimsuchen und innehalten: Immer trennbare Verben 198 4.1.3 Fällen, klappern, stottern und tänzeln: Modifikation durch Suffigierung 202 4.2 Begeistern, frösteln, miauen und verfremden: Derivation von Verben aus anderen Wortarten 204 4.2.1 Bebildern, eifern, huldigen und untertunneln: Derivation von Verben aus Substantiven 204 4.2.1.1 Googlen, stürmen und winden: Konversion von Substantiven zu Verben 204 4.2.1.2 Bändigen, funktionieren, räuchern und witzeln: Derivation von Verben aus Substantiven durch Suffigierung 205 4.2.1.3 Berechtigen, entvölkern, erdolchen und verköstigen: Derivationen von Verben aus Substantiven mit Präfigierung 206 4.2.2 Aufhübschen, dichten, kränkeln und versauern: Derivation von Verben aus Adjektiven 207 4.2.2.1 Bessern, grünen und kühlen: Ableitung von Verben aus Adjektiven durch Konversion 208 4.2.2.2 Frömmeln, kokettieren und reinigen: Derivation von Verben aus Adjektiven durch Suffigierung 208 4.2.2.3 Entblöden, erröten und verblassen: Derivation von Verben aus Adjektiven mit Präfigierung 209 4.2.3 Ächzen, duzen und miauen: Derivation von Verben aus weiteren Wortarten 211 <?page no="9"?> 9 5 Aufgrund, ausnahmsweise, freitags und zwecks: Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen 213 5.1 Derart, diesmal, flugs und netterweise: Wortbildung bei Adverbien 214 5.1.1 Aufwärts, nebenher und schlechthin: Modifikation von Adverbien 215 5.1.2 Derart, dummerweise und tags: Adverbien aus Genitiven 216 5.1.3 Anstandshalber, deinetwegen und um meinetwillen: Adverbien aus Substantiven und Adpositionen 217 5.1.4 Bestens, gefälligst und schnellstens: Adverbien aus Superlativen 218 5.1.5 Dabei, hierauf und worüber: Pronominaladverbien 219 5.2 Angesichts, obwohl, trotz und zuliebe: Wortbildung bei Präpositionen und Konjunktionen 219 Literatur 221 Glossar 229 Affix- und Wortregister 235 Inhalt <?page no="11"?> 11 Was ist ein Wort und wie bastelt man ein neues? 1 Was ist ein Wort und wie bastelt man ein neues? Einleitung Bei der Wortbildung geht es im Grunde genommen um so etwas wie Bastelanweisungen für die Herstellung von neuen Wörtern. Die Produkte, die dabei entstehen, können dauerhaft in das Lexikon einer Sprache Eingang finden, aber vielleicht auch nur einmalig verwendet werden, um in einer bestimmten Situation etwas zu bezeichnen. So könnte man eine Person, die zu Wochenbeginn immer schlechte Laune hat, am Montagmorgen im Büro spontan als mal wieder montagslaunig beschreiben, auch wenn es montagslaunig nicht gibt und es sich vermutlich auch nicht durchsetzen wird. Oder man könnte jemanden, der sein Vorgehen immer wieder komplett ändert und seine eigenen Ansichten auf den Kopf stellt, als Kehrtwenderich apostrophieren. In beiden Fällen würde man mit Sicherheit auch verstanden, obgleich diese Wörter nicht existieren. Solche Ad-hoc- oder Neubildungen kommen im Alltag sehr oft vor, und sie erscheinen keineswegs nur in der gesprochenen Sprache, sondern auch in geschriebenen Texten. Letzteres macht es natürlich leichter, sie zu zählen. Lemnitzer (2007: 78) ist bei einer empirischen Untersuchung zu Neubildungen, die bis dahin in keinem Wörterbuch verzeichnet waren, zu dem Ergebnis gekommen, dass täglich im Durchschnitt 12 Wörter neu gebildet werden - wovon natürlich nur die allerwenigsten auch dauerhaft Eingang in den allgemeinen Wortschatz und damit in ein Lexikon finden. Am leichtesten können sich neue Wörter vermutlich dann durchsetzen, wenn sie dazu dienen, etwas zu benennen, wofür es bisher keine Bezeichnung gab, beispielsweise Gegenstände wie die Datenbrille oder den Selfiestick, Konzepte wie Filterblase oder postfaktisch oder auch Handlungen wie entfreunden oder liken. Solche Begriffe können dann langfristig in Wörterbücher aufgenommen werden, und die angeführten Beispiele sind auch sämtlich schon in der Neuauflage des Rechtschreib-Duden von 2017 verzeichnet. Nun könnte man, wenn eine Bezeichnung für etwas gefunden werden soll, natürlich einfach ein komplett neues Wort erfinden, ein Verfahren, das auch als Wortschöpfung (auch: Urschöpfung) bezeichnet wird. Beispielweise könnte man sich das Wort Quörx ausdenken und beschließen, dass ab sofort die Warentrenner so heißen sollen, mit denen die Einkäufe verschiedener Kunden <?page no="12"?> 12 1 Einleitung auf dem Band vor der Kasse voneinander getrennt werden. Wenn genug Menschen das für eine gute Idee hielten, könnte sich dieses neue Wort durchsetzen und Eingang in den allgemeinen Wortschatz finden. Wie aber schon die oben genannten Beispiele zeigen, sind wir normalerweise viel zu faul, uns komplett neue Wörter auszudenken. Ersatzweise borgen wir uns häufig Wörter aus anderen Sprachen (in neuerer Zeit meistens, aber keineswegs nur, aus dem Englischen), in denen es die gesuchten Bezeichnungen schon gibt. Dafür existieren neben den schon genannten Beispielen wie Selfie(stick) oder liken auch viele, die sich bereits seit längerer Zeit im Deutschen etabliert haben, so etwa Burnout, Computer oder Laptop. Wörter wie Burnout, Computer, Laptop oder Selfie sind zwar im Deutschen Fremdbzw. Lehnwörter, sie sind aber in der Gebersprache ebenfalls durch Wortbildung entstanden: Selfie geht auf das englische Wort self (‚selbst‘) zurück, Computer auf das Verb to compute (‚rechnen‘), und Burnout und Laptop sind jeweils aus to burn out (‚ausbrennen‘) bzw. lap (‚Schoß‘) und top (etwa: ‚das Oben‘) gebildet. Die am häufigsten genutzte Möglichkeit, eine neue Bezeichnung einzuführen, besteht aber weder im Erfinden völlig neuer Wörter noch in der Übernahme von Wörtern aus anderen Sprachen, sondern darin, dass aus bereits vorhandenen Wörtern und Wortteilen ein neues gebildet wird. Das ist z.- B. bei entfreunden, Filterblase und postfaktisch geschehen. Insgesamt wird im Deutschen von der Möglichkeit der Wortbildung recht rege Gebrauch gemacht, so dass Eichinger (2007: 28) sogar schreibt: „Das Deutsche gilt […] als Wortbildungssprache, das heißt, es macht einen spezifischen und ausführlichen Gebrauch von morphologischer Kombinatorik, die am Ende zu neuen Wörtern führt […]“. Für solche Neubildungen steht ein sehr großes Arsenal an Grundbausteinen zur Verfügung: Der Wortschatz des Deutschen umfasst je nachdem, was man alles dazurechnet, zwischen 300.000 und 500.000 Wörtern. Der Kern dieses Wortschatzes --das heißt ohne regionale Ausdrücke wie z.-B. Büsi (in der Schweiz übliche Bezeichnung für eine Katze) und ohne Fachbegriffe wie z.-B. Spondylitis (medizinischer Begriff für eine Infektion der Wirbel) --ist allerdings deutlich geringer und dürfte weniger als 100.000 Wörter umfassen. Aber auch das ist ja schon sehr viel. Um die Anzahl der Wörter (und damit auch die Anzahl der neu gebildeten Wörter) in einer Sprache feststellen zu können, muss man sich allerdings zu- <?page no="13"?> 13 1 Einleitung nächst darüber einigen, was überhaupt als Wort zählen soll. Ist beispielsweise agrrh, das sich als Unmutsäußerung in WhatsApp-Nachrichten häufig findet, ein Wort? Und ist das auf Twitter verbreitete Kürzel Druko (für Drunterkommentar) ein Wort? Aber auch bei Altvertrautem ist die Frage „Ist das ein Wort? “ oft alles andere als einfach zu beantworten. Aus wie vielen Wörtern besteht beispielsweise ein Satz wie Die Sonne geht unter? Aus vier (die, Sonne, geht und unter) oder doch nur aus dreien (die, Sonne und untergehen)? Bilden die Formen bin, war und ist zusammen ein Wort oder sind es drei verschiedene? Ist im ein Wort --oder vielleicht doch eher zwei, da es ja aus in und dem besteht? Was ist ein Wort? Um zu definieren, was man unter dem Begriff „Wort“ verstehen will, kann man verschiedene Wege einschlagen. Man kann beispielsweise von der gesprochenen Sprache ausgehen und festlegen, dass ein Wort dann vorliegt, wenn etwas einzeln --also etwa mit einer Sprechpause davor und danach - geäußert werden kann; das wäre dann ein phonologisches (auch: phonematisches) Wort. Bei dieser Definition bestünde Die Sonne geht unter ganz klar aus vier Wörtern. Zwar könnte man einwenden, es sei einfacher, statt von der gesprochenen von der geschriebenen Sprache auszugehen und ein Wort als etwas anzusetzen, was zwischen zwei Leerzeichen steht. Aber da bei der Orthografie bereits vorab jemand (etwa eine Rechtschreibkommission) festlegen muss, was ein Wort ist (und folglich zusammengeschrieben wird) und was zwei (und folglich getrennt geschrieben wird), hilft das nicht wirklich weiter. Darüber, warum beispielsweise staubsaugen aus orthografischer Sicht ein Wort ist, Rad fahren hingegen zwei, kann man sicherlich diskutieren. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, ein Wort mit einem freien Morphem gleichzusetzen. Ein Morphem ist der kleinste Bestandteil in einer Sprache, der eine Bedeutung hat; und ein freies Morphem ist dann ein solcher Bestandteil, der mehr oder minder frei beweglich ist. Allerdings bestehen Wörter -- oder zumindest das, was wir intuitiv darunter verstehen --oft aus mehr als nur einem freien Morphem. Ein Wort wie Marsmännchen müsste aber nach dieser Definition als zwei Wörter angesehen werden, da Mars und Männchen problemlos auch alleine vorkommen können, eines wie Weltuntergang sogar als drei (Welt, unter, Gang). Darüber hinaus müsste man nach wie vor klären, ob z.-B. bin, war und ist drei verschiedene Wörter sind (sie sind alle drei frei, und ihre Bedeutung <?page no="14"?> 14 1 Einleitung ist ja nicht identisch) oder doch nur eines (es gibt offensichtlich eine allen drei Formen gemeinsame Grundbedeutung). Die dritte Möglichkeit besteht darin, als Basis der Definition bei der Syntax anzusetzen. Aus syntaktischer Perspektive könnte man das Wort beispielsweise als kleinstes Element eines Satzes definieren, das man im Satz bewegen und durch andere Elemente ähnlicher Art ersetzen kann. So kann man den Satz Die Sonne geht unter beispielsweise Element für Element durch ein, Sturm, zieht und auf ersetzen. Allerdings gehören geht und unter ebenso wie zieht und auf natürlich eindeutig zusammen und bilden auch syntaktisch eine Einheit (das Prädikat); und wenn man die Sätze jeweils ins Perfekt setzt, erscheinen sie auch als Einheit (Die Sonne ist untergegangen; Ein Sturm ist aufgezogen). Aber damit nicht genug: Auch die Artikel die und ein und die Substantive Sonne und Sturm gehören ja jeweils zusammen, und wenngleich ein Adjektiv zwischen sie treten kann (z.-B. ein schwerer Sturm), sind sie doch in gewisser Weise vom zugehörigen Substantiv abhängig. Ganz schwierig wird es, wenn man syntaktisch nicht bestimmbare Elemente wie beispielsweise ja in Da bist du ja! oder eigentlich in Wie spät ist es eigentlich? erfassen möchte. Intuitiv würde man sicher sagen, dass es sich dabei um Wörter handelt; aber wie kann man sie im Rahmen einer syntaktischen Herangehensweise beschreiben? Das Problem der Wortdefinition ist damit also auch nicht gelöst. Schließlich kann man es auch mit einer semantischen Definition versuchen. Gemeinhin besteht sie darin, dass man ein Wort mit einem Lexem gleichsetzt. Mit einem Lexem ist ein Morphem oder auch eine Morphemkombination gemeint, die eine sog. lexikalische (auch: autosemantische, kategorematische) Bedeutung hat. Eine solche Bedeutung liegt vor, wenn etwas aus der außersprachlichen Wirklichkeit damit bezeichnet wird - also etwa ein Lebewesen, ein Gegenstand, eine Handlung oder eine Eigenschaft aus der Welt, in der wir leben oder die wir uns zumindest vorstellen können (einschließlich Fabelwesen und Paralleluniversen). Damit ist ein sehr großer Teil des Wortschatzes abgedeckt. Aber auf der anderen Seite wird mit dieser Definition auch ein Teil des Wortschatzes ausgeschlossen, denn beispielsweise nach wegen oder obwohl würde man wohl auch in einem Paralleluniversum vergeblich suchen. Präpositionen (wie wegen) oder Konjunktionen (wie obwohl) wären bei einer solchen Vorgehensweise also keine Wörter. <?page no="15"?> 15 1 Einleitung Wie sich zeigt, gibt es keine wirklich befriedigende Definition dafür, was ein Wort ist. Daher verwendet man beim Erstellen von Wörterbüchern einen anderen Begriff: den des Lemmas. Ein Lemma (Plural: Lemmata; von griech. lemma ‚Annahme‘) ist im Grunde schlicht die Form, die in einem Lexikon aufgeführt wird --also beispielsweise Kind (und nicht Kindes oder Kindern) oder kichern (und nicht kicherte oder kicherst). Wenn sich einzelne Formen wie im Fall von bin - war --ist stark unterscheiden, werden sie zwar oft aufgeführt, man findet also beispielsweise einen eigenen Eintrag für war. Aber dort wird dann erklärt, dass es sich um das Präteritum von sein handelt, und zugleich wird auf die Grundform --im Deutschen ist das bei einem Verb der Infinitiv --verwiesen, unter der man weitere Informationen dazu finden kann. So gesehen ist ein Lemma eine Form, unter der verschiedene, unter semantischen Gesichtspunkten wie auch im Bewusstsein der Sprecher einer Sprache zusammengehörige Formen zusammengefasst werden. Auch im vorliegenden Buch sind, wenn von „Wörtern“ die Rede ist, stets Lemmata gemeint. Mit dem Begriff des Lemmas ist nun zumindest eine Basis gegeben, von der man ausgehen kann, wenn man den Umfang des Wortschatzes einer Sprache untersuchen will: Man greift auf die Anzahl der Lemmata zurück. Auf dieser Grundlage wird meist angenommen, dass der Kern des Wortschatzes im Deutschen etwa 70.000 und der Wortschatz der Alltagssprache etwa 35.000 Lemmata umfasst. Nun wäre es eine komplexe Aufgabe, diese Menge an Lemmata vollständig daraufhin zu untersuchen, bei wie vielen davon es sich um das Ergebnis von Wortbildungsverfahren handelt. Selbst wenn man nur die 8.100 häufigsten Lemmata im Deutschen betrachtet --also diejenigen Wörter, die sozusagen den Kern des Kerns bilden -, ergibt sich, dass hier bereits 61-% aller Substantive und sogar 74- % aller Verben auf Wortbildung zurückgehen (cf. Tschirner 2009, zitiert nach Tschirner 2010: 239). Marginal ist die Rolle der Wortbildung für den Wortschatz also mit Sicherheit nicht. Man kann sich die Allgegenwart von Wortbildung vielleicht am besten vor Augen führen, indem man sich überlegt, wie viele Verben es gibt, die aus einem alltäglichen Verb wie z.- B. gehen abgeleitet sind. Aus gehen lassen sich Verben mit so unterschiedlicher Bedeutung ableiten wie abgehen, angehen, aufgehen, auseinandergehen, begehen, dazwischengehen, eingehen, einhergehen, ergehen, fehlgehen, fortgehen, fremdgehen, hingehen, hintergehen, kaputtgehen, mitgehen, schiefgehen, sichergehen, übergehen, umgehen, vergehen, vorausgehen, vorbeigehen, vorgehen, weggehen, weitergehen, zergehen und zurückgehen -- und das sind noch nicht alle möglichen Ableitungen. <?page no="16"?> 16 1 Einleitung Wortbildung ist also ein grundlegendes Mittel, um den Wortschatz einer Sprache zu erweitern, ohne sich die neuen Wörter bei anderen Sprachen ausleihen oder sie wie den Quörx im obigen Beispiel komplett neu erfinden zu müssen. Es ist zugleich sehr viel ökonomischer, aus vorhandenen Wörtern neue zu bilden. Denn wenn man die Bestandteile schon kennt, kann man sich ein Wort leichter merken, als wenn man etwas völlig Neues im mentalen Lexikon abspeichern muss. Die produktiven Mittel, mit denen neue Wörter gebildet werden, gehören daher ebenso wie die Mittel zur Formenbildung (z.-B. -st, mit dem aus dem Verb sagen die Form du sagst bilden kann) zum Inventar einer Sprache und können von allen Sprachnutzenden jederzeit aktiv eingesetzt werden. So kann man beispielsweise mit den Silben -heit und -bar neue Wörter wie Coolheit oder scanbar bilden, auch wenn man diese Wörter zuvor noch nie gehört hat, oder man kann durch das Zusammensetzen bereits vorhandener Wörter einen neuen Begriff wie Hamsterhäuschen kreieren. Dabei entstehen gelegentlich auch neue Wortbildungselemente, indem ein Stück aus einem vorhandenen Wort abgetrennt und anschließend mit einem anderen Element verbunden wird. Solche zunächst oft sprachspielerischen Wortbildungen können sich in der Folge verselbständigen und dann zu eigenständigen Wortbildungsverfahren werden. So wurde beispielweise -versum aus Universum herausgetrennt, um Wörter wie Blogoversum oder Twitterversum zu bilden, die zwar noch keinen Eingang in Standardwörterbücher gefunden haben, aber im Internet weit verbreitet sind. Damit wird -versum plötzlich zu einem eigenständigen Wortbildungselement, mit dem sich theoretisch auch noch weitere Wörter bilden lassen. Für das Englische, wo dieses Phänomen sehr viel häufiger zu finden ist als im Deutschen, hat die Wochenzeitung The Week in ihrer Ausgabe vom 17. September 2013 eine alphabetische Liste solcher neu geschaffenen Wortbildungsbausteine erstellt, in der Elemente mit allen Anfangsbuchstaben außer H, U, X und Y vertreten sind (cf. Whitman 2013). Diese Beispiele illustrieren gut, wie neue Wortbildungsmorpheme in einer Sprache entstehen können. Einige dieser Morpheme sind inzwischen auch ins Deutsche übernommen worden, so etwa -burger, das ursprünglich ein Bestandteil von Hamburger war --eine Bezeichnung, die auf die Stadt Hamburg zurückgeht, denn das so bezeichnete gefüllte Brötchen wurde anfangs offenbar als eine Art Sandwich verkauft, das mit einem sog. Hamburg steak (einem Hacksteak) gefüllt war und daher auch Hamburg sandwich genannt wurde (cf. Harper 2018 s.-v. hamburger). Inzwischen werden auch im Deutschen alle möglichen gefüllten Brötchen wie Fischburger oder Hähnchenburger als Kombination mit -burger bezeichnet, und der Wortbestandteil hat sich sogar <?page no="17"?> 17 1 Einleitung zu einem eigenen Wort Burger gemausert. Man kann so etwas wie einen Fischburger natürlich auch mit anderen sprachlichen Mitteln beschreiben (etwa: mit einer Frikadelle aus Fisch gefülltes Brötchen), aber kürzere Bezeichnungen sind natürlich praktischer und werden daher im Zweifelsfall meist bevorzugt. Für die Bildung neuer Wörter im Deutschen gibt es Regeln, die man erfassen kann, und Morpheme, die man auflisten und in ihrer Funktion beschreiben kann. Aber natürlich ist Wortbildung keine neue Methode der Wortschatzerweiterung, sonst könnten nicht bereits große Anteile des Basiswortschatzes auf Wortbildungsverfahren zurückgeführt werden. Ein weiterer Aspekt bei der Beschäftigung mit Wortbildung besteht daher darin, dass man sie unter primär historischen Gesichtspunkten betrachtet: Wie ist das jeweilige Wort entstanden, wo kommt es ursprünglich her, was ist seine Geschichte? Das zu beschreiben wäre dann Aufgabe der Etymologie und ist insofern nicht Thema des vorliegenden Buches. Die Frage nach der Herkunft eines Wortes --oder genauer gesagt: die Antwort darauf - ist oft aber ausgesprochen spannend, und daher wird sie in der vorliegenden Einführung gelegentlich kurz mit erörtert. Generell ist zu sagen: Dieses Buch ist eine Einführung. Es soll einen Einblick in die grundlegenden Mechanismen der Wortbildung geben und darüber hinaus auch die Möglichkeit, gezielt nach der Verwendung einzelner Elemente zu suchen. Es erhebt jedoch nicht den Anspruch, sämtliche Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen im Einzelnen zu beschreiben. Daher wird man die eine oder andere seltenere Ableitungsart, das eine oder andere Detail vermutlich vergeblich darin suchen. Aber wenn man so spezifische Fragen hat, braucht man zumeist keine Einführung mehr und kann auf einschlägige Fachbücher wie Fleischer/ Barz (2012) zurückgreifen. Die vorliegende Einführung bietet dafür einen anderen Vorteil: Sie ist so konzipiert, dass man die einzelnen Kapitel unabhängig voneinander und auch unabhängig vom Terminologie-Kapitel lesen kann. Vorausgesetzt werden nur wenige grundlegende linguistische Termini wie „Morphem“ oder „Suffix“, die im Folgenden kurz erklärt werden. Diese Art der Darstellung bedingt eine gewisse Redundanz, die aber gewollt ist und die die Vertrautheit im Umgang mit der Terminologie unterstützt. Terminologie Für die Beschäftigung mit Wortbildung braucht es im Grunde nicht besonders viele Vorkenntnisse. Es ist aber sinnvoll, vorab einige Fachbegriffe zu klären, von denen viele auch in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft gebraucht <?page no="18"?> 18 1 Einleitung werden, und das soll im Folgenden geschehen. Die für die Wortbildung spezifischen Begriffe werden aber auch in den nachfolgenden Kapiteln jeweils so weit wie möglich nochmals kurz erklärt. Bereits eingangs erläutert wurde der Begriff „Lemma“, den man braucht, um festzulegen, wie ein Lexikoneintrag aussehen soll; also etwa, dass man im Wörterbuch den Eintrag hüpfen und nicht hüpfst oder gehüpft findet. Bei der Wortbildung spielt dieser Begriff allerdings keine besondere Rolle, denn hier geht es ja weniger um die Frage, was unter einem Lemma erfasst werden soll, als vielmehr darum, aus welchen Bestandteilen ein potentieller Lexikoneintrag zusammengesetzt ist. Dafür braucht man in erster Linie den Begriff „Morphem“, der ebenfalls weiter oben schon einmal kurz angesprochen wurde. Ein Morphem ist als die kleinste bedeutungstragende Einheit in einer Sprache definiert. Morphem kleinste bedeutungstragende Einheit in einer Sprache Alle Morpheme tragen also eine Bedeutung; aber es ist nicht in jedem Fall dieselbe Art von Bedeutung. So besteht beispielweise das Wort Fische aus den Morphemen Fisch und -e, die zwar offensichtlich beide etwas bedeuten, dabei aber ganz verschiedene Funktionen haben. Um dem gerecht zu werden, unterteilt man Morpheme in verschiedene Typen. Solche wie Fisch im Beispiel Fische bezeichnet man als lexikalische Morpheme - der Begriff steht in deutlicher Anlehnung daran, dass man erwarten würde, ein solches Morphem mit Sicherheit auch in einem Lexikon zu finden. Allerdings ist „steht im Lexikon“ natürlich nicht die Definition eines lexikalischen Morphems. Vielmehr ist damit eine Art von Bedeutung gemeint, die etwas aus der außersprachlichen Wirklichkeit bezeichnet; also etwas, was entweder in der Realität oder zumindest in unserer Vorstellung existiert, ob als Objekt (als Gegenstand, Lebewesen oder Idee, z.-B. Hexe, Tulpe oder Wut), als Handlung oder Vorgang (z.-B. beamen, duften, lachen) oder auch als Eigenschaft (z.-B. groß, rot, sanft). Die Art der Bedeutung, die diese Art von Wörtern tragen, wird auch als autosemantisch oder kategorematisch bezeichnet, die Wörter selbst als Lexeme. Davon unterscheiden sich einerseits die sog. Deiktika, die wie ich, hier oder jetzt als „sprachliche Zeigefinger“ fungieren, indem sie auf Personen, Orte oder Zeitpunkte im Kontext des Sprechens verweisen. Diese Art der Bedeutung wird als „deiktisch“ bezeichnet. <?page no="19"?> 19 1 Einleitung Andererseits gibt es auch die sog. Synsemantika (auch: Synkategorematika). Ein Wort mit synsemantischer (oder synkategorematischer) Bedeutung hat die Aufgabe, Relationen auszudrücken, entweder zwischen Wörtern (z.-B. auf dem Tisch, mit dir) oder auch zwischen Sachverhalten (z.-B. Das ist interessant, aber kompliziert). Sie alle sind im Deutschen freie Morpheme und als solche auch Lemmata im Lexikon. Autosemanitika Deiktika Synsemantika Hexe, lachen, sanft-… ich, hier, jetzt-… auf, mit, aber-… Oft werden Lexeme mit lexikalischen Morphemen gleichgesetzt; aber man findet auch die abweichende Definition, der zufolge Lexeme unabhängig von ihrer Form Träger einer lexikalischen Bedeutung sind (cf. z.-B. Crystal 2008: 276, Fleischer/ Barz 2012: 2). Damit können Lexeme, anders als lexikalische Morpheme, die als kleinste bedeutungstragende Einheiten nicht weiter zerlegbar sind, auch aus mehreren Morphemen bestehen. So ist beispielsweise das Lexem Wahnsinn aus den beiden Bestandteilen Wahn und Sinn zusammengesetzt, die ihrerseits Lexeme, aber auch lexikalische Morpheme sind. Eine ganz andere Funktion hat demgegenüber ein Morphem wie das -e in Fische. Es gliedert nichts aus der außersprachlichen Wirklichkeit aus, kann dafür aber zusammen mit vielen verschiedenen lexikalischen Morphemen vorkommen (Freund-e, Teil-e, Wind-e etc.), um das Konzept ‚mehr als eins‘ zu markieren. Ein Morphem dieser Art wird als grammatisches Morphem bezeichnet. Diese Bezeichnung ist leicht nachzuvollziehen: Die Art, wie man den Plural bildet, gehört zum grammatischen Regelwerk einer Sprache, und für ein zu diesem Zweck verwendetes Morphem gilt das folglich auch. Nun zeigt sich am Beispiel Fische aber auch noch ein weiterer Unterschied zwischen den Morphemen: Während Fisch selbständig ist und unabhängig von anderen Morphemen gebraucht werden kann, ist dies bei -e nicht der Fall: Es kann nur zusammen mit einem anderen Morphem vorkommen. Entsprechend spricht man im einen Fall von einem freien, im anderen von einem gebundenen Morphem. In den meisten Fällen sind lexikalische Morpheme frei, während grammatische Morpheme gebunden sind (sie werden dann als Affixe bezeichnet; mehr dazu im Folgenden). Dies ist aber keineswegs notwendig so. Es gibt auch gebundene lexikalische Morpheme wie z.-B. Brom-, Heidel- oder Him-, die zwar nur zusammen mit Beere vorkommen können, aber eindeutig <?page no="20"?> 20 1 Einleitung keine grammatische Funktion haben, sondern etwas aus der außersprachlichen Wirklichkeit bezeichnen. Und es gibt umgekehrt freie grammatische Morpheme, zu denen im Deutschen beispielsweise der Artikel gehört. Morphemtypen frei gebunden lexikalisch Fisch Himgrammatisch der -e Gebundene lexikalische Morpheme wie Him- oder Brom-, die jeweils nur in einem Einzelfall vorkommen, bezeichnet man als unikal. Es gibt aber auch gebundene lexikalische Morpheme, die öfter gebraucht werden können, so etwa cyber- (z.-B. Cyberkrieg), geo- (z.-B. Geopolitik) oder multi- (z.-B. multikulturell). Man spricht dann von Konfixen, wobei dieser Begriff allerdings nicht immer einheitlich definiert ist (cf. Elsen 2005: 133 f.). Nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Definitionen und daraus folgenden Abgrenzungsproblemen ist in allgemeinen Nachschlagwerken wie Duden online oder dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) auch in Fällen wie cyber- oder geovon Präfixen bzw. Affixen die Rede; es wird dort also kein Unterschied zwischen regelmäßig vorkommenden gebundenen Morphemen mit lexikalischer und solchen mit grammatischer Bedeutung gemacht. In den meisten Fällen handelt es sich bei Konfixen ursprünglich um Bestandteile von Fremdwörtern. Ein aktuelles Beispiel wäre das schon genannte, aus dem Englischen übernommene Morphem cyber-, das in den Fremdwörtern Cybermobbing und Cyberspace, aber auch in Kombinationen mit deutschen Substantiven wie in Cyberabwehr, Cyberkrieg oder Cyberverteidigung auftritt, jedoch nicht einzeln vorkommen kann. Das oft als typisches Konfix angeführte Morphem bio (Biogemüse, Biohof etc.) ist demgegenüber inzwischen ebenso wie mega (Megacity, Megaerfolg etc.) auch als eigenständiges Adjektiv gebräuchlich (cf. Duden online s.-v. bio, mega), und Bio findet sich sogar als Substantiv („Schweizer zahlen am meisten für Bio“, Saldo 5/ 2019: 11). Im Unterschied zu den entlehnten sind deutsche Konfixe wie schwieger- (Schwiegertochter, Schwiegervater; das ebenfalls existierende Wort Schwieger ist veraltet) oder stief- (Stiefschwester, Stiefkind) selten und von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.- B. Schwiegerhund, Beispiel nach Fleischer/ Barz 2012: 75) auch nicht mehr produktiv. Die schon vorhandenen Wörter, zu deren Modifikation solche Ele- <?page no="21"?> 21 1 Einleitung mente verwendet wurden oder werden, bilden die sog. Basis. In einem Fall wie Megaerfolg wäre das beispielweise der Wortbestandteil Erfolg. Aber nicht alle Konfixe sind darauf beschränkt, bestehende Basen zu modifizieren. Solche wie -phob (z.- B. arachnophob) oder -lekt (z.- B. Soziolekt) können selbst die Basis bilden, und ein Konfix wie -thermkann schließlich sogar in beiden Funktionen auftreten (z.-B. Thermometer; exotherm). Im Deutschen aus entlehnten Morphemen dieser Art (z.-B. log, lekt, morph, nym, phon, phil, phob etc.) gebildete Wörter (z.-B. bibliophil, Exonym, germanophob, Morphem, phonologisch, Technolekt etc.) werden gelegentlich auch als neoklassisch bezeichnet. Strauß (1995: 22) definiert sie wie folgt: „[…] Kombinationen aus z.- T. oder sämtlich aus dem Griechischen oder Lateinischen entlehnten Komponenten, von denen mindestens eine die Eigenschaft aufweist, daß sie (initial oder terminal) nur gebunden, andererseits aber auch wie ein Lexem als Basis von Ableitungen vorkommt; diese Kombinationen werden häufig mit Fugenvokal (o oder i) gebildet und haben kein nachweisliches Vorbild in einer Fremdsprache“. Neoklassische Wortbildungen finden sich vor allem bei Substantiven (z.- B. Dialektologie, Phonem), weniger oft bei Adjektiven (z.- B. germanophob, phonematisch) und nur selten bei Verben (z.-B. dehydrieren). Sie werden im Folgenden nicht behandelt. Ein weiterer lexikalischer Morphemtyp, der in der Wortbildung vorkommen kann, ist das Affixoid (griech.-lat., eigentlich: ‚Affix-ähnlich‘; auch: Halbpräfix). Es trägt seinen Namen aufgrund seiner „Ähnlichkeit“ mit den im Folgenden beschriebenen Affixen. Mit Affixoiden sind Morpheme gemeint, die sowohl frei als auch gebunden auftreten können, die in gebundener Form aber eine weniger konkrete, eher abstrakte Bedeutung haben. Dazu zählen etwa das ursprüngliche Adjektiv mäßig (z.-B. mit mäßigem Erfolg), das in Fällen wie gewohnheitsmäßig, vorschriftsmäßig etc. als Suffixoid (‚einem Suffix ähnlich‘) eingeordnet wird, oder das ursprüngliche Substantiv Haupt (z.-B. erhobenen Hauptes) als Präfixoid (‚einem Präfix ähnlich‘) in Fällen wie Hauptanliegen, Hauptsache etc. Da man im Einzelfall darüber diskutieren kann, welcher Morphemtyp konkret etwa bei fehl- (eigentlich die Verbwurzel von fehlen) in Fehlgriff oder miss- (aus dem Verb missen) in Missgeschick vorliegt, erfolgt die Einteilung einzelner Morpheme in vielen Fällen auch hier nicht einheitlich. Einige Autoren lehnen die Verwendung der Begriffe „Affixoid“ bzw. „Präfixoid“ für ein links und „Suffixoid“ für ein rechts angefügtes Element daher gänzlich ab (so etwa Lohde 2006: 16). Dass zahlreiche Konfixe auch als freie Morpheme vorkommen, neben den schon erwähnten bio/ Bio und mega auch andere wie extra/ Extra, Makro, mini/ <?page no="22"?> 22 1 Einleitung Mini, Multi, pseudo, retro, super etc., erschwert die Unterscheidung zwischen Konfixen und Affixoiden auf den ersten Blick zusätzlich. Aber während bei Affixoiden die Bedeutung des ursprünglichen Lexems verblasst bzw. abstrakter ist, sich mit anderen Worten also ein typischer Grammatikalisierungsprozess vollzieht (cf. Lehmann 2015: 15), verläuft die Entwicklung bei Konfixen und den entsprechenden freien Morphemen umgekehrt. Wenn es sich nicht um Abkürzungen handelt, was in Einzelfällen wie Bio in der Bedeutung ‚Biologieunterricht‘ oder Mini in der Bedeutung ‚Minirock‘ zutrifft, liegt eine Verselbständigung der Bedeutung des Morphems zu einem eigenständigen Lexem vor. Dies ist z.-B. bei Ist das Gemüse bio? der Fall, wo bio als selbständiges Adjektiv fungiert. Dasselbe Phänomen lässt sich auch bei eindeutigen Affixen wie dem Suffix -ismus beobachten, aus dem sich ein selbständiges Substantiv Ismus entwickelt hat. Zugleich handelt es sich bei Morphemen wie extra, mini, pseudo, retro, super etc. um Elemente, die aus anderen Sprachen entlehnt wurden; es sind also sozusagen Fremd- oder Lehnmorpheme. Allerdings werden sie gemeinhin -- anders als ganze Wörter, die man als Fremd- oder Lehnwörter bezeichnet --nicht so genannt. Stattdessen ist von „hybriden Wortbildungen“ oder „Hybridbildungen“ die Rede (cf. Munske 2009/ 2015: 187 f. sowie die dort angegebene Literatur), sobald sie mit einheimischen Morphemen kombiniert werden. Gebundene Morpheme, die keine lexikalische Bedeutung haben, sondern eine grammatische Funktion erfüllen, werden als Affixe (von lat. affigere ‚anheften‘) bezeichnet. Je nachdem, an welcher Stelle des Wortes sie angeheftet werden, spricht man von einem Präfix (z.- B. verin verwelken) oder einem Suffix (z.-B. -keit in Heiterkeit). Daneben gibt es auch Zirkumfixe, die aus zwei zusammengehörigen Teilen bestehen und sowohl vor als auch hinter dem Wort angefügt werden (z.- B. ge- und -t in ge-hüpf-t), sowie Interfixe, die zwischen zwei Morpheme treten (z.- B. -sin arbeit-s-los). Schließlich wären noch die Infixe zu nennen; das sind Affixe, die entweder in ein bestehendes Morphem eingefügt werden (z.-B. -nin lat. vinco ‚ich siege‘ gegenüber anderen Formen des Verbs wie vici, victus; cf. z.-B. Joseph 2012: 238) oder aber in eine bestehende Basis, also ein bereits vorhandenes Wort (z.- B. fantastic → fan-bloody-tastic, wobei hier allerdings ein bestehendes Wort als Infix verwendet wird; Beispiel nach Yu 2007: 187). Ob es im Deutschen Infixe gibt, ist umstritten (cf. Donalies 2011: 30). Wenn man sie ansetzen will, lägen sie in Fällen wie ver-un-deutlichen oder ver-un-einigen (beide belegt im DWB) vor, wo das negierende un in die bestehenden Verben verdeutlichen und vereinigen eingeschoben wurde, während es die Verben *undeutlichen oder *uneinigen nicht gibt. <?page no="23"?> 23 1 Einleitung Affixe Präfix vor ein Morphem oder eine Basis angefügt Suffix nach einem Morphem oder einer Basis angefügt Zirkumfix kombiniertes Prä- und Suffix, die zusammen verwendet werden Interfix zwischen zwei Morpheme oder Basen eingefügt Infix in ein Morphem oder in eine Basis eingefügt bein be-stehen -e in Fisch-e ge- und -t in gehüpf-t -sin arbeit-s-los -unin ver-un-deutlichen Affixe können zwei ganz verschiedene Funktionen erfüllen. In Fällen wie Fisch-e oder ge-hüpf-t dienen sie zur Markierung grammatischer Kategorien, hier etwa zur Bildung des Plurals oder eines Partizips. Bei flektierenden Sprachen wie dem Deutschen spricht man dann von einem Flexionsaffix oder Flexionsmorphem. Neben flektierenden gibt es auch sog. agglutinierende Sprachen. Der Unterschied besteht darin, dass bei der Agglutination das Prinzip „Eine Endung, eine Bedeutung“ gilt - dass also z. B. der Plural bei allen Wörtern in der Sprache mit demselben Morphem gebildet wird. So kann man im Türkischen den Plural von Substantiven (z. B. ev → evler ‚Häuser‘), von Adjektiven (z. B. genç → gençler ‚die Jungen‘) und Verben (z. B. verir → verirler ‚sie geben‘) mit derselben Endung -ler bilden. Bei flektierenden Sprachen ist das ganz anders. Zum einen kann hier ein und dieselbe Kategorie mit unterschiedlichen Morphemen ausgedrückt werden. So wird z. B. der Plural im Deutschen durch -e wie in Fische, durch -en wie in Frauen, durch -s wie in Autos, durch -er wie in Felder oder endungslos wie in Wolkenkratzer gebildet, und manchmal kommt auch noch ein Umlaut hinzu (z. B. Mann → Männer). Zum anderen kann ein und dasselbe Morphem ganz verschiedene Funktionen haben. So kann z. B. -en den Plural (z. B. Frau-en), den Infinitiv (z. B. streik-en), den Akkusativ (z. B. ein-en erfahren-en Pilot-en) u. a. m. ausdrücken. In Fällen wie frech → Frech-heit oder Berg → Ge-birg-e dienen die Affixe jedoch einem völlig anderen Zweck: Sie markieren keine grammatischen Kategorien wie „Plural“ oder „2. Person Singular“, sondern leiten aus einem schon vorhandenen Wort ein neues ab. Man spricht dann von Derivation (von lat. derivatio ‚Ableitung‘), und entsprechend werden die dafür verwendeten Morpheme Derivationsmorpheme genannt. <?page no="24"?> 24 1 Einleitung In den allermeisten Fällen erfolgt Derivation durch Verwendung von Derivationsmorphemen. Diese können, wie das bei -heit der Fall ist, ihren Ursprung im Deutschen haben; dann spricht man auch von heimischen oder indigenen Morphemen. Sie können aber wie z.-B. -ismus auch aus anderen Sprachen entlehnt sein und werden dann als exogen bezeichnet. Neben der Derivation mithilfe von Morphemen, die man als explizit bezeichnet, gibt es auch die implizite Derivation. Dabei erfolgt die Veränderung sozusagen im Inneren des Wortes, indem der Vokal ab- oder umgelautet wird wie z.-B. bei sinken- → senken. Während der Umlaut im Deutschen eine Folge dessen ist, dass ein Vokal sich an ein früher einmal auf ihn folgendes i oder j angeglichen hat (sog. regressive Assimilation), handelt es sich beim Ablaut um eine Änderung des silbentragenden Vokals, die in allen indogermanischen Sprachen zu beobachten ist und der in früheren Phasen der Sprachgeschichte sowohl bei der Wortals auch bei der Formenbildung eine wichtige Rolle spielte. Im Deutschen ist er in den Stammformen sog. starker Verben erhalten (z.- B. helfen --half --geholfen), aber auch im Bereich der Wortbildung ist das Prinzip an Wörtern wie Band und Bund (zu binden), Flug (zu fliegen) oder Sprung (zu springen) noch gut erkennen. Da diese Art der Wortbildung sozusagen im Inneren des Wortes selbst erfolgt, spricht man dann auch von einer internen Derivation - im Gegensatz zur externen, die durch Hinzufügen eines Affixes erreicht wird. Derivation Ableitung eines Wortes aus einem anderen explizit/ extern durch Verwendung von Derivationsmorphemen implizit/ intern durch Umlaut oder Ablaut indigen exogen z. B. frech → Frech-heit z. B. Bank → Bank-ier z. B. fliegen → Flug Es kommt aber auch vor, dass ein Wort ohne jegliche Veränderung im Inneren oder Äußeren seine Wortart ändert. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Verwandlung des Verbs schreiben in das Substantiv Schreiben (z.-B. das Schreiben der Verwaltung). Dann spricht man entweder von einer Nullderivation (da sie eben durch das Anfügen von gar nichts erzeugt wurde) oder von einer Konversion. Auf diese Weise wurden z.-B. auch Adjektive wie ernst oder türkis aus den Substantiven Ernst und Türkis abgeleitet: Die Wörter haben einfach die Wort- <?page no="25"?> 25 1 Einleitung art gewechselt. Wenn im Unterschied hierzu die Wortart bei der Wortbildung gleich bleibt, wenn also z.-B. aus dem Substantiv Stein das Wort Gestein ableitet wird, das ebenfalls ein Substantiv ist, spricht man von einer Modifikation: Das Wort ist zwar verändert (modifiziert) worden, aber nicht in seiner Wortart verändert. Modifikationen liegen z.-B. auch bei grün → grünlich oder bei singen → vorsingen vor. Eine weitere Variante der Wortbildung besteht darin, ein vorhandenes Wort einfach abzukürzen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, von der Verwendung von Anfangsbuchstaben (z.-B. Bundeskriminalamt → BKA) zu der von Silben (Demonstration → Demo) oder auch einer Kombination davon (z.-B. Untergrundbahn → U-Bahn). Bildungen dieser Art werden wenig überraschend als Kurzwörter bezeichnet, und wenn sie wie bei Information → Info nur aus dem ersten Teil des ursprünglichen Wortes bestehen, während der Rest weggelassen wird, findet man dafür auch die Bezeichnung Kopfwort. Umgekehrt kann aber natürlich auch der erste Teil des Wortes weggelassen werden, wie das etwa bei Omnibus → Bus der Fall ist. Dieses Verfahren, dessen Ergebnis manchmal auch als Endwort oder eher uncharmant als Schwanzwort bezeichnet wird, findet sich allerdings deutlich seltener. Von einem Rumpfwort spricht man, wenn sowohl der Anfang als auch das Ende weggelassen wurde, was im Deutschen vor allem bei Eigennamen vorkommt (z.-B. Elisabeth → Lisa). Schwanz- und Rumpfwörter sind insgesamt seltener als Kopfwörter. Gleich mehrere Bestandteile wurden aus den Wörtern Kindertagesstätte → Kita oder Staatsbibliothek → Stabi getilgt, um so die nur noch aus den jeweiligen ersten Silben bestehenden Silbenwörter zu generieren. Da sie aus mehreren Segmenten bestehen, werden solche Bildungen im Unterschied zu unisegmentalen Kurzwörtern wie Demo als multisegmental bezeichnet. Noch stärker ist die Verkürzung, wenn man nur Anfangsbuchstaben der Wortbestandteile verwendet, indem etwa aus Technischer Überwachungsverein → TÜV oder aus Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten → EDA wird. Für diesen letzteren Typ von Kurzwort finden sich auch die Begriffe Initialwort und Akronym. Und schließlich kann man natürlich auch mehrere Verfahren gleichzeitig anwenden, indem man wie bei Auszubildende/ r → Azubi eine Kombination aus einem Initial und zwei Silben zu einem Kurzwort zusammensetzt. <?page no="26"?> 26 1 Einleitung Kurzwort unisegmental multisegmental Kopfwort Rumpfwort Endwort/ Schwanzwort Silbenwort Initialwort/ Akronym Information → Info Elisabet → Lisa Omnibus → Bus Kindertagesstätte → Kita Technischer Überwachungsverein → TÜV Die Verkürzung eines vorhandenen Wortes kann aber auch dazu führen, dass kein Kurzwort entsteht, sondern dass aus der Abkürzung ein neues Wort abgeleitet wird; man spricht dann von einer Rückbildung. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Verb notlanden, das aus dem um -ung verkürzten Substantiv Notlandung, seinerseits aus Not und Landung zusammengesetzt, entstanden ist. Ebenso kann man uraufführen als Rückbildung zu Uraufführung verstehen, das seinerseits aus urplus Aufführung gebildet ist (cf. Fleischer/ Barz 2012: 404). Von einer Kontamination (von lat. contaminare ‚verderben‘, ‚verhunzen‘) oder einer Wortkreuzung spricht man, wenn zwei Wörter so miteinander verschmolzen werden, dass mindestens eines davon mindestens eine Silbe verliert. Das Verfahren findet sich nicht sehr häufig, und meist wird dafür als Beispiel der Begriff Stagflation angeführt, der aus Stagnation und Inflation entstanden ist. Moderne Beispiele wären Bezness (aus Beziehung und Business), womit professionell betriebener Liebesschwindel bezeichnet wird, oder Smombie (aus Smartphone und Zombie). Aber auch wortspielerische Bildungen wie in Filterblasenschwäche (cf. Lucas 2017-2018), bei dem sich die Komposita Filterblase und Blasenschwäche das Element Blase teilen müssen (eines davon also zwei Silben verloren hat), gehen im Grunde auf dieses Verfahren zurück. Eine im Deutschen nur selten genutzte Möglichkeit der Wortbildung besteht darin, dass man ein Wort oder auch nur einen Teil davon verdoppelt, wobei sich unter Umständen der silbentragende Vokal oder manchmal auch der anlautende Konsonant verändern kann. Man spricht dann von Reduplikation (von lat. reduplicare ‚verdoppeln‘). Dieses Verfahren findet sich interessanterweise in allen Sprachtypen, also nicht nur in flektierenden und agglutinierenden, sondern auch in isolierenden Sprachen (cf. Attaviriyanupap 2016), also bei einem Sprachtyp, der keine morphologischen Veränderungen von Wörtern zulässt. Im Deutschen ist Reduplikation allerdings wie gesagt eher selten. Sie zeigt sich bei Substantiven wie Hickhack, Wirrwarr, Zickzack (jeweils mit dem für deutsche Reduplikationen typischen Vokalwechsel von i zu a) oder in Schickimicki (mit <?page no="27"?> 27 1 Einleitung Konsonantenwechsel), bei einem Adjektiv wie plemplem oder einem Adverb wie hopphopp. Etwas häufiger findet man Reduplikationen bei sog. Inflektiven; das sind Verbformen, die keinerlei Endungen aufweisen (also eigentlich: reine Verbstämme) und die beispielweise -- aber keineswegs nur -- in Comics Verwendung finden, z.- B. grübel grübel, kribbel-krabbel oder ritze-ratze (letzteres findet sich schon bei Wilhelm Busch in Max und Moritz). Gelegentlich wird ein neuer Ausdruck für ein Konzept dadurch gebildet, dass man mehrere Wörter verwendet, ohne sie zu einem Wort zusammenzufügen. So hat die Wendung Hals über Kopf eine einheitliche Bedeutung (etwa: ‚überstürzt‘), die sich nicht zerlegen oder aus den einzelnen Bestandteilen herleiten lässt; sie ist aber kein Wort, sondern ein sog. Phraseologismus. Solche Kombinationen aus mehreren Wörtern finden sich oft, z.-B. zwischen Tür und Angel, mit Ach und Krach, Hopfen und Malz verloren etc. Dabei handelt es sich um Syntagmen (Singular: das Syntagma), also mehrere Wörter, die zusammen eine Einheit bilden. Syntagmen sind natürlich nicht auf phraseologische Wendungen beschränkt, sondern sie liegen immer vor, wenn man Wörter miteinander kombiniert; ganze Sätze, aber auch Bestandteile von Sätzen sind ebenfalls Syntagmen. So bildet etwa Bestandteile von Sätzen im vorigen Satz ein Syntagma. Syntagma Kombination von Wörtern zu einer zusammengehörigen Gruppe Manchmal kann auch aus einem Syntagma ein neues Wort entstehen, so etwa zugunsten aus zu Gunsten, trotzdem aus trotz und dem oder Vaterunser aus der Anrede Vater unser zu Beginn des so bezeichneten Gebetes. Auch mehr als zwei Wörter können dabei zu einem zusammengefasst werden, z.-B. Stelldichein oder Vergissmeinnicht. Dieses Phänomen, bei dem mehrere Wörter zu einem zusammenwachsen, wird auch als Univerbierung oder als Zusammenrückung bezeichnet. Weitere potentielle Belege finden sich im Titel einer Untersuchung zu diesem Thema von Donalies (2018): Wetterbeobachter, Zeitlang, wahrsagen, zartfühlend, kurzerhand, dergestalt. Die Beispiele zeigen zugleich, dass die Abgrenzung der Univerbierung von einer „normalen“ Komposition --also beispielsweise der Analyse von Wetterbeobachter als schlichter Kombination der zwei Substantive Wetter und Beobachter --problematisch sein kann. <?page no="28"?> 28 1 Einleitung In der Mehrheit der Fälle fügt man für die Wortbildung zwei oder mehr Morpheme zusammen, ohne dass zuvor ein Syntagma vorgelegen hätte. Dabei kann es sich um zwei lexikalische Morpheme handeln wie in Sommer plus Zeit- → Sommerzeit oder um ein lexikalisches und ein grammatisches Morphem wie in frech plus -heit- → Frechheit. Sowohl die verwendeten lexikalischen Morpheme als auch die Ergebnisse der Wortbildung gehören dabei natürlich stets auch einer Wortart an --es sind Substantive, Verben, Adjektive oder auch Adverbien - und es entstehen am Ende wiederum Wörter, die solchen Wortarten angehören. Darüber, welche Wortart am Ende des Wortbildungsprozesses vorliegt, entscheidet stets das Element, das am weitesten rechts steht; bei Substantiven entscheidet es auch über das Genus. Man spricht daher auch vom Letztgliedprinzip. Wortbildungen kommen natürlich auch unter Beteiligung anderer Wortarten vor; sie sind aber viel seltener. So wurde beispielsweise aus dem Adverb innen und dem Demonstrativum des(sen) die Konjunktion indes(sen) abgeleitet, aus dem Possessivum mein und den Postpositionen halber und wegen die Adverbien meinethalben und meinetwegen, und aus den Personalpronomina du und Sie die Verben duzen und siezen. Der Aufbau des vorliegenden Buches Man kann bei der Behandlung der Wortbildung entweder vom Ergebnis oder von der verwendeten Basis ausgehen. Ausgehend von der Basis würde man beispielsweise beschreiben, dass sich aus Substantiven andere Substantive (z.-B. Tag- → Alltag), Verben (z.-B. Tag- → tagen), Adjektive (z.-B. Tag- → täglich) und Adverbien (z.-B. Tag- → tags) ableiten lassen. Umgekehrt würde man sagen, dass man ein Substantiv bilden kann, indem man es aus einem anderen Substantiv (z.-B. Berg- → Gebirge), aus einem Verb (z.-B. bergen- → Bergung) oder aus einem Adjektiv (z.- B. eben- → Ebene) ableitet. Beide Beschreibungsmöglichkeiten haben Vor- und Nachteile. Aber in der Regel geht man eher vom Ergebnis des Wortbildungsprozesses aus, und auch die vorliegende Einführung ist so aufgebaut, dass die einzelnen Kapitel erläutern, wie man ein neues Substantiv, Adjektiv, Verb oder Adverb bilden kann. Wenn man beschreibt, auf welche Weise sich neue Mitglieder der verschiedenen Wortklassen bilden lassen, wiederholen sich natürlich bestimmte grund- <?page no="29"?> 29 1 Einleitung legende Vorgehensweisen, und auch einzelne Wortbildungselemente kommen mehrfach vor. So findet sich z.-B. das Verfahren der Komposition sowohl bei Substantiven (z.- B. Sand plus Kasten- → Sandkasten) als auch bei Adjektiven (z.-B. nass plus kalt- → nasskalt) und Verben (z.-B. kennen plus lernen- → kennenlernen), und Morpheme wie z.- B. misskommen sowohl bei Substantiven (z.- B. Missmut) als auch bei Adjektiven (z.- B. misslaunig) und Verben (z.- B. missachten) vor. Man könnte daher ein Wortbildungsverfahren wie die Komposition oder ein Morphem wie-missjeweils zusammenfassend an einer Stelle beschreiben und im übrigen Text dann darauf verweisen. Im vorliegenden Buch ist jedoch auf die Möglichkeit des Verweisens bewusst verzichtet worden. Das führt notwendigerweise zu Redundanz. Es hat aber umgekehrt den Vorteil, dass jedes Kapitel für sich alleine steht und auch ohne die anderen - und ohne hin und her zu blättern, um den Verweisen zu folgen - verwendet werden kann. Die Kapitel sind intern nach den jeweils verwendeten Wortbildungsverfahren gegliedert. Innerhalb der Unterkapitel werden die einzelnen Morpheme, die dabei zum Einsatz kommen, in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet und kurz besprochen. Die jeweils behandelte Form der Wortbildung wird dabei immer anhand konkreter Beispiele veranschaulicht, so dass sich das angewandte Verfahren gut nachvollziehen lässt. Auf diese Weise kann man sich rasch einen Überblick über die jeweils in Frage kommenden Morpheme und die Art der damit gebildeten Wörter verschaffen. Umgekehrt kann man so aber auch ein einzelnes Wortbildungsmorphem, für das man sich interessiert, schnell auffinden und seine Verwendung nachlesen. Aus der Gesamtheit der Belege ergibt sich zugleich ein Überblick über die zugrundeliegenden Phänomene. Neben den heimischen spielen entlehnte Wortbildungsmorpheme wie z.-B. anti- (z.-B. antifeministisch), ex- (z.-B. Exminister), -ist (z.-B. Lobbyist), -ismus (z.-B. Alkoholismus) oder -itis (z.-B. Aufschieberitis) im Deutschen eine bedeutsame Rolle, die oft unterschätzt wird. Viele von ihnen kommen nicht nur in Fremd- und Lehnwörtern vor, die schon in der Ausgangssprache mit diesen Morphemen gebildet wurden, sondern sind auch im Deutschen produktiv und teilweise auch hochfrequent. Auch wenn im Einzelfall oft schwer zu bestimmen ist, ob die Bildung im Deutschen erfolgt ist oder ob eine Übernahme oder Lehnübersetzung aus einer Fremdsprache vorliegt, werden innerhalb der einzelnen Unterkapitel jeweils auch die häufigsten exogenen Morpheme behandelt. Bei den Beispielen werden im Folgenden gelegentlich auch solche angeführt, die zwar noch nicht Eingang in den Standard-Wortschatz gefunden haben, die also noch nicht im Duden online oder im Digitalen Wörterbuch der deutschen <?page no="30"?> 30 1 Einleitung Sprache (DWDS) verzeichnet sind, die aber häufiger vorkommen und daher durch eine einfache Internetsuche leicht gefunden werden können. In solchen Fällen wurde im Interesse einer besseren Übersichtlichkeit jeweils auf eine Quellenangabe verzichtet. Aus demselben Grund wird auch bei den Wörterbüchern nicht jedes Mal die URL angegeben, sondern mit „s.- v.“ (lat. für sub verbo oder sub voce ‚unter dem Wort/ Ausdruck‘) auf das Stichwort verwiesen, unter dem man den jeweiligen Eintrag finden kann. Wie dies in der Linguistik allgemein üblich ist, wird durch Kursivsetzung markiert, wenn von einem Wort als Wort die Rede ist (sog. Meta- oder Objektsprache). Bedeutungsangaben werden demgegenüber in einfache Anführungszeichen gesetzt, z. B. also: Das Wort Ferkel bedeutet ‚junges Hausschwein‘. Für das kritische Gegenlesen des Manuskripts danke ich sehr herzlich Bernt Ahrenholz, Korakoch Attaviriyanupap, Theo Harden, Olga Heindl, Thomas Kobel, Manuela Moroni, Klaus Peter, Sibylle Reichel, Rolf Schöneich, Beat Siebenhaar, Jana Tschannen, Petra Vogel und Harald Weydt. <?page no="31"?> 31 1 Einleitung 2 Fußbodenschleifmaschinenverleih oder warum Deutsche (angeblich) nicht Scrabble spielen: Die Wortbildung des Substantivs Ob es in allen Sprachen Substantive gibt, ist zwar umstritten (cf. z.-B. Gil 2013); aber wenn es sie gibt und ihre Aufgabe nicht beispielsweise von Verben übernommen wird (man also statt ‚dort drüben ist ein Bär‘ so etwas sagt wie ‚dort drüben bärt es‘), dann machen sie den Löwenanteil des Wortschatzes aus. Im Deutschen sind sie, grob geschätzt, ungefähr doppelt so häufig wie Verben und dreimal so häufig wie Adjektive (cf. z.-B. Brandt 1988). Daher liegt die Annahme nahe, dass nicht alle Substantive zum primären Wortschatz gehören, also „schon immer“ da waren, sondern dass viele von ihnen nach und nach aus schon vorhandenen Wörtern abgeleitet wurden. Tatsächlich sind auch viele Wörter, die man intuitiv für primären Wortschatz halten könnte, in Wirklichkeit Ergebnisse von Wortbildungsprozessen; nur haben diese vor so langer Zeit stattgefunden, dass man sie heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen kann. Andererseits kann man bei sehr vielen abgeleiteten Substantiven noch gut erkennen, wie sie entstanden sind. Oft sieht man es sogar schon auf den ersten Blick: Sonnenbrille ist offenkundig aus Sonne und Brille zusammengesetzt, Klugheit ist aus klug abgeleitet. Manchmal erkennt man aber auch erst bei näherem Hinsehen, dass das Wort mit verschiedenen Mitteln aus schon zuvor vorhandenen anderen Wörtern abgeleitet wurde, so etwa, dass sich Gang auf gehen (genauer das Partizip gegangen) zurückführen lässt. Bei den Mitteln, die für die Wortbildung von Substantiven eingesetzt werden können, lassen sich zwei grundsätzliche Möglichkeiten unterscheiden: Entweder man leitet ein Wort aus einem anderen ab, meist mit einem Suffix (z.-B. klug-+ -heit- → Klugheit); dann spricht man von Derivation. Oder man fügt zwei (oder mehr) schon vorhandene Wörter zu einem neuen zusammen (z.-B. Sonne + Brille- → Sonnenbrille); dann spricht man von Komposition. Da die Wortart im letzteren Fall unverändert bleibt --es liegt nach wie vor ein Substantiv vor -, das Wort so gesehen also nur modifiziert wird, bezeichnet man eine solche Veränderung als Modifikation. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit, ein neues Wort durch verschiedene Arten der Abkürzung eines schon vorhandenen zu bilden, z.-B. Lkw (aus Lastkraftwagen) oder Druko (aus Drunterkommentar); <?page no="32"?> 32 2 Die Wortbildung des Substantivs und schließlich kommt in seltenen Fällen auch die Reduplikation als Wortbildungsmittel in Frage (z.-B. Wauwau). 2.1 Fußpilz, Löwin, Unkerich und Unsumme: Modifikation des Substantivs Bei einer Modifikation bleibt das Substantiv ein Substantiv, obwohl an seiner äußeren Form Veränderungen vorgenommen werden. Solche Veränderungen können darin bestehen, dass ▶ ein freies Morphem (oder sehr vereinfacht gesagt: ein anderes Wort) zum schon vorhandenen hinzugefügt wird, z.- B. Scherz + Keks- → Scherzkeks, blau + Meise- → Blaumeise etc.; ▶ ein gebundenes Morphem, etwa ein Prä- oder Suffix, an das Substantiv angefügt wird, z.-B. ge + Bein- → Gebein, Student + in- → Studentin etc. 2.1.1 Kurzgeschichte , Segelschiff und Tanzboden: Komposition Wenn man ein Substantiv durch Hinzufügen eines freien Morphems modifizieren will, kann man dafür ein zweites Substantiv (z.- B. Fund + Grube → Fundgrube), ein Verb (z.- B. lachen + Gas- → Lachgas) oder auch ein Adjektiv (z.- B. rot + Licht → Rotlicht) verwenden. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, eine Präposition zur Modifikation zur verwenden (z.-B. Preis → Aufpreis), bei der es sich ja ebenfalls um ein freies Morphem handelt. Allerdings haben Präpositionen anders als die vorgenannten Wortarten keine lexikalische, sondern eine synkategorematische Bedeutung, so dass ihre Verwendung bei der Wortbildung oft mit der von Affixen gleichgesetzt wird. Tatsächlich sind sie sozusagen an der Grenze zu den Präfixen angesiedelt. Aus diesem Grund werden sie im vorliegenden Kapitel als Zwischenschritt zwischen Komposition und Präfigierung behandelt. <?page no="33"?> 33 2.1 Modifikation des Substantivs 2.1.1.1 Fußbodenschleifmaschinenverleih: Komposita aus Substantiv plus Substantiv Im Internet kursiert unter der Überschrift „Why Germans don’t play Scrabble“ das Foto eines Geschäftes für Handwerksbedarf, das mit dem Hinweisschild „Fußbodenschleifmaschinenverleih“ für sich wirbt. Auch andere Beispiele für die berüchtigte Eigenschaft des Deutschen, lange Wörter zu generieren, werden von nicht-Muttersprachlern des Deutschen immer wieder staunend oder auch entsetzt angeführt; so präsentiert etwa der Blogger Charuzu (2013) unter der Überschrift „Auf wiedersehen lange deutsche- Wort! “ (sic! ) das Wortgebilde Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz als „63 letter megaword“. Weitere Beispiele ließen sich mit Sicherheit problemlos finden. Dass man Substantive nahezu beliebig aneinanderreihen kann, um auf diese Weise neue Wörter zu bilden, ist Muttersprachlern des Deutschen vermutlich auch dann bewusst, wenn sie sich noch nie theoretisch mit ihrer Sprache beschäftigt haben. Der ominöse Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän erfreut sich als besonders langes Kompositum eines hohen Bekanntheitsgrades und wird sogar oft als angeblich längstes Wort des Deutschen angeführt (wie das obige Beispiel zeigt, offenbar zu Unrecht). Aber auch dieses Wortungetüm lässt sich noch beliebig erweitern, etwa zu Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänskajüte, Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänskajütenschlüssel, Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänskajütenschlüsselloch etc. Auch wenn man extrem lange Wortbildungen dieser Art beim Sprechen vermutlich eher vermeidet, finden sich tatsächlich Belege wie Donaudampfschifffahrtskapitänswitwenversicherungsgesellschaftshauptgebäudeseiteneingangstür (zitiert nach Donalis 2001) --und natürlich ließe sich auch dieses Wort noch mit -schlüssel oder -schlüsselloch erweitern. Abgesehen von solchen Extrembeispielen, die in der Praxis wohl eher selten vorkommen, wird das zugrundeliegende Prinzip aber beispielsweise auch in einem Gesellschaftsspiel genutzt, bei dem die Aufgabe darin besteht, reihum immer mit dem jeweils letzten Bestandteil eines Kompositums ein neues zu bilden, also etwa: Herbstrose --Rosengarten - Gartenzaun --Zaunkönig --Königskrone etc. Ein solches Spiel kann man nur spielen, wenn man intuitiv weiß, wie die Bildung von Substantivkomposita im Deutschen funktioniert, denn um solche handelt es sich hier. Dabei werden die Bestandteile des neu zu bildenden Wortes zwar manchmal durch sog. Fugenelemente (wie -nin Rosengarten oder -sin Königskrone) miteinander verknüpft; das ist aber keineswegs immer der Fall, und in der Mehrzahl der Fälle stehen sie einfach unvermittelt nebeneinander, wie in Herbstrose oder Zaunkönig. <?page no="34"?> 34 2 Die Wortbildung des Substantivs Dass man Substantive einfach aneinanderreihen kann, um so ein neues Wort zu bilden, ist im Deutschen ein grundlegendes Prinzip. Aber eine solche einfache Kombination von Wörtern ist keineswegs in allen Sprachen möglich. Oft muss man die zu verknüpfenden Elemente stattdessen äußerlich sichtbar aufeinander beziehen. Während man im Deutschen ganz einfach aus den Wörtern Abend und Stern das neue Wort Abendstern bilden kann, muss man z. B. im Italienischen stella della sera (wörtlich: ‚Stern des Abends‘) sagen, und im Russischen sagt man večernaja zvezda, was wörtlich ‚abendlicher Stern‘ bedeutet. Auf Französisch ist der Abendstern der ‚Hirtenstern‘, was wörtlich als ‚Stern des Hirten’ ausgedrückt wird (étoile du berger), und im Türkischen, wo der Planet denselben Namen trägt, müsste man seinen Namen wörtlich mit ‚Hirte sein Stern‘ (Çoban Yıldızı) übersetzen. Wie man sieht, werden hier völlig andere, nämlich syntaktische und flexionsmorphologische Mittel eingesetzt, um den Bezug zwischen den Wörtern herzustellen: Genitivkonstruktionen (stelle della sera), Adjektive (večernaja zvezda) und Possessivkonstruktionen (Çoban Yıldızı). Nun könnte man auf den ersten Blick vielleicht denken, dass bei einem deutschen Wort wie Löwengrube in Wirklichkeit der Plural (die Löwen) oder auch der Genitiv (des Löwen) für die Wortbildung verwendet wird, dass hier also Flexionsmorpheme zum Einsatz kommen. Dass das nicht die ganze Erklärung sein kann, erkennt man aber schnell, wenn man Bildungen wie Beziehungsarbeit oder Schönheitswahn betrachtet. Das -sist hier offensichtlich kein Flexionsmorphem, denn weder kann man von Beziehung einen Plural oder Genitiv *Beziehungs noch von Schönheit die Form *Schönheits bilden; es dient somit einzig und allein der Wortbildung. Während man z. B. im Englischen darüber diskutieren kann, ob - typischerweise getrennt geschriebene - semantische Einheiten wie maternity leave, safety belt oder work ethic als Wortbildung oder als Kollokationen und somit als Syntagmen zu interpretieren sind, besteht im Deutschen kein Zweifel daran, dass es sich bei Mutterschaftsurlaub, Sicherheitsgurt und Arbeitsethik um Wortbildungen handelt. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn man sie getrennt oder mit Binnengroßschreibung schreiben würde (z. B. SicherheitsGurt), denn aus dem Gebrauch von -sfolgt eindeutig, dass man die so gebildete Form nicht als Syntagma betrachten kann. Dass es sich um Fugenelemente handelt, wird daher auch für die anderen zu diesem Zweck verwendeten Elemente angenommen, die zwar auf Flexionsen- <?page no="35"?> 35 dungen zurückgehen, die sich aber in der Folge zu einer eigenen Funktion als wortverknüpfende Elemente weiterentwickelt haben. Sie werden daher meist als Fugenelemente bezeichnet. Neben -sbzw. -es- (z.-B. Amt → Amtsarzt, Tod → Todesstrafe) und -nbzw. -en- (z.-B. Rose- → Rosengarten, Frau → Frauengruppe) sowie dem seltenen -(e)ns- (z.-B. Herz → Herzenswunsch, Wille → Willensnation) können hierzu auch -er- und -egerechnet werden. Letzteres kommt bei Substantiven nicht ganz so häufig vor und geht in Fällen, in denen auch der Plural mit einem Umlaut gebildet wird, meist mit einem Umlaut einher (z.-B. Gans → Gänsemarsch, Lamm → Lämmergeier, aber: Maus → Mausefalle). Das Fugenelement -(e)ns findet sich nur bei Substantiven, die in allen Kasus außer dem Nominativ ein -en aufweisen, aber den Genitiv auf -s bilden (sog. gemischte Deklination), und auch hier nicht bei allen: ▶ Friede- → (für) Frieden/ des Friedens → Friedensgespräche ▶ Glaube- → (im) Glauben/ festen Glaubens- → Glaubensfrage ▶ Herz- → (im) Herzen/ des Herzens- → Herzensangelegenheit ▶ Name- → (beim) Namen/ des Namens- → Namenstag ▶ Wille- → (wider) Willen/ guten Willens- → Willensnation. aber: ▶ Gedanke → (den) Gedanken/ des Gedankens- → Gedankenexperiment Man könnte daher auch argumentieren, dass nur das -sals Fugenelement anzusehen ist, das -en hingegen als Bestandteil des eigentlichen Wortes. Dafür spräche auch, dass die Form Frieden inzwischen weitgehend das endungslose Friede im Nominativ verdrängt hat, und auch bei Glaube, Name und Wille lässt sich in der Umgangssprache eine solche Tendenz beobachten. Das Neutrum Herz bildet hier allerdings insofern eine Ausnahme, als bei ihm eher eine Tendenz in Richtung auf einen Wegfall des -en zu bestehen scheint. Das Fugenelement -erist durchweg auf ursprüngliche Pluralformen beschränkt. Bei Substantiven, die dieses Element aufweisen, treten allerdings häufig parallel auch anders gebildete Komposita auf. Beispiele wären etwa: ▶ Häuserfront, Häusermarkt, Häuserkampf vs. Hauseingang, Hauskauf, Haustür ▶ Kinderchor, Kindergarten, Kindergeschrei vs. Kindeswohl, Kindesvater, Kindskopf 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="36"?> 36 2 Die Wortbildung des Substantivs ▶ Männerehre, Männergesang, Männergruppe vs. Manneskraft, Mannesstolz, Mannsbild etc. Darüber hinaus wären als Fugenelemente auch -o- und (selten) -izu nennen, die allerdings nicht bei Substantivkomposita, sondern nur bei Ableitungen aus gebundenen lexikalischen Morphemen (sog. Konfixen) wie therm oder agr auftreten, z.-B. Thermostat (dass das -onicht zum Stamm gehört, sieht man z.-B. an exotherm) oder Agrikultur (vs. Agrotechnik). Die Elemente, die als Verbindungsglieder zwischen zwei Bestandteile eines Kompositums eingefügt werden, gehen historisch auf Flexionsmorpheme zurück. Sie waren Pluralmarker (Frauen, Rosen, Kinder) oder sie bildeten den Genitiv Singular (Amts, Friedens, Todes). Synchron ist das jedoch nicht mehr ohne weiteres erkennbar, und entsprechend werden sie auch nicht mehr so wahrgenommen. Dazu trägt bei, dass zahlreiche Wörter zwar keinen Genitiv auf -s bilden können (*Arbeits, *Erziehungs, *Reinheits), aber bei Komposita mit einem -s versehen werden (z. B. Arbeitsamt, Erziehungsfrage, Reinheitsgebot). Da Morpheme als die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache definiert sind, wird den Fugenelementen der Status als Morphem oft mit der Begründung abgesprochen, dass sie keine eigenständige Bedeutung (mehr) tragen, sondern nur als „Klebemittel“ zur Verknüpfung zweier Elemente auftreten (so z. B. Elsen 2011: 33). Fugenelemente werden auch als Fugenlaute, Fugenmorpheme oder auch als Interfixe bezeichnet. Dieser letztere Begriff bezeichnet Elemente, die als Bindeglieder zwischen Morphemen auftreten, ohne selbst eine Bedeutung zu tragen (so etwa die Definition bei Haspelmath 2010: 139, 332) --wobei man allerdings einwenden könnte, dass ihre Bedeutung genau darin besteht, auf den engen Zusammenhang zwischen dem vorangehenden und dem nachfolgenden Element hinzuweisen. Gelegentlich findet sich auch der Begriff Epenthese, mit dem man einen Einschub zur Ausspracheerleichterung bezeichnet. Allerdings dienen die Fugenelemente eindeutig nicht zu diesem Zweck, wie schon das Wort Ausspracheerleichterung selbst zeigt: Es enthält einen Hiatus, also das Aufeinandertreffen zweier Vokale, und wäre damit für eine Epenthese prädestiniert; aber es enthält kein Fugenelement. Fugenelemente treten typischerweise bei Substantivkomposita auf, finden sich aber auch bei Derivationen aus Substantiven wie arbeit-s-los, schönheit-s-bewusst oder verantwortung-s-voll. Ihre Verwendung lässt sich insgesamt <?page no="37"?> 37 nur bedingt mit Regeln beschreiben; in vielen Fällen hat sich einfach die eine oder andere Form „eingebürgert“. So kann ein und dasselbe Erstglied einmal mit, einmal ohne Fugenelement auftreten, z.- B. Blutgruppe vs. Blutstropfen, Glückwunsch vs. Glücksfall, Kindergarten vs. Kindeswohl vs. Kindskopf etc. Gelegentlich lässt sich ein Bedeutungsunterschied zwischen Komposita aus denselben Bestandteilen mit unterschiedlichen Arten von Verfugung beobachten, z.-B. Gasthaus vs. Gästehaus, Landmann vs. Landsmann (cf. auch: Landesverrat). Oft werden Fugenelemente auch in verschiedenen Bereichen des Sprachgebiets unterschiedlich verwendet. Dies gilt insbesondere für das Fugen-s, bei dem sich besonders häufig Unterschiede zeigen. So heißt es z.- B. im Norden des Sprachgebiets Schaden-s-ersatz, im Süden (etwa in der Schweiz und in Österreich) spricht man hingegen von Schaden-Ø-ersatz; im Norden sagt man Bahnhof-s-vorplatz, aber Zug-Ø-mitte, im Süden Zug-s-mitte, aber Bahnhof-Ø-vorplatz. Die Beispiele ließen sich vermehren (cf. hierzu z.-B. Nickel 2016), und sie zeigen vor allem eines: anders als für andere Bereiche der Grammatik gibt es für die Verwendung von Fugenelementen im Deutschen keine festen Regeln. Dennoch lassen sich einige Grundregeln für ihre Verwendung aufstellen. Dazu gehört, dass die Silbenstruktur der betroffenen Wörter hier eine wichtige Rolle spielt (cf. Nübling/ Szczepaniak: 2011): ▶ Fugenelemente, die eine Silbe bilden (also -en-, -ens-, -er-, -es-), finden sich vorzugsweise da, wo durch ihre Verwendung das Aufeinanderfolgen einer betonten und einer unbetonten Silbe entsteht und somit ein Trochäus gebildet wird, z.-B. Kind-er-garten, Land-es-verrat. Als Grund dafür kann man annehmen, dass trochäische Silbenstrukturen im Deutschen ganz allgemein bevorzugt werden. Allerdings zeigen Gegenbeispiele wie Kind-s-kopf oder Land-Ø-mann und Land-s-mann, dass dieses Prinzip nicht durchgehend gilt. ▶ Umgekehrt sind nicht-silbische Fugenelemente (-s-, -n-) vor allem dort zu erwarten, wo bereits ein Trochäus vorliegt, also beispielsweise bei Liebe-strank, Wolke-n-formation oder Zufall-s-erfolg. ▶ In den meisten Fällen werden trochäische Erstglieder allerdings nicht mit -s-, sondern einfach ohne Bindeglied aneinandergefügt, z.-B. Anruf-Ø-beantworter, Partner-Ø-suche, Unfall-Ø-verhütung etc., denn auch auf diese Weise bleibt die Silbenstruktur ja erhalten. ▶ Zweisilbige Erstglieder, die einen Jambus bilden (also eine betonte zweite Silbe aufweisen), erhalten hingegen in den meisten Fällen ein -s-, z.-B. Beruf-s-wahl, Gebet-s-buch, Verkauf-s-zahlen. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="38"?> 38 2 Die Wortbildung des Substantivs ▶ Abgeleitete Feminina auf -in (sog. Movierungen) wie Autorin oder Pilotin werden immer mit -enverknüpft, wobei aufgrund der Rechtschreibkonventionen dann ein doppeltes <n> erscheint, z.- B. Autorinn-en-treffen, Pilotinn-en-anteil. Das häufigste Fugenelement des Deutschen ist -s- (cf. Schlücker 2012: 8). Grundregeln für seinen Gebrauch sind außer den bereits genannten die folgenden: ▶ Substantive auf -heit, -keit, -ling, -schaft, -tum und -ung (die alle ihrerseits bereits Ergebnisse von Wortbildungsverfahren sind) werden durchweg mit -sverfugt, z.-B. Reinheit-s-gebot, Fähigkeit-s-nachweis, Schmetterling-s-raupe, Gemeinschaft-s-gefühl, Wachstum-s-phase, Verantwortung-s-bewusstsein. ▶ Auch in Substantive umgewandelte (konvertierte) Infinitive werden mit -sverbunden, z.-B. Essen-s-zeit, Leben-s-gefahr, Wissen-s-lücke. ▶ Mehrheitlich mit -serfolgt die Verknüpfung bei Wörtern auf -ion und -tät (die ebenfalls auf Wortbildung zurückgehen, allerdings mit entlehnten, ursprünglich romanischen Suffixen), z.- B. Revolution-s-held, Konformität-s-frage (aber: Raritätenkabinett). Insgesamt lässt sich allerdings feststellen, dass Bildungen ohne Fugenelement überwiegen. Um alle Komposita systematisch beschreiben zu können, findet man daher hierfür oft auch den Begriff „Nullfuge“ (auch „Ø-Fuge“ geschrieben). Damit soll ausgedrückt werden, dass es grundsätzlich einen Platz für ein Element gibt, das zwischen die beiden Bestandteile des Kompositums treten kann, dass diese Stelle aber eben auch mit „Null“, also mit nichts, besetzt werden kann. Substantivkomposita der Art, wie sie hier beschrieben wurden, bestehen stets aus mindestens zwei Substantiven. Einmal gebildet, können sie durch zusätzliche Substantive oder auch Komposita erweitert werden: Fuß und Boden bilden Fußboden, zusammen mit Schleifmaschine (selbst auch ein Kompositum, aber aus einem Verb und einem Substantiv, siehe hierzu im Folgenden unter 2.1.1.3) dann Fußbodenschleifmaschine, und durch Hinzufügung des (seinerseits ebenfalls abgeleiteten) Wortes Verleih wird daraus Fußbodenschleifmaschinenverleih - was man, so man will, auch nochmals erweitern kann (etwa zu Fußbodenschleifmaschinenverleihbedingungen). Dabei ist stets das Glied, das am weitesten rechts steht -- das sog. Letztglied -, für das Genus verantwortlich: der Boden → der Fußboden, die Maschine → die Schleifmaschine → die Fuß- <?page no="39"?> 39 bodenschleifmaschine, der Verleih → der Fußbodenschleifmaschinenverleih. Man spricht daher auch vom Letztgliedprinzip (Köpcke/ Zubin 2009: 139). Das am weitesten rechts stehende Element ist zugleich der sog. Kopf der Konstruktion, also derjenige Teil, der die grammatischen Eigenschaften des gesamten Kompositums festlegt. Marmorkuchen, Radiowecker und Zeitungsleser: Bedeutungsarten von Substantivkomposita Bei der Komposition zweier Substantive entsteht stets eine inhaltliche Beziehung, die sie miteinander eingehen. Dabei gilt im Regelfall, dass das erste Glied das zweite im weitesten Sinne näher bestimmt, ohne dass dabei jedoch genau festgelegt wäre, auf welche Weise es das tut: Ein Obstkuchen enthält Obst, ein Marmorkuchen sieht ähnlich wie Marmor aus, ein Kastenkuchen wird in einer kastenförmigen Form gebacken, ein Teekuchen wird zum Tee gegessen, ein Hundekuchen ist für Hunde gedacht etc. Diese große Bandbreite der semantischen Relationen ist natürlich sehr praktisch, und sie erklärt vermutlich auch, warum dieser Typ der Wortbildung so produktiv ist. Dennoch gilt unabhängig von der individuellen Bedeutung in allen diesen Fällen, dass das erste Glied das zweite näher bestimmt, mit anderen Worten: es determiniert. Daher spricht man von einem Determinativkompositum, und die beiden Bestandteile sind zum einen das Determinans (‚das Bestimmende‘) und zum anderen das Determinatum (‚das Bestimmte‘; gelegentlich auch: Determinandum ‚das zu Bestimmende‘). Anders ausgedrückt: der links stehende Teil (wobei er sich, siehe Fußbodenschleifmaschinenverleih, ebenso wie der rechts stehende auch selbst wiederum aus mehreren Bestandteilen zusammensetzen kann) dient jeweils zur näheren Bestimmung des rechts stehenden. Eine solche Aufteilung der Funktionen ist der Standardfall, der in mindestens 99,9-% aller Komposita vorliegt. Völlig anders gelagert wäre der Fall hingegen bei einem sog. Kopulativkompositum. Hier würden die beiden Bestandteile gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Beliebte Beispiele sind hier Strumpfhose, Radiowecker oder Hosenrock. Sie werden als ‚gleichzeitig Strumpf und Hose‘, ‚sowohl Radio als auch Wecker‘, oder ‚Rock und Hose in einem‘ interpretiert. Die zugrundeliegende Annahme ist dabei, dass beide Bestandteile sich gegenseitig bestimmen und nicht nur einer den anderen. Aber darüber, ob das wirklich der Fall ist, lässt sich diskutieren. So kann man etwa argumentieren, dass ein Radiowecker 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="40"?> 40 2 Die Wortbildung des Substantivs primär als Wecker konzeptualisiert ist, der über Radioempfang verfügt und diesen statt des Wecktons zum Wecken nutzen kann; dass ein Hosenrock als ein Kleidungsstück wahrgenommen wird, das aussieht wie ein Rock, aber die zusätzlichen Eigenschaften einer Hose aufweist und dass eine Strumpfhose eine eng anliegende Hose mit angefügten Strümpfen ist, so gesehen vom Konzept her also mit einer Strampelhose vergleichbar. Nur beim Wort Radiowecker lassen sich die Bestandteile zu Weckerradio und damit einer Form vertauschen, die man gelegentlich auch wirklich findet; dann steht vermutlich die Funktion eines Radios um Vordergrund, das nebenbei auch wecken kann. Nicht möglich sind hingegen *Rockhose und *Hosenstrumpf. Nun sind das natürlich Wörter, die schon seit langer Zeit etabliert und entsprechend lexikalisiert sind, was das Vertauschen der Bestandteile erschweren könnte. Dennoch lässt sich das Argument, dass sie im Grunde determinativ zu verstehen sind und eben Gegenstände mit den primären Eigenschaften von Hosen bzw. von Röcken bezeichnen, nicht von der Hand weisen. Man kann dabei von der Hypothese ausgehen, dass bei der Interpretation von Komposita die Determination --von der es ja selbst dann, wenn man die Existenz von Kopulativkomposita voraussetzt, nur eine verschwindend geringe, im Promillebereich anzusiedelnde Anzahl von Ausnahmen gibt - im Deutschen so grundlegend ist, dass Sprachnutzer ein Kompositum automatisch als Determinativ- und nicht als Kopulativkompositum verstehen. Damit blieben allerdings immer noch Ländernamen wie Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein erklärungsbedürftig, denn sie lassen sich sicherlich nicht als Determinativkomposita interpretieren. Aber bei diesen sowohl in der Realität als auch in der Sprache erfolgten Fusionierungen zuvor jeweils eigenständiger Länder handelt es sich um Eigennamen, und hier gelten offenbar besondere Bedingungen. Eine Frau, die Eva-Maria heißt, ist natürlich nicht mit einer durch Eva näher bestimmten Maria gleichzusetzen, und auch der Doppelname von Herrn Schmid-Müller bezeichnet nicht einen durch Schmid näher bestimmten Herrn Müller. Aber anders als Radiowecker und Strumpfhosen weisen die Namensträger auch nicht zugleich die Eigenschaften ihrer Namensbestandteile auf; sie sind nicht zugleich Herr Schmid und Herr Müller, Eva und Maria. Die Besonderheit dieser Art von Komposition --falls man die Doppelung von Eigennamen überhaupt als solche ansehen möchte --spiegelt sich auch in der Orthografie wider, wo keine Zusammenschreibung erfolgt, sondern die Bestandteile durch Bindestrich getrennt werden. Seltene Ausnahmen von dieser Regel bilden Eigennamen wie Anneliese (statt: Anne-Liese) oder Lieselotte (statt: <?page no="41"?> 41 Liese-Lotte), die aber normalerweise auch nicht mehr als Doppelnamen interpretiert, sondern als ein einzelner Name wahrgenommen werden. Die zweite oft angeführte Ausnahme vom Prinzip der Determination, die zwar nicht zu den hier behandelten Substantiv-plus-Substantivkomposita gehört, hier aber dennoch kurz erwähnt werden soll, liegt bei Komposita mit Adjektiven im linken Teil wie Schwarz-Rot-Gold oder reinen Adjektivkomposita wie Grün-Weiß-Rot oder rot-grün kariert vor (zu den Adjektivkomposita siehe ausführlicher unter 3.1.1). Aber die Farbbezeichnungen von Flaggen folgen naturgemäß schlicht der Reihenfolge der Farben in den Flaggen selbst, die man damit beschreibt. In Fällen wie rot-grün kariert wiederum stellt man schnell fest, dass die scheinbare Gleichberechtigung der beiden Farbtöne nur so lange existiert, wie das Kompositum als Attribut zu kariert, gestreift, gemustert etc. dient. Wenn rotgrün alleine steht (und dann typischerweise als rotgrün zusammengeschrieben wird), bezeichnet es ganz klar ein rötliches Grün und nicht ein wie auch immer geartetes Nebeneinander der beiden Farben. Alles in allem spricht also wenig dafür, im Deutschen Kopulativkomposita anzusetzen. Eine ganz andere, nämlich eine syntaktische Sicht auf das Verhältnis der Bestandteile eines Substantivkompositums liegt vor, wenn von einem Rektionskompositum die Rede ist. Rektionskomposita sind Determinativkomposita, bei denen der Kopf aus einem Verb abgeleitet ist, zu dem der linke Teil ein Komplement bildet. Im Standardfall handelt es sich dabei um ein direktes Objekt, wie es bei Zeitungsleser (← eine Zeitung lesen) oder Durchfahrtverbot (← die Durchfahrt verbieten) vorliegt; es kann sich aber auch um ein Präpositionalobjekt wie bei Regelverstoß (← gegen eine Regel verstoßen) handeln. Aber auch Subjekte wie in Kindergeschrei (← Kinder schreien) werden gelegentlich (so bei Fleischer/ Barz 2012: 141) als Rektionskomposita aufgefasst. Darüber hinaus findet man in diesem Zusammenhang sogar eine noch allgemeinere Relation der „Zugehörigkeit“, die auf Weltwissen basiert, so etwa in Fällen wie Professorensohn (das Wort Sohn impliziert, dass es auch einen Vater geben muss; cf. Olsen 1986: 71, zitiert nach Donalies 2005: 64). Ganz offensichtlich hängt die Anwendung des Begriffs „Rektionskompositum“ also davon ab, wie man „Rektion“ definiert. Gemeinhin wird darunter die Fähigkeit eines Wortes -- im prototypischen Fall eines Verbs, aber auch z.- B. eines Adjektivs oder einer Präposition -- verstanden, den Kasus eines anderen Wortes zu bestimmen, was entweder direkt oder auch unter Zuhilfenahme einer Präposition (sog. Präpositionalrektion) erfolgen kann. So läge 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="42"?> 42 2 Die Wortbildung des Substantivs etwa bei jemanden anrufen Akkusativrektion vor, bei auf jemanden warten Präpositionalrektion, bei jemandem/ auf jemanden böse sein Dativbzw. Präpositionalrektion etc. (cf. z.-B. Hentschel/ Weydt 2013: 50). Bis hierhin sind sich alle Grammatiken einig. Aber schon darüber, ob auch das Subjekt eines Verbs von ihm regiert wird, gibt es unterschiedliche Sichtweisen, die vom jeweils zugrunde gelegten Grammatikmodell abhängen: In der Valenztheorie wird die Frage bejaht, in anderen Syntaxmodellen hingegen nicht. Bei einem Fall wie Professorensohn wird der Begriff der Rektion dann allerdings noch weit über die Syntax hinaus auf die Semantik ausgedehnt, indem angenommen wird, dass Sohn eine „semantische Leerstelle“ (Fleischer/ Barz 2012: 141) eröffnet, die das Vorhandensein eines Vaters impliziert. Aber eigentlich impliziert Sohn ja nicht nur einen Vater, sondern setzt auch die Existenz einer Mutter voraus; nur haben entsprechende Komposita wie Professorinnensohn, Ärztinnensohn oder Arbeiterinnensohn interessanterweise keinen Eingang in den Standard-Wortschatz gefunden. Hier besteht ein offenkundiger Unterschied zu syntaktisch definierten Rektionskomposita, bei denen das regierte Element austauschbar ist, da es sich ja um eine syntaktische Leerstelle handelt. Daher lassen sich Komposita wie Zeitungsleser, Krimileser, Groschenheftchenleser etc. bilden. Vielleicht liegt es an Problemen dieser Art, dass sich die Forderung, auch rein semantisch motivierte Rektionskomposita anzusetzen, nicht wirklich durchgesetzt hat. Insgesamt kann man darüber unterschiedlicher Meinung sein, ob es sinnvoll ist, bei Komposita aus Substantiven Unterscheidungen in Bezug auf die syntaktischen oder noch weitergehend die semantischen Beziehungen der Bestandteile vorzunehmen. Syntaktische Unterscheidungen sind zwar nur bei aus Verben abgeleiteten Köpfen möglich, lassen sich aber formal gut begründen. Allerdings unterscheiden sich Rektionskomposita in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten nicht von anderen Komposita, und das regierte Element kann ohne äußerlich erkennbare Veränderungen durch ein nicht regiertes ersetzt werden (z.-B. Durchschnittsleser, Korrekturleser, Wunschleser etc. statt Zeitungsleser, Krimileser etc.). <?page no="43"?> 43 Wenn man im Bereich der Semantik von „Rektion“ ausgehen möchte, stößt man auf eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. Aber auch bei anderen Ansätzen zu semantischer Klassifikation wie z. B. der Unterscheidung in „partitive“ (z. B. Stuhllehne: die Lehne ist ein Teil des Stuhls), „substantielle“ (z. B. Metallkoffer: der Koffer besteht aus Metall), „komparative“ (z. B. Staubzucker: der Zucker ist ähnlich wie Staub) und zahlreiche weitere semantische Untertypen (cf. Lohde 2006: 67 f.) zeigt sich, dass schon bei der Klassifikation selbst Probleme entstehen. Nicht festgelegt ist dabei beispielsweise, ob das Determinans oder das Determinatum ausschlaggebend für die Zuordnung sein soll. Bei Rektionskomposita im syntaktischen Sinne ist eindeutig das Determinatum, also der Kopf des Kompositiums, der Träger der Rektion; Leser regiert Zeitung, ganz so, wie auch das dem Kopf zugrundliegende Verb lesen im Satz das Objekt Zeitung regieren würde. Das ist jedoch bei semantischen Einteilungen anders, hier wird oft umgekehrt das Determinans als ausschlaggebend betrachtet: Staub in Staubzucker führt dazu, dass es sich um ein komparatives Kompositum handelt. Grundsätzliche Regeln für Umformulierungen, mit denen das Verhältnis der beiden Elemente bestimmt werden kann, sind damit nicht mehr möglich. Bei einem Kompositum wie Stuhllehne kann das Determinans als partitiver Genitiv zum Kopf ausgedrückt werden: die Lehne des Stuhls. Das wäre ein belastbares Kriterium für die Einteilung. Aber bei Belegen wie Pfirsichtorte, die ebenfalls als partitive Komposita eingestuft werden (cf. ibd.: 67), ist eine Umformung in einen partitiven Genitiv *die Torte der Pfirsiche oder *die Torte des Pfirsichs nicht möglich. Möglich ist die Pfirsiche der Torte, womit aber offensichtlich etwas anderes bezeichnet wird als mit Pfirsichtorte; zudem wäre das Syntagma Pfirsiche der Torte seinerseits in Tortenpfirsiche umwandelbar. Da formale Kriterien bei semantischen Einteilungen nicht anwendbar sind, stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage man die Zuordnung stattdessen vornehmen soll. Wenn nur sehr allgemeine, möglicherweise auch interpretationsabhängige semantische Bezüge zugrunde gelegt werden können, wird nicht recht erkennbar, welchen Zweck eine Klassifizierung haben könnte. Wie bereits am Beispiel von Obstkuchen, Marmorkuchen, Kastenkuchen, Teekuchen und Hundekuchen aufgezeigt wurde, sind Substantivkomposita nicht zuletzt deshalb so produktiv, weil der semantische Bezug der beiden Bestandteile gerade nicht festgelegt, sondern im Gegenteil im Zweifelsfall jederzeit situativ neu interpretierbar ist. So kann beispielsweise ein Matcha-Kuchen, bei dem das Rezept die Verwendung von grünem Tee in Pulverform vorsieht, im entsprechenden Kontext durchaus auch als Teekuchen bezeichnet werden - und wird dies auch (so etwa auf www.chefkoch.de), ohne dass dadurch ein Ver- 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="44"?> 44 2 Die Wortbildung des Substantivs ständnisproblem entstünde. Der Bedeutungswechsel von einem vermutlich finalen (‚Angabe des Zwecks‘ --falls man Teekuchen als ‚Kuchen zum Zweck des Verzehrs zum Tee‘ interpretieren will) zu einem materialen (‚besteht aus‘) oder möglicherweise auch konstitutionalen (‚ist Bestandteil von‘) ist auf der Grundlage der angesetzten semantischen Klassen (cf. Fleischer/ Barz 2012: 141 f.) nur sehr schwer zu beschreiben. Wenn man hingegen eine triviale, sehr allgemeine Lesart wie ‚Kuchen, der etwas mit Tee zu tun hat‘ zugrunde legt, löst sich das Problem in Wohlgefallen auf. 2.1.1.2 Kurzgeschichte und Vierzylinder: Komposita aus Adjektiv und Substantiv Wenn man nicht wie Naumann (2000: 42) Komposition grundsätzlich nur bei der Kombination von zwei Substantiven als Wortbildungsmittel ansetzen will, gibt es eine Reihe weiterer Kompositionsmöglichkeiten. Als erstes wäre hier der dritte Typ neben dem Determinativ- und dem Kopulativkompositum, nämlich das sog. Possessivkompositum, zu nennen. Es wird manchmal auch als exozentrisches Kompositum oder mit einem Begriff aus der altindischen Grammatik als Bahuvrihi bezeichnet. Letzteres bedeutet im Sanskrit wörtlich ‚viel Reis‘ und bezeichnet eine Person, die viel Reis hat, also reich ist. Übertragen auf die Grammatik sind damit Wörter wie Rotkehlchen oder Vierzylinder gemeint, die aus einem Adjektiv oder - wie-im Fall von Vierzylinder - aus einem Numerale und einem Substantiv bestehen. Bei solchen Komposita handelt es sich im Grunde um eine lexikalisierte Form von Metonymie, bei der ein Teil für das Ganze steht. Ein Rotkehlchen hat ein rotes Kehlchen, ein Vierzylinder hat vier Zylinder etc. Dabei kann die bezeichnete Eigenschaft auch metaphorisch gemeint sein: ein Grünschnabel hat nicht wirklich die Eigenschaft, einen grünen Schnabel zu besitzen, und ein Dickschädel hat nicht im wörtlichen Sinne einen dicken Schädel. „Exozentrisch“ heißen solche Komposita deshalb, weil man die Bedeutung nicht direkt aus den beiden Bestandteilen ableiten kann, sondern „von außerhalb“ hinzufügen muss. Im Gegensatz dazu sind sog. endozentrische Komposita sozusagen selbsterklärend. Sie bezeichnen das, was ihr Kopf bedeutet, und erklären es nur näher: Eine Fußbodenschleifmaschine ist ebenso eine Maschine wie eine Geschirrspülmaschine, eine Küchenmaschine oder eine Waschmaschine. Possessivkomposita stellen allerdings nur eine Minderheit der Fälle von Komposita aus Adjektiv und Substantiv dar. Bei der Mehrheit solcher Kompo- <?page no="45"?> 45 sita bezeichnet das Adjektiv einfach eine Eigenschaft des Kopfes, die man auch durch den Gebrauch desselben Adjektivs als Attribut hätte ausdrücken können: Ein Hochhaus ist ein hohes Haus, Feinstaub ist feiner Staub, ein Kurzurlaub ist ein kurzer Urlaub etc. Komposita dieser Art sind recht häufig zu finden: Blödmann, Frühpensionierung, Großverdiener, Kleinanzeige etc. Hier können auch Fremdwörtern als Kopf auftreten: Kurztrip, Minijob oder das mit dem Superlativ des Adjektivs gebildete Kürzesttweet (gefunden bei Rettig 2011). Der Bildungstyp ist produktiv und kann, wie sich zeigt, auch für ad-hoc-Bildungen verwendet werden. Außer Adjektiven kommen wie schon erwähnt auch Numeralia als Erstglieder in Frage, wobei sich Numeralia besonders bei kleinen Zahlen morphologisch oft wie Adjektive verhalten (cf. Hentschel/ Weydt 2013: 235 f.) und als Wortart daher mitunter auch zu den Adjektiven gerechnet werden (sog. Zahladjektive, so z.-B. Duden 2016: 385, Helbig/ Buscha 2011: 290). Hierher gehört der bereits als Beispiel angeführte Vierzylinder ebenso wie der Dreisatz, das Viereck oder der Zweikampf. Daneben finden sich aber auch komplexere Bildungen mit der Endung -er, die nicht als einfache Kompositionen analysiert werden können. So ist ein Dreiteiler ein dreiteiliger Film oder Roman, wobei es aber das Simplex Teiler zumindest in der hier vorliegenden Bedeutung-nicht gibt. Ähnlich besteht ein Vierzeiler aus vier Zeilen, ohne dass es einen *Zeiler gäbe, und ein Zweireiher hat zwei Reihen von Knöpfen, aber nichts mit dem Wasservogel Reiher zu tun. 2.1.1.3 Gehhilfe, Studierendenvertretung und Wendepunkt: Komposita aus Verb und Substantiv Kombinationen aus einem Verb und einem Substantiv finden sich ausgesprochen häufig. Dabei kann der endungslose Infinitivstamm, der nach dem Abtrennen der Infinitivendung -(e)n übrigbleibt, als Erstglied verwendet werden (z.-B. fahren → Fahrgemeinschaft, klettern → Kletterbaum, strampeln → Strampelhose etc.). Es kann aber auch ein zusätzliches -eals Fugenelement zwischen Infinitivstamm und Substantiv treten, wie das bei Rat-e-spiel, Wart-e-schlange oder Werb-e-masche der Fall ist. Parallel zur Komposition von zwei Substantiven wird das -ein diesen Fällen gemeinhin als Fugenelement betrachtet. Neben solchen Bildungen, die leicht zu analysieren sind, kommen aber auch Zusammensetzungen wie Kochmütze oder Lebenszeit vor, bei denen die Analyse nicht so einfach ist. So haben zwar sowohl Koch in Kochmütze als auch Leben in 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="46"?> 46 2 Die Wortbildung des Substantivs Lebenszeit eindeutig ihre Wurzeln in den Verben kochen und leben; sie sind aber selbst bereits zu Substantiven geworden, bevor sie die Kombination mit Mütze resp. Zeit eingegangen sind. Hier liegen also nicht wirklich Kombinationen aus Verb und Substantiv vor, sondern Substantivkomposita (‚Mütze des Kochs‘, ‚Zeit des Lebens‘). Nicht immer kann man ohne weitergehende Recherchen erkennen, wie eine Form entstanden ist. Ein Beispiel hierfür ist die Analyse des Wortes Fuhrunternehmen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass hier einfach der Präteritumsstamm von fahren, also fuhr, mit dem Substantiv Unternehmen verbunden wurde. Allerdings finden sich keine Parallelen zu dieser Art von Wortbildung (also etwa Formen, die mit ging, kam, schwamm o. Ä. gebildet wurden), sondern nur solche, bei denen bereits vor der Zusammensetzung des Kompositums eine Wortbildung vom Verb zum Substantiv erfolgt ist: schneiden → Schnitt → Schnittmuster, Reiten → Ritt → Rittmeister, sprechen → Sprache → Sprachbau etc. Das Beispiel Sprachbau zeigt dabei zugleich, dass das -e ausfallen kann, und genau dies ist auch bei Fuhre geschehen (wobei Fuhr im Grimm’schen Wörterbuch sogar noch als Nebenform zu Fuhre verzeichnet ist, cf. DWB s. v. Fuhr). Auch wenn in beiden Fällen ein Verb den Ausgangspunkt bildet, muss man daher Bildungen wie Fahrwerk oder Fahrzeit, die direkt vom Verb fahren abgeleitet sind und zu denen es kein Substantiv *Fahr oder *Fahre gibt, von solchen wie Fuhrmann oder Fuhrunternehmen unterscheiden, die über den Umweg einer Substantivbildung aus einem Verb abgeleitet wurden. Ein weiterer Typ von Zusammensetzung eines Substantivs mit einem verbalen Erstglied liegt in Bildungen wie Delegiertenversammlung oder Studierendenvertretung vor. In beiden Fällen handelt es sich um Partizipien, einmal um das Partizip Perfekt von delegieren, einmal um das Partizip Präsens von studieren. Aber auch hier gilt: diese Partizipien wurden zunächst zu der/ die Delegierte bzw. der/ die Studierende substantiviert, bevor sie dann mit Versammlung bzw. Vertretung verknüpft wurden. Auch hier liegen in Wirklichkeit also keine direkten Kompositionen aus Verb und Substantiv vor. <?page no="47"?> 47 2.1.1.4 Abwasser, Außenseite und Sofortkredit: Komposita aus Adverbien und Substantiv Adverbien, wie sie etwa in Außenansicht und Heutbesichtigung vorliegen, kommen nur selten als Erstglieder vor, und es können auch nur wenige Adverbien überhaupt in dieser Funktion verwendet werden. Schon Heutbesichtigung muss als Einzelfall angesehen werden, der möglicherweise der Zeichenersparnis in Immobilienanzeigen geschuldet ist. Weitere Kompositionen mit heute sind nicht gebräuchlich, und auch gestern oder morgen sowie die meisten anderen Temporal- und Lokaladverbien wie hier, jetzt, da, dort, damals, dann etc. können nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen wie Jetztzeit zur Bildung von Komposita eingesetzt werden. Relativ häufig findet sich demgegenüber außen und sein Gegenstück innen sowie das Adverb sofort: ▶ Außenminister, Außenspiegel, Außentreppe ▶ Innenminister, Innenspiegel, Innentreppe ▶ Soforthilfe, Sofortkredit, Sofortmaßnahme Weitere Beispiele für diese Art von Komposition sind Abwärtsspirale, Rückwärtsdrehung oder Vorwärtsbewegung. Ein aktuelles Kompositum dieses Typs, das zugleich die Produktivität des Verfahrens zeigt, wäre der Drunterkommentar auf Twitter. Ob man die Negationspartikel nicht ebenfalls zu den Adverbien rechnen sollte, wie dies beispielsweise Fleischer/ Barz (2012: 171) tun, ist nicht unumstritten (cf. Hentschel/ Weydt 2013: 296 f.) Auf jeden Fall hat man es dabei mit einem produktiven Wortbildungselement zu tun. Es ist besonders häufig in Kombination mit ihrerseits aus Verben abgeleiteten Köpfen auf -er wie Leiter → Nichtleiter, Raucher → Nichtraucher, Schwimmer → Nichtschwimmer anzutreffen, kommt aber auch in anderen Kombinationen vor: Nichtbeachtung, Nichterscheinen, Nichtzustandekommen etc. Der großen Mehrheit dieser Komposita ist gemeinsam, dass der zweite Bestandteil aus einem Verb abgeleitet wurde. Man kann daher argumentieren, dass der Wortbildung ein Syntagma wie leitet nicht oder kommt nicht zustande zugrunde liegt und nicht wirklich eine Komposition aus nicht und einem Substantiv. Dagegen spricht allerdings, dass auch Komposita mit eindeutigen Substantiven wie Nichtfachmann oder Nichtmitglied gebildet werden können. Wenn man hier ebenfalls ein Syntagma ansetzen will, muss man sie auf Konstruktionen wie ist nicht Fachmann oder ist nicht Mitglied zurückführen, denen die etwas häufigeren Konstruktionen mit kein (ist kein 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="48"?> 48 2 Die Wortbildung des Substantivs Fachmann, ist kein Mitglied) gegenüberstehen. Da man Formen wie *Keinmitglied oder *Keinfachmann jedoch nicht bilden kann, spricht einiges dafür, nicht in solchen Komposita als selbständiges Wortbildungselement anzusehen. 2.1.1.5 Abluft, Mitschüler, Riesenärger und Unsummen: Zwischen Komposition und Präfigierung Grammatische Morpheme, also auch Präfixe, sind historisch aus lexikalischen entstanden (cf. Lehmann 2015: 15). Manchmal liegt dieser Prozess schon so lange in der Sprachgeschichte zurück, dass man ihn nicht einmal mehr rekonstruieren kann; aber manchmal ist es auch noch sehr gut sichtbar. Ein Beispiel für letzteres wäre die Grammatikalisierung des Substantivs Trotz (z.-B. aus purem Trotz) zur Präposition trotz (z.-B. trotz des schlechten Wetters). Wie im Fall von Trotz und trotz können die beiden Funktionen auch weiterhin nebeneinander bestehen bleiben. Dabei kann im Einzelfall schwer zu entscheiden sein, wie man ein Element jeweils einteilen soll. Davon hängt aber auch die Antwort auf die Frage ab, ob man von einer Komposition sprechen soll -- worunter meist die Zusammenfügung zweier oder mehrerer freier lexikalischer Morpheme verstanden wird (cf. Donalies 2011: 36 f.) -- oder aber von einer Präfigierung, also dem Anfügen eines gebundenen grammatischen Morphems. Präpositionen stehen insofern dazwischen, als sie zwar freie Morpheme sind, aber keine lexikalische Bedeutung (mehr) haben. Im Folgenden werden sie zusammen mit einem weiteren Grenzbereich, dem der Augmentativa, als Übergang von der Komposition zur Präfigierung zwischen den beiden Kategorien angesiedelt. 2.1.1.5.1 Megaerfolg, Mordsgaudi und Riesenpech: Augmentativa So wie im Deutschen Diminutiva (‚Verkleinerungsformen‘, z.-B. Mann → Männchen) gebildet werden können, können in vielen Sprachen als Gegenpol dazu regelmäßig auch Augmentativa (‚Vergößerungsformen‘, von lat. augmentare ‚vermehren‘; Singular: Augmentativum) gebildet werden. Beispielsweise kann man auf Italienisch zu palazzo ‚Palast‘ das Augmentativum palazzone bilden, um einen besonders großen Palast zu bezeichnen, und auch Serbisch bedeutet kućetina (Augmentativum zu kuća ‚Haus‘) so etwas wie ‚Riesenhaus‘. Diese Möglichkeit einer systematischen Bildung gibt es im Deutschen nicht. Man kann aber mit unterschiedlichen lexikalischen Mitteln, so etwa mit Konfixen <?page no="49"?> 49 wie mords-, durch Komposition mit Substantiven wie Riese und Adjektiven wie mega oder gelegentlich auch durch das Präfix unsemantisch Vergleichbares ausdrücken. So entstehen semantische Augmentativa wie z.-B. ▶ Affentempo, Megaerfolg, Monsterproblem, Mordsgaudi, Riesenärger, Super- GAU, Unmenge. Von der Bildung her variieren diese Formen daher zwischen den im Vorigen ausgeführten Komposita (z.-B. Riesenärger) und den im Folgenden behandelten Affixen (z.-B. Unmenge). Von Augmentativa im eigentlichen Sinne spricht man nur, wenn ein grammatikalisiertes Verfahren zur Bildung solcher Formen vorliegt (vergleichbar der Diminutiva-Bildung auf -chen oder -lein im Deutschen). Insofern ist der Begriff hier nicht ganz korrekt. Aber die so gebildeten Wörter erfüllen die semantische Funktion der Augmentation und drücken jeweils die besondere Größe/ den besonderen Umfang des Bezeichneten aus: ein Affentempo ist ein besonders hohes Tempo, ein Monsterproblem ein besonders großes Problem oder eine Unmenge eine ebenso große Menge. Gelegentlich findet sich für solche Bildungen auch der Begriff „Augmentativkompositum“ (cf. Lohde 2006: 64), was aber nur dann passt, wenn man den Begriff „Kompositum“ so definiert, dass er nicht nur Kombination aus freien lexikalischen Morphemen umfasst. Da aufgrund des fehlenden grammatischen Systems zur Bildung von Augmentativa nur rein semantische Kriterien angewandt werden können, finden sich unter den Wortbildungselementen, die in diesem Kontext gewöhnlich genannt werden, gelegentlich auch so unterschiedliche Morpheme wie Herzens-, Spitzen-, Scheiß- (cf. Fleischer/ Barz 2012: 144 f.) oder auch Grund- (Lohde 2006: 65). Sie erfüllen jedoch offensichtlich andere Funktionen als Riesen- oder Mega-: eine Herzensangelegenheit ist zwar sicherlich besonders wichtig, eine Spitzensportlerin besonders gut, ein Scheißarbeit besonders unangenehm und ein Grundproblem besonders grundlegend - aber eine besonders umfangreiche Angelegenheit, eine ebensolche Arbeit oder ein besonders großes Problem sind damit jeweils nicht gemeint. Im weitesten Sinne verstärkend wirkende Erstglieder sind vor allem in der Umgangssprache zudem starkem Wandel unterworfen, so dass hier immer wieder neue Elemente Eingang in den Sprachgebrauch finden. Zu den neueren Erstgliedern dieser Art gehören z.- B. Hammer oder das bereits erwähnte Monster, mit denen Komposita wie z.-B. Hammertyp (für eine Person, nicht für eine Werkzeugart), Monstererfolg etc. gebildet werden. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="50"?> 50 2 Die Wortbildung des Substantivs Interessanterweise kann in einigen Fällen auch das eigentlich für die Negation zuständige Präfix un- (z.-B. Unsinn, unfair) eine augmentative Funktion übernehmen: Unmenge und Unsumme bezeichnen besonders große Summen bzw. Mengen, und eine der beiden Bedeutungen von Untiefe besteht darin, nicht eine flache, sondern im Gegenteil eine besonders tiefe Stelle in einem Gewässer zu bezeichnen. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass beispielsweise eine Unsumme so groß ist, dass sie schon gar nicht mehr mit dem Wort Summe erfasst werden kann. 2.1.1.5.2 Auszeit, Gegenargument und Nebensatz: Präposition plus Substantiv Auch Präpositionen können mit Substantiven verknüpft werden. Eine solche Verwendung lässt sich bei praktisch allen Präpositionen beobachten, wie die folgenden Beispiele illustrieren sollen: ab an auf aus bei binnen für gegen mit nach neben über um unter vor wider zu zwischen Abgas, Abglanz, Abwasser Anbeginn, Anbetracht, Anmarsch Aufgeld, Aufpreis, Aufwind Ausgeburt, Ausland, Ausweg Beifang, Beigemüse, Beiprogramm Binnengewässer, Binnenhafen, Binnenmarkt Fürsorge, Fürsprecher, Fürwort Gegenlicht, Gegenrichtung, Gegenverkehr Mitbürger, Miteigentum, Mitschüler Nachbeben, Nachhut, Nachsilbe Nebenamt, Nebensache, Nebenstraße Überbevölkerung, Übereifer, Übergewicht Umfeld, Umland, Umwelt Unterbewusstsein, Untergewicht, Untertasse Vorabend, Vorbild, Vordach Widersinn, Widerwille, Widerworte Zuerwerb, Zukost, Zuname Zwischenbemerkung, Zwischenschrift, Zwischenstand <?page no="51"?> 51 Bei vielen solchen Kombinationen kann man bereits einen deutlichen Übergang von der Präposition zum Präfix beobachten. Wie das für Grammatikalisierungsprozesse typisch ist, verblasst dabei die ursprüngliche wörtliche Bedeutung, und man kann z.- B. bei einem Wort wie Vorbild nicht mehr unbedingt auf den ersten Blick nachvollziehen, inwiefern sich das so bezeichnete Bild ‚vor’ jemandem befindet. Bei vielen Kombinationen aus einer Präposition und einem Substantiv ist die ursprüngliche Bedeutung aber noch recht klar erkennbar. Bei der Verwendung derselben Morpheme mit einem Adjektiv (z.-B. vorlaut) oder erst recht einem Verb (z.-B. vorsagen) überwiegen hingegen eher die nicht mehr durchsichtigen Fälle, und um diesen graduellen Wandel abzubilden, werden sie dort bei den Präfixen, hier aber noch im Grenzbereich zwischen Komposition und Präfigierung behandelt. Da sich die zunehmende Grammatikalisierung von Präpositionen aber auch im Bereich der Wortbildung des Substantivs bereits deutlich abzeichnet, könnte man ebenso gut auch für eine andere Einteilung als die hier vorgenommene argumentieren und sie zusammen mit den Präfixen behandeln. Da alle genannten Präpositionen auch zusammen mit Verben als sog. Verbpartikeln vorkommen, muss man hier sorgfältig zwischen Bildungen unterscheiden, denen ein Substantiv zugrunde liegt, und solchen, die direkt aus einem Verb abgeleitet wurden. So ist eine Aufgabe keine mit aufpräfigierte Gabe, sondern wurde aus dem Verb aufgeben abgeleitet, und eine Umleitung ist keine mit umpräfigierte Leitung, sondern aus umleiten deriviert. Umgekehrt kann man hingegen Komposita wie Umland oder Beifang nicht auf Verben wie *umlanden oder *beifangen zurückführen. 2.1.2 Erzfeind, Kapitalist, Konrektor und Hinterbänkler: Modifikation von Substantiven durch Affixe Obwohl dabei genau genommen ebenfalls zwei Elemente zusammengesetzt werden, wird Wortbildung durch Hinzufügen eines Prä- oder Suffixes nicht mehr als Komposition angesehen. Das liegt daran, dass es sich bei einem der beiden nun nicht mehr um ein freies, sondern um ein gebundenes Morphem handelt. Daher spricht man in solchen Fällen von einer Derivation (von lat. derivare ‚ableiten‘, derivatio ‚Ableitung‘). Wenn dabei - wie bei der Derivation eines Substantivs aus einem Substantiv - die Wortart unverändert bleibt, das Wort also sozusagen nur „modifiziert“ wird, handelt es sich um eine Modifikation. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="52"?> 52 2 Die Wortbildung des Substantivs 2.1.2.1 Fehlkauf, Makroebene, Misston und Urabstimmung: Modifizierung von Substantiven mit Präfixen Wenn man die in Kombination mit Substantiven auftretenden Präpositionen wie z.- B. in Mitschüler oder Unterführung nicht zu den Präfixen im engeren Sinne rechnet, sondern sie, wie das hier geschehen ist, noch zu den Komposita rechnet, bleiben bei der Modifikation von Substantiven nur wenige indigene Präfixe wie z.-B. das ursprünglich aus dem Griechischen entlehnte, inzwischen aber als heimisch empfundene erz- (z.- B. Erzbösewicht), ferner ge- (z.- B. Gebüsch) oder un- (z.-B. Unmensch) übrig. Daneben gibt es eine ganze Reihe von entlehnten Elementen wie ex- (z.- B. Exfreund), meta- (z.- B. Metaebene) oder super- (z.-B. Superheld), mit denen sich Substantive modifizieren lassen. Unter ihnen sind zahlreiche Morpheme mit lexikalischer Bedeutung, die daher auch als Konfixe betrachtet werden, wobei die Definition und die Einteilung der einzelnen Morpheme nicht immer einheitlich ist (cf. Elsen 2005: 133 f.). In einigen Fällen haben sich aus den ursprünglich gebundenen Morphemen auch freie entwickelt (z.-B. super in Das finde ich super! ). Wenn umgekehrt der Zusammenhang zwischen einem ursprünglich freien Lexem und einem in Entstehung begriffenen (oder auch schon weitgehend entstandenen) Affix noch klar erkennbar ist wie z.-B. bei fehlin Fehldiagnose, spricht man von einem Affixoid. Auch dieser Begriff ist nicht unumstritten und wird nicht immer einheitlich gefasst (cf. hierzu ausführlicher Stevens 2011). Der Übergang von einem Lexem zu einem grammatischen Morphem ist ein ganz normaler Vorgang, der sich im Laufe von Grammatikalisierungsprozessen mehr oder minder schnell vollziehen kann. Ab welchem Punkt man nicht mehr von einem Affixoid, sondern nur noch von einem Affix sprechen sollte, kann daher Ansichtssache sein. 2.1.2.1.1 Erzbösewicht, Gebirge und Missernte: Modifizierung von Substantiven mit heimischen Präfixen Es gibt nicht sehr viele indigene Präfixe, die auf die Modifikation von Substantiven spezialisiert sind, und keines von ihnen kommt ausschließlich bei Substantiven vor. Dazu gerechnet werden gewöhnlich erz-, fehl-, ge- (oft zusammen mit dem Suffix -e als Zirkumfix), ursowie das etwa bei Fleischer/ Barz (2012: 56) ebenfalls angeführte haupt-. Auch grund-, rück- und sonderwerden gelegentlich aufgeführt (cf. canoo.net: WordformationRules). Zu nennen ist hier ferner <?page no="53"?> 53 das bei Adjektiven hochfrequente negierende Präfix un- (z.- B. ungut) sowie schließlich das bei Substantiven ebenso wie bei Adjektiven und Verben auftretende miss-. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Morpheme, die als Präfixe und Verbpartikeln Verben modifiziert können (z.-B. angeben, mitgeben, zugeben etc.) ebenso auch bei Substantiven. Da es sich bei allen Elementen, die hier in Frage kommen, zugleich um Präpositionen und damit um freie Morpheme handelt, wurden sie im Vorigen bei der Komposition besprochen. Allerdings zeigen sich in einigen Fällen bereits deutliche Merkmale einer Weiterentwicklung zu Präfixen, so etwa ein für Grammatikalisierungsprozesse typisches Verblassen der ursprünglichen Bedeutung, so dass man auch ihre Subsumierung unter die Gruppe der Präfixe im weiteren Sinne rechtfertigen könnte. Erzhalunken und Erzkapitalisten: erz- Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen könnte, als handle es sich bei erzin Bildungen wie Erzfeind, Erzhalunke, Erzlügner oder Erzkapitalist um das Substantiv Erz, haben die beiden Morpheme in Wirklichkeit nichts miteinander zu tun. Das Präfix erzist aus gr. archi- (‚Anfang‘, ‚Ursprung‘) entstanden und über den Umweg des Lateinischen ins Deutsche gekommen. Die Verwandtschaft der Formen kann man beispielweise am englischen archangel, dem französischen archange oder dem italienischen arcangelo, die alle dem deutschen Wort Erzengel entsprechen, gut erkennen. Im Deutschen ist die griechische Silbe in Fremdwörtern wie Archetyp noch in ihrer ursprünglichen Lautung erhalten. Wie man an Beispielen wie Erzbischof, Erzengel oder Erzherzog (oder auch, veraltet: Erzmutter, Erzvater) sieht, ist die Bedeutung des Präfixes nicht auf ‚von Grund auf ‘ oder ‚durch und durch‘ (und in der Folge dann bei Wörtern wie Erzbösewicht auf Augmentation) festgelegt. Stattdessen kann es auch nur die besondere Wichtigkeit oder hohe hierarchische Stellung des Bezeichneten ausdrücken. Das Präfix, das außer bei Substantiven auch bei Adjektiven (z.-B. erzliberal) vorkommen kann, ist bei Substantiven nicht mehr produktiv. Fehlanzeige und Fehlpass: fehl- Bei fehlhandelt es sich um ein Wortbildungsmorphem, das als Präfix sowohl bei Substantiven als auch bei Verben auftreten kann. Darüber hinaus findet sich das Morphem aber auch im Verb fehlen (mit den beiden Bedeutungen 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="54"?> 54 2 Die Wortbildung des Substantivs ‚irren‘ und ‚abwesend sein‘) und dem Substantiv Fehler sowie im ausschließlich prädikativ und auch da nur in bestimmten Wendungen auftretenden fehl (z.-B. fehl am Platz, fehl am Ort). Da es sich ursprünglich um eine Verbwurzel handelt, wird fehlgelegentlich auch als Präfixoid betrachtet, also als ein auf dieselbe Wurzel zurückgehendes Morphem, das in verschiedenen Bedeutungen als freies wie auch als gebundenes Morphem auftreten kann. Wenn es bei der Wortbildung eingesetzt wird, hat es eine dem Präfix missähnliche Bedeutung, so dass sich etwa Fehlgriff und Missgriff als synonym ansehen lassen. Da fehlauch bei Verben vorkommt, muss man zwischen den (insgesamt selteneren) Derivationen aus Verben (z.-B. Fehlschlag ← fehlschlagen) und solchen unterscheiden, die direkt von einem Substantiv gebildet wurden. Letzteres ist etwa bei Fehlanzeige, Fehlkauf, Fehlpass oder Fehlverhalten der Fall. Nicht hierher gehört das Wort Fehlzeit, das ein Kompositum aus dem Verb fehlen in seiner Bedeutung ‚abwesend sein‘ und dem Substantiv Zeit ist. Geäst und Gestein: ge- Ein sehr häufiges, auch im Bereich der Flexionsmorphologie vorkommendes Präfix ist ge-, das alleine oder auch in Kombination mit -e als Zirkumfix auftreten kann. Es wird im Bereich der Wortbildung vorwiegend verwendet, um Substantive aus Verben abzuleiten (z.- B. bei drängen → Gedränge, suchen → Gesuch) kommt aber auch bei der Ableitung von Substantiven aus Substantiven vor. Bei der Modifikation von Substantiven dient es der Bildung sog. Kollektiva (Sammelbegriffe): aus Ast wird Geäst, aus Berg Gebirge, aus Stein Gestein etc. Mit ge- (-e) gebildete Ableitungen aus Substantiven sind stets Neutra, auch wenn das Basiswort ein anderes Genus hatte: der Stern → das Gestirn, die Rippe → das Gerippe etc. Ein Pluraletantum (ein nur im Plural verwendetes Substantiv) unter den auf diese Weise abgeleiteten Substantiven ist Gebrüder (aus Bruder), und auch Geschwister war ursprünglich ein Plural (cf. DWB s.-v. Geschwister). Anders als bei der Derivation aus Verben (cf. Donalies 2018: 30) erscheint bei der Ableitung aus Substantiven mit ge- (-e) durchweg ein Umlaut. Grundfrage und Grundübel: grund- Ähnlich wie bei Haupt- (siehe dazu im Folgenden) kann man auch bei Grunddarüber diskutieren, ob man das Morphem als Präfix bzw. als Präfixoid ansehen und entsprechend eine Derivation ansetzen oder alternativ bei Wörtern wie <?page no="55"?> 55 Grundmenge, Grundschule, Grundregel oder Grundübel von aus zwei Substantiven gebildeten Komposita ausgehen soll, bei der das Substantiv Grund jeweils den ersten Bestandteil bildet. Für diese letztere Interpretation spricht, dass man Grundin fast allen Fällen durch das Substantiv Basis oder durch das Adjektiv grundlegend ersetzen kann, z.- B. Basismenge, grundlegende Schule, Basisregel, grundlegendes Übel. Als Argument für die Annahme, dass sich hier ein eigenständiges Präfix herauszubilden beginnt, kann man umgekehrt anführen, dass dies nicht immer möglich ist, da sich die Semantik in einigen Fällen schon ein Stück weit von der Ausgangsbedeutung entfernt hat. Beispiele hierfür wären Wörter wie Grundsatz oder Grundriss. Hauptlast und Hauptsache: haupt- Gelegentlich wird auch hauptals Präfix aufgeführt, mit dem man Substantive modifizieren kann, so etwa bei Fleischer/ Barz (2012: 257). Es geht, wie man leicht erkennen kann, auf das Substantiv Haupt zurück und damit auf eine Metapher, die den Kopf als wichtigstes Körperteil zum Ausdruck dessen einsetzt, dass etwas besonders wichtig ist: Hauptbeweis, Hauptgrund, Hauptlast, Hauptsache etc. Man findet es trotzdem gelegentlich unter der Rubrik „Präfix“ oder „Präfixoid“, weil die ursprüngliche Bedeutung ‚Kopf ‘ gegenüber der übertragenen Bedeutung ‚zentral‘, ‚besonders wichtig‘ zurückgetreten ist. Dasselbe kann man allerdings auch für Wendungen wie Haupt der Gesellschaft oder Wörter wie Oberhaupt geltend machen; und auch das aus Haupt abgeleitete Häuptling zeigt, dass die Metapher vielfach fruchtbar gemacht wurde. Allerdings wird das Substantiv zunehmend seltener genutzt (siehe hierzu auch Bergmann 2018: 210). Missernte und Missmut: miss- Missist nicht auf Substantive beschränkt, sondern findet sich ebenso bei Adjektiven (z.-B. misslaunig) und Pseudopartizipien (z.-B. missgelaunt) sowie bei Verben (z.-B. missachten). Einige Substantive mit diesem Präfix wie z.-B. Missverständnis sind daher bereits von einem mit misspräfigierten Verb (hier: missverstehen) und nicht aus einem Substantiv (hier: Verständnis) abgeleitet. Es tritt aber durchaus auch als direktes Präfix bei Substantiven auf, so etwa bei Missbehagen, Missgeschick, Missgunst, Missmut etc. Daneben findet sich die mit -ezu misseerweiterte Form im leicht veralteten Wort Missetat (ebenso: Missetäter). Im Unterschied zu unnegiert das Präfix nicht einfach, sondern 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="56"?> 56 2 Die Wortbildung des Substantivs bezeichnet „verfehltes, falsches, unrechtes“ (DWB, s.-v. misz). Wie fehl-, das ja eine ähnliche Bedeutung aufweist, ist auch missvon einem Verb abgeleitet: Missen ‚entbehren‘ ist allerdings in dieser Form anders als das präfigierte vermissen kaum noch gebräuchlich. Das Präfix missscheint zu früheren Zeiten häufiger gewesen zu sein, wie zahlreiche Belege im Grimm’schen Wörterbuch wie Missehe, Missglaube, Missjahr, Misstreue u.-v.-m. belegen (DWB unter den jeweiligen Stichwörtern, im Original mit <sz> statt <ss>), die heute nicht mehr gebräuchlich sind. Rückgang und Rücksicht: rück- Bei rückhandelt es sich um eine Kurzform des Adverbs zurück, und insofern müsste man hier von einer Komposition ausgehen. Die Form rückkommt aber nur als gebundenes Morphem vor und wäre somit eigentlich ein Kandidat für die Kategorie „Konfix“, in die sie aber normalerweise nicht eingeteilt wird. Man findet rückhäufiger bei Substantiven als bei Verben, bei denen meist die längere Variante zurück Verwendung findet, cf. zurückgeben vs. Rückgabe, zurückgehen vs. Rückgang etc. Oft ist die genaue Ableitungsgeschichte eines so gebildeten Substantivs nicht leicht zu bestimmen, zumal es sich historisch häufig um Lehnübersetzungen handelt (so etwa bei Rückfall und Rücksicht, cf. Kluge 2012 s.-v. Rückfall, Rücksicht). Unkraut und Unmensch: un- Das Präfix untritt am häufigsten bei Adjektiven auf, kann aber ebenso auch Substantive negieren: Unkraut, Unmensch, Unsinn etc. In einigen Fällen ist dabei das Basiswort, von dem das mit unpräfigierte Produkt abgeleitet wurde, nicht mehr gebräuchlich, so bei Unfug (zu Fug, das heute nur noch in mit Fug und Recht verwendet wird) oder bei Ungeziefer (zu Geziefer, was wiederum auf Ziefer ‚kleines Getier‘ zurückgeht; cf. DWB s.-v. Ziefer, Geziefer, Ungeziefer). In vielen Fällen ist aber auch dann, wenn das Basiswort noch gebräuchlich ist, die Bedeutung solcher Präfigierungen nicht einfach auf die Negation zurückführbar: ein Unfall ist nicht ein ‚nicht-Fall‘, ein Unglück mehr als nicht vorhandenes Glück etc. Eine weitere Funktion von unbei Substantiven besteht darin, Augmentativa („Vergößerungsformen“) zu bilden. So ist eine Unmenge nicht eine nicht-Menge, sondern eine besonders große Menge, und eine Unsumme ist eine besonders große Summe. Beim Wort Untiefe finden sich beide Bedeutungen: <?page no="57"?> 57 ‚Nicht-Tiefe‘ (im Sinne einer flachen Stelle im Wasser) und ‚besonders große Tiefe‘. Urabstimmung und Urmensch: ur- In Wörtern wie Urabstimmung, Urknall, Urmensch oder Ursprung findet sich das Präfix ur-. Seine ursprüngliche Bedeutung ‚heraus aus‘ (cf. DWB s. v. ur) ist nicht mehr ohne weiteres erkennbar; meist wird es eher Ausdruck von ‚grundlegend‘ (Ursprung) oder als ‚weit in der Zeit zurückliegend‘ (Urknall) und davon abgeleitet auch als ‚echt‘, ‚primär‘ (Urtext) verstanden. Beim Gebrauch mit Verwandtschaftsbezeichnungen wie in Großmutter → Urgroßmutter oder Enkel → Urenkel hat urdie Funktion, jeweils eine Generation hinzuzufügen. Daher kann man es hier auch verdoppeln (Ururgroßmutter) oder sogar verdreifachen: Urururgroßmutter. Bei den Verwandtschaftsbezeichnungen Mutter und Vater kommt hingegen nur die Bedeutung ‚weit in der Zeit zurückliegend‘, ‚primär‘ vor: Urvater, Urmutter (ebenso: Urahn). 2.1.2.1.2 Copilot, Miniportion und Vizerektor: Modifizierung von Substantiven mit entlehnten Präfixen Für die Modifikation von Substantiven mit Präfixen steht interessanterweise eine deutlich größere Anzahl entlehnter als einheimische Morpheme zur Verfügung. Zu den Präfixen werden hier auch die Konfixe gerechnet, also gebundene Morpheme mit lexikalischer Bedeutung. Grundsätzlich erfolgt die Definition des Begriffs „Konfix“ allerdings nicht immer einheitlich, und die einzelnen Morpheme werden je nach Autor oft unterschiedlichen Gruppen zugeordnet (cf. Elsen 2005: 134). Dieses Problem umgehen Lexika wie das Wörterbuch Duden online oder das DWDS, indem sie keinen Unterschied zwischen Konfixen und Präfixen machen und sie alle als Präfixe (Duden) resp. Affixe (DWDS) behandeln. Auch im vorliegenden Buch werden sie im Folgenden mit den traditionellen Affixen zu einer Gruppe der gebundenen Morpheme zusammengefasst und wie Präfixe behandelt. Es handelt sich insgesamt um folgende Morpheme: a-/ an- Amoral anti- Antiklimax bio- Biodiesel co-/ ko-/ kon- Kopilot 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="58"?> 58 2 Die Wortbildung des Substantivs cyber- Cyberkrieg de-/ des- Desinteresse dis- Disagio dys- Dysfunkion ex- Exminister extra- Extrawurst in- Inakzeptanz inter- Interhotel konter- Konterattacke makro- Makromolekül mega- Megabyte meta- Metaanalyse mikro- Mikrometer mini- Minikleid multi- Multitelent neo- Neonazi non- Nonkonformist per- Peroxid post- Postmoderne prä- Präverb pro- Ponomen pseudo- Pseudopartizip re- Reanalyse retro- Retrovirus semi- Semikolon sub- Subunternehmen super- Superheld supra- Supraleiter thermo- Thermostat trans- Transsilvanien ultra- Ultraschall vize- Vizedekan Anzumerken ist, dass eine sehr hohe Anzahl der mit diesen Elementen gebildeten Wörter nicht im Deutschen abgeleitet, sondern direkt aus einer Fremdsprache (oft dem Lateinischen oder Französischen) übernommen wurde. Die entsprechenden Präfixe sind im Deutschen in vielen Fällen nicht produktiv. <?page no="59"?> 59 Umgekehrt gibt es aber auch eine stattliche Zahl von ihnen, die inzwischen als freie Morpheme (Adjektive und Substantive) gebraucht werden, so etwa die lexikalischen Morpheme bio/ Bio, Ex, extra/ Extra, kontra, Konter, Makro, mega, mini/ Mini, Multi, pro, pseudo, retro, super, Supra, Ultra und Vize. Im Unterschied zu anderen freien Morphemen sind sie jedoch erst sekundär aus gebundenen entstanden. Normalerweise geht die Entwicklung den umgekehrten Weg, und das gebundene Morphem geht nach und nach aus dem freien hervor (cf. Lehmann 2015: 15). Im Folgenden werden nur diejenigen Morpheme aus der obigen Liste jeweils kurz besprochen, die bei Substantiven häufig vorkommen und/ oder produktiv sind. Anarchie und Atheismus: a-/ an- Das Suffix a-, das vor Vokalen in der Form anauftritt, stammt aus dem Griechischen, wo es ‚nicht‘ oder auch ‚ohne‘ bedeutet. Es entspricht dem häufigeren lateinischen in- (z.-B. Intoleranz) oder dem deutschen un- (z.-B. Unart). Substantive mit diesem Präfix sind teilweise Mischformen aus griechischen und lateinischen Elementen. So zeigen etwa Wörter wie Agnostizismus, Agrammatismus oder Atheismus eine lateinische Endung, bestehen aber aus griechischen Wortwurzeln. Das Präfix kommt auch bei Adjektiven vor (z.-B. anaerob). Antiheld und Antimaterie: anti- Das aus der griechischen Präposition ἀντί ‚gegen‘ abgeleitete Präfix anti ist produktiv und kann sich sowohl mit Fremd- und Lehnwörtern (z.- B. Antikapitalismus, Antimilitarismus) als auch mit deutschen Wörtern verbinden (z.- B. Antikörper, Antiteilchen). Die Bedeutung ‚gegen‘ ist dabei jeweils noch voll erhalten, woraus man eine Einteilung als Konfix ableiten kann. Darüber hinaus findet sich das Morphem aber auch in Substantiven wie Antagonist oder Antarktis, die bereits als vollständige Bildungen aus einer Fremdsprache entlehnt wurden. Wie die letzten beiden Beispiele zeigen, wird sich das Präfix ursprünglich vor Vokal zu antverkürzt; bei modernen Bildungen ist dies jedoch nicht mehr der Fall (z. B. Antiimperialismus). Hier finden sich auch Übernahmen aus dem Englischen wie Antiaging (das inzwischen auch Eingang in das Duden-Wörterbuch online gefunden hat). Die Nebenformen ant- (z. B. Antagonistismus) und anto- (z. B. Antonym) kommen nur in Fremdwörtern vor. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="60"?> 60 2 Die Wortbildung des Substantivs Außer bei Substantiven kann das Präfix auch bei Adjektiven eingesetzt werden (z. B. antisemitisch). Biobrot und Biogarten: bio- Wenn man einen Unterschied zwischen Präfixen und Konfixen machen will, liegt in bioein typischer Vertreter für letzteres vor (cf. hierzu ausführlicher Elsen 2011: 41 f.). Es handelt sich um ein auch frei als Adjektiv oder Substantiv auftretendes Morphem, z. B. Ist der Salat bio? oder Schweizer zahlen am meisten für Bio (Saldo 5/ 209: 11). Daneben gibt es noch ein zweites Substantiv Bio, bei dem es sich um das Kurzwort zu Biologie bzw. Biologieunterricht handelt. Neben älteren Entlehnungen wie Biologie oder Biografie sind vor allem neuere Bildungen mit biosehr häufig, z.-B. Biogemüse, Bioladen, Biomilch, Biotechnik etc. Wie die Beispiele zeigen, ist das Präfix produktiv. Cyberattacke und Cybersicherheit: cyber- Je nach Terminologie handelt es sich auch bei dem aus dem Englischen entlehnten Morphem cybernicht um ein Präfix, sondern um ein Konfix, und es wird in der Literatur auch häufig als Beispiel für ein solches genannt (cf. z.-B. Koch 2011: 116). Es handelt sich um eine Kurzform zu engl. cybernetics (‚Kybernetik‘), die ihrerseits ihre Wurzel im Griechischen hat. Neben direkt aus dem Englischen entlehnten Begriffen wie Cybercrime, Cyberpunk oder Cyberspace gibt es auch im Deutschen gebildete Substantive wie Cyberabwehr, Cyberangriff oder Cyberkrieg. Das Präfix kommt nur bei Substantiven vor, ist dort aber ausgesprochen produktiv: Lemnitzer (2007: 87) berichtet, dass er in den letzten Jahren über 700 Neubildungen mit cybergefunden habe. Auch bei cyberzeigt sich eine Tendenz zur Verselbständigung als Substantiv, so etwa in folgendem Beleg: „[…] nach jahrelanger Beteuerung, Cyber sei die Zukunft.“ (Der Bund 94/ 170 vom 24.04.19: 5). Exfreund und Expräsident: ex- Das aus der lateinischen Präposition ex ‚aus‘ entstandene Präfix findet sich zum einen in Fremd- und Lehnwörtern wie Export oder Exegese, die bereits mit der jeweiligen Präfigierung aus anderen Sprachen übernommen wurden. Hier kommen auch die Nebenformen e- (z. B. Edition), ef- (z. B. Effekt) und ek- <?page no="61"?> 61 (bei Wörtern griechischen Ursprungs, z. B. Ekzem) vor, die auf bereits in der Ausgangssprache vorliegenden Varianten beruhen. In all diesen Fällen hat das Präfix die Bedeutung ‚aus (heraus‘). So ist eine Edition eine Ausgabe, ein Ekzem ein Ausschlag etc. In dieser Form kommt das Präfix auch bei Adjektiven (z.-B. exzentrisch) und Verben (z.-B. exkommunizieren) vor. Zum anderen wird das Präfix produktiv im Deutschen eingesetzt und hat dann die Bedeutung ‚ehemalig‘, z.-B. Exfußballer, Exkaiser, Exminister etc. Mit dem Substantiv Ex werden ehemalige Partner zusammengefasst, so dass es sowohl ‚Exfreund/ Exfreundin‘ als auch ‚Exfrau/ Exmann‘ bedeuten kann. Das Wort kann sowohl maskulin (z.-B. ihr Ex) als auch feminin (z.-B. seine Ex) sein, eine Eigenschaft, die im Englischen auch als epicene bezeichnet wird (cf. z.-B. Corbett 1991: 67 f.). Extrablatt und Extrawurst: extra- Das auf das lateinische Adverb extra ‚außerhalb‘ zurückgehende Präfix-extra- ist produktiv und verbindet sich bis auf wenige Ausnahmen (z.-B. Extraordinariat) durchweg mit heimischen Substantiven. Seine Bedeutung ist ‚zusätzlich‘ oder auch ‚besonders‘. So ist ein Extrazug ein zusätzlich zum bestehenden Fahrplan eingesetzter Zug, und eine Extrawurst impliziert eine Sonderbehandlung. Wie viele der hier beschriebenen Morpheme wäre extra somit ebenfalls zu den Konfixen zu rechnen. Außer als Präfix, das außer bei Substantiven auch bei Adjektiven auftritt (z. B. extrastark), kann extra auch als Adverb (z. B. Das hast du extra gemacht! ) und als Substantiv vorkommen (z. B. mit vielen Extras). Koautor und Kompatriot: ko-/ kon- Das Präfix ko- (auch cogeschrieben) geht auf die lateinische Präposition cum ‚mit‘ zurück und weist bei Substantiven, die direkt aus anderen Sprachen übernommen und nicht erst im Deutschen gebildet wurden, die Nebenformen kom- (z. B. Komplanation), kon- (z. B. Konföderation) und kor- (z. B. Korreferat) auf. Produktiv ist nur die Verwendung von kobzw. co-, wobei auch Schreibweisen mit Bindestrich vorkommen (z.-B. Copilot, Co-Pilot, Kopilot und Ko-Pilot). Dabei kommt die Bedeutung ‚mit‘ zum Tragen: ein Koautor ist ein Mit-Autor, eine Koproduzentin eine Mit-Produzentin etc. Außer bei Substantiven kommt das Präfix auch bei Adjektiven (z. B. konzentrisch) und Verben (z. B. korrelieren) vor. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="62"?> 62 2 Die Wortbildung des Substantivs Makroanalyse und Makroebene: makro- Das auf das griechische Adjektiv makros ‚lang, groß‘ zurückgehende Präfix makroist nicht besonders häufig, aber es ist produktiv und kann sich sowohl mit entlehnten (z. B. Molekül → Makromolekül) als auch mit heimischen Substantiven (z. B. Ebene → Makroebene) verbinden. Es drückt dann jeweils die Bedeutung ‚groß‘ aus und steht damit im Gegensatz zum Präfix mikro-, das oft mit derselben Basis verbunden werden kann (z. B. Ebene → Mikroebene). Auch hier bietet sich daher die Einteilung als Konfix an. Außer bei Substantiven kommt das Morphem gelegentlich auch bei Adjektiven vor (z.- B. makrobiotisch), die ihrerseits von einem mit makropräfigierten Substantiv abgeleitet sind. Megaerfolg und Megawatt: mega- Das aus dem griechischen Adjektiv megas ‚groß‘ stammende Präfix megadient zum einen dazu, Augmentativa (‚Vergößerungsformen‘) wie Erfolg → Megaerfolg oder Hit → Megahit zu bilden; zum anderen kann es zusammen mit Maßeinheiten die Bedeutung ‚Million‘ markieren (z.-B. Byte → Megabyte ‚eine Million Byte‘, Watt → Megawatt ‚eine Million Watt‘ etc.). Es kommt auch bei Adjektiven vor (z.-B. megafaul) und kann selbst als Adjektiv gebraucht werden (z.-B. Das finde ich absolut mega). Auch megakann als Konfix betrachtet werden. Metamorphose und Metasprache: meta- Ebenfalls auf das Griechische (meta ‚mit‘, ‚nach‘, ‚zwischen‘) geht das Präfix metamit seiner Nebenform met- (vor Vokalen und anlautendem h) zurück. Letztere findet sich in einer Reihe von Lehnwörtern, in denen die Form schon bei der Entlehnung enthalten war (z.-B. Metapher, Methode). Das Präfix kann aber auch produktiv im Deutschen verwendet werden. Seine Bedeutung besteht dann darin, eine höhere Ebene --eben die Metaebene - anzuzeigen. So ist z.-B. Metasprache eine Sprachebene, auf der über Sprache gesprochen werden kann, und die Metametasprache beschreibt wiederum die Metasprache. Das Morphem, das ebenfalls als Konfix betrachtet werden kann, kommt nur bei Substantiven vor. <?page no="63"?> 63 Mikroanalyse und Mikroklima: mikro- Das auf das griechische Adjektiv mikros ‚klein‘ zurückgehende Präfix mikromit seiner Nebenform mikr- (vor Vokalen) bildet das Gegenstück zu makro-. Außer in schon mit dem Präfix entlehnten Substantiven wie Mikroskop kommt es in einer ganzen Reihe von modernen Neubildungen vor. Im Deutschen wie auch international üblich ist der Gebrauch von mikrobei Maßeinheiten, um damit ‚ein Millionstel‘ zu bezeichnen (z.-B. Mikrometer, Mikrosekunde etc.). Die Bedeutung ‚besonders klein‘ hat das Präfix hingegen bei Wörtern wie Mikroebene, Mikrokosmos oder Mikropartikel. Von der besonders kurzwelligen Mikrowelle ist das gleichnamige Mikrowellengerät abgeleitet, das oft auch seinerseits verkürzt als Mikrowelle bezeichnet wird. Das Präfix - oder Konfix - kommt mit ganz wenigen Ausnahmen (z.-B. seismisch → mikroseismisch) nur bei Substantiven vor und ist beschränkt produktiv. Minibar und Minirock: mini- Das Präfix minigeht vermutlich auf das italienische miniatura ‚Miniatur(bild)‘ zurück (cf. DWDS s.-v. Miniatur). Es vermittelt die Bedeutung ‚klein‘ (z.-B. Minigolf, Miniformat), wobei sich gelegentlich neben miniauch die Vollform Miniatur als Erstglied findet (z.-B. Miniaturgolf, Miniaturformat). Das Substantiv Mini ist ursprünglich eine Kurzform von Minirock, bezeichnet aber auch ein Automodell; das gleichlautende Adjektiv bedeutet ‚kurz‘ in Bezug auf Kleider. Als Präfix ist miniproduktiv und kommt auch in alltäglichen Ad-hoc-Bildungen vor (z.-B. Minibösewicht, Minikatastrophe, Miniwohnung etc.). Auch minikann als Konfix angesehen werden; sein Gebrauch ist auf Substantive beschränkt. Neofaschist und Neoliberalismus: neo- Das Präbzw. Konfix neoexistierte bereits im Griechischen, wo es auf das Adjektiv neos ‚neu‘ zurückgeht. Diese Bedeutung behält es auch im Deutschen, wo es produktiv verwendet werden kann, um neue Erscheinungsformen bereits bestehender Theorien (z.-B. Neomarxismus), Methoden (z.-B. Neopositivismus), Kunstrichtungen (z.-B. Neorealismus) oder politischer Systeme zu beschreiben (z.-B. Neokolonialismus). Parallel dazu können auch die entsprechenden Personenbezeichnungen gebildet werden (z.- B. Neomarxist, Neorealist). Das Präfix kommt auch bei Adjektiven vor (z.-B. neorealistisch). 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="64"?> 64 2 Die Wortbildung des Substantivs Präimplantationsdiagnostik und Prätext: prä- Das aus der lateinischen Präposition prae ‚vor‘ abgeleitete Präfix präfindet sich in direkt aus dem Lateinischen übernommenen Substantiven wie Präfix, Prädikat oder Präsens, denen Wortbildungsprozesse in der Ausgangssprache zugrunde liegen. Darüber hinaus ist es zwar nicht besonders häufig, in Fachsprachen aber produktiv, wie das Beispiel Präimplantationsdiagnostik zeigt (zu weiteren Belegen cf. auch Kinne 2000). Das Präfix kommt auch bei Adjektiven (z.-B. präkanzerös) und Verben (z.-B. prädisponieren) vor. Reanalyse und Reimport: re- Re- (vor Vokalen: red-) war bereits im Lateinischen ein Präfix mit der Bedeutung ‚zurück‘ und ‚wieder‘, und die meisten der damit gebildeten Substantive wie Reflexion, Regress oder Revolver sind aus Wörtern entstanden, die schon im Lateinischen so präfigiert waren. Daneben gibt es aber auch die Möglichkeit, das Präfix bei Fremd- und Lehnwörtern produktiv zu verwenden, um damit Wiederholung zum Ausdruck zu bringen (z.-B. Reexport, Reinfarkt, Reinfektion). Einige mit repräfigierte Substantive sind auch aus dem Englischen entlehnt (z.-B. Remix, Reprint). Außer bei Substantiven kommt das Präfix auch bei Verben vor (z.-B. reproduzieren). Subkontinent und Substandard: sub- Aus der lateinischen Präposition sub- ‚unter‘ stammt das gleichlautende Präfix. Diese Bedeutung wird bei geographischen Begriffen wie Subkontinent oder Subtropen im räumlichen Sinne (‚unterhalb von‘) genutzt. In allen anderen Fällen liegt eine eher übertragene Bedeutung im Sinne von ‚Teil eines übergeordneten Ganzen‘ (z.- B. Subdivision, Subkultur, Subunternehmer) oder auch ‚qualitativ unterhalb‘ vor (z.-B. Substandard). Das Präfix ist produktiv, findet sich allerdings häufiger bei Adjektiven (z.-B. suboptimal) als bei Substantiven. Superheld und Superschurke: super- Das Konresp. Präfix superstammt aus dem lateinischen Adverb super ‚darüber, oben‘. In einigen wenigen Fällen ist diese Bedeutung auch noch in Fremd- und Lehnwörtern erhalten, so etwa bei Superinfektion oder Superintendent. <?page no="65"?> 65 Beim aktuellen Gebrauch des Morphems wird jedoch eine andere Bedeutung vermittelt, die eine Verstärkung im Sinne von ‚besonders gut/ groß‘ oder ‚herausragend‘ ausdrückt, z.-B. Superhirn, Superschnäppchen, Superschurke. In seltenen Fällen wird das Präfix auch mit Bindestrich mit der Basis verbunden (z.-B. Super-GAU). Das Präfix ist hochproduktiv und kann auch für ad-hoc-Bildungen verwendet werden. Außer bei Substantiven kommt es auch bei Adjektiven vor (z.-B. superschnell). 2.1.2.2 Derivation, Männlein, Marxist und Studentin: Modifizierung von Substantiven mit Suffixen Sehr viel häufiger als die Präfigierung findet sich bei Substantiven die Modifikation mithilfe eines Suffixes, wobei es neben den einheimischen (indigenen) auch eine ganze Reihe von entlehnten (exogenen) Suffixen gibt, die hier eingesetzt werden können. 2.1.2.2.1 Ärmel, Eigentümer und Würzelchen: Modifizierung von Substantiven mit einheimischen Suffixen Es stehen zahlreiche Suffixe zur Verfügung, mit denen man Substantive modifizieren kann. Die einzelnen Suffixe kommen dabei mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit vor, und sie sind auch nicht alle produktiv. Zudem ist die Zuordnung der jeweiligen Morpheme als Suffix nicht in jedem Fall unstrittig. Es handelt sich um: -bold Witzbold -chen Männchen -el Ärmel -elei Liebelei -(er)ei Meckerei -er Schweizer -erich Unkerich -heit Frechheit -lein Bächlein -ler Tischler -ling Erdling -in Professorin 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="66"?> 66 2 Die Wortbildung des Substantivs -ner Zöllner -schaft Vaterschaft -tum Fürstentum -ung Stallung -werk Mauerwerk -wesen Rechnungswesen Zusätzlich werden gelegentlich auch die Substantive Gut, Stelle und Zeug als potentielle Suffixe zur Modifizierung von Substantiven genannt. Am produktivsten sind die Diminution, also die Bildung von Verkleinerungsformen (z.-B. Mann → Männlein), sowie die Movierung, also die Ableitung von Feminina aus maskulinen Personenbezeichnungen (z.-B. Student → Studentin). Sie unterliegen zugleich den wenigsten Beschränkungen, was ihre Verwendung angeht. Daher werden sie im Folgenden als erstes behandelt. Im Anschluss daran werden die übrigen Suffixe in alphabetischer Reihenfolge besprochen, und schließlich wird noch kurz auf Gut, Stelle und Zeug eingegangen. Männlein und Glückskäferchen: Diminution Gemeinhin wird die Diminution oder Diminuierung (von lat. deminuere ‚vermindern‘) von Substantiven zur Wortbildung und nicht zur Flexion gerechnet, da sie nur eine semantische Veränderung des Ausgangswortes bewirkt und nicht dem Ausdruck einer grammatischen Kategorie wie Kasus oder Numerus dient. Diminutiva (Singular: das Diminutivum) werden vorwiegend mit den Suffixen -chen (Häuschen, Männchen) und, seltener, -lein (Bächlein, Männlein) gebildet. Sie sind im Deutschen unabhängig vom Genus des Ausgangswortes stets Neutra (z.-B. der Mann → das Männchen, die Katze → das Kätzchen) und bilden endungslose Plurale. Umlautfähige Stammvokale werden bei der Bildung von Diminutiva umgelautet: Blatt → Blättchen, Wort → Wörtchen, Luft → Lüftchen, Maus → Mäuschen. Mit Diminutiva wird dabei nicht einfach nur ausgedrückt, dass etwas besonders klein ist, sondern es schwingt in der Mehrheit der Fälle auch eine emotionale Komponente mit, die sich grob als ‚sympathisch‘, mitunter auch als ‚vertraut‘ oder ‚ungefährlich‘ wiedergeben lässt. So kann man auch erklären, dass man zwar von Mäuschen und Marienkäferchen spricht, kleine Ratten oder Küchenschaben aber nicht als *Rättchen oder *Küchenschäbchen bezeichnet. Umgekehrt können auch relativ große Tiere wie Schafe oder Pferde problemlos als Schäfchen <?page no="67"?> 67 oder Pferdchen bezeichnet werden, wenn man damit - etwa gegenüber einem Kind - zum Ausdruck bringen möchte, dass sie sympathisch und ungefährlich sind. Dies erklärt auch die Verwendung von Diminutiva in Anredeformen: „Durch Diminuierung einer angesprochenen Person kann der Sprecher seine Sympathie zum Ausdruck bringen“ (Werner 2012: 178). Die implizite Kategorie ‚Vertrautheit‘ scheint hingegen wiederum die Diminuierung von exotischen Lebewesen zu verhindern, so dass man normalerweise nicht von *Elefäntchen oder *Rhinozeröschen spricht, selbst wenn es sich um ganz kleine Jungtiere handelt. Die semantischen Implikationen von Diminutiva führen auch dazu, dass sie normalerweise nur von Konkreta gebildet werden können. Deshalb kann man eine kleine Freude, die man jemanden machen möchte, nicht als *Freudchen bezeichnen, kleine Sorgen nicht als *Sörgchen etc. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel, wie sie z.-B. in ein laues Lüftchen, sein Mütchen kühlen, ein Schläfchen halten oder in Wehwehchen (Schweiz auch: Bobochen) aufscheinen, sind oft an idiomatische Wendungen gebunden oder dienen wie Liebchen abweichend vom Ausgangswort dazu, etwas Konkretes (hier: eine konkrete Person) und nicht das abstrakte Gefühl zu benennen (cf. hierzu auch Hentschel/ Weydt 2013: 181 f.). Nur selten finden sich zu Abstrakta Bildungen wie Chancelein oder Ideechen (Beispiele nach Donalies 2011: 82), die man auch als mehr oder minder sprachspielerisch interpretieren kann. In Einzelfällen können Diminutiva auch erstarrt und dann auf eine spezifische Bedeutung fixiert sein. So sind Herrchen und Frauchen keine kleinen Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts, sondern die Eigentümer von Haustieren (meist Hunden), während Fräulein (neben dem nicht existierenden *Herrlein) die veraltete Anrede für eine unverheiratete Frau darstellt. Diminutiva können nicht von Substantiven abgeleitet werden, die mit den Suffixen -ling oder -in gebildet wurden: *Schmetterlingchen (aber: Käferchen) oder *Zwerginlein (aber: Zwerglein) sind nicht möglich. Ebenso ist die Diminuierung bei Kollektiva (Sammelbezeichnungen) wie Laub oder Gestein ausgeschlossen: *Läubchen oder *Gesteinchen existieren nicht (aber: Blättchen, Steinchen). Normalerweise wird bei der Bildung eines Diminutivs der Singular zugrunde gelegt. Wenn der Plural mit -er gebildet wird, kann die Diminution in Ausnahmefällen aber auch auf der Grundlage der Pluralform erfolgen: Blätterchen, Eierchen, Häuserchen, Kinderchen (cf. auch die Form Kinderlein im Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet“). Diese Möglichkeit wird regional unterschiedlich stark genutzt (cf. hierzu ausführlicher Edelhoff 2016). Wenn ein Wort auf -e oder -en endet, wird diese Endung durch das Diminutivsuffix ersetzt: 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="68"?> 68 2 Die Wortbildung des Substantivs Pfanne → Pfännchen, Garten → Gärtlein. Bei Verwendung des Ableitungssuffixes -lein fällt auch die Endung -el entweder ganz aus oder wird zu -e verkürzt: Spiegel → Spieglein, Wurzel → Würzelein (aber: Spiegelchen, Würzelchen). Im Standarddeutschen ist heute -chen gegenüber -lein deutlich häufiger zu finden. Dennoch gibt es Fälle, in denen regelmäßig -lein verwendet wird, nämlich bei Substantiven, die auf -ch enden: Bach → Bächlein, Bauch → Bäuchlein, Tuch → Tüchlein, Strich → Strichlein etc. In einigen wenigen anderen Fällen ist die Endung -lein die gegenüber -chen geläufigere: Äuglein, Kräutlein, Zünglein, und auch bei Substantiven auf -sch wird -lein häufig bevorzugt, z.-B. Busch → Büschlein, Tisch → Tischlein. Daneben kommen auch Diminutivbildungen mit dem Suffix -elchen (zusammengesetzt aus dem sonst nur regional gebräuchlichen -el, wie es z.-B. in Hänsel und Gretel auftritt, und -chen) wie Blümelchen, Sächelchen, Wägelchen vor; sie sind im Standard selten, können aber regional häufiger zu beobachten sein (cf. Frank 2019). Ausschließlich regional werden die Suffixe -le, -el, -erl, -li und -(s)ken verwendet. Bei -ken (z. B. Hölzken, Männeken) handelt es sich um die alte, noch nicht durch die sog. hochdeutsche Lautverschiebung veränderte Form, die -chen historisch zugrunde liegt. Sie ist so gut wie ausschließlich im niederdeutschen Sprachraum zu finden, wo man auch auf Wörter wie Water (statt Wasser, cf. Waterkant) oder Pipe (statt Pfeife) trifft, die noch den alten Lautstand aufweisen. Dagegen sind die Endungen -le und -li für den Süden des Sprachgebiets und hier insbesondere für den alemannischen Sprachraum typisch (cf. badisch Hutzelweible, Schweiz: Müesli etc.). Die Endungen -(e)l und -erl (z. B. Dirndl, Maderl) schließlich finden sich hauptsächlich im bairischen Dialektgebiet, also in Bayern und Österreich. Auch die Endung -i, die zur Bildung von Kosenamen wie Conni, Hansi oder Susi sowie für vertrauliche Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mutti, Vati oder Omi verwendet wird, kann zu den diminuierenden Suffixen gerechnet werden. So gebildete Formen sind allerdings zumindest im Standarddeutschen keine Neutra. Nicht diminutiv ist demgegenüber die Verwendung von -i bei Personenbezeichnungen wie Alki, Knacki, Ossi oder Wessi, wo das Suffix zur Charakterisierung einer Person über ein in seiner Form verkürztes Merkmal wie Alkohol oder Osten dient, das im jeweiligen Kontext als besonders salient empfunden wird. Solche Bildungen sind oft pejorativ konnotiert. <?page no="69"?> 69 Löwin und Studentin: Movierung Personenbezeichnungen aller Art, zu denen insbesondere auch Berufs- und Amtsbezeichnungen gehören, sind durchweg Maskulina: der Bürger, der Koch, der Kunde, der Polizist, der Professor etc. Um damit Frauen zu bezeichnen, kann man mit dem Suffix -in Feminina aus ihnen ableiten, was in einigen Fällen auch mit einem Umlaut einhergeht: Bürgerin, Köchin, Kundin, Polizistin, Professorin. Diese Art der Wortbildung wird als Motion oder häufiger auch als Movierung bezeichnet (cf. Pusch 1982: 8 f.) - ein Terminus, der sich erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt hat, obwohl er sich interessanterweise bereits im 16. Jahrhundert findet (cf. Doleschal 2002: 43). Movierung kommt, wenngleich in sehr viel geringerem Ausmaß, auch bei Tierbezeichnungen vor, wenn das Geschlecht des bezeichneten Tieres wichtig ist und kein eigenes Wort dafür zur Verfügung steht: Hund → Hündin, Löwe → Löwin. Bei den wichtigsten Nutztieren hingegen gibt es jeweils eigene Begriffe für die Gattung als solche, für das Jungtier sowie für das männliche und das weibliche Tier. Bei traditionellen Nutztieren wie Hühnern, Pferden, Rindern etc. sind die Bezeichnung für die Tierart selbst sowie die für das Jungtier Neutra, während die anderen das natürliche Geschlecht widerspiegeln, z. B. ▶ Gattung und Jungtier: das Pferd, das Fohlen; das Rind, das Kalb; das Schwein, das Ferkel ▶ männliches Tier: der Hengst (der Wallach); der Stier (der Ochse); der Eber (der Bork) ▶ weibliches Tier: die Stute; die Kuh; die Sau Auch bei jagdbarem Wild finden sich solche Wortfelder: ▶ Gattung und Jungtier: das Reh, das Kitz; das Wildschwein, der Frischling [als Ausnahme ein Maskulinum infolge der Endung -ling]; ▶ männliches Tier: der Rehbock; der Keiler ▶ weibliches Tier: die Ricke; die Bache Daneben gibt es sowohl bei Personenals auch bei Tierbezeichnungen seltene Fälle von umgekehrter Movierung, bei denen ein Femininum zu einem Maskulinum modifiziert wird, um das männliche Geschlecht der so bezeichneten Person oder des so bezeichneten Tieres anzuzeigen. Beispiele hierfür wären etwa Hexe → Hexerich (neben: Hexer), Maus → Mäuserich, Unke → Unkerich. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="70"?> 70 2 Die Wortbildung des Substantivs Im Unterschied zu den Maskulina, die bei generischem Gebrauch (als sog. generisches Maskulinum) sowohl auf Männer als auch auf Frauen referieren können, kann man mit den movierten Formen nur auf Frauen Bezug nehmen. Bei Formulierungen wie die Anzahl der Ausländer in der Schweiz sind mit Ausländer Menschen beiderlei Geschlechts gemeint; die Anzahl der Ausländerinnen in der Schweiz bezeichnet jedoch nur solche, die weiblich sind. Diese Tatsache hat in der Vergangenheit wie in der Gegenwart immer wieder zu lebhaften bis heftigen Diskussionen sowie zu dem Vorwurf geführt, dass das Deutsche (wie auch andere Sprachen, die ebenfalls ein generisches Maskulinum kennen) sexistisch sei. Als Gegenargument zur Begründung der Unbedenklichkeit des generischen Maskulinums wird dabei angeführt, dass es sich schlicht um eine sog. Neutralisierung handle. Damit ist die Aufhebung eines Bedeutungsunterschieds gemeint, wie sie auch in anderen Zusammenhängen vorkommt. So wird beispielsweise bei Altersangaben der Unterschied zwischen alt und jung aufgehoben, und man verwendet auch dann alt, wenn man von einem Neugeborenen spricht, das erst wenige Tage alt (nicht: jung) ist. Oder: Die Zeitangabe wenige Tage schließt die Nächte mit ein, so dass hier auch der Gegensatz von Tag und Nacht neutralisiert wird. Gegen diese Sichtweise wird zum einen angeführt, dass Bezeichnungen von Menschen nie wirklich neutral sein können, da sie stets in einem sozialen Kontext stehen. Zum anderen wird auf das Problem hingewiesen, dass Maskulina sowohl generisch als auch nicht-generisch gebraucht werden können und dass daraus in einigen Fällen ein Interpretationsproblem resultiert: Sind Frauen mitgemeint oder nicht? In Sätzen wie Die Anzahl der Ausländer in der Schweiz hat zugenommen ist das Maskulinum Ausländer erkennbar generisch gebraucht, es sind sowohl Männer als auch Frauen gemeint. Aber in einem Satz wie Die Anzahl der Studenten ist in den Ingenieurwissenschaften höher als die der Studentinnen geht es beim Maskulinum Studenten ganz offensichtlich nur um Männer. Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten bei ein und derselben Form führen dazu, dass Frauen oft nicht sicher wissen können, ob sie im konkreten Fall nun mitgemeint sind oder nicht. Auf dieses Problem hat schon Pusch (1984: 102) hingewiesen, und es ist nach wie vor aktuell. Wenn sich etwa auf den Internet-Seiten der Schweizer Armee der Hinweis „Doppelbürger sind grundsätzlich militärdienstpflichtig“ (VBS 2018) findet - sind dann auch Frauen mit doppelter Staatsbürgerschaft gemeint oder doch nur Männer? Aber es kommt noch ein weiteres Problem hinzu: auch dann, wenn aus dem Kontext klar hervorgeht, dass es sich um ein generisches Maskulinum handelt <?page no="71"?> 71 und Frauen also mitgemeint sind, werden Frauen nicht notwendig auch mitgedacht. In zahlreichen Untersuchungen wurde aufgezeigt, dass selbst eindeutig generischer Gebrauch von Maskulina wie im Beispiel die Anzahl der Ausländer in der Schweiz - bei dem sicher niemand annehmen würde, dass nur ausländische Männer in der Schweiz leben, nicht aber ausländische Frauen - dazu führt, dass in erster Linie Männer assoziiert werden (cf. z.-B. Braun/ Sczesny/ Stahlberg 2005, Corbett 1999: 70-104, Irmen/ Linner 2013 oder auch schon Frank 1992: 130-135 sowie die dort angegebene Literatur). Wenn nicht ausdrücklich auch Feminina gebraucht werden, werden die mitgemeinten Frauen offenbar nicht als mentales Konzept aktiviert. Solche Argumente haben zu der Forderung geführt, Frauen sprachlich besser sichtbar zu machen, und aus diesem Grund ist der parallele Gebrauch von maskulinen wie femininen Formen, das sog. Splitting, in den letzten Jahrzehnten zunehmend häufiger anzutreffen. Man spricht (und schreibt) von Ärztinnen und Ärzten, wendet sich an Bürgerinnen und Bürger oder Wählerinnen und Wähler. Um den dadurch entstehenden höheren Textumfang in geschriebenen Texten wieder zu verkürzen, finden sich seit den 1980er Jahren verschiedene Lösungsansätze. Dazu gehört neben Klammern wie in Ärzt(innen) und Schrägstrichen wie in Büger/ innen das sog. Binnen-I (auch: Majuskel-I, Versalien-I), zunächst als schriftsprachliche Version: ÄrztInnen, BürgerInnen. Da man einen Großbuchstaben nicht sprechen kann, eine gleichlautende Aussprache von WählerInnen und Wählerinnen jedoch zu dem Missverständnis führen würde, dass nur Frauen gemeint sind, wird das Binnen-I durch einen Glottisverschluss (glotal stop, auch: Knacklaut) realisiert: Ärzt’innen, Bürger’innen, Wähler’innen. Wenn man wollte, könnte man daher hier tatsächlich von einer eigenen Form der Wortbildung sprechen, die mithilfe eines eigenen, spezifischen Fugenelements, eben dem Glottisverschluss, erfolgt. Inzwischen wird das Binnen-I allerdings seinerseits zunehmend durch den sog. gender gap, einen eingeschobenen Tiefstrich (z.-B. Ärzt_innen), oder durch den Genderstern (z.-B. Büger*innen) verdrängt, mit deren Hilfe auch Menschen in die Benennung aufgenommen werden sollen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="72"?> 72 2 Die Wortbildung des Substantivs Beim sog. Knacklaut (Glottisverschluss, engl. glottal stop) handelt sich um einen Laut, der im Deutschen regelmäßig im Anlaut vor Vokal auftritt. Er findet sich entsprechen sowohl am Wortanfang wie bei ’Apfel oder ’Opa als auch am Silbenanfang innerhalb eines Wortes wie bei be’enden oder ver’eisen (im Unterschied zu verreisen). Da im lateinischen Alphabet kein Buchstabe dafür existiert, wird er nicht geschrieben; hier wurde er daher jeweils durch einen Apostroph wiedergegeben. Neben der Movierung auf -in finden sich auch aus anderen Sprachen übernommene Movierungssuffixe wie -esse, -ette, -euse oder -iere, die etwa in Stewardesse (zu engl. Steward; heute üblich: Flugbegleiterin) oder dem ebenfalls aus dem Englischen übernommenen Wort Bachelorette, in Garderobiere oder in der dem Französischen nachgebildeten Berufsbezeichnung Friseuse (zu Friseur; Schweiz: Coiffeuse) anzutreffen sind. Diese Suffixe sind jedoch selten und werden nur mit Fremdbzw. Lehnwörtern gebraucht. Produktiver, wenngleich ebenfalls selten, ist das Suffix -ine (z.- B. Blondine, Cousine), das sich etwa auch in der neugebildeten Bezeichnung Schlumpfine für einen weiblichen Schlumpf findet. Für Gesetzes- und Verwaltungstexte gibt es mittlerweile in allen deutschsprachigen Ländern Empfehlungen und Weisungen, die den geschlechtergerechten Sprachgebrauch sicherstellen sollen. Dazu gehört neben dem Splitting (Bürgerinnen und Bürger) auch der Gebrauch von Wörtern wie Person (Ansprechperson) oder Mitglied (Fakultätsmitglied) sowie das Ausweichen auf Partizipien im Plural wie die Studierenden. Partizipien haben ebenso wie Adjektive im Unterschied zu Substantiven auch dann kein festes Genus, wenn sie substantiviert werden: der Abgeordnete steht neben die Abgeordnete. Da aber im Deutschen - anders als z.-B. im Französischen (z.-B. les petites filles) oder Italienischen (z.-B. le piccole ragazze) - im Plural kein Genus ausgedrückt werden kann, sieht man einer Form wie die Studierenden nicht an, ob ihr im Singular eine Studierende oder ein Studierender zugrunde lag; sie ist also tatsächlich genusneutral. Witz- und sonstige Bolde: -bold Durchaus noch als produktiv ist das auf den ersten Blick recht eigenartige Suffix -bold anzusehen, wie es in Lügenbold, Scherzbold, Trunkenbold oder Witzbold vorkommt. Bis auf Trunkenbold, bei dem das Erstglied aus dem verkürzten Partizip trunken (zu trinken) besteht, handelt es sich bei diesen Beispielen um Ableitungen aus Substantiven. Das Suffix -bold hat eine interessante Ge- <?page no="73"?> 73 schichte: Es handelt sich dabei um „eine Nachbildung ahd. Männernamen wie Gari-, Huni-, Sigibald mit bald ‚kühn‘ im zweiten Teil“ (Kluge 2012 s.-v. -bold), war also eigentlich einmal ein positiv besetztes Adjektiv. Das hat sich indessen gründlich geändert, und heute sind Ableitungen auf -bold durchweg pejorativ. Nicht hierher gehört der Kobold, dessen erster Teil auf das Substantiv Koben mit der Bedeutung ‚Verschlag‘, ‚Stall‘ und damit auf Orte zurückgeht, wo diese Art Geist offenbar früher heimisch war, der in der zweiten Worthälfte aber aus dem noch in Unhold erhaltenen Substantiv hold ‚Hausgeist‘ besteht und der somit ein Kompositum darstellt (cf. Kluge 2012 s.-v. hold). Mit -bold gebildete Substantive sind Maskulinum; sie bilden den Plural auf -e und können mit -in moviert werden (z.-B. Scherzbold → Scherzboldin). Ärmel und Mädel: -el Bei der Verwendung des Suffixes -el sind sowohl Maskulina als auch Feminina und Neutra entstanden. Ein Maskulinum wäre etwa Arm → Ärmel, ein Femininum läge in Eiche → Eichel vor, und Beispiele für Neutra wären Busch → Büschel oder Tupf(en)- → Tüpfel. Bei Wörtern wie Büschel und Tüpfel handelt es sich ursprünglich um Diminutiva, wie sie auch heute noch im oberdeutschen Sprachraum gebildet werden können (cf. Mädel, das wie Mädchen ursprünglich ein Diminutivum zu Magd ist). Aber nicht alle so gebildeten Formen gehen auf Diminutiva zurück, und die genaue Herkunft der einzelnen Wörter lässt sich in den meisten Fällen nur mithilfe eines etymologischen Wörterbuchs feststellen. Das Suffix selbst ist im modernen Deutschen nur noch regional und dann mit klar diminutiver Bedeutung produktiv. Liebelei und Vielweiberei: -elei und -(er)ei In seltenen Fällen können Substantive mithilfe der Suffixe -elei und -(er)ei modifiziert werden: Eifersucht → Eifersüchtelei, Kind → Kinderei, Tischler → Tischlerei etc. Die so gebildeten Derivate können pejorativ sein (Liebelei, Eifersüchtelei), sind aber oft auch völlig neutral konnotiert (Bäckerei, Schreinerei) und drücken dann oft Orte aus. Auch komplexe Ableitungen mit viel wie Vielgötterei oder Vielweiberei kommen hier vor. Die Suffixe sind beschränkt produktiv und können einen Umlaut auslösen (Eifersüchtelei); das Ergebnis der Wortbildung ist stets ein Femininum. Häufiger als bei Substantiven sind sie bei Verben anzutreffen (z.-B. drängeln → Drängelei, meutern → Meuterei). 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="74"?> 74 2 Die Wortbildung des Substantivs Eigentümer und Europäer: -er Das Suffix -er wird typischerweise verwendet, um aus Verben ein Wort zur Bezeichnung der handelnden Person (sog. Nomen Agentis, z.-B. lehren → Lehrer) oder des dafür verwendeten Gegenstandes (sog. Nomen Instrumenti, z.-B. wecken → Wecker) abzuleiten. Als Morphem zur Modifizierung von Substantiven ist -er demgegenüber deutlich seltener. Es wird dann stets zur Bezeichnung von Personen verwendet, z.-B. Eigentum → Eigentümer, Schloss → Schlosser. Regelmäßig tritt -er bei der Bezeichnung der Einwohner geographischer Regionen, etwa einer Stadt, eines Staates oder auch eines Kontinents auf: Berlin → Berliner, Pakistan → Pakistaner (neben dem ebenfalls möglichen Pakistani), Europa → Europäer. Wie die Beispiele zeigen, kann -er einen Umlaut auslösen. Die mit -er gebildeten Personenbezeichnungen sind immer Maskulina; sie bilden ihren Plural endungslos und können mit dem Suffix -in in Feminina verwandelt werden: Europäer → Europäerin. Mäuserich und Unkerich: -erich Das Suffix -erich dient der Movierung (z.-B. Unke → Unkerich) und wird daher weiter oben zusammen mit -in besprochen. Kindheit und Torheit: -heit In einigen Fällen kann das eigentlich auf die Ableitung von Substantiven aus Adjektiven spezialisierte Suffix -heit (z.-B. weise → Weisheit) auch dazu verwendet werden, Substantive zu modifizieren. Hierzu gehören Fälle wie Mensch → Menschheit, Gott → Gottheit oder das mit der Pluralform von Christ gebildete Wort Christenheit. Das Suffix dient typischerweise dazu, Abstrakta aus Personenbezeichnungen abzuleiten. So gebildete Wörter sind immer Feminina. Sportler und Hinterbänkler: -ler Das Suffix -ler dient in erster Linie zur Ableitung von Personenbezeichnungen aus Wörtern, die Gegenstände, Aktivitäten oder auch Abstrakta bezeichnen: Ausflug → Ausflügler, Gebirge → Gebirgler, Kunst → Künstler, Tisch → Tischler, Wissenschaft → Wissenschaftler etc. Darüber hinaus kommen auch Ableitungen aus einer Kombination von Attributen mit Substantiven vor, z.-B. erste Klasse → Erstklässler, <?page no="75"?> 75 freier Beruf → Freiberufler, tausend Füße → Tausendfüßler, die ebenfalls Personen bzw. Lebewesen bezeichnen. In seltenen Fällen kann mit dieser Art von Derivation auch etwas Unbelebtes bezeichnet werden, so etwa bei Obst → Obstler oder Rappen → Räppler (‚Einrappenstück‘). Wie die Beispiele zeigen, kann bei Ableitungen mit -ler ein Umlaut auftreten: Hinterbank → Hinterbänkler, Kunst → Künstler. Alle so gebildeten Wörter sind Maskulina. Sie bilden den Plural endungslos, und bei den Personenbezeichnungen ist eine Movierung mit -in möglich (Sportler → Sportlerin). Das Suffix ist auf die Modifikation von Substantiven beschränkt. Lieblinge und Pfifferlinge: -ling Das Wort Flüchtling ist zwar nicht direkt aus dem Substantiv Flucht, sondern über den Umweg des aus Flucht abgeleiteten Verbs flüchten entstanden. Ohne weiteres erkennbar ist das für synchrone Sprecher aber nicht, und meist wird es intuitiv mit Flucht in Verbindung gebracht. Daher wird das Wort trotz seiner Etymologie als Beispiel verwendet, um das grundlegende Problem der Konnotationen bei Substantiven aus -ling zu erläutern. Es hat sich inzwischen eingebürgert, nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von Geflüchteten zu sprechen: „[…] um die Endung ‚-ling‘ zu vermeiden. Denn viele empfinden sie als entmenschlichend und abwertend.“ (Beer 2016); oder, eindeutig mit der zugrundeliegenden Wortbildung begründet: „da das Wort Flüchtling [sic! ] durch seine Endsilbe passiv und unterlegen wirkt“ (Jöris 2015). Nun gibt es ganz sicherlich keine positiven Konnotationen, die mit dem Ereignis der Flucht verbunden werden könnten, und insofern können auch Wörter wie Flüchtling keine solchen Konnotationen aufweisen. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob Flüchtling allein schon aufgrund der Endung -ling eine pejorative Komponente aufweist, wie nicht nur im obigen Zitat kolportiert wird - meist mit Hinweis auf Wörter wie Finsterling, Schönling oder Naivling (bei denen es sich anders als bei Flüchtling um Ableitungen aus Adjektiven handelt), die in der Tat abwertend sind. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Das Suffix -ling ist sehr alt, und infolgedessen kann man bei vielen damit abgeleiteten Wörtern synchron gar nicht mehr nachvollziehen, worauf die Bildung ursprünglich zurückgeht. So ist Schierling der Name einer giftigen Pflanze, die den meisten durch den Schierlingsbecher bekannt sein dürfte, den Sokrates trinken musste; aber um herauszufinden, dass das Wort vom inzwischen ausgestorbenen Wort Scharn in der Bedeutung ‚Mist‘ abgeleitet wurde, da die Pflanze gut gedüngte Böden bevorzugt, muss man ein etymologisches Wörterbuch zu 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="76"?> 76 2 Die Wortbildung des Substantivs Rate ziehen. In anderen Fällen ist die Herkunft zwar nach wie vor durchsichtig - so bei Wörtern wie Frühling (aus dem Adjektiv früh), Drilling (aus einem Zahlwort drei) oder Säugling (aus dem Verb saugen) - aber sie werden gesamthaft wahrgenommen und normalerweise nicht als Ableitungen im Sinne von ‚etwas Frühes‘, ‚etwas/ jemand Dreifaches‘ oder ‚etwas/ jemand Saugendes‘ analysiert. Eher einer unmittelbaren Analyse zugänglich sind Wörter wie Liebling (cf. auch Günstling), Lehrling (früher auch: Lehrknecht) oder Prüfling, wobei indessen abermals ohne Rückgriff auf ein etymologisches Lexikon nicht feststellbar ist, ob sie aus den Substantiven oder den Verben mit derselben Wurzel abgeleitet wurden (im Falle von Liebling kommt auch das Adjektiv lieb in Frage). Sofern es sich um Personenbezeichnungen aus dem Berufsleben handelt, werden Ableitungen auf -ling wie Lehrling oder Prüfling inzwischen regelmäßig durch Formen wie Auszubildende oder zu Prüfende ersetzt, die der Adjektivdeklination folgen und daher im Plural kein Genus ausdrücken können. Dem liegt ein weiterer Nachteil der Bildungen auf -ling zugrunde: Sie sind Maskulinum - und sie sind darauf festgelegt. Anders als bei vielen anderen personenbezeichnenden Substantiven (z.-B. Arbeiter → Arbeiterin, Direktor → Direktorin, Student → Studentin) lassen sich von Wörtern auf -ling keine sog. movierten Formen (abgeleitete Feminina) bilden: *Lieblingin, *Lehrlingin oder *Prüflingin sind - zumindest unter normativen Gesichtspunkten - nicht bildbar. Allerdings findet man sie im alltäglichen Sprachgebrauch trotzdem, und die Flüchtlingin ist sogar eine im Grimm’schen Wörterbuch belegte Form, die offenbar schon im 18./ 19. Jahrhundert geläufig war (DWB s.v. Flüchtlingin). Beim Eintrag Flüchtlingin im Grimm’schen Wörterbuch wird auf einen Beleg in Jean Pauls (1763-1825) Titan verwiesen. Darüber hinaus findet sich das Wort auch in der Übersetzung von Ovids Metamorphosen von Johann Heinrich Voß (1751-1826) oder in Odhins Rache von Felix Dahn (1834-1912). Man kann daraus schließen, dass Flüchtlingin - zumindest in literarischen Kontexten, vielleicht auch nur im Rahmen dichterischer Freiheit - im 18./ 19. Jahrhundert durchaus geläufig war. Grundsätzlich können verschiedene Wortarten als Grundlage der Ableitung mit -ling dienen, also nicht nur Substantive; diese kommen aber etwa doppelt so häufig vor wie Adjektive oder Verben. Die nachfolgende Liste mit Beispielen für diesen Bildungstyp kann zugleich verdeutlichen, dass Substantive auf -ling die unterschiedlichsten Bedeutungen vermitteln können. <?page no="77"?> 77 Arm → Ärmling Bein → Beinling Daumen → Däumling Dichter → Dichterling Erde → Erdling Faust → Fäustling Finger → Fingerling Form → Formling Fuß → Füßling Genuss → Genüssling Grund → Gründling Gunst → Günstling Haft → Häftling Herbst → Herbstling (im Herbst geborenes Tier; Frucht) Hof → Höfling Haupt → Häuptling Jahr → Jährling Kaiser → Kaiserling (eine Pilzart) Kammer → Kammerling (eine Amöbenart) Kammer → Kämmerling (Kammerdiener) Kar → Karling (eine Bergform) Keim → Keimling Kern → Kernling Krempe → Krempling (eine Pilzart) Kresse → Kressling (eine Fischart) Lehre → Lehrling Lust → Lüstling Milch → Milchling (eine Pilzart) Nase → Näsling (ein Fisch) Neid → Neidling Nest → Nestling Pfeffer → Pfefferling/ Pfifferling Pilz → Pilzling (regional für Pilz) Pore → Porling (eine Pilzart) Rebe → Rebling Reh → Rehling (eine Pilzart) Ritter → Ritterling (eine Pilzart) Röhre → Röhrling (eine Pilzart) Saite → Saitling (Schafsdarm) Samen → Sämling Seite → Seitling (Flussgarnele) Schirm → Schirmling (eine Pilzart) Schmer → Schmerling (eine Pilzart) Schoß → Schößling Schreiber → Schreiberling Silber → Silberling Sold → Söldling Spross → Sprössling Stich → Stichling Taube → Täubling (eine Pilzart) Trichter → Trichterling (eine Pilzart) Wie die Beispiele zeigen, haftet den Bildungen auf -ling keineswegs von vorneherein eine negative Konnotation an; die Form an sich ist neutral. Zugleich zeigt sich, dass viele aufgeführten Begriffe veraltet sind, die Bildungsweise also offenbar früher sehr viel produktiver war als heute. Dabei konnten verschiedene Bedeutungsarten entstehen. Zum einen sind da Personenbezeichnungen verschiedener Art, die zwar in der obigen Liste in der Minderheit sind, aber in der aktuellen Diskussion über negative Konnotationen von Wörtern wie Flüchtling naturgemäß die größte Rolle spielen. Unter diesen Personenbezeichnungen finden sich sowohl Nomina Agentis, also Bezeichnungen für Personen, die selbst 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="78"?> 78 2 Die Wortbildung des Substantivs etwas tun (wie in Flüchtling ‚Person, die flüchtet, sich auf der Flucht befindet’), als auch Nomina Patientis für Personen, mit denen etwas geschieht (so etwa Lehrling: „der lehre empfängt“, DWB s.- v. Lehrling). Um die These zu unterstreichen, dass Wörter auf -ling einen negativen Beigeschmack haben, eignen sich die insgesamt selteneren Ableitungen aus Adjektiven wie Feigling, Finsterling oder Schönling eher; aber auch hier gibt es Gegenbeispiele wie Frischling, Jüngling oder Neuling. Gegenüber den Personenbezeichnungen überwiegen unter den Wörtern auf -ling andere Bedeutungen: Sie bezeichnen Gegenstände (wie Fäustling oder Füßling), und häufiger noch Pflanzen, vor allem Pilze, sowie Tiere. Die Wortbildungen sind zwar oft - wenn auch keineswegs immer - noch durchsichtig, aber die Wörter werden normalerweise als monomorphematische Pflanzen- oder Tiernamen und nicht mehr als Ableitungen wahrgenommen: Milchling, Pfifferling, Täubling, Trichterling (alles vier Pilzarten). In vielen Fällen sind sie auch nur noch mithilfe etymologischer Wörterbücher analysierbar, z.-B. Engerling (zu mhd. anger ‚Made‘), Sperling (aus ahd. sparo, cf. engl. sparrow; DWDS s.-v. Sperling), Saibling (zu Salm; DWDS s.-v. Saibling). Bei der Derivation auf -ling kann ein Umlaut auftreten: Fuß → Füßling, Haft → Häftling, Spross → Sprössling; den Plural bilden alle so gebildeten Formen auf -e. Darüber, ob das Suffix noch produktiv ist, ließe sich diskutieren. Immerhin finden sich gelegentliche sprachspielerische Neubildungen wie Menschling (z.- B. @islieb, Twitter) oder Mondling (Jucker/ Ziegler 1969); als gänzlich unproduktiv kann man die Silbe also wohl nicht betrachten. Redner und Zöllner: -ner Mit dem Suffix -ner können wie mit -er und -ler Personenbezeichnungen abgeleitet werden. Dabei handelt es sich häufig um Berufsbezeichnungen (z.- B. Garten → Gärtner, Zoll → Zöllner etc.). Daneben kommen aber auch regionale (z.- B. Obwalden → Obwaldner) oder auch ganz allgemeine Zuordnungen zu einem Bereich vor (z.- B. Kindergarten → Kindergärtner, Oberprima → Oberprimaner etc.). Das Suffix kommt wie -ler (und anders als -er) nur bei Substantiven vor. Gelegentlich geht die Derivation mit einem Umlaut einher: Garten → Gärtner, Glocke → Glöckner, Zoll → Zöllner. Das auslautende -e bzw. -en des Ausgangswortes fällt bei der Ableitung auf -ner aus: Falke → Falkner, Wagen → Wagner. Auch bei diesen Substantiven, die alle Maskulina sind und ihren Plural <?page no="79"?> 79 endungslos bilden, ist eine Movierung auf -in möglich (z.-B. Oberprimaner → Oberprimanerin). Anwaltschaft und Wirtschaft: -schaft Mit dem Suffix -schaft, das außer zur Ableitung aus Substantiven auch zu der aus Adjektiven (z.-B. schwanger → Schwangerschaft) und in seltenen Fällen auch aus Verben (z.-B. wandern → Wanderschaft) verwendet werden kann, werden Abstrakta und Kollektiva gebildet: Anwohner → Anwohnerschaft, Eltern → Elternschaft, Freund → Freundschaft etc. Dabei sind auch Derivationen aus dem Plural möglich (z.-B. Ärzteschaft, Burschenschaft, Patenschaft). Das Suffix ist mit dem Verb schaffen sowie dem englischen shape ‚Gestalt‘ verwandt und geht auf ein Substantiv zurück, das im Mittelhochdeutschen noch als schaft mit der Bedeutung ‚Beschaffenheit‘ auftritt (cf. Kluge 2012 s.-v. schaft). Bei der Modifikation von Substantiven kommt es ausgesprochen häufig vor, und es kann auch noch produktiv genutzt werden, wie moderne Bildungen wie Twitterschaft belegen. Die so gebildeten Substantive sind Feminina. Scheichtum und Christentum: -tum Auch das Suffix -tum, das außer bei der Ableitung aus Substantiven in seltenen Fällen auch bei der aus Adjektiven (z.-B. eigen → Eigentum) verwendet werden kann, geht auf ein Substantiv zurück, und zwar auf das mit dem Verb tun verwandte mhd. tuom ‚Verhältnis, (Zu)Stand‘ (cf. Kluge 2012 s.-v. tum). So gebildete Substantive sind Abstrakta (z.-B. Märtyrertum) oder Kollektiva für Personengruppen (z.-B. Berufsbeamtentum), können in Einzelfällen aber auch Territorien bezeichnen (z.- B. Fürstentum). Wie die Beispiele zeigen, kommen hier auch Ableitungen aus dem Plural vor. Daneben finden sich in einigen wenigen Fällen auch Bildungen mit dem Fugenelement -(e)s-: Mannestum, Volkstum. Aktuelle Bildungen wie Dschihadistentum belegen, dass auch dieses Suffix in Einzelfällen noch produktiv genutzt werden kann. Alle so gebildeten Substantive sind Neutra. Viele von ihnen sind Singulariatantum; wenn ein Plural gebildet werden kann, erfolgt dies mit -er und Umlaut (z.-B. Fürstentum → Fürstentümer). 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="80"?> 80 2 Die Wortbildung des Substantivs Stallung und Zeitung: -ung Das Suffix -ung dient in erster Linie dazu, Substantive aus Verben abzuleiten (z.-B. impfen → Impfung), und kommt bei der Modifizierung von Substantiven deutlich seltener vor. Dennoch ist es auch hier anzutreffen, z.-B. Tal → Talung, Wald → Waldung, Wand → Wandung. Bei der Ableitung mit -ung kann auch ein Umlaut auftreten: Alp → Älpung. Die so gebildeten Substantive sind Feminina und können sowohl Abstrakta als auch Konkreta sein. Räder- und Mauerwerk: -werk Das Morphem -werk geht auf das Substantiv Werk zurück und kann nur dort als Suffix betrachtet werden, wo es semantisch klar davon unterscheidbar ist. Das Substantiv selbst - und im Wortbildungsergebnis somit ein Substantivkompositum - liegt vor in Wörtern wie Kunstwerk, Montagewerk, Tagewerk oder Uhrwerk, wo das Wort Bedeutungen wie ‚Opus‘, ‚Tätigkeit‘, ‚Ort der Tätigkeit‘ oder auch ‚Mechanik‘ trägt (letzteres ist z.-B. auch in Räderwerk, Schlagwerk gegeben). In all diesen Fällen ist jeweils auch der Gebrauch des Simplex Werk möglich: Man kann statt von einem Kunstwerk auch nur vom Werk einer Künstlerin sprechen, bei einem bestreikten Montagewerk davon, dass das Werk bestreikt wird, oder bei einem defekten Uhrwerk davon, dass das Werk defekt ist. Diese Verkürzung auf Werk ist hingegen bei Wörtern wie Dachwerk, Mauerwerk oder Schuhwerk nicht möglich. Hier ist die ursprüngliche Bedeutung hinter die Funktion eines Wortbildungsmorphems zurückgetreten, es liegt also, wenn man diesen Begriff verwenden möchte, der typische Fall eines Affixoids (konkret: Suffixoids) vor. Mit seiner Hilfe werden Kollektiva gebildet, mit denen die Gesamtheit der zum jeweils links stehenden Begriff gehörenden Objekte bezeichnet wird. Alle so gebildeten Wörter sind Neutra und bilden ebenso wie das Substantiv Werk ihren Plural auf -e. Hochschul- und Rechnungswesen: -wesen Dem Morphem -wesen liegt das Substantiv Wesen zugrunde, das seinerseits aus einem noch in der Form gewesen erhaltenen Verb abgeleitet ist, welches ursprünglich ‚sein‘ bedeutet. Die Bedeutung des Substantivs, die man mit ‚Charakter‘, ‚Art‘ (z.-B. Es liegt in ihrem Wesen) oder je nach Kontext auch mit ‚Lebewesen‘ (z.-B. Dort leben seltsame Wesen) umschreiben kann, ist jedoch in <?page no="81"?> 81 Wörtern wie Bildungswesen, Rechnungswesen oder Rechtswesen nicht mehr erkennbar, so dass man es dort als Suffix oder, je nach Terminologie, als Suffixoid betrachten kann. Dann dient es dazu, Kollektiva zu bilden, die etwa die Gesamtheit der Bildungseinrichtungen (Bildungswesen), der Erfassung betrieblicher Geldflüsse (Rechnungswesen) oder der Organisation des Rechts (Rechtswesen) dienen. Offensichtlich hat sich aus dem Substantiv Wesen ein Derivationssuffix (oder ein Suffixoid) entwickelt, wobei allerdings nicht nur das Genus erhalten geblieben ist, so dass alle so gebildeten Wörter Neutra sind, sondern auch nach wie vor für die Komposition von Substantiven typische Interfixe auftreten. Diebesgut, Dienststelle und Bettzeug: Morpheme mit umstrittenen Status Auch bei Gut, Stelle und Zeug, die wie Wesen und Werk gleichermaßen als selbständige Substantive vorkommen, besteht nicht immer Einigkeit darüber, ob sie als spezifische Wortbildungsmorpheme und somit als Suffixe oder Suffixoide angesehen werden können (cf. Wellmann 1975: 100, Fleischer/ Barz 2012: 133 f.). Für die Entscheidung darüber, wie man diese Morpheme einordnen möchte, muss man wie in allen anderen Fällen überprüfen, wie weit die Grammatikalisierung - also die Entwicklung von einem lexikalischen zu einem grammatischen Morphem - bereits fortgeschritten ist. Das ist nicht immer leicht zu beurteilen, da es sich naturgemäß bei Grammatikalisierungsprozessen um Vorgänge handelt, die sich kontinuierlich über einen längeren Zeitraum hinweg vollziehen. Dabei bestehen das ursprüngliche und das grammatikalisierte Element häufig weiterhin nebeneinander, und die Übergänge können fließend sein. Um zu entscheiden, ob sich aus den Substantiven Gut, Stelle und Zeug bereits Wortbildungsmorpheme entwickelt haben, kann man die semantische Nähe zum ursprünglichen Substantiv betrachten. Ist die Bedeutung nach wie dieselbe? Dies ist in allen drei Fällen gegeben: bei Gefahrengut, Diebesgut oder Umzugsgut handelt es sich eindeutig um Güter; eine Dienststelle, eine Leitstelle oder eine Meldestelle sind ganz klar Stellen, und bei Bettzeug oder Sattelzeug handelt es sich um Zeug (im Sinne von: Sachen). Die entsprechenden Wortbildungen kann man daher als Komposita ansehen. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="82"?> 82 2 Die Wortbildung des Substantivs 2.1.2.2.2 Revolutionär, Diplomat und Drogerie: Modifizierung mit entlehnten Suffixen Neben den bisher aufgeführten gibt es eine erstaunlich große Anzahl von Derivationssuffixen, die ursprünglich nicht aus dem Deutschen stammen, sich aber --mit Ausnahme einiger weniger, ausschließlich auf den Fachwortschatz beschränkten Fälle wie z.-B. -ol (Methan → Methanol) --im Deutschen etabliert haben und die größtenteils auch produktiv sind. Sie sind mehrheitlich romanischen Ursprungs (meist aus dem Französischen übernommen). Es handelt sich dabei um: -ade Olympiade -aner, -ianer, -iner Republikaner, Jakobiner -ar Archivar -är Reaktionär -arium Insektarium -at Stipendiat -erie Piraterie -ese Nepalese -ess(e) Politesse -ette Bulette -eur Bankrotteur -euse Balletteuse -iat Stipendiat -ier [je: / i: r] Bankier, Offizier -iere Garderobiere -iker Alkoholiker -in Vanillin -ine Schlumpfine -iner Jakobiner -ismus Kapitalismus -ist Marxist -it Israelit -iter Moskowiter -itis Telefonitis -ium Direktorium <?page no="83"?> 83 -loge Dialektologe -logie Morphologie -oid Kristalloid -ur Professur Im Folgenden werden nur die häufigsten und gebräuchlichsten entlehnten Suffixe besprochen. Hanswurstiade und Robinsonade: -ade Mit dem Suffix -ade, das auf lat. -atus zurückgeht, mehrheitlich aber über den Umweg französischer Lehnwörter ins Deutsche gelangt ist (cf. Kluge 2012 s.-v. -ade), lassen sich nicht nur Fremd- und Lehnwörter wie Kanone → Kanonade oder Olympia → Olympiade modifizieren, sondern-auch deutsche Wörter wie z.-B. Hanswurst → Hanswurstiade. Ebenfalls möglich sind Ableitungen dieser Art bei Eigennamen, z.- B. Münchhausen → Münchhauseniade, Robinson → Robinsonade. Das Suffix, mit dem Feminina gebildet werden, kommt auch bei der Ableitung von Substantiven aus Verben vor. Hannoveraner und Wagnerianer: -aner/ -ianer; -iner Insbesondere aus geografischen Eigennamen lassen sich mithilfe von -aner regelmäßig Bezeichnungen für Angehörige der jeweiligen geografischen Region ableiten, z.-B. Amerika → Amerikaner, Sizilien → Sizilianer, Texas → Texaner etc. Auch Ableitungen aus Personennamen kommen vor (z.- B. Franziskus → Franziskaner, Luther → Lutheraner), wobei hier häufiger die Endung -ianer auftritt (z.- B. Freud → Freudianer, Hegel → Hegelianer, Kant → Kantianer, Wagner → Wagnerianer etc.). Auch die Ableitung Börse → Börsianer verwendet diese Erweiterung, während bei Republik → Republikaner die kürzere Form gebraucht wird. Neben -aner und -ianer findet sich auch die Variante -iner, z.-B. Jakob → Jakobiner, Florenz → Florentiner, Montenegro → Montenegriner. Die Suffixe, die vermutlich auf franz. -ain (z.-B. républicain), -ien (z.-B. luthérien) und -in (z.-B. jacobin) zurückgehen, erzeugen maskuline Personenbezeichnungen, die ihren Plural endungslos bilden und mit -in moviert werden können (z.-B. Texaner → Texanerin). 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="84"?> 84 2 Die Wortbildung des Substantivs Bibliothekar und Mobiliar: -ar Das Suffix -ar kann sowohl für die Ableitung von Personen als auch von Sachbezeichnungen verwendet werden. Dabei sind so gebildete Personenbezeichnungen maskulin, Sachbezeichnungen hingegen sind Neutra, z.-B. Archiv → der Archivar, Bibliothek → der Bibliothekar vs. Glosse → das Glossar, Mobilien → das Mobiliar. Beide Genera bilden den Plural auf -e, und bei den Personenbezeichnungen ist eine Movierung auf -in möglich (z.-B. Archivar → Archivarin). Das Suffix kann auch zur Ableitung von Substantiven aus Verben verwendet werden (z.-B. pulsieren → Pulsar). Billionär und Revolutionär: -är Das Suffix -är stammt aus dem Französischen, wo es sich -aire schreibt. Es leitet maskuline Personenbezeichnungen aus Substantiven ab, die auf -ion enden, wobei das <n> in der Folge im Französischen verdoppelt wird, im Deutschen hingegen nicht, z.- B. Divisionär (franz. divisionnaire), Legionär (franz. légionnaire), Revolutionär (franz. révolutionnaire), Visionär (franz. visionnaire) etc. Im Französischen produktiv, findet sich das Suffix im Deutschen vor allem bei Übernahmen von bereits damit gebildeten Wörtern aus der Nachbarsprache. Neubildungen sind jedoch möglich. So finden sich etwa parallel zu Million → Millionär Ableitungen wie Billion → Billionär oder Fantastilliarde → Fantastilliardär (als Bezeichnung für Dagobert Duck). Die so gebildeten Substantive sind Maskulina und bilden ihren Plural auf -e; sie können mit -in moviert werden (z.-B. Revolutionär → Revolutionärin). Das Suffix kommt nur bei der Modifikation von Substantiven vor. Diplomat und Konkubinat: -at Auf -at lassen sich aus Fremd- und Lehnwörtern sowohl maskuline Personenbezeichnungen wie Diplom (in der Bedeutung ‚Urkunde‘, ‚Geleitbrief ‘)- → Diplomat, Sold → Soldat oder Stipendium → Stipendiat ableiten, die der sog. schwachen Deklination folgen (also alle Formen außer dem Nominativ Singular auf -en bilden), als auch nicht-Personenbezeichnungen, die vorwiegend als Orts- und Amtsbezeichnungen dienen und die in Ausnahmefällen Maskulina, im Normalfall hingegen Neutra sind: der (auch: das) Episkopat; das Dekanat, das Konsulat, das Pensionat etc. Diese Wörter bilden ihren Plural auf -e. Gelegent- <?page no="85"?> 85 lich kommen hier auch Kollektiva wie Proletariat oder chemische Fachbegriffe wie Chlorat vor. Bei Personenbezeichnungen ist eine Movierung auf -in möglich (z.-B. Soldat → Soldatin). Das Suffix kann auch zur Ableitung von Substantiven aus Verben verwendet werden (z.-B. destillieren → Destillat). Installateur und Provokateur: -ateur Von Substantiven auf -ation lassen sich Personenbezeichnungen auf -ateur bilden, wobei das -ation durch -ateur ersetzt wird, z.- B. Animation → Animateur, Kollaboration → Kollaborateur, Konspiration → Konspirateur etc. Da Substantive auf -ation ihrerseits von Verben abgeleitet sind, ist im Einzelfall oft nur schwer zu entscheiden, welchen Weg die Derivation genommen hat, und es kann auch eine Ableitung aus dem jeweiligen Verb (etwa: operieren → Operateur) angesetzt werden. Unabhängig vom konkreten Ableitungsweg stammt das Wortbildungsmuster aus dem Französischen, und viele Substantive sind bereits im Französischen auf diese Weise gebildet und dann entlehnt worden (so etwa Provokateur aus franz. provocateur, dessen Originalform noch in Agent provocateur erhalten ist). Die so gebildeten Substantive sind Maskulina. Sie bilden den Plural auf -e und werden im Deutschen mit dem Suffix -in, nicht mit der französischen Entsprechung -atrice moviert (z.-B. Kollaborateur → Kollaborateurin vs. franz. collaboratrice). Drogerie und Piraterie: -erie Das aus dem gleichlautenden französischen Suffix stammende -erie wird zur Modifizierung von Fremd- und Lehnwörtern verwendet. So gebildete Substantive dienen meist zum Ausdruck von Orten (z.-B. Droge → Drogerie, Parfüm → Parfümerie) oder Verhaltensweisen (z.- B. Kamarad → Kamaraderie, Scharlatan → Scharlatanerie), aber auch Kollektiva können so abgeleitet werden (z.-B. Komparse → Komparserie, Maschine → Maschinerie). Gelegentlich werden auch bereits in der Ausgangssprache so gebildete Substantive direkt entlehnt, so etwa im Fall von Bijouterie oder Cochonnerie. Das Suffix kann auch zur Ableitung von Substantiven aus Adjektiven (z.-B. prüde → Prüderie) und aus Verben (z.- B. raffinieren → Raffinerie) verwendet werden. Alle so gebildeten Wörter sind Feminina. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="86"?> 86 2 Die Wortbildung des Substantivs Plakette und Schmonzette: -ette Das Suffix -ette dient im Französischen der Diminuierung und entspricht damit in etwa dem deutschen -chen. Entsprechend ist eine Diskette eine kleine Scheibe (franz. disque), eine Sandalette eine kleine Sandale. Auch aus dem Italienischen, wo die entsprechende Endung -etta lautet, entlehnte Wörter wie Operette (aus ital. operetta ‚kleine Oper‘) weisen im Deutschen die Endung -ette auf. Meist wurden die so gebildeten Wörter direkt aus romanischen Sprachen übernommen, aber in Einzelfällen findet sich das Suffix auch bei der deutschen Wortbildung, so etwa bei dem der Sandalette nachgebildeten Wort Stiefelette oder bei der Ableitung Schmonzette aus dem ursprünglich jiddischen Wort Schmonzes (cf. DWDS s.-v. Schmonzette). Das Suffix kommt nur bei der Modifikation von Substantiven vor und bildet Feminina. Bankrotteure und Parfümeure: -eur Derivationen mit dem Suffix -eur erfolgen mehrheitlich von Verben; es gibt aber auch einige wenige Fälle, in denen die Ableitung aus einem Substantiv vorgenommen wurde, so z.-B. Bankrott → Bankrotteur, Mine → Mineur. Meist sind so gebildete Substantive direkt aus dem Französischen übernommen, so etwa bei Camionneur (aus franz. camion ‚Lastwagen’) oder Kaskadeur (veraltete Schreibweise: Cascadeur). Die so gebildeten Substantive sind Maskulina und bilden den Plural auf -e. Die Ableitung von Feminina erfolgt nur bei direkt aus dem Französischen übernommenen Substantiven auf -euse (z.-B. Souffleur → Souffleuse), sonst mit dem deutschen Suffix -in (z.-B. Bankrotteur → Bankrotteurin). Bankiers und Juweliere: -ier Für mithilfe des französischen Suffixes -ier abgeleitete Personenbezeichnungen gibt es zwei Aussprachemöglichkeiten: einmal die französische Aussprache [je: ] wie bei Bank → Bankier oder Hotel → Hotelier, zum anderen die deutsche Aussprache [i: r] wie bei Juwel → Juwelier oder Muskete → Musketier. Dabei kommt die französische Aussprachevariante deutlich häufiger vor. Unabhängig von der Aussprache sind alle so gebildeten Wörter Maskulina. Bei den deutsch ausgesprochenen Wörtern ist immer eine Movierung auf -in möglich (z.-B. Juwelier → Juwelierin, Offizier → Offizierin); bei Aussprache mit [je: ] wird stattdessen häufig, wenngleich nicht immer, auf die Herkunftssprache zurückgegriffen, <?page no="87"?> 87 wo die Endung -ière steht (z.-B. Chansonnier → Chansonnière, Garderobier → Garderobiere; aber: Bankier → Bankierin). Der Plural wird bei Aussprache [i: r] auf -e gebildet (z.-B. Offizier → Offiziere), bei Aussprache [je: ] hingegen auf -s (z.- B. Bankier → Bankiers). Das Suffix kommt nur bei der Modifikation von Substantiven vor. Philharmoniker und Satiriker: -iker Das Suffix -iker geht eigentlich auf eine Kombination der beiden Suffixe -ik (wie in Dynamik) und -er (zur Ableitung von Personenbezeichnungen) zurück. Dass man es dennoch als ein eigenständiges Suffix betrachten kann, wird deutlich, wenn man Bildungen wie Alkoholiker, Chemiker oder Theoretiker näher betrachtet: Es gibt zwar die Formen Alkohol, Chemie und Theorie, nicht aber *Alkoholik, *Chemik und *Theoretik. Hingegen muss man in Fällen wie Mathematiker von einer Ableitung aus dem Substantiv Mathematik ausgehen. Derivationen auf -iker sind stets Maskulinum; sie bilden einen endungslosen Plural und können mit -in (z.- B. Chemiker → Chemikerin) moviert werden. Außer bei der Modifikation von Substantiven kommt das Suffix auch bei der Ableitung von Substantiven aus Adjektiven vor (z.-B. cholerisch → Choleriker). Chauvinismus und Marxismus: -ismus Das ursprünglich aus dem Griechischen stammende Suffix -ismus (griech. -ismos) ist heute so geläufig, dass es sich sogar zum selbständigen Wort Ismus mit der Bedeutung ‚Theorie‘ (und einer pejorativen Konnotation) entwickelt hat. Als Suffix kann es außer zur Modifikation von Substantiven auch zur Derivation von Substantiven aus Adjektiven verwendet werden (z.-B. absolut → Absolutismus). Wenn Substantive damit modifiziert werden, ist das Basiswort in vielen Fällen eine Personenbezeichnung (z.- B. Albino → Albinismus, Chauvinist → Chauvinismus) und kann auch ein Eigenname sein (z.-B. Buddha → Buddhismus, Darwin → Darwinismus). Wie sich zeigt, geht die Ableitung ggf. mit einem Ausfall der Endsilben -o bzw. -ist einher. Auch nicht-Personenbezeichnungen können so modifiziert werden, z.-B. Aktion → Aktionismus, Dada → Dadaismus, Kapital → Kapitalismus etc. Das Präfix ist produktiv; so finden sich z.-B. im Internet Bildungen wie Blogismus oder Twitterismus. Alle so gebildeten Wörter sind Maskulina; sie bilden ihren Plural durch Veränderung der letzten Silbe von -mus zu -men. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="88"?> 88 2 Die Wortbildung des Substantivs Buddhist und Cellist: -ist Personenbezeichnungen auf -ist können auch von Adjektiven (sozial → Sozialist) oder Verben (z.- B. fakturieren → Fakturist) abgeleitet werden. Beispiele für die Modifizierung von Substantiven wären Piano → Pianist (ebenso andere Musikinstrumente: Bass → Bassist, Flöte → Flötist, Gitarre → Gitarrist etc.), Journal → Journalist, Kapital → Kapitalist, Polizei → Polizist. Wie die Beispiele zeigen, werden die vokalischen Endungen -e, -ei oder -o der Ausgangswörter dabei getilgt. Auch bei Eigennamen ist diese Form der Ableitung zu finden: Lenin → Leninist, Marx → Marxist, Trotzki → Trotzkist etc. Derivationen auf -ist sind stets Maskulina, können aber mit -in moviert werden: z.- B. Hinduist → Hinduistin, Saxophonist → Saxophonistin. Sie folgen der sog. schwachen Deklination, d.-h. sie bilden sämtliche Formen außer dem Nominativ Singular auf -en. Dass der Bildungstyp produktiv ist, zeigen Neubildungen wie Pegida → Pegidist oder Twitter → Twitterist. Laryngitis und Telefonitis: -itis Das ursprünglich aus dem Griechischen stammende Suffix -itis dient in erster Linie dazu, medizinische Fachbegriffe zur Bezeichnung von entzündlichen Erkrankungen zu bilden (z.-B. Dermatitis ‚Hautentzündung‘, Laryngitis ‚Kehlkopfentzündung‘, Rhinitis ‚Schnupfen‘ etc.). Darüber hinaus dient es aber auch häufig zu alltagssprachlichen Neubildungen wie Telefon → Telefonitis, das bereits Eingang in das DWDS bzw. den Duden online gefunden hat, oder noch neueren wie Selfie → Selfitis oder Twitter → Twitteritis, die dort noch nicht zu finden sind. Sie alle bezeichnen ein krankhaftes, allzu enges Verhältnis zu dem, was im Substantiv ausgedrückt wird. Der Bildungstyp kommt auch bei Verben vor (z.- B. meckern → Meckeritis); hingegen scheint er bei Adjektiven anders als bei Donalies (2011: 148) angegeben nicht aufzutreten; das dort angeführte Beispiel Banalitis war nicht auffindbar. Alle so gebildeten Substantive sind Feminina und Singulariatantum, können also keinen Plural bilden. Kollegium und Planetarium: -ium, -arium Das Suffix -ium (aus griech. -ion) wird bei der Benennung chemischer Elemente eingesetzt, wobei Eigennamen, geographische Namen und seltener auch Mineralien das Basiswort bilden können. So wurden etwa Bohrium, Einsteinium <?page no="89"?> 89 oder Meitnerium zu Ehren von Niels Bohr, Albert Einstein und Luise Meitner benannt. Die Namen von Californium, Hassium oder Polonium verweisen auf Kalifornien, Hessen und Polen, und Barium und Beryllium gehen auf das Mineral Baryt und den Edelstein Beryll zurück. Außerhalb der Chemie finden sich Bildungen auf -ium wie Bakterium, Kollegium oder Oratorium, die direkt aus Fremdsprachen entlehnt wurden. Beschränkt produktiv sind Ableitungen dieser Art bei Verwendung der zusätzlichen Silbe -ar-: Insekt → Insektarium, Planet → Planetarium. Eine Neubildung, die man im Internet finden kann, wäre Twitterarium. Die so gebildeten Fremd- und Lehnwörter sind Neutra und bilden den Plural, indem die letzte Silbe -ium durch -ien ersetzen: Herbarien, Planetarien. In einigen wenigen Fällen kommt das Suffix auch bei der Ableitung von Substantiven aus Verben vor (z.-B. studieren → Studium). Dialektologe und Morphologie: -loge/ -logie Mit dem Suffix -loge werden Personenbezeichnungen, mit -logie Bezeichnungen für Fachgebiete gebildet. Beide Suffixe sind historisch aus dem Griechischen entlehnt, und viele so gebildete Begriffe wie z.-B. Etymologie/ Etymologe, Pathologie/ Pathologe oder Theologie/ Theologe sind ebenfalls direkt aus dem Griechischen übernommen worden. Es gibt aber auch Bildungen, die im Deutschen vorgenommen wurden, so z. B. Phänomen → Phänomenologe und Phänomenologie, Röntgen → Röntgenologe und Röntgenologie oder Termin(us)- → Terminologe und Terminologie. Insbesondere in der Linguistik sind hier eine Reihe von Bildungen erst in jüngerer Zeit entstanden, z.-B. Dialekt → Dialektologie und Dialektloge, Morphem → Morphologie (außerhalb der Linguistik auch schon früher belegt) und Morphologe sowie auch Phonologie (formal eigentlich eine Bildung zu Phon, zu dem aber als Terminus für das Fachgebiet Phonetik gehört) und Phonologe. Im Bereich der Theoriebildung sind die beiden Suffixe beschränkt produktiv. Affixoid und Kristalloid: -oid Das bei Substantiven nur im Bereich von Fachsprachen beschränkt produktive, häufiger bei der Wortbildung von Adjektiven zu findende (z.-B. faschistisch → faschistoid) Suffix -oid, das auf das Griechische zurückgeht, bezeichnet Ähnlichkeit mit dem, was in der Basis ausgedrückt wird. So ähnelt ein Bakterioid einem Bakterium, ein Planetoid ist ein kleiner, planetenähnlicher Himmels- 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="90"?> 90 2 Die Wortbildung des Substantivs körper, und ein Viroid ist ein virenähnlicher Erreger. In der Linguistik finden sich im Bereich der Wortbildung die Ableitungen Affix → Affixoid, Präfix → Präfixoid, Suffix → Suffixoid. Alle so gebildeten Substantive sind Maskulina und folgen der sog. schwachen Deklination, d.-h. sie bilden alle Formen außer dem Nominativ Singular auf -en. Agentur und Professur: -ur Mit dem aus dem Lateinischen stammenden Suffix -ur können aus Berufsbezeichnungen und Titeln Substantive abgeleitet werden, die meist entweder ein Amt bzw. eine Stellenbezeichnung (z.-B. Dozent → Dozentur, Professor → Professur) oder ein Büro bzw. eine Dienststelle beinhalten (z.-B. Agent → Agentur, Kommandant → Kommandantur). Daneben kommen seltener auch andere Bedeutungen wie z.- B. Rezept → Rezeptur vor. Im Ergebnis äußerlich gleich, aber nicht auf demselben Weg gebildet, sondern direkt aus anderen Sprachen entlehnt sind hingegen Koloratur (aus ital. coloratura) oder Quadratur (aus lat. quadratura; cf. Kluge 2012 s.-v. Koloratur, Quadratur). 2.1.3 Brombeere, Himbeere, Johanniskraut und Lindwurm: Modifikation von Substantiven mit gebundenen lexikalischen Morphemen In seltenen Fällen kommt es vor, dass ein Substantiv wie Beere, Kraut oder Wurm mit einem Morphem erweitert wird, das einerseits eindeutig nicht als Derivationsmorphem angesehen werden kann, sondern eine klare lexikalische Bedeutung trägt, das aber andererseits nicht für sich alleine stehen kann. Solche Morpheme sind z.-B. Brom-, Him- oder Lind- (aus ahd. lind ‚Schlange‘; nicht zu verwechseln mit dem Adjektiv lind, auch wenn die Wörter etymologisch verwandt sind, cf. Kluge 2012 s.-v. Lindwurm). Mit ihnen werden die Substantive Brombeere, Himbeere oder Lindwurm gebildet. Da sie nur einmalig vorkommen, werden sie auch als unikale Morpheme bezeichnet. Als weitere Beispiele für diesen Morphemtyp nennen Fleischer/ Barz (2012: 65) auch Elemente wie -igall in Nachtigall oder -igam in Bräutigam. Während man jedoch zu den vorgenannten Beispielen leicht parallel zur selben Basis gebildete Formen wie Beere → Blaubeere, Erdbeere, Stachelbeere etc. oder Wurm → Bandwurm, Plattwurm, Regenwurm etc. finden kann, ist dies bei Wörtern wie Bräutigam oder Nachtigall nicht möglich. Dass ihnen Wortbildung zugrunde liegt, ist synchron <?page no="91"?> 91 daher nicht mehr nachvollziehbar, und das beteiligte Morphem ist für moderne Sprecherinnen und Sprecher auch nicht mehr als solches erkennbar. Dies ist bei Bildungen wie Brombeere oder Johanniskraut anders, und auch wenn man keine Vorstellung davon hat, was wohl ein Brom sein könnte (es verbirgt sich historisch ein Wort mit der Bedeutung ‚Dornstrauch‘ dahinter, cf. Kluge 2012 s.-v. Brombeere), erkennt man intuitiv, dass es sich um eine nähere Bestimmung zu Beere handelt. Außer unikalen Morphemen, die nur einmalig in einzelnen Wortbildungen auftreten, gibt es auch gebundene lexikalische Morpheme, die mehrfach vorkommen. Ein Beispiel hierfür wäre Johannis-, das sich etwa mit Beere, Brot, Feuer, Kraut, Nacht u.-a.-m. verbinden lässt. Ebenfalls hierher gehören eigentlich auch die sog. Konfixe wie bio-, cyber-, superetc. (z.-B. Bioladen, Cyberangriff, Superheld), bei denen es sich ja gleichfalls um gebundene lexikalische Morpheme handelt, die aus anderen Sprachen entlehnt wurden. Da die Einteilung dieser Morpheme als Präfixe oder Konfixe aber selbst da, wo der Unterschied gemacht wird, sehr uneinheitlich ist, werden sie im Folgenden der Einfachheit halber zusammen mit den Präfixen behandelt. 2.1 Modifikation des Substantivs <?page no="92"?> 92 2 Die Wortbildung des Substantivs 2.2 Adverbiale, Gebinde, Schlampigkeit und Studierende: Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten Während bisher von Modifikation die Rede war - also von Wortbildung ohne Wortartenwechsel -, geht es im Folgenden um die Ableitung von Substantiven aus anderen Wortarten, konkret vor allem aus Adjektiven (z.-B. finster → Finsternis) und Verben (z.-B. legen → Gelege). 2.2.1 Antike, Heiterkeit, Studierende und Eigentum: Derivation von Substantiven aus Adjektiven und Partizipien Für die Ableitung eines Substantivs aus einem Adjektiv oder einem Partizip gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: ▶ Konversion: Man verwandelt das Adjektiv oder Partizip ohne irgendwelche morphologischen Veränderungen in ein Substantiv (z.-B. böse → das Böse, angestellt → der/ die Angestellte). ▶ Derivation: Man leitet mithilfe von Suffixen ein Substantiv daraus ab (z.-B. frech → Frechheit). 2.2.1.1 Die Abgeordneten und das Gute: Konversion von Adjektiven und Partizipien zu Substantiven Adjektive gehören zur Klasse der Nomina im weiteren Sinne und teilen folglich sehr viele Eigenschaften mit Substantiven. Die einfachste Art, aus einem Adjektiv ein Substantiv zu bilden, besteht daher darin, es einfach wie ein solches zu benutzen: böse → das Böse, deutsch → der/ die Deutsche, fremd → die Fremde etc. Das Adjektiv kann dann sämtliche syntaktischen Funktionen eines Substantivs übernehmen und wird in solchen Fällen nach den geltenden orthografischen Regeln auch großgeschrieben. Dasselbe gilt für diejenigen Partizipien, die man attributiv verwenden kann (was nicht bei allen der Fall ist): vergangen → das Vergangene, irritierend → das Irritierende. Dabei erfolgt in den meisten Fällen keinerlei weitere Veränderung am Adjektiv oder Partizip: Während Substantive ein festes Genus haben, bleibt das Adjektiv genusflexibel. Das hat zur Folge, dass man im Plural nicht mehr erkennen kann, welches Genus im Singular vorgelegen hat; die Fremden kann sowohl als Plural für der Fremde als auch für die <?page no="93"?> 93 Fremde dienen. Diese Eigenart wird fruchtbar gemacht, wenn man Partizipien verwendet, um auf Personengruppen zu referieren (z.-B. die Studierenden statt die Studentinnen und Studenten). Ebenso erhalten bleibt die typische Formenbildung des Adjektivs, bei der die Endung nicht nur von Kasus und Numerus, sondern auch von der Art des Artikels abhängt. So lautet die substantivierte Form von fremd mit unbestimmtem Artikel weiterhin [ein] Fremder (cf. ein fremder Mann), mit bestimmtem [der] Fremde (cf. der fremde Mann). Die substantivische Verwendung ist bei allen Adjektiven sowie bei allen Partizipien möglich, die attributiven Gebrauch zulassen. Da jedoch, wie aufgezeigt wurde, alle Eigenschaften der Adjektivdeklination erhalten bleiben, kann man sich fragen, ob hier wirklich ein Fall von Konversion vorliegt. Denn Substantive haben zum einen ein festes Genus, das sie nicht beliebig wechseln können; und zum anderen richten sie sich in ihren Endungen nicht nach dem Artikelgebrauch. Anders als bei der Substantivierung von Infinitiven, die in der Folge sowohl ein festes Genus als auch typische morphologische Eigenschaften von Substantiven wie etwa das Genitiv-s annehmen, lässt sich bei der Substantivierung von Adjektiven daher auch argumentieren, dass hier nicht wirklich ein Wortartenwechsel erfolgt. Anders liegt der Fall dann, wenn dem Adjektiv bei der Substantivierung ein festes Genus zugeteilt wird. Dies ist z.-B. bei die Antike, die Ferne oder die Moderne gegeben. Bei Ableitungen diese Art, die stets Feminina sind, handelt es sich um Abstrakta sowie um sog. Singulariatantum (d.-h. sie können keinen Plural bilden), und hier liegt eine eindeutige Konversion vor. 2.2.1.2 Fäulnis, Liebschaft, Präsenz und Radioaktivität: Suffixderivation von Substantiven aus Adjektiven Bei der Derivation von Substantiven aus Adjektiven kommen sowohl einheimische (z.-B. selten → Seltenheit) als auch entlehnte (z.-B. rar → Rarität) Suffixe vor. 2.2.1.2.1 Bereitschaft, Höhle und Seltenheit: Derivation von Substantiven aus Adjektiven mit einheimischen Suffixen Für die Ableitung eines Substantivs aus einem Adjektiv mit morphologischen Mitteln kommen nur Suffixe in Frage; Präfixe oder Zirkumfixe gibt es hier nicht. Unter den Möglichkeiten, die verwendet werden können, finden sich die folgenden einheimischen Endungen: 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="94"?> 94 2 Die Wortbildung des Substantivs -e Reife -er Zehner -(t)el Viertel -erchen Dummerchen -heit Frechheit -igkeit Kleinigkeit -keit Köstlichkeit -ling Finsterling -nis Gleichnis -schaft Burschenschaft -tum Brauchtum Die hier aufgeführten Morpheme sind nicht in jedem Fall als eigenständige Derivationssuffixe anzusehen. Im Folgenden werden sie im Einzelnen besprochen. Treue und Weite: -e Das bei der Derivation von Substantiven aus Verben hochfrequente Suffix -e ist auch bei Adjektiven sehr häufig anzutreffend finden. So gebildete Substantive sind außerordentlich zahlreich: Beispiele wären etwa Bleiche, Breite, Dichte, Enge, Ferne, Leere, Öde, Platte, Reife, Stille, Tiefe, Treue, Weite etc. Bei einsilbigen Adjektiven, deren Trägervokal das zulässt, entsteht bei dieser Art der Wortbildung ein Umlaut: ganz → Gänze, gut → Güte, hart → Härte, hohl → Höhle, kalt → Kälte, kurz → Kürze, stark → Stärke, warm → Wärme etc. Möglich ist diese Art der Wortbildung auch bei Fremd- und Lehnwörtern, z.-B. alterativ → Alternative, konstant → Konstante, kontrovers → Kontroverse etc. Das Suffix kommt auch bei Verben vor (z.-B. folgen → Folge). Alle so gebildeten Substantive sind Feminina. Viertel und Fünfer: -er und -tel Numeralia (Zahlwörter) werden bei einigen Autoren zu den Adjektiven gerechnet (sog. Zahladjektive, so z.-B. Helbig/ Buscha 2011: 290, Duden 2016: 385 f.), da sich besonders kleinere Zahlen ähnlich wie Adjektive verhalten; größere hingegen verhalten sich eher wie Substantive (cf. Hentschel/ Weydt 2013: 235 f.), so dass sich hier nicht wirklich ein einheitliches Bild ergibt. Dabei kann man innerhalb der Numeralia zwischen Kardinalia (Grundzahlen) wie ein, zwei, tausend und Ordinalia (Ordnungszahlen) wie dritte, fünfte, hundertste unterscheiden. <?page no="95"?> 95 Von Kardinalia kann man mit der Endung -er Substantive ableiten (z.- B. drei → Dreier, hundert → Hunderter), die sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen können. So kann ein Zehner einen Geldschein oder eine Münze bezeichnen, ein Sechser ein Ergebnis beim Würfeln oder ein Achter die Besetzung eines Ruderbootes. Daher kann die Bedeutung nur allgemein als ‚Gesamtheit mit der Zahl x‘ angegeben werden. So gebildete Substantive sind immer Maskulina. Da es sich um Kollektiva und nicht um Personenbezeichnungen handelt, ist hier keine Movierung mit -in möglich. Nicht Kardinalia, sondern Ordinalia liegen den Bruchzahlen zugrunde. Sie werden mit -tel aus den Ordinalia abgeleitet, z.- B. (zu) dritt- → ein Drittel, viert- → ein Viertel, hundertst- → ein Hundertstel. Bruchzahlen sind Neutra, im Süden des Sprachgebiets, insbesondere in der Schweiz, aber auch Maskulina. Letzteres hängt damit zusammen, dass die Endung eigentlich auf das Wort Teil zurückgeht: ein Drittel ist der dritte Teil von etwas. Da Ordinalia bereits auf -t resp. -st enden (z.-B. dritt, viert, zehnt; zwanzigst, dreißigst, hundertst etc.), verschmilzt das t von Teil mit dem bereits vorhandenen t. Synchron betrachtet liegt daher eine Ableitung auf -el vor, aber unter sprachhistorischen Gesichtspunkten handelt es sich um ein zu -tel verkürztes -teil. Im Duden (2016: 393) wird die zugrundeliegende Bildung der Ordinalzahl in die Beschreibung der Bildungsweise von Bruchzahlen einbezogen: „Bruchzahlen werden mit den Suffixen -tel und -stel gebildet.“ Die so gebildeten Wörter werden bei attributivem Gebrauch als Adjektive interpretiert und infolgedessen kleingeschrieben (z.-B. eine hundertstel Sekunde). Sie können jedoch auch in diesem Fall keine adjektivischen Endungen annehmen, sondern bleiben unverändert. Dickerchen und Dummerchen: -erchen Aus der Form des Adjektivs, die gebraucht wird, wenn das Adjektiv ohne Artikel steht, und bei der im Nominativ Singular Maskulinum die Endung -er verwendet wird (z.- B. leichter Wind aus verschiedenen Richtungen), kann in einigen wenigen Fällen mit der zusätzlichen Diminutivendung -chen ein Substantiv abgeleitet werden: alt → Alter → Alterchen. Es sind also in Wirklichkeit im Grunde zwei Schritte nötig, um diese Art der Ableitung vorzunehmen: zunächst eine Konversion des Adjektivs und im Anschluss daran die Diminution. Insgesamt gesehen gibt es aber nur äußerst wenige Ableitungen dieser Art. Im Fall von dumm findet sich auch die regionale Variante Dummerlein, und es kommt zudem bei diesem Adjektiv auch vor, dass die Diminutivendung direkt 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="96"?> 96 2 Die Wortbildung des Substantivs an das Adjektiv angehängt wird: Dummchen (aber nicht *Dickchen). Dasselbe Phänomen findet sich auch bei früh → Frühchen, klein → Kleinchen, lieb → Liebchen oder bei sensibel → Sensibelchen. Insgesamt ist das Muster jedoch nicht wirklich produktiv. Verliebtheit und Kleinigkeit: -heit, -(ig)keit Die Derivation eines Substantivs aus einem Adjektiv oder Partizip mithilfe eines der drei Suffixe -heit, -keit und -igkeit ist bei einer sehr großen Zahl von Adjektiven möglich: frei → Freiheit, heiter → Heiterkeit, zerstreut → Zerstreutheit etc. In vielen Fällen wird das Adjektiv dabei mit -igerweitert, oder anders ausgedrückt: die Derivation erfolgt mit Hilfe von -igkeit. Dies ist etwa der Fall bei klein → Kleinigkeit, neu → Neuigkeit (neben: Neuheit), süß → Süßigkeit etc. Auf diese Weise gebildete Substantive drücken die im Adjektiv enthaltene Bedeutung in den meisten Fällen als allgemeine, abstrakte Eigenschaft aus; Beispiele wie Süßigkeit oder Kleinigkeit zeigen aber, dass auch konkrete Bedeutungen entstehen können. Dieser Typ der Derivation ist problemlos auch bei solchen Adjektiven möglich, die ihrerseits bereits das Ergebnis von Ableitungen sind: Maß → mäßig → Mäßigkeit, verlieren → verloren → Verlorenheit. Im letzteren Fall bildet ein Partizip Perfekt die Ausgangsbasis, das aber in gleicher Weise wie ein Adjektiv attributiv verwendet werden kann: der verlorene Brief. Diese Möglichkeit besteht immer dann, wenn das Partizip von einem transitiven Verb gebildet wurde und daher eine passivische Bedeutung hat (der verlorene Brief ← der Brief ist/ wurde verloren). Partizipien intransitiver Verben können nur dann attributiv verwendet werden, wenn das Perfekt des Verbs mit sein gebildet wird und das Verb eine perfektive Bedeutung aufweist: die vergangene Zeit ( → die Vergangenheit), das versunkene Eiland (entsprechend, wenn auch mit einer etwas anderen Bedeutung: die Versunkenheit). Aber auch unter diesen Bedingungen ist eine Ableitung nicht ohne weiteres möglich: Substantive wie *Abgereistheit (aus dem intransitiven Verb abreisen, das attributiven Gebrauch zulässt: die abgereisten Touristen) oder Gekochtheit (aus dem transitiven Verb kochen: gekochtes Essen) sind nicht bildbar. Gar nicht möglich ist diese Art der Ableitung normalerweise bei Präsens-Partizipien wie leidend oder sehend (*Leidendheit, *Sehendkeit) sowie bei Adjektiven auf -voll (liebevoll → *Liebevollheit/ keit). Nicht nur für Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, ist natürlich von Interesse, wann welches der drei Suffixe Verwendung findet. Hierfür lassen sich eine Reihe von Regeln aufstellen, von denen einige immer, andere <?page no="97"?> 97 zumindest in der Mehrheit der Fälle gelten. So kommt etwa bei der Derivation aus Partizipien stets -heit zum Einsatz (abgeschlossen → Abgeschlossenheit, geeignet → Geeignetheit, verliebt → Verliebtheit). Dasselbe gilt für Adjektive auf -ern (albern → Albernheit, lüstern → Lüsternheit) und -en (offen → Offenheit, selten → Seltenheit etc.). Wenn man sich die Liste der in Frage kommenden Adjektive näher ansieht, stellt man fest, dass viele von ihnen ursprünglich Partizipien sind (z.-B. anweisen/ angewiesen → Angewiesenheit, bergen/ geborgen → Geborgenheit etc.) oder zumindest große Ähnlichkeit mit Partizipen aufweisen, auch wenn es kein Verb gibt, von dem sie direkt abgeleitet werden können (sog. Pseudopartizipien), z.-B. beleibt → Beleibtheit (*beleiben), kleinkariert → Kleinkariertheit (*karieren oder *kleinkarieren gibt es nicht). Häufig (aber nicht immer) kommt -heit ferner bei einsilbigen Adjektiven sowie bei solchen Adjektiven zum Einsatz, bei denen der Akzent auf der letzten Silbe liegt: frech → Frechheit, neu → Neuheit; gemein → Gemeinheit, gesamt → Gesamtheit etc. In beiden Fällen kommt aber auch -igkeit vor, mitunter sogar parallel zur Bildung auf -heit: neu → Neuigkeit (neben: Neuheit), genau → Genauigkeit etc. Ableitungen auf -keit erfolgen immer dann, wenn das Adjektiv eine der folgenden Endungen aufweist: -bar, -ig, -lich und -sam. Beispiele hierfür wären fruchtbar → Fruchtbarkeit, tapsig → Tapsigkeit, ängstlich → Ängstlichkeit, aufmerksam → Aufmerksamkeit. Auch Derivationen von Adjektiven auf -isch werden so gebildet (mürrisch → Mürrischkeit); sie sind allerdings selten. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass die meisten Adjektive mit dieser Endung Fremd- und Lehnwörter sind (cf. epidemisch, infernalisch, katalytisch, lethargisch, matriarchalisch, phonologisch etc.), die ihrerseits von einem Substantiv abgeleitet sind. Mehrheitlich auf -keit erfolgen Ableitungen aus Adjektiven auf -el und -er: eitel → Eitelkeit, munter → Munterkeit etc. Aus Lehnadjektiven auf -bel (wie blamabel, diskutabel, flexibel, reversibel etc.), deren Endung auf lat. -abilis (cf. englisch able) zurückzuführen ist, werden aber normalerweise keine Substantive dieser Art abgeleitet. Für die erweiterte Endung -igkeit gilt schließlich, dass Adjektive auf -haft und -los regelmäßig diese Endung annehmen: boshaft → Boshaftigkeit, schamlos → Schamlosigkeit etc. Tabellarisch lassen sich die Regeln folgendermaßen zusammenstellen (in Klammern je ein Beispiel für ein so gebildetes Substantiv): 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="98"?> 98 2 Die Wortbildung des Substantivs immer häufig manchmal -heit ▶ Partizipien z.-B. Geeignetheit ▶ Pseudopartizipien z.-B. Befangenheit ▶ Adjektive auf -en z.-B. Seltenheit ▶ Adjektive auf -ern z.-B. Albernheit ▶ einsilbige Adjektive z.-B. Frechheit ▶ endbetonte Adjektive z.-B. Gesundheit -keit ▶ Adjektive auf -bar z.-B. Achtbarkeit ▶ Adjektive auf -ig z.-B. Seligkeit ▶ Adjektive auf -lich z.-B. Köstlichkeit ▶ Adjektive auf -sam z.-B. Achtsamkeit ▶ Adjektive auf -isch z.-B. Störrischkeit ▶ Adjektive auf -el z.-B. Übelkeit ▶ Adjektive auf -er z.-B. Heiterkeit -igkeit ▶ Adjektive auf -haft z.-B. Naschhaftigkeit ▶ Adjektive auf -los z.-B. Ahnungslosigkeit ▶ einsilbige Adjektive z.-B. Süßigkeit ▶ endbetonte Adjektive z.-B. Genauigkeit Erstling und Feigling: -ling Das bei der Modifizierung von Substantiven ausführlich behandelte Suffix -ling ist auch bei der Derivation aus Adjektiven anzutreffen. Hier finden sich neben eher seltenen Tier- und Pilzbezeichnungen wie Blauling/ Bläuling [ein Falter], Breitling [ein Fisch], Grünling [ein Pilz, auch: Vogelart], Rötling [ein Pilz] oder Weißling [ein Falter] sowie teilweise wenig gebräuchlichen Begriffen wie Hartling [Bodenerhebung aus Stein], Herbling [unreife Frucht], Rotling [Weinart] oder Rundling [Runddorf] auch einige frequentere Ableitungen wie Fremd- <?page no="99"?> 99 ling, Neuling oder Wüstling, mit denen Personen bezeichnet werden. Ob ihre Bedeutung pejorativ ist, hängt stark von der Semantik des zugrundliegenden Adjektivs ab. So sind Feiglinge, Naivlinge oder Wüstlinge mit negativen Eigenschaften ausgestattet, während Jünglinge, Mehrlinge oder Neulinge einfach nur jung, zusammen mit Geschwistern geboren oder neu sind. In anderen Fällen wie Schönling ergibt sich die abwertende Konnotation offenbar aus der Tatsache, dass Schönheit als zentrales Wesensmerkmal einer männlichen Person negativ bewertet wird. Derivationen auf -ling sind stets maskulin und können keine movierten Formen auf -in bilden (*Schönlingin). Bitternis und Geheimnis: -nis Sowohl Feminina als auch Neutra können mithilfe des Suffixes -nis abgeleitet werden. Feminina wären z.- B. finster → Finsternis, wild → Wildnis, Wirr → Wirrnis etc. Neutra sind in vielen Fällen von Partizipien abgeleitet, wobei ggf. die Endung -en ausfällt: einverstanden → Einverständnis, gedacht → Gedächtnis, verstanden → Verständnis. Wie die Beispiele zeigen, kommen hier auch Umlaute vor. Das Verfahren ist nicht mehr produktiv. Eigenschaft und Bereitschaft: -schaft Auch mithilfe des Suffix -schaft können Substantive aus Adjektiven und --häufiger -- Partizipien abgeleitet werden. Beispiele dafür wären etwa bekannt → Bekanntschaft, schwanger → Schwangerschaft oder verwandt → Verwandtschaft. Ähnlich wie Derivationen auf -heit und -keit drücken so gebildete Substantive meist eine Eigenschaft oder einen Zustand aus. Allerdings finden sich auch andere Bedeutungen, so etwa bei Barschaft ‚Summe des vorhandenen Bargelds‘ oder Hinterlassenschaft ‚Nachlass‘. Das Suffix geht auf das mittelhochdeutsche Wort schaft (etwa: ‚Beschaffenheit‘) zurück, das seinerseits aus dem Verb schaffen abgeleitet ist. Alle so gebildeten Substantive sind Feminina; das Ableitungsverfahren ist allerdings nicht mehr produktiv. Eigentum und Siechtum: -tum Ein bei Adjektiven eher seltenes Derivationssuffix ist -tum: heilig → Heiligtum, irr → Irrtum, reich → Reichtum. Das Suffix ist aus einem Substantiv tuom entstanden, das im Mhd. u.- a. die Bedeutungen ‚Besitz‘ und ‚Zustand‘ trug. Die 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="100"?> 100 2 Die Wortbildung des Substantivs Anzahl der so aus Adjektiven abgeleiteten Substantive ist sehr begrenzt. Sie sind alle Neutra. 2.2.1.2.2 Anomalie, Anachronismus und Alpinist: Derivation von Substantiven aus Adjektiven mit entlehnten Suffixen Bei Adjektiven, die Fremd- oder Lehnwörter sind, erfolgt die Ableitung meist mit einem Derivationssuffix, das ebenfalls aus fremdsprachlicher Quelle stammt. Dafür kommen in Frage: -anz/ -enz Toleranz/ Konsequenz -e Adverbiale -erie Koketterie -ie Frankophonie -ik Linguistik -iker Theoretiker -ikum Antibiotikum -ismus Aktivismus -ist Humanist -ität Relativität -on Paradoxon Bis auf -erie (z.-B. kokett → Koketterie) und -on (z.-B. paradox → Paradoxon), die eher selten vorkommen, werden diese Suffixe im Folgenden besprochen. Ambulanz und Dekadenz: -anz und -enz Aus Adjektiven, die auf -ant (z.-B. dissonant) oder -ent (z.-B. virulent) enden, können Feminina auf -anz (z.-B. Dissonanz) bzw. -enz (z.-B. Virulenz) abgeleitet werden. Dabei handelt es sich durchweg um Wörter lateinischen Ursprungs, denen teilweise lateinische Partizipien (z.-B. dissonans ‚misstönend‘), teilweise ebensolche Adjektive (z.-B. virulentus ‚giftig‘) zugrunde liegen. Diese Art der Derivation ist recht häufig anzutreffen, und viele Wörter sind auch eher als Lehndenn als Fremdwörter anzusehen, z.- B. brisant → Brisanz, elegant → Eleganz, tolerant → Toleranz oder dement → Demenz, intelligent → Intelligenz, kompetent → Kompetenz. Die Suffixe können außer bei der Ableitung aus Ad- <?page no="101"?> 101 jektiven auch bei der aus Verben vorkommen (z.-B. repräsentieren → Repräsentanz, existieren → Existenz). Adverbiale und Omnivore: -e Das Suffix -e kommt zwar auch bei der Derivation von einheimischen Adjektiven vor (z.- B. weit → Weite). Dort bildet es aber Feminina, während es bei Fremd- und Lehnwörtern, wo das -e auf die lateinische Adjektivendung im Neutrum zurückgeht, Maskulina (z.-B. der Virtuose) und Neutra (z.-B. das Numerale) erzeugt. Beide Typen sind allerdings durchweg bereits als fertige Bildungen aus anderen Sprachen übernommen worden. Bei den Maskulina, wie sie in monoman → Monomane oder virtuos → Virtuose vorliegen, handelt es sich um Personenbezeichnungen. Sie folgen der sog. schwachen Deklination, d. h. sie bilden alle Formen außer dem Nominativ Singular auf -n, und sie können mit -in moviert werden, wobei das -e getilgt wird (z.- B. die Virtuosin). Unter den Neutra sind einige, die vorwiegend im Plural vorkommen, der bei diesen Substantiven auf -ien gebildet wird, z.-B. genital → die Genitalien (seltener: das Genitale). Das Suffix kommt nur bei der Derivation aus Adjektiven vor und ist nicht produktiv. Analogie und Dynastie: -ie Aus Adjektiven abgeleitete Feminina auf -ie gehören mehrheitlich dem Fachwortschatz an (z.-B. Akrozephalie, eine Missbildung des Schädels; Ektomorphie, ein Körperbautyp, oder Porphyrie, ein Typ von Stoffwechselstörung). Es gibt aber auch eine Reihe von Fremd- und Lehnwörtern darunter, die aus dem Französischen übernommen wurden und Eingang in den gehobenen Alltagswortschatz gefunden haben, z.- B. analog → Analogie, infam → Infamie oder orthodox → Orthodoxie. Oft sind solche Bildungen auch dem Französischen nachempfunden, also nicht direkt von dort übernommen worden. Bei Adjektiven auf -isch wird diese Endung zugunsten von -ie getilgt, z.-B. diabolisch → Diabolie, idiotisch → Idiotie, strategisch → Strategie. Das Suffix wird nur zur Ableitung aus Adjektiven verwendet. 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="102"?> 102 2 Die Wortbildung des Substantivs Akrobatik und Linguistik: -ik Im Bereich der Fremd- und Lehnwörter gehören Ableitungen auf -ik zu den häufigsten Derivationen. Sie werden aus Adjektiven abgeleitet, die auf -isch enden, wobei diese Endung zugunsten von -ik getilgt wird: akustisch → Akustik, optisch → Optik, technisch → Technik. Dabei sind die zugrundeliegenden Adjektive auf -isch oft ihrerseits aus einem Substantiv abgeleitet (z.-B. Artist → artistisch → Artistik). Allerdings kommt gelegentlich auch der umgekehrte Ableitungsweg vor, also vom Substantiv auf -ik zum Adjektiv auf -isch (z.- B. Phonetik → phonetisch), so dass nicht in jedem Fall ohne Weiteres erkennbar ist, was woraus abgeleitet wurde. Die Verwendung des Suffixes ist auf Derivationen aus Adjektiven beschränkt. Substantive auf -ik sind Abstrakta. Sie sind stets Feminina. Allergiker und Phlegmatiker: -iker Durch Anfügen von -iker lassen sich aus Adjektiven auf -isch Personenbezeichnungen ableiten, z.-B. asthmatisch → Asthmatiker, fanatisch → Fanatiker, zynisch → Zyniker. Bei der Ableitung wird das -isch getilgt. So gebildete Substantive sind Maskulina; sie bilden den Plural endungslos und können mit -in moviert werden (z.-B. Historiker → Historikerin). Außer bei der Ableitung aus Adjektiven kommt das Suffix auch bei der aus Substantiven vor (z.-B. Alkohol → Alkoholiker). Antidepressivum und Diagnostikum: -ikum Mit dem aus dem Lateinischen stammenden Suffix -ikum werden Begriffe für Heilmittel (z.-B. antibiotisch → Antibiotikum, pharmazeutisch → Pharmazeutikum), aber auch Namen für Prüfungen (z.- B. pädagogisch → Pädagogikum) oder Erdzeitalter (z.-B. neolithisch → Neolithikum) abgeleitet. Grundlage bilden Adjektive auf -isch, wobei diese Endung bei der Derivation getilgt wird. Das Suffix kommt nur bei der Ableitung aus Adjektiven vor, und die damit gebildeten Substantive sind Neutra und bilden ihren Plural nach lateinischem Vorbild durch Abwandlung der Endung -ikum zu -ika (z.-B. Generikum → Generika). <?page no="103"?> 103 Automatismus und Pragmatismus: -ismus Bei -ismus handelt es sich um ein hochfrequentes und auch produktives Derivationssuffix, mit dem aus adjektivischen Fremd- und Lehnwörtern Abstrakta abgeleitet werden können, z.-B. bilingual → Bilingalismus, human → Humanismus. Wie schon bei der Beschreibung der Modifikation von Substantiven erwähnt wurde, wo -ismus ebenfalls vorkommt (z.-B. Alkohol → Alkoholismus), hat sich aus dem Suffix sogar ein eigenständiges Substantiv Ismus entwickelt. Bei der Derivation von Substantiven aus Adjektiven auf -isch wird diese Endung getilgt (z.-B. byzantinisch → Byzantinismus), wobei aber gleichzeitig auch eine Erweiterung um -izstattfinden kann (z.-B. agnostisch → Agnostizismus). Die Adjektivendung -ell erscheint bei der Ableitung in ihrer etymologisch älteren Form -al (z.-B. individuell → Individualismus), und die Endung -är wird in gleicher Weise wieder zu -ar (z.- B. humanitär → Humanitarismus). So gebildete Substantive sind Maskulina und bilden, sofern es sich nicht um Singulariatantum (Wörter, die keinen Plural bilden können) handelt, ihren Plural durch Veränderung des -mus zu -men (z.-B. Modernismus → Modernismen). Aktivist und Bigamist: -ist Auch in -ist liegt ein häufiges und produktives Derivationssuffix vor. Man kann damit in vielen Fällen parallel zu -ismus, das zur Derivation von Abstrakta dient, eine Personenbezeichnung ableiten (z.- B. aktiv → Aktivismus, Aktivist; extrem → Extremismus, Extremist). Zugleich erfolgt hier ebenfalls die Tilgung von -isch (z.-B. moralisch → Moralist) sowie die Rückverwandlung von -är zu -ar (z.-B. monetär → Monetarist) sowie von -ell zu -al (z.-B. individuell → Individualist). Das Suffix kommt auch bei der Ableitung aus Substantiven (z.-B. Kapital → Kapitalist) und gelegentlich auch aus Verben (z.-B. havarieren → Havarist) vor. Mit -ist abgeleitete Substantive sind Maskulina; sie gehören der sog. schwachen Deklination an und bilden sämtliche Formen außer dem Nominativ Singular auf -en (z.-B. der Extremist, des Extremisten, die Extremisten). Mit -in lassen sich daraus Feminina ableiten (z.-B. Aktivist → Aktivistin). 2.2 Derivation von Substantiven aus anderen Wortarten <?page no="104"?> 104 2 Die Wortbildung des Substantivs Akzeptabilität und Rarität: -ität Ableitungen mit dem Suffix -ität sind außerordentlich zahlreich, und auch wenn ein sehr großer Teil davon als Fachwortschatz anzusehen ist (z.-B. Alkalität oder Superfluidität), so spielen sie doch auch im Alltagswortschatz eine nicht zu unterschätzende Rolle (z.- B. aktiv → Aktivität, brutal → Brutalität, rar → Rarität, stabil → Stabilität etc.). Bei Derivationen aus Adjektiven auf -isch wird diese Endung getilgt (z.-B. alkalisch → Alkalität), wobei oft eine Erweiterung um -izerfolgt (z.-B. elektrisch → Elektrizität). Adjektive auf -är verlieren den Umlaut, so dass a entsteht (z.-B. arbiträr → Arbitrarität), und bei Adjektiven auf -ell verwandelt sich das -ell in -al (z.-B. speziell → Spezialität). Mit -ität gebildete Substantive sind stets Feminina. 2.3 Blockade, Gelege, Leben und Liebe: Derivation von Substantiven aus Verben Um Verben in Substantive zu verwandeln, gibt es folgende Möglichkeiten: ▶ Konversion: Das Verb bzw. eine Form davon (Infinitiv, Verbstamm oder eines der Partizipien) wird einfach als Substantiv verwendet (z.- B. Lauf, Schreiben, Studierende); ▶ Suffigierung: Ein Suffix wird an den Verbstamm angefügt (z.-B. Rinnsal, Wanderschaft); ▶ Präfigierung und Zirkumfigierung: Die Ableitung erfolgt entweder mit der Kombination aus dem Präfix ge- und dem Suffix -e oder auch nur mit dem Präfix ge- (z.-B. Gehör, Gerede). 2.3.1 Studierende, Abgeordnete und Wandern: Konversion von Verbformen zu Substantiven Verschiedene Formen eines Verbs können direkt in ein Substantiv umgewandelt werden. Konkret sind das: ▶ Infinitiv (z.-B. lachen → das Lachen) ▶ Partizip Präsens (z.-B. studierend → der/ die Studierende) ▶ Partizip Perfekt (z.-B. abgeordnet → der/ die Abgeordnete) ▶ Stamm <?page no="105"?> 105 ▷ Präsensstamm (z.-B. rufen → der Ruf) ▷ Präteritumsstamm (z.-B. schritt → der Schritt) ▷ Partizipialstamm (z.-B. gegangen → der Gang) Tanzen und Lachen: substantivierte Infinitive Die einfachste Art, aus einem Verb ein Substantiv zu machen, besteht darin, den Infinitiv zu nehmen und ihn zu substantivieren: angeln → das Angeln, tanzen → das Tanzen, wandern → das Wandern etc. Nun sind Infinitive aber als sog. Verbalnomina (Singular: das Verbalnomen) definiert, das heißt als dem Substantiv sehr nahestehende Verbformen, die von jedem Verb gebildet werden können und die daher in vielen Sprachen, so auch im Deutschen, als Lexikoneintrag verwendet werden. Das bedeutet aber zugleich, dass sie nicht das Ergebnis eines Wortbildungsverfahrens, sondern eben ganz normale Verbformen sind. Sie kommen je nach syntaktischer Umgebung mit oder ohne die sog. Infinitivpartikel zu vor (Ich wollte ins Kino gehen vs. Ich hatte Lust, ins Kino zu gehen) und werden bei der Bildung des Futurs sowie der Konjunktivumschreibung mit würde auch in der Morphosyntax verwendet (Ich werde dabei sein, ich würde es dir sagen etc.). Daneben existiert aber auch die regelmäßige Möglichkeit, den Infinitiv mit einem Artikel zu versehen und dann in denselben syntaktischen Funktionen zu verwenden, in denen prototypisch Substantive vorkommen, das heißt als Subjekte oder Objekte: Das Wandern ist des Müllers Lust; Sie mochte das Wandern nicht besonders; Er konnte dem Wandern nichts abgewinnen etc. Hier liegt aus syntaktischer Sicht eindeutig ein Wortartenwechsel vor. Aufgrund der systematischen Möglichkeit, alle Verben in dieser Weise zu verwenden, und da dies eben der Natur des Infinitivs als infiniter, nominaler Verbform entspricht, wird jedoch trotzdem nicht von Wortbildung gesprochen, sondern von einem substantivierten Infinitiv. Dennoch gibt es auch Formen von Wortbildung, bei denen aus einem Infinitiv ein Substantiv entstanden ist. Dann ändert sich die Bedeutung des zugrundeliegenden Verbs, und es ist nicht mehr die damit ausgedrückte Tätigkeit oder der Vorgang gemeint, sondern ein damit verbundener Gegenstand: das Essen kann zwar in einem Satz wie Das Essen fiel ihm nach wie vor schwer ein substantivierter Infinitiv sein, aber in Das Essen steht auf dem Tisch liegt eindeutig eine andere Bedeutung vor. Ebenso ist in Wir haben Ihr Schreiben vom .. dankend erhalten etwas anderes gemeint als etwa in Das Schreiben lateinischer Buchstaben lernt man schnell. In diesen Fällen liegt wirklich Wortbildung vor. 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="106"?> 106 2 Die Wortbildung des Substantivs Studierende und Beamte: Partizipien Auch Partizipien wie schreibend oder geschrieben sind infinite Verbformen; im Unterschied zu Infinitiven sind sie jedoch Verbaladjektive. Wenn man aus Partizipien Substantive bilden möchte - was zwar nicht in allen, aber in vielen Fällen möglich ist -, muss man sie zunächst sozusagen zu „echten“ Adjektiven machen und dann ebenso wie Adjektive substantivieren. Aus diesem Grund werden sie ausführlicher nicht an dieser Stelle, sondern unter den Überschriften „Adjektive aus Verben“ (das wäre der erste Schritt) und „Substantive aus Adjektiven“ (das wäre der zweite Schritt) behandelt. Es gibt allerdings auch einige Fälle, in denen das substantivierte Partizip häufiger ist als seine adjektivischen Verwendungsweisen. Dazu gehören Wörter wie Abgeordnete, Beamte oder Delegierte. Sie folgen morphologisch dennoch nach wie vor der Adjektivdeklination (cf. der Abgeordnete vs. ein Abgeordneter). Am stärksten ist der Übergang zu einem Substantiv bei Beamte fortgeschritten. Zwar bildet das Maskulinum im Singular nach wie vor adjektivische Formen (cf. der Beamte/ ein Beamter), aber anstelle des Femininums die Beamte, das diesem Deklinationstyp entspräche und bei die Abgeordnete oder die Delegierte auch vorliegt, hat sich hier die mit -in movierte Form Beamtin etabliert, die nur bei Substantiven vorkommt. Rat und Ruf: Verbstamm plus Nullmorphem Bei der Ableitung von Substantiven aus einem Verbstamm ohne das Hinzufügen einer Endung - oder anders ausgedrückt: durch das Hinzufügen eines sog. Nullmorphems - handelt es sich um einen Fall der sog. Null-Derivation, also um eine Konversion. Das Verfahren ist nicht mehr produktiv, aber es finden sich zahlreiche Beispiele, bei denen die Ableitung zu einem früheren Zeitpunkt der Sprachgeschichte erfolgt ist. Als Ableitungsbasis kann dabei wie bei kaufen → Kauf, laufen → Lauf oder raten → Rat der Infinitivstamm des Verbs dienen. Es kann sich aber auch um den abgelauteten Präteritums- oder den Partizipialstamm handeln wie in binden (band, gebunden)- → Band, Bund; fressen (fraß, gefressen)- → Fraß; gehen (ging, gegangen)- → Gang; reiten (ritt, geritten)- → Ritt; schwingen (schwang, geschwungen)- → Schwung etc. In seltenen Fällen ist die Bildung wie bei Bedarf (aus dem Präteritumstamm von bedürfen, der heute den Präsensstamm bildet, cf. Kluge 2011 s.-v. bedarf) oder Flug auch auf im Gegenwartsdeutschen so nicht mehr erhaltene Formen zurückzuführen. Gelegentlich <?page no="107"?> 107 finden sich auch verschiedene Ablaute nebeneinander, so etwa bei fließen: das Fließ (veraltet, regional) vs. der Fluss oder bei trinken (trank - getrunken): der Trunk (archaisch, erhalten in Umtrunk) vs. der Trank (z. B. Zaubertrank; cf. auch davon abgeleitet: das Getränk). Oft kann man nur durch Nachschlagen in einem etymologischen Lexikon herausfinden, ob das Substantiv vom Verb oder umgekehrt das Verb vom Substantiv abgeleitet ist. Wenn es sich beim Verb jedoch um ein starkes oder unregelmäßiges Verb handelt, also eines, das bei der Formenbildung Vokalwechsel oder ggf. noch weitere Veränderungen aufweist, kann man sicher annehmen, dass es zuerst da war: gehen ist älter als das von ihm abgeleitete Gang, fließen älter als das von ihm abgeleitete Fluss. Umgekehrt ist ein Umlaut im Verb gegenüber dem Substantiv wie bei hämmern (← Hammer) ein Hinweis darauf, dass das Substantiv älter ist und das Verb von ihm abgeleitet wurde. Verbstamm-Derivationen dieser Art sind sehr zahlreich, wobei starke sowie präfigierte Verben (incl. Partikelverben) dabei zu überwiegen scheinen (cf. Fleischer/ Barz 2012: 268). Sie sind mit ganz wenigen Ausnahmen (das Entgelt, das Verhör) immer Maskulinum und bilden in der Mehrheit der Fälle ihren Plural auf -e und mit Umlaut (z. B. Band → Bände, Fluss → Flüsse). 2.3.2 Eindringling, Gehege, Leistung und Stickerei: Suffixderivation von Substantiven aus Verben Außer der Konversion gibt es auch bei Verben die Möglichkeit, zum Zweck der Ableitung Affixe zu verwenden. Dabei kommen sowohl einheimische (z. B. Verderbnis) als auch entlehnte Suffixe (z. B. Havarist) sowie das Zirkumfix geplus -e (z. B. Gebinde) in Frage. 2.3.2.1 Anhängsel, Gabe und Verhältnis: Derivation von Substantiven aus Verben mit einheimischen Suffixen Für die Ableitung von Substantiven aus Verben stehen die folgenden einheimischen Suffixe zur Verfügung, die im Anschluss in alphabetischer Reihenfolge besprochen werden: -e Binde -er Sprecher -(er)ei Raserei 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="108"?> 108 2 Die Wortbildung des Substantivs -ling Setzling -nis Ärgernis -sal Rinnsal -schaft Wanderschaft -sel Mitbringsel -ung Umleitung Ferner findet sich hier das Zirkumfix geplus -e (z.- B. winden → Gewinde), bei dem manchmal das -e ausfallen kann, so dass man das verbleibende gein diesen Fällen auch als Präfix betrachten könnte (z.- B. wachsen → Gewächs). Einzelnes gewird im Folgenden jedoch im Anschluss an die Suffixe zusammen mit dem Zirkumfix ge- -e besprochen. Frage und Glotze: -e Im Gegensatz zu den Null-Derivationen aus Verbstämmen sind solche auf -e stets Femininum: binden → die Binde, fragen → die Frage, wenden → die Wende. Auch hier kann ein anderer Vokal als der des Infinitivs Präsens zugrunde liegen. So ist etwa Hilfe mit dem umgelauteten i der Präsensformen der 2. und 3. Person (helfen - du hilfst, er/ sie hilft) gebildet, und dem Substantiv Lage liegt der Präteritumsstamm des Verbs (liegen - lag) zugrunde. Aus Verbstämmen auf -e gebildete Substantive sind sehr häufig (z.-B. Ausrede, Bitte, Ernte, Frage, Gabe, Hocke, Knarre, Lüge, Winde, Zugabe, um nur einige Beispiele zu nennen). Sie können Gegenstände bezeichnen, die für die im Verb ausgedrückte Handlung verwendet werden (Nomina Instrumenti; z.-B. Binde, Waage), aber auch Tätigkeiten (Nomina Actionis, z.-B. Frage, Hilfe) oder Orte (Nomina Loci, z.-B. Bleibe, Tanke; cf. Fleischer/ Barz 2012: 195). Hier wie auch in den meisten anderen Fällen ist eine eindeutige Zuordnung zu semantischen Klassen nicht wirklich möglich, zumal sie sich oft überschneiden. So bezeichnet das vom heute kaum noch gebräuchlichen Verb schwemmen (ein Kausativum zu schwimmen, das ‚schwimmen machen‘ bedeutet, cf. z.-B. Pferdeschwemme) abgeleitete Schwemme von Anfang an sowohl die „handlung“ als auch den „ort des schwemmens“ (DWB s.-v. Schwemme). Als weitere Bedeutung entwickelte sich daraus ‚Überschwemmung‘, eine Bedeutung, die sich aktuell in rechtspolitischen Metaphern wie Flüchtlingsschwemme oder Migrantenschwemme wiederfindet. <?page no="109"?> 109 Die Derivation auf -e ist in der Umgangssprache produktiv, wo sich Bildungen wie anmachen → Anmache, glotzen → Glotze, schreiben → Schreibe oder auch tanken → Tanke (was man allerdings auch als Kurzform von Tankstelle interpretieren kann) finden lassen. Diese Ableitungen haben interessanterweise im Unterschied zu den etablierten Bildungen eine pejorative Konnotation. Absender und Empfänger: -er Das häufigste und auch produktivste unter den Suffixen, mit denen Substantive aus Verben deriviert werden können, ist -er. Es dient dazu, Wörter zum Ausdruck der handelnden Person (sog. Nomina Agentis, z.-B. begleiten → Begleiter) sowie solche zum Ausdruck des Mittels (sog. Nomina Instrumenti, z.-B. trocknen → Trockner) und in seltenen Fällen auch zum Ausdruck des Ergebnisses der Handlung (sog. Nomina Acti, z.-B. rülpsen → Rülpser) zu bilden. Daneben gibt es aber auch Derivationen auf -er, die nicht unter diese Kategorien gefasst werden können, so etwa beim umgangssprachlichen Begriff Absacker für ein letztes alkoholisches Getränk. Bei der Ableitung wird die Infinitivendung -en bzw. -n getilgt und durch -er ersetzt, z.-B. finden → Finder, plündern → Plünderer. Bei Verben auf -eln entfällt auch das e der Infinitivendung und nur das l bleibt erhalten, z.-B. basteln → Bastler. Auch Umlaute können durch diese Art der Wortbildung ausgelöst werden: beitragen → Beiträger, empfangen → Empfänger, kaufen → Käufer; synchron nicht mehr sofort erkennbar: tummeln → Tümmler. Gelegentlich kommt die Ableitung mit Umlaut neben der ohne vor, wobei dann ein Bedeutungsunterschied entsteht, z.-B. hocken → Hocker/ Höcker, schlachten → Schlachter/ Schlächter, schlagen → Schlager/ Schläger (Beispiele nach Donalies 2018: 29). Dass die Derivation mit -er produktiv ist, zeigen neuere Bildungen wie twittern → Twitterer. Das Suffix kommt außer bei der Ableitung von Substantiven aus Verben auch bei der Modifikation von Substantiven vor (z. B. Dampf → Dampfer). Schnitzerei und Tanzerei: -(er)ei Mit dem Suffix -erei bzw. -ei (bei Verben auf -eln und auf -ern) lassen sich Substantive ableiten, die den Ort oder das Ergebnis der im Verb ausgedrückten Tätigkeit, aber auch diese selbst bezeichnen können, z. B. schnitzen → Schnitzerei, spinnen → Spinnerei, weben → Weberei, blödeln → Blödelei, klettern → Kletterei. Das Suffix ist produktiv. Bei ad-hoc-Bildungen, die jederzeit möglich sind, wird 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="110"?> 110 2 Die Wortbildung des Substantivs normalerweise die im Verb ausgedrückte Tätigkeit benannt und dabei zugleich mit einer pejorativen Konnotation versehen: seine ewige Putzerei, diese monotone Rumliegerei, die endlose Schlangesteherei etc. Dem letztgenannten Beispiel liegt ein Syntagma zugrunde (Schlange stehen), denn *Steherei alleine dürfte wohl kaum gebildet werden. In anderen Fällen wie Geschirrspülerei, Schuhpoliererei o.-Ä. kann man hingegen alternativ jeweils auch ein Kompositum aus Spülerei bzw. Poliererei mit Geschirr resp. Schuh ansetzen. Die Derivation von Substantiven auf -erei und -ei unterliegt nur wenigen Beschränkungen (cf. Harden 2003: 129). Die so gebildeten Substantive sind immer Feminina. Wenn sie Konkretes bezeichnen wie z.-B. Schnitzerei oder Klöppelei, können sie einen regulären Plural auf -en bilden; in allen anderen Fällen ist Pluralbildung nicht möglich, sie sind dann also sog. Singulariatantum. Dass auf -(er)ei, aber auch mit dem Zirkumfix Ge- -e (siehe hierzu ausführlicher im Folgenden) gebildete Substantive meist eine pejorative Bedeutungskomponente haben, verdeutlicht Theo Hardens (2003) Aufsatztitel „Die Tanzerei und das Gesinge“ gut. Allerdings gilt das keineswegs für alle Derivationen dieser Art. Etablierte, schon seit längerer Zeit im Lexikon verankerte -(er)ei-Bildungen wie Stickerei (← sticken), Strickerei (← stricken) oder Weberei (← weben) sowie viele der häufigeren Derivationen auf Ge- -e wie Gebilde (← bilden), Gedanke (← denken) oder Gelege (← legen) haben keinen solchen Bedeutungsanteil. Die negative semantische Komponente scheint sich jedoch bei neueren und insbesondere bei ad-hoc-Bildungen regelmäßig einzustellen: Selbst wenn man von semantisch eher positiv konnotierten Verben wie küssen oder schenken Substantive wie die Küsserei/ das Geküsse bzw. die Schenkerei/ das Geschenke ableitet, wird das Ergebnis in jedem Fall als abwertend interpretiert. Schützlinge und Eindringlinge: -ling Substantive auf -ling können sowohl aus Substantiven (Faust → Fäustling) als auch von Adjektiven (fremd → Fremdling) und Verben (setzen → Setzling) abgeleitet werden. Eine ausführlichere Besprechung der verschiedenen Bedeutungsaspekte, die solche Formen aufweisen können, findet sich bei der Beschreibung des Suffixes zur Modifikation von Substantiven. Wenn Wörter auf -ling aus Verben abgeleitet werden, kann sowohl der Präsensstamm des Verbs (eindringen → Eindringling) als auch eine andere Form zugrunde gelegt werden, so etwa der Präteritumsstamm im Falle von ziehen - zog → Zögling. Die <?page no="111"?> 111 zugrundeliegende Verbbedeutung kann dabei aktiv zu interpretieren sein wie bei Ankömmling: ‚jemand, der ankommt‘ oder Flüchtling ‚jemand, der flüchtet‘ (sog. Nomina Agentis), aber auch passiv wie bei Findling ‚Kind, das gefunden wird‘ (auch: ‚großer Stein, der sich in der Landschaft findet‘) oder Setzling ‚Pflanze, die gesetzt (und nicht gesät) wird‘ (sog. Nomina Patientis). Alle auf -ling gebildeten Substantive sind Maskulina. Sie bilden den Plural auf -e, und zumindest unter normativen Gesichtspunkten ist bei ihnen keine Movierung auf -in möglich. Das Besäufnis und die Erkenntnis: -nis Das Suffix -nis kann ausschließlich zur Derivation von Substantiven aus Verben verwendet werden und kommt nicht mit anderen Wortarten als Basis vor. Als Ergebnis entstehen sowohl Feminina als auch (etwas häufiger) Neutra. Beispiele für Feminina wären betrüben → die Betrübnis, erlauben → die Erlaubnis, verdammen → die Verdammnis; Neutra sind hingegen ärgern → das Ärgernis, gleichen → das Gleichnis, verloben → das Verlöbnis etc. Wie das letztgenannte Beispiel zeigt, können hier auch Umlaute auftreten (ebenso: empfangen → Empfängnis, begraben → Begräbnis, besaufen → Besäufnis). Die so gebildeten Wörter sind durchweg Abstrakta. Feminina wie Neutra bilden ihren Plural auf -e, wobei bei der Schreibung das s des Auslauts verdoppelt wird, z.-B. Befugnisse, Erkenntnisse, Versäumnisse, Vorkommnisse etc. Rinnsal und Schicksal: -sal Fast ausschließlich aus Verben werden mithilfe von -sal Substantive gebildet, z.- B. laben → Labsal, rinnen → Rinnsal, schicken → Schicksal. Das Suffix ist nicht mehr produktiv, und die so gebildeten Wörter können sowohl Feminina (die --auch: das - Labsal) als auch Neutra sein (das Schicksal). In seltenen Einzelfällen können auch Substantive (Mühe → Mühsal) oder Adjektive (trüb → Trübsal) die Basis für die Ableitung bilden. Rechenschaft und Wanderschaft: -schaft Das Suffix -schaft wird eher selten verwendet, um Substantive aus Adjektiven (z.-B. bereit → Bereitschaft) oder Verben abzuleiten; sehr viel häufiger dient es zur Modifikation von Substantiven (z.-B. Meister → Meisterschaft). Es kommen 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="112"?> 112 2 Die Wortbildung des Substantivs aber auch Ableitungen aus Verben vor, z.-B. belegen → Belegschaft, pflegen → Pflegschaft, rechnen → Rechenschaft, wandern → Wanderschaft. Die so gebildeten Substantive sind Feminina. Anhängsel und Geschreibsel: -sel Das historisch mit -sal verwandte, aber häufiger als dieses vorkommende Suffix -sel kann ausschließlich dazu verwendet werden, Substantive aus Verben abzuleiten: mitbringen → Mitbringsel, füllen → Füllsel, gerinnen → Gerinnsel etc. In Kombination mit dem Präfix geentsteht eine leicht pejorative Bedeutungskomponente: Gemengsel, Geschreibsel (bei Gerinnsel hingegen gehört das gebereits zum Verbstamm gerinnen). In einigen Fällen liegt die Wortbildung bereits weit in der Sprachgeschichte zurück und ist nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar, so etwa bei dem aus stoppen abgeleiteten Stöpsel. Während Stöpsel ebenso wie das von hacken abgeleitete Wort Häcksel und das aus streuen gebildete Substantiv Streusel Maskulina sind, sind die anderen Derivate auf -sel Neutra. Sie alle bilden den Plural endungslos. Wie bei hacken → Häcksel verursacht die Derivation auch bei raten → Rätsel einen Umlaut. Leistung und Belohnung: -ung Wenn auch bei weitem nicht aus allen, so lässt sich doch aus einer bemerkenswert großen Zahl von Verben mithilfe des hoch produktiven Suffixes -ung ein Substantiv ableiten, z.-B. bearbeiten → Bearbeitung, leiten → Leitung, warnen → Warnung etc. Ausgeschlossen ist die Ableitung von Substantiven mittels -ung dann, wenn bereits eine andere substantivische Ableitung aus demselben Verb existiert; das ist beispielsweise bei arbeiten → Arbeit ( → *Arbeitung) oder schreiten → Schritt ( → *Schreitung) der Fall. Interessanterweise können aber -ung-Substantive aus Verben mit Präfix resp. trennbarer Verbpartikel häufig auch dann gebildet werden, wenn das Simplex die entsprechende Bildung nicht zulässt, z.-B. arbeiten → *Arbeitung vs. bearbeiten → Bearbeitung. Fleischer/ Barz (2012: 226) weisen zudem darauf hin, dass Verben auf -igen wie befriedigen → Befriedigung oder reinigen → Reinigung durchgängig, Verben auf -ieren wie aktualisieren → Aktualisierung oder verzieren → Verzierung mehrheitlich eine Ableitung auf -ung zulassen. Bei anderen Verbtypen ist die Vorhersage schwieriger, und genaue Regeln dafür, wann eine Bildung dieser Art möglich ist und wann nicht, lassen sich nicht aufstellen. Das Suffix kommt, wenngleich seltener, <?page no="113"?> 113 auch bei der Modifikation von Substantiven vor (z.-B. Stall → Stallung). Alle so gebildeten Wörter sind Feminina. Gedrängel, Gelege und Gesinge: ge- und geplus -e Bei der Kombination aus ge- und -e handelt es sich um ein sehr produktives Zirkumfix zur Ableitung von Substantiven aus Verben (z.-B. drängen → Gedränge, reden → Gerede, schieben → Geschiebe etc.). Auch Bildungen, die nur mit dem Präfix geerfolgen, kommen vor; besonders typisch sind sie bei Verben auf -eln: (z.-B. schaukeln → Geschaukel) aber sie können auch bei anderen Verben auftreten (z.-B. suchen → Gesuch). Gelegentlich finden sich auch Ableitungen aus dem Präteritumsstamm: bieten → bot → Gebot, liegen → lag → Gelage. Diese Bildungsweise ist allerdings nicht mehr produktiv. In seltenen Fällen führt die Ableitung auch zu einem Umlaut (z.-B. blasen → Gebläse). Donalies (2018: 30) hat beobachtet, dass der Umlaut bei Derivationen aus Verben auf ge- und -e nie Nomina actionis, also Substantive zum Ausdruck der Handlung, betrifft, sondern nur solche, die „Sachen und Sachverhalte“ bezeichnen. Bei trennbaren Verben tritt das -geganz parallel zur Bildung des Partizips zwischen Verbpartikel und Verbstamm, z.-B. rummachen → Rumgemache (cf. rumgemacht) vordrängeln → Vorgedrängel (cf. vorgedrängelt) etc. Substantive von Verben auf -ieren (z.- B. frisieren → *Gefrisiere) sowie von Verben mit untrennbaren Präfixen (z.- B. besichtigen → *Gebesichtige) können nicht auf diese Weise abgeleitet werden, obgleich bei ersteren in Einzelfällen spontane ad-hoc-Bildungen des Typs das ewige Rumgetelefoniere zu beobachten sind. Bevorzugt, da ohne Einschränkung möglich, wird bei Verben dieses Typs allerdings die Bildung auf -erei: die ewige Rumtelefoniererei (cf. hierzu ausführlicher Harden 2003: 127-130). Mit gegebildete Substantive können das Ergebnis der im Verb bezeichneten Handlung (Nomen Acti, z.-B. Gelege), die Handlung selbst (Nomen Actionis, z.- B. Gesinge) oder auch das Mittel zur Durchführung der Handlung (Nomen Instrumenti, z.-B. Gewürz) bezeichnen. Mit gebzw. ge- -e gebildete Wörter sind Neutra, und sie sind Singulariatantum (sie können also keinen Plural bilden). Bildungen dieses Typs kommen auch bei der Modifikation von Substantiven vor (z.- B. Ast → Geäst, Berg → Gebirge). 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="114"?> 114 2 Die Wortbildung des Substantivs 2.3.2.2 Bummelant, Friseur und Sponsor: Derivation von Substantiven aus Verben mit entlehnten Suffixen Wie bei der Modifikation von Substantiven, findet sich auch bei der Ableitung von Substantiven aus Verben eine erstaunliche große Zahl von Suffixen, die aus Fremdsprachen übernommen wurden. In einigen Fällen handelt es sich dabei um dieselben Morpheme, die auch bei der Modifikation von Substantiven oder bei der Derivation aus Adjektiven benutzt werden. -ade Blockade -age Kolportage -ament/ -ement/ -iment Parlament, Raffinement, Sortiment -and/ -end Konfirmand, Promovend -ans/ -ens Stimulans, Adstringens -ant Praktikant, Student -anz/ -enz Monstranz, Existenz -ar Kommentar -at Lizentiat -ate Frittate -ateur/ -iteur/ -eur Animateur, Spediteur, Friseur -ation/ -ition Dekoration, Addition -ator/ -itor/ -or Restaurator, Inquisitor, Aggressor -atur/ -itur/ -ur Diktatur, Garnitur, Frisur -ee/ é(e) Attaché -erie Raffinerie -euse Friseuse -ion Adoption -ist Publizist -it Konvertit -itis Aufschieberitis -ium Studium Die Mehrheit dieser Suffixe verbindet sich vorzugweise oder auch ausschließlich mit Verben auf -ieren. Viele davon kommen allerdings eher selten vor oder sind fast ausschließlich in bereits als fertig gebildete Formen übernommenen Fremd- und Lehnwörtern zu finden. Im Folgenden werden nur die häufigsten exogenen Suffixe, die auch im Deutschen angewandt werden oder wurden, besprochen. <?page no="115"?> 115 Blockade und Marinade: -ade Von zahlreichen Verben auf -ieren lassen sich mithilfe des ursprünglich aus dem Lateinischen stammenden, meist über das Französische ins Deutsche gekommenen Suffixes -ade (lat. -atus cf. Kluge 2012 s.-v. -ade) Substantive ableiten: blockieren → Blockade, marinieren → Marinade, promenieren → Promenade etc. In einigen Fällen sind so gebildete Substantive aber auch direkt aus dem Französischen übernommen worden, so etwa bei Balustrade oder Eskapade, oder sie wurden parallel zu romanischen Sprachen auf der Basis lateinischer Verben abgeleitet, so etwa bei Intrade (Eröffnungs-Musikstück; cf. lat. intrare, span. entrada) oder Ligade (Bewegung beim Fechten; cf. lat. ligare). Das Suffix kommt außer bei der Ableitung von Substantiven aus Verben auch bei der Modifikation von Substantiven vor (z.-B. Kanone → Kanonade). Alle so gebildeten Substantive sind Feminina. Montage und Reportage: -age Bei -age handelt es sich um ein französisches Wortbildungssuffix, und die Mehrzahl der damit gebildeten Wörter wurde direkt aus dem Französischen entlehnt und nicht erst im Deutschen gebildet. Dennoch gibt es auch einige, die auf der Basis des französischen Musters im Deutschen entstanden sind, so etwa blamieren → Blamage oder spionieren → Spionage. Das Suffix kommt nur bei verbalen Basen vor; die Endung -ieren wird bei der Ableitung getilgt. Die so gebildeten Substantive sind Feminina; semantisch dienen sie mehrheitlich dem Ausdruck einer Handlung (sog. Nomina Actionis). Praktikant, Student, Doktorand: -and/ -end und ant-/ -ent Die Suffixe -and/ -end und -ant/ -ent gehen auf lateinische Verbformen zurück. Sie sind aber inzwischen so gut ins Deutsche integriert, dass man in zahlreichen Fällen nicht mehr ohne weiteres erkennen kann, welche Formen ihnen ursprünglich zugrunde lagen. 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="116"?> 116 2 Die Wortbildung des Substantivs Die Suffixe -ant und -ent gehen auf ein aktives, die Suffixe -and und -end auf ein passivisches Partizip des Lateinischen zurück. So lautet beispielsweise das lateinische Partizip Präsens Aktiv zu mandare (‚anvertrauen‘) mandans (‚der/ die Anvertrauende‘), das zu studere (‚studieren‘) studens (‚der/ die Studierende‘), wobei das -s die Nominativ-Endung ist und überall sonst ein -t erscheint, sobald die Form flektiert wird. Daraus entstanden der Mandant und der Student. Bei den Endungen -and/ -end liegt hingegen ein passivisches Partizip mit modaler Bedeutung (‚muss‘ oder ‚kann‘) vor, das als Gerundivum bezeichnet wird. Ein Satz wie liber legendus est bedeutet auf Deutsch ‚das Buch ist zu lesen‘ (wörtlich: ‚Buch zu lesendes ist‘). Entsprechend ist ein Doktorand eigentlich jemand, der zu doktorieren (im Sinne von: mit der Doktorwürde zu versehen) ist, und ein Promovend ist zu promovieren. Infolge der deutschen Aussprache, bei der stimmhafte Verschlusslaute wie d im Auslaut stimmlos werden (sog. Auslautverhärtung), sind die Endungen beim Sprechen nicht zu unterscheiden, was zu Verwechslungen und Fehlern bei der Schreibung führen kann (etwa: *Doktorant statt Doktorand). Synchron dürften die meisten Sprachnutzer bei Praktikant wohl eher an das Wort Praktikum oder bei Doktorand an Doktor als an die lateinischen Verben wie practicare und docere denken, die eigentlich die Grundlage bilden. Auch Wörter wie Konkurrent oder Patient gehen auf lateinische Verbformen zurück (hier: concurrens, etwa: ‚der/ die Zusammenstoßende, Angreifende‘, und patiens ‚der/ die Leidende‘). Beispiele auf -and wären Multiplikand (‚das zu Multiplizierende‘) oder Proband (eigentlich: ‚der zu Erprobende‘). Alle diese Formen sind nicht im Deutschen gebildet, sondern direkt aus dem Lateinischen übernommen worden. Aber auch im Deutschen können Ableitungen auf -ant/ -ent vorkommen, wobei die Verbendung -ieren getilgt wird: referieren → Referent, repräsentieren → Repräsentant. Das Suffix, das nur bei der Ableitung von Substantiven aus Verben vorkommt, ist bei Fremdwörtern beschränkt produktiv, und man findet aktuelle Bildungen wie twittern → Twitterant. Unabhängig von ihrer Ableitungsgeschichte sind alle so gebildeten Substantive Maskulina. Es handelt sich dabei mehrheitlich um Personenbezeichnungen, die der sog. schwachen Deklination folgen (also sämtliche Formen außer dem Nominativ Singular auf -en bilden) und mithilfe des Suffix -in in Feminina verwandelt werden können (z.- B. Doktorand → Doktorandin, Praktikant → Praktikantin). <?page no="117"?> 117 Akzeptanz und Toleranz: -anz/ -enz Aus Verben auf -ieren lassen sich in einigen Fällen Substantive auf -anz oder -enz ableiten: hospitieren → Hospitanz, repräsentieren → Repräsentanz; assistieren → Assistenz, korrespondieren → Korrespondenz. Wie die Beispiele zeigen, wird die Endung -ieren dabei getilgt. Die Formen gehen sprachgeschichtlich auf das Lateinische zurück, wo sich die Endungen -antia (z.-B. tolerantia ‚Toleranz‘) und -entia (z.-B. corpulentia ‚Korpulenz‘) finden, die bei der Entlehnung zu -anz und -enz verkürzt wurden. In vielen Fällen handelt es sich bei Substantiven auf -anz bzw. -enz um Formen, die direkt aus einer anderen Sprache entlehnt wurden, so etwa auch bei Assekuranz (aus ital. assicuranzia) oder Konkurrenz (aus mlat. concurrencia; cf. DWDS s.-v. Assekuranz, Konkurrenz). Mit -anz und -enz können nicht nur aus Verben, sondern auch aus Adjektiven Substantive abgeleitet werden (z.- B. ambulant → Ambulanz; dement → Demenz). Alle so gebildeten Substantive sind Feminina. Adressat und Granulat: -at Das Suffix -at geht auf die lateinische Endung -atus zurück und kann im Deutschen sowohl zur Bildung von Maskulina (in der Regel Personenbezeichnungen) als auch von Neutra (z.-B. adressieren → der Adressat, exponieren → das Exponat) dienen, die unter Tilgung der Endung -ieren aus den entsprechenden Verben abgeleitet werden. Gelegentlich kommen auch beide Genera beim selben Wort vor, wobei sich ein Bedeutungsunterschied ergibt: das Lizenziat (akademischer Grad) vs. der Lizenziat (Inhaber dieses Grades). Wie bei diesem Beispiel lässt sich auch bei vielen anderen oft nicht ohne weiteres entscheiden, ob die Form im Deutschen aus einem Verb (hier: lizenzieren) gebildet oder ob das Wort direkt aus dem Lateinischen übernommen wurde, was häufig der Fall ist. Maskulina auf -at folgen der sog. schwachen Deklination, d. h. alle Formen außer dem Nominativ Singular enden auf -en (z.-B. dem Adressaten, die Delegaten). Neutra bilden hingegen den Genitiv Singular auf -s und den Plural auf -e (des Exponats, die Destillate). Das Suffix kommt auch bei der Modifizierung von Substantiven vor (z.-B. Diplom → der Diplomat, Konsul → das Konsulat). Es ist nicht mehr produktiv. 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="118"?> 118 2 Die Wortbildung des Substantivs Konspirateur und Redakteur, Okkupator und Reaktor: -ateur, -eur; -ator, -or Ob Personenbezeichnungen auf -ateur wie Animateur oder Installateur aus den entsprechenden Substantiven auf -ation (hier: Animation, Installation) oder aus den Verben (hier: animieren, installieren) abgeleitet sind, lässt sich meist nicht auf den ersten Blick erkennen. Im Einzelfall können unterschiedliche Wege vorliegen; zudem wurden viele so gebildete Wörter schon im Französischen abgeleitet und dann ins Deutsche entlehnt. Anders liegt der Fall bei nur auf -eur gebildeten Personenbezeichnungen wie dressieren → Dresseur, frisieren → Friseur, hypnotisieren → Hypnotiseur etc., die unter Tilgung der Verbendung aus Verben auf -ieren abgeleitet sind. Alle so gebildeten Substantive sind Maskulina; sie bilden den Plural auf -e und können mit -in moviert werden (z.-B. Exporteurin, Monteurin). Daneben kommen gelegentlich aber auch aus dem Französischen übernommene Movierungen mit dem Suffix -euse vor, das an die Stelle von -eur tritt, z.-B. Masseur → Masseuse (neben: Masseurin). Außer bei der Ableitung von Substantiven aus Verben kommt das Suffix -eur auch bei der Modifikation von Substantiven vor (z.-B. Parfüm → Parfümeur). Gelegentlich findet man anstelle von -eur auch die an die Aussprache angepasste deutsche Schreibweise <ör> (z.-B. Frisör). In einigen Fällen existiert parallel zum aus dem Französischen entlehnten Substantiv auf -ateur auch ein zweites, das mit der lateinischen Grundlage -ator gebildet ist, die auch dem französischen Suffix zugrunde liegt. Dabei besteht jeweils ein Bedeutungsunterschied: Animator (‚Zeichner‘) vs. Animateur (‚Unterhalter‘), Restaurator (‚jemand, der Kunstwerke restauriert‘) vs. Restaurateur (‚Gastwirt‘) etc. Daneben gibt es aber auch eine ganze Reihe von Bildungen, die nur in der Variante -ator existieren. Sie wurden aus dem Lateinischen übernommen oder nach seinem Muster gebildet, z.-B. defibrillieren → Defibrillator, konservieren → Konservator, moderieren → Moderator. Auch bei -ator gibt es daneben eine kürzere Form -or, die sich in Wörtern wie Faktor, Professor oder Rotor findet. Diese Substantive sind durchweg direkt aus dem Lateinischen entlehnt worden. Die Suffixe -ator und -or entsprechen ebenso wie die daraus abgeleiteten französischen Formen -ateur und -eur in ihrer Funktion dem deutschen Suffix -er (z.-B. finden → Finder) und dienen wie dieses vorwiegend zur Bildung von Nomina Agentis (zum Ausdruck der handelnden Person, z.- B. Rektor) sowie von Nomina Instrumenti (z.-B. Reflektor). Die Bildungsweise ist nicht produktiv. Alle so gebildeten Substantive sind Maskulina und bilden den Genitiv Singular <?page no="119"?> 119 auf -s, den Plural jedoch auf -en (sog. gemischte Deklination): des Sektors, die Sektoren. Wenn es sich um Personenbezeichnungen handelt, können sie mit -in moviert werden (z.-B. Juror → Jurorin). Administration, Tradition und Rebellion: -ion und -tion Unter den abgeleiteten substantivischen Fremd- und Lehnwörtern sind die auf -ion und -tion (auch als -ation, -ition) vermutlich mit Abstand die häufigsten. Sie sind in ihrer großen Mehrzahl nicht das Ergebnis von Wortbildungsverfahren im Deutschen, sondern wurden als fertig gebildete Wörter aus anderen Sprachen übernommen. Besonders deutlich wird das dort, wo es gar kein entsprechendes deutsches Wort gibt, das als Quelle für eine Ableitung in Frage käme, so etwa bei Aggression (aus lat. aggressio ‚Angriff ‘), Emotion (übernommen aus franz. émotion), Koalition (über das Französische aus engl. coalition) oder Region (aus lat. regio ‚Gegend‘). Nur selten finden sich Substantive, die nach diesem Muster auf der Grundlage deutschen Verben auf -ieren entstanden sind, so etwa investieren → Investition, isolieren → Isolation oder transkribieren → Transkription (in der modernen Bedeutung). Das Suffix kommt nur bei der Derivation aus Verben vor. Alle so gebildeten Substantive sind Feminina. Diktatur und Dressur: -atur, -itur und -ur Substantive auf -atur, -itur und -ur wurden mehrheitlich direkt aus anderen Sprachen - vorwiegend dem Lateinischen (z.-B. Temperatur, Konjunktur), aber auch dem Französischen (z.-B. Garnitur) oder dem Italienischen (z.-B. Tastatur) - entlehnt und nicht im Deutschen gebildet. Dennoch gibt es auch Fälle, in denen das Suffix produktiv im Deutschen genutzt wurde, so etwa bei gravieren → Gravur, kandidieren → Kandidatur. Während -atur und -itur nur bei Ableitungen aus Verben vorkommen, findet sich -ur auch bei der Modifikation von Substantiven (z.-B. Apparat → Apparatur). Alle so gebildeten Substantive sind Feminina. Havarist und Publizist: -ist Aus Verben auf -ieren können Substantive auf -ist abgeleitet werden, z.- B. havarieren → Havarist, komponieren → Komponist, publizieren → Publizist. Allerdings sind solche Derivationen aus Verben eher selten (häufiger sind 2.3 Derivation von Substantiven aus Verben <?page no="120"?> 120 2 Die Wortbildung des Substantivs solche aus Adjektiven, z.-B. sozial → Sozialist; daneben gibt es auch solche aus Substantiven, z.-B. Mao → Maoist), und in den meisten Fällen handelt es sich um Entlehnungen aus anderen Sprachen. Substantive auf -ist sind Maskulina und bilden sämtliche Formen außer dem Nominativ Singular auf -en (sog. schwache Deklination). Sie können mit -in moviert werden, z.-B. Komponist → Komponistin, Publizist → Publizistin. Aufschieberitis und Verdrängeritis: -(er)itis Das eigentlich für die Bildung medizinischer Fachbegriffe für entzündliche Krankheiten zuständige Suffix -itis (z.-B. Colitis ‚Dickdarmentzündung‘, Enzephalitis ‚Gehirnentzündung‘, Hepatitis ‚Leberentzündung‘ etc.) kann in der Umgangssprache auch zur Wortbildung mit deutschen Basen verwendet werden. Dabei kommen sowohl Substantive (z.-B. Twitter → Twitteritis) als auch Verben in Frage. Bei Adjektiven hingegen scheint es anders als bei Donalies (2011: 148, Beispiel dort: Banalitis) angegeben nicht vorzukommen. Bei Verben erfolgt im Standardfall eine Erweiterung des Verbstamms mit -er- (z.- B. aufschieben → Aufschieberitis, umbenennen → Umbenenneritis etc.). Daher könnte man auch eine zweischrittige Ableitung mit einem Maskulinum auf -er als Zwischenschritt annehmen, also z.-B. aufschieben → Aufschieber → Aufschieberitis. Abgesehen davon, dass die auf -er gebildeten Substantive (hier: Aufschieber) in vielen Fällen ausgesprochen unidiomatisch sind, muss man dann aber zugleich annehmen, dass dieser Zwischenschritt entweder bei Verben auf -ern nicht erfolgt oder aber das -er in diesen Fällen wieder getilgt wird. Aus solchen Verben abgeleitete Substantive auf -itis zeigen, wie zahlreiche im Internet leicht auffindbare Beispiele belegen, kein eingeschobenes -er- (z.-B. klettern → Kletteritis, plaudern → Plauderitis oder stottern → Stotteritis etc. vs. *Klettereritis, *Plaudereritis oder *Stottereritis). Das Suffix ist ausgesprochen produktiv, und neben wenigen bereits in Lexika verzeichneten Ableitungen wie Aufschieberitis (DWDS) finden sich im Internet zahlreiche weitere Belege wie Jammeritis, Meckeritis, Umbenenneritis etc. Alle so gebildeten Substantive sind Feminina und können als Singulariatantum keinen Plural bilden. Sie bezeichnen ein zwanghaftes Verhalten in Bezug auf die im Verb ausgedrückte Tätigkeit. <?page no="121"?> 121 2.4 Das Gegenüber im Hier und Jetzt: Substantive aus anderen Wortarten Durch Konversion lassen sich Substantive auch aus anderen Wortarten als den bisher behandelten ableiten. Hierfür kommen in erster Linie Adverbien in Frage, z.-B. abseits → das Abseits, durcheinander → das Durcheinander, gegenüber → das Gegenüber, hier, heute → das Hier und Heute. Ebenso möglich ist diese Art der Transposition aber auch bei Präpositionen, z.-B. für, wider → das Für und Wider, sowie bei Pronomina, z.-B. ich → das Ich. Solche Konversionen, die insgesamt nur sehr selten vorkommen, sind stets Neutra und können keinen Plural bilden. 2.5 UNO, Krimi, Smog und Happi-Happi: Kurzwörter, Kontaminationen und Reduplikationen Azubi, Demo, H-Milch, Ossi und Pkw: Kurzwörter Als „Kurzwort“ wird ein Wort dann bezeichnet, wenn es wie D-Zug eine Abkürzung enthält oder wie Kilo, GroKo oder UNO selbst eine Abkürzung darstellt. Man kann dabei verschiedene Typen von Kurzwörtern unterscheiden. Beispiele wie U-Bahn oder H-Milch stehen für sog. partielle Kurzwörter, bei denen nur der erste Teil abgekürzt wurde. Dabei kann es sich sowohl um den ersten Bestandteil eines Kompositums handeln wie bei Untergrundbahn → U-Bahn oder auch um ein Attribut wie bei haltbare Milch → H-Milch. Häufig finden sich auch Kürzungen, bei denen Teile des Wortes weggelassen werden; und schließlich gibt es solche, die nur aus Silben oder sogar nur aus den Anfangsbuchstaben des Ausgangsworts bestehen. Beim Auslassen eines Teils des Wortes, die auch als Trunkierung bezeichnet wird, kann man entweder den Anfang oder das Ende des Wortes streichen. Letzteres ist z.-B. der Fall bei Demonstration → Demo, Lokomotive → Lok, Kriminalroman/ film → Krimi. Solche Wörter werden gelegentlich auch als „Kopfwörter“ bezeichnet. Wenn sie wie bei Demo aus einem einzelnen Bestandteil verkürzt wurden, spricht man von unisegmentalen Kurzwörtern. In Fällen wie Kindertagesstätte → Kita oder bei dem aus je zwei verkürzten Adjektiven und Adverbien gebildeten Substantiv Vokuhila (aus: vorne kurz, hinten lang), wo die Abkürzung aus mehreren 2.5 Kurzwörter, Kontaminationen und Reduplikationen <?page no="122"?> 122 2 Die Wortbildung des Substantivs Segmenten besteht, hingegen von multisegmentalen. Das letztere Beispiel zeigt zugleich, dass es keine Beschränkung im Hinblick auf die dem Kurzwort zugrundeliegenden Wortarten gibt. Nicht das Ende, sondern der Wortanfang wird bei sog. End- oder Schwanzwörtern wie Bus (aus Omnibus) oder Cello (aus Violoncello) weggelassen, und auch der Anglizismus Bot (aus engl. robot) ist ein Beispiel für diese Art von Verkürzung. Wenn Bot vom deutschen Wort Roboter als Ausgangswort abgeleitet wäre, läge hingegen ein sog. Rumpfwort vor; davon spricht man, wenn sowohl der Anfang als auch das Ende weggelassen wurde. Dieser Verkürzungstyp findet sich vor allem bei Eigennamen, etwa bei Elisabeth → Lisa. Schwanz- und Rumpfwörter kommen gegenüber den Kopfwörtern seltener vor. Bei Kopfwörtern kommt es auch vor, dass statt des ursprünglichen Silbenträgers ein -i eingesetzt wird. Bei der Reduktion von Wörtern mit Silben, die auf -o oder -i auslauten wie bei Diskothek → Disko oder Universität → Uni bleibt der ursprüngliche Vokal normalerweise erhalten. In anderen Fällen, etwa bei geschlossenen Silben, funktioniert diese Art der Verkürzung jedoch nicht. Dann besteht die Möglichkeit, das Wort auf die erste Silbe zu reduzieren und dann ein -i anzufügen: Depression → Depri, Ostdeutsche/ r → Ossi, Student → Studi. Diese Art der Wortbildung wird gelegentlich auch dann genutzt, wenn eigentlich ein Vollvokal für die Abkürzung vorhanden wäre: Alkoholiker wird nicht zu *Alko, sondern zu Alki. Wortbildungen auf -i kommen auch bei Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mutter → Mutti oder Opa → Opi sowie bei Eigennamen wie Gabriele → Gabi oder Michael → Michi vor. In solchen Fällen kann man sie den Diminutiva zuordnen, und ihre Funktion ist die Bildung familiärer Kosenamen. Dies ist jedoch offensichtlich bei Bezeichnungen wie Alki oder Wessi nicht der Fall. Bei solchen Wortbildungen wird zwar dasselbe Verfahren genutzt, es scheint aber eine eher entgegengesetzte Funktion zu haben. Auffällig ist indessen sowohl bei den Kosenamen wie bei den weniger schmeichelhaften Trunkierungen des Typs Alki die Silbenstruktur. Dass Wörter auf eine offene Silbe mit einem Vollvokal enden, ist für das Deutsche eher ungewöhnlich, und diese Markiertheit kann offenbar für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Typischerweise gehören viele der so gebildeten Wörter zu einem eher informellen Register. Von einem Silbenkurzwort (auch: Silbenwort) spricht man naheliegenderweise dann, wenn das Ausgangswort auf Anfangssilben seiner Bestandteile reduziert wurde. Beispiele hierfür wären Drunterkommentar → Druko, Kriminalpolizei → Kripo oder Schiedsrichter → Schiri. Ähnlich wie bei haltbare Milch → <?page no="123"?> 123 H-Milch können hier auch Syntagmen die Grundlage bilden, die aus einem Substantiv mit zugehörigem Attribut bestehen: große Koalition → GroKo. Noch weiter sind Wörter verkürzt worden, die nur noch aus den Anfangsbuchstaben des Ausgangsbegriffs bestehen; man spricht dann auch von einem Akronym oder einem Initialwort (da es aus Initialien besteht). Auch hier sind sowohl Komposita als auch Syntagmen als Ausgangspunkt möglich: Atomkraftwerk → AKW; Sozialdemokratische Partei Deutschlands → SPD. Akronyme weisen unterschiedliche Aussprachmöglichkeiten auf. Sie können einfach als Buchstabenkette gelesen werden, wie das bei den Beispielen AKW und SPD der Fall ist; dann sind sie, anders als das sonst für deutsche Wörter typisch ist, in den meiste Fällen endbetont (erstbetont sind aber beispielsweise Abkürzungen mit U für Universität im zweiten Teil, z.-B. Technische Universität → TU). Wenn die Buchstabenfolge sich silbisch lesen lässt, wird sie oft auch so ausgesprochen; dies ist etwa bei Deutsch als Fremdsprache → DaF oder bei Technischer Überwachungsverein → TÜV der Fall. Sind die so entstandenen Wörter mehrsilbig, werden sie anders als die Buchstabenketten auf der ersten Silbe betont. Ein Beispiel hierfür wäre die ursprünglich englische Abkürzung NATO (aus engl. North Atlantic Treaty Organization) oder die in der Schweiz gebräuchliche Abkürzung DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit). Bei solchen mehrsilbigen Kurzwörtern sind auch Mischformen aus Initial- und Silbenkurzwort zu finden, so etwa Bundesausbildungsförderungsgesetz → BAföG. Alle in diesem Abschnitt genannten Abkürzungen werden, da sie aus mehreren Teilen bestehen, auch als multisegmental bezeichnet. Bionade und Netiquette: Kontamination Das Abkürzen von Wörtern und Wortteilen kann mitunter auch dazu führen, dass zwei Wörter miteinander verschmelzen, wie das bei Brunch (aus engl. breakfast und lunch) oder Stagflation (aus Stagnation und Inflation) der Fall ist. Man spricht dann von einer Kontamination, einer Wortkreuzung oder Wortverschmelzung, gelegentlich auch von einem „Kofferwort“. Das Verfahren kommt im Deutschen relativ selten zum Einsatz (cf. etwa die Korpus-Untersuchung von Friedrich 2008); es gibt aber eine ganze Reihe von Lehnwörtern aus dem Englischen, denen eine Kontamination zugrunde liegt, so etwa Edutainment, Motel, Smog oder Workoholic. Auch das Wort Brexit gehört hierher. Beispiele für Neubildungen dieser Art im Deutschen wären Ostalgie, das inzwischen sogar seinen Weg in den Duden online gefunden hat, oder Zensurheber- 2.5 Kurzwörter, Kontaminationen und Reduplikationen <?page no="124"?> 124 2 Die Wortbildung des Substantivs recht (cf. Krempl 2019). Auch Filterblasenschwäche (cf. Lucas 2017-2018) kann als Kontamination angesehen werden; es ist zwar formal ein Kompositum aus Filterblase und Schwäche, nutzt aber zugleich das Vorhandensein des Wortes Blasenschwäche, wodurch Blase doppelt und jeweils in einem anderen Sinne genutzt wird. Mischmasch und Zickzack: Reduplikationen Als Reduplikation (von lat. reduplicare ‚verdoppeln‘) bezeichnet man die Verdoppelung von Wörtern oder Teilen davon, die entweder wie bei Kuckuck oder Tamtam in identischer Form oder aber mit leichten Veränderungen wie bei Krimskrams oder Wirrwarr vorgenommen wird. Wenn das ganze Wort wiederholt wird, spricht man von totaler, bei nur einem Teil davon hingegen von partieller Reduplikation. Als Verfahren findet sich die Reduplikation vermutlich in allen Sprachen, sie wird aber unterschiedlich häufig und auch für verschiedene Zwecke genutzt. Manche Sprachen setzen sie beispielsweise bei der Bildung von Tempus ein, so etwa das Lateinische für die Perfektbildung (z.-B. pendere ‚hängen‘, Perfekt: pependi), oder verwenden sie zum Ausdruck des Plurals und weiterer Funktionen. Eine solche Sprache ist beispielsweise das Thailändische (cf. Attaviriyanupap 2016). Im Deutschen finden Reduplikation sich dagegen vor allem in der Wortbildung. Gelegentlich werden sie auch als Mittel der Emphase genutzt, hier insbesondere bei der Aufforderung zu schnellerem Handeln (z.-B. dalli-dalli! hopphopp! schnell-schnell! ), sowie bei als sog. Inflektive verwendeten Verbstämmen, wie sie für bestimmte Textsorten typisch sind (z.-B. grübel grübel, kratz kratz oder auch kritze kratze und ritzeratze; die letzten beiden Beispiele finden sich in Wilhelm Buschs Max und Moritz). Beispiele wie ritzeratze oder Wirrwarr zeigen einen im Deutschen bei Reduplikationen typischen Vokalwechsel von a zu i (ebenso z.-B. Hickhack, ritsch-ratsch, schnipp schnapp, Zickzack etc.). Aber auch Konsonanten können verändert werden (z.- B. Schickimicki). In gewisser Weise als Sonderfall kann die Reduplikation von über-, ur- und vorbei überübermorgen, vorvorgestern oder Ururgroßmutter betrachtet werden. Hier wird durch die Wiederholung die im Präfix enthaltene Bedeutung verdoppelt und so der zeitliche Abstand zum Bezugspunkt bzw. die verwandtschaftliche Distanz zur Bezugsperson jeweils um einen weiteren Tag bzw. eine weitere Person erhöht. Nicht alle Wörter, die auf den ersten Blick wie Reduplikationen aussehen, sind auch wirklich so gebildet worden; so sind etwa Wörter wie Heckmeck, Klimbim <?page no="125"?> 125 oder Kuddelmuddel etymologisch auf andere Wurzeln zurückzuführen. Die Reduplikation als Verfahren ist aber nach wie vor produktiv. Sie wird allerdings nur äußerst selten zur Bildung neuer Wörter genutzt; Schindler (1991: 598) führt Schickimicki als jüngste Bildung an. Die meisten Wörter dieser Art gehören in ein eher umgangssprachliches Register. Darüber hinaus kann man Reduplikationen auch in der Kindersprache beobachten, wo neben standardsprachlichen Reduplikationen wie Mama und Papa auch solche wie Happi-Happi, Wauwau oder das Verb hamham zu finden sind. Insgesamt sind Reduplikationen bei Substantiven häufiger als bei anderen Wortarten, sie finden sich jedoch auch bei Adverbien wie ratzfatz oder schwuppdiwupp oder, wie das Beispiel hamham zeigt, in seltenen Fällen auch bei Verben. 2.6 Das „Sich-nichts-anmerken-lassen“, das „nichts gesehen haben wollen“: Zwischen Flexion, Syntax und Wortbildung Die Grenzen zwischen Wortbildung und Syntax, also zwischen einem einzigen neu gebildeten Wort und mehreren strukturell zusammengehörigen Wörtern, sind im Deutschen sehr schwer zu ziehen. Dafür bietet schon die Rechtschreibung gute Beispiele: zusammenschreiben (mit Betonung auf dem ersten Wortbestandteil) wird als ein Wort angesehen, getrennt schreiben hingegen als zwei. Auto fahren und Rad fahren sind orthografisch gesehen je zwei Wörter, aber das Radfahren und das Autofahren sind jeweils nur eines. Auch getrennt schreiben kann, wenn man davon ein Substantiv ableitet, zu einem Wort verschmelzen: die Getrenntschreibung. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, und sie zeigen vor allem eines: So ganz klar und trennscharf lassen sich die Bereiche offenkundig nicht voneinander abgrenzen. Die Beispiele zeigen aber auch, dass sich die Wahrnehmung zugunsten von „Wortbildung“ verschiebt, sobald es im Ergebnis um Substantive geht: das Radfahren, das Autofahren, die Getrenntschreibung. Tatsächlich ist die Wortbildung im Deutschen im Bereich der Substantive besonders produktiv, wobei man allerdings gerade im Bereich der Infinitivsubstantivierung abermals vor Abgrenzungsprobleme gestellt wird, denn der Infinitiv ist ja schon als Verbform ein Verbalnomen (cf. hierzu ausführlicher Hentschel 2009). Entsprechend schreiben Fleischer/ Barz (2012: 271): „Die Infinitivkonversion ist weniger ein 2.6 Zwischen Flexion, Syntax und Wortbildung <?page no="126"?> 126 2 Die Wortbildung des Substantivs Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes (obwohl auch diese Seite nicht fehlt) als vielmehr ein syntaktisch relevantes Nominalisierungsverfahren“. Umgekehrt werden selbst eindeutige Substantive wie z.-B. Abendessen (entstanden aus der Konversion essen → das Essen und der nachfolgenden Komposition Essen → das Abendessen) von den Sprachnutzern als Verbformen reanalysiert und in eindeutig verbaler Funktion gebraucht (z.- B. lass uns abendessen gehen; cf. Hentschel 2017: 65) --die Übergänge sind hier offenbar fließend. Im Deutschen sind bei Nominalphrasen - also bei Syntagmen, deren Kern ein Substantiv bildet --normalerweise keine Linksattribuierungen durch Präpositionalphrasen (z.- B. unter dem Bett) möglich. Solche Attribute müssen rechts stehen, und so kann man zwar davon sprechen, dass der Staub unter dem Bett weggeputzt werden sollte, aber nicht *der unter dem Bett Staub. Bei Verben jedoch ist es genau diese Linksstellung, die bevorzugt wird: du musst mal unter dem Bett putzen (nicht oder nur umgangssprachlich markiert: du musst mal putzen unter dem Bett). Wenn sich nun im alltäglichen Sprachgebrauch Bildungen finden wie das Alles-Besser-Wissen, das „sich einfach nicht mehr melden“, das „offen seine Meinung sagen“, beim heimlichen Unter-der-Bettdecke-Lesen oder das Sich-ständig-beklagen-können (alle Beispiele nach Hentschel 2017 und in der Originalschreibung; Quellennachweise siehe dort), stellt sich automatisch die Frage, wie so etwas einzuordnen ist. Als Substantiv? Dafür spricht der Gebrauch des Artikels, der normalerweise die Konversion des Verbs in ein Substantiv sozusagen besiegelt, sowie der Gebrauch flektierter Adjektive wie z.-B. in beim heimlichen Unter-der-Bettdecke-Lesen. Oder doch als Verbform? Dafür spricht die Wortstellung, der große Spielraum beim Anfügen von Objekten und Adverbialen sowie die Möglichkeit, dass mehr als ein Verb gleichzeitig auftritt (wie z.-B. in das Sich-ständig-beklagen-können). Alles in allem spricht mehr für das Vorliegen einer Verbform als dafür, hier Wortbildung anzusetzen. <?page no="127"?> 127 3 Ausufernd, skandalös, taghell und überirdisch: Die Wortbildung des Adjektivs Adjektive haben in vieler Hinsicht große Ähnlichkeit mit Substantiven. Wie diese beinhalten sie die grammatischen Kategorien Kasus, Genus und Numerus (z.- B. ein kleines Kind: Nominativ Singular Neutrum); im Unterschied zu Substantiven haben sie jedoch kein festes Genus, sondern richten sich darin nach ihrem Beziehungswort (z.-B. ein kleiner Weiler, ein kleines Dorf, eine kleine Stadt). Die syntaktische Kernfunktion von Adjektiven besteht darin, entweder als Prädikativ (z.-B. Die Stadt ist klein) oder als Attribut (z.-B. die kleine Stadt) verwendet zu werden. Im Plural können Adjektive anders als in vielen anderen Sprachen im Deutschen kein Genus ausdrücken (cf. z.-B. kleine Städte, kleine Weiler vs. franz. petites villes --petits villages). Bei prädikativer Verwendung sind sie sogar völlig endungslos; auch das ist bei vielen Sprachen anders (z.-B. Die Stadt ist klein vs. franz. La ville est petite). Partizipien (z.-B. das verlassene Dorf) und Pseudopartizipien (z. B. der verträumte Weiler) verhalten sich morphologisch genauso wie Adjektive. Wie Substantive aus Substantiven (z.-B. Geier- → Pleitegeier), so können auch Adjektive aus schon vorhandenen Adjektiven gebildet werden (z.-B. rot- → hellrot). Da die Wortart dabei erhalten bleibt, spricht man dann von einer Modifikation. Ebenso können Adjektive aber auch aus Substantiven (z.- B. Tag- → täglich), Verben (z.-B. essen- → essbar) oder Adverbien (z.-B. gestern- → gestrig) abgeleitet werden. 3.1 Knallrot, sattsam, unschön und widerrechtlich: Modifikation von Adjektiven Für die Modifikation von Adjektiven stehen grundsätzlich drei Möglichkeiten zur Verfügung: ▶ Man kann das Adjektiv mit anderen Wörtern zu einem Kompositum zusammenfügen (z.-B. hell + blau- → hellblau, knallen + rot- → knallrot etc.); ▶ Man kann Präfixe verwenden (z.-B. schön- → unschön); ▶ Man kann das Adjektiv mit einem Suffix versehen (z.-B. grün- → grünlich). <?page no="128"?> 128 3 Die Wortbildung des Adjektivs Anders als im Substantiv-Kapitel werden im Folgenden Präpositionen, die zur Modifikation von Adjektiven verwendet werden können (z.-B. schlau → oberschlau), nicht gesondert aufgeführt, sondern zusammen mit „echten“ Präfixen wie ur- (z.- B. alt → uralt), sog. Präfixoiden wie grund- (z.- B. verschieden → grundverscheiden) und sog. Konfixen wie mega- (z.-B. cool → megacool) zu einer Gruppe der Präfixe im weiteren Sinne zusammengefasst. Diese Zusammenfassung trägt zugleich der Tatsache Rechnung, dass der Grad der Grammatikalisierung und damit die Übergänge zwischen den Kategorien oft fließend, die Abgrenzung im Einzelfall schwierig und in der Folge auch die Zuordnungen in der Literatur nicht einheitlich sind. Anders als bei Kühnhold/ Putzer/ Wellman (1978: 41) werden dagegen Morpheme wie gott (z.-B. gottverflucht, gottserbärmlich) oder welt (z.- B. weltberühmt, weltengroß; Beispiele nach ibd.) nicht als Präfixoide eingestuft, sondern als Substantive, die --teilweise unter Verwendung von Fugenelementen --mit Adjektiven Komposita bilden. Außer heimischen Präfixen finden sich bei Adjektiven auch solche, die aus anderen Sprachen entlehnt wurden (z.-B. effektiv → ineffektiv). Exogene Suffixe gibt es hingegen anders als bei Substantiven bei der Modifikation von Adjektiven mit der einzigen Ausnahme von -oid (z.-B. faschistisch → faschistoid) nicht. 3.1.1 Altklug, meckerfreudig, weinselig und zartbesaitet: Komposition Adjektive, Partizipien und Pseudopartizipien können ebenso wie Substantive Komposita bilden, deren Erstglied ein anderes Adjektiv (z.- B. hell + grün → hellgrün), ein Substantiv (z.-B. Pech + schwarz → pechschwarz) oder ein Verb sein kann (z.-B. knallen + rot → knallrot). In manchen Arbeiten zur Adjektivkomposition finden sich sehr weitgehende semantische Feinunterscheidungen von Kompositionstypen, so etwa in „äquativ-explikative“ (z.- B. persönlich-privat, Pümpel-Mader/ Gassner-Koch/ Wellmann 1992: 55), „komparationale“ (z.- B. lilienweiß, ibd.: 83), lokale (z.- B. heimatnah, ibd.: 123), temporale (z.-B. nachtblind, ibd.: 129) u.-a.-m. (cf. ähnlich, wenngleich weniger ausführlich, auch Fleischer/ Barz 2012: 323 f.). An den formalen Eigenschaften der Komposita ändern diese Bedeutungstypen aber nichts, und Komposita wie z.-B. taghell (‚hell wie der Tag‘, also komparational) und tagaktiv (‚am Tag aktiv‘, also temporal) unterscheiden sich in ihrer Bildungsweise nicht voneinander. Hinzu kommt, dass die semantische Einteilung keineswegs immer eindeutig möglich ist (cf. hier z.- B. Pümpel-Mader/ Gassner-Koch/ <?page no="129"?> 129 3.1 Modifikation von Adjektiven Wellmann 1992: 60 f., wo alternative Interpretationsmöglichkeiten für dort als „äquativ-explikativ“ eingeordnete Adjektive diskutiert werden). Aus diesen Gründen wird hier ebenso wie bei den Substantivkomposita auf semantische Feinunterteilungen dieser Art verzichtet. 3.1.1.1 Hellgrün, halbgar und nassforsch: Komposition aus zwei Adjektiven Bei Farbbezeichnungen, die typischerweise mit den Erstgliedern hell oder dunkel versehen werden (z.- B. hellrot, dunkelblau), aber auch Kompositionen miteinander eingehen können (z.-B. blaugrün ‚ein bläuliches Grün‘), sind Zusammensetzungen aus zwei Adjektiven sehr geläufig. Aber auch zahlreiche andere Kompositionen dieser Art kommen vor. Häufig finden sich beispielsweise solche mit halb (z.- B. halbgar, halbnackt, halbwach etc.), mit alt (z.- B. altehrwürdig, altklug, altmodisch) oder tief (z.-B. tiefgründig, tiefschürfend, tiefsinnig). Dabei handelt es sich in vielen Fällen beim zweiten Glied des Kompositums wie bei tiefschürfend ursprünglich nicht um ein Adjektiv, sondern um ein Partizip; weitere Beispiele dafür wären dichtbesiedelt, feinbesaitet oder großgewachsen. Derselbe Kompositionstyp findet sich auch bei Pseudopartizipien, also bei Wörtern, die zwar aussehen wie Partizipien, zu denen aber kein zugehöriges Verb existiert, z.- B. buntgeblümt, dichtbehaart, großgemustert. Anders als bei Substantiven treten bei Komposita aus zwei Adjektiven bzw. einem Adjektiv und einem Partizip oder Pseudopartizip keine Fugenelemente auf. Neben der Kombination von zwei Adjektiven in ihrer jeweiligen Grundform (Positiv) gibt es auch die Möglichkeit, einen Komparativ oder Superlativ als Erstglied zu verwenden. Komparative liegen z.-B. in besserverdienend, höhergelegen oder längerfristig vor; Superlative z.-B. in frühestmöglich, meistbegünstigt oder nächstgelegen. Bei besserverdienend handelt es sich beim zweiten Glied um ein Partizip Präsens, bei höhergelegen, meistbegünstigt und nächstgelegen jeweils um ein Partizip Perfekt. Auf die Mechanismen der Wortbildung hat das keinen Einfluss. Wie bei Substantivkomposita kann man auch bei Komposita aus Adjektiven diskutieren, ob sich eine Unterscheidung in Determinativ- und Kopulativkomposita anbietet. Bei einem Kopulativkompositum besteht ein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden Bestandteile; bei einem Determinativkompositum liegt der semantische Schwerpunkt beim zweiten Glied. Letzteres dürfte zumindest für die große Mehrheit der Adjektivkomposita zutreffen. So ist eine <?page no="130"?> 130 3 Die Wortbildung des Adjektivs neureiche Person ist nicht zugleich neu und reich, sondern neu zu Reichtum gekommen; hellblau ist eine helle Schattierung von blau und bedeutet nicht, dass etwas gleichzeitig hell und blau ist. Ein Gegenbeispiel bildet das heute nicht mehr gebräuchliche taubstumm. Das Adjektiv drückt aus, dass jemand zugleich taub und stumm ist; es kann allerdings bei einer Paraphrasierung mit „aufgrund angeborener Gehörlosigkeit unfähig, artikuliert zu sprechen“, wie sie sich bei Duden online (s.-v. taubstumm) findet, auch determinativ im Sinne von ‚infolge von Taubheit stumm‘ interpretiert werden. Schwierig wird die Entscheidung auch bei Adjektiven wie dummdreist oder süßsauer, die etwa bei Fleischer/ Barz (2012: 326) als Beispiele für Kopulativkomposita genannt werden. Hier kann man sowohl die Meinung vertreten, dass dummdreist ‚dumm und dreist zugleich‘ bedeutet (also ein Kopulativkompositum ist), als auch, dass es mit ‚in dummer Weise dreist‘ paraphrasiert werden sollte (also ein Determinativkompositum ist). Beide Bedeutungsangaben finden sich etwa bei Duden online (s.-v. dummdreist). Im Bereich der Farbadjektive bildet schwarzweiß ein Gegenbeispiel. Das Adjektiv bezeichnet allerdings keinen Farbton, sondern dient als Metapher für eine undifferenzierte Sicht- oder Darstellungsweise, die nur ein Entweder-oder kennt. Sobald wirklich die Farben gemeint sind, erfolgt typischerweise eine Schreibung mit Bindestrich (z.- B. schwarz-weißes Karomuster), die das Nebeneinander markiert und daher bei kopulativen Adjektivkomposita meist bevorzugt wird. Auf der Basis solcher Beobachtungen lässt sich vermuten, dass hier ähnlich wie bei den Substantiven zumindest eine Tendenz zur determinativen Interpretation vorliegt. Bei mit Bindestrich verbundenen Adjektiven wie z.-B. die amerikanisch-iranischen Beziehungen, das deutsch-französisch-polnische Symposium oder das zuvor schon erwähnte schwarz-weiße Karomuster wird durch die Schreibung ein gleichberechtigtes Nebeneinander ausgedrückt. Kühnhold/ Putzer/ Wellmann (1978: 35 f.) interpretieren diese Bildungen so, dass der Bindestrich ein und ersetzt; dass die Autoren trotzdem Wortbildung annehmen, wird damit begründet, dass die Form kein Syntagma bildet (wie dies bei schwarzes und weißes Karomuster der Fall wäre). Bei Sprachbezeichnungen mit Bindestrich, wie man sie für Wörterbücher verwendet, legt die Reihenfolge der Nennung zugleich die Richtung der Einträge im Wörterbuch fest: ein japanisch-deutsches Wörterbuch enthält deutsche Übersetzungen japanischer Wörter, nicht umgekehrt. Auch bei Bindestrich-Komposita gilt, dass nur das zweite der beiden verknüpften Adjektive flektiert wird, während das erste unverändert bleibt. Morphologisch werden Adjektive somit auch in Kopulativkomposita nicht als gleichberechtigt behandelt. <?page no="131"?> 131 3.1.1.2 Bierselig, gedankenverloren und umweltschädlich: Kompositionen aus Substantiv und Adjektiv Anders als bei Komposita aus zwei Adjektiven kommen bei solchen mit einem Substantiv als Erstglied (z.-B. in eiskalt, einwandfrei, fettarm oder umweltschädlich) auch Fugenelemente vor. Am häufigsten ist dabei -s-, das auch dann auftreten kann, wenn das Substantiv keine entsprechenden Formen, also keinen Genitiv oder Plural auf -s aufweist, z.-B. bildung-s-politisch, tradition-s-reich etc. Hier liegt somit eindeutig ein Interfix vor. Formen mit -eskommen hingegen nur dann vor, wenn auch der Genitiv so lautet, z.- B. bundesweit, eidessstattlich, gottesfürchtig, siegessicher etc. Eine Zwischenposition nehmen in gewisser Weise die Formen auf -ensein, von denen es wohl nur drei gibt: herzensgut, schmerzensreich und das äußerst seltene seelensgut (meist stattdessen: seelengut). Während Herz tatsächlich den Genitiv des Herzens bildet, auf den man die Form zurückführen könnte, liegt bei schmerzensreich der Plural vor, der mit dem Fugenelement -sverknüpft wurde. Außer den genannten Fugenelementen finden sich auch -e-, -(e)n- und -er-. Sie kommen nur bei Substantiven vor, die einen entsprechenden Plural bilden. Beispiele wären: ▶ -e-: jahrhundertelang, händeringend, hundeelend ▶ -(e)n-: gebührenpflichtig, kerzengerade, leichenblass ▶ -er-: kinderreich, lichterloh, männermordend In den Beispielen händeringend und männermordend bilden Präsenspartizipien die Basis. Formal gibt es bei der Bildung zusammengesetzter Formen auch hier keinen Unterschied zwischen Partizipien und Adjektiven; bei den Erstgliedern von Partizipien handelt es sich jedoch häufig ursprünglich um Objekte zum entsprechenden Verb (hier: Hände ringen, Männer morden). Das Bildungsverfahren ist bei Präsenspartizipien sehr produktiv, z.-B. Bücher lesen → bücherlesend, Deckchen häkeln → deckchenhäkelnd, Kaffee trinken → kaffeetrinkend etc. Bei Adjektiven, die mit einem Substantiv als Erstglied gebildet werden, kommen einige Letztglieder besonders häufig vor: fest (z.-B. bissfest; cf. zu fest auch Eichinger 2013: 83), frei (z.-B. zuckerfrei), los (z.-B. skrupellos), reich (z.-B. eiweißreich) und voll (z.-B. liebevoll). Unter ihnen sind insbesondere frei und los interessant. Beide bezeichnen die Abwesenheit dessen, was im Erstglied ausgedrückt wird. Noch häufiger als Adjektive auf -frei (wie alkoholfrei, glutenfrei, rezeptfrei, schulfrei, zollfrei etc.) sind dabei solche auf -los. Einen Eindruck von 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="132"?> 132 3 Die Wortbildung des Adjektivs ihrer Vorkommenshäufigkeit kann die folgende Aufzählung vermitteln, die einige der häufigsten so gebildeten Adjektive auflistet: ahnungslos, alternativlos, anlasslos, anstandslos, antriebslos, appetitlos, arbeitslos, arglos, ausdruckslos, ausnahmslos, aussichtslos, ausweglos, bargeldlos, bedenkenlos, bedeutungslos, bedingungslos, beispiellos, belanglos, bewusstlos, chancenlos, charakterlos, drahtlos, ehrlos, elternlos, emotionslos, endlos, erbarmungslos, ergebnislos, farblos, fassungslos, fehlerlos, fensterlos, formlos, fraktionslos, freudlos, fristlos, furchtlos, gedankenlos, gefahrlos, gehörlos, geräuschlos, geruchlos, geschmacklos, gewaltlos, gnadenlos, gottlos, grenzenlos, grundlos, harmlos, heillos, herzlos, hoffnungslos, humorlos, inhaltslos, kabellos, kampflos, kernlos, kinderlos, kommentarlos, kompromisslos, kostenlos, kraftlos, lautlos, leblos, lückenlos, lustlos, machtlos, makellos, merkmallos, mutlos, namenlos, neidlos, niveaulos, nutzlos, obdachlos, papierlos, parteilos, pausenlos, problemlos, randlos, rastlos, reglos, reibungslos, reizlos, restlos, risikolos, ruchlos, rücksichtslos, ruhelos, salzlos, schamlos, schwerelos, selbstlos, sinnlos, skrupellos, sorglos, sprachlos, spurlos, stillos, stimmlos, stufenlos, tadellos, taktlos, tatenlos, teilnahmslos, torlos, trägerlos, traumlos, umstandslos, verantwortungslos, verständnislos, vorbehaltlos, wehrlos, wertlos, widerspruchslos, wolkenlos, wortlos, zahnlos, zeitlos, zügellos, zwanglos. Nicht zuletzt aufgrund ihrer hohen Frequenz kann man darüber unterschiedlicher Auffassung sein, ob es sich bei frei und los in solchen Fällen wirklich noch um die Adjektive frei und los(e) ‚abgelöst, befreit von‘ handelt oder ob sie sich nicht vielmehr bereits zu Wortbildungsmorphemen weiterentwickelt haben. Fleischer/ Barz (2012: 345) definieren -los als Suffix; Donalies (2005: 25) spricht bei -frei von einem Affixoid, also einem „Nicht-mehr-Wort, das als Noch-nicht- Affix unterwegs ist“ (ibd.), und Kühnhold/ Putzer/ Wellmann (1978: 444, 452) listen frei und los ebenso wie arm, fähig, freudig, froh, reich, schwer, selig, stark, voll u.-a. m. unter „Suffixoide und konkurrierende Kompositionsglieder“ (ibd.: 427) auf --eine Überschrift, die selbst schon deutlich macht, dass Unterscheidungen in diesem Bereich schwierig sind. Nun kann man bei Adjektiven mit frei als Letztglied normalerweise problemlos eine Paraphrase bilden, in der frei als Adjektiv fungiert, z.-B. alkoholfrei ‚frei von Alkohol‘, gebührenfrei ‚frei von Gebühren‘, glutenfrei ‚frei von Gluten‘ etc. In einigen Fällen wie rezeptfrei oder schulfrei klingt diese Art von Paraphrase zwar vielleicht nicht besonders idiomatisch, aber sie ist immer noch verständlich (etwa: der Bezug eines Medikaments ist ‚frei von einem Rezept‘, der Tag ist ‚frei von Schule‘). Das ist bei los anders. Das Adjektiv ist in der hier verwendeten Bedeutung nur noch prädikativ gebräuchlich (z.-B.: Ich bin das Problem endlich <?page no="133"?> 133 los), und eine Paraphrase damit nur in Ausnahmefällen möglich. Dennoch ist der semantische Gehalt des Morphems eindeutig stärker als der typischer Derivationsaffixe. Los leitet nicht einfach nur ein Adjektiv aus einem Substantiv ab, sondern es bezeichnet die Abwesenheit dessen, was im Substantiv ausgedrückt wird, und ist daher in fast allen Fällen mit ohne paraphrasierbar (z.-B. pausenlos ‚ohne Pause‘, rücksichtslos ‚ohne Rücksicht‘, skrupellos ‚ohne Skrupel‘ etc.). Das Morphem steht somit dem ursprünglichen Adjektiv und seiner Bedeutung noch sehr viel näher, als das normalerweise bei Derivationsaffixen der Fall ist. Diese haben sich historisch zwar ebenfalls aus Wörtern mit lexikalischer Bedeutung entwickelt, ihre Bedeutung ist dabei aber stark verblasst. So geht beispielsweise das ebenfalls hochfrequente Suffix -heit (gesund → Gesundheit) auf ein Substantiv ahd./ mhd. heit ‚Gestalt, Art und Weise‘ zurück (cf. DWDS s.-v. -heit); diese Bedeutung ist aber in der synchronen Wortbildung nicht mehr nachvollziehbar. In vielen agglutinierenden Sprachen wird die Abwesenheit von etwas - also das, was im Deutschen durch ohne oder eben durch -los ausgedrückt wird, - durch ein gebundenes Morphem markiert, das mit dem deutschen -los gut vergleichbar ist. Ein Beispiel hierfür wäre das Türkische, wo man ‚ohne‘ durch Anhängen von -siz (das je nach vorangehendem Vokal auch in der Form sız, süz oder suz auftreten kann) ausdrückt. Man würde also beispielsweise einen Kaffee ohne Milch und Zucker als kahve sütsüz ‚Kaffee Milch-ohne‘ (oder eben ‚milchlos‘) und şekersiz ‚zuckerlos‘ bestellen. Normalerweise wird dieses -siz als Postposition aufgefasst; aber manche Grammatiken ordnen diese Bildungsweise auch den Kasus zu und bezeichnen die Formen dann als Abessiv (‚Kasus der Abwesenheit‘). Gelegentlich finden sich auch andere Begriffe wie Privativ (wörtlich ‚Kasus des Beraubens‘) oder Anti-Komitativ (der Kominativ ist der Kasus des Begleitumstands und der Begleitperson) (cf. Haspelmath 2009: 514 f., Iggesen 2005: 98). Unabhängig von der Bezeichnung wird also ein Kasus zur Bezeichnung der Abwesenheit von etwas angesetzt - und damit für eben das, was im Deutschen durch ohne oder -los ausgedrückt wird. Ob man Bildungsweisen, wie sie im türkischen Beispiel sütsüz ‚milchlos‘ vorliegen, nun als Kasus oder als Konstruktion mit einer gebundenen Postposition einordnen möchte: Interessant ist die Tatsache, dass sich dieser Konstruktionstyp im Deutschen durchweg mit ad-hoc-Bildungen auf -los wiedergeben lässt. Oft sind sie dann zwar wie milchlos nicht Teil des etablierten Wortschatzes, aber in jedem Fall sind sie problemlos verständlich und spiegeln damit offenbar ein universelles konzeptionelles Grundmuster wider. 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="134"?> 134 3 Die Wortbildung des Adjektivs Bei der Wortbildung mit los kommen Fugenelemente vor. Während sich -n- und -enin Beispielen wie tat-en-los oder wolke-n-los noch als Folge eines bei der Wortbildung verwendeten Plurals (Taten, Wolken) deuten ließen, ist dies bei -swie in arbeit-s-los oder rücksicht-s-los nicht der Fall, denn Formen auf -s gibt es bei diesen Substantiven nicht. Auch dies spräche dafür, dass es sich bei los noch nicht um ein vollständig grammatikalisiertes Suffix, sondern nach wie vor um das Adjektiv handelt. Alternativ kann man ein Zwischenstadium ansetzen und den Begriff des Affixoids (hier: Suffixoids) gebrauchen. 3.1.1.3 Passgenau, quietschvergnügt und röstfrisch: Kompositionen aus Verb und Adjektiv Die Bildung von Komposita aus verbalem Erstglied und Adjektiv ist eine produktive Möglichkeit, neue Adjektive zu konstruieren, z.- B. auslaufsicher, denkfaul, meckerfreudig, spielsüchtig. Dabei sind manche Adjektive wie z.- B. fähig oder fest besonders gut für diese Art von Komposition geeignet, cf. z.-B. gleitfähig, lernfähig, schwimmfähig, tragfähig oder knitterfest, kochfest, reißfest, rutschfest etc. Sie werden daher bei einigen Autoren als Suffixoide oder zumindest als auf dem Weg dorthin befindlich betrachtet (cf. z.-B. Kühnhold/ Putzer/ Wellmann 1978: 456, 460). Dieselben Adjektive können auch mit Substantiven als Erstglied verbunden werden (z.-B. flugfähig, winterfest). Normalerweise wird bei der Komposition der reine Verbstamm verwendet, der nach der Tilgung der Infinitivendung -(e)n übrigbleibt, z.-B. bügeln → bügelfest, scheuern → scheuerbeständig, quietschen → quietschvergnügt etc. Es kommt aber auch vor, dass zwischen Verbstamm und Adjektiv ein -eals Fugenelement eingefügt wird: les-e-freundlich, pfleg-e-leicht, werb-e-wirksam etc. 3.1.2 Außerordentlich, erzböse, gelblich und dualistisch: Adjektivmodifikation mit Affixen Die Modifikation von Adjektiven kann auch mithilfe von Affixen im weiteren Sinne (incl. Präpositionen, Affixoide und Konfixe) erfolgen, die dabei sowohl links (z.-B. fein → unfein) als auch rechts (z.-B. spitz → spitzig) angefügt werden können. Bei den Präfixen im weiteren Sinne kommen sowohl einheimische (z.-B. stark → halbstark) als auch zahlreiche entlehnte Morpheme (z.-B. stark → extrastark) vor; unter den Suffixen findet sich als einziges exogenes Element nur -oid. <?page no="135"?> 135 3.1.2.1 Außerirdisch, grundverschieden, postfaktisch und uralt: Adjektivmodifikation mit Präfixen im weiteren Sinne Im Folgenden werden zunächst die heimischen Präfixe, Präpositionen, Präfixoide und Konfixe, die zur Modifikation von Adjektiven verwendet werden können, und in der Folge dann die aus anderen Sprachen entlehnten Elemente in jeweils alphabetischer Reihenfolge besprochen. 3.1.2.1.1 Außerparlamentarisch, erzböse und zwischenstaatlich: Adjektivmodifikation mit heimischen Präfixen im weiteren Sinne Grundsätzlich sind die meisten der im Folgenden besprochenen Ableitungsmöglichkeiten zwar noch produktiv, aber Neubildungen kommen insgesamt eher selten vor. Bei der Mehrzahl der hier behandelten Morpheme handelt es sich ursprünglich um Präpositionen; es sind aber auch andere Morphemtypen vertreten. Mit Ausnahme des extrem seltenen absind alle betont: ababhold allerallerliebst außeraußerirdisch binnenbinneneuropäisch erzerzkonservativ gegetreu grundgrundfalsch innerinnerbetrieblich missmisslaunig nachnacheiszeitlich oberoberfaul überüberempfindlich unungut unterunterirdisch ururkomisch vorvorindustriell widerwidergesetzlich zwischenzwischenstaatlich 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="136"?> 136 3 Die Wortbildung des Adjektivs Abhold und allerliebst: ab- und aller Das Präfix abist bei der Modifikation von Adjektiven außerordentlich selten und kommt wohl nur in zwei Fällen vor: bei abnormal und bei abhold. Adjektive wie abartig oder abgängig sind dagegen nicht von artig oder gängig, sondern von den Substantiven Abart und Abgang abgeleitet. Von Hause aus eigentlich der Genitiv Plural des Indefinitpronomens all, ist allerdemgegenüber um einiges häufiger anzutreffen. Es weist aber eine Besonderheit auf, die seine Verwendbarkeit stark einschränkt: Es kann mit wenigen Ausnahmen nur bei Superlativen stehen, so etwa bei am besten → am allerbesten, das meiste → das allermeiste, notwendigste → allernotwendigste etc. Eine Ausnahme bilden das Numerale erste ( → allererste) sowie das Adjektiv letzte → (allerletzte), dem aber historisch ebenfalls ein Superlativ zugrunde liegt (cf. Kluge 2012 s.-v. letzt). Die Funktion von allerbesteht darin, zusätzliche Emphase hinzuzufügen, indem impliziert wird, dass der Superlativ im Verhältnis zu allen denkbaren Vergleichsobjekten gerechtfertigt ist. Außer beim Adverb gern bzw. seinem Superlativ (am allerliebsten) als Einzelfall kommt allernicht bei anderen Wortarten vor. Außerirdisch und außerparteilich: außer- Mit der ursprünglichen Präposition außer kann man zum Ausdruck bringen, dass sich die zu beschreibende Eigenschaft außerhalb des vom Adjektiv erfassten Bereichs befindet. Dabei sind die Ausgangsadjektive meist ihrerseits bereits abgeleitet: Etwas Außereuropäisches befindet sich außerhalb Europas, zu dem das Adjektiv europäisch gehört, etwas Außerparlamentarisches findet außerhalb des Parlaments ( → parlamentarisch) statt, und etwas Außergewöhnliches gehört nicht zu dem, was man gewöhnlich erwarten würde. Nur im Fall von außerordentlich lässt sich die Ableitung semantisch nicht ohne weiteres auf die mit ordentlich verknüpften Grundbedeutungen ‚aufgeräumt‘ oder ‚ordnungsgemäß‘ zurückführen, sondern muss über die Bedeutung ‚den Regeln/ der Erwartung entsprechend‘ verstanden werden. Außerfindet sich nur bei Adjektiven. <?page no="137"?> 137 Binnendeutsch und erzreaktionär: binnen- und erz- Die ursprüngliche Präposition binnen kommt bei Adjektiven eher selten vor. Sie steht vor allem bei Länder oder Sprachen bezeichnenden Adjektiven wie deutsch → binnendeutsch oder französisch → binnenfranzösisch. Daneben finden sich auch seltene Bildungen wie binnengewerkschaftlich oder binnenparteilich. Etwas häufiger finde man binnen bei Substantiven (z.-B. Binnenland). Auch Adjektivmodifikationen mit dem Präfix erzwie bei böse → erzböse oder konservativ → erzkonservativ sind nicht sehr häufig. Das aus griech. archi- ‚Haupt‘ entstandene Morphem dient dazu, das besonders ausgeprägte Vorhandensein der im Adjektiv beschriebenen Eigenschaft auszudrücken. Außer bei Adjektiven kann es auch bei Substantiven vorkommen (z.-B. Erzfeind). Gelehrsam und gestiefelt: ge- Bei den meisten Adjektiven mit dem Präfix gehandelt es sich nicht wie bei treu → getreu oder hässig → gehässig um Modifikationen von Adjektiven, sondern um Pseudo-Partizipien. Sie sehen zwar aus wie Partizipien, sind aber von Substantiven abgeleitet und das Verb, zu dem sie zu gehören scheinen, existiert nicht. So kann man gelaunt nicht auf ein Verb *launen und gewillt nicht auf *willen und auch nicht auf wollen (zu dem das Partizip gewollt lautet) zurückführen; sie sind von den Substantiven Laune und Wille abgeleitet. Zugleich existieren aber auch keine zugehörigen nicht-präfigierten Adjektive wie *launt oder *willt. Geist insgesamt ein sehr häufiges Präfix, das in unterschiedlichen Funktionen bei verschiedenen Wortarten vorkommt; bei Adjektiven ist es hingegen eher selten zu finden und auch nicht mehr produktiv. Grundehrlich und grundsolide: grund- Bei der Präfigierung mit grundwie in falsch → grundfalsch oder verschieden → grundverschieden ist die Bedeutung ‚von Grunde auf ‘ noch gut erkennbar, weswegen es auch als Präfixoid eingeordnet wird (cf. z.-B. Bergmann 2018: 210 f.). Das Präfix kommt nicht allzu häufig vor, und nicht alle Adjektive auf grundsind Modifikationen: Bei der Form grundlegend handelt es sich beispielsweise um das Partizip Präsens des Verbs grundlegen, und grundsätzlich ist direkt vom Substantiv Grundsatz abgeleitet. Wie die Beispiele zeigen, kann grundauch bei Substantiven und Verben vorkommen. 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="138"?> 138 3 Die Wortbildung des Adjektivs Innerbetrieblich und innerstädtisch: inner- Bei inner- (z.- B. schulisch → innerschulisch oder städtisch → innerstädtisch) handelt es sich ursprünglich um ein heute nur noch attributiv verwendbares Adjektiv (z.-B. der innere Zirkel) und in diesem Sinne abermals um ein Präfixoid. Modifikationen damit drücken eine Eigenschaft aus, die sich im Inneren der vom Adjektiv bezeichneten Region befindet. Anders als Adjektive mit außer-, zu denen sie das Gegenstück bilden (z.-B. innereuropäisch vs. außereuropäisch), sind sie durchweg wörtlich zu verstehen. Das Präfix kommt ausschließlich bei Adjektiven vor. Misshellig und missgestimmt: miss- Das Präfix miss-, das häufiger bei Substantiven (z.- B. Missgunst) und Verben (z.-B. missverstehen) als bei Adjektiven anzutreffen ist, kennzeichnet auch bei Adjektiven, dass die bezeichnete Eigenschaft in einem schlechten oder falschen Sinne vorliegt. Allerdings wird die Bedeutung der Adjektive durch die Präfigierung oft gegenüber dem modernen Gebrauch des nicht präfigierten Ausgangswortes verändert, z.-B. launig ‚witzig, humorvoll‘- → misslaunig ‚schlecht gelaunt‘ oder mutig ‚unerschrocken‘- → missmutig ‚übellaunig‘. Das historisch vom Verb hallen abgeleitete Adjektiv hellig ‚hallend, laut’ (cf. DWB s.- v. hellig), das die Basis zu misshellig bildet, ist heute außer in misshellig nur noch in einhellig erhalten. In vielen Fällen handelt es sich bei den mit misspräfigierten Adjektiven ursprünglich um Partizipien, z.-B. stimmen → gestimmt → missgestimmt oder Pseudo-Partizipien, z.-B. gelaunt → missgelaunt (aber nicht: *launen). Nachindustriell und oberschlau: nach- und ober- Weder die Adjektivpräfigierung mit nachnoch die mit oberkommt besonders häufig vor. Mit der ursprünglichen Präposition nachwird eine zeitliche Aufeinanderfolge ausgedrückt: die nacheiszeitliche Periode folgt auf die eiszeitliche. Auch bei nachfinden sich Partizipien wie z.- B. geboren ( → nachgeboren) als Grundlage. Daneben gibt es aber insbesondere bei Präsenspartizipien auch direkt von Verben abgeleitete Formen wie nachfolgend (zu nachfolgen) oder nachstehend (zu nachstehen). Außer bei Adjektiven und Verben kann das Präfix auch bei Substantiven (z.-B. Nachtrag) auftreten. <?page no="139"?> 139 Modifikationen mit dem ursprünglichen Adjektiv ober- (heute nur noch attributiv verwendbar, z.- B. der obere Teil) drücken aus, dass die im Adjektiv bezeichnete Eigenschaft in besonders hohem Maße vorliegt: faul → oberfaul. Die so präfigierten Adjektive haben interessanterweise auch dann eine negative Konnotation, wenn das Ausgangswort eine durchaus positive Bedeutung hatte, z.-B. gescheit → obergescheit. Eine völlig andere Funktion hat oberdagegen in Fällen wie obergärig oder oberschlächtig, wo es wörtlich beschreibt, dass sich etwas ‚oben‘ befindet (hier: das gärende Bier resp. das die Mühle antreibende Wasser). In der Beutung ‚oben‘ kann ober gelegentlich auch bei Substantiven (z.-B. Oberland) vorkommen. Überempfindlich und überbesorgt: über- Durch die Präfigierung mit überwird gewöhnlich ausgedrückt, dass die im Adjektiv bezeichnete Eigenschaft im Übermaß vorhanden ist: ängstlich → überängstlich, glücklich → überglücklich, pünktlich → überpünktlich. Daneben kommen auch Fälle vor, bei denen die Bedeutung stärker mit der ursprünglich lokalen Bedeutung der Präposition über verknüpft ist, so etwa bei fachlich → überfachlich, individuell → überindividuell, regional → überregional. Das Morphem kommt häufig vor und kann auch als Präfix oder Verbpartikel bei Verben (z.-B. übergehen) sowie bei Substantiven (z.-B. Überzahl) gebraucht werden. Ungut und unappetitlich: un- In unliegt das häufigste bei Adjektiven vorkommende Präfix vor; es findet sich außerdem, wenn auch sehr viel seltener, bei Substantiven (z.-B. Untat). Das Morphem dient der Negation der im Adjektiv ausgedrückten Eigenschaft und kann mit ‚nicht‘ paraphrasiert werden: unschön bedeutet ‚nicht schön‘, unsympathisch ‚nicht sympathisch‘. Dennoch ist die Bedeutung eines mit unpräfigierten Adjektivs nicht automatisch mit der identisch, die bei der Negation mit nicht oder kein entsteht. Durch die morphologische Verschmelzung der Negation mit dem Wort entsteht in vielen Fällen eine feste semantische Verbindung, die auch die Verwendung des Adjektivs auf bestimmte Kontexte limitiert. So kann jemand zwar kein guter Mensch sein, aber nicht ein *unguter Mensch. Ebenso ist ein Mensch, der keine Behinderung hat, nicht unbehindert, was aber eine Sicht oder ein Zugang durchaus sein können. Dass man etwas Teures nicht als unbillig bezeichnen kann, hängt damit zusammen, dass billig hier in seiner Bedeutung 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="140"?> 140 3 Die Wortbildung des Adjektivs ‚angemessen‘ vorliegt, die sonst nur noch in recht und billig erhalten ist. Bei unbeholfen oder unwirsch existiert das nicht-negierte Gegenstück entweder gar nicht (das regional gebräuchliche wirsch ist etymologisch nicht mit unwirsch verwandt) oder im Fall von beholfen nur als Partizip des reflexiven Verbs sich behelfen (cf. Sie hat sich notdürftig mit einem Provisorium beholfen), das aber nicht wie ein Adjektiv verwendet werden kann. Obwohl das Präfix außerordentlich häufig und auch produktiv ist, lassen sich bei weitem nicht alle Adjektive mit unmodifizieren. Nicht möglich ist diese Präfigierung etwa bei bunt, dick, nett oder zahm, um nur einige Beispiele zu nennen. Bei Kühnhold/ Wellmann/ Fahrmaier (1978: 178) findet sich dazu die Vermutung, es falle „dem Präfix undie zentrale Aufgabe zu, Antonyme zu bilden, wo entsprechende Simplizia als Gegenwörter fehlen.“ An Beispielen wie ungut (gut/ schlecht), unklug (klug/ dumm), unrichtig (richtig/ falsch), unschön (schön/ hässlich) u.-a.-m. zeigt sich jedoch, dass Adjektive durchaus auch dann mit unpräfigiert werden können, wenn es ein Antonym gibt. Umgekehrt fehlt bei vielen Adjektiven, die wie bitter, glatt oder öde keine Antonyme aufweisen, dennoch die Möglichkeit, sie mit unzu modifizieren. In der Gesamtheit der mit unpräfigierten Adjektive überwiegen Ableitungen auf -bar (unabwendbar, ungenießbar, unverzichtbar etc.) und auf -lich (unabsichtlich, unerfreulich, unverzeihlich etc.) sowie Partizipien wie ungesehen, ungekocht oder ungezuckert etc. Das legt die Vermutung nahe, dass die Präfigierung auf unbei diesem Adjektivtyp grundsätzlich leichter möglich ist. Dabei ist die un-Präfigierung insbesondere bei Perfekt-Partizipien mit passivischer Bedeutung produktiv, und es scheint hier anders als bei anderen Partizipien auch kaum Einschränkungen für die Bildbarkeit zu geben (cf. auch Hentschel 1998: 84 f.). Da auch sämtliche Adjektive auf -bar sowie viele Adjektive auf -lich eine passivische Bedeutung aufweisen, kann man die Annahme vertreten, dass dieser Bedeutungsanteil die Präfigierung mit unerleichtert. Grundsätzlich steht unin Konkurrenz zu nicht-, das ebenfalls mit einem Adjektiv verschmelzen kann und dann auch mit ihm zusammengeschrieben wird. Beispiele wären nichtamtlich, nichtbehindert oder nichtleitend. Oft ist in diesen Fällen keine alternative Bildung mit unmöglich. Aber dort, wo beide Formen auftreten --etwa bei nichtchristlich/ unchristlich, nichtehelich/ unehelich oder nichtorganisiert/ unorganisiert -- zeigt sich ein Bedeutungsunterschied: Das mit unpräfigierte Adjektiv hat gegenüber dem mit nicht-, das neutral eine Negation ausdrückt (eben: ‚nicht christltich‘ oder ‚nicht organisiert‘), eine eher pejorative Konnotation. <?page no="141"?> 141 Unterbeschäftigt und untertariflich: unter- Die Modifikation mit dem auch als Präposition (z.- B. unter der Gürtellinie) oder attributives Adjektiv und Antonym zu ober (z.-B. der untere Teil) auftretenden Morphem unterdrückt aus, dass etwas sich unterhalb der im Adjektiv bezeichneten Eigenschaft befindet. Das kann im wörtlichen, lokalen Sinn der Fall sein, so etwa bei irdisch → unterirdisch ‚unter der Erde‘, aber auch im eher übertragenen wie bei entwickelt → unterentwickelt ‚unterhalb des normalen Entwicklungsstandes‘. Unterkommt auch bei Substantiven (z.- B. Unterarm) sowie als Präfix oder Verbpartikel bei Verben (z.-B. unterstehen) vor. Uralt und urkomisch: ur- Das Präfix ur-, dessen ursprüngliche Bedeutung sich mit ‚aus heraus‘ umschreiben lässt, kann bei der Modifikation von Adjektiven wie auch von Substantiven (z.- B. Urform) vorkommen. Bei Adjektiven kann es sowohl die Bedeutung ‚von Anfang an‘ (etwa: urgermanisch) als auch ‚durch und durch‘ (im Sinne einer Steigerung, etwa: urgemütlich) vermitteln, wobei diese Bedeutungen ineinander übergehen können. So wird ureigen im Grimm’schen Wörterbuch sowohl mit „seit urdenklicher zeit leibeigen“ als auch im Sinne von ‚originell‘ mit „ursprünglich oder vom ersten anfang an eigen“ paraphrasiert (DWB s.-v. ureigen), während das DWDS (s.- v. ureigen) nur noch „jemandem ganz und gar zu eigen“ angibt. Vorchristlich und vorlaut: vor- Die Präposition vor hat bei Adjektiven eine temporale Bedeutung und dient in den meisten Fällen dem Ausdruck dessen, dass die im Adjektiv ausgedrückte Eigenschaft zum bezeichneten Zeitpunkt noch nicht vorlag. So liegt das voratomare Zeitalter vor dem atomaren, voreiszeitliche Pflanzen wuchsen vor der Eiszeit und vorlaut bezeichnete ursprünglich, dass ein Jagdhund zu früh Laut gab (cf. Kluge 2012 s.-v. vorlaut). Daneben kann voraber auch darauf verweisen, dass die Eigenschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorlag. Dies ist typischerweise bei Partizipien der Fall, so etwa bei vorbestraft, voreingenommen oder vorerwähnt. Außer bei Adjektiven kann vorauch bei Substantiven (z.-B. Vorgang) und Verben (z.-B. vorpreschen) vorkommen. 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="142"?> 142 3 Die Wortbildung des Adjektivs Widerborstig und zwischenstaatlich: wider- und zwischen- Weder widernoch zwischenkommen bei der Modifikation von Adjektiven besonders häufig vor. In beiden Fällen ist die ursprüngliche Bedeutung der Präpositionen noch gut erkennbar: Etwas Widergesetzliches verstößt gegen das Gesetz, etwas Widermenschliches gegen das menschliche Wesen. Demgegenüber finden zwischenbetriebliche oder zwischenmenschliche Verhandlungen oder Vereinbarungen zwischen Betrieben oder Menschen statt. Beide Morpheme finden sich nicht nur bei Adjektiven, sondern auch bei Substantiven (z.-B. Widerstand, Zwischenergebnis) und Verben (z.-B. widersprechen, zwischenlanden). 3.1.2.1.2 Antiautoritär, extraterristisch, prähistorisch, subatomar: Adjektivmodifikation mit entlehnten Präfixen im weiteren Sinne Auch bei der Präfigierung von Adjektiven gibt es, ähnlich wie bei Substantiven, eine erstaunlich große Zahl von Morphemen, die aus anderen Sprachen wie etwa dem Griechischen oder Lateinischen ins Deutsche übernommen worden sind und die man daher auch als „exogen“ bezeichnet. Mehrheitlich werden sie zur Modifikation von Adjektiven verwendet, die ihrerseits Fremd- oder Lehnwörter sind. Es handelt sich dabei um die folgenden Morpheme (Präfixe im klassischen Sinne sowie Konfixe): a-/ anasozial antiantiautoritär bibipolar dedezentral disdisharmonisch exexterrestisch extraextrabreit hyperhypersensibel ininadäquat interinterstellar intraintralingual ko-/ konkongenial kontrakontraintuitiv megamegageil multimultifaktoriell <?page no="143"?> 143 paraparamilitärisch postpostfaktisch präprähistorisch proproaktiv pseudopseudowissenschaftlich retroretroaktiv semisemiprofessionell subsuboptimal supersupertoll suprasuprasegmental transtransluzid ultraultraleicht Nicht alle diese Morpheme kommen gleichermaßen häufig vor. Bei einigen findet sich nur eine Handvoll Beispiele, und oft gehören auch die so gebildeten Wörter eher zum Fachwortschatz bestimmter Wissenschaftsgebiete als zur Alltagssprache (z.-B. suprafluid: Physik; beschreibt einen Flüssigkeitszustand). Einige der hier aufgezählten Elemente kommen auch als freie Morpheme vor; das betrifft Ex, extra/ Extra, kontra, mega, Multi, pro, pseudo, retro, super und Ultra. Sie werden in der Literatur teilweise unterschiedlich eingeordnet: Während z.-B. Fleischer/ Barz (2012: 174, 265) extra und ultra als Präfixe einstufen, multi und pseudo hingegen als Konfixe (cf. ibd.: 172), werden sie bei Polenz (2000: 99) alle als Beispiele für Präfixe aufgeführt. Mega wiederum ist z.-B. bei Herberg/ Kinne/ Steffens (2012: 214 et passim) ein Beispiel für ein Konfix, während es sich bei Fleischer/ Barz (2012: 108) unter der Überschrift „Einheiten zwischen Konfix und Affix“ findet - eine Kapitelüberschrift, die das Dilemma bei der Einordnung all dieser Formen gut beschreibt. Im Folgenden werden unabhängig von ihrer Einordnung diejenigen exogenen Morpheme besprochen, die bei Adjektiven häufiger auftreten. Ahistorisch und anaerob: a- Das ursprünglich aus dem Griechischen stammende Präfix abzw. an- (vor Vokal), wie es in sexuell → asexuell oder synchron → asynchron auftritt, hat eine dem deutschen un- (z.- B. ungut) oder dem aus dem Lateinischen entlehnten in- (z.-B. inadäquat) entsprechende Funktion: es negiert das so präfigierte Ad- 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="144"?> 144 3 Die Wortbildung des Adjektivs jektiv. Daher steht es in einigen Fällen auch in Konkurrenz zu un-, so etwas bei sozial → asozial/ unsozial oder typisch → atypisch/ untypisch. Dabei kann wie bei asozial ‚nicht in die Gemeinschaft integriert, gesellschaftsschädigend‘ vs. unsozial ‚gegen die Interessen großer Teile der Bevölkerung gerichtet‘ ein Bedeutungsunterschied oder wie bei atypisch vs. untypisch ein Unterschied in der Stilebene bestehen. Außer bei Adjektiven kann das Präfix auch bei Substantiven (z.-B. Aversion) auftreten. Antiautoritär und antizyklisch: anti- Das aus dem Griechischen stammende Präfix anti-, das auch bei Substantiven häufig anzutreffen ist (z.-B. Antimaterie), hat die Bedeutung ‚gegen‘ oder ‚wider‘. Dabei schwingt in so gebildeten Adjektiven oft eine aktive Konnotation mit; sie zielen sozusagen auf die Herstellung einer Eigenschaft, die der im nicht präfigierten Adjektiv ausgedrückten entgegengesetzt ist, z.-B. bakteriell → antibakteriell ‚gegen Bakterien wirksam‘, rassistisch → antirassistisch ‚auf die Abschaffung des Rassismus ausgerichtet‘, septisch → antiseptisch ‚gegen Keime wirksam‘. Bidirektional und bipolar: bi- Das Präfix bigeht auf das lateinische Präfix bizurück, das wiederum mit dem Adverb bis ‚zweifach, doppelt‘ verwandt ist. Entsprechend drücken damit gebildete Adjektive aus, dass etwas zweifach vorhanden ist: Bilabiale Konsonanten werden mithilfe der Ober- und Unterlippe gebildet, bilaterale Verhandlungen werden zwischen zwei Seiten geführt, und bilinguale Menschen sprechen zwei Sprachen. Als Abkürzung für bisexuell hat sich auch der Gebrauch von bi alleine als Adjektiv eingebürgert. Der Gebrauch des Präfixes, das mit Ausnahme von nicht im Deutschen gebildeten Fremdwörtern wie Bigamie oder Bifurkation nur bei Adjektiven vorkommt, ist auf Fachsprachen beschränkt. Extragroß und extrazellulär: extra- Auch extrahat seinen Ursprung im Lateinischen, wo es als Adverb und Präposition mit der Bedeutung ‚außen‘ und ‚außer‘ gebraucht wurde. Im Unterschied zu den meisten anderen entlehnten Präfixen kann sich extra auch mit deutschen Adjektiven verbinden, und es kann darüber hinaus auch als Adverb mit den Bedeutungen ‚gesondert‘, ‚absichtlich‘ und gelegentlich auch ‚besonders‘, vor- <?page no="145"?> 145 kommen: Das Gemüse bezahle ich extra (‚gesondert‘); Das hast du extra gemacht (‚mit Absicht‘); Das find’ ich extra doof (‚besonders‘). Darüber hinaus kann das Morphem sogar als Substantiv gebraucht werden: ein Auto mit vielen Extras. Bei der Verwendung als Präfix wird in Verbindung mit deutschen Adjektiven die Bedeutungen ‚besonders‘ vermittelt: extrabreit ‚besonders breit‘, extrafein ‚besonders fein‘ etc. In Verbindung mit Lehn- und Fremdwörtern ist die Bedeutung demgegenüber ‚außerhalb‘: extralinguistisch ‚außerhalb der Sprache, nicht zur Sprache gehörig‘; extraterristisch ‚außerhalb der Erde‘. In Einzelfällen ist das mit extrapräfigierte Adjektiv auch schon in dieser Form aus einer anderen Sprache übernommen worden, so etwa beim französischen Lehnwort extravagant. Außer bei Adjektiven findet sich extraauch bei Substantiven (z.-B. Extrawurst). Indiskutabel, impertinent, illegitim und irrelevant: in- Das Präfix inbildet das lateinische Pendant zum deutschen un- und kommt entsprechend sehr häufig vor. Wie bei Substantiven verändert sich auch bei Adjektiven die Form des Morphems in Abhängigkeit von der Folgesilbe, so dass es neben inauch die Formen il-, im- und irgibt. Dabei steht ilvor l: (z.- B. legal → illegal), irvor r (z.-B reversibel → irreversibel) und imvor Labialen, also vor b/ p und m (z.-B perfekt → imperfekt, materiell → immateriell; imbezil ist nicht im Deutschen gebildet, sondern in dieser Form aus dem Französischen entlehnt worden). Inist bei Fremdwörtern produktiv; es kommt seltener auch bei Substantiven vor (z.- B. Invertebrat). Das gleichlautende Präfix bei Verben ist hingegen nicht negierend, sondern entspricht dem deutschen (hin)ein- (z.-B. infiltrieren). Interlinear und interzellulär: inter- Das aus der lateinischen Präposition inter mit der Bedeutung ‚zwischen‘ abgeleitete Präfix kommt relativ häufig vor: individuell → interindividuell, linear → interlinear, kontinental → interkontinental, personell → interpersonell etc. Außer bei Adjektiven findet sich interauch bei Substantiven (z.-B. Interregnum) sowie bei Verben (z.-B. interagieren), wo es allerdings seltener auftritt. 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="146"?> 146 3 Die Wortbildung des Adjektivs Intramuskulär und intravenös: intra- Das Präfix intraist aus der lateinischen Präposition intra ‚innerhalb‘ abgeleitet. Es ist im Wesentlichen auf den Fachwortschatz beschränkt und kommt dabei insbesondere in der Medizin vor. So werden etwa Begriffe wie ateriell → intraateriell (‚in die Aterie‘), kutan → intrakutan (‚in die Haut‘) oder lumbal → intralumbal (‚in den Lendenwirbelbereich‘) verwendet, um den Ort zu beschreiben, an dem eine Injektion verabreicht wird. In der Sprachwissenschaft findet man den Begriff intralingual ‚innersprachlich‘. Das Präfix kommt nur bei Adjektiven vor. Postmodern und poststrukturalistisch: post- Das aus der lateinischen Präposition post ‚nach‘ abgeleitete Präfix postbezeichnet ein zeitliches Nacheinander: Die im so präfigierten Adjektiv bezeichnete Eigenschaft ist nach der Eigenschaft eingetreten, die im unpräfigierten ausgedrückt wird. So findet das postindustrielle Zeitalter nach dem industriellen statt, und die postoperative Phase folgt auf die Operation. Eine Neubildung ist das Adjektiv postfaktisch für eine politische Haltung, in der Fakten in den Hintergrund treten. Wie das Beispiel zeigt, ist das Präfix, das auch bei Substantiven (z.-B. Postdoktorandin) und in seltenen Fällen auch bei Verben (z.-B. postdatieren) vorkommen kann, produktiv. Prähistorisch und pränatal: prä- Das Präfix prä-, abgeleitet von der lateinischen Präposition prae ‚vor‘, bildet von der Bedeutung her das Gegenstück zu post-. So präfigierte Adjektive beschreiben eine Eigenschaft, die zeitlich vor der im nicht präfigierten Adjektiv ausgedrückten liegt. Gelegentlich findet man dabei auch Schreibweisen mit Bindestrich, beispielsweise prä-kapitalistisch (so etwa bei Steinbrink 2009: 26) neben präkapitalistisch (so etwa bei Epe 2017: 169) zur Beschreibung von Gesellschaftsformen im Vorfeld des Kapitalismus. Präfindet sich auch bei Substantiven (z.-B. Präverb) und Verben (z.-B. prädisponieren). <?page no="147"?> 147 Subatomar und subterran: sub- Das von der lateinischen Präposition sub ‚unter‘ abgeleitet Präfix kommt relativ häufig vor, ist aber im Wesentlichen auf den Fachwortschatz verschiedener Wissenschaftsbereiche und damit auf Adjektive beschränkt, die im Alltag eher selten auftreten. Die Bedeutung ist in den meisten Fällen wörtlich als ‚unter‘ im Verhältnis zum einfachen Adjektiv beschreibbar: subarktisches Gebiet befindet sich unterhalb des arktischen, eine subkutane Injektion wird unter die Haut appliziert etc. Ausnahmen bilden Fälle wie subaltern ‚untergeordnet‘, das aus dem Französischen entlehnt wurde und zu dem es kein Adjektiv *altern gibt, oder suburban, das aber vermutlich als Lehnwort aus dem Englischen und nicht als deutsche Ableitung aus urban angesehen werden muss. Das Präfix kommt auch bei Substantiven (z.-B. Substandard) und Verben (z.-B. subordinieren) vor. Transalpin und transluzid: trans- Aus der lateinischen Präposition trans ‚jenseits‘, ‚(hin)durch‘ ist das gleichlautende Präfix abgeleitet, das auch bei Substantiven (z.- B. Transsilvanien, Transuran) incl. Firmennamen (cf. hierzu ausführlicher Nortmeyer 2000) und Verben (z.- B. transformieren) vorkommt. Insgesamt ist es nicht besonders häufig, begegnet aber etwa im Adjektiv transalpin, das als Namensgeber des gleichnamigen Zuges fungiert, oder in der transsibirischen Eisenbahn. Ferner ist es im Zusammenhang mit geschlechtlicher Identität in Adjektiven wie transsexuell oder auch dem noch nicht in Standard-Wörterbücher aufgenommenen transgeschlechtlich zu finden. In der Linguistik findet sich der Fachbegriff transphrastisch ‚über den Satz hinausreichend‘. 3.1.2.2 Alleinig, legalistisch, grünlich und verschiedenerlei: Adjektivmodifikation mit Suffixen Auch durch Suffigierung können Adjektive aus Adjektiven abgeleitet werden. Hier kommen mit Ausnahme von -oid, das im Anschluss an die anderen besprochen wird, nur heimische Suffixe in Frage, von denen es insgesamt sieben gibt: 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="148"?> 148 3 Die Wortbildung des Adjektivs -erlei und -fach (nur bei Numeralia incl. indefiniten Numeralia) zweierlei, vielfach -ig völlig -isch mit exogenem Zusatz -ist-: -istisch genialisch opportunistisch -lich lieblich -sam gleichsam -oid (exogen) faschistoid Einerlei und mehrfach: -erlei und -fach Die beiden Suffixe -erlei und -fach können nur mit Numeralia (Zahlwörten), hier: Kardinalia (‚Grundzahlwörtern‘), sowie in einigen Fällen mit Pronomina wie der, manch oder viel verwendet werden, z.- B. zweierlei, derlei, mehrerlei; zweifach, mehrfach, vielfach etc. Numeralia werden in vielen Grammatiken als Adjektive (sog. Zahladjektive, so etwa Duden 2016: 342) betrachtet, weswegen diese Art der Ableitung an dieser Stelle behandelt wird. Allerdings unterscheiden sich besonders große Zahlen wie hundert oder tausend deutlich von Adjektiven, indem sie zwar im Singular nicht flektierbar sind, dafür aber einen Plural bilden können und dann auch Kasusflexion aufweisen, z.-B. die Menschen kamen zu Hunderten/ zu Tausenden. Noch größere Zahlen wie Million, Milliarde, Billion haben sogar ein festes Genus (sie sind Feminina), was sie eindeutig zu Substantiven macht. Diese Eigenschaft großer Zahlen ist zugleich ein für Wortbildung nutzbares Schema, wie Dagobert Ducks Fantastilliarden zeigen (zu denen es als kleinere Einheit auch Fantastillionen gibt). In Bezug auf die Wortbildungsmöglichkeiten mit -erlei und -fach unterscheiden sich die verschiedenen Zahlwörter trotz ihrer unterschiedlichen morphologischen Eigenschaften aber nicht, und man kann auch ein Wort wie fantastillionenfach bilden. Außer von Kardinalia können insbesondere -erlei sowie in beschränkterem Maße -fach auch Adjektive von Indefinitpronomina (auch: „indefinite Artikelwörter“, so etwa Duden 2016: 310) ableiten. Damit sind Wörter wie all ( → allerlei), manch ( → mancherlei), mehr ( → mehrerlei), solch ( → solcherlei) oder viel ( → vielerlei, vielfach) gemeint. Es handelt sich dabei aber ebenso wie bei der ( → derlei) oder welch ( → welcherlei) nicht um Adjektive, sondern um Pronomina. <?page no="149"?> 149 Alleinig und schofelig: -ig Bildungen mit dem ansonsten hochfrequenten Suffix -ig kommen bei der Modifikation von Adjektiven nicht besonders oft vor; sie sind häufiger bei der Derivation von Adjektiven aus Substantiven (z.-B. Ehrgeiz → ehrgeizig) oder Verben (z.-B. rutschen → rutschig) zu finden und können auch bei der Ableitung aus Adverbien (z.-B. gestern → gestrig) verwendet werden. Bei der Modifikation bestehen gelegentlich Formen mit und ohne -ig als Synonyme nebeneinander, so etwa bei spitz und spitzig, die gleichbedeutend sind und im modernen Deutsch nur eine regional unterschiedliche Verteilung aufweisen. Ein Bedeutungsunterschied zeigt sich hingegen bei faul und faulig, wo letzteres den Beginn des Zustands charakterisiert, und ein noch stärkerer bei irr ‚verrückt‘ und irrig ‚auf einem Denkfehler beruhend‘. In einigen Fällen tritt bei der Modifikation mit -ig ein Umlaut auf (z.-B. lass → lässig, voll → völlig). Animalisch und literarisch: -isch Das ausgesprochen häufige Derivationssuffix -isch ist bei der Modifikation von Adjektiven auf den Gebrauch bei Fremd- und Lehnwörtern beschränkt, z.- B. genial → genialisch, matriarchal → matriarchalisch, passiv → passivisch etc. Eine Ausnahme bildet link → linkisch. Das Suffix kommt auch bei der Derivation von Adjektiven aus Substantiven (z.-B. Alkohol → alkoholisch) und Verben (z.-B. misstrauen → misstrauisch) vor. Dualistisch und opportunistisch: -istisch Mit -istisch, gelegentlich auch als -izistisch, können ebenso wie mit -isch nur Adjektive modifiziert werden, die dem Fremd- oder Lehnwortschatz angehören, z.-B. feudal → feudalistisch, real → realistisch, universal → universalistisch. Oft können parallel dazu auch die entsprechenden Personenbezeichnungen auf -ist (z.-B. Realist) sowie Abstrakta auf -ismus (z.-B. Realismus) gebildet werden, und in der Folge ist gelegentlich schwer zu bestimmen, ob das Adjektiv auf einer Modifikation oder auf einer Derivation aus einem Substantiv beruht. Wenn ein Adjektiv auf -isch endet, fällt diese Endung bei der Modifikation aus, und stattdessen wird die erweiterte Suffixform -izistisch verwendet, z.-B. klassisch → klassizistisch, logisch → logizistisch, mystisch → mystizistisch. So gebildete Adjektive können eine pejorative Konnotation haben. 3.1 Modifikation von Adjektiven <?page no="150"?> 150 3 Die Wortbildung des Adjektivs Dicklich und lieblich: -lich Eines der häufigsten Adjektivsuffix ist -lich, wie es z.- B. in grün → grünlich, rund → rundlich, süß → süßlich auftritt. Es kommt nicht nur bei der hier besprochenen Modifikation von Adjektiven vor, sondern auch bei der Derivation von Adjektiven aus Substantiven (z.-B. Angst → ängstlich) und Verben (z.-B. bedenken → bedenklich), wo es ebenfalls produktiv ist. In der Mehrzahl der Fälle werden umlautfähige Vokale vor -lich umgelautet, z.-B. arm → ärmlich, froh → fröhlich, karg → kärglich etc. Bei der Ableitung von Adjektiven, die auf -n enden, tritt ein t vor die Endung: z.-B. beflissen → beflissentlich, eigen → eigentlich, gelegen → gelegentlich, offen → öffentlich etc. Die Modifikation eines Adjektivs mit -lich bewirkt im Normalfall eine Abschwächung der Bedeutung, was man besonders bei Farbadjektiven gut erkennen kann: Bildungen wie weiß → weißlich, rot → rötlich etc. zeigen an, dass der jeweilige Farbton nicht im vollen Umfang vorhanden ist. Es kommen aber auch andere Bedeutungsveränderungen vor, so etwa bei bitter → bitterlich, was zwar in gelegentlich auch ‚ein bisschen bitter‘ bedeuten kann (etwa: ein bitterlicher Beigeschmack), meist jedoch eher im Sinne einer Verstärkung gebraucht wird (z.-B. bitterlich weinen). Ebenso sind reifliche Überlegungen nicht etwa noch nicht ganz reif, sondern besonders gut durchdacht, und etwas Öffentliches ist nicht nur ein bisschen, sondern für alle offen. Einsam und gemeinsam: -sam Ein bei der Adjektivmodifikation ausgesprochen selten eingesetztes Suffix ist -sam, das häufiger zur Ableitung von Adjektiven aus Substantiven (z.- B. Furcht → furchtsam) oder Verben (z.-B. streben → strebsam) verwendet wird. Neben gleichsam und gemeinsam kommen noch die aus den Numeralia ein und zwei abgeleiteten einsam und zweisam sowie das aus selten abgeleitete seltsam vor. Das Suffix ist nicht mehr produktiv. Faschistoid und humanoid: -oid Vor allem in der Fachsprache finden sich Ableitungen auf -oid, die zwar mehrheitlich aus Substantiven gebildet sind (z.-B. Paranoia → paranoid), gelegentlich aber auch zur Modifikation von Adjektiven verwendet werden können, so etwa bei faschistisch → faschistoid oder human → humanoid. Daneben finden sich weitere, nicht etablierte Bildungen wie rassistisch → rassistoid. Denkbar <?page no="151"?> 151 3.2 Adjektive aus Substantiven wäre in diesen Fällen allerdings auch eine Ableitung aus den entsprechenden Substantiven (hier: Faschist, Rassist). Das Suffix bezeichnet eine Annäherung an das, was im Basiswort ausgedrückt wird. 3.2 Geharnischt, golden, harmlos und orange: Adjektive aus Substantiven Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten, aus einem Substantiv ein Adjektiv abzuleiten: ▶ man kann das Substantiv durch Konversion in ein Adjektiv verwandeln, so etwa das Wort für den Edelstein Türkis in die Farbbezeichnung türkis; ▶ man kann Suffixe verwenden, z.-B. Glück → glückhaft, glücklich; ▶ man kann so tun, als sei das Substantiv ein Verb, und ein sog. Pseudopartizip daraus ableiten, z.-B. Laune [*launen]- → gelaunt. 3.2.1 Graus, Hamburger und türkis: Konversion von Substantiven zu Adjektiven Aus einer ganzen Reihe von Substantiven lassen sich durch einfache Konversion Adjektive bilden; Beispiele hierfür sind Ernst → ernst, Patent → patent oder Schmuck → schmuck. In manchen Fällen liegt diese Konversion historisch schon länger zurück und das zugehörige Substantiv ist nicht mehr oder zumindest nicht mehr im ganzen Sprachgebiet gebräuchlich, so etwa bei Schroff (auch: Schroffen, ‚Klippe‘)- → schroff. Während die bisher angeführten Beispiele der Adjektivdeklination folgen und entsprechend ganz normal flektierbar sind (cf. ein schmuckes Dorf, eine schroffe Antwort etc.) sind einige der so gebildeten Adjektive unveränderlich, so etwa Olive → oliv, Orange → orange, Rose → rosa. In der Umgangssprache findet man allerdings häufig auch flektierte Formen wie ein orangener Pullover oder eine rosane Jacke, die unter normativen Gesichtspunkten falsch sind, aber offenbar dem Bedürfnis der Sprechenden entgegenkommen, die Funktion des Wortes im Syntagma zu markieren. Ebenfalls unveränderlich sind die aus Städte- und Ländernamen abgeleiteten Adjektive auf -er wie Berliner oder Schweizer. Die Erklärung hierfür besteht darin, dass es sich dabei historisch gar nicht um Adjektive handelt. Was auf den ersten Blick wie eine Suffix-Derivation aussieht -- um das Adjektiv zu <?page no="152"?> 152 3 Die Wortbildung des Adjektivs bilden, wird ja ein -er an Berlin resp. Schweiz angefügt --ist in Wirklichkeit die Konversion eines substantivischen Genitiv Plural, weshalb die so gebildeten Adjektive hier auch als Beispiele für Konversionen behandelt werden. Das dem Genitiv Plural zugrunde liegende Substantiv ist zwar seinerseits auf eine Derivation zurückzuführen, mit der Personenbezeichnungen aus Ortsnamen gebildet wurde; dieser Ableitungsweg sowie die Tatsache, dass es sich bei den attributiv gebrauchten Formen um Genitive handelt, ist jedoch im synchronen Sprachbewusstsein nicht mehr nachvollziehbar. Das Grimm’sche Wörterbuch erklärt die Herkunft von Formen wie Berliner oder Schweizer und dabei zugleich auch die nach wie vor gültige Schreibweise mit Großbuchstaben folgendermaßen: nur das sei hervorgehoben, dasz sie auch aus namen von ländern, städten und dörfern gebildet werden und dann sehr oft im gen. pl. neben andern subst. erscheinen, in der älteren sprache bald vorausgehend bald nachfolgend, so z. b. sagte man zehen Regensburger schillinge oder zehen schillinge Regensburger, d. i. wie die Regensburger sie schlagen lieszen. sprachunkundige halten nun solche genitive, die überall unverändert stehn, ahd. Reganespurgârô, mhd. Regenesburgære lauten, für adjectiva und schreiben nürnberger waaren, frankfurter geld, als sei das hier auslautende er adjectivische bildung oder flexion, was ganz ohne sinn ist. (DW s. v. er) Da die Herkunft solcher Formen nicht mehr durchsichtig ist und ihre Funktion der von Adjektiven entspricht, werden sie von modernen Grammatiken inzwischen als Adjektive eingeordnet (cf. z.-B. Duden 2016: 741). Die Konvention, sie mit großem Anfangsbuchstaben zu schreiben, ist jedoch erhalten geblieben. 3.2.2 Gönnerhaft, halbseiden, individuell und windig: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit Suffixen Für die Derivation von Adjektiven aus Substantiven mittels Suffigierung stehen zahlreiche Morpheme zur Verfügung, sowohl heimische („indigene“) also auch solche, die aus anderen Sprachen übernommen wurden („exogene“). Im Folgenden werden beide Affixtypen in jeweils alphabetischer Reihenfolge besprochen. <?page no="153"?> 153 3.2 Adjektive aus Substantiven 3.2.2.1 Samten, heldenhaft und wundersam: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit heimischen Suffixen Die folgenden heimischen Suffixe können für die Derivation von Adjektiven aus Substantiven verwendet werden: -en golden -(e)rig löchrig -ern tönern -haft schadhaft -ig durstig -isch händisch -lich nördlich [-los] sinnlos -mäßig turnusmäßig -sam furchtsam -sch freudsch Golden und kunstseiden: -en Das Suffix -en leitet Adjektive aus Substantiven ab, die Stoffbezeichnungen sind, z.- B. Haar → hären, Kunstseide → kunstseiden, Silber → silbern etc. Wie die Beispiele zeigen, können bei der Derivation Umlaute auftreten, und das Suffix reduziert sich auf -n, wenn das Substantiv auf -e oder -er auslautet. Das Suffix -en steht in einer gewissen Konkurrenz zu -ern, das in derselben Funktion auftreten kann (siehe unten). Einkeimblättrig und löcherig: -(e)rig Das durchweg auf -rig verkürzbare Suffix -erig (z.- B. feingliederig/ feingliedrig, knöcherig/ knöchrig) steht in Konkurrenz zu -ig. Es wird typischerweise, wenngleich nicht ausschließlich, dann gebraucht, wenn der Plural des Ausgangssubstantivs auf -er lautet: Blatt → Blätter → blätterig, Glied → Glieder → gliedrig etc. Das Suffix kann Adjektive nicht nur aus Substantiven, sondern in einigen Fällen auch als Verben ableiten (z.-B. kleben → klebrig). <?page no="154"?> 154 3 Die Wortbildung des Adjektivs Gläsern und eisern: -ern Mit dem Suffix -ern kann man ebenso wie mit -en Adjektive aus Stoffbezeichnungen ableiten: Blei → bleiern, Glas → gläsern, Holz → hölzern, Ton → tönern etc. Eine Ausnahme von der semantischen Beschränkung auf Stoffbezeichnungen bildet das aus Lust abgeleitete Adjektiv lüstern. Wie die Beispiele zeigen, werden umlautfähige Vokale bei dieser Art von Derivation regelmäßig umgelautet (cf. auch Donalies 2018: 30). Gönnerhaft und mangelhaft: -haft Bei -haft handelt es sich um ein häufiges Suffix, das etymologisch mit dem Wort Haft verwandt ist und das so etwas wie ‚verbunden mit‘ ausdrückt. Mit ihm werden Adjektive mit der Bedeutung ‚in der Art von‘ oder ‚behaftet mit‘ aus Substantiven abgeleitet. So bedeutet feenhaft ‚in der Art einer Fee‘, fieberhaft ‚als habe man Fieber‘, lückenhaft ‚mit Lücken behaftet‘. Bei der Derivation mit -haft wird auslautendes -e getilgt, z.-B. Stimme → stimmhaft, Sünde → sündhaft; im Fall von Schaden → schadhaft entfällt auch das auslautende -en. Umgekehrt lässt sich aber bei Ableitungen mit -haft auch Interfigierung beobachten. Hier tritt vor allem -(e)nsehr häufig auf, z.-B. Dame → damenhaft, Greis → greisenhaft, Operette → operettenhaft. Nur in vergleichbar wenigen Fällen kommen auch andere Interfixe vor, so etwa -er- (Geist → geisterhaft) oder -s- (z.-B. Frühling → frühlingshaft). Außer bei der Derivation von Adjektiven aus Substantiven kann -haft auch bei der Ableitung aus Verben eingesetzt werden (z. B. zagen → zaghaft). Gewaltig und lustig: -ig „Dass Adjektive auf -ig als eigentliche Repräsentanten der Wortart gelten, hängt damit zusammen, dass sie von allen Wortarten abgeleitet werden können […] und dass sie mit einem ausgesprochenen Blick für das Wirkliche eine umfassende Welt der Eindrücke bereitstellen“, schrieb Brinkmann (1962: 117). Tatsächlich ist das Suffix -ig eines der häufigsten Morpheme, das bei der Derivation von Adjektiven verwendet wird. Auf der Adjektivliste der Plattform Wortwuchs.net sind insgesamt 1.226 Adjektive dieser Art verzeichnet, und die Plattform canoo. net listet für den Gebrauch zur Ableitung aus Substantiven sogar 2.450 Belege auf. Auch wenn nicht alle dort gelisteten Adjektive wirklich aus Substantiven <?page no="155"?> 155 deriviert sind und obwohl die Liste zahlreiche sich wiederholende Beispiele mit Numeralia enthält, die man in gewissem Sinne als Dubletten ansehen kann (z.-B. eingeschossig, zweigeschossig, dreigeschossig- … neungeschossig, zehngeschossig; ebenso: -armig, -prozentig, -eckig -seitig, -spurig, -sitzig, -stimmig, -stündig, -teilig u.-a. m.), ist das eine beachtliche Zahl. Einfach durch Anhängen von -ig gebildet sind z.-B. Durst → durstig, Haar → haarig oder Ross → rossig. Bei der Ableitung kann aber auch ein Umlaut entsteht, z.- B. Macht → mächtig, Verdacht → verdächtig, Anstoß → anstößig, Gunst → günstig, Sucht → süchtig. Die auslautenden Silben -e und -en des zugrundeliegenden Substantivs werden regelmäßig getilgt, z.-B. Erde → erdig, Schatten → schattig. Bei Substantiven auf -el und -er entfällt fakultativ das e, z.-B. Ekel → ekelig/ eklig, Krümel → krümelig/ krümlig; Fieber → fieberig/ fiebrig, Pulver → pulverig/ pulvrig etc. In einigen Fällen ist allerdings auch nur die Variante ohne e zulässig, so etwa bei Hunger → hungrig oder Schauer → schaurig. Das Suffix ist produktiv, wie Bildungen wie Instagram → instragrammig zeigen. Außer zur Derivation von Adjektiven aus Substantiven kann -ig auch verwendet werden, um Adjektive aus anderen Adjektiven (z.-B. spitz → spitzig), aus Verben (z.-B. knupsern → knusprig) und aus Adverbien (z.-B. heute → heutig) abzuleiten. Abgöttisch und zylindrisch: -isch Noch häufiger als -ig ist das Suffix -isch bei der Ableitung von Adjektiven aus Substantiven zu finden; hier verzeichnet z.- B. die Plattform canoo.net 3.169 Einträge, und bei Wortwuchs.net sind es 1.398; damit ist es das häufigste Suffix dieser Art. Es bildet Adjektive aus den verschiedenartigsten Substantiven, z.-B. Affe → äffisch, Kind → kindisch, Neid → neidisch, Stadt → städtisch, Typ → typisch etc. Die hohe Frequenz hängt auch damit zusammen, dass das Suffix nicht nur bei heimischen Substantiven, sondern ebenso bei vielen Fremd- und Lehnwörtern sowie auch bei geografischen sowie personenbezeichnenden Eigennamen verwendet wird: Dogma → dogmatisch, Parität → paritätisch; Berlin → berlinisch; Goethe → goethisch, Wagner → wagnerisch. Wie die Beispiele Affe → äffisch und Stadt → städtisch bereits zeigen, kann bei der Derivation mit -isch ein Umlaut auftreten; weitere Beispiele hierfür wären Argwohn → argwöhnisch oder Sturm → stürmisch. Bei Ableitungen aus Substantiven mit auslautendem -e oder -en werden diese ebenso wie bei der 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="156"?> 156 3 Die Wortbildung des Adjektivs Verwendung von -ig getilgt, z.-B. Schule → schulisch, Baden → badisch. Auch das -eaus der unbetonten Endsilbe -el entfällt, z.-B. Teufel → teuflisch. Bei Fremd- und Lehnwörtern (incl. fremde geografische Eigennamen) kommen darüber hinaus noch weitere Veränderungen des Ausgangswortes vor. So werden hier gewöhnlich die Endungen -ia, -ie, -ik, -in, -ium, -os und -us getilgt: ▶ Malaysia → malaysisch ▶ Melancholie → melancholisch ▶ Dynamik → dynamisch ▶ Toxin → toxisch ▶ Evangelium → evangelisch ▶ Epos → episch ▶ Kubus → kubisch Gelegentlich gibt es darüber hinaus noch weitergehende Veränderungen, die mit dem ausgangssprachlichen Formenbestand oder auch mit Ableitungen des Wortes zusammenhängen, die bereits in der Ausgangssprache erfolgt sind. So gehört zu Genese und Gen das Adjektiv genetisch, zu Genus hingegen generisch; aus Pathos wird pathetisch abgeleitet, und aus dem Eigennamen der mythischen Figur Hermes Trismegistos entstand das Adjektiv hermetisch. Mit -isch können Adjektive nicht nur aus Substantiven, sondern auch aus bereits vorhandenen Adjektiven (planetar → planetarisch) und aus Verben (murren → mürrisch) abgeleitet werden. Es ist produktiv und findet sich auch bei aktuellen, noch nicht in Wörterbüchern verzeichneten Bildungen wie Twitter → twitterisch. Appetitlich und sehnlich: -lich In -lich liegt ebenfalls ein häufiges Suffix für die Ableitung von Adjektiven aus Substantiven vor. Beispiele für Bildungen mit -lich wären etwa Amt → amtlich, Freund → freundlich, Schreck → schrecklich, Unterschied → unterschiedlich oder Wissenschaft → wissenschaftlich. Historisch geht das Suffix auf ahd. lîh ‚Körper, Gestalt‘ zurück, das wiederum mit dem nhd. Adjektiv gleich wie auch mit dem Substantiv Leiche verwandt ist (cf. DWB s.-v. gleich, leiche). Es verweist somit ursprünglich auf Gleich- oder Ähnlichkeit. Auch bei Derivationen mit -lich können Umlaute auftreten, z.-B. Tat → tätlich, Vater → väterlich; Hof → höflich, Norden → nördlich; Brunst → brünstig, <?page no="157"?> 157 Stunde → stündlich. Ebenso werden hier auslautendes -e und -en getilgt, z.-B. Friede(n)- → friedlich, Sprache → sprachlich; Schaden → schädlich, Weihnachten → weihnachtlich. Umgekehrt kann es stattdessen nach -en aber in einigen Fällen auch zu einem Einschub von d oder t kommen, z.-B. morgen → morgendlich; Versehen → versehentlich, Willen → willentlich. Das Suffix -lich kann auch zur Ableitung von Adjektiven aus anderen Adjektiven (z.-B. eigen → eigentlich) und Verben (z.-B. klagen → kläglich) verwendet werden. Es ist produktiv; zu den neueren Bildungen zählt z.-B. Börse → börslich. Maßlos und wolkenlos: los In los bzw. lose liegt eigentlich ein Adjektiv vor, das in der Bedeutung ‚locker, nicht befestigt‘ sowohl attributiv als auch prädikativ gebraucht werden kann (z.-B. in loser Reihenfolge; Bei dem ist wohl eine Schraube los); in der Bedeutung ‚nicht (mehr) verbunden, abwesend‘ (z.-B. Ich bin den Schnupfen endlich los-= ‚Ich bin endlich ohne Schnupfen‘) kommt es nur noch prädikativ vor. Da es diese letztere Bedeutung ist, die bei der Wortbildung fruchtbar gemacht wird, kann man das Morphem auch als Adjektiv ansehen, und daher wurde es bereits ausführlicher im Vorigen bei der Komposition von Adjektiven mit Substantiven behandelt. Da es in der Literatur dennoch mehrheitlich als Suffix betrachtet wird (so z.-B. Fleischer/ Barz 2012: 345), wird es auch an dieser Stelle nochmals aufgeführt. Mit -los gebildete Adjektive lassen sich durchweg durch ein Syntagma aus dem beteiligten Substantiv und der Präposition ohne paraphrasieren: ärmellos bedeutet ‚ohne Ärmel‘, bargeldlos ‚ohne Bargeld‘, humorlos ‚ohne Humor‘, ziellos ‚ohne Ziel‘ etc. Bei einem Suffix, das zur Wortbildung dient, ist dies ungewöhnlich, denn normalerweise ist die Grammatikalisierung- also der Übergang von einem Wort mit lexikalischer Bedeutung zu einem grammatischen Morphem - bei Derivationsmorphemen sehr viel weiter fortgeschritten und der semantische Unterschied zum Ausgangswort entsprechend größer. 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="158"?> 158 3 Die Wortbildung des Adjektivs Ein Beispiel für die Grammatikalisierung von Wörtern mit lexikalischer Bedeutung zu Wortbildungsmorphemen wäre das im Absatz zuvor besprochenen Suffix -lich. Seine ursprüngliche Bedeutung ist heute nicht mehr erkennbar. Historisch ist es aus einem germanischen Substantiv *lika (der Asterisk zeigt hier an, dass die Form erschlossen und nicht belegt ist) entstanden. Dessen Bedeutung ‚Körper‘ ist heute noch im Wort Leiche erhalten, das aus derselben Wurzel stammt (cf. Kluge 2012 s. v. -lich). Nun kann man zwar möglicherweise ein Adjektiv wie männlich noch ansatzweise mit ‚den Körper eines Mannes habend‘ paraphrasieren; aber selbst bei anderen Ableitungen aus Personenbezeichnungen wie Bauer → bäuerlich oder Frau → fraulich ist das nicht möglich, und bei Derivationen wie augenscheinlich, südlich oder versehentlich ist der Zusammenhang beim besten Willen nicht mehr herstellbar. Typisch für Bildungen mit -los ist, dass hier auch die Fugenelemente -n- und -sauftreten. Im Fall von -nkann man die Formen auch als Ableitung aus dem Plural deuten: Lücke → Lücken → lückenlos, Pause → Pausen → pausenlos, Wolke → Wolken → wolkenlos etc. Bei -sist dies hingegen nicht möglich, und bei Feminina kommt auch der Genitiv als Erklärung für das s nicht in Frage; cf. z.-B. Fassung → fassungslos, Fraktion → fraktionslos; Rücksicht → rücksichtslos etc. Interfigierung ist im Deutschen besonders typisch für die Kompositionen aus zwei Substantiven (z.-B. Liebe + Brief → Liebe-s-brief) sowie für Komposita aus einem Substantiv und einem Adjektiv (z.-B. Liebe + blind, hungrig, krank → liebe-s-blind, liebe-s-hungrig, liebe-s-krank etc.). Zusammenfassend kann man festhalten, dass bei -los zwar ein Grammatikalisierungsprozess begonnen hat, der auf ein Derivationsmorphem zusteuert, dass das Morphem dem Ausgangsadjektiv aber immer noch sehr nahe steht und die erreichte Stufe eher einer Adposition wie ohne entspricht als einem typischen Derivationssuffix wie -lich. So gesehen wäre los auch ein klassischer Kandidat für ein Affixoid. Gefühlsmäßig und verhältnismäßig: -mäßig Auch bei mäßig handelt es sich eigentlich um ein Adjektiv, und zwar eines, das seinerseits aus einem Substantiv abgeleitet wurde: Maß → mäßig. Seine Bedeutung ‚in Maßen, nicht sehr‘ (z.-B. mit mäßigem Erfolg) kommt jedoch bei Verwendung als Derivationsmorphem nicht zum Tragen, und die semantische Funktion, die es übernimmt, lässt sich anders als bei los nur schwer einheitlich <?page no="159"?> 159 erfassen. Die Bedeutung kann mit ‚gemäß‘, aber auch ‚in der Art von‘ oder ‚in Bezug auf ‘ umschrieben werden. Neben einfachen Zusammensetzungen aus Substantiv und mäßig wie in Platz → platzmäßig, Recht → rechtmäßig, Zweck → zweckmäßig etc. finden sich auch solche mit den Fugenelementen -e-, -(e)n- und -(e)s-, z.- B. Hund → hund-e-mäßig, Menge → menge-n-mäßig, Zahl → zahlen-mäßig, Gewohnheit → gewohnheit-s-mäßig, Verstand → verstand-es-mäßig. Während sich einige dieser Fugenelemente auch als Plural (Hunde, Mengen, Zahlen) oder als Genitiv (Verstandes) interpretieren ließen, ist dies bei femininen Substantiven in Kombination mit dem Interfix -swie in arbeitsmäßig, erfahrungsmäßig, vorschriftsmäßig etc. nicht möglich, so dass es naheliegt, alle als Fugenelemente zu betrachten. Wie beim Gebrauch von -sbei Substantivkomposita lassen sich auch hier parallele Formen mit und ohne Fugenelement beobachten: Umfang → umfangmäßig und umfangsmäßig. Auffällig ist, dass es sich bei Wortbildungen mit -mäßig zwar formal durchweg um Adjektive handelt, dass sie aber nur sehr selten attributiv (z.-B. sein gewohnheitsmäßiges Verhalten) oder prädikativ (z.-B. ihr Verhalten war vorschriftsmäßig) gebraucht werden. Stattdessen werden sie typischerweise adverbial eingesetzt (z.- B. Ich mache das regelmäßig; Zahlenmäßig hat sich nicht viel geändert etc.; cf. zu diesem Phänomen ausführlicher Salfner 2018). Das Suffix ist produktiv, und so finden sich auch aktuelle Bildungen wie Facebook → facebookmäßig. Gewaltsam und tugendsam: -sam In einigen Fällen kann auch mithilfe des Suffixes -sam ein Adjektiv aus einem Substantiv abgeleitet werden, z.-B. Ehre → ehrsam, Friede → friedsam. Wie sich zeigt, wird das auslautende -e des Substantivs dabei getilgt. Häufiger als bei der Ableitung aus Substantiven kommt das Suffix bei der aus Verben vor (z.-B. arbeiten → arbeitsam); selten findet es sich auch bei der Modifikation von Adjektiven und Numeralia (z.-B. zwei → zweisam). freudsch und grimmsch: -sch Nur bei Eigennamen kommt das Suffix -sch zum Einsatz, das die Zugehörigkeit zum jeweiligen Namensträger ausdrückt. Dabei lässt die Rechtschreibung zwei Varianten zu: entweder wird das Suffix direkt an den Namen angefügt und das so gebildete Adjektiv dann klein geschrieben (z. B. Freud → ein freudscher Versprecher), oder aber es wird mit einem Apostroph vom Namen abgetrennt, 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="160"?> 160 3 Die Wortbildung des Adjektivs der dann nach wie vor großgeschrieben wird (z.-B. Grimm → das Grimm’sche Wörterbuch). 3.2.2.2 Bravurös, funktional und sportiv: Derivation von Adjektiven aus Substantiven mit entlehnten Suffixen Für die Ableitung von Adjektiven aus Substantiven steht neben den heimischen auch eine große Anzahl exogener Suffixe zur Verfügung: -al (-ial, -ual) zentral -alisch musikalisch -anisch amerikanisch -ar elementar -är revolutionär -arisch kalendarisch -atisch klimatisch -ell (-iell, -uell) akzidentell -esk clownesk -etisch theoretisch -in kristallin -inisch sibyllinisch -istisch snobistisch -itisch moskowitisch -iv konvulsiv -oid (-id) paranoid -ös (-iös) nervös -orisch definitorisch Sie dienen vor allem der Derivation aus Substantiven, die ihrerseits Fremd- oder Lehnwörter sind, und viele sind auch bereits in der Ausgangssprache an das entsprechende Substantiv angefügt und dann zusammen mit ihm entlehnt worden. Im Folgenden werden die häufigsten unter ihnen in alphabetischer Reihenfolge besprochen. <?page no="161"?> 161 Bronchial und klerikal: -al Das Suffix -al, zu dem auch die Suffixe -ial und -ual als Nebenformen gehören, ist das häufigste unter den exogenen Suffixen. Es stammt ursprünglich aus dem Lateinischen, wo es in der Form -alis ebenfalls bereits ein Derivationssuffix war, mit dem man aus Substantiven Adjektive ableiten konnte. Außer im Deutschen kommt das Suffix auch im Englischen und im Französischen vor, so dass sich in der Liste der so gebildeten Wörter auch viele finden, die bereits fertig gebildet aus diesen Sprachen entlehnt wurden, so z.-B. marginal (aus dem Französischen) oder digital (aus dem Englischen). Neben dem einfachen Anfügen des Suffixes an das unveränderte Substantiv wie in Aktion → aktional, Koloss → kolossal, Person → personal etc. kann es bei -al auch zu Veränderungen der Substantivendung kommen. Oft, wenngleich keineswegs immer, gehen sie auf den Formenbestand in der Ausgangssprache des Wortes zurück, so etwas bei Apex → apikal (cf. lat. apex, Genitiv: apicis), Nomen- → nominal (cf. lat. nomen, Genitiv: nominis), Pharynx → pharyngal (cf. lat. pharynx, Genitiv: pharyngis) etc. Auslautende Silben werden häufig getilgt: Basis → basal, Kollegium → kollegial, Kategorie → kategorial, Zentrum → zentral. Große Teile der so gebildeten Wörter gehören dem Fachwortschatz verschiedener Wissenschaftsgebiete an. Gelegentlich gibt es parallel zu den Adjektiven auf -al auch Derivationen auf -ell, wobei sich oft ein leichter Bedeutungsunterschied ergibt, z.-B. emotional vs. emotionell, eventual (meist in Zusammensetzungen wie Eventualvorsatz) vs. eventuell, kategorial vs. kategoriell, nominal vs. nominell etc. Amerikanisch und byzantinisch: -anisch und -inisch Die Suffixe -anisch und -inisch sind vor allem deshalb häufig zu finden, weil sie dazu dienen, Adjektive aus geografischen wie auch aus personenbezogenen Eigennamen abzuleiten: Afrika → afrikanisch, Anhalt → anhaltinisch; Kopernikus → kopernikanisch, Sibylle → sibyllinisch. Gelegentlich kommen auch Ableitungen mit zusätzlichem i, also mit -ianisch vor, so etwa Hegel → hegelianisch, Kant → kantianisch, Wagner → wagnerianisch. Diese Form wird vor allem bei Derivationen aus Eigennamen gewählt, wo das Suffix als Konkurrenzform neben einfachem -sch (cf. hegelianisch, aber auch: hegelsch) auftritt. Parallel zum Adjektiv existiert in der Mehrheit der Fälle auch eine substantivische Ableitung auf -aner bzw. -ianer, seltener auch -iner, zur Bezeichnung von Personen: Afrikaner, Anhaltiner; Hegelianer, Wagnerianer. 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="162"?> 162 3 Die Wortbildung des Adjektivs Alveolar und polar: -ar Ausschließlich aus Fremd- und Lehnwörtern können mithilfe des auf das Lateinische zurückgehenden Suffixes -ar die zugehörigen Adjektive abgeleitet werden, z.-B. Element → elementar, Linie → linear, Pol → polar (alle drei Substantive sind Lehnwörter lateinischen Ursprungs). Daneben finden sich aber auch Adjektive auf -ar, die in dieser Form aus anderen Sprachen übernommen wurden, so etwa insular (aus engl. insular/ lat. insularis, cf. DWDS s.-v. insular) oder molekular (aus franz. moleculaire, cf. DWDS s.-v, molekular). Inflationär und familiär: -är Unter den mit -är abgeleiteten Adjektiven sind viele, die bereits als fertige Adjektive aus dem Französischen entlehnt und nicht erst im Deutschen abgeleitet wurden, so z.-B. arbiträr, egalitär oder monetär. Das Suffix selbst stammt ebenfalls aus dem Französischen, wo es -aire geschrieben wird und seinerseits auf lat. -arius oder auch -aris zurückgeht. Es findet sich auch bei der Ableitung zu im Deutschen etablierten Femd- und Lehnwörtern, wobei hier aber ebenfalls in den meisten Fällen Parallelen im Französischen existieren, z.- B. Defizit → defizitär, Illusion → illusionär, Parasit → parasitär, Reaktion → reaktionär etc. Charismatisch und problematisch: -atisch Derivationen auf -atisch finden sich bei auf -m und -ma auslautenden Substantiven griechischen Ursprungs: Morphem → morphematisch, Problem → problematisch; Aroma → aromatisch, Rheuma → rheumatisch, Schema → schematisch. Auch das Wort Asien geht ursprünglich auf eine griechische Wurzel zurück und bildet daher das Adjektiv asiatisch. Akzidentell und kulturell: -ell Das Suffix -ell mit seinen beiden Nebenformen -iell und -uell ist romanischen Ursprungs. Die drei Formen werden bei einer großen Zahl von Fremd- und Lehnwörtern zur Ableitung von Adjektiven verwendet: ▶ -ell: Distribution → distributionell, Konzeption → konzeptionell, Struktur → strukturell <?page no="163"?> 163 ▶ -iell: Kommerz → kommerziell, Prinzip → prinzipiell, Tendenz → tendenziell ▶ -uell: Intellekt → intellektuell, Ritus → rituell, Sex → sexuell etc. Die Entlehnung von Substantiven wie Form, Grad, Punkt aus lat. forma, gradus, punctus ist bereits vor sehr langer Zeit erfolgt (cf. DWDS s.- v. Form, Grad, Punkt), aber auch bei ihnen ist die Herkunft bei der Ableitung noch wirksam: Form → formell, Grad → graduell, Punkt → punktuell. Gelegentlich steht -ell in Konkurrenz zu -al, wobei sich jeweils mehr oder weniger deutliche Bedeutungsunterschiede ergeben, cf. formal vs. formell, hormonal vs. hormonell oder ideal vs. ideell. Charakteristisch und euphemistisch: -istisch Insbesondere von Substantiven auf -ismus lassen sich Adjektive auf -istisch ableiten, z.-B. Euphemismus → euphemistisch, Kannibalismus → kannibalistisch, Moralismus → moralistisch. Es kommen aber auch Ableitungen von anderen Substantiven vor: Charakter → charakteristisch, Harmonie → harmonistisch, Psychologie → psychologistisch. Oft bestehen daneben auch Adjektive auf -isch (hier: harmonisch, psychologisch), denen gegenüber das Adjektiv auf -istisch leicht pejorativ konnotiert sein kann. Das Suffix kann auch zur Modifikation von Adjektiven verwendet werden (z.-B. zentral → zentralistisch). Impulsiv und perfektiv: -iv Derivationen auf -iv sind typisch für Substantive auf -ion, wobei diese Endung ausfällt, z.-B. Aggression → aggressiv, Imagination → imaginativ, Konvulsion → konvulsiv, Repräsentation → repräsentativ etc. Gelegentlich können solche Adjektive auch aus anderen Substantiven abgeleitet werden, z.-B. Affekt → affektiv, Defekt → defektiv, Objekt → objektiv, Resultat → resultativ. Das Suffix geht auf lat. -ivus zurück. Dort war es ebenfalls ein Derivationssuffix, mit dem Adjektive gebildet wurden, von denen viele auch direkt ins Deutsche übernommen wurden, so etwa collectivus (cf. kollektiv), definitivus (cf. definitiv) oder destructivus (cf. destruktiv). Zu diesen Fällen, bei denen die Ableitung bereits im Lateinischen erfolgt ist, gehören auch zahlreiche Fachtermini aus der Grammatikschreibung wie (casus) accusativus, (modus) indicativus, (modus) interrogativus, (genus) passivum oder (casus) transitivus (cf. z.-B. Andersen 1976: 52; Dürscheid 2013: 1). 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="164"?> 164 3 Die Wortbildung des Adjektivs Die ursprünglichen lateinischen Adjektive wurden dann im Deutschen ohne das zugehörige Beziehungswort wie Kasus oder Modus gebraucht und substantiviert. Definitorisch und provokatorisch: -orisch Das Suffix -orisch ist wie -iv darauf spezialisiert, Adjektive aus Substantiven abzuleiten, die auf -ion enden, wobei diese Endung dann zugunsten von -orisch getilgt wird, z.-B. Emanzipation → emanzipatorisch, Illusion → illusorisch, Obligation → obligatorisch, Zivilisation → zivilisatorisch. Paranoid und systemoid: -oid Insbesondere in Fachsprachen finden sich Ableitungen auf -oid, die aber z.-B. in Fällen wie haploid (‚nur mit einem einfachen Chromosomensatz ausgestattet‘) und den parallel dazu gebildeten diploid (‚mit doppeltem Chromosomensatz‘) und euploid (‚mit vollständigen Chromosomensätzen‘) mehr oder minder direkt aus dem Griechischen übernommen oder dem altsprachlichen Vorbild nachgeformt sind. Daneben finden sich aber auch im Deutschen nach demselben Muster abgeleitete Adjektive wie Paranoia → paranoid, System → systemoid oder Technik → technoid. Begriffe wie Mongole → mongoloid (eigentlich: ‚mongolenähnlich‘, früher auch als Bezeichnung für das Downsyndrom gebraucht) und das ebenso wie das Substantiv, von dem es abgeleitet wurde, nicht mehr gebräuchliche Neger → negroid (auch mit der verkürzten Form -id gebildet: negrid) wurden zusammen mit europid (‚kaukasisch‘) im Bereich von Rassentheorien verwendet und sind heute nicht nur veraltet, sondern auch inhaltlich widerlegt. Nervös und skandalös: -ös Das Suffix -ös geht auf das Französische (cf. franz. -eux) und dort wiederum auf das lateinische Suffix -osus zurück. Das gilt auch für zahlreiche so gebildete Adjektive, die nicht erst im Deutschen abgeleitet, sondern direkt aus dem Französischen und manchmal auch dem Lateinischen entlehnt wurden, so etwa amourös (cf. franz. amoureux), kapriziös (cf. franz. capricieux), muskulös (cf. franz. musciuleux, lat. musculosus), odiös (cf. lat. odiosus) oder ruinös (cf. lat. ruinosus). Auch wenn sich das zugehörige Substantiv meist ebenfalls im Deutschen findet, ist das Suffix trotz seiner Häufigkeit an im eigentlichen Sinne deutscher Wortbildung kaum beteiligt. Dass es dennoch auch als deutsches Wortbildungs- <?page no="165"?> 165 element wahrgenommen wird und produktiv ist, zeigen umgangssprachliche wortspielerische Bildungen wie Schauder → schauderös. Bei der Derivation mit -ös werden Endungen wie -ion, -us, -um, aber auch -e getilgt, wobei das i der erstgenannten erhalten bleibt: Religion → religiös, Luxus → luxuriös, Mysterium → mysteriös; Grippe → grippös. Nach auslautendem -enz steht ebenfalls -iös: Sentenz → sentenziös, Tendenz → tendenziös. Neben -ös findet sich gelegentlich parallel auch eine Ableitung auf -os, die aber insgesamt eher selten vorkommt, so etwa lepros neben leprös oder dubios neben dubiös. 3.2.3 Beleibt, gestiefelt, verhasst und verkopft: Pseudopartizipien Eine besonders fantasievolle Art der Derivation von Adjektiven aus Substantiven besteht darin, so zu tun, als handle es sich beim Substantiv um ein verhindertes Verb, von dem ein Partizip Perfekt gebildet werden kann. Da nicht wirklich ein Verb zugrunde liegt, werden solche Formen auch als Pseudopartizipien (auch: Scheinpartizipien, cf. z.- B. Haig 2005: 107) bezeichnet. Dabei wird in der Mehrheit der Fälle das Suffix -t verwendet, wie dies der Partizipialbildung der sog. schwachen Verben und damit des häufigsten Verbtyps im Deutschen entspricht. Bei einem nicht-präfigierten schwachen Verb wird das Partizip zudem durch das Präfix gemarkiert (z.-B. lachen → gelacht), und genau dieses Verfahren kann man auch bei Substantiven anwenden: Laune → ge-laun-t (aber: *launen), Zahn → ge-zahn-t (zahnen existiert zwar, hat aber die Bedeutung ‚Zähne bekommen‘), Witz → ge-witz-t (aber: *witzen). Daneben kommen auch Bildungen nach dem Muster der sog. starken Verben, also mit -en (z.-B. schwimmen → geschwommen), vor, zu denen im modernen Deutsch kein passendes Verb mehr existiert (z.-B. befangen, durchtrieben oder gediegen), die aber historisch auf echte Partizipien zurückgehen. Bei Verben mit untrennbaren Präfixen sowie bei solchen auf -ieren wird kein gebei der Bildung des Partizips verwendet (z.-B. bearbeiten → bearbeitet, frisieren → frisiert). Daher besteht eine weitere Möglichkeit bei der Bildung von Pseudopartizipien darin, ein untrennbares verbales Präfix anstelle von gezu verwenden. Dabei kommen vor allem be-, seltener auch ver- und noch seltener zerin Betracht, z.- B. Leib → beleibt, Nachbar → benachbart, Tag → betagt; Blume → verblümt, Hass → verhasst, Witwe → verwitwet; Lumpen → zerlumpt, Narbe → zernarbt, Schrunde → zerschrundet. Wie Beispiele wie gelaunt und zerlumpt zeigen, werden Substantivendungen auf -e oder -en bei 3.2 Adjektive aus Substantiven <?page no="166"?> 166 3 Die Wortbildung des Adjektivs der Ableitung getilgt, und es kann wie bei Blume → verblümt auch ein Umlaut auftreten. Ferner werden Pseudopartizipien von Fremd- und Lehnwörtern, die aus romanischen Sprachen übernommen wurden, mit der Endung -iert und ohne das Präfix gegebildet wie z.-B. Routine → routiniert, Talent → talentiert oder auch das in Anlehnung an das franz. soigné ‚gepflegt‘ gebildete soigniert. Pseudopartizipien sind sprachgeschichtlich schon sehr alt, und Fälle wie gihârit ‚behaart‘ lassen sich sogar schon im Althochdeutschen nachweisen (cf. Gante 2018: 57 f.). 3.3 Ausufernd, bemannt, beträchtlich und zänkisch: Derivation von Adjektiven aus Verben Für die Ableitung von Adjektiven aus Verben stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung: ▶ Man kann eines der beiden Partizipien (Partizip Präsens oder Partizip I, z.-B. nachfolgend; und Partizip Perfekt oder Partizip II, z.-B. vergessen) in der Funktion eines Adjektivs verwenden; ▶ Man kann durch Suffigierung aus dem Verbstamm ein Adjektiv ableiten (z.-B. essen → essbar, vergessen → vergesslich). 3.3.1 Frankiert, rasselnd und versunken: Konversion von Partizipien Bei Partizipien handelt es sich um Verbformen, die in denselben Funktionen wie Adjektive gebraucht werden können (cf. Hentschel 2009: 184); daher rührt auch ihr Name, der von lat. participere ‚teilhaben‘ abgeleitet ist und aussagen soll, dass sie sowohl verbale als auch nominale Eigenschaften aufweisen. Wie viele Partizipien es gibt, ist von Sprache zu Sprache verschieden. Im Deutschen gibt es zwei: Das Partizip Präsens (auch: Partizip I), z.-B. blühend, lächelnd oder hungernd, und das Partizip Perfekt (auch: Partizip II; manchmal auch: Partizip Präteritum), z.-B. besichtigt, frankiert oder verirrt. Während sämtliche Präsenspartizipien auch attributiv verwendet werden können, gilt dies nicht für alle Perfektpartizipien; Näheres hierzu im Folgenden. <?page no="167"?> 167 Ermutigend und überraschend: Partizip Präsens Das Partizip Präsens wird durch Anhängen von -d an den Infinitiv gebildet: husten → hustend, rattern → ratternd, tänzeln → tänzelnd etc. Inhaltlich drückt diese Verbform als Genus Verbum Aktiv und als Tempus ‚Gleichzeitigkeit‘ (mit dem, was im umgebenden Satz gesagt wird) aus. Alle Präsenspartizipien können attributiv verwendet werden: lachende Gesichter, eine musizierende Band, tanzende Paare etc. Anders als das Partizip Perfekt wird das Partizip Präsens nicht zur Formenbildung des Verbs eingesetzt. Das wird mitunter als Hinweis darauf gewertet, dass diese Formen grundsätzlich nicht zu den Verbformen gerechnet werden sollten, sondern als „durch Wortbildung aus Verben entstandene Adjektive“ (Zifonun et al. 1997: 2206) behandelt werden müssten. Aber Präsenspartizipien werden auch in anderen Sprachen nicht zur Bildung zusammengesetzter Verbformen verwendet - auch der englischen Progressivform wie in I’m going, die auf den ersten Blick wie ein Gegenbeweis aussehen mag, liegt in Wirklichkeit eine andere Verbform zugrunde (nämlich ein sog. Gerundium, cf. Baugh/ Cable 2002: 290 f.). Zudem existiert in zahlreichen Sprachen für keines ihrer Partizipien die Möglichkeit, es zur Bildung einer analytischen Verbform einzusetzen, wie das im Deutschen beim Passiv (z. B. ich bin geimpft) oder bei Vergangenheitstempora (z. B. es hat geläutet) geschieht. Wenn die Verwendung des Partizips zur Bildung einer Verbform also das Kriterium dafür wäre, dass man es als „Partizip“ bezeichnen darf, müsste man in sehr vielen Sprachen einen neuen Namen für die bisher so bezeichneten Verbformen finden. Da Partizipien stets zugleich Verbformen sind, behalten sie die Rektionseigenschaften des Verbs. Sie können daher ebenso wie das zugehörige Verb Objekte (z.-B. die Erste Hilfe leistenden Feuerwehrleute, das seiner Großmutter gespannt zuhörende Kind) oder Adverbiale (z.- B. die im Hintergrund tanzenden Paare) bei sich haben, was „normale“ Adjektive nicht können (*die im Hintergrund lustigen Paare). Normalerweise können Präsenspartizipien nicht prädikativ gebraucht werden: *die Paare waren tanzend, *die Jazzband war improvisierend. Das unterscheidet sie von gewöhnlichen Adjektiven, und daher kann man eigentlich in solchen Fällen auch nicht von einer Konversion zu einem vollwertigen Adjektiv sprechen. Es gibt jedoch Ausnahmen. In Fällen wie Der Patient war leidend, Sein Verhalten ist schockierend oder Das Argument ist überzeugend ist der prädikative Gebrauch offensichtlich möglich. Zugleich verliert das Partizip dabei aber seine 3.3 Derivation von Adjektiven aus Verben <?page no="168"?> 168 3 Die Wortbildung des Adjektivs Fähigkeit, Objekte bei sich zu haben: *Der Patient war an Asthma leidend (aber: der an Asthma leidende Patient); *Sein Verhalten war die Angehörigen schockierend (aber: sein die Angehörigen schockierendes Verhalten) oder *Das Argument ist alle überzeugend (aber: das alle überzeugende Argument). In solchen Fällen liegt eindeutig ein Wortartwechsel vor. Versunken und vergessen: Partizip Perfekt Das Partizip Perfekt eines Verbs wird im Deutschen entweder mit der Endung -t (bedacht, gearbeitet, diktiert) oder -en (besehen, geschlossen, verkommen) gebildet. Außer bei Verben mit untrennbarem Präfix sowie bei solchen auf -ieren kommt dazu regelmäßig ein ge- (z.-B. gelacht, getanzt, gesungen), das bei trennbaren Verben zwischen die Verbpartikel und den Verbstamm tritt (z.-B. aufgegessen, vorgestellt). Diese Partizipien werden für die Bildung der analytischen Vergangenheitstempora (z.-B. ich habe/ hatte gearbeitet) sowie des Passivs verwendet (z.-B. hier wird gearbeitet, ich bin geimpft). In sehr vielen Fällen kann das Partizip Perfekt aber auch wie ein Adjektiv attributiv verwendet werden: die bestellten Waren, das gefundene Portemonnaie, das verwelkte Gänseblümchen. Eine solche Verwendung ist immer dann möglich, ▶ wenn das Verb transitiv ist, wenn es also ein sog. persönliches Passiv mit werden bilden kann (z.-B. du wirst beobachtet). Solche Partizipien habe eine passivische Bedeutung; ▶ wenn das Verb zwar intransitiv ist, aber eine perfektive Bedeutung hat, d.-h. den Beginn oder das Ende eines Geschehens impliziert (z.-B. der Blumenstrauß ist verwelkt). Solche Partizipien haben eine aktivische Bedeutung. Die Perfekt-Partizipien transitiver Verben können anders als die des Präsens nur in sehr beschränktem Umfang Objekte bei sich haben, denn das ursprüngliche Akkusativobjekt ist ja nun das Beziehungswort: ich frankiere den Brief → der frankierte Brief. Möglich, wenngleich in der Praxis eher selten, ist die Verwendung eines Dativ-Objekts (z.-B. der ihr überreichte Orden, das ihm entwendete Portemonnaie). Häufiger finden sich hier Adverbiale: der gestern erst frisch gestrichene Zaun, die in der überfüllten U-Bahn verlorene Tasche). Für perfektive Verben gilt, dass sie ihr Perfekt stets mit sein bilden (z.-B. das Schiff ist gesunken). Aber nicht bei allen Verben, die ihr Perfekt mit sein bilden, lässt sich das Partizip attributiv verwenden. Ausgeschlossen ist dies z.- B. bei <?page no="169"?> 169 einfachen Bewegungsverben (gehen, fahren, kommen, reisen etc.), die ja auch eine andauernde Handlung bezeichnen können. Sobald solche Verben aber präfigiert bzw. mit einer Verbpartikel versehen werden, ändert sich das in der Mehrzahl der Fälle, z.- B. *die soeben gefahrenen/ gekommenen/ gereisten Gäste vs. die soeben abgefahrenen/ angekommenen/ abgereisten Gäste, die verreisten Nachbarn etc. Wenn Perfekt-Partizipien nicht attributiv, sondern prädikativ verwendet werden, liegt eine Verbform vor. Bei transitiven Verben ist das ein Passiv (sog. Zustands- oder sein-Passiv), z.-B. Die Pizza ist bestellt; Die Lösung war gefunden; Das Essen ist serviert. Bei perfektiven Verben hingegen ist es ein Vergangenheitstempus, z.-B. Das Eis ist geschmolzen; Die Gäste waren abgereist; Das Gänseblümchen ist verwelkt. Diese Partizipien changieren also zwischen dem Dasein als Verb und dem als Adjektiv. Perfekt-Partizipien können in sehr vielen Fällen mit unpräfigiert und auf diese Weise negiert werden: bedacht → unbedacht, gesichert → ungesichert, verzollt → unverzollt etc. Durch die Präfigierung mit unwechseln sie zugleich endgültig in die Klasse der Adjektive, denn Verben wie *unbedenken oder *unverzollen gibt es nicht. 3.3.2 Akzeptabel, habhaft und unaussprechlich Derivation von Adjektiven aus Verben durch Suffigierung Für die Ableitung von Adjektiven aus Verben steht eine ganze Reihe von Suffixen zur Verfügung, sowohl einheimische als auch solche, die aus anderen Sprachen entlehnt wurden. Sie werden im Folgenden jeweils in alphabetischer Reihenfolge besprochen. Bei der Ableitung eines Adjektivs aus einem Verb mittels Suffigierung wird das Suffix an den Verbstamm angehängt, also an die Form des Verbs, die nach der Tilgung von -en oder -n übrig bleibt. Man kann das am Beispiel eines häufigen Suffixes wie -bar gut zeigen: nachvollziehen → nachvollziehbar, abkoppeln → abkoppelbar, befördern → beförderbar. 3.3.2.1 Spürbar, klebrig und ausführlich: Derivation von Adjektiven aus Verben mit einheimischen Suffixen Die folgenden deutschen Suffixe stehen für die Derivation von Adjektiven aus Verben zur Verfügung: 3.3 Derivation von Adjektiven aus Verben <?page no="170"?> 170 3 Die Wortbildung des Adjektivs -bar Denkbar -(e)rig Schläfrig -haft Zaghaft -g Pusselig -isch Neckisch -ich Ansehnlich -sam schweigsam Nutzbar und objektivierbar: -bar In -bar (aus mhd. bære, das wiederum auf ein Verb mit der Bedeutung ‚tragen‘ zurückgeht, cf. Kluge 2012: s.-v. -bar) liegt ein ausgesprochen häufiges Derivationssuffix vor. Produktiv ist es heute nur noch bei der Ableitung von Adjektiven aus Verben, aber historisch gab es auch die Möglichkeit, damit Adjektiven aus Substantiven und anderen Adjektiven abzuleiten. Beispiele hierfür wären fruchtbar (zu Frucht), jagdbar (zu Jagd), offenbar (zu offen) oder sonderbar (zu sonder). Auch die Adjektive gangbar und sichtbar sind nicht direkt aus den Verben gehen und sehen, sondern aus den von ihnen abgeleiteten Substantiven Gang und Sicht gebildet. Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung ‚tragend‘ noch in Adjektiven wie dankbar oder fruchtbar erkennbar ist, spielt sie beim produktiven Einsatz des Suffixes heute keine Rolle mehr. Heute dient -bar dazu, aus einem Verb ein Adjektiv mit potentialer und zumeist passivischer Bedeutung abzuleiten. So bedeutet erfahrbar ‚kann erfahren werden‘, programmierbar ‚kann programmiert werden‘, trinkbar ‚kann getrunken werden‘ etc. Nur in Ausnahmefällen wie etwa bei halten → haltbar in Bezug auf Lebensmittel kommt auch eine aktive Bedeutung vor (‚hält [lange]‘; cf. aber Die Hypothese ist nicht haltbar ‚kann nicht gehalten werden‘). In den seltenen Fällen, in denen der Verbstamm auf die Konsonantenfolgen (hier in der üblichen Schreibweise wiedergegeben) -chn-, -dn-, -gn- oder -knendet, wird bei der Ableitung ein -eeingeschoben: verrechnen → verrechenbar, zuordnen → zuordenbar, trocknen → trockenbar (aber: leugnen → unleugbar). Das Suffix ist hoch produktiv, wie aktuelle Ableitungen wie twitterbar zeigen, die man im Netz finden kann. So gebildete Adjektive können zudem sehr häufig mit unnegiert werden: angreifbar- → unangreifbar, denkbar → undenkbar, sagen → unsagbar etc. In manchen Fällen existiert sogar nur das mit unprä- <?page no="171"?> 171 figierte Adjektiv, so dass die Ableitung durch gleichzeitige Verwendung des Suffixes -bar und des Präfixes unerfolgt ist, so etwa bei unleugbar (*leugbar) oder unversiegbar (*versiegbar). Man könnte insofern die Meinung vertreten, dass hier ein sog. Zirkumfixderivat vorliegt. Aber obwohl der gleichzeitige Gebrauch von Prä- und Suffixen, die auch unabhängig voneinander verwendet werden können, in anderen Fällen oft als Zirkumfigierung angesehen wird, findet sich interessanterweise in diesem Fall keine entsprechende Einordnung (cf. z.-B. Fleischer/ Barz 2012: 357 f.). Klebrig und schläfrig: -(e)rig Ableitungen mit -(e)rig sind bei Substantiven (z. B. Loch → löchrig) häufiger als bei Verben zu finden, wo sie nur sehr selten vorkommen. Beispiele wären drehen → drehrig oder schlüpfen → schlüpfrig. Ebenfalls hierher gehört das Adjektiv fick(e)rig ‚unruhig‘, das von der mit lat. fricare ‚reiben‘ verwandten ursprünglichen Bedeutung des Verbs abgeleitet ist. Neben der kurzen Form auf -rig kommt bei einigen Adjektiven dieser Art auch die längere auf -erig vor: fickerig, schläferig. Wie das Beispiel schläfrig zeigt, kann das Suffix auch einen Umlaut auslösen. Flatterhaft und zaghaft: -haft Auch das Suffix -haft kommt bei der Ableitung aus Verben wie in glauben → glaubhaft oder lachen → lachhaft deutlich seltener vor als bei der Derivation aus Substantiven (z.- B. Ernst → ernsthaft). Das Adjektiv kann sowohl eine aktive (zaghaft ‚zögernd‘) als auch eine passive (glaubhaft: ‚kann geglaubt werden‘) Bedeutung des Verbs implizieren. Abschlägig und pusselig: -ig Bei der Derivation von Adjektiven aus Verben ist -ig zwar nicht ganz so häufig vertreten wie bei der aus Substantiven, aber es kommt auch bei Verben häufig vor, z.-B. brummen → brummig, rutschen → rutschig oder wackeln → wackelig. Viele Ableitungen in diesem Bereich sind sprachgeschichtlich schon relativ alt und lassen sich gelegentlich zwar etymologisch, nicht aber synchron auf Verben zurückführen, so etwa aufsässig (zu aufsitzen im Sinne von ‚sich aus der liegenden Stellung erheben‘), brenzlig (zu brenzeln, nur noch regional gebräuchlich für ‚ein bisschen brennen‘) oder rollig (zu rollen). 3.3 Derivation von Adjektiven aus Verben <?page no="172"?> 172 3 Die Wortbildung des Adjektivs Beispiele wie abschlägig oder durchlässig zeigen, dass das Suffix auch einen Umlaut auslösen kann. Bei Verben auf -eln und -ern kann das -eje nachdem fakultativ oder auch obligatorisch ausfallen. So gibt es bei salbadern nur salbadrig, aber prickelig steht neben pricklig, schlabberig neben schlabbrig, wackelig neben wacklig. Unter den Derivationen auf -ig finden sich wie unter denen auf -bar auch solche, die mit unpräfigiert sind, zu denen aber kein positives Gegenstück existiert, z.-B. unablässig (*ablässig), untadelig (*tadelig) oder unzählig (*zählig), so dass man eine gleichzeitige Ableitung mit un- und -ig annehmen muss. Mürrisch und zänkisch: -isch Derivationen auf -isch kommen bei Verben nur selten vor. Das Suffix ist hingegen typisch für Ableitungen aus Substantiven (z.-B. Sturm → stürmisch), wo es hochfrequent ist, sowie auch für Adjektive, wo es ebenfalls häufig vorkommt, aber auf Fremd- und Lehnwörter beschränkt ist (z.- B. stereotyp → stereotypisch). Beispiele für Ableitungen aus Verben wären meutern → meuterisch oder necken → neckisch. Bei murren → mürrisch und zanken → zänkisch geht die Derivation mit einem Umlaut einher. Bedrohlich und spärlich: -lich In -lich liegt ein relativ häufiges Suffix zur Ableitung von Adjektiven aus Verben vor: befinden → befindlich, schicken → schicklich, vergessen → vergesslich etc. Das aus mögen abgeleitet möglich beruht auf der alten Bedeutung des Verbs ‚können‘, die heute nur noch regional oder bei sog. epistemischem Gebrauch wie in Das mag sein vorkommt. Die Derivation mit -lich kann einen Umlaut hervorrufen, z.-B. eintragen → einträglich, empfangen → empfänglich, lassen → lässlich. Auch das aus bekommen (in der Bedeutung ‚gut tun‘) abgeleitete bekömmlich gehört hierher. Die Ableitungen sind zum Teil sprachgeschichtlich schon alt und können sowohl eine aktivische (z.-B. maßgeblich ‚das Maß vorgebend‘ oder nachdenklich ‚nachdenkend‘) als auch eine passivische (z.-B. merklich ‚wird bemerkt, bemerkbar‘ oder nachträglich ‚wird nachgetragen‘) Bedeutung haben. Außer zur Ableitung aus Verben kann das Suffix auch verwendet werden, um Adjektive aus Substantiven (z.-B. Stunde → stündlich) oder aus anderen Adjektiven (z.-B. rund → rundlich) abzuleiten. <?page no="173"?> 173 Einprägsam und schweigsam: -sam Relativ häufig bei der Ableitung aus Verben zu beobachten ist das Suffix -sam, das seltener auch bei Substantiven (z.-B. Gewalt → gewaltsam) und noch seltener bei Adjektiven bzw. Numeralia (z.- B. zwei → zweisam) vorkommt. Aus Verben abgeleitet sind z.- B. achten → achtsam, dulden → duldsam, raten → ratsam, unterhalten → unterhaltsam etc. Das Suffix geht auf dieselbe Wurzel zurück, aus der auch das englische same stammt, und bedeutete ursprünglich ‚von gleicher Beschaffenheit‘ (cf. Kluge 2012 s.-v. -sam). Auch hier lässt sich keine Festlegung auf Aktiv oder Passiv vornehmen. Das Suffix „drückt in adjektivischen Bildungen mit Verben (Verbstämmen) aus, dass mit der beschriebenen Person oder Sache etw. gemacht werden kann“ oder aber „[…] dass die beschriebene Person oder Sache etw. tut“ (DWDS s.-v. sam). Feinfühlig und schwerhörig: Komplexe Ableitungen Gelegentlich kommen auch Kombinationen mit einem Adjektiv als Basis vor, das auf den ersten Blick aus einem Verb abgeleitet zu sein scheint, so z.-B. bei feinfühlig, schnelllebig oder schwerhörig. Da es aber das zugehörige Adjektiv *fühlig oder *lebig nicht gibt oder es im Fall wie hörig nur in einer ganz anderen Bedeutung existiert, die in schwerhörig nicht fruchtbar gemacht wird, liegt hier eine komplexere Form der Ableitung vor. Den Formen liegen in Wirklichkeit Syntagmen zugrunde: schnell leben → schnelllebig, schwer hören → schwerhörig. Dasselbe Prinzip findet sich auch bei der Derivation aus Substantiven, z.-B. kurzatmig, schmallippig. 3.3.2.2 Blamabel, defensiv und tolerant: Derivation von Adjektiven aus Verben mit entlehnten Suffixen Neben den einheimischen gibt es auch eine kleine Anzahl entlehnter Suffixe, mit denen Adjektiven aus Verben abgeleitet werden können: -abel/ -ibel diskutabel -ant/ -ent dominant -at moderat -ativ/ -itiv/ -iv privativ -il erektil -it implizit 3.3 Derivation von Adjektiven aus Verben <?page no="174"?> 174 3 Die Wortbildung des Adjektivs Nicht alle sind produktiv, und in sehr vielen Fällen wurden die so gebildeten Adjektive nicht im Deutschen abgeleitet, sondern direkt aus anderen Sprachen entlehnt. Die für das Deutsche wichtigsten und frequentesten Suffixe werden im Folgenden besprochen. Diskutabel und reversibel: -abel/ -ibel Das Suffix -abel mit seiner Nebenform -ibel ist vom lateinischen -abilis abgeleitet, das dort dieselbe Funktion wie -bar im Deutschen hatte. Auch das entlehnte Suffix drückt somit im Normalfall ‚Möglichkeit‘ und ‚Passiv‘ aus. So bedeutet akzeptabel ‚kann akzeptiert werden‘, impressionabel ‚kann beeindruckt werden‘, komparabel ‚kann verglichen werden‘ etc. Oft sind die Adjektive aber auch schon fertig gebildet aus einer Fremdsprache übernommen worden, so z.-B. komfortabel und portabel aus dem Englischen, flexibel und reversibel aus dem Lateinischen bzw. Französischen. Im Unterschied zu -abel ist -ibel nicht mehr produktiv. Derivationen mit -abel sind hingegen noch möglich, wie im Internet gebräuchliche Adjektive wie twittern → twitterabel zeigen. Bei Ableitungen von Verben auf -ieren wird diese Endung getilgt: imaginieren → imaginabel, konvenieren → konvenabel etc. Amüsant und existent: -ant/ -ent Die Suffixe -ant resp. -ent gehen auf lateinische Partizipien des Präsens zurück; dominant bedeutet also ‚dominierend‘, frappant ‚frappierend‘ etc. Oft können die so gebildeten Adjektive auch durch das Partizip ersetzt werden, ohne dass sich mehr als die Konnotation verändert. In der Mehrheit der Fälle --insbesondere bei Formen auf -ent -- wurde das Adjektiv nicht im Deutschen gebildet, sondern direkt aus einer anderen Sprache übernommen. So stammt konsistent direkt aus dem lateinischen Partizip consistens (der Genitiv consistentis zeigt das t, das auch in allen anderen Formen des Partizips auftritt), und dem Adjektiv eloquent liegt lat. eloquens zugrunde. Ob -ant oder -ent verwendet wird, hängt ursprünglich von der Flexionsklasse des zugrundeliegenden lateinischen Verbs ab. Ableitungen mit -ant/ -ent finden sich häufiger bei der Derivation von Substantiven aus Verben (z.-B. aspirieren → Aspirant, abonnieren → Abonnent) als bei der von Adjektiven, und nur dort sind sie produktiv. <?page no="175"?> 175 Investigativ, partitiv, kollektiv: -ativ/ -itiv/ -iv Adjektive auf -iv (aus -ivus, einem lateinischen Derivationssuffix zur Bildung von Adjektiven) sowie auf die erweiterten Formen -ativ und -itiv sind insgesamt recht häufig. Sie sind zwar alle das Ergebnis von Wortbildungsprozessen, aber in der Mehrzahl der Fälle sind sie nicht im Deutschen gebildet worden, sondern wurden bereits als fertige Adjektive entweder direkt aus dem Lateinischen oder auch über den Umweg des Französischen übernommen. Beispiele für solche Entlehnungen sind etwa additiv (zu lateinisch addere ‚hinzufügen‘), expansiv (zu lateinisch expandere ‚ausdehnen‘) oder interrogativ (zu lateinisch interrogare ‚fragen‘). Unter den Adjektiven auf -iv finden sich zahlreiche grammatische Termini, so z. B. durativ (zu lat. durare ‚dauern‘), exklamativ (zu lat. exclamare ‚ausrufen‘), ingressiv (zu lat. ingredi ‚eintreten, beginnen‘), iterativ (zu lat. iterare ‚wiederholen‘), perfektiv (zu lat. perficere ‚vollenden‘) etc. Daneben gibt es aber auch Ableitungen, die im Deutschen vorgenommen wurden. Dann findet das Suffix in der Form -ativ Verwendung, z.-B. administrieren → administrativ, informieren → informativ, korrelieren → korrelativ. Bei der Bildung des Adjektivs wird die Endung -ieren getilgt. 3.4 Heutig, dortig, jenseitig und vorig Derivation von Adjektiven aus Adverbien und Präpositionen Mit dem Suffix -ig lassen sich auch aus einigen Adverbien und Präpositionen Adjektive ableiten (z.- B. gestern → gestrig, über → übrig). Diese Möglichkeit ist allerdings bei beiden Wortarten grundsätzlich auf lokale und temporale Bedeutungen beschränkt, und auch dort ist sie nicht immer gegeben. Bei der Derivation werden auslautendes -en und -s tilgt (z.-B. morgen → morgig, diesseits → diesseitig), und bei gestern erfolgt eine Verkürzung der Endsilbe von -ern zu r (gestern → gestrig). Das Adjektiv hiesig ist historisch nicht zu hier, sondern zu der Form hie gebildet, und „das s in hiesig ist euphonisch [zur Erleichterung der Aussprache, E.H.]-eingeschoben“ (DWB s.-v. hiesig). Der folgende Überblick zeigt die typischen Bildungen: 3.4 Derivation von Adjektiven aus Adverbien und Präpositionen <?page no="176"?> 176 3 Die Wortbildung des Adjektivs Adverbien, temporal Adverbien, lokal Präpositionen, lokal/ temporal damals → damalig dort → dortig diesseits → diesseitig gestern → gestrig hier → hiesig jenseits → jenseitig heute → heutig inne (veraltet) → nnig über → übrig jetzt → jetzig oben → obig vor → vorig morgen → morgig Die Präpositionen diesseits und jenseits sind ihrerseits bereits das Ergebnis von Wortbildung; historisch sind sie aus einer Kombination aus den Demonstrativa diese/ jene und dem Substantiv Seite entstanden, woraus mit -s ein Adverb abgeleitet wurde. <?page no="177"?> 177 4 Bessern, duzen, verlassen und umarmen: Die Wortbildung des Verbs Wie bei Substantiven und Adjektiven, so besteht auch bei Verben einerseits die Möglichkeit, sie zu modifizieren, also ein Verb in ein anderes Verb zu verwandeln (z.-B. hören- → zuhören), sowie andererseits die, sie aus einer anderen Wortart abzuleiten (z.-B. Donner- → donnern). In beiden Fällen stehen jeweils verschiedene Verfahren zur Wahl. 4.1 Abhängen, befreunden, rumwursteln und tänzeln: Modifikation von Verben Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Möglichkeiten, Verben zu modifizieren: ▶ Präfigierung (z.-B. finden- → befinden) ▶ Suffigierung (z. B. klappen- → klappern) ▶ Komposition (z. B. kennen plus lernen- → kennenlernen). Sowohl äußerst produktiv und auch hochfrequent ist dabei die Präfigierung. Was man genau darunter versteht, hängt allerdings von der Definition des Begriffs „Präfix“ ab, die nicht immer einheitlich erfolgt. Im vorliegenden Buch wird sowohl die Verwendung von Präfixen im engeren Sinne (z.- B. bein reden- → bereden) als auch der Einsatz von sog. Verbpartikeln (trennbare Elemente wie z.-B. an in reden- → anreden) als Präfigierung aufgefasst. In gleicher Weise wie die traditionell als Verbpartikeln betrachteten Morpheme können aber auch andere Elemente links an das Verb angefügt werden, so etwa Adverbien (z.-B. reden- → herbeireden), aber auch Adjektive (reden- → schlechtreden) und sogar Substantive (saugen- → staubsaugen). Die Modifikation durch Suffigierung (z.-B. husten- → hüsteln) hat historisch eine bedeutende Rolle gespielt, kommt aber heute nur noch in Ausnahmefällen vor. Als drittes gibt es auch noch die Komposition, also die Kombination aus zwei Verben (z.-B. sitzenbleiben). Sie kommt im Deutschen im Gegensatz zu anderen Sprachen nur äußerst selten vor. Die Reihenfolge der Darstellung dieser Wortbildungsmöglichkeiten im Folgenden richtet sich aber nicht nach der Frequenz, <?page no="178"?> 178 4 Die Wortbildung des Verbs sondern erfolgt parallel zum Aufbau der vorigen Kapitel und beginnt daher mit der Komposition. 4.1.1 Achtgeben und sitzenbleiben: Komposition bei Verben Die Möglichkeit, wie bei stehenbleiben (auch: stehen bleiben) oder kennenlernen (auch: kennen lernen) zwei Verben miteinander zu verknüpfen, wird im Deutschen nur sehr selten genutzt. Demgegenüber ist die Kombination mehrerer Verben als sog. serielle Verbkonstruktion in isolierenden Sprachen wie dem Chinesischen, Thai oder Yoruba ausgesprochen häufig und kann dann auch mehr als zwei Verben umfassen (cf. z.- B. Aikhenvald 2018). Aber auch wenn im Deutschen zwei Verben miteinander kombiniert werden, wird dies in der Rechtschreibung mehrheitlich nicht als feste Verbindung angesehen, sondern wie bei spazieren gehen als Kollokation; man nimmt also keine Wortbildung an, sondern nur ein häufiges gemeinsames Vorkommen. Unabhängig davon, wie man diese Art von Kombination interpretiert, gilt in jedem Fall, dass stets nur das zweite Verb flektiert wird, während das erste unverändert bleibt. Zudem wird es wie eine Verbpartikel abgetrennt und im Hauptsatz/ Assertionssatz ganz nach rechts bewegt, z.-B. Sie lernte ihn in der Folge bei der gemeinsamen Arbeit besser kennen; Ich gehe an Sommerabenden immer gerne am Seeufer spazieren. Bei einigen Autoren werden solche Konstruktionen mit der Kombination aus Verb und Modalverb (z.-B. arbeiten müssen, sprechen dürfen) gleichgesetzt; mit dieser Einschätzung werden sie naturgemäß ebenfalls nicht zur Wortbildung gerechnet (cf. Fleischer/ Barz 2012: 374). Außer kompletten Infinitiven kommen in extrem seltenen Fällen auch reine Verbwurzeln als Wortbildungselemente vor, so etwa beim aus mähen und dreschen zusammengesetzten mähdreschen (cf. Hentschel/ Weydt 2013: 78) oder bei Verben wie ziehschleifen und grinskeuchen (Beispiele nach Fleischer/ Barz 2012: 374). Solche Verben sind nicht trennbar, führen aber zu Problemen bei der Formenbildung (? ziehschliff; ? ziehschliffen). Außer der Komposition von zwei Verben gibt es ferner auch die Möglichkeit, ein Verb mit einem Substantiv (z.-B. achtgeben, eislaufen, kopfstehen), einem Adjektiv (z.-B. kleinschneiden, lahmlegen, miesmachen) oder einem Adverb (z.-B. dabeibleiben, heimkommen, zusammenschreiben) als Erstglied zu kombinieren. Insgesamt werden solche Fälle aber zumindest bei der Rechtschreibung nur in seltenen Ausnahmefällen als Wortbildung betrachtet, sondern stattdessen als Syntagmen aufgefasst, so dass sie mehrheitlich getrennt geschrieben werden. <?page no="179"?> 179 4.1 Modifikation von Verben 4.1.2 Abschreiben, desinfizieren, erringen und verjagen: Modifikation von Verben mit Präfixen und Verbpartikeln Bei der Präfigierung von Verben kann man zwischen Präfigierung im weiteren Sinne -- das umfasst dann sämtliche Möglichkeiten, etwas zu Beginn eines Verbs anzufügen --und der im engeren Sinne unterscheiden. Letztere liegt dann vor, wenn ein Morphem links an das Verb angefügt wird, das nicht abgetrennt werden kann, also bei der Verwendung von Präsens- oder Präteritumsformen nicht getrennt vom Verb am Satzende erscheint. Ein solches stets untrennbares Element ist beispielsweise be- (cf. sprechen → besprechen: Wir besprechen das noch, nicht: *Wir sprechen das noch be). Im Gegensatz hierzu werden sog. Verbpartikeln dadurch definiert, dass sie abgetrennt werden. Ein Beispiel hierfür wäre auf, bei dem es sich ursprünglich um eine Präposition handelt (z.-B. auf dem Dach): Ich stehe nicht gern früh auf (nicht: *Ich aufstehe nicht gern früh). Aber es gibt auch Fälle, in denen dasselbe Morphem sowohl in einer trennbaren als auch in einer untrennbaren Variante auftritt - wobei beides bei ein und demselben Verb vorkommen kann. Ein Beispiel hierfür wäre um, ebenfalls ursprünglich eine Präposition (z.-B. um diese Zeit). In Verbindung mit dem Verb fahren bietet es beide Möglichkeiten, die dann jeweils eine andere Bedeutung haben: Sie umfuhr das Hindernis vs. Er fuhr das Hindernis um. Um der Tatsache gerecht zu werden, dass ein und dasselbe Morphem beide Eigenschaften aufweisen und sowohl trennbar als auch untrennbar vorkommen kann, war es früher üblich, im ersten Fall von einem trennbaren, im anderen von einem untrennbaren Präfix zu sprechen (cf. z.-B. Kühnhold/ Wellman 1973: 133; Pavlov 2009: 184). In den meisten neueren Grammatiken wird das Morphem um aus dem Beispiel umfahren jedoch nur im ersten Fall als Präfix, im zweiten aber als „Verbpartikel“ bezeichnet (cf. z.- B. Duden 2016: 668). Diese Bezeichnung ist stark vom Englischen beeinflusst, wo derselbe Typ von Verbindung ebenfalls vorkommt und wo man dann von einem particle verb (und in der Folge dann im Deutschen entsprechend von einem „Partikelverb“) spricht. So kann beispielsweise ein Verb wie to bring ‚bringen‘ mit up zu to bring up ‚[etwas] ansprechen‘ kombiniert werden, ein Verb wie to give ‚geben‘ mit in zu to give in ‚nachgeben, aufgeben‘, eines wie to hang ‚hängen‘ mit out zu to hang out ‚[mit jemandem] abhängen‘ etc. Auch hier handelt es sich ursprünglich um Präpositionen, die mit dem Verb eine feste Verbindung eingehen und so eine neue Bedeutung generieren. Anders als im Deutschen stehen die Verbpartikeln im Englischen jedoch stets rechts vom Verb. <?page no="180"?> 180 4 Die Wortbildung des Verbs Neben zahlreichen heimischen Präfixen gibt es auch entlehnte, die so gut wie ausschließlich bei Verben mit -ieren auftreten. Im Folgenden werden sowohl Präfixe im engeren Sinne als auch solche im weiteren Sinne (Verbpartikeln) besprochen. 4.1.2.1 Beweinen, enträtseln und vergessen: Heimische untrennbare Präfixe Bei den Präfixen im engeren Sinne --also solchen, die nach erfolgter Wortbildung nicht mehr vom Verbstamm abgetrennt werden können, - handelt es sich mit Ausnahme der ursprünglichen Präposition hinter um gebundene Morpheme. Für das Deutsche kann man hier die folgenden acht Morpheme aufführen: behinterentmisservergezer- Nicht alle acht Präfixe sind noch produktiv, und sie weisen auch sehr unterschiedliche Vorkommenshäufigkeiten auf. Man kann die grundsätzlichen Möglichkeiten, wie mit diesen Morphemen Verben modifiziert werden können, gut illustrieren, wenn man besonders häufige Verben --etwa Bewegungsverben wie gehen und fahren oder Positionsverben wie setzen und stehen - als Grundlage verwendet und überprüft, welche Kombinationen mit ihnen möglich sind: fahren gehen setzen stehen bebefahren begehen besetzen bestehen ententfahren entgehen entsetzen entstehen ererfahren ergehen ersetzen erstehen ge- - - - gestehen hinter- - hintergehen - - miss- - - - [missverstehen] ververfahren vergehen versetzen verstehen zerzerfahren zergehen zersetzen - Allen untrennbaren Verben ist gemeinsam, dass sie ihr Partizip Perfekt ohne den Zusatz von gebilden, das sonst bei der Bildung verwendet wird. Den aus <?page no="181"?> 181 den nicht präfigierten Verben gebildeten Partizipien gefahren, gegangen, gesessen, gestanden stehen daher Formen wie befahren, entgangen, versetzt oder entstanden gegenüber. Im Folgenden werden die untrennbaren Präfixe in alphabetischer Reihenfolge besprochen. Beschimpfen und begrüßen: be- Das Präfix bewird dazu verwendet, ein Verb, das bisher keinerlei Objekte bei sich hatte, zu einem transitiven Verb mit einem Akkusativobjekt zu machen. Es kann aber auch dazu dienen, die Bedeutung eines bereits transitiven Verbs zu verändern. Dabei bleibt entweder dasselbe Argument wie zuvor erhalten (z. B. jemanden grüßen → jemanden begrüßen) oder aber es wird unter Veränderung der Rolle des Akkusativobjekts ein zusätzliches Argument eingeführt (z. B. etwas werfen → jemanden mit etwas bewerfen). Darüber hinaus kommen auch Fälle vor, bei denen das nicht-präfigierte Verb ein Dativobjekt bei sich hatte, das nunmehr in die Rolle des Akkusativobjekts überführt wird (z. B. schenken → jemanden mit etwas beschenken). Die folgenden Beispiele sollen das illustrieren: intransitiv → transitiv Akkusativ → Akkusativ Dativ → Akkusativ denken → bedenken fühlen → befühlen folgen → befolgen grünen → begrünen grüßen → begrüßen dienen → bedienen jammern → bejammern halten → behalten lauschen → belauschen schimpfen → beschimpfen hüten → behüten liefern → beliefern weinen → beweinen trüben → betrüben schenken → beschenken wirken → bewirken werfen → bewerfen trauen → betrauen Die ursprüngliche Bedeutung des Morphems be ist ‚um herum‘ (eine Bedeutung, die in der Parallelform bei erhalten ist), und das Grimm’sche Wörterbuch gibt als Beispiel für ein Verb, in dem sie noch erhalten ist, behauen (‚ringsum, überall hauen‘) an. Heute drückt das Präfix vor allem „die vollendete einwirkung auf einen gegenstand aus und bildet lauter transitiva mit dem acc. der person oder sache“ aus (DWB, s.-v. be). 4.1 Modifikation von Verben <?page no="182"?> 182 4 Die Wortbildung des Verbs Der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber (1899-1985) ging davon aus, dass eine enge Verbindung zwischen Sprache und Denken besteht, und für ihn hatte daher eine unterschiedliche sprachliche Erfassung automatisch auch eine andere Wahrnehmung der Welt zur Folge. In der Art von Veränderung, wie sie z. B. bei beschenken (jemanden mit etwas beschenken) gegenüber dem unpräfigierten schenken (jemandem etwas schenken) erfolgt, sah er einen negativen Effekt. Er schrieb zu den mit dem Präfix begebildeten Verben: „Gewiß, nicht jeder personale Objektsakkusativ ist herabwürdigend. Daß ich einen Menschen ebensogut sehe wie eine Münze, tritt niemandem zu nahe (wenn auch die Intensivierung zum besehen für den Menschen beleidigend, für die Münze ehrenvoll wird). Aber unbestreitbar bleibt, daß jede Akkusativierung, insbesondere jede Ablösung personaler Dative durch Akkusative, den Menschen aus seiner gedanklichen Stellung als sinngebender Person herausrückt und ihn den Gegenständen des geistigen Machtausübens und des tatsächlichen Verfügens annähert“ (Weisgerber 1958: 69, Hervorhebungen im Original). Auch wenn heute vermutlich niemand mehr in dieser Weise argumentieren würde, hatte Weisgerber insofern recht, als die Präfigierung mit bein der Tat die im Verb ausgedrückte Perspektive auf das Geschehen stark verändert. Ob dies auch die Wahrnehmung ändert, muss dahingestellt bleiben. Die Modifizierung von Verben mit beist produktiv und findet sich auch bei umgangssprachlichen Bildungen wie grapschen → begrapschen, kiffen → [sich]-bekiffen, labern → belabern. Entspringen und entladen: ent- Auch mit entmodifizierte Verben sind sehr zahlreich. Das mit lat. ante verwandte Präfix bedeutet ursprünglich ‚gegen‘. Diese Bedeutung ist aber nur noch in Wörtern wie Antlitz oder Antwort erhalten und lässt sich Verben wie entgelten bestenfalls noch erahnen. An ihrer Stelle haben sich mehrere alternative Bedeutungen entwickelt, die das Präfix signalisieren kann. Das Grimm’sche Wörterbuch (DWB s.-v. ent) unterscheidet dabei vor allem zwei Varianten: ▶ inchoativ (den Beginn eines Vorgangs oder einer Handlung ausdrückend), z.-B. entbrennen, entfahren, entflammen, entschlafen, entspringen; ▶ privativ (das Wegnehmen von etwas bezeichnend), z.- B. entbinden, entflechten, enthemmen, entladen, entziehen. <?page no="183"?> 183 Moderne Nachschlagewerke nehmen gelegentlich auch sehr weitgehende Feinunterscheidungen vor. So zählt z. B. das DWDS für die Präfigierung von Verben mit entfolgende semantischen Möglichkeiten auf: ▶ „drückt […] aus, dass etw. wieder rückgängig gemacht, in den Ausgangszustand zurückgeführt wird ▶ drückt […] ein Weggehen, ein Entfernen aus → weg ▶ drückt […] ein Herausgelangen, ein Wegnehmen aus ▶ drückt […] den Beginn von etw. aus ▷ drückt den Gegensatz zu Verben auf veraus ▷ drückt den Gegensatz zu Verben auf be aus ▷ drückt in Bildungen mit Verben den Gegensatz zu diesen Verben aus“ (DWDS, s. v. ent-) Diese sehr fein gegliederten semantischen Unterscheidungen lassen sich bei näherem Hinsehen allerdings durchaus auf die allgemeineren, im Grimm’schen Wörterbuch genannten Basisbedeutungen zurückführen. Es kommt hier wie generell bei semantischen Beschreibungen sehr darauf an, wie genau man die Bedeutung im Einzelnen aufgliedern will und ob man eher eine übergreifende Bedeutung oder viele Einzelbedeutungen erfassen möchte. Tyler/ Evans (2001) zeigen dies am Beispiel von engl. over, für das sie 13 resp. 14 potentielle Bedeutungen ansetzen (cf. ibd. 125), exemplarisch auf. Da zu vermuten steht, dass Sprachnutzer nicht unzählige Bedeutungsvarianten memorieren, sondern eher grundlegende semantische Konzepte, ist einer übergreifenden Bedeutungserfassung bzw. einer moderaten Polysemie der Vorzug zu geben (cf. hierzu ausführlicher am Beispiel der Präpositionen Tyler/ Evans 2003). In seiner im weiteren Sinne privativen Funktion ist das Präfix noch sehr lebendig. Beispiele für moderne Bildungen wären etwa das als Gegenstück zu befreunden gebildete entfreunden mit der Bedeutung ‚jemandem [in einem sozialen Netzwerk] die Freundschaft entziehen‘ oder entfolgen ‚jemandem [auf Instagram oder Twitter] nicht mehr folgen‘. Die inchoative Bedeutung hingegen ist nicht mehr produktiv, und viele der so gebildeten Verben wie entsprießen oder entspringen sind veraltet. Historisch hat sich das Präfix entvor Verben, die wie fangen, fehlen, finden mit f beginnen, zu empgewandelt, woraus die Verben empfangen, empfehlen und empfinden entstanden sind (cf. Kluge 2012, s.-v. ent-). 4.1 Modifikation von Verben <?page no="184"?> 184 4 Die Wortbildung des Verbs Erlauben und erahnen: er- Beim Präfix erhandelt es sich historisch um die unbetonte Form von ur- (cf. Kluge 2012, s.-v. ur-). Bei einigen Wortpaaren kann man das noch gut erkennen, so etwa bei erkunden und dem ursprünglich daraus abgeleiteten Substantiv Urkunde, bei erlauben und dem zugehörigen Substantiv Urlaub oder bei erteilen und dem Substantiv Urteil (aus dem dann wiederum urteilen abgeleitet ist). Die ursprüngliche Bedeutung des Morphems ist ‚hinauf ‘, ‚[hin]aus‘, was sich noch in Verben wie erheben oder erwachsen erkennen lässt. Mittlerweile drückt das Präfix jedoch vor allem inchoative (einen Anfang bezeichnende) und egressive (ein Ende bezeichnende) Bedeutungen aus. Inchoativ sind beispielsweise erblühen ‚zu blühen beginnen‘, erglühen ‚zu glühen beginnen‘ oder ernennen ‚jemanden in eine neue Position einsetzen‘; ganz offensichtlich egressiv sind hingegen Verben wie erschießen, erschlagen oder ertrinken. Mitunter kann man aber auch nicht endgültig entscheiden, welche der beiden Bedeutungen vorliegt, so dass man ein Verb sowohl so interpretieren kann, dass es den Anfang, als auch, dass es das Ende eines Vorgangs bezeichnet. Gemeinsam ist beiden Bedeutungen das Element der Abgeschlossenheit, das sich entweder auf den Beginn oder auf das Ende beziehen kann. Dieses perfektivierende Bedeutungselement kann deutlich in den Vordergrund treten (wie bei erblühen oder ertrinken) oder aber auch eher verblasst sein, wie dies beispielsweise bei ergehen oder erleben der Fall ist. Verben mit dem Präfix ersind sehr zahlreich und kommen sowohl in der gehobenen (erglühen) als auch in der informellen Sprache (ergoogeln) vor. Das Präfix ist, wie das Beispiel ergoogeln zeigt, produktiv. Gefrieren und geloben: ge- Die in Tabelle 3 aufgeführte kleine Liste mit Präfigierungen von fahren, gehen etc. legt den Gedanken nahe, dass ge-, hinter- und missseltener kombinierbar sind als die anderen Präfixe. Und dies ist auch wirklich der Fall. Dabei stellt geein Präfix dar, das bei der Wortbildung des Verbs nicht mehr produktiv und zudem synchron oft auch gar nicht mehr als solches erkennbar ist. Es finden sich etwa vierzig Verben mit ge-, von denen aber einige (z.-B. gesellen, genügen oder gewanden) nicht von anderen Verben abgeleitet sind, sondern von Substantiven (hier: Geselle, Gewand) oder Adjektiven (hier: genug). Präfigierte Verben liegen aber beispielsweise in gefrieren, geloben, gestehen oder geziemen vor. Das Präfix, das auch bei Substantiven vorkommt (z.-B. Geschwister, Gebirge, Gestirn etc.), <?page no="185"?> 185 hatte ursprünglich die Bedeutung ‚zusammen‘, die sich dann zu ‚vollständig‘ und ‚abgeschlossen‘ weiterentwickelt hat (cf. DWB s.-v. ge). Die ‚Vollständigkeit‘ des Sehens wurde beispielsweise im Mittelhochdeutschen durch das Verb gesehen ausgedrückt, das in alemannischen Dialekten als gseh überlebt hat, während im Standard nur noch der Infinitiv sehen vorkommt. Aber auch das geder Partizipien (gegessen, gelacht, gestanzt etc.) ist aus diesem Morphem entstanden. Hintergehen und hinterlassen: hinter- Ursprünglich handelt es sich bei hinter um eine Präposition, die als solche auch noch erhalten ist und einen Ort an der vom Beobachter abgewandten Seite eines Bezugsobjekts bezeichnet (cf. hinter dem Haus). Es gibt insgesamt nur sehr wenige Verben, die mit diesem Morphem gebildet sind: ▶ hinterbringen, hinterfragen, hinterfüllen, hintergehen, hintergießen, hinterlassen, hinterlegen, hintertreiben, hinterziehen Auch von diesen Verben sind nicht mehr alle gebräuchlich. So ist etwa hintergießen einerseits auf Fachwortschatz, andererseits auf regionalen Gebrauch (dann gleichbedeutend mit hinuntergießen) beschränkt, und auch hinterfüllen findet sich nur im Wortschatz des Bauwesens. Als verbales Präfix ist hinternicht mehr produktiv. Missachten und missgönnen: miss- Bei misshandelt es sich ebenfalls um ein nicht mehr oder zumindest kaum noch produktives Präfix. Es vermittelt die Bedeutung ‚falsch‘, ‚verkehrt‘, was etwa in Missetat noch gut erkennbar ist. Auch die Liste der mit missgebildeten Verben ist sehr überschaubar: ▶ missachten, missbehagen, missbilligen, missbrauchen, missdeuten, missfallen, missgestalten, missglücken, missglücken, misshandeln, misslingen, missraten, misstrauen, missverstehen Daneben finden sich noch einige weitere, seltenere Verben wie etwa missleiten ‚in die Irre führen‘ oder misshören ‚falsch hören, missverstehen‘. Letzteres kommt etwa in der Gretchenszene von Goethes Faust vor („Misshör mich nicht, du holdes Angesicht! “) und stellt somit keine moderne Lehnübersetzung zu engl. mishear dar. Als Übernahme aus dem Englischen ist hingegen trotz der 4.1 Modifikation von Verben <?page no="186"?> 186 4 Die Wortbildung des Verbs deutschen Schreibweise mit Doppel-<s> eine Bildung wie missliken („Nach Gutdünken wird geliked oder missliked [sic]“; Kahl 2017) zu deuten. Verben mit missweisen eine Besonderheit auf: Obwohl sie unabhängig von der jeweiligen Betonung alle untrennbar sind, verhalten sie sich in einigen Fällen bei der Bildung des Infinitivs mit zu wie trennbare Verben. Bei untrennbaren Verben wie begehen, entgehen, ergehen etc. steht die Infinitivpartikel zu als freies Morphem vor dem Infinitiv (z.-B. zu begehen, zu entgehen, zu ergehen); bei trennbaren Verben wie z.-B. anstehen, aufstehen, beistehen etc. hingegen tritt das zu zwischen Präfix bzw. Verbpartikel und Verbstamm und wird so in den Infinitiv inkorporiert (z.-B. anzustehen, aufzustehen, beizustehen). Diese Regel gilt auch bei Verben mit miss-, und die entsprechenden Formen lauten z.- B. zu missachten, zu misslingen oder zu misstrauen. Aber das doppelt präfigierte Verb missverstehen verhält sich hier anders und bildet die Form misszuverstehen. Daneben finden sich aber auch häufig Bildungen wie misszubehagen, misszubilligen oder misszudeuten, die anders als misszuverstehen zwar normativ gesehen falsch sind, aber auf ihre Art ebenfalls einer Regel entsprechen. Denn in den Fällen, in denen ein Präfix sowohl trennbar als auch untrennbar sein kann, entscheidet die Betonung über seine Trennbarkeit: Betonte Morpheme können abgetrennt werden, unbetonte hingegen nicht. Daher bildet z.-B. úmgehen (mit betontem um) die Form ging um-(Das Gerücht ging um), während aus umgéhen (mit unbetontem um) die Form umging (Er umging eine direkte Antwort auf ihre Frage) gebildet wird, und die zugehörigen Infinitive lauten entsprechend zu umgehen (Er versuchte die Antwort zu umgehen) und umzugehen (Das Gerücht scheint umzugehen). Entsprechend finden sich die Infinitive mit inkorporiertem zu nur in den Fällen, in denen miss betont ist. Verbeugen und verbiegen: ver- In verliegt „neben ge die weitest verbreitete partikel“ (DWB, s.-v. ver) vor; es ist das häufigste verbale Präfix des Deutschen. Möglicherweise hängt das auch damit zusammen, dass seine sprachgeschichtliche Herkunft höchst komplex ist: Es handelt sich um eine Form, in der gleich drei Präfixe mit unterschiedlichen Bedeutungen zusammengefallen sind. Entsprechend schwierig ist es, dem modernen Präfix eine einheitliche Semantik zuzuweisen. <?page no="187"?> 187 Das DWDS (s. v. ver-) setzt für ver- Verbindungen mit Verben die folgenden Bedeutungen an: „[…] drückt […] aus, dass eine Sache durch etw. (ein Tun) beseitigt, verbraucht wird, nicht mehr besteht […] dass eine Person mit etw. ihre Zeit verbringt […] dass eine Person etw. falsch, verkehrt macht […] dass eine Sache durch etw. beeinträchtigt wird […] hat in Bildungen mit Verben die gleiche Bedeutung wie diese“ Abgesehen davon, dass diese Auflistung einen etwas erratischen Eindruck machen könnte, ist natürlich insbesondere die letztgenannte Funktion verwirrend. Warum sollte man ein Präfix an ein Verb anfügen, wenn sich dadurch gar nichts verändert? Das widerspräche der Ökonomie der Sprache, denn es wäre ja wenig sinnvoll, sich mehrere Wörter für ein und dasselbe Konzept merken zu müssen, wenn sich diese Wörter nicht im Geringsten voneinander unterscheiden. Entsprechend kann man davon ausgehen, dass auch Synonyme nie völlig bedeutungsidentisch sind, sondern immer in irgendeiner Weise differieren. Das kann die Konnotation betreffen, so wie erhalten einer höheren Stilebene angehört als das neutrale bekommen, während kriegen eher umgangssprachlich konnotiert ist (weswegen ein Satz wie Ihr Schreiben vom 20. des Monats haben wir dankend gekriegt seltsam klingt). Oder es kann ein Unterschied in der Syntax bestehen, so wie liefern eine andere Argumentstruktur mit sich bringt als beliefern (jemandem etwas liefern vs. jemanden mit etwas beliefern). Solche Unterschiede sind allerdings oft nicht auf den ersten Blick erkennbar, sondern zeigen sich erst bei genauerer Betrachtung der beteiligten Verben. In der Praxis ist die Bedeutungsvielfalt der Verben mit verbei weitem nicht so breit gestreut, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, und man kann durchaus eine Grundbedeutung sowie nachvollziehbare Weiterentwicklungen daraus benennen. Das Grimm’sche Wörterbuch zeigt hier den Weg auf: die ursprüngliche indogermanische bedeutung der partikel ‚fort, hinweg, ab‘ […] hat sich auch als germanische grundbedeutung erhalten, doch hat sie in der zusammensetzung mannigfache nebenbedeutungen angenommen. […] die bedeutung spaltet sich nach zwei richtungen, sie bezeichnet a) ein hinweggehen, hinwegschaffen vom bisherigen wege, b) ein fortgehen, fortschaffen auf dem eingeschlagenen wege bis zum vorgesteckten ziele. (DWB, s.-v. ver). Aus dieser zweigeteilten Grundbedeutung lässt sich auch die häufigste und damit die „Hauptfunktion“ (Fleischer/ Barz 2012: 389) der mit verpräfigierten 4.1 Modifikation von Verben <?page no="188"?> 188 4 Die Wortbildung des Verbs Verben ableiten: Sie sind mehrheitlich egressiv, drücken also den Endpunkt einer Handlung oder eines Geschehens aus. Entsprechend bedeutet verblühen, dass die Zeit der Blüte zu Ende geht, verheilen bezeichnet den sich vollendenden Heilungsprozess, und versinken zeigt an, dass der Vorgang des Sinkens auf den vollständigen Untergang zusteuert. Dies ist es vermutlich auch, was mit einer semantischen Beschreibung wie „dass eine Sache durch etw. (ein Tun) beseitigt, verbraucht wird, nicht mehr besteht“ (DWDS s.-v. ver-) erfasst werden sollte, denn in der Tat ist etwas, was verspeist wurde, ebenso wie ein versenktes Schiff oder verspieltes Geld danach nicht mehr vorhanden. Ausgedrückt wird durch das jeweilige Verb jedoch in erster Linie, welche Ereignisse es sind, die zu diesem Nicht-mehr-Vorhandensein führen; es ist also nicht das Ergebnis des Vorgangs, sondern der Vorgang selbst, der im Vordergrund steht. Auch geht das in der egressiven Verbbedeutung enthaltende Ende nicht in allen Fällen mit dem Verschwinden des Subjekts (wie bei versinken) oder des Objekts (wie bei verspeisen) einher. Eine vertrocknete Blume ist ebenso wie die in der Wand vermauerten Steine oder der auf das Tischtuch vergossene Wein durchaus noch vorhanden; es ist nur der Vorgang des Trocknens, Gießens oder Mauerns, der ein Ende findet. Bei transitiven Bewegungsverben wie schieben, schleppen oder treiben kann das Präfix veroft durch wegersetzt werden. So stehen den Verben verjagen, verschleppen und vertreiben die mit wegpräfigierten Formen wegjagen, wegschleppen und wegtreiben gegenüber (cf. Fleischer/ Barz 2012: 390). Auch hier zeigt sich aber, dass die Synonyme zwar eine ähnliche, aber keineswegs dieselbe Bedeutung aufweisen: Kombinationen mit wegsind „wörtlicher“ zu verstehen, sie enthalten noch deutlich wahrnehmbar eine Bewegung von einem Ort weg. Das Präfix verkann schließlich auch die Bedeutung ‚falsch machen‘ vermitteln: kochen → verkochen, salzen → versalzen, würzen → verwürzen etc. Das Grimm’sche Wörterbuch (DWB, s.-v. ver) erklärt auch diese Bedeutungsvariante aus der Grundbedeutung des Morphems: „der ort, dem etwas zustrebt, wird als der falsche, unrichtige aufgefaszt“. Dies wird an Verben wie verbiegen, verführen oder verleiten illustriert, die sozusagen ein Biegen, Führen oder Leiten ‚in die falsche Richtung‘ ausdrücken. Nach wie vor produktiv ist die Möglichkeit, diese Art von negativer Bedeutung durch verbei gleichzeitigem reflexivem Gebrauch des Verbs auszudrücken, z.-B. hören → sich verhören, rechnen → sich verrechnen, sprechen → sich versprechen etc. Gleichzeitig können solche Verben aber, wenn sie nicht reflexiv gebraucht sind, auch eine ganz andere Bedeutung haben: verhören bedeutet ‚jemanden intensiv befragen‘, verrechnen ‚einen Be- <?page no="189"?> 189 trag mit in die Rechnung einbeziehen‘, versprechen ‚eine Zusage machen‘. Diese letzten Beispiele zeigen auch, dass man sich bei Präfigierungen mit veroft die sprachgeschichtliche Entwicklung genauer ansehen muss, um zu verstehen, wie die aktuelle Bedeutung des Verbs zustande gekommen ist. Dies gilt ganz besonders in Fällen wie vergessen, verleumden oder verlieren, da es die Verben *gessen, *leumden oder *lieren gar nicht gibt. Daneben haben sich noch einige weitere semantische Nebenvarianten von verentwickelt. Hierher gehören Verben, die eine Verbindung ausdrücken, wie das Verb verbinden selbst, aber auch verheiraten (was im DWB allerdings ebenfalls mit der Bedeutung ‚weg‘ in Verbindung gebracht wird), verkleben oder verloben. In anderen Fällen bewirkt das Präfix eine Intensivierung der Bedeutung (komplizieren → verkomplizieren), was häufig mit einer Veränderung in Richtung auf eine formalere Stilebene verbunden ist: melden → vermelden, sterben → versterben, warnen → verwarnen. Solche Fälle sind es vermutlich, die der oben zitierten Bedeutungsbeschreibung es DWDS „hat in Bildungen mit Verben die gleiche Bedeutung wie diese“ zugrunde lagen. Unter den Modifikationen von Verben mit verfinden sich zahlreiche umgangssprachliche Ausdrücke wie vergurken, verknacken oder verpennen. Entsprechend sind Ableitungen mit verhochgradig produktiv, was sich nicht nur an sprachgeschichtlich neueren Bildungen wie verkabeln, verminen oder den noch neueren Verben verdealen und verleasen zeigen lässt, sondern auch an bisher noch nicht etablierten Formen wie verfacebooken, vertwittern oder verwhatsappen, die man in informeller Kommunikation im Internet finden kann. Auch reflexive Formen mit der Bedeutung ‚das im Verb Ausgedrückte falsch machen‘ finden sich hier, wofür etwa der folgende Internet-Beleg ein Beispiel ist: „sorry, hab mich verliked“. Zernagen und zersetzen: zer- Die ursprüngliche Bedeutung von zerist ‚auseinander‘ oder ‚entzwei‘ (cf. DWDS s.-v. zer-), was sich in vielen Fällen auch noch klar in den so präfigierten Verben widerspiegelt, z.-B. zerbrechen ‚auseinanderbrechen‘, zersägen ‚auseinandersägen‘, zerreißen ‚auseinanderreißen‘ etc. Da Handlungen dieser Art auf ein Ergebnis hin ausgerichtet sind, sind die entsprechenden Verben egressiv, das heißt sie implizieren den Endpunkt einer Handlung oder eines Vorgangs. Diese Bedeutung hat das Präfix auch, wenn kein ‚auseinander‘ mehr in der Bedeutung vorhanden ist; Verben wie zerbeulen, zerkratzen oder zerzausen 4.1 Modifikation von Verben <?page no="190"?> 190 4 Die Wortbildung des Verbs beinhalten nicht, dass das betroffene Objekt nach erfolgter Handlung aus mehreren Stücken besteht. Interessanterweise steht zerin solchen Fällen oft in Konkurrenz zu ver-: die Verben verbeulen, verkratzen und verzausen existieren ebenfalls. Der Unterschied zwischen den beiden konkurrierenden Formen ist oft nur gering, aber Verben mit zerimplizieren das Resultat der Handlung gemeinhin in stärkerem Maße als solche mit ver-. Ein zerbeultes Auto wäre somit --zumindest in den Augen der sprechenden Person --stärker von Beulen verunziert als ein verbeultes. Daneben können aber auch regionale Varianten im Gebrauch eine Rolle spielen. Das Präfix zerist nur noch beschränkt produktiv; zu den sprachgeschichtlich jüngeren Bildungen mit zergehört beispielsweise zerreden. Umgekehrt gibt es zahlreiche Bildungen, die heute nicht mehr gebräuchlich sind, so etwa zerstümmeln, zertreiben oder zerweinen, die noch im Grimm’schen Wörterbuch verzeichnet sind, sich in modernen Lexika aber nicht mehr finden. 4.1.2.2 Affirmieren, dekontaminieren und exkommunizieren: Entlehnte untrennbare Präfixe Entlehnte Präfixe finden sich so gut wie ausschließlich bei Verben auf -ieren, die ihrerseits Fremd- oder Lehnwörter bzw. von solchen abgeleitet sind. Zu nennen wären hier die folgenden Morpheme: ababsorbieren ad- (af-/ aketc.) adjustieren de-/ desdemotivieren, desinfizieren disdisqualifizieren ex- (e-/ efetc.) exkommunizieren in-/ il-/ iminfiltrieren interinteragieren ko- (kol-/ kometc.) kooperieren perpermutieren präprädestinieren proproklamieren rereanalysieren sub- (suf-/ suketc.) subsummieren transtransskribieren <?page no="191"?> 191 Ihnen allen ist gemeinsam, dass die so gebildeten Verben in ihrer überwiegenden Mehrheit direkt aus einer Fremdsprache übernommen und nicht im Deutschen abgeleitet wurden. Im Folgenden werden daher nur einige der häufigsten und/ oder im Deutschen produktiven jeweils kurz besprochen. Adjustieren und akkreditieren: ad- Das Präfix adstammt aus dem Lateinischen, wo es auf eine Präposition ad ‚bei‘, ‚zu‘ zurückgeht. Es weist zahlreiche Nebenformen auf, die durch sog. regressive Assimilation --also durch eine lautliche Veränderung, die durch den nachfolgenden Laut verursacht wird - entstandenen sind (z. B. affirmieren, akklimatisieren, alliterieren, annektieren, apportieren etc.) und ebenfalls bereits im Lateinischen vorlagen. Entsprechend sind die meisten Verben dieser Art nicht erst im Deutschen angeleitet, sondern als fertig gebildete Verben aus dem Lateinischen oder in vielen Fällen auch dem Französischen übernommen worden. Das Präfix, das in seltenen Fällen auch bei entlehnten Substantiven (z.-B. Adjutant) vorkommt, findet sich zwar häufig, ist aber im Deutschen nicht produktiv. Deformieren und desinfizieren: de-/ des- Das aus der lateinischen bzw. der gleich geschriebenen französischen Präposition de ‚von‘ abgeleitete, recht häufige Präfix de- (z.-B. deblockieren) weist vor Vokalen meist die Form desauf (z.-B. desorientieren). Die Mehrheit der so gebildeten Verben ist aus dem Französischen oder Lateinischen entlehnt und nicht erst im Deutschen gebildet worden, so dass das unpräfigierte Verb im Deutschen oft gar nicht existiert (z.-B. demonstrieren/ *monstrieren). Das Präfix kann aber insbesondere im Fachwortschatz produktiv genutzt werden (z.- B. deaggressivieren). Es kommt auch bei Substantiven (z.-B. Desinteresse) und Adjektiven (z.-B. dezentral) vor. Epilieren und exkulpieren: ex- Aus der lateinischen Präposition ex ‚aus‘ ist das gleichlautende Präfix entstanden, das wie viele der vorgenannten ebenfalls der regressiven Assimilation unterliegt und in den Formen e- (z.-B. eliminieren), ef- (z.-B. effeminieren) und ex- (z.- B. exhumieren) auftritt. Diese Verben gehen durchweg auf die Über- 4.1 Modifikation von Verben <?page no="192"?> 192 4 Die Wortbildung des Verbs nahme des gesamten Wortes aus einer Fremdsprache zurück und sind nicht im Deutschen gebildet worden. Das Präfix kommt auch bei Substantiven (z.-B. Exfreund) vor, wo es anders als bei Verben produktiv ist und wo sogar ein eigenes, freies Morphem der/ die Ex daraus hervorgegangen ist, sowie in seltenen Fällen auch bei entlehnten Adjektiven (z.-B. exzentrisch). Infiltrieren und illuminieren: in- Das Präfix in- (aus lat. in ‚in‘, verwandt mit dt. in) weist zwei durch regressive Assimilation (Anpassung an den Folgelaut) entstandene Nebenformen auf: il- (z.-B. illustrieren) und im- (z.-B. importieren). Auch hier sind die so gebildeten Verben Entlehnungen aus anderen Sprachen und keine im Deutschen erfolgten Ableitungen, und das nicht-präfigierte Verb ist in vielen Fällen im Deutschen gar nicht vorhanden; so ist etwa *vestieren (zu investieren) kein Verb, das es im Deutschen gibt. Ein gleichlautendes Präfix inkommt auch bei Substantiven und Adjektiven vor, hat dort aber eine völlig andere, negierende Funktion (z.-B. Intoleranz ‚nicht-Toleranz‘, inoffiziell ‚nicht offiziell‘). Koexistieren und konfirmieren: ko-/ kon- Auch bei dem relativ häufigen Präfix ko- (z. B. koordinieren) zeigt sich das Phänomen der regressiven Assimilation in Gestalt der Formen kol- (z. B. kollaborieren), kom- (z. B. kommemorieren), kon- (z. B. konfirmieren) und kor- (z. B. korrigieren). Die assimilierten Formen treten ebenfalls bereits im Lateinischen auf, wo das Wortbildungselement aus der Präposition cum ‚mit‘ hervorgegangen ist. Auch hier ist die Mehrzahl der Verben nicht im Deutschen gebildet, sondern direkt auf dem Lateinischen oder Französischen übernommen worden. Das Substantiv kommt auch bei Substantiven (z.- B. Koautor) und entlehnten Adjektiven (z.-B. kongenial) vor. Präfabrizieren und prädestinieren: prä- Auf lat. prae ‚vor‘ geht das Präfix präzurück. Es vermittelt als verbales Präfix meist keine räumliche Bedeutung, sondern die der Vorzeitigkeit (z.-B. prädisponieren). Auch die mit prägebildeten Verben sind durchweg nicht im Deutschen gebildet, sondern als Lehnwörter aus anderen Sprachen übernommen worden. <?page no="193"?> 193 Außer bei Verben kommt präauch bei Substantiven (z.-B. Präverb) und Adjektiven (z.-B. prähistorisch) vor. Reduplizieren und reproduzieren: re- Das recht häufige Präfix regeht auf ein gleichlautendes lateinisches Präfix zurück (im Lateinischen mit der Nebenform red-, die sich etwa im Adjektiv redundant zeigt), dessen Bedeutung sich mit ‚abermals‘ oder ‚wieder‘ wiedergeben lässt. Neben direkt aus Fremdsprachen übernommenen Verben wie renovieren finden sich hier auch solche, die im Deutschen gebildet wurden (z.-B. reanimieren oder reinvestieren). Das Präfix kommt auch bei Substantiven (z.-B. Reimport) vor. 4.1.2.3 Um’fahren und ‚umfahren: Launische Verben (mal trennbar, mal nicht) Eine Reihe von Morphemen kann entweder als untrennbares Präfix oder als trennbare Verbpartikel verwendet werden; was von beidem vorliegt, hängt einzig von der Betonung des Verbs ab. So ist um’fahren (Betonung auf fahren) nicht trennbar (umfährt, umfuhr) und bildet sein Partizip ohne ge-: Sie hat das Hindernis umfahren. Hingegen ist ‚umfahren (Betonung auf um) trennbar (fährt um, fuhr um) und bildet sein Partizip wie alle trennbaren Verben, indem es das gezwischen Verbpartikel und Verb einfügt: Er hat den Verkehrskegel umgefahren. Sowohl als trennbare Verbpartikeln als auch als untrennbare Präfixe kommen die folgenden Morpheme vor, die von ihrer Herkunft her Präpositionen sind: ▶ durch ▶ ob [veraltet] ▶ über ▶ um ▶ unter ▶ wider Aber auch andere Morpheme, so etwa das ursprüngliche Adjektiv voll, können sowohl trennbar als auch untrennbar auftreten. So stehen etwa den nicht trennbaren Verben vollenden, vollführen, vollstrecken, vollziehen etc. trennbare wie vollfüllen, vollgießen, volltanken oder das umgangssprachliche volllabern gegenüber, die trennbar sind. Entsprechend heißt es Das Urteil wurde vollzogen 4.1 Modifikation von Verben <?page no="194"?> 194 4 Die Wortbildung des Verbs (Partizip ohne ge-: untrennbares Verb) vs. Der Wagen ist vollgetankt (Partizip mit -ge-: trennbares Verb). Grundsätzlich gilt folgende Regel: Verben sind dann trennbar, wenn das abzutrennende Element die Betonung trägt - und wenn der verbleibende Rest ein eigenständiges Verb darstellt, das auch alleine vorkommen kann. Füllen, tanken oder labern sind solche Verben; *feigen (zu ohrfeigen) hingegen ist keines, und stücken (zu frühstücken) gibt es zwar, aber nur in der Bedeutung ‚in Stücke zerteilen, stückeln‘, die nicht mit frühstücken in Verbindung gebracht werden kann (cf. *frühstückeln). Tatsächlich stellen frühstücken und ohrfeigen auch keine Ableitungen aus Verben, sondern aus Substantiven (Frühstück, Ohrfeige) dar, und als solche sind sie nicht trennbar. Durchleuchten und durchsehen: durch Die Bedeutung von durch als Präfix resp. Verbpartikel ist dieselbe wie bei der Präposition: Sie ist primär lokal und zeigt eine Bewegung von einem Ausgangszu einem Endpunkt an, die einen bestimmten räumlichen Bereich impliziert: durch das Dorf, durchs Fenster, durch die Öffnung, durch den Wald. Davon abgeleitet kann das Morphem wie alle lokalen Präpositionen auch eine temporale Bedeutung annehmen (durch die Nacht), und schließlich findet sich auch eine übertragene, instrumentale Bedeutung (durch ihre Vermittlung, durch das Medikament etc.). Insbesondere die primäre lokale, aber auch die temporale Bedeutung findet sich ebenso bei den mit durch gebildeten Verben, und zwar jeweils sowohl bei trennbaren wie bei untrennbaren: ▶ lokal, trennbar: durchfallen, durchgehen, durchlesen ▶ lokal, nicht trennbar: durchmessen, durchschreiten, durchreisen ▶ temporal, trennbar: durcharbeiten, durchhalten, durchmachen ▶ temporal, untrennbar: durchleben, durchleiden, durchschlafen Interessanterweise finden sich bei einer ganzen Reihe von Verben sowohl trennbare als auch untrennbare Varianten, so etwa bei durchschlafen (Das Baby durchschlief die ganze Aufregung vs. Das Baby schläft schon durch) oder durchschreiten (Sie durchschritten das Tor vs. Sie schritten rücksichtslos durch). Auch die Bedeutung lässt sich keineswegs immer genau zuweisen: Sie arbeitete die ganze Nacht durch meint offensichtlich einen Zeitraum, aber Ich muss den Text <?page no="195"?> 195 für morgen noch durcharbeiten hat ebenso offensichtlich einen lokalen Bezug, nämlich auf den Raum, den die Seiten des Textes bilden. Verben mit durchsind mehrheitlich transitiv. Die Bildungsweise ist produktiv, wie nicht zuletzt aktuelle, teilweise noch nicht in den Wörterbüchern verzeichnete Ableitungen wie durchprogrammieren oder durchchatten zeigen, für die sich jeweils zahlreiche Internet-Belege wie durchprogrammiert oder durchgechattet finden. Obliegen und obwalten: zwei Verben mit ob Die Präposition ob ‚wegen‘ (ursprüngliche Bedeutung: ‚oberhalb von‘, cf. Rothenburg ob der Tauber) ist heute veraltet, und es finden sich nur noch ganz selten Wendungen wie ob der Schwierigkeiten oder ob der Tatsache. Auch die mit ob gebildeten Verben obliegen und obwalten sind nicht mehr sehr gebräuchlich. Im Sinne von ‚die Pflicht haben‘ wird obliegen noch in gehobenem, insbesondere auch juristischem Sprachgebrauch verwendet: Die Beweisführung obliegt dem Antragsteller. Völlig veraltet ist das Verb demgegenüber in seiner Bedeutung ‚sich (intensiv) beschäftigen mit‘: Er oblag seinem Studium. Das ebenso seltene Verb obwalten ‚vorhanden sein‘ (Es obwalten nach wie vor Zweifel) wird häufig als Partizip Präsens gebraucht, meist in der festen Wendung unter den obwaltenden Umständen. Interessant an diesen beiden Verben ist, dass sie sowohl eine trennbare als eine untrennbare Variante aufweisen, wobei es keinen Bedeutungsunterschied gibt, die trennbaren Formen aber bereits stärker veraltet sind: Die Pflicht lag ihm ob. Andere Umstände walteten ob. Überlaufen und überragen: über Mit der ursprünglich lokalen Präposition über gebildete Verben sind sehr häufig. Unter ihnen gibt es eine ganze Reihe von Dubletten aus trennbaren Verben - mit betontem über - und ihrem untrennbaren Gegenstück, bei dem die Betonung auf dem Verb liegt. Dabei entsteht jeweils eine unterschiedliche Bedeutung, z.B.: ▶ Sie wurde bei der Beförderung übergangen vs. Ich gehe jetzt zu einem anderen Thema über ▶ Sie hat ihm die Entscheidung überlassen vs. Er hat ihr nichts übergelassen ▶ Er überragt alle Anwesenden um einen Kopf vs. Das Brett ragt ein bisschen über 4.1 Modifikation von Verben <?page no="196"?> 196 4 Die Wortbildung des Verbs ▶ Sie haben sich überworfen vs. Ich habe mir schnell eine Jacke übergeworfen ▶ Ich habe mein Konto überzogen vs. Sie hatte den Mantel übergezogen Daneben gibt es Verben, die immer trennbar bzw. immer untrennbar sind. Insgesamt sind dabei die nicht trennbaren Verben-wie überdenken, überfliegen, überlagern, überlegen etc. etwas häufiger anzutreffen als die stets trennbaren wie überbehalten, überbleiben, überschäumen oder überschnappen. Die Wortbildung mit über ist produktiv, und entsprechend finden sich auch noch nicht in den offiziellen Wortschatz aufgenommene Bildungen wie überprogrammieren (z.-B. Das ist völlig überprogrammiert). Umfahren und umstellen: um Auch die ursprüngliche lokale Präposition um findet sich als verbales Präfix resp. als Verbpartikel bei zahlreichen Verben wieder, und auch hier gibt es eine Reihe von Dubletten mit unterschiedlichem Betonungs- und entsprechendem Trennungsverhalten: ▶ Er umging die Frage vs. Ein Gespenst geht um ▶ Fahnen umkleiden die Tribüne vs. Ich kleide mich schnell um ▶ Sie hat den Plan grob umrissen vs. Die Brandung hat mich umgerissen ▶ Sie umschrieb das Verfahren vs. Sie schrieb den Text um ▶ Frische Luft umwehte uns vs. Der Sturm hat den Baum umgeweht Auch hier gibt es Fälle von auf der ersten Silbe betonten, also stets trennbaren Verben wie umblättern, umkommen oder ummelden und solchen, bei denen der Verbstamm betont ist und die somit untrennbar sind wie umhüllen, umgeben oder umwerben. Dabei sind die trennbaren Verben etwas häufiger als die untrennbaren. Die Wortbildung mit um ist produktiv, und Verben wie umprogrammieren sind mittlerweile auch schon in den Standardwortschatz aufgenommen worden und finden sich beispielsweise im Rechtschreib-Duden (2017). Untergehen und unterdrücken: unter Bei der ebenfalls ursprünglich lokalen Präposition unter sind Wortbildungen etwas seltener, die sowohl eine trennbare als auch eine untrennbare Variante aufweisen. Es gibt sie aber auch hier: <?page no="197"?> 197 ▶ Man gräbt am besten etwas Torf unter. vs. Das untergräbt sein Ansehen. ▶ Er unterstellte mir böse Absichten. vs. Ich stellte mich wegen des Regens kurz unter. ▶ Ich muss mich einer Wurzelbehandlung unterziehen. vs. Ich habe vorsichtshalber einen Pulli untergezogen. Stets untrennbare Verben wie unterdrücken, unterhalten oder unternehmen finden sich bei der Wortbildung mit unteretwas häufiger als trennbare wie unterbringen, unterhaken oder unterkriegen. Auch Ableitungen mit unter sind produktiv, und es finden sich moderne, noch nicht in den Standardwortschatz aufgenommene Verben wie unterdecken (untergedeckte Ansprüche). Widersprechen und widerspiegeln, wiederholen und wiederkehren: wi(e)der Die letzte lokale Präposition, die sich bei der Wortbildung sowohl als untrennbares Präfix als auch als trennbare Verbpartikel einsetzen lässt, ist wider mit seinem Gegenpart, dem Adverb wieder. Letzteres wird seit dem 17./ 18. Jahrhundert zwecks besserer Unterscheidbarkeit mit zusätzlichem <e> geschrieben, die beiden Wörter gehen jedoch auf dieselbe Quelle zurück (cf. DWDS s.-v. wider). Die Bedeutung ‚(ent)gegen‘ (wider) führt zu einem mitgemeinten ‚zurück‘, was wiederum ein ‚abermals‘ impliziert (wieder). Mit wider gebildete Verben sind entweder trennbar oder untrennbar, wobei das Verb widerhallen, das beide Varianten zulässt, eine Ausnahme darstellt (z.-B. Der Dom widerhallte von Orgelmusik vs. Die Orgelmusik hallte von den Wänden wider). In den anderen Fällen ist jeweils nur eine der beiden Möglichkeiten realisiert. Trennbar sind z.- B. widerklingen, widerscheinen oder widerspiegeln; zu den etwas häufigeren untrennbaren Verben gehören z.-B. widerfahren, widerrufen oder widerstehen. Verben mit wider sind insgesamt nicht sehr häufig, und dieser Wortbildungstyp ist auch nicht produktiv. Mit wieder gebildete Verben wie wiederbeleben, wiedererkennen oder wiedersehen sind durchweg trennbar. Eine Ausnahme bildet wiederholen, z.-B. Ich habe den Stoff für die Prüfung wiederholt (untrennbar) vs. Ich habe mir das Diebesgut wiedergeholt (trennbar). Statt zum Mittel der Wortbildung zu greifen und ein neues Verb zu bilden, kann wieder aber auch einfach als Adverb in den Satz eingefügt werden. Zwischen Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme und Ich weiß noch nicht, wann ich wieder komme besteht vor allem ein Betonungsunterschied: Im ersten Fall ist wieder betont, im zweiten komme. 4.1 Modifikation von Verben <?page no="198"?> 198 4 Die Wortbildung des Verbs 4.1.2.4 Aufstehen, heimsuchen und innehalten Immer trennbare Verben Bei der Mehrzahl der mit ursprünglichen Präpositionen oder anderen freien Morphemen, vorwiegend Adverbien, gebildeten Verben trägt das erste Element den Wortakzent und kann somit vom Verb abgetrennt werden. Dies betrifft die folgenden Morpheme, wobei die Aufzählung keineswegs abschließend ist: ab abschreiben an anfangen auf aufhören aus ausgeben bei beistehen dar (Form von da, cf. darin) darreichen dazwischen dazwischengehen durch durchlesen ein (Kurzform zu hinein) eintreten fehl fehlgehen heim heimkommen (he)raus herausfinden (he)rein hereinlegen hervor hervorbringen inne innehalten los losgehen mit mitkommen nach nachsehen vor vorlesen zu zuhören zurecht zurechtkommen (zu)rück zurücklehnen zwischen zwischenlanden Im Einzelnen kommen diese Verbpartikeln mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit vor. Während sich in Fällen wie etwa bei mit dem Adjektiv fehl oder dem Adverb inne gebildeten Verben nur eine Handvoll Beispiele finden, sind vor <?page no="199"?> 199 allem die aus Präpositionen abgeleiteten Verbpartikeln in ihrer Mehrheit sehr häufig und auch produktiv. 4.1.2.4.1 Abschreiben, beifügen und zuhören: Präpositionen als Verbpartikeln Bei den Morphemen ab, an, auf, aus, bei, durch, für, mit, nach, vor, zu und zwischen handelt es sich ursprünglich um Präpositionen. Sie kommen mit Ausnahme von für, das im modernen Deutsch weitgehend durch vor ersetzt wurde, und zwischen, für das es nur eine Handvoll Belege gibt, durchweg recht häufig vor und sind auch alle produktiv. Dies sollen die im Folgenden jeweils als zusätzliches Beispiel angeführten aktuellen Bildungen neueren Ursprungs illustrieren: ab abbremsen, abgelten, absehen; aktuelle Bildung: abhotten an anbrennen, angucken, anreden; aktuelle Bildung: anbaggern auf: aufgehen, aufhören, aufpassen; aktuelle Bildung: aufbrezeln aus ausgehen, aussehen, ausziehen; aktuelle Bildung: ausflippen bei beifügen, beistehen, beiwohnen; aktuelle Bildung: beibiegen durch durchführen, durchhalten, durchstehen; aktuelle Bildung: durchprogrammieren für fürbitten, fürsprechen; veraltet: fürblicken, fürbringen, fürsehen etc. mit mitfahren, mithalten, mitmachen; aktuelle Bildung: mittwittern nach nachgehen, nachsehen, nachweinen; aktuelle Bildung: nachtwittern vor vorfahren, vorlassen, vorzeigen; aktuelle Bildung: vorglühen zu zugeben, zuhören, zuziehen; aktuelle Bildung: zudröhnen zwischen zwischenlanden, zwischenspeichern, zwischenfinanzieren (die Beispiele sind selbst aktuelle Bildungen) 4.1.2.4.2 Fehlgehen, heimsuchen und zurückweisen: Adverbien als Verbpartikeln Wie bereits erwähnt, können auch Adjektive und Adverbien zur Modifikation von Verben verwendet werden. Einige davon kommen nur selten vor; so finden sich nur knapp zehn mit fehl gebildete Verben (z.-B. fehlgehen, fehltreten oder fehlinterpretieren), und bei inne sind es noch weniger (z.- B. innehalten, innewerden, innewohnen). Hier ist das Ableitungsverfahren nicht mehr produktiv, 4.1 Modifikation von Verben <?page no="200"?> 200 4 Die Wortbildung des Verbs und auch die zur Ableitung verwendeten Morpheme sind veraltet und werden nur noch sehr selten (einer Sache inne sein) oder im Fall von fehl nur noch in bestimmten Kontexten gebraucht (fehl am Platz). Anders ist das bei Adverbien mit her- (bzw. abgekürzt r-) wie heraus/ raus, herein/ rein, hervor etc., bei her und seinem Gegenstück hin selbst und bei anderen Adverbien wie dazwischen, heim, los, zurecht, zurück/ rück u.-a.-m. Diese Wörter sind als Wortbildungselemente sehr produktiv. Beispiele für damit gebildete Verben wären etwa die von kommen abgeleiteten Formen dazwischenkommen, heimkommen, herauskommen/ rauskommen, hereinkommen/ reinkommen, herkommen, hervorkommen, hinkommen, loskommen, zurechtkommen und zurückkommen. Bei heraus und herein wie auch bei allen anderen mit her und hin gebildeten Formen wie her/ hinauf, her/ hinunter, her/ hinüber etc. findet sich sowohl für die Adverbien als auch für das Wortbildungsmorphem jeweils eine auf r verkürzte Variante von her (rein, raus, rauf, runter, rüber etc.). Adverbien mit her drücken eine Bewegung in Richtung auf die sprechende Person aus, während solche mit hin umgekehrt eine Bewegung von der Position der sprechenden Person weg bezeichnen: Sie kam zu uns herein; Lasst uns zu ihr hinausgehen. Bei der Verkürzung auf raus/ rein wird dieser Kontrast neutralisiert: Sie kam zu uns rein/ Lasst uns zu ihr rausgehen. Daher finden sich zunehmend die verkürzten Formen raus und rein. Mit Ihnen lässt sich eine Frage wie Raus oder rein? formulieren, die sonst Hinaus oder herein? lauten müsste. Im Fall von zurück finden sich bei einem Teil der damit gebildeten Verben auch die Kurzform rück, so etwa bei rückbuchen, rückerstatten oder rückvergüten. Wie die letzten beiden Beispiele zeigen, verbindet sich rückauch mit bereits präfigierten Verben; weitere Beispiele hierfür wäre etwa rückübersetzen, rücküberweisen oder rückversichern. In diesen Fällen sind die Vollformen wie zurückübersetzen oder zurückversichern oft ungebräuchlich. Bei einhandelt es sich um eine verkürzte Form des Adverbs hinein, die ausschließlich bei der Wortbildung vorkommt. Hier trägt die Vollform, sofern es sie gibt, jedoch jeweils eine andere Bedeutung, cf. einführen vs. hineinführen, eingehen vs. hineingehen oder eintrichtern vs. *hineintrichtern. Auch hervorkann insbesondere umgangssprachlich in der verkürzten Form vorauftreten, die dann äußerlich mit der bereits besprochenen, auf die Präposition zurückgehende Verbpartikel vor identisch ist. Allerdings lassen sich von <?page no="201"?> 201 Vorneherein mit vorgebildete Verben nicht zu solchen mit hervor umformen (etwa: vorsagen → *hervorsagen). Diese Umformung ist nur dann möglich, wenn die Bildung auf das Adverb zurückgeht, z.-B.: Er kam hinter dem Vorhang vor → Er kam hinter dem Vorhang hervor. 4.1.2.4.3 Saubermachen und staubsaugen: Adjektive und Substantive als Wortbildungselemente bei Verben Auch Adjektive und sogar Substantive können links an das Verb angefügt werden. Beispiele für Adjektive wären blankbohnern, bloßstellen, festschrauben oder madigmachen (zur Einordnung solcher Verben als Partikelverben cf. Öhl 2016: 63-70); ein Beispiel für ein Substantiv wäre staubsaugen. Die Verbindungen sind hier aber nicht so eng wie in den anderen Fällen, was sich auch in der Rechtschreibung spiegelt: In der Mehrheit der Fälle werden solche Verbindungen getrennt geschrieben, da man statt von Wortbildung jeweils auch von einer syntaktischen Beziehung ausgehen kann. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um Substantive handelt; die Unterscheidung kann aber auch hier im Einzelfall schwierig sein. Bildet Staub das Objekt zu saugen oder gehört es als Wortbildungselement zum Verb? Die Rechtschreibregelung hat sich hier die letztere Interpretation zu eigen gemacht. Umgekehrt wird in Fällen wie Auto fahren in der Rechtschreibung stets angenommen, dass ein Objekt vorliegt--worüber man durchaus diskutieren könnte, denn wenn Auto in einem Satz wirklich das Objekt bildet, wird das Perfekt mit haben statt mit sein gebildet: ich bin Auto gefahren, aber: ich habe das Auto in die Garage gefahren. Auch bei Adjektiven lässt sich die Funktion in Fällen wie festschrauben oder kahlrasieren syntaktisch deuten; man spricht dann von einem Attribut zum Objekt. Der Satz Er rasiert sich den Kopf kahl bedeutet so etwas wie: ‚er rasiert sich den Kopf, der dadurch kahl wird‘ und funktioniert damit völlig gleich wie Sie streicht den Zaun weiß oder Ich wische den Tisch sauber. Wann man hier eine feste Fügung und damit Wortbildung und in der Folge Zusammenschreibung annimmt, hängt vor allem von der Häufigkeit ab, mit der die Verbindung auftritt. So können kahlrasieren und saubermachen alternativ zusammen oder getrennt geschrieben werden, während totschlagen nur die Variante der Zusammenschreibung zulässt. 4.1 Modifikation von Verben <?page no="202"?> 202 4 Die Wortbildung des Verbs 4.1.3 Fällen, klappern, stottern und tänzeln: Modifikation durch Suffigierung Die Verbendungen -eln (z.-B. betteln) und -ern (z.-B. stottern) gehen --so es sich nicht um Ableitungen aus Substantiven mit der entsprechenden Endung (z.-B. Kachel → kacheln oder Hammer → hämmern) handelt --auf die althochdeutschen Morpheme -alon/ -ilon resp. aron/ iron zurück (cf. z.- B. Spengler 2008: 1484), die zur Bildung von Verben dienten. Verben dieses Typs sind häufig iterativ (d.-h. sie dienen dem Ausdruck wiederholter Handlung) oder diminutiv (verkleinernd; dies gilt nur für Verben auf -eln). So ist beispielsweise betteln etymologisch ein Iterativum zu bitten, bedeutet also so etwas wie ‚immer wieder bitten‘. Grübeln ist aus graben abgeleitet und beschreibt das intensive Graben in den eigenen Gedanken. Stottern gehört etymologisch zu stoßen und bezeichnet ‚stoßweise‘ wiederholtes Sprechen, und klappern (zu klappen) beschreibt ein sich wiederholendes klapp-klapp-klapp. Diminutiva auf -eln sind etwa hüsteln ‚ein bisschen husten‘, lächeln ‚ein bisschen lachen‘, spötteln ‚ein bisschen spotten‘ oder tänzeln ‚ein bisschen tanzen‘. Einige Verben lassen sich sowohl iterativ als auch diminutiv deuten, so etwa tröpfeln ‚ein bisschen/ wiederholt tropfen‘ oder fälteln ‚in viele/ kleine Falten legen‘. Diese Art der Wortbildung hat sich nicht erhalten, und heute sind Derivationen auf -eln nur noch sprachspielerisch möglich. <?page no="203"?> 203 Fällen und versenken: Kausativa Im modernen Deutsch ebenfalls nicht mehr ohne weiteres erkennbar, aber historisch von Bedeutung ist die Bildung sog. kausativer Verben (auch: Kausativa). Bei einem Kausativum wird ein zusätzliches Agens (eine zusätzliche handelnde Person) in den Handlungsrahmen eingefügt, das den im Verb ausgedrückten Vorgang verursacht. So bedeutet das von fallen abgeleitete fällen ‚verursachen, dass etwas fällt‘; setzen bedeutet ‚verursachen, dass jemand sitzt‘ etc. Man kann die Verwandtschaft des kausativen Verbs mit dem, von dem es abgeleitet wurde, wie bei fallen/ fällen oder sitzen/ setzen meist noch gut erkennen, auch wenn das angewendete Verfahren selbst nicht mehr nachvollziehbar ist. An den Umlauten der kausativen Verben kann man erkennen, dass die Ableitung in der Folgesilbe ursprünglich ein i oder j enthalten haben muss, denn das war die Ursache für den Umlaut der vorhergehenden Silbe; und tatsächlich wurden entsprechende Verben im Althochdeutschen mit dem Suffix -jan gebildet. In manchen Fällen - etwa bei sinken/ senken, trinken/ tränken, liegen/ legen - kann man den Zusammenhang der beiden Verben auch heute noch leicht erkennen; in anderen, so etwa bei dem aus fahren abgeleiteten führen, ist das nicht so einfach. Allen so gebildeten Verben ist gemeinsam, dass sie schwach sind, also ihr Präteritum und ihr Partizip mit -tbilden. Das hat zur Folge, dass einige im Infinitiv und Präsens mit der intransitiven Form gleichlautende Verben wie hängen/ hängen oder erschrecken/ erschrecken unterschiedliche Präteritums- und Partizipialformen bilden, was beim Gebrauch oft zu Unsicherheiten führt. Intransitiv, also ohne Objekt, werden die Formen mit Ablaut gebildet (sog. starke Verben): Das Bild hing an der Wand, es hat an der Wand gehangen; Ich erschrak, ich bin erschrocken. Die abgeleiteten kausativen Verben hingegen zeigen die schwachen Endungen auf -t: Ich hängte das Bild an die Wand, habe es an die Wand gehängt; Das erschreckte ihn, das hat ihn erschreckt. Auch anderen Verben liegen sprachgeschichtlich Modifikationen zugrunde, die heute nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind. So ist schnitzen ein sog. Intensivum (ein Verb, das besonders intensive Handlungen ausdrückt) zu schneiden, nicken ist eine entsprechende Ableitung von neigen etc. Aber diese Arten der Wortbildung sind schon lange nicht mehr produktiv. 4.1 Modifikation von Verben <?page no="204"?> 204 4 Die Wortbildung des Verbs 4.2 Begeistern, frösteln, miauen und verfremden: Derivation von Verben aus anderen Wortarten Wie bei anderen Wortarten besteht auch bei Verben die Möglichkeit, sie aus einer anderen Wortart --also etwa einem Substantiv oder Adjektiv - abzuleiten. Die typischen Vorgehensweisen dabei werden im Folgenden besprochen. 4.2.1 Bebildern, eifern, huldigen und untertunneln: Derivation von Verben aus Substantiven Um Verben aus Substantiven abzuleiten, stehen grundsätzlich drei Möglichkeiten zur Verfügung: ▶ Konversion, also die Verwandlung eines Substantivs in ein Verb ohne Zuhilfenahme zusätzlicher Mittel außer der Verwendung verbtypischer Flexionsendungen (z.-B. Hagel → hageln) ▶ Suffigierung, also das Anfügen einer Nachsilbe (z.- B. Geist → geist-er-n, Archiv → archiev-ier-en) ▶ Kombinationen aus den beiden vorgenannten Möglichkeiten mit einem zusätzlichen Präfix (z.-B. Arm → um-armen, Absicht → be-absicht-ig-en) 4.2.1.1 Googlen, stürmen und winden: Konversion von Substantiven zu Verben Die einfachste Art, aus einem Substantiv ein Verb zu machen, besteht darin, dass man das Wort sozusagen einfach als Verb benutzt --mit anderen Worten, dass man es mit den Flexionsendungen versieht, die für Verben typisch sind (also etwa mit dem -en der Infinitivendung oder dem -st der zweiten Person Singular Präsens, z.-B. Dank → danken, du dankst). Gelegentlich geht die Konversion mit einem Umlaut einher, z.-B. Betrug → betrügen, Kampf → kämpfen, Ton → tönen. Wenn das Substantiv bereits auf -en endet, führt dies in seltenen Fällen dazu, dass der Infinitiv des so gebildeten Verbs mit ihm gleichlautend ist: Knoten → knoten, Tropfen → tropfen (eine sprachgeschichtlich schon sehr lange zurückliegende Ableitung). Es kommt aber auch vor, dass das -eder Substantivendung in solchen Fällen getilgt und das so verkürzte Substantiv dann die -en-Endung <?page no="205"?> 205 des Infinitivs angefügt wird: Segen → segnen, Zeichen → zeichnen. Ebenso wird das auslautende -e eines Substantivs bei der Konversion getilgt-(oder, je nach Sichtweise, die Infinitivendung zu -n verkürzt), so etwa bei Ohrfeige → ohrfeigen oder Ruhe → ruhen. Auch wenn das Substantiv auf -el oder -er endet, wird nur ein -n angefügt und es entstehen die Infinitivendungen -eln resp. -ern, die in solchen Fällen dann keine diminutive oder iterative Bedeutung haben: Würfel → würfeln, Hammer → hämmern. Wie bei hämmern führt die Konversion auch in anderen Fällen zur Bildung eines Umlauts, so bei Acht → ächten, Haufen → häufen, Sturm → stürmen etc. Die Konversion von Substantiven zu Verben ist produktiv und kann auch auf Fremdwörter angewandt werden, wie man an Beispielen wie Bike → biken, Chat → chatten, Skype → skypen oder WhatsApp → whatsappen sehen kann. 4.2.1.2 Bändigen, funktionieren, räuchern und witzeln: Derivation von Verben aus Substantiven durch Suffigierung Für die Ableitung von Verben aus Substantiven stehen die Suffixe -ig, -el, -er sowie das entlehnte Suffix -ier zur Verfügung. Beispiele für die Derivation mit -ig wären Huld → huldigen, Kreuz → kreuzigen oder Pein → peinigen. Dabei kann auch ein Umlaut ausgelöst werden, so etwa bei Band → bändigen, Nacht → nächtigen, Zucht → züchtigen. Wenn das Substantiv auf -en endet, wird diese Endung bei der Ableitung getilgt: Boden → bodigen [schweizerisch], Schaden → schädigen, Sünde → sündigen. Während das Derivationssuffix -ig häufig vorkommt, sind -el und -er etwas seltener anzutreffen. Mit -el wird oft eine diminutive Bedeutung vermittelt; Beispiele hierfür wären etwa Frost → frösteln, Krise → kriseln oder Witz → witzeln. Wenn es parallel zur Ableitung auf -el auch eine Konversion gibt, wie das etwas bei Spott → spotten → spötteln der Fall ist, muss man aber normalerweise davon ausgehen, dass das -eln-Verb als Diminutiv aus dem konvertierten Verb und nicht direkt aus dem Substantiv abgeleitet wurde. Ableitungen auf -er erfolgen vorzugsweise dann, wenn das zugrundeliegende Substantiv seinen Plural auf -er bildet, so etwa bei Ei → eiern, Glied → gliedern, Rad → rädern etc. Fast nur bei Fremd- und Lehnwörtern findet sich das Suffix -ier mit den erweiterten Varianten -isier und -izier: Argument → argumentieren, Atom → atomisieren, Klasse → klassifizieren. Dieser Bildungstyp ist vor allem im Fachwortschatz verschiedener wissenschaftlicher Richtungen produktiv. Nur in 4.2 Derivation von Verben aus anderen Wortarten <?page no="206"?> 206 4 Die Wortbildung des Verbs seltenen Ausnahmefällen finden sich auch deutsche Wurzeln, so bei Haft → inhaftieren (wo gleichzeitig das Präfix inauftritt). Allgemein werden diese Suffixe vor allem bei der Übernahme von Verben aus anderen Sprachen verwendet, cf. gentrifizieren (zu engl. gentrify) oder rezyklieren (zu engl. recycle). Insbesondere die Suffixe -ier und -isier sind sehr häufig. Bei Substantiven auf -e, -el, -er und -ie wird diese Endung jeweils zugunsten der Ableitungssuffixe getilgt: Adresse → adressieren, Exempel → exemplifizieren, Hierarchie → hierarchisieren, Massaker → massakrieren. Auch andere Endungen können gelegentlich entfallen, z.-B. Plastik → plastifizieren, Rhythmus → rhythmisieren. 4.2.1.3 Berechtigen, entvölkern, erdolchen und verköstigen: Derivationen von Verben aus Substantiven mit Präfigierung Präfixe können bei der Derivation von Verben aus Substantiven sowohl mit als auch ohne zusätzliches Suffix auftreten. Im ersten Fall liegt zwar eigentlich eine Konversion vor, bei der aber das konvertierte Verb ohne Präfix nicht existiert: Brücke → überbrücken (aber nicht: *brücken), Unfall → verunfallen (aber nicht: *unfallen), Zweig → abzweigen, verzweigen (aber nicht: *zweigen). Solche Ableitungen sind sehr häufig und können sowohl trennbare als auch untrennbare Verben erzeugen. Trennbar wären beispielsweise abspecken, angurken, ausbooten oder einlochen; nicht trennbar sind beflügeln, entziffern, ermannen, ummanteln, verzinsen, zerfleischen u.a.m. Die Neubildung entfreunden ‚jemandem (in einem sozialen Netzwerk) die Freundschaft entziehen‘ zeigt, dass dieser Bildungstyp produktiv ist. Auch bei der Ableitung mit Suffixen (z. B. Blatt → blättern, Zucht → züchtigen) finden sich Verben, die zusätzlich mit einem Präfix versehen sind. Dabei kommen in Kombination mit den Suffixen -el, -er und -ig die Präfixe be-, ent- und verin Frage, in Kombination mit dem entlehnten Suffix -ier die Präfixe en- und in-. So entstehen Ableitungen wie Absicht → beabsichtigen, Schande → verschandeln, Ort → erörtern. <?page no="207"?> 207 Da bei Ableitungen wie Recht → berechtigen sowohl ein Prä- (be-) als auch ein Suffix (-ig) verwendet werden, ist hier gelegentlich auch von Zirkumfigierung die Rede, und für das Ergebnis findet sich dann entsprechend der Begriff „verbales Zirkumfixderivat“ (so etwa Donalies 205: 122). Allerdings ist ein Zirkumfix normalerweise als ein aus zwei Teilen bestehendes Affix definiert, wobei diese Teile zwar diskontinuierlich sind, aber zusammengehören (cf. z. B. Naumann/ Vogel 2000: 934). In der Flexionsmorphologie liegt Zirkumfigierung etwa bei der Bildung des Partizips vor, die mit kombiniertem ge- und -t (z. B. ge-lach-t, gehüpf-t, ge-sag-t etc.) erfolgt. Bei Kombinationen aus be-, ent- oder vermit -ig ist diese Art der Zusammengehörigkeit nicht gegeben, denn sowohl die Präfixe als auch das Suffix kommen auch unabhängig voneinander vor. Darüber, ob dann dennoch ein Zirkumfix vorliegt, kann man diskutieren. Dafür spräche, dass es in einigen Fällen das nicht-präfigierte bzw. das nicht-suffigierte Verb nicht gibt, so dass der jeweilige Wortstamm nur mit beiden Affixen abgeleitet werden kann. Dagegen spricht, dass Ableitungen, die gleichzeitig mehr als ein Affix benutzen, auch in anderen Fällen vorkommen. Bei Ableitungen mit den Lehnsuffixen -ier, -isier und -izier kommen als Präfixe en- und inin Frage: Gage → engagieren, Szene → inszenieren. Bei enhandelt es sich um ein im Deutschen sonst nicht vorkommendes Präfix, das zusammen mit dem entsprechenden Verb (hier: engager) aus dem Französischen übernommen wurde. Hingegen wird inauch im Deutschen bei der Wortbildung verwendet und kommt vor allem bei Adjektiven vor (z.-B. aktiv → inaktiv). 4.2.2 Aufhübschen, dichten, kränkeln und versauern: Derivation von Verben aus Adjektiven Grundsätzlich lassen sich bei der Ableitung von Verben aus Adjektiven dieselben Verfahrensweisen unterscheiden, wie sie auch beim Substantiv vorliegen: ▶ Konversion: Das Wort wird ohne Zuhilfenahme von Wortbildungsmorphemen von einer Wortart (hier: Adjektiv) in die andere (hier: Verb) überführt, z.-B. heil → heilen. ▶ Suffigierung: Es wird ein Suffix an das Adjektiv angefügt, z.-B. fest → festig-en. ▶ Präfigierung: Es wird ein Präfix verwendet, z.-B. schüchtern → ein-schüchtern. ▶ Kombinierte Prä- und Suffigierung: z.-B. schön → be-schön-ig-en. 4.2 Derivation von Verben aus anderen Wortarten <?page no="208"?> 208 4 Die Wortbildung des Verbs 4.2.2.1 Bessern, grünen und kühlen: Ableitung von Verben aus Adjektiven durch Konversion In vielen Fällen ist es möglich, aus einem Adjektiv direkt, also einfach durch Verwendung verbaler Flexionsmorpheme, ein Verb abzuleiten (etwa der Infinitiv-Endung -en oder der Endung -t für die 3. Person Singular Präsens, um nur zwei Beispiele zu nennen). Dies lässt sich beispielsweise bei Farbadjektiven wie grün → grünen, rot → röten oder schwarz → schwärzen beobachten, aber auch bei zahlreichen anderen Adjektiven wie dicht → dichten, klar → klären oder stark → stärken. Wie die Beispiele zeigen, kann durch die Ableitung zugleich ein Umlaut hervorgerufen werden; eine solche Umlautung ist auch die historische Erklärung für die Veränderung von gelb zum heute seltenen Verb gilben (aus *gilwjan ‚gelb machen‘, cf. DWB s.-v. gilben), besser erhalten in vergilben. Manche so gebildeten Verben, insbesondere solche, die aus Farbadjektiven abgeleitet sind, sind im modernen Deutschen eher selten und gehören einer höheren Stilebene an: Es grünt die Heide; Der Wind rötet die Wangen; Die Gesichter der Arbeiter sind vom Ruß geschwärzt. Aber viele andere wie z.-B. heilen, kühlen oder öffnen sind hochfrequent; die Bildungsweise selbst sagt also nichts über die Vorkommenswahrscheinlichkeit aus. Neben dem Positiv (der Grundform) des Adjektivs kann in einigen Fällen auch der Komparativ für die Wortbildung zugrunde gelegt werden: gut → besser → bessern, mild → milder → mildern. 4.2.2.2 Frömmeln, kokettieren und reinigen: Derivation von Verben aus Adjektiven durch Suffigierung Manchmal muss das Adjektiv um das Morphem -el oder -ig erweitert werden, damit die Verwandlung in ein Verb möglich ist. Beispiele für -ig wären fest → festigen, rein → reinigen, satt → sättigen. Bei der Verwendung von -el wird die Infinitivendung zu -n verkürzt: blöd → blödeln, fromm → frömmeln, krank → kränkeln. Dass es sich bei -el ursprünglich um ein diminuierendes, also Verkleinerung ausdrückendes Morphem handelt, ist in vielen dieser Verben noch gut spürbar: blödeln bedeutet so etwas wie ‚ein bisschen blöd sein/ tun‘, kränkeln ‚ein bisschen krank sein‘. Bei -ig handelt es sich demgegenüber um ein reines Derivationsmorphem, das auch zur Ableitung von Adjektiven aus Substantiven (z.- B. Frost → frostig) dienen kann, hier aber an ein schon vorhandenes Adjektiv angefügt wird, um so ein Verb daraus ableiten zu können. Dasselbe <?page no="209"?> 209 Vorgehen findet sich auch bei der Derivation von Verben aus Substantiven (z.-B. Sünde → sündigen). Weder die Derivation auf -el noch die auf -ig ist heute noch produktiv. Bei Fremd- und Lehnwörtern erfolgt die Ableitung mit den Suffixen -ier, -isier, -izier und -ifizier: konform → konformieren, legal → legalisieren, praktisch → praktizieren, divers → diversifizieren. Gelegentlich werden Verben auf -ier aber auch aus deutschen Adjektiven abgeleitet: halb → halbieren, matt → mattieren. Wenn das Adjektiv auf -isch endet, wird diese Endung getilgt: romantisch → romantisieren, spezifisch → spezifizieren. Ebenfalls getilgt wird das -ebei unbetontem -el im Auslaut des Adjektivs: simpel → simplifizieren, multipel → multiplizieren etc. Konversion oder Derivation mit Affixen? Auch in den Fällen, in denen Derivationsmorpheme wie -ig- (Angst- → ängstigen, fest- → festigen) oder -el (Witz- → witzeln, schwach- → schwächeln) zum Einsatz kommen, wird das Wortbildungsverfahren von einigen Autoren als Konversion behandelt (Fleischer/ Barz 2012: 434 sprechen von „morphologischer Konversion“). Andere hingegen sehen in allen Morphemen, die nicht zur verbalen Morphologie gehören „Formantien, die zwischen -(en) und die Basis treten können: -l-, -el- / all, -ig-, -ier- / i: r/ , -isier- / izi: r/ “ (so schon Wellmann 1973: 20) und betrachten die so gebildeten Formen entsprechend als „verbales Suffixderivat“ (Donalies 2005: 121 f.; ebenso: Fleischer/ Barz 2012: 428). Wie sich zeigt, hängt die Verwendung des Begriffs „Konversion“ für diese Art von Ableitung ausschließlich davon ab, ob man ihn weit definiert und jede Form von Wortartwechsel damit erfasst oder ob man nur dann von einer Konversion spricht, wenn bei der Ableitung keine Veränderungen am Ausgangswort vorgenommen werden. 4.2.2.3 Entblöden, erröten und verblassen: Derivation von Verben aus Adjektiven mit Präfigierung Häufiger als reine Konversion kommt die gleichzeitige Verwendung eines Präfixes vor. Dabei kommen einige derselben Präfixe in Frage, die auch bei der Modifikation von Verben Verwendung finden; und wie bei der Modifikation von Verben finden sich auch hier Präpositionen, die dann als Präfixe und/ oder Verbpartikeln gebraucht werden. 4.2 Derivation von Verben aus anderen Wortarten <?page no="210"?> 210 4 Die Wortbildung des Verbs Beispiele für Ableitungen mit Präfixen wären: be-: frei → befreien, fremd → befremden ent-: bloß → entblößen, fern → entfernen er-: frisch → erfrischen, müde → ermüden ver-: arg → verargen, deutlich → verdeutlichen zer-: mürb → zermürben Mit ursprünglichen Präpositionen bzw. mit der Verbpartikel ein (der das Adverb hinein zugrunde liegt) gebildet sind z.-B.: ab: flach → abflachen an: reich → anreichern auf: heiter → aufheitern aus: nüchtern → ausnüchtern durch: quer → durchqueren ein: eng → einengen nach: dunkel → nachdunkeln über: spitz → überspitzen um: düster → umdüstern So gebildete Verben sind bei Betonung auf der ersten Silbe trennbar, bei Betonung auf dem Verb jedoch untrennbar, cf. Das Wetter klart auf vs. Sie durchquerten den Fluss. Auch hier kommt es vor, dass das Verb nicht aus dem Positiv, sondern aus dem Komparativ des Adjektivs abgeleitet wird: groß- → größer- → vergrößern, reich- → reicher- → anreichern. Gelegentlich wird neben dem Präfix auch das Suffix -ig verwendet, so etwa bei sanft- → besänftigen; dann läge je nach Definition eine Zirkumfigierung bzw. ein „verbales Zirkumfixderivat“ vor (cf. Donalies 2005: 122). Allerdings ist -ig oft bereits Bestandteil des Adjektivs, das zuvor seinerseits mit diesem Morphem von einem Substantiv abgeleitet wurde, so etwa bei Geist- → geistig- → vergeistigen oder bei Kunde- → kundig- → erkundigen. Die Wortbildung kann in mehreren, aufeinander aufbauenden Schritten erfolgen und sich zu einem Kreis schließen: Aus einem Verb kann ein Substantiv, aus diesem ein Adjektiv und aus diesem dann wiederum ein Verb abgeleitet werden. Ein Beispiel hierfür wären verstehen- → Verstand- → verständig- → verständigen oder das synchron nicht <?page no="211"?> 211 mehr ganz so leicht nachvollziehbare verdenken- → Verdacht- → verdächtig- → verdächtigen. Die Ableitung von Verben aus Adjektiven mit Präfixen ist grundsätzlich produktiv. Man findet daher auch moderne Ableitungen aus Fremdwörtern wie hot- → abhotten sowie auch aktuelle Neubildungen aus deutschen Adjektiven wie aufhübschen oder sich aufschlauen. 4.2.3 Ächzen, duzen und miauen: Derivation von Verben aus weiteren Wortarten Es kommt zwar deutlich seltener vor, aber grundsätzlich ist es auch möglich, Verben aus anderen als den bisher besprochenen Wortarten abzuleiten. So kann man aus den Personalpronomina du, ihr und Sie die Verben duzen, ihrzen und siezen bilden, um so die jeweilige Form der Anrede auszudrücken. Aus Onomatopoetika (lautmalenden Wörtern) wie miau lässt sich miauen ableiten, und auch piepen ist historisch aus piep gebildet. Aus der Interjektion ach ist das Verb ächzen abgeleitet worden; hier gibt es auch ein zugehöriges Substantiv Ach, das in mit Ach und Krach oder mit Ach und Weh zu finden ist. Aus dem Numerale eins ist das Verb einen entstanden; aus zwei wurde mit dem zusätzlichen Präfix entdas Verb entzweien abgeleitet, zu dem früher auch das einfache Verb zweien ‚trennen‘ existierte (cf. DWB s.- v. entzweien). Die Antwortpartikeln ja und nein wiederum bilden die Grundlage für die Verben bejahen und verneinen, die jeweils unter Zuhilfenahme eines Präfixes (beresp. ver-) gebildet wurden. Es scheint keine grundsätzliche Beschränkung der Art zu geben, dass man Verben nur aus bestimmten Wortarten ableiten kann. 4.2 Derivation von Verben aus anderen Wortarten <?page no="213"?> 5 Aufgrund, ausnahmsweise, freitags und zwecks: Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen Nicht nur die in den vorigen Kapiteln behandelten sog. Hauptwortarten Substantiv, Adjektiv und Verb können durch Wortbildung verändert oder aus anderen Wortarten abgeleitet werden, sondern auch kleinere Wortarten wie Adverbien oder Partikeln im weiteren Sinne (also z. B. Konjunktionen und Präpositionen). Insbesondere bei Partikeln ist allerdings die Grenze zu einem anderen Vorgang, nämlich dem der Grammatikalisierung, fließend. Unter Grammatikalisierung versteht man einen Sprachwandelprozess, bei dem aus Wörtern mit lexikalischer Bedeutung (z.- B. haben ‚besitzen‘ in Ich habe kein Auto) solche mit einer grammatischen Funktion werden (z.-B. haben als Hilfsverb in Ich habe das Buch gelesen). Das Hilfsverb haben ist aus dem Vollverb haben mit der Bedeutung ‚besitzen‘ hervorgegangen. Der Vorgang, der sich dabei vollzogen hat, wird oft anhand des lateinischen Beispiels habeo epistulam scriptam wörtlich: ‚ich habe den Brief [als einen] geschriebenen‘ illustriert (cf. z. B. Lehmann 2015: 168 f.). Wenn man einen geschriebenen Brief hat, hat man ihn vermutlich zuvor auch geschrieben - und aus dieser Bedeutung ist das Hilfsverb haben nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen wie dem Englischen, dem Französischen oder dem Italienischen hervorgegangen. Manchmal können solche Prozesse auch noch weitergehen, und das frischgebackene Hilfsverb verschmilzt mit dem Vollverb zu einer neuen Verbform. Auch das ist dem Verb ‚haben‘ in Sprachen wie dem Französischen, dem Italienischen oder dem Spanischen widerfahren. Konstruktionen mit ‚haben‘ und einem Infinitiv (z. B. Ich habe eine Seminararbeit zu schreiben) drücken eine Verpflichtung aus. Das impliziert aber zugleich, dass die damit verbundene Tätigkeit erst in der Zukunft stattfindet - und daraus hat sich das Futur in romanischen Sprachen entwickelt. Aus einer Form wie lat. cantare habeo ‚ich habe zu singen‘ sind das italienische canterò, das französische chanterai und das spanische cantaré ‚ich werde singen‘ entstanden (cf. z. B. Klausenburger 2002: 37). <?page no="214"?> 214 5 Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen Sowohl bei der Herausbildung von Adverbien als auch von Konjunktionen und Präpositionen finden Prozesse statt, die nicht ausschließlich auf der Ebene der Wortbildung erfasst werden können. So ist etwa Trotz ein Substantiv, das ein menschliches Verhalten ausdrückt; die daraus entstandene Präposition trotz (z.-B. trotz des Regens) enthält das nicht mehr und hat nur noch eine konzessive Bedeutung. Prozesse-dieser Art finden an unzähligen Stellen der Sprache statt. Aus reiner Wortbildungssicht handelt es sich dabei um Formen von Konversion, vor allem, wenn das betreffende Morphem wie bei trotz unverändert in eine neue Wortart überführt wird. Aus dem Partizip Präsens des Verbs währen ist eine Konjunktion wie auch eine Präposition entstanden, aus dem Substantiv Weg die Präpositionen wegen. Zwar geht auf zewâre ‚zu wahr‘ zurück (cf. DWB s.-v. zwar), hinter nicht verbirgt sich historisch nie wicht ‚kein Ding/ Wesen‘ (cf. DWB s.-v. nicht), und Antwortpartikeln wie ja und doch haben ihren Ursprung in Deiktika (verweisenden Wörtern; cf. Hentschel 1986: 38-49). Selbst den Übergang von einem Verb wie haben ‚besitzen‘ zu einem Hilfsverb bei der Perfektbildung (z.-B. ich habe gut geschlafen) könnte man, wenn man so wollte, als Konversion von einer Verbklasse in eine andere betrachten. Tatsächlich werden solche Veränderungen jedoch gemeinhin unter dem Aspekt der Grammatikalisierung behandelt. Im Folgenden wird daher nur ein kurzer Einblick in die Bildung von Adverbien und Präpositionen gegeben. 5.1 Derart, diesmal, flugs und netterweise: Wortbildung bei Adverbien Unter Adverbien versteht man eine Wortart, deren primäre Funktion darin besteht, im Satz als adverbiale Bestimmung gebraucht zu werden. Dadurch unterscheiden sie sich von Adjektiven, die zwar auch in adverbialer Funktion gebraucht werden können, im Deutschen dann aber nicht besonders markiert werden (z.-B. Sie fragte höflich gegenüber engl. She asked politely oder franz. Elle a demandé poliment). Aber es gibt auch im Deutschen „echte“ Adverbien. Beispiele dafür wären Wörter wie heute, damals, hier oder gern. Sie sind historisch aus adverbialen Konstruktionen entstanden, die im Laufe der Sprachgeschichte zu festen Formen erstarrt sind. So geht z.-B. heute auf ahd. hiu tagu zurück, wobei hi ein Demonstrativum (‚dies hier‘) und tagu der Instrumental des Wortes <?page no="215"?> 215 5.1 Wortbildung bei Adverbien ‚Tag‘ ist (cf. Kluge 2012 s.-v. heute). Während solche Entstehungsprozesse heute nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind, lassen sich andere noch gut nachvollziehen, so etwa die Entwicklung von jeder Zeit zu jederzeit oder von manches Mal zu manchmal. 5.1.1 Aufwärts, nebenher und schlechthin: Modifikation von Adverbien Die Modifikation von bereits vorhandenen Adverbien kommt eher selten vor, und die Entstehung der meisten so gearteten Fälle liegt auch bereits einige Zeit in der Sprachgeschichte zurück. So ist das ursprünglich auch als eigenständiges Adverb verwendbare wärts (cf. DWB s.-v. wärts), das seinerseits auf einen adverbialen Genitiv zurückgeht (cf. Kluge 2012 s.-v. -wärts) heute nur noch als Zweitglied gebräuchlich, das zusammen mit Präpositionen wie ab, auf, aus, in und vor die Adverbien abwärts, aufwärts, auswärts, inwärts, vorwärts bildet sowie mit dem ebenfalls nicht mehr einzeln gebräuchlichen Adverb rück oder mit Substantiven wie Berg, Seite, West etc. Adverbien wie rückwärts, bergwärts, seitwärts oder westwärts. Daneben finden sich zahlreiche Einzelfälle, deren Bildungsweise jeweils noch mehr oder auch weniger durchsichtig sein kann. Leicht als solche erkennbar ist z.-B. die Modifikation von gestern mit der Präposition vor zu vorgestern, wobei auch die Verdoppelung zu vorvorgestern vorkommt; ebenso kann morgen mit der Präposition über zu übermorgen kombiniert werden, und auch hier ist Reduplikation zu überübermorgen möglich. Die Lokaladverbien oben und unten können zusammen mit zu die Superlative zuoberst und zuunterst bilden, und beide können zudem mit aller zu zualleroberst und zuallerunterst erweitert werden. Die Richtungsadverbien her und hin können mit zahlreichen Präpositionen kombiniert werden: her- → herab, herauf, heraus, herbei, herüber, herum, herunter, hervor; hin- → hinab, hinan, hinauf, hinaus, hindurch, hinein, hinüber, hinunter, hinweg, hinzu. Bei anderen Adverbien wie z.-B. hienieden (aus hie, das in hie und da noch erhalten ist, und dem noch im Grimm’schen Wörterbuch als Adverb und Präposition verzeichneten nieden ‚unten‘; cf. Kluge 2012 s.- v. hienieden, DWB s.-v. nieden) kann man die Entstehung jedoch synchron nicht mehr nachvollziehen. <?page no="216"?> 216 5 Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen 5.1.2 Derart, dummerweise und tags: Adverbien aus Genitiven Adverbien auf -s wie z.-B. montags sind aus Adverbialbestimmungen im Genitiv wie eines Abends oder eiligen Schrittes entstanden, die es im heutigen Deutsch nach wie vor gibt. Anhand solcher Beispiele lässt sich auch leicht nachvollziehen, wie Adverbien wie abends, flugs oder keineswegs entstanden sind. Das ursprüngliche Genitiv-s hat sich in der Folge sozusagen verselbständigt und konnte auch dann Adverbien bilden, wenn der Genitiv des Wortes nicht auf -s lautete, wie dies etwa bei Nacht (Genitiv: der Nacht, Adverb: nachts) der Fall ist. Heute ist die Bildung von Adverbien auf der Basis eines Genitivs wie z.- B. dieserart, jederzeit, oder kurzerhand bzw. solcher auf -s wie bei morgens oder mittwochs nicht mehr produktiv. Es gibt aber noch eine ganze Reihe von aus adverbialen Genitiven abgeleiteten Bildungsweisen, die nach wie vor produktiv sind. Die häufigste davon ist die Ableitung mit -weise (z.- B. komischerweise). Dabei gibt es allerdings zwei verschiedene Bildungsmöglichkeiten für Adverbien auf -weise: In Beispielen wie dummerweise oder unerwarteterweise liegt ein Adjektiv und der Endung -ervor, was dem Genitiv Singular und Plural Femininum der sog. starken Adjektivdeklination entspricht (cf. z.-B. unerwarteter Schwierigkeiten wegen). Dieses Bildungsprinzip kann man daher leicht auf Syntagmen aus Adjektiv und Substantiv im Genitiv wie unerwarteter Weise zurückführen. Zum anderen gibt es aber auch Formen ohne diese Endung, wie sie in pfundweise oder scheibchenweise vorliegen und bei denen das Erstglied ein Substantiv ist. Sie entsprechen dem Muster von Substantivkomposita, und tatsächlich finden sich hier auch Bildungen mit dem für Substantivkomposita typischen Fugenelement -s-. Anders als in Fällen wie behelfsweise kann das -sin Wörtern wie andeutungsweise, näherungsweise oder schätzungsweise dabei auch nicht als Flexionsform erklärt werden, da diese Substantive keinen Genitiv auf -s bilden. Umgekehrt findet sich aber auch bei Substantiven, die ihren Genitiv so bilden, das -snicht durchgehend: während abschnittweise, beispielsweise oder vergleichsweise ein -saufweisen, sind dutzendweise, kübelweise oder scheibchenweise ohne das Fugenelement gebildet. Auch die ganz parallel zu Substantiven wie Aushilfsjob oder Aushilfskraft unter Ausfall des -e aus Aushilfe abgeleitete Form aushilfsweise zeigt die Nähe zur Substantivkomposition. Daher setzt Elsner (2016: 212), die beide Bildungsweisen als Suffigierung betrachtet, bei der synchronen Interpretation solcher Adverbien zwei verschiedene Suffixe an: einmal -erweise, einmal -weise. Beide Bildungsweisen sind produktiv, und <?page no="217"?> 217 Adverbien mit -erweise können außer von Adjektiven auch von Partizipien abgeleitet werden: lesenderweise, verdienterweise. Auch Adverbien auf -falls wie allenfalls, ebenfalls oder gleichfalls sind aus Genitiven deriviert. Während bei andernfalls oder nötigenfalls die Herkunft aus anderen Falls bzw. nötigen Falls noch klar erkennbar ist, liegt bei allenfalls vermutlich ursprünglich ein Akkusativ vor (der ebenfalls adverbiale Funktionen übernehmen konnte und es in Fällen wie den ganzen Tag oder jeden Mittwoch auch immer noch kann), der dann mit dem Genitiv-s verstärkt wurde. Bei gleichfalls (eigentlich: gleichen Falls) ist hingegen die Adjektivendung weggefallen. Der Genitiv von Substantiven liegt auch bei Adverbien vor, die mit -dings gebildet sind (z.-B allerdings, neuerdings, schlechterdings). Hier wurde an den ursprünglichen Genitiv Plural (z.-B. aller Dinge) zur Verstärkung ein zusätzliches Genitiv-Singular-s angefügt (cf. DWB s.-v. allerdings), das ja auch in vielen anderen Fällen als Adverbialmarker fungiert. Auch darüber hinaus finden sich Wortbildungsmorpheme zur Ableitung von Adverbien, denen Genitive zugrunde liegen, so etwa: ▶ -mals (z.-B. einstmals, damals, mehrmals etc.) ▶ -maßen (z.-B. einigermaßen, gewissermaßen, verdientermaßen etc.) ▶ -seits (z.-B. allseits, einerseits, meinerseits) ▶ -teils (z.-B. deinesteils, größtenteils, meistenteils). Nur mit Demonstrativa verbindet sich der ursprüngliche Genitiv von Art, z.-B. derart, dieserart, solcherart (cf. hierzu auch Heinle 2004: 106). 5.1.3 Anstandshalber, deinetwegen und um meinetwillen: Adverbien aus Substantiven und Adpositionen Adverbien können auch aus Substantiven und Postpositionen gebildet sein. Produktiv ist hier halber (z.-B. anstandshalber, interessehalber, umständehalber etc.). Da es sich dabei um eine Postposition handelt, die zwar leicht veraltet, aber nach wie vor gebräuchlich ist, werden spontane Neubildungen dieser Art von den Sprachnutzern oft getrennt geschrieben, und man findet Schreibungen wie Frühstücks halber. Dass man dennoch von Wortbildung und nicht von einer rein orthografischen Vorschrift zur Zusammenschreibung von Substantiv und Postposition ausgehen kann, zeigen Bildungen wie abwechslungshalber: Das Substantiv Abwechslung kann keine Formen auf -s bilden, es liegt also ein Fugenelement und somit Wortbildung vor. 5.1 Wortbildung bei Adverbien <?page no="218"?> 218 5 Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen Nur mit Pronomina verbinden sich die Postpositionen wegen und die Zirkumposition um willen, z.-B. meinetwegen, um deinetwillen. Bildungen wie bergauf, kopfüber oder treppab zeigen, dass auch normalerweise vorangestellte Adpositionen (hier: ab, auf, über) bei der Bildung von Adverbien wie Postpositionen verwendet werden können. 5.1.4 Bestens, gefälligst und schnellstens Adverbien aus Superlativen Superlative - also die höchste Steigerungsform eines Adjektivs - können morphologisch in unterschiedlicher Weise realisiert werden, wobei die äußere Form jeweils ihrer syntaktischen Funktion im Satz entspricht. Attributiv sowie prädikativ mit Artikel stehen Formen wie beste, höchste oder schnellste (z.- B. Sie ist die schnellste; der höchste Turm der Welt etc.). In adverbialer Funktion werden hingegen Formen wie am besten, am höchsten oder am schnellsten gebraucht (z.-B. Sie lief von allen am schnellsten, sie schnitt am besten ab etc.). Bei einer begrenzten Zahl von Adjektiven kann der endungslose Superlativ zudem als Adverbiale gebraucht werden, z.- B. freundlichst, herzlichst, innigst; nur als Adverb gebräuchlich: gefälligst. Da der Superlativ sonst nicht endungslos gebraucht werden kann, liegt hier eine eindeutige Konversion vor. Ebenfalls aus Superlativen abgeleitet sind Adverbien auf -ens wie erstens, höchstens oder schnellstens. Hier handelt es sich abermals um Genitive, und zwar sogar um doppelte: eine Kombination aus der Genitiv-Endung -en der sog. schwachen und der Genitiv-Endung -s der sog. starken Deklination. Das Grimm’sche Wörterbuch führt zu Superlativ-Adverbien auf -ens am Beispiel von erstens etwas missbilligend Folgendes aus: die organische gestalt lautete ersten, êristin, des ersten, zu welchen en des schwachen gen. man noch starkes s fügte, wie aus dem gen. der subst. namen, willen nhd. namens, willens wurde. da aber unsere schwachen adj. den gen. blinden, guten und nicht blindens, gutens bilden, scheint auch erstens, zweitens tadelhaft. DWB s. v. erstens <?page no="219"?> 219 5.1.5 Dabei, hierauf und worüber: Pronominaladverbien Die sog. Pronominaladverbien, die aus den Adverbien da, hier und wo plus Präposition gebildet werden (z.-B. dabei, hiermit, wofür; cf. hierzu ausführlicher Hentschel/ Weydt 2013: 246 f.) werden oft nicht zur Wortbildung gerechnet, auch wenn sie historisch aus Wortbildungsprozessen hervorgegangen sind. Die Ableitung solcher Formen ist nicht mehr produktiv, und von sprachgeschichtlich jüngeren Präpositionen wie dank oder trotz (z.- B. dank deiner Hilfe, trotz des Sturms) können sie nicht gebildet werden (z. B. *hierdank, *wotrotz). In der Syntax übernehmen Pronominaladverbien die Aufgabe, Präpositionalobjekte zu ersetzen (z.-B. Wir warten auf den ersten Schnee- → Wir warten darauf). Als Wortbildungsverfahren werden Pronominaladverbien beispielsweise bei Fleischer/ Barz (2012: 364 f.) behandelt, wo sodann die deiktischen Lokaladverbien da und hier sowie das Interrogativum wo, mit denen Pronominaladverbien gebildet werden, als „Proadverbien“ (ibd: 364) bezeichnet werden. Dieser Begriff wird wiederum im Duden (2016: 1125) für Pronominaladverbien wie davon und dafür sowie mit Präposition und Demonstrativum gebildete Formen wie zudem (alle Beispiele nach ibd.) verwendet; die Terminologie ist in diesem Bereich nicht ganz einheitlich. Auch Kombinationen aus Präpositionen und Demonstrativum wie zudem können nicht beliebig neu gebildet werden. Da, wo sie vorhanden sind, übernehmen sie die Funktion von Konjunktionaladverbien, also von satzverbindenden Adverbien (z.-B. deshalb, infolgedessen, trotzdem), und sie können auch zu Konjunktionen grammatikalisiert werden (z.- B. trotzdem; cf. hierzu ausführlicher Hentschel/ Weydt 2013: 281). 5.2 Angesichts, obwohl, trotz und zuliebe: Wortbildung bei Präpositionen und Konjunktionen Präpositionen sind im Laufe der Sprachgeschichte durch Grammatikalisierungsprozesse entstanden, die oft schon so lange zurückliegen, dass sie kaum noch nachvollziehbar sind. Zahlreiche Präpositionen wie auf, aus oder vor haben sich aus Adverbien entwickelt; die Präposition durch geht auf ein Substantiv mit der Bedeutung ‚Öhr‘ zurück, und zu wurde vor langer Zeit aus einem Demonstrativum abgeleitet, das zunächst zu einem Adverb und dann zu einer 5.2 Wortbildung bei Präpositionen und Konjunktionen <?page no="220"?> 220 5 Die Wortbildung bei Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen Präposition wurde (cf. Hentschel 2005: 281). Bei anderen Präpositionen ist die Herkunft noch durchsichtiger: Sie sind direkt aus Substantiven wie Kraft- → kraft [meines Amtes] und Trotz- → trotz [aller Hindernisse] abgeleitet, aus Genitiven wie des Angesichts- → angesichts [der Probleme] und des Zwecks- → zwecks [genauerer Analyse] oder auch aus Syntagmen wie auf Grund- → aufgrund [der Proteste] und in Folge- → infolge [meines Amtes]. Typisch für solche sprachgeschichtlich neueren Präpositionen ist, dass sie mit dem Genitiv stehen (cf. Di Meola 2004). Moderne Beispiele wie aufgrund, das erst in jüngster Zeit in der Rechtschreibung zusammen und klein geschrieben werden kann und zu dem nach wie vor auch noch eine getrennt und groß geschriebene Variante auf Grund existiert, zeigen, dass die Bildung von Präpositionen nach wie vor produktiv ist. Im Allgemeinen wird hier dann aber nicht von einem Vorgang der Wortbildung gesprochen, sondern von Grammatikalisierungsprozessen. Auch Konjunktionen sind das Ergebnis von Grammatikalisierungsprozessen. Nicht immer sieht man das gleich, aber in manchen Fällen ist es recht offensichtlich. So hat sich aus dem Partizip Präsens des Verbs währen die Konjunktion (zugleich Präposition) während entwickelt, und weil stammt historisch aus einem Substantiv ab, das als Weile erhalten ist. Bei indem oder damit ist die Zusammensetzung noch durchsichtig, und dass falls mit Fall bzw. dem auch bei der Bildung von Adverbien genutzten Genitiv des Wortes zusammenhängt, kann man ebenfalls noch leicht erkennen. Da die Entwicklung von einem Verb wie währen oder einem Substantiv wie Weile oder Fall zu einer Konjunktion aber zugleich eine deutliche semantische Veränderung von einer lexikalischen zu einer synkategorematischen Bedeutung mit sich bringt, werden solche Fälle nicht zur Wortbildung gerechnet. <?page no="221"?> 221 Literatur Adelung, Johann Christoph (1970/ 1793-1801): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Hildesheim/ New York: Olms. Online unter http: / / woerterbuchnetz.de/ Adelung [06.09.2019]. Aikhenvald, Alexandra Y. (2018): Serial Verbs. Oxford: Oxford University Press. (=-Oxford Studies in Typology and Linguistic Theory). Andersen, John M. (1976): The Grammar of Case: Towards a Localistic Theory. Cambridge: Cambridge University Press. 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Affix: Silbe, die an ein anderes Wort angefügt wird, um eine grammatische Kategorie auszudrücken (z.-B. -t für die dritte Person Singular in lacht) oder um ein neues Wort zu bilden (z.-B. verin verirren). Affixoid: Element, das sowohl unabhängig von anderen als auch gebunden auftreten kann, als gebundene jedoch eine abstraktere Bedeutung annimmt, z.-B. mäßig: mit mäßigem Erfolg vs. vorschriftsmäßig. Agens: Handelnde/ r, z.-B. Der Hund in Der Hund beißt den Mann. Akronym: Wort, das aus Anfangsbuchstaben besteht, z. B. Lkw für Lastkraftwagen oder IT für Informationstechnologie. Assimilation: Angleichung eines Lautes an einen benachbarten Laut. —, progressive (auch: perservative Assimilation): Angleichung eines Lautes an einen vorangehenden Laut. —, regressive (auch: antizipatorische Assimilation): Anpassung eines Lautes an einen Folgelaut. Historisch ist der Umlaut im Deutschen eine solche Form dieser Art von Assimilation, bei der sich der Vokal an ein i oder j in der Folgesilbe angeglichen hat. Augmentation: ‚Vergrößerung‘ (im Gegensatz zur Diminution ‚Verkleinerung‘), z.-B. Summe-→ Unsumme ‚besonders große Summe‘. Im Deutschen nur in Einzelfällen vorhanden, aber in anderen Sprachen wie Italienisch oder Serbisch regelmäßig bildbar. Augmentativ: Vergrößerungsform, z.-B. Menge-→ Unmenge ‚besonders große Menge‘. autosemantisch (auch: lexikalisch, kategorematisch): Bedeutungsart, bei der etwas Reales oder Vorgestelltes mit einem sprachlichen Zeichen benannt wird, z.-B. Eichhörnchen, Theorie, Einhorn, grün, rennen, schmelzen. Derivat: durch Ableitung aus einem anderen Wort entstandenes Wort, z.-B. finden-→ Fund. Derivation: Ableitung eines Wortes aus einem anderen. <?page no="230"?> 230 —, externe: Ableitung, die durch Anfügen einer oder mehrerer Silbe erfolgt, z.-B. frech-→ Frechheit, Vielfalt-→ vervielfältigen. —, interne: Ableitung, die durch Veränderung im „Inneren“ des Wortes erfolgt, z.-B. binden-→ Band, Bund. Determinans: Das den rechts stehenden Bestandteil näher bestimmende Element in einem Kompositum, z.-B. Himbeer in Himbeermarmelade. Determinativkompositium: Kompositum aus zwei Bestandteilen, bei denen der erste (links stehende) den zweite näher bestimmt, z.-B. Himbeermarmelade. Determinatum: Das rechts stehende Element in einem Kompositum, das durch vorhergehende Bestanteile näher bestimmt wird, z.-B. Marmelade in Himbeermarmelade. diachron: Betrachtung der Sprache über einen Zeitraum hinweg. Diminution: ‚Verkleinerung‘ als sprachliches Verfahren, z.-B. Haus-→ Häuschen. Diminutiv: ‚Verkleinerungsform‘, z.-B. Bach-→ Bächlein. egressiv: Verbale Aktionsart, das Ende/ den Abschluss einer Handlung ausdrückend, z.-B. verblühen. Erstglied: Der erste Bestandteil eines zusammengesetzten Wortes, z.-B. erst in Erstglied. exogen: Aus einer anderen Sprache entlehnt. Flexion: Veränderung von Wörtern zum Ausdruck grammatischer Kategorien, z.-B. Plural (Fisch-→ Fische) oder Tempus (kommen-→ kam). Genus: grammatisches Geschlecht. Im Deutschen gibt es drei: Maskulinum (der Mann), Femininum (die Frau) und Neutrum (das Ding). inchoativ: Verbale Aktionsart, drückt den Beginn einer Handlung aus, z.-B. erröten. indigen: Einheimisch, nicht entlehnt. Infix: Bei der Formen- oder Wortbildung in ein Morphem (z.-B. lat. vi-n-co) oder in eine Basis (z.-B. ver-un-deutlichen) eingefügtes Element. Ob man sie im Deutschen ansetzen soll, ist umstritten. Initialwort: Wort, das aus Initialen (Anfangsbuchstaben) besteht, z.-B. SRF (für: Schweizer Radio und Fernsehen). Interfix: Zwischen zwei Morpheme eingefügtes Element, z.-B. -sin verantwortung-s-los. kategorematisch (auch; autosemantisch, lexikalisch): Bedeutungsart, bei der etwas Reales oder Vorgestelltes mit einem sprachlichen Zeichen benannt wird, z.-B. Eichhörnchen, Theorie, Einhorn; grün, giftig; rennen, schmelzen. Kollektivum: Sammelbegriff, z.-B. Gestein. Kollokation: Häufiges gemeinsames Vorkommen zweier Wörter, z.-B. (mit) Messer und Gabel, Salz und Pfeffer. Komposition: Zusammenfügung aus zwei Wörtern, z.-B. Abend plus Stern-→ Abendstern. Glossar <?page no="231"?> 231 Kompositum: Ergebnis der Komposition: Wort, das aus zwei oder mehr anderen Wörtern zusammengesetzt ist, z.-B. Sandkasten. In der traditionellen lateinischen Grammatik werden auch mit einem Präfix (Vorsilbe) versehene Verben wie interesse (aus inter und esse) als Komposita bezeichnet. Konfix: Silbe, die eine lexikalische Bedeutung trägt, aber nicht einzeln, sondern nur an ein anderes Wort angefügt vorkommen kann, z.-B. Schwieger in Schwiegervater. Konjunktion: Wortart, die dazu dient, Sätze miteinander zu verknüpfen. Dabei steht die Konjunktion entweder außerhalb des Satzes und hat keinen Einfluss auf die Wortstellung (koordinierende Konjunktion, z.-B. und) oder sie bewirkt eine Endstellung des finiten Verbs (subordinierende Konjunktion, z.-B. obwohl.) Konjunktionaladverb: Adverb, das dazu dient, Sätze inhaltlich miteinander zu verknüpfen, z.-B. indessen. Im Unterschied zu einer Konjunktion wird das Konjunktionaladverb bei der Wortstellung wie ein normales Adverb behandelt, es kann also das Vorfeld (die erste Stelle im Satz) besetzen oder im Mittelfeld in den Satz integriert werden. Kontamination: Verschmelzung von zwei oder mehr Wörtern, wobei mindestens eines davon einen Bestandteil verliert, z.-B. British Exit-→ Brexit. Konversion: Wortbildungsart, bei der ein Wort seine Wortartzugehörigkeit ändert, ohne dass dabei Wortbildungsmorpheme zum Einsatz kommen, z.-B. leben-→ das Leben, Orange-→ orange. Kopf: Ausschlaggebender Bestandteil eines Wortes oder eines Syntagmas. In der Wortbildung der am weitesten rechts stehende Teil (auch: Letztglied), der über die Wortart sowie ggf. über das Genus entscheidet. Kopulativkompositum: Kompositum aus zwei gleichwertigen Bestandteilen, die sich gegenseitig bestimmen. Meist werden hierfür Beispiele wie Radiowecker (zugleich Radio und Wecker) angeführt. Lemma: Lexikoneintrag, bei dem verschiedene Formen eines Wortes in einer Grundform zusammengefasst werden, z.-B. singen für singen, sang, gesungen. Letztglied: Letztes (am weitesten rechts stehendes) Element eines Wortes, z.-B. Glied in Letztglied. Lexem: Morphem mit lexikalischer Bedeutung; manchmal auch: freies Morphem. lexikalisch (auch: autosemantisch, kategorematisch): Bedeutungsart, bei der etwas Reales oder Vorgestelltes mit einem sprachlichen Zeichen benannt wird, z.-B. Eichhörnchen, Theorie, Einhorn, grün, rennen, schmelzen. Modifikation: Veränderung eines Wortes, ohne dass sich dabei die Wortart ändert, z.-B. Lust-→ Unlust. Morphem: kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache. —, freies: Kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die frei beweglich ist, z.-B. das. Glossar <?page no="232"?> 232 —, gebundenes: Kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die nur zusammen mit anderen Morphemen vorkommen kann, z.-B. -t (für die dritte Person Singular) in lacht. —, grammatisches: Kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die eine grammatische Kategorie ausdrückt, z.-B. -t für die dritte Person Singular in lacht. —, lexikalisches: Kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die eine sog. lexikalische (auch: autosemantische, kategorematische) Bedeutung ausdrückt, z.-B. Fisch. Morphologie: Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit der Veränderung von Wörtern zum Ausdruck grammatischer Kategorien oder zur Ableitung neuer Wörter befasst Movierung: Veränderung eines Wortes zum Ausdruck des natürlichen Geschlechts, z.-B. Student-→ Studentin. Nomen: In der traditionellen Grammatikschreibung ein Begriff, der sowohl Substantive als auch Adjektive umfasst. Neuerdings, vermutlich nicht zuletzt unter dem Einfluss des engl. noun, vor allem in der Bedeutung ‚Substantiv‘ gebraucht. Nomen Acti: Aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zum Ausdruck des Ergebnisses einer Handlung, z.-B. binden-→ Bund. Nomen Actionis: Aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zum Ausdruck des Ergebnisses einer Handlung, z.-B. sehen-→ Sichtung. Nomen Agentis: Aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zum Ausdruck der handelnden Person, z.-B. wandern-→ Wanderer. Nomen Instrumenti: Aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zum Ausdruck des Mittels einer Handlung, z.-B. bohren-→ Bohrer. Objekt: Direkt vom Verb abhängiger Bestandteil eines Satzes, z.-B. dir in Ich helfe dir gerne. Patiens: Von einer Handlung Betroffene/ r, z.-B. den Mann in Der Hund beißt den Mann. Pluraletantum: Wort, das nur im Plural vorkommt, z.-B. Eltern. Polysemie: Mehrfachbedeutung eines Wortes, die aber anders als bei Homonymie (zufälliger Gleichheit zweier Wörter) auf eine gemeinsame Grundbedeutung zurückgeht, z.-B. Läufer (‚laufende Person‘, ‚Teppich‘, ‚Schachfigur‘). Postposition: freies Morphem, das nachgestellt wird, um eine räumliche, zeitliche, kausale etc. Beziehung auszudrücken, z.-B. den Fluss entlang, der Liebe wegen. Präfigierung: Veränderung eines Wortes durch Anfügen einer Vorsilbe, z.-B. lesen-→ vorlesen. Präfix: Vorsilbe, z.-B. verin Verantwortung. Präfixoid: Morphem, das sowohl selbständig als auch als Präfix (Vorsilbe) verwendet werden kann, wobei die Bedeutung bei einer Verwendung als Präfix abstrakter ist. Ein Beispiel wäre Haupt: erhobenen Hauptes vs. Hauptsache). Glossar <?page no="233"?> 233 Präposition: Freies Morphem, das vorangestellt wird, um eine räumliche, zeitliche, kausale etc. Beziehung auszudrücken, z.-B. in der Ferne, nach dem Essen, wegen des Sturms. privativ: Semantisches Merkmal; bezeichnet die Wegnahme oder Abwesenheit von etwas. Reduplikation: Verdoppelung, z.-B. dalli-dalli! Silbenkurzwort (auch: Silbenwort): Auf die Anfangssilben seiner Bestandteile reduziertes Wort, z.-B. Kriminalpolizei-→ Kripo. Simplex: einfaches, nicht durch Affixe oder Komposition verändertes Wort Singularetantum: Wort, das nur im Singular vorkommen kann, z.-B. Laub. Subjekt: Bestandteil des Satzes, nach dem sich das Verb richtet, z. B. ich gehe vs. du gehst. In der Typologie auch mit dem Agens (der handelnden Person) gleichgesetzt. Suffigierung: Veränderung eines Wortes durch Anfügen einer Nachsilbe. Suffix: Nachsilbe, z.-B. -ung in Verantwortung. Suffixoid: Silbe, die sowohl selbständig als auch als Suffix (Nachsilbe) verwendet werden kann, wobei die Bedeutung bei einer Verwendung als Suffix abstrakter ist, z.-B. mäßig: mit mäßigem Erfolg vs. Vorschriftsmäßig. synchron: Betrachtung der Sprache zu einem bestimmten (einzelnen) Zeitpunkt. synkategorematisch (auch: synsemantisch): Bedeutungsart von Wörtern, die nicht auf einen Gegenstand, eine Eigenschaft oder ein Geschehen in der außersprachlichen Wirklichkeit verweisen, sondern Beziehungen zwischen Wörtern und Sätzen herstellen, z.-B. über, oder. Syntagma: Kombination von Wörtern zu einer zusammengehörigen Gruppe, z.-B. unter lautem Protest. Syntax: Zusammenwirken von Wörtern, um eine gemeinsame Bedeutung herzustellen, z.-B. Den Hund beißt der Mann. Umlaut: Veränderung eines Vokals, die historisch eine Folge der Angleichung (Assimilation) an den Folgevokal war (z.-B. ahd. lambir-→ nhd. Lämmer); synchron vor allem im Süden des Sprachgebiets noch bei der Pluralbildung produktiv (z. B. Schweiz: Park-→ Pärke). Univerbierung: Zusammenwachsen von Syntagmen zu einem Wort. Wortkreuzung (auch Kontamination): Verschmelzung von zwei oder mehr Wörtern, wobei mindestens eines davon einen Bestandteil verliert, z.-B. British Exit-→ Brexit. Zirkumfigierung: Veränderung eines Wortes durch Anfügen einer kombinierten Vor- und Nachsilbe, z.-B. Berg → Ge-birg-e. Zirkumfix: zusammengehöriges Paar aus einer Vor- und einer Nachsilbe, z.-B. ge- und -e. Glossar <?page no="235"?> a- 143 a-/ an- 59 ab 50, 199, 210, 218 ab- 136 -abel 174 -ade 83, 115 -age 115 -al 161 aller 135 f. an 50, 199, 210 an- 143 -and 115 -aner 83 -anisch 161 -ant 115, 174 anti- 59, 144 -anz 100, 117 -ar 84, 162 -är 84, 162 -art 217 -at 84, 117 -ateur 85 -ation 119 -atisch 162 -ator 118 -atur 119 auf 50, 199, 210, 218 aus 50, 199, 210 außer- 135 f., 138, 144 -bar 170 be- 181, 210 bei 50, 199 bi- 144 binnen 50 binnen- 135, 137 bio- 60 -bold 72 Brom- 90 -chen 66 cyber- 60 da 219 de- 191 des- 191 -dings 217 Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän 33 durch 194, 199, 210 -e 94, 101, 108 -e- 35, 131, 134 e- 191 -e-, -(e)n- und -(e)s-, 159 ef- 191 -ei 73, 109 ein 210 -el 68, 73, 205, 208 -elei 73 -ell 162 -eln 202 -en 35, 131, 153 en- 207 -end 115 -ens 218 -ens- 35, 131 -ent 115, 174 ent- 182, 210 -enz 100, 117 -er 74, 94, 109, 151, 205 -er- 35, 131 er- 184, 210 -erchen 95 Affix- und Wortregister <?page no="236"?> 236 Affix- und Wortregister -erei 73, 109 -erich 74 -erie 85 -erig 153, 171 -erl 68 -erlei 148 -ern 154, 202 -erweise 216 erz- 53, 137 -es- 35, 131 -esse 72 -ette 72, 86 -eur 86, 118 -euse 72 ex- 60, 191 extra- 61, 144 -fach 148 -falls 217 fehl- 53, 199 für 50, 199 ge- 54, 113, 137, 165, 168, 184 gegen 50 geplus -e 113 grund- 54, 128, 137 Gut 81 -haft 154, 171 halber 217 haupt- 55 -heit 74, 96 her 200 her- 200 hier 219 Him- 90 hin 200 hinter- 185 -i 68 -i- 36 -ial 161 -ianer 83 -ibel 174 -ie 101 -iell 162 -ier 86, 205, 209 -iere 72 -ifizier 209 -ig 149, 154, 171, 175, 205, 208 -igall 90 -igam 90 -igkeit 96 -ik 102 -iker 87, 102 -ikum 102 il- 192 im- 192 -in 69 in- 145, 192, 207 -ine 72 -iner 83 -inisch 161 inner- 138 inter- 145 intra- 146 -ion 119 -isch 149, 155, 172 -isier 205, 209 -ismus 87, 103 -ist 88, 103, 119 -istisch 149, 163 -ität 104 -ition 119 -itis 88, 120 -itur 119 -ium 88 -iv 163, 175 -izier 205, 209 -izistisch 149 -keit 96 -ken 68 ko- 192 kol- 192 <?page no="237"?> 237 Affix- und Wortregister kom- 61, 192 kon- 61, 192 kor- 61, 192 -le 68 -lein 66 -ler 74 -li 68 -lich 150, 156, 172 Lind- 90 -ling 75, 98, 110 -loge 89 -logie 89 -los 131 f., 157 los- 157 makro- 62 -mals 217 -maßen 217 mäßig 158 mega- 62 meta- 62 mikro- 63 mini- 63 miss- 55, 138, 185 mit 50, 199 -n 131 -n- 35 nach 50, 199, 210 nach- 138 neben 50 neo- 63 -ner 78 nicht- 140 -nis 99, 111 -n- und -s- 158 -o- 36 ob- 195 ober- 138 f. -oid 89, 150, 164 -or 118 -orisch 164 -ös 164 post- 146 prä- 64, 146, 192 r- 200 re- 64, 193 red- 193 -rig 153, 171 rück- 56, 200 -s 216 -s- 34 f., 38, 131, 134 -sal 111 -sam 150, 159, 173 -sch 159 -schaft 79, 99, 111 -seits 217 -sel 112 -sken 68 Stelle 81 sub- 64, 147 super- 64 -teils 217 -tel 94 -tion 119 trans- 147 -tum 79, 99 -ual 161 über 50, 195, 210, 218 über- 139 -uell 162 um 50, 196, 210 um willen 218 un- 56, 139 f., 143 ff., 169 f., 172 -ung 80, 112 unter 50, 196 unter- 141 -ur 90, 119 ur- 57, 141 ver- 186, 210 voll 193 vor 50, 141, 199 <?page no="238"?> -wärts 215 wegen 218 -weise 216 -werk 80 -wesen 80 wider 50, 197 wider- 142 wieder 197 wo 219 zer- 189, 210 Zeug 81 zu 50, 199 zwischen 50 zwischen- 142 Affix- und Wortregister <?page no="239"?> Ablaut 24 Adverb 214 Adverbien 47 Affix 22 Affixoid 21 agglutinierende Sprachen 23 Akronym 25, 123 Antwortpartikel 211 Assimilation regressive 24 Augmentativa 48 autosemantisch 18 BBahuvrihi 44 Basis 21 Binnen-I 71 DDeiktikon 18 deiktisch 18 Derivation 23, 31, 51 Derivationsmorphem 23 Determinandum 39 Determinans 39 Determinativkompositum 39 Determinatum 39 Diminitivum 66 Diminuation 66 Diminuierung 66 EEigennamen 40 endozentrisch 44 Endwort 25 Epenthese 36 Etymologie 17 exogen 24 externe Derivation 24 Fantastilliarde 148 Fantastillion 148 Flexionsaffix 23 Flexionsmorphem 23 freies Morphem 19 Fugenelement 33, 35, 131 Ggebundenes Morphem 19 Genderstern 71 generisches Maskulinum 70 Grammatikalisierung 213, 220 grammatisches Morphem 19 HHalbpräfix 21 Iimplizit 24 indigen 24 Infix 22 Initialwort 25, 123 Interfix 22, 36 Interjektion 211 interne Derivation 24 Kkategorematisch 18 kausativ 203 Kausativum 203 Knacklaut 72 Kollokation 178 Komposition 31 Kompositum exozentrisches 38, 44 Konfix 20 Konjunktionaladverb 219 Kontamination 26, 123 Kopf 39 Kopfwort 25 Sachregister <?page no="240"?> 240 Kopulativkompositum 39 Kurzwort 25, 121 partielles 121 LLemma 15 Letztgliedprinzip 28, 39 Lexem 18 lexikalisches Morphem 18 MMaskulinum generisches 70 Modifikation 25, 31 f., 51 Morphem 13 freies 19 gebundenes 19 grammatisches 19 lexikalisches 18 Movierung 69 multisegmental 25, 123 NNegationspartikel 47 neoklassisch 21 Nomen instrumenti 108 Nomen Loci 108 Nullderivation 24 Null-Derivation 106 Nullfuge 38 Nullmorphem 106 Numerale 211 OØ-Fuge 38 Onomatopoetika 211 Pparticle verb/ Partikelverb 179 Partizipien 106 Personalpronomina 211 phonematisches Wort 13 phonologisches Wort 13 Phraseologismus 27 Possessivkompositum 44 Präfix 22 Präfixoid 21 Präposition als Erstglied 50 Pronominaladverb 219 Pseudopartizip 165 RReduplikation 26, 124 Rektionskompositum 41 Rückbildung 26 Rumpfwort 25 SScheinpartizip 165 Schwanzwort 25, 122 Silbenkurzwort 122, 233 Silbenwort 25 Splitting 71 substantivierte Infinitive 105 Substantivkomposita 33 Suffix 22 Suffixoid 21 Superlativ 218 Synkategorematikon 19 synkategorematisch 19 Synsemantikon 19 synsemantisch 19 TTrunkierung 121 UUmlaut 24 unikal 20, 90 unisegmental 25 Univerbierung 27 Urschöpfung 11 VVerbalnomen 105 WWort phonematisches 13 phonologisches 13 semantisches 14 Sachregister <?page no="241"?> 241 syngtaktisches 14 Wortkreuzung 26 Wortschöpfung 11 Z Zirkumfigierung: Problem 207 Zirkumfix 22 Zusammenrückung 27 Sachregister <?page no="243"?> ,! 7ID8C5-cfdghh! ISBN 978-3-8252-5367-7 Dieser Band bietet grundlegendes Wissen zur Wortbildung des Deutschen. Er ist so konzipiert, dass die einzelnen Kapitel zur Wortbildung bei den verschiedenen Wortarten auch unabhängig voneinander verwendet werden können. Intern sind die Kapitel nach den jeweils verwendeten Wortbildungsverfahren gegliedert. In den entsprechenden Unterkapiteln werden sowohl heimische als auch entlehnte Wortbildungsmorpheme alphabetisch aufgelistet und kurz besprochen. Auf diese Weise kann man sich rasch einen Überblick über die grundsätzlichen Möglichkeiten verschaffen, aber auch umgekehrt bei Bedarf ein einzelnes Morphem schnell auffinden und seine Verwendung nachlesen. Der Band schließt mit einem Glossar der wichtigsten Fachbegriffe und einem Register der Wortbildungsmorpheme. Sprachwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel