Soziologische Theoriebildung
Ein Handbuch auf dialogischer Basis
0914
2020
978-3-8385-5370-2
978-3-8252-5370-7
UTB
Peter V. Zima
Dieses Handbuch bietet eine Übersicht über die soziologische Theoriebildung der letzten 200 Jahre. Beginnend mit Hegel, Marx und Comte, werden zusammen mit den Klassikern (Durkheim, M. Weber, Parsons) und der Spätmoderne (Luhmann, Habermas, Touraine) die wichtigsten soziologischen Theorien bis hin zur Postmoderne (Baudrillard, Sennett, Foucault) behandelt. Dabei wird jeweils auch der historischphilosophische Kontext rekonstruiert. Anders als die meisten Einführungen in die soziologische Theorie hat dieser Band eine dialogische Struktur: Der Bezug der Theorien aufeinander lässt ihre Stärken, Schwächen und Besonderheiten hervortreten. Im metatheoretischen Dialog werden die kommentierten Theorien getestet. Sie werden konstruktivistisch als Erzählstrukturen aufgefasst, die aus besonderen, kontingenten Perspektiven hervorgehen. Die Kapitel verknüpfen jeweils vier Ebenen miteinander: Dialogizität, Narrativität, Terminologie und Historizität. Der Band wendet sich an fortgeschrittene Studierende und eignet sich hervorragend als Begleiter für das ganze Studium der Soziologie.
<?page no="0"?> Peter V. Zima Soziologische Theoriebildung Ein Handbuch auf dialogischer Basis <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5370 <?page no="2"?> Prof. emeritus Dr. Peter V. Zima lehrte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist seit 1998 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London und seit 2014 Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai. <?page no="3"?> Peter V. Zima Soziologische Theoriebildung Ein Handbuch auf dialogischer Basis Narr Francke Attempto Verlag Tübingen <?page no="4"?> www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: georgeclerk (495692241) © istockphotos.com 2020 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5370 ISBN 978-3-8252-5370-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5370-2 (ePDF) <?page no="5"?> Das Wort verwandelt sich zur Kampfarena zweier Stimmen Michail M. Bachtin <?page no="7"?> VII Inhalt sverzeichnis Vorwort ........................................................................................................................... XI Einleitung .........................................................................................................................1 Theoretische Prolegomena................................................................................. 17 I. Wer beobachtet Gesellschaft? Standorte der Theorie zwischen Engagement, Wertfreiheit und Distanzierung...........................................21 II. Wer erzählt Gesellschaft und wie? Prozess oder Handlung? Theorie als Erzählung, Konstrukt und Dialog............................................47 III. Subjekt- und Handlungstheorie semiotisch und soziologisch: Von Algirdas Julien Greimas zu George Herbert Mead und Erving Goffman ........................................................................................................75 Erster Teil: Moderne soziologische Theorien als Erzählungen und ihre Kritik in der Spätmoderne ........................................................... 103 IV. Kapital und Tauschwert, Arbeit und Klassenkampf: Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx .......... 107 V. Säkularisierung und Rationalisierung: Auguste Comtes Erzählung als Antwort auf das Marxsche Geschichtsverständnis - und die marxistische Replik..................................................................................... 143 VI. Naturbeherrschung und Subjektivität: Adornos und Horkheimers Kritische Theorie als Antwort auf Positivismus, Hegelianismus und Marxismus ..................................................................... 177 VII. Subjektivität und Subjektkritik, Bewegung und Emanzipation: Feministische Gesellschaftstheorien als Antworten auf den Marxismus und die Kritische Theorie ........................................................ 215 Zweiter Teil: Die soziologischen Theorien der Spätmoderne ..... 245 VIII. Die „Zirkulation der Eliten“ und die „ewige Wiederkehr des Gleichen“: Von Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca zu C. Wright Mills und Robert Michels (Paretos machiavellistische und nietzscheanische Antwort auf Marx).......................................................... 249 <?page no="8"?> Inhalt VIII IX. Differenzierung und Individuum, Kollektivbewusstsein, Solidarität und Anomie: Emile Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencers Individualismus ............................................................ 283 X. Gemeinschaft und Gesellschaft, Wesenwille und Kürwille: Ferdinand Tönniesʼ Soziologie der Spätmoderne als Replik auf Spencer, Durkheim und Marx ...................................................................... 327 XI. Vergesellschaftung als Wechselwirkung, subjektive und objektive Kultur: Georg Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz und seine Antworten auf Durkheim und Tönnies ...... 361 XII. Wertfreiheit und Idealtypus, Rationalisierungsprozess, Bürokratie und Charisma: Die verstehende Soziologie Max Webers als Antwort auf den Marxismus .................................................................. 395 XIII. Figuration und Zivilisationsprozess, Engagement und Distanzierung: Norbert Eliasʼ Prozesssoziologie als Ergänzung zu Max Webers Rationalisierungstheorie - und Alfred Webers Replik...... 443 Dritter Teil: Spätmoderne soziologische Theorien in der Postmoderne ..........................................................................................................489 XIV. Handlung und Struktur, funktionale Differenzierung und System: Talcott Parsonsʼ historisch-systematische Grundlegung der Soziologie ..................................................................................................... 493 XV. Differenzierung und Systembildung, Kommunikation und Autopoiesis: Niklas Luhmanns Parsons-Kritik und seine Umformulierung der Systemtheorie ......................................................... 547 XVI. Systeme und Lebenswelt, instrumentelle und kommunikative Vernunft: Jürgen Habermasʼ Alternative zur Systemtheorie .......... 611 XVII. Subjekt, Handlung und Bewegung, postindustrielle Gesellschaft und das „Ende der Gesellschaften“: Alain Touraines Handlungssoziologie als Antwort auf Marxismus, Habermas und die Systemtheorie..................................................................................................... 671 XVIII. Kapital und Klasse, Habitus und Feld: Pierre Bourdieus Soziologie als Gegenentwurf zu Touraine und Luhmann ............................ 707 XIX. Doppelte Hermeneutik und Strukturierung, Risikogesellschaft und reflexive Moderne: Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck (Giddens antwortet Habermas und Bourdieu) ..................................... 773 Vierter Teil: Postmoderne Soziologien ....................................................827 XX. Moderne und Ambivalenz, Postmoderne, flüchtige Moderne und Individualisierung: Zygmunt Baumans kritische Soziologie als Antwort auf Giddens und Beck .................................................................... 833 <?page no="9"?> Inhalt IX XXI. Tauschwert, Simulacrum und Simulation in der Mediengesellschaft: Jean Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz und der Sieg des Antisubjekts (Baudrillard antwortet Giddens, Beck und Bauman)............................................................................................ 869 XXII. Öffentlichkeit, Urbanität und Intimität, das flexible Subjekt und der Narzissmus: Richard Sennett antwortet Habermas und wird von Christopher Lasch und David Le Breton ergänzt.............. 905 XXIII. Macht, Vernunft und Subjektivität, postmodernes „Stammesbewusstsein“ und der Niedergang des Individualismus: Michel Foucaults und Michel Maffesolis Antworten auf die Moderne ....... 941 Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick ...................................981 Bibliografie .............................................................................................................999 Sachregister ......................................................................................................... 1038 Personenregister .............................................................................................. 1058 <?page no="11"?> XI Vorwort Anders als die meisten Gesamtdarstellungen soziologischer Theorien, die vorwiegend chronologisch aufgebaut sind, verknüpft das vorliegende Buch vier Ebenen miteinander: Dialogizität, Narrativität, Terminologie und Historizität. Die kommentierten Theorien werden als Diskurse oder Erzählungen dialogisch aufeinander bezogen, und ihre Terminologien werden in den philosophisch-historischen Kontexten, in denen sie entstanden sind, gedeutet. Der Dialog ist seit der Antike ein bewährtes Mittel der Erklärung und Erläuterung. Schon Sokrates war bestrebt, durch kritisches, ja provozierendes Fragen seinen Gesprächspartnern mehr oder weniger problematische Argumente oder Gegenfragen zu entlocken, um den Denkprozess zu beleben, Verwirrungen aufzulösen und Begriffe zu klären. Im vorliegenden Fall soll das beziehungslose Nebeneinander soziologischer Theorien in ein sinnstiftendes Für- und Gegeneinander überführt werden, in dem jede der kommentierten Theorien ein schärferes Profil in der Auseinandersetzung mit ihren Rivalinnen gewinnt: Im Dialog sollen ihre Stärken, Schwächen und Lücken besser sichtbar werden. Nicht nur bekannte Diskussionen, die tatsächlich stattgefunden haben, wie der Streit um die Wissenssoziologie, der Positivismusstreit, die Habermas-Luhmann-Debatte und das Gespräch zwischen Giddens und Beck werden kommentiert 1 ; auch Marx und Pareto stoßen hier im Dialog als „Geistergespräch“ aufeinander und indirekt auch ihre Mentoren Hegel und Nietzsche, die seit über hundert Jahren zu den wichtigsten Kontrahenten der Philosophiegeschichte gehören. Die zu klärende Frage hört sich in diesem Fall recht einfach an: Bewegt sich die Geschichte als sinnvoller Prozess auf eine Befreiung der Menschheit von Ausbeutung, Gewalt und Entfremdung zu (Marx) - oder ist sie eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche), weil, wie Pareto meint, eine alte Elite oder Oligarchie stets von einer neuen, noch unverbrauchten abgelöst wird? In dem hier konstruierten Dialog (und es handelt sich in den meisten Fällen um eine Konstruktion) geht es nicht darum, einer Seite Recht zu geben und die andere zu verdammen, sondern es geht um die Frage, ob die Zusammenführung scheinbar gegensätzlicher Positionen nicht zu einer 1 Vgl. dazu: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt, Suhrkamp, 2010. <?page no="12"?> Vorwort XII Korrektur beider führen könnte. In dem hier erwähnten Fall erscheint es sinnvoll, allen Emanzipationsbewegungen eine Parallellektüre von Marx und Pareto zu empfehlen, die zeigt, dass ein Streben nach Emanzipation nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich die Akteure mit den von Pareto, Mosca und Robert Michels (vgl. Kap. VIII) beschriebenen Mechanismen der Oligarchiebildung eingehend befasst haben. Zu vergleichbaren Einsichten führt der hier inszenierte Dialog zwischen Anthony Giddens und Ulrich Beck auf der einen und Zygmunt Bauman oder Michel Foucault auf der anderen Seite. Während Giddens und Beck das (durchaus risikoreiche) Emanzipationspotenzial beschreiben, das die Freisetzung moderner Menschen aus Traditionen, überlieferten Rollenmustern und anderen Zwangslagen mit sich bringt, machen Bauman und Michel Foucault auf die neuen Überwachungs- und Disziplinierungsmechanismen aufmerksam, denen die modernen Freiheiten zum Opfer fallen könnten. Auch hier lohnen sich Parallellektüren, die Tendenzen und Gegentendenzen aufeinander beziehen. Vor diesem Hintergrund ist das zugleich essayistische und dialektische Leitmotiv aus Theodor W. Adornos Negativer Dialektik zu verstehen, das hier - wie in einer Symphonie - in verschiedenen Kontexten und in abgewandelter Form immer wieder zu hören sein wird: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 2 Der Ausdruck „gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben“, schließt Relativismus aus: Die Gegenstimmen sollen alle gehört und diskutiert werden - aber ohne dass das Subjekt der Theorie (hier der Dialogischen Theorie als Metatheorie: vgl. Kap. II) in der Polyphonie aufgeht. Dialektik und der hier konzipierte Dialog hängen insofern zusammen, als sie beide die Ambivalenz der sozialen Erscheinungen wahrnehmen und die Gegensätze (weiter oben: Tendenz und Gegentendenz) zusammenführen, ohne sie im Höheren - etwa in einer hegelianischen Synthese - aufzuheben. Die Zusammenführung der Gegensätze - hier der einander widersprechenden Theorien - soll nicht in Systembildung als „Supertheorie“ münden, sondern kritisches Nachdenken in einem offenen, unabschließbaren Dialog ermöglichen und neue Einsichten fördern (vgl. Kap. II. 5). 3 Wo ideologisch, sprachlich und wissenschaftlich heterogene Theorien aufeinander bezogen werden, drängt sich die Frage auf, was denn eine Theorie sei. Damit ist der zweite, eingangs erwähnte Aspekt des Buches 2 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 3 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur und So zialwissenschaften, Tübingen, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), „Dritter Teil. Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung“. <?page no="13"?> Vorwort XIII angesprochen: Narrativität. Theorien werden hier als Diskurse oder semantisch-narrative Strukturen 4 aufgefasst, deren Subjekte (als „Erzähler“) versuchen, gesellschaftliche Entwicklungen („von der Stammesgesellschaft zur Industriegesellschaft“, „vom Feudalismus zum Kapitalismus“) zu erzählen. So ist auch die Selektion der hier kommentierten Theorien zu verstehen: Es wurden vorzugsweise Theorien der sozialen Entwicklung ausgewählt. In ihnen bietet die Form der Erzählung, wie sich im zweiten Kapitel zeigen wird, eine Erklärung an: So wird beispielsweise das Erstarken des Individualismus mit der Verstädterung und der tendenziellen Auflösung der Dorfgemeinschaft samt ihren Traditionen erzählt und erklärt. Hier zeigt sich, dass Erzählungen in den verschiedensten kulturellen Bereichen vorkommen und keineswegs eine rein literarische Erscheinung sind. Ihre Untersuchung im soziologischen Bereich hat nichts mit einer Reduktion der Soziologie auf Literatur zu tun. Erzähltheorien haben in Semiotik, Textlinguistik und Literaturwissenschaft eine facettenreiche Vergangenheit, und sie sind schon früh, wenn auch auf eher intuitive Art, in die Geschichtswissenschaft eingeführt worden: in Deutschland unter anderem von Werner Schiffer 5 , der im zweiten Kapitel zu Wort kommt, in den Niederlanden von Frank R. Ankersmit. 6 In der Soziologie geht Dirk Kaesler auf die narrativen Aspekte von Theorien ein. 7 Es fehlt jedoch im sozialwissenschaftlichen Bereich eine Erzähltheorie, mit deren Hilfe die narrativen Verfahren soziologischer Theorien untersucht werden könnten. Auf die Rolle des Erzählens in der „Wissenschaft“ geht zwar Christina Brandt in ihrem Beitrag zu dem von Matías Martínez herausgegebenen Band Erzählen ein, befasst sich aber fast ausschließlich mit den Naturwissenschaften: mit „Formen und Funktionen (…) im naturwissenschaftlichen Text“. 8 Die Sozialwissenschaften gehen leer aus. 4 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, „Dritter Teil. Der Diskurs der Theorie“. 5 Vgl. W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980. 6 Vgl. F. R. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Den Haag, Nijhoff, 1983. 7 Vgl. D. Kaesler, „Große Erzählungen sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? , Münster, Lit-Verlag, 2005. Vgl. auch D. Kaesler, „Wozu braucht es eine Geschichte der Klassiker der Soziologie? “, in: Ch. Dayé, S. Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Frankfurt, Suhrkamp, 2015, S. 203: „Jede Sammlung der Klassiker der Soziologie muss als ein Unternehmen verstanden werden, das im Überschneidungsbereich von Soziologie und Geschichtswissenschaft angesiedelt ist.“ 8 Ch. Brandt, „Wissenschaft“, in: M. Martínez (Hrsg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Metzler, 2017, S. 212. <?page no="14"?> Vorwort XIV Im vorliegenden Buch wurde daher auf die Erzähltheorien des französisch-litauischen Semiotikers Algirdas Julien Greimas und des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette zurückgegriffen. Vor allem Greimas hat sich schon in den 1970er Jahren systematisch mit den Erzählstrukturen politischer, juristischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse befasst und war stets darauf bedacht, mit Hilfe seiner Aktantenmodelle, die im zweiten Kapitel (II. 2) ausführlich kommentiert werden, die semantische Basis (als Ensemble von Gegensätzen und Klassifikationen) mit dem narrativen Ablauf zu verknüpfen. 9 Im narrativen Ablauf (in der Erzählung als Aussagevorgang) spielt der von Gérard Genette eingeführte Begriff des Fokalisators eine entscheidende Rolle: Er bezeichnet die Person oder Instanz, von deren Standpunkt aus beobachtet und erzählt wird. Es wird sich beispielsweise zeigen, dass Marx die gesellschaftliche Entwicklung vom Standpunkt des „Proletariats“ aus beobachtet und erzählt, während der postmoderne Michel Maffesoli sie aus der Sicht der zeitgenössischen Jugendgruppen, der „Neo-Stämme“, betrachtet. In allen Fällen geht es um die Frage, wie soziologische Theorien als semantisch-narrative Strukturen in den Prozessen der Beobachtung und Erzählung zustande kommen, wie sie „gemacht“ sind. So sind die Titel der beiden ersten Kapitel aufzufassen: „Wer beobachtet Gesellschaft? “ und „Wer erzählt Gesellschaft? “. In diesem Kontext ist auch das Wort „Theoriebildung“ im Haupttitel zu verstehen: Wie werden Theorien als semantischnarrative Strukturen oder Erzählungen gebildet - und in welchen Kontexten? Die dialogische Konfrontation soziologischer Theorien erfolgt somit auf erzähltheoretischer Ebene. Auf dieser Ebene erscheinen sie als mögliche Konstruktionen der Wirklichkeit (nicht als „richtige“ oder „falsche“ Abbildungen). Die Frage lautet nicht: Welche Theorie kommt der Wirklichkeit am nächsten, welche ist richtig? - sondern: Welche Aspekte der sozialen Wirklichkeit macht eine Theorie sichtbar und welche verdeckt sie? Hier spielen die Erkenntnisinteressen von Beobachterinnen und Beobachtern, Leserinnen und Lesern eine entscheidende Rolle: Wer erfahren möchte, wie das politische System oder das Rechtssystem funktioniert, wird möglicherweise eher mit Luhmann das soziale Geschehen beobachten wollen als mit der hier vertretenen dialogischen Variante der Kritischen Theorie (Adornos und Horkheimers). Wer in beiden Systemen wirtschaftliche Interferenzen feststellt und beginnt, an Luhmanns Auffassung systemischer Autonomie zu zweifeln, wird sich vielleicht wieder einer Theorie der dialektischen Vermittlung - oder Bourdieus Theorie der Felder, 9 Vgl. A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976. <?page no="15"?> Vorwort XV die verschiedene Autonomiegrade unterscheidet, zuwenden. Stets lautet die Frage: Was erklärt diese Theorie, wie weit reicht sie - und wo lässt ihre Terminologie uns im Stich? Diese Terminologie als dritter Aspekt des Buches wird zwar in allen Titeln mit bestimmten Namen wie Durkheim, Max Weber, Parsons oder Giddens verknüpft; sie steht aber überall an erster Stelle. Ihre Darstellung entspricht dem historisch-philosophischen Aufbau des Buches (vierter Aspekt), der im „Ersten Teil“ durch dialogische Einschübe unterbrochen wird: Dort kommt es aus Kohärenzgründen primär darauf an, die kritisch-theoretischen und feministischen Reaktionen auf Hegelianismus, Marxismus und Positivismus als unmittelbare, nachvollziehbare Repliken zu inszenieren - und nicht erst im „Dritten“ oder „Vierten Teil“. Diese Anordnung rechtfertigt auch die Überlegung, dass die Terminologie der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers aus den Philosophien von Hegel und Marx ableitbar ist und zugleich als Alternative zu Comtes Positivismus konzipiert wurde. Zu diesem im „Ersten Teil“ konstruierten Komplex gehört auch der Feminismus, der, wie sich zeigen wird, die Frage aufkommen lässt: „Wie kritisch ist Kritische Theorie? “ Sie gehört zu dem von Adorno skizzierten „Gegen-sich-selbst-Denken“ - und zum offenen Dialog. Im achten Kapitel, in dem Pareto, Mosca, Michels und C. Wright Mills den Dialektikern Hegel und Marx antworten, wird die historische Reihenfolge fortgesetzt. Es wird u.a. gezeigt, dass spätmoderne Denker wie Pareto nicht länger an die linearen und zum Teil utopischen Erzählungen der Moderne (Hegel, Marx, Comte) glauben können und daher mit Kritiken und Gegenentwürfen reagieren. Ihre Skepsis nimmt im Laufe der Spätmoderne (als Kritik der Moderne) zu und erreicht in der Postmoderne ihren Höhepunkt. Freilich ist diese Darstellung, die dem gesamten Buch zugrunde liegt, selbst eine narrative Konstruktion des Autors, die als solche zu verstehen und zu handhaben ist: als Hypothese über die Entwicklung von Soziologie und Gesellschaft, die mit anderen Hypothesen zu konkurrieren hat. Wer mit dem Postmoderne-Begriff nichts anfangen kann, wird möglicherweise Widerspruch anmelden. Allerdings muss er sich dann die Frage gefallen lassen, wo er Soziologen wie Zygmunt Bauman oder Michel Maffesoli unterbringen will, die sich selbst als „postmodern“ bezeichnen - oder einen seinem Selbstverständnis nach postmodernen Theoretiker und Schriftsteller wie Umberto Eco. Der Autor hofft, dass es möglich sein wird, dieses Buch mit Hilfe des terminologischen Aufbaus auch als Nachschlagewerk zu verwenden, um etwa im zehnten Kapitel (Abschnitt 4 oder 6) ohne allzu großen Zeitaufwand zu erfahren, was Ferdinand Tönnies unter „Wesenwille“ und „Kürwille“ versteht oder was „Kommunitarismus“ im Sinne von Amitai Etzioni bedeutet. <?page no="16"?> Vorwort XVI Ob diese Hoffnung realistisch ist, können die im 21. Jahrhundert hoffentlich immer noch geneigten Leserinnen und Leser eher beurteilen als er selbst. Das Problem besteht darin, dass in richtigen Nachschlagewerken manche Artikel, in denen Begriffe erläutert werden, zu kurz und daher zu abstrakt geraten sind. Hier sind die mit Begriffen überschriebenen Abschnitte zwar wesentlich ausführlicher - aber vielleicht wieder zu lang, um der Schnellinformation zu dienen. In dieser Hinsicht hat sich der Autor an seinem eigenen langen Soziologie-Studium orientiert, als rasche Informationen stets heiß begehrt waren. Lang war dieses Studium, weil es zwar bald abgeschlossen, aber später immer wieder fortgeführt wurde, bis es schließlich in dieses ausufernde Buch mündete, das einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten zum Gegenstand hat und die Arbeiten des Autors über den Theoriebegriff - Ideologie und Theo rie (1989), Was ist Theorie? (2004, 2017) - abschließt. Das Studium begann in den 1960er Jahren in Edinburg, wo damals Tom Burns für das Fach Soziologie zuständig war, dessen Buch über Erving Goffman hier im dritten Kapitel verwendet wird. Es wurde in den 70er Jahren in Paris fortgesetzt, wo der Autor bei Roland Barthes, Jean Cassou, Lucien Goldmann und Algirdas Julien Greimas seine erste literatursoziologische Dissertation vorbereitete. Es folgte schließlich eine dritte Phase an der Universität Bielefeld, wo er als Gastdozent an der Soziologischen Fakultät Literatursoziologie lehrte und Gelegenheit hatte, außer Niklas Luhmann, dessen Werk hier ausführlich im fünfzehnten Kapitel kommentiert wird, auch Otthein Rammstedt kennen zu lernen. Dessen Theorie der sozialen Bewegung kommt im Schlussteil des siebzehnten Kapitels (über Alain Touraines Handlungssoziologie) zur Sprache. Der Autor kann nur hoffen, dass sich seine Faszination für das Fach Soziologie auf seine Leserinnen und Leser überträgt, denen die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien helfen sollte, sich in anderen Bereichen der Soziologie, die stets theoretisch vorkonstruiert sind, besser zu orientieren. In mancher Hinsicht ähnelt diese Art von Wissenschaft dem Bergsteigen: Wer von einem Gipfel fasziniert ist, vergisst schnell, dass er noch ein zweites und drittes Vorgebirge zu bewältigen hat, bevor er am Ziel ist. Und der Orientierungssinn bessert sich mit jedem Höhenmeter. Der Autor dankt Arno Bammé (Klagenfurt), Rainer Greshoff (Bremen) und Joseph Jurt (Basel / Freiburg) für ihre Hilfe bei der Materialbeschaffung und ihre wertvollen Ratschläge zu den Kapiteln X (Bammé), XV (Greshoff) und XVIII (Jurt). Er ist auch seiner Frau Veronica Smith zu Dank verpflichtet: Sie hat nicht nur an der Textkorrektur mitgewirkt, sondern auch wesentlich zur Lösung unzähliger technischer Probleme beigetragen. <?page no="17"?> 1 Einleitung Inhaltsverzeichnis 1. Dialog und Metasprache 2. Standort des Beobachters 3. Soziologische Theorie als Erzählung 4. Soziologische Theorie zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne Da der dialogische Aufbau dieses Buches auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag, sollen hier in aller Knappheit die im Vorwort kurz erwähnten Kerngedanken anhand von Beispielen erläutert werden. Dabei geht es vor allem um Schlüsselbegriffe wie „Dialog“, „Standort des Beobachters“ und „Theorie als Erzählung“ sowie um die soziologische Theorie im Übergang von der Moderne zur Postmoderne. Die hier skizzierten Gedanken werden anschließend in den ersten drei Kapiteln konkretisiert und kommen in allen vier Teilen des Buches zur Anwendung. 1. Dialog und Metasprache Während die meisten Einführungen in die soziologische Theorie einen vorwiegend additiven Charakter haben und die wichtigsten theoretischen Ansätze zumeist in chronologischer oder thematischer Reihenfolge kommentieren 1 , hat diese Einführung nicht nur eine chronologisch-thematische, sondern auch - und vor allem - eine dialogische Struktur. Dies bedeutet, dass einerseits Diskussionen - etwa die zwischen Durkheim und Tönnies oder Habermas und Luhmann -, andererseits kritische Reaktionen und Repliken zum Anlass werden, soziologische Theorien vergleichend aufeinander zu beziehen und zu bewerten. Der Theorienvergleich 2 und das 1 Vgl. z.B. M. Dillon, Introduction to Sociological Theory. Theorists, Concepts and their Applicability to the Twenty-First Century, Madden-Oxford-Chichester, John Wiley and Sons, 2014 (2. Aufl.) sowie J. Ritzen, J. Stepnisky, Sociological Theory, London, Sage, 2018. In diesem Band wechseln theoretische und thematische Perspektiven ab: z.B. „Varieties of Neomarxian Theory“ (Kap. VIII) und „Globalization Theory“ (Kap. XVI). 2 Zum Theorienvergleich siehe: R. Greshoff, „Die Theorievergleichsdebatte in der deutschsprachigen Soziologie“, in: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt, Suhrkamp, 2010, S. 184, wo der herrschende „Theorienpluralismus“ als unbefriedigend dargestellt wird: „Nach und nach entsteht so ein Theorienpluralismus, der bis <?page no="18"?> Einleitung 2 „Geistergespräch“ sind weitere Aspekte des dialogischen Verfahrens, das auf der Überlegung gründet, dass erst in der Auseinandersetzung mit anderen, konkurrierenden Betrachtungsweisen die Vorzüge und Nachteile, die Stärken und Schwächen einer Theorie zutage treten. 3 Es geht jedoch nicht nur um die Bewertung oder kritische Überprüfung von Theorien in einer dialogischen Konfrontation, sondern auch und vielleicht vor allem um ihr besseres Verständnis. Denn erst im Vergleich zeigt sich die Besonderheit oder Eigenart einer Erscheinung: eines Gesellschaftssystems, eines politischen Systems oder einer Sprache. Den europäischen Feudalismus versteht man besser, wenn man ihn in seinen verschiedenen Ausprägungen mit den feudalen Verhältnissen im mittelalterlichen Japan der Samurai vergleicht, zu einer konkreteren Bestimmung des französischen Präsidialsystems kann entscheidend ein kontrastiver Vergleich mit dem der USA beitragen 4 , und die kontrastive Linguistik lässt nicht nur die Gegensätze und Unterschiede zwischen Sprachen hervortreten, sondern lässt auch ihre Möglichkeiten und Grenzen erkennen. Seine eigene Sprache versteht man besser, wenn man sie mit anderen Sprachen vergleicht. Dazu bemerkt Goethe: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ 5 Analog dazu ließe sich behaupten: „Wer andere Theorien nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass die Konstruktion der eigenen Theorie nur in ständiger Auseinandersetzung mit anderen, „fremden“ Theorien möglich ist, die den Annahmen der eigenen Theorie widersprechen. Auch hier ist ein Vergleich mit der Sprache und dem Spracherwerb hilfreich: Unsere Muttersprache erwerben wir im Laufe der primären und sekundären Sozialisation in einem permanenten Dialog mit dem „fremden Wort“, wie Bachtin, der Theoretiker des Dialogs 6 , sagt: mit Eltern, Geschwistern, Freunden, Bekannten und Lehrern. Erst durch ihren Dissens, ihren abweichenden Sprachgebrauch und ihre Korrekturen lernen wir richtig sprechen. Dies gilt in noch stärkerem Ausmaß für die Fremdsprache: Erst die Auseinandersetzung mit dem fremden Wort und der Andersheit der native speaker oder der heute als charakteristisch für die Theorieszene in der Soziologie gilt.“ Theorienvergleich und Dialog können als Antworten auf das beziehungslose Nebeneinander von Theorien aufgefasst werden. 3 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Teil III: „Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung“. 4 M. Duverger (Hrsg.), Les Régimes sémi-présidentiels, Paris, PUF, 1986. 5 W. J. Goethe, Maximen und Reflexionen. Gesamtausgabe, Bd. XXI, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S. 13. 6 Vgl. M. Holquist, Dialogism. Bakhtin and his World, London-New York, Routledge, 1990, darin vor allem: „Existence as Dialogue“ und „Language as Dialogue“. <?page no="19"?> Einleitung 3 Texte einer anderen Kultur bringt uns die andere Sprache näher und lehrt uns, richtig zu sprechen, anders zu denken (z.B. ohne die Infinitivform im Neugriechischen) und die eigene Sprache oder Kultur gleichsam von außen zu betrachten und dadurch besser, konkreter zu verstehen. Für die Subjektivität eines jeden Menschen bedeutet dies, dass sie sich in einem permanenten Dialog mit anderen Individuen oder Gruppen bildet, die im Laufe der Sozialisierung dazu beitragen, dass der Einzelne kein sprachloses Infans bleibt, sondern sprachliche und andere Fähigkeiten erwirbt: gesellschaftliche Umgangsformen, berufliche Kompetenzen und - wissenschaftliches Arbeiten. In diesem Buch steht der dialogische Charakter des wissenschaftlichen Arbeitens und vor allem der Theoriebildung im Vordergrund. Es soll gezeigt werden, dass jede soziologische Theorie die Gesellschaft und ihre Entwicklung von einem bestimmten, stets partikularen Standort aus beobachtet und darstellt oder „erzählt“ und dass ihr dadurch bestimmte Tatsachen, Ereignisse oder Prozesse entgehen, die in anderen Theorien zentral sind und dort genau untersucht werden. Im Dialog werden die blinden Flecken oder Lücken der verschiedenen Theorien erkennbar, und es zeichnen sich Alternativen zu ihren Beobachtungen und Darstellungen ab. Dieser produktive Aspekt der theoretischen Konfrontation entgeht Max Haller, der sich kritisch mit Anthony Giddensʼ Behauptung auseinandersetzt, „daß soziologische Theorien in gewisser Hinsicht ‚eindeutig miteinander kollidieren‘ und es einige grundlegende (unlösbare? ) theoretische Dilemmas gebe (…). Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Dilemmas allerdings nicht als wirkliche Probleme einer modernen soziologischen Theorie, sondern als recht abstrakte philosophisch-metaphysische Grundfragen, von denen ich annehme, daß sie überhaupt unbeantwortbar sind“. 7 Statt die theoretischen Widersprüche im Metaphysischen verpuffen zu lassen, sollen sie hier im Rahmen des dialogischen Ansatzes für den soziologischen Erkenntnisprozess fruchtbar gemacht werden. Wenn Pareto und Mosca beispielsweise geltend machen, dass eine soziale Klasse wie das Proletariat aus quantitativen und organisatorischen Gründen nicht regieren, keine „Diktatur“ ausüben kann, so dass eine Usurpation ihrer Macht durch eine gut organisierte Elite unvermeidlich wird (vgl. Kap. VIII), so relativiert dieses Argument die Marxsche Klassentheorie und bringt die Erkenntnis weiter - ohne die Klassentheorie umstandslos durch die Elitentheorie zu ersetzen. Das dialogische Verfahren führt nicht zum Relativismus, sondern soll - wie der Erwerb von Fremdsprachen - zu einem konkreteren Verständnis 7 M. Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen, Leske- Budrich, 1999, S. 37. <?page no="20"?> Einleitung 4 der eigenen Position (der eignen theoretischen Sprache) beitragen und in der Auseinandersetzung mit dem Anderen und seiner Andersheit Korrekturen dieser Position ermöglichen. Es bewegt sich auf metasprachlicher, metatheoretischer Ebene und soll allen Beteiligten eine „Außenansicht“ ihrer Standorte oder Prämissen und der auf ihnen gründenden Theorien bieten. Es geht - mit Bachtin ausgedrückt - um „das Verhältnis zum Anderen“ („otnošenie k drugomu“) 8 und um den reflexiven Versuch, „sich selbst als einen Anderen vorzustellen“. 9 Dazu bemerkt Tzvetan Todorov: „Bachtin geht vom Einfachsten aus: Wir können uns niemals in unserer Gesamtheit wahrnehmen; zur Selbstwahrnehmung brauchen wir (…) den Anderen (…).“ 10 In diesem Kontext erscheint die Dialogische Theorie, die diesem Buch zugrunde liegt, als Metatheorie, die eine kritische Selbstwahrnehmung einzelner Theorien ermöglichen soll, indem sie sie gleichsam von außen - mit den Augen der Anderen - betrachtet und verfremdet. Dadurch kann sie das Selbstverständnis der beteiligten Theorien erneuern, stärken und zugleich zu ihrem besseren Verständnis bei ihren Kritikern beitragen. Sie visiert nicht den Konsens an, sondern die Wechselwirkung zwischen Konsens und Dissens. Ihren Gegenstand bilden die Beziehungen zwischen alten und neuen, einander widersprechenden soziologischen Theorien sowie deren Strukturen. Auf sprachlicher Ebene ist die Metatheorie als eine Metasprache darstellbar, die sich auf Objektsprachen bezieht, welche die soziale Wirklichkeit zum Gegenstand haben: das Individuum, die Familie, den Beruf, die soziale Rolle, die Klasse oder Schicht. Die Linguistik beispielsweise ist auch eine Metasprache, weil sie natürliche Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) als Objektsprachen untersucht. Es gilt aus sprachphilosophischer und semiotischer Sicht, „klar zwischen der Sprache, von der wir sprechen, und der Sprache, die wir sprechen, zu unterscheiden“. 11 Soziologische Theorien sind Objektsprachen (konkreter: Diskurse als semantisch-narrative Konstruktionen), die auf metasprachlicher Ebene von einer Metatheorie aufeinander bezogen werden können. Dem theoretischen Dialog wohnt der Begriff der Metatheorie inne, weil jemand, der den Dialog beobachtet, dies von einer Metaebene aus tut: ähnlich wie jemand, der ein Fußballspiel beobachtet und dabei die Techniken und Taktiken der beiden Mannschaften (stets kritisch) vergleicht. Philosophen und Soziologen beziehen sich oft implizit oder explizit, affirmativ oder kritisch 8 M. M. Bachtin, „Problema avtora“, in: Voprosy filosofii 30/ 7, 1977, S. 150. 9 Ibid., S. 156. 10 T. Todorov, „Bakhtine et l’altérité“, in: Poétique 40, 1979, S. 503. 11 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 224. <?page no="21"?> Einleitung 5 aufeinander und verfolgen dabei bestimmte Absichten, wenden spezifische Taktiken an. Sie können einander ignorieren (etwa Emile Durkheim und Max Weber), ergänzen (etwa Durkheim und Ferdinand Tönnies) oder teilweise widersprechen (etwa Max Weber und Karl Marx). Es gilt, diese Absichten und Taktiken auf sprachlich-diskursiver Ebene zu untersuchen, um den spezifischen Charakter einer jeden Theorie näher bestimmen zu können. In gewisser Hinsicht ergänzt Auguste Comtes Theorie der Rationalisierung und der Säkularisierung die Marxsche Theorie des Kapitalismus und der Klassenkämpfe; aber sie widerspricht ihr auch, weil sie alternative Erklärungen für die Entwicklung der modernen Gesellschaft anbietet. Durch ihre Hervorhebung von Prozessen wie „Verweltlichung“ und „Verwissenschaftlichung“ wirft sie die Frage auf, ob das Handeln von Klassen als Kollektivsubjekten der entscheidende Faktor ist, der sozialen Wandel bewirkt. Handlung oder Prozess? Und: Sind Prozesse ohne Handlungen von Individuen oder Gruppen, ohne Subjekte möglich? Wie hängen Handlung, Subjekt, Kollektivsubjekt und Prozess zusammen? Diese und verwandte Fragen lässt eine Konfrontation von Marx, Saint-Simon und Comte im „Ersten Teil“ des Buches aufkommen. Vergleichbare Fragen drängen sich in allen Dialogen auf, in denen heterogene soziologische Positionen kollidieren. Der Dialog soll die teilnehmenden Individuen und Gruppen ermutigen, „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“ 12 , wie es Adorno in der Negativen Dialektik ausdrückt. Adornos Verfahren liegt ein dialogisches Moment zugrunde, das in den Kommentaren zu seinem Werk bisher nicht beachtet wurde. 13 Das vorliegende Buch geht von der Annahme aus, dass Dialektik und Dialog untrennbar zusammenhängen. Sie sind mit dem Monolog der Ideologie unvereinbar, wie sich im zweiten Kapitel zeigen wird. Während sich der dualistisch strukturierte Diskurs der Ideologie, der manichäisch Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheidet, mit der Wirklichkeit identifiziert (d.h. seine Definition der Wirklichkeit für die einzig mögliche hält) und dadurch den Dialog mit dem Anderen und Andersartigen ausschließt, stellt das Subjekt der Theorie seinen Diskurs als eine nur mögliche, kontingente Konstruktion dar und räumt anderen Diskursen das Recht ein, die Wirklichkeit ganz anders zu konstruieren. Während der Ideologe - als Politiker, religiöser Eiferer oder Moralist - Montaignes Frage „Was weiß ich“? , Kants Frage „Was kann ich wissen? “ und die kritische Frage „Ist das wahr? “ mit Pseudowissen, vorschnellen Annahmen oder Vorurteilen unterdrückt, wirft der Theoretiker diese drei Fragen in jedem Zusammenhang von neuem auf, um seinen Diskurs zu 12 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 13 Vgl. Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. VI. 5. <?page no="22"?> Einleitung 6 öffnen und den dialogischen Prozess in Gang zu halten. Er weiß um die Kontingenz seines Standortes; er weiß auch, dass andere Standorte andere, für ihn neue Perspektiven eröffnen können. 2. Standort des Beobachters Im ersten Kapitel wird sich zeigen, dass der Standort, den ein Theoretiker einnimmt, darüber entscheidet, wie er Natur oder Gesellschaft wahrnimmt und was er aus der Fülle der beobachteten Tatsachen und Ereignisse im Rahmen seiner Theorie als besonders wichtig oder relevant auswählt. Seine Auswahl oder Selektion hängt stets von bestimmten impliziten oder expliziten Relevanzkriterien ab, die wiederum auf ideologischen Wertsetzungen gründen, die nicht immer - in Wirklichkeit nur selten - explizit dargestellt und erläutert werden. Dies bedeutet, dass es kaum eine von Ideologien oder Theorien unabhängige Beobachtung gibt: Was relevant, weniger relevant oder irrelevant ist, darüber entscheidet explizit oder implizit die vom Beobachter oder einer Gruppe von Beobachtern bewusst oder unbewusst vertretene Ideologie oder Theorie. Der Beobachter des gesellschaftlichen Lebens, ob er nun Politiker, Journalist oder Wissenschaftler ist, ähnelt einem Fotografen oder Maler, der mitten in einer bunten Landschaft entscheiden muss, worauf er sein Objektiv richten, welchem Eindruck er auf seiner Leinwand den Vorzug geben soll. Stets beherrscht das, was im Mittelpunkt steht, das Gesamtbild, während alles, was an die Ränder verbannt wurde, nebensächlich wirkt oder gar unscharf, verschwommen ist. Während aber die Landschaft, vor allem, wenn es sich um eine Wildnis handelt, keine menschlichen Wertungen erkennen lässt, ist Gesellschaft voller Interessen, Werte, Normen und Konflikte, die den Beobachter oft unmittelbar betreffen und ihn daran hindern, sie mit ähnlicher Distanz zu betrachten wie eine Pappel, einen leeren Strand oder die Weite des Meeres. Er mag zwar Wertsetzungen und Normen beschreiben, ohne sie zu bewerten, aber seiner Selektion und seiner Fokussierung (auf diese und nicht jene Wertsetzung oder Norm) wird stets ideologisch-theoretische Wertung innewohnen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Begründer der Soziologie - Marx, Saint-Simon und Comte - keine neutralen Beobachter waren, die die gesellschaftlichen Zustände sine ira et studio betrachteten, sondern engagierte Denker, die sich bewusst für bestimmte Entwicklungen einsetzten. Vor allem Marx wandte sich als Weggefährte der gesellschaftskritischen und polemisierenden Junghegelianer (Arnold Ruge, Max Stirner, Bruno Bauer u.a.) gegen den staatstragenden Idealismus Hegels und ergriff Partei für das ausgebeutete Proletariat, das mitten im neunzehnten Jahrhundert von der Verelendung bedroht war. <?page no="23"?> Einleitung 7 Im Gegensatz dazu plädierte Saint-Simon, der Marx beeinflusst hat, in Briefen an die französische Regierung für eine Verwaltung der Gesellschaft durch die „Industriellen“ (chefs des travaux industriels) 14 , zu denen Fabrikanten, Ingenieure und Wissenschaftler gehörten. Ihm schwebte als Endziel der gesellschaftlichen Entwicklung ein Sozialismus vor, den Marx als „utopisch“ bezeichnete und verwarf. Saint-Simons Schüler und Freund Auguste Comte, der den sich beschleunigenden Säkularisierungsprozess untersuchte (vgl. Kap. V), setzte sich ebenfalls für die aufgeklärte Herrschaft von Unternehmern, Wirtschaftsexperten und Wissenschaftlern ein. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze verbindet diese drei Denker ein soziales Engagement: für bestimmte Formen des Sozialismus oder eine wissenschaftlich aufgeklärte, humane Gesellschaft. Ein solches Engagement kann blenden und die Theorie, deren Prämissen als Relevanzkriterien und Selektionen stets auf Wertungen gründen, letztlich auf eine Ideologie (als Wertsystem) reduzieren (vgl. Kap. II). Die Industriellen, auf die Saint-Simon alle seine Hoffnungen setzte, verfolgten durchaus partikulare Gruppeninteressen, und Saint-Simons Annahme, dass sie sich im Geiste der Aufklärung spontan für das Gemeinwohl einsetzen würden, wurde enttäuscht, weil sie auf einer ideologischen Blendung gründete. Als noch fragwürdiger erwies sich Marx᾽ Plädoyer für eine „Diktatur des Proletariats“, die aus organisatorischen Gründen nicht verwirklicht werden konnte und später in der Sowjetunion und ihrem Einflussbereich durch die Diktatur einer Partei ersetzt wurde, die Lenin in seinem Buch Staat und Revolution (1918) 15 rechtfertigte. Max Weber, der nicht nur Soziologe, sondern auch Wirtschaftswissenschaftler, Jurist und Politiker war, betrachtete diese Art von Engagement stets mit Sorge und Skepsis. Im ersten und zwölften Kapitel soll erläutert werden, was er sich unter einer wertungs- oder werturteilsfreien Beobachtung der Gesellschaft vorstellte. Das Kernargument seiner „verstehenden Soziologie“ lautet, dass es möglich sein muss, gesellschaftliches Handeln zu verstehen und zu erklären, ohne es zu bewerten. Im ersten und zweiten Kapitel wird sich jedoch zeigen, dass Weber seine Konstruktion der gesellschaftlichen Entwicklung als Rationalisierungsprozess (Kap. XII) u.a. gegen Hegels und Marx᾽ Konstruktionen kritisch-polemisch abgrenzt, so dass von einer „wertungsfreien“ Theorie (sofern diese in ihrer Gesamtheit als Diskurs betrachtet wird) nicht im Ernst die Rede sein kann, zumal diese Theorie auch als - durchaus wertende - Alternative zu den Entwürfen anderer Soziologen (etwa Durkheims) aufgefasst werden kann. 14 Cl.-H. de Saint-Simon, 1 ère opinion politique des industriels. 1 er chant des industriels (Ed. 1821), Paris, Hachette, 1821 (Reprint), S. 199. 15 Vgl. V. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin, Dietz Verlag, 1976, S. 90-93. <?page no="24"?> Einleitung 8 Die von Norbert Elias (Kap. I. 6 und Kap. XIII)) geforderte kritische Distanz zu den Werten, die der eigenen Theorie zugrunde liegen, kann noch am ehesten in einem offenen Dialog mit anderen Ansätzen gewährleistet werden. In diesem Dialog wird der Beobachter der Gesellschaft mitsamt seiner Theorie selbst der kritischen Beobachtung durch andere (konkurrierende) Theoretiker ausgesetzt, so dass es zu einer „Beobachtung zweiter Ordnung“ im Sinne von Niklas Luhmann (Kap. I. 6 und Kap. XV) kommt. Luhmann verknüpft das Beobachten mit dem Erzählvorgang, wenn er bemerkt: „Der Erzähler kommt in dem, was er erzählt, selber vor. Er ist als Beobachter beobachtbar. Er konstituiert sich selbst in seinem eigenen Feld - und daher zwangsläufig im Modus der Kontingenz, also mit Seitenblick auf andere Möglichkeiten.“ 16 Hier wird in drei Sätzen das Programm des theoretischen Dialogs zusammengefasst: In ihm soll zunächst das wertende, ideologische Engagement des Theoretikers auf Metaebene zutage treten. In der Diskussion, im Vergleich oder im „Geistergespräch“ wird er sodann - ebenfalls auf Metaebene - von anderen Theoretikern kritisch beobachtet, so dass die Art seines Beobachtens (seine Relevanzkriterien, Selektionen und Definitionen) besser verstanden wird. Schließlich zeichnen sich Alternativen zu seiner Beobachtung und Erzählung der Gesellschaft ab. 3. Soziologische Theorie als Erzählung Zwischen dem Beobachten und dem Erzählen, dem Verstehen und dem Erklären besteht ein enger Zusammenhang, der im zweiten Kapitel genauer untersucht wird. Vorerst mag es genügen, einige wesentliche Aspekte dieses Zusammenhangs zu beleuchten. Eine grundsätzliche Überlegung zum Verhältnis von Erzählung, Verständnis und Erklärung findet sich in Werner Schiffers Buch Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz, wo es im Anschluss an den britischen Historiker A. C. Danto heißt: „Vor allem Dantos nicht nur geschichts-, sondern auch erzähltheoretisch provozierende Kernthese - die Form der Erzählung sei bereits als solche eine Form der Erklärung - ist bisher nicht genauer auf ihre Tragfähigkeit und Konsequenzen überprüft worden.“ 17 Da die meisten soziologischen Theorien implizit oder explizit Gesellschaft erzählen, ist diese These auch auf sie anwendbar und kann im soziologischen Bereich überprüft und gegebenenfalls konkretisiert werden. Historische, politische und gesellschaftliche Ereignisse oder Entwicklungen können auf sehr verschiedene Arten erzählt werden, und bei 16 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 74. 17 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. <?page no="25"?> Einleitung 9 näherer Betrachtung wird deutlich, dass die „Form der Erzählung“ nicht nur eine „Form der Erklärung“ ist, sondern zugleich auch eine Bewertung der Ereignisse und Ereignisabfolgen beinhaltet. Der Streit um Geschichtsbücher, in denen die Untaten des eigenen Volkes (seiner Regierungen) im Rahmen einer nationalistischen Ideologie beschönigt werden, während die Untaten der Nachbarvölker (ihrer Regierungen) als besonders irrational und grausam erscheinen, veranschaulicht, was gemeint ist. Noch konkreter lassen historische und zeitgeschichtliche Ereignisse erkennen, wie sehr in einer Erzählung Erklärung und Bewertung ineinander greifen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist sicherlich ein äußerst komplexes Ereignis, das auf zahlreiche Faktoren zurückzuführen ist und nicht einfach aus dem Attentat von Sarajewo und aus der darauf folgenden österreichischen Kriegserklärung an Serbien abgeleitet werden kann. Die Tatsache, dass im Vertrag von Versailles (1919) die Kriegsschuld einseitig den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn angelastet wurde, lässt - aus europäischer Sicht - eine ideologische Erzählung erkennen, in der die politisch-militärische Ereigniskausalität monologisch vereinfacht, „erklärt“ wird, um den Siegermächten politische, wirtschaftliche und geostrategische Vorteile zu sichern. So bilden schließlich Erklärung und Bewertung des Kriegsausbruchs ein unentwirrbares Ganzes von Werturteilen, Behauptungen und Teilerzählungen. Nur ein theoretischer Dialog, an dem kompetente Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen teilnehmen, vermag diese Art von Monolog aufzubrechen und sich dem wirklichen Zusammenhang - stets asymptotisch - zu nähern. Hier wird der Unterschied zwischen der von Machtansprüchen motivierten Ideologie und der erkenntnisorientierten Theorie deutlich, der zu den wichtigsten Themen des zweiten und dritten Kapitels gehört. Dass ideologische Erzählungen aus Erzählstrukturen der Theorie hervorgehen können, zeigen die Versuche sowjetischer Regierungen, die militärischen Interventionen in der Tschechoslowakei (1968) und in Afghanistan (1979) zu rechtfertigen. In beiden Fällen lautete das Argument (in Erzählform): Es gelte, die reaktionären Kräfte zu besiegen, um eine sozialistische und demokratische Entwicklung dieser Länder zu ermöglichen. Um der ideologischen Rechtfertigung eine affektive Komponente zu verleihen, wurde der Ausdruck „brüderliche Hilfe“ geprägt. Die Hypothesen, dass es der Sowjetführung im ersten Fall darum ging, eine perestrojka avant la lettre und den Zerfall des Warschauer Paktes zu verhindern, und im zweiten Fall den Einfluss des Islam in den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion (Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan usw.) einzudämmen, wurden monologisch ausgeblendet. Diese ideologische Erzählung der sowjetischen Regierung ist insofern aus der Theorie ableitbar, als der Marxismus, später der Marxismus- <?page no="26"?> Einleitung 10 Leninismus, die gesellschaftliche Entwicklung als einen emanzipatorischen Klassenkampf gegen die reaktionären Kräfte der Bourgeoisie, des Absolutismus und des Feudalismus erzählten. Diese Erzählung, die bei Marx und Engels noch von kritischen, theoretischen Impulsen angetrieben wurde, erstarrte später zu einem ideologischen Monolog, als der Marxismus-Leninismus zur Staatsideologie und zu einem Machtinstrument verkam. Es gehört zu den Hauptaufgaben des Dialogs, das Denken von den Machtansprüchen der Ideologie zu befreien und einer Ideologisierung der Theorie, die, wie dieses Beispiel zeigt, stets möglich ist, entgegenzuwirken (vgl. Kap. II). Eines der Grundprobleme der soziologischen (historischen, politikwissenschaftlichen) Erzählung sind die Relevanzkriterien der Beobachter. Davon zeugen die Auseinandersetzungen um „Moderne“, „Zweite Moderne“ und „Postmoderne“ im sozialwissenschaftlichen Bereich, die vor allem im „Dritten“ und „Vierten Teil“ dieses Buches zur Sprache kommen. Ist die Tatsache, dass moderne Entwicklungen wie Industrialisierung, technischer Fortschritt und Rationalisierung in zunehmendem Maße kritisch reflektiert werden, relevant? Und rechtfertigt sie - wie Ulrich Beck meint (vgl. Kap. XIX) - die Bezeichnung „Zweite Moderne“? Oder ist die zurzeit häufige Verabschiedung des Universalismus (Universalvernunft, Staat, Recht) so wichtig, dass sie, wie Jean-François Lyotard und der britische Soziologe Zygmunt Bauman meinen (vgl. Kap. XX), eher die Bezeichnung „Postmoderne“ für unsere Gesellschaft plausibel erscheinen lässt? Wie wird die heutige Gesellschaft erzählt, und von welchen philosophischen und ideologischen Erkenntnisinteressen werden die einzelnen Erzählungen geleitet? Der von unzähligen Historikern kontrovers konstruierte Erste Weltkrieg, den das Zusammenwirken bekannter und unbekannter Faktoren ausbrechen ließ, und der - stets konstruierte - Übergang von der Moderne zu einer „Zweiten Moderne“ oder zur „Postmoderne“ lassen abermals das schon im ersten Abschnitt angesprochene Problem hervortreten, das mit dem Erzählen zusammenhängt: Soll die Gesellschaft als eine Verkettung individueller oder kollektiver Handlungen oder als Prozess erzählt werden? Schon Saint-Simon war - wohl zu Recht - der Meinung, man sollte die Geschichte der Menschheit nicht als Geschichte von Dynastien auffassen. Für ihn waren - wie später für Marx - die Handlungen von Klassen relevant. Ist aber, wie Marx meint, die menschliche Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen adäquat zu verstehen? Zeigt Emile Durkheim nicht, dass die differenzierende Arbeitsteilung ab einem bestimmten historischen Stadium zur Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklung wird? Auch Luhmann hält Differenzierung als Ausdifferenzierung einzelner sozialer Systeme für den eigentlichen Motor der menschlichen Geschichte. Prozess <?page no="27"?> Einleitung 11 oder Handlung? Das zweite Kapitel wird sich ausführlicher mit dieser Frage befassen. Anders als literarische Gattungen wie Epos, Roman oder Drama, in denen die Handlung auf ein glückliches oder tragisches Ende zustrebt, bieten Philosophie und Soziologie dem Erzähler die Möglichkeit, einen groß angelegten Kreis zu entwerfen und alles von neuem beginnen zu lassen. Während Hegel die Idee des modernen Staates und seiner Sittlichkeit (konkret: des preußischen Staates) für das Ziel der Geschichte hält, meint Nietzsche, in der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ den wahren Kern der auf den ersten Blick undurchschaubaren historischen Dynamik erkannt zu haben. In Übereinstimmung mit Nietzsche entwirft der italienische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Vilfredo Pareto ein zirkuläres Modell der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn er im Gegensatz zu Saint-Simon, Comte und Marx zu zeigen versucht, dass sich diese Entwicklung nicht auf ein rational definierbares Ziel zubewegt (vernünftige, menschliche, klassenlose Gesellschaft), sondern einer Kreisbewegung folgt: Eine Elite, deren soziale und politische Energie erschöpft ist, wird von einer aufstrebenden Elite von der Macht verdrängt. Ist dieser Fall nicht in der Sowjetunion nach 1917 eingetreten? Was würden Marx und die Marxisten zu dieser „nietzscheanischen“ Erzählung sagen? Mit diesen Fragen befasst sich das achte Kapitel. 4. Soziologische Theorie zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne Auch im vorliegenden Buch wird die Entwicklung der Soziologie auf eine bestimmte - durchaus kontingente - Art erzählt oder konstruiert. Ihre Konstruktion, der die Differenzierung von Moderne, Spätmoderne und Postmoderne als relevante Unterscheidung zugrunde liegt, ist alles andere als objektiv, sondern hat heuristisch-hypothetischen Charakter. 18 Ihre erste Erzählsequenz kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Die Zuversicht moderner Soziologen wie Saint-Simon, Comte, Marx und Spencer, dass sich die Gesellschaft von Stadium zu Stadium auf ein historisches Ziel zubewegt, das mit einer aufgeklärten, menschlicheren oder einer von der Klassenherrschaft befreiten Gesellschaft zusammenfällt, geht schon in der Spätmoderne (zwischen 1860 und 1950) verloren. Im Laufe dieser Epoche löst sich die Soziologie, die Comte als erster so bezeichnete, allmählich von der Philosophie ab und wird von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel und Vilfredo Pareto 18 Vgl. Vf., „Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne“, in: S. Moebius, F. Nungesser, K. Scherke (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Bd. II: Theorien - Methoden - Felder, Wiesbaden, Springer VS, 2019, S. 171. <?page no="28"?> Einleitung 12 als eigenständige Wissenschaft etabliert. In Durkheims Dissertation De la division du travail social (1893, dt. Über soziale Arbeitsteilung, 1977) und in seiner empirischen Studie über den Selbstmord (Le Suicide, 1897, dt. Der Selbstmord, 1973) nimmt die Soziologie als Fachwissenschaft klare Konturen an. Es ist eine Wissenschaft der Krise, die bei Durkheim eine Schwächung der gesellschaftlichen Solidarität diagnostiziert und bei Max Weber einen für Europa und Nordamerika charakteristischen Rationalisierungsprozess nachzeichnet, der in eine lähmende Bürokratisierung der Gesellschaft münden könnte. Simmel hebt zwar die Freisetzung des Individuums durch die Geldwirtschaft und das Großstadtleben hervor, beobachtet aber - zugleich mit Alfred Weber - die „Tragödie der Kultur“, die darin besteht, dass der Einzelne mit einer stetig wachsenden Kultur konfrontiert wird, die er sich als endliches Individuum nicht aneignen kann, so dass er letztendlich die Übersicht über die Wissensvorräte seiner Zeit verliert. Schließlich hält Alfred Weber in einer Erzählung „gegen den Strich“ sogar eine „Rebarbarisierung der Kultur“ für möglich, die durch die Unterordnung aller kulturellen Werte und des Menschen selbst unter die zivilisatorischen Imperative des Nutzens und des technischen Fortschritts herbeigeführt wird (vgl. Kap. XIII. 6). Hier ist von Marxʼ und Engelsʼ Zuversicht, dass sich der Kapitalismus als Klassengesellschaft im Interesse aller Menschen überwinden lässt, nichts mehr zu spüren. Auch Comtes von der Aufklärung geerbter Fortschrittsglaube wird desavouiert. Auf formaler oder erzähltheoretischer Ebene ist die Kreisförmigkeit von Paretos Erzählung für die Verfassung der Spätmoderne besonders kennzeichnend. Anders als Durkheim, Simmel, Max Weber und Alfred Weber betrachtet Pareto die gesellschaftliche Entwicklung nicht mit einer Mischung aus Hoffnung und Skepsis, sondern mit den Augen eines pessimistischen Realisten, der jede Art von Glauben an soziale Emanzipation für illusorisch hält. Der Kampf zwischen sozialen Gruppen oder Klassen führt nicht zur Befreiung, denn: „Die Geschichte ist ein Friedhof von Aristokratien.“ 19 Dass auf diesem Friedhof keine Wiedergeburt der Menschheit zu erwarten ist, versteht sich von selbst (vgl. Kap. VIII). Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die auf Emanzipation ausgerichtet ist und in jeder Hinsicht als Negation von Paretos Soziologie betrachtet werden kann, ist dennoch für die Spätmoderne symptomatisch, weil sie die Hoffnung auf eine geschichtsimmanente Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse aufgegeben hat. Insofern kann sie als eine radikale Kritik an Marx und am Marxismus aufgefasst werden. Es kam nicht zur Verwirklichung der Philosophie durch das Proletariat, wie der junge Marx 19 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, München, Finanz-Buch Verlag, 2006, S. 255. <?page no="29"?> Einleitung 13 gehofft hatte, und dieses Scheitern der Revolution kommentiert lapidar der erste Satz von Adornos Negativer Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 20 Die Entwicklung, die zu einer Überwindung der Verhältnisse führen könnte, ist blockiert, und Adorno betraut die kritische Kunst mit der Aufgabe, die bei Marx das revolutionäre Proletariat bewältigen sollte: Sie soll Statthalterin des menschlichen Gesamtsubjekts sein und zusammen mit dem kritisch denkenden Einzelnen das Schlimmste verhüten. Als Erzählung gleicht Adornos Philosophie einer „Dialektik im Stillstand“. Auch Habermasʼ Gesellschaftstheorie ist eher als defensiv zu bezeichnen, wie sich im sechzehnten Kapitel zeigen wird. Habermas lehnt Adornos Ausrichtung der Theorie auf die Negativität der Kunst ab und plädiert stattdessen für einen intersubjektiven, kommunikativen Ansatz, der dazu beitragen soll, die Lebenswelt (E. Husserl, A. Schütz), in der zwischenmenschlichen Verständigung stattfindet, gegen die „sprachlosen“ Systeme Macht und Geld, die die Lebenswelt zunehmend „kolonisieren“, zu verteidigen. In der folgenden Passage, in der Habermas eine „alternative Praxis“ skizziert, die den Systemen „Macht“ und „Geld“ Widerstand leisten soll, ist der defensive Ton der spätmodernen Gesellschaftserzählung kaum zu überhören, zumal das Wort „gegen“ fünfmal wiederholt wird: „Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.“ 21 Die moderne Vorstellung von einer bevorstehenden Befreiung der Gesellschaft von verfestigten Traditionen, Herrschaft, Willkür und Kapitalwirtschaft wird auch hier verabschiedet. Bei Alain Touraine, dem Soziologen des sozialen Handelns (Sociologie de l’action, 1965), gesellt sich zum defensiven Ton eine Erzählung der modernen Gesellschaft als Zerfallsprozess. Seiner Diagnose zufolge zerfällt die Moderne, die bisher vom Staat als Nation zusammengehalten wurde, in vier konkurrierende Sphären: Eros (Sexualität), Konsum, Nationalismus und Wirtschaftsunternehmen. Im Nexus von Wirtschaft und Konsum tritt hier wie bei Habermas die Vorherrschaft des Geldmediums als Tauschwert zutage, die für die gesamte Postmoderne prägend ist. Gegen diese Vorherrschaft, die den Zerfall der Gesellschaft beschleunigt, begehrt das Subjekt auf: „Was man Postmoderne nennt und was ich als extreme Zerfallsform 20 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 13. 21 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 581. <?page no="30"?> Einleitung 14 des rationalisierten Modells der Moderne bezeichnet habe, ist das, wogegen das Subjekt aufbegehrt.“ 22 Mit „Subjekt“ ist hier nicht nur der Einzelne gemeint, sondern auch und vor allem die soziale Bewegung, von der sich Touraine eine Motivierung und Stärkung der Einzelsubjekte erhofft. Frauenbewegungen, Friedensbewegungen und ökologische Bewegungen sollen den isolierten Individuen in ihrem Kampf gegen die Staatsbürokratie und die Wirtschaftskonzerne den Rücken stärken. Touraines Ansatz überschneidet sich insofern mit dem von Habermas, als der französische Soziologe von den Bewegungen, die eindeutig dem Bereich der Lebenswelt zuzurechnen sind, erwartet, dass sie die lebensweltlichen Anliegen gegen die Systeme „Macht“ und „Geld“ verteidigen. Die Geschichte, die hier erzählt wird, wird somit vom Konflikt zwischen dem Staat und der Wirtschaft einerseits und den von den Bewegungen unterstützten Einzelsubjekten andererseits beherrscht. Es wird sich zeigen (Kap. XVII), dass es ein Konflikt mit ungewissem Ausgang ist. Im Gegensatz zu Touraine betrachtet Zygmunt Bauman die Postmoderne nicht als Zerfallserscheinung, sondern als soziale Pluralisierung und Partikularisierung, die er gegen die universalistischen Ansprüche der Moderne verteidigt und vorwiegend mit positiven Konnotationen versieht. Er spricht von der „postmodernen Akzeptanz nicht reduzierbarer Pluralität“ 23 („the postmodern acceptance of irreducible plurality“) 24 und erklärt: „Ohne universelle Maßstäbe besteht das Problem der postmodernen Welt nicht darin, eine überlegene Kultur zu globalisieren, sondern darin, die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis zwischen den Kulturen zu sichern.“ 25 Der Kern von Baumans Erzählung, der „Übergang vom modernen Universalismus zum postmodernen Partikularismus-Pluralismus“, bringt eine Abkehr von den universalistisch konzipierten modernen Soziologien und den ihnen zugrunde liegenden philosophischen Theorien mit sich: von Rationalismus, Positivismus, Hegelianismus und Marxismus. Bauman radikalisiert Adornos und Horkheimers Kritik an diesen Theorien, indem er sie als Machtinstrumente und Anleitungen zur Disziplinierung für die verschiedenen Varianten des Totalitarismus, für Konzentrationslager und Gulags verantwortlich macht. Bei ihm ist die Moderne als ganze negativ konnotiert: Ihre emanzipatorischen Komponenten, die Habermas betont, werden übergangen. 22 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 292. 23 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Argument Verlag, 1995, S. 95. 24 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York (1992), 1993, S. 64. 25 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, op. cit., S. 133. <?page no="31"?> Einleitung 15 In gewisser Hinsicht kommt es bei dem postmodernen Soziologen Jean Baudrillard zu einer Umkehrung der von Bauman konstruierten Verhältnisse. Denn anders als Bauman, der den Markt vorwiegend mit Pluralismus und kultureller Vielfalt assoziiert, meint Baudrillard, im Markt einen Mechanismus zu erkennen, der alle kulturellen Werte - zusammen mit politischen Ideologien und Gesellschaftskritiken - im Tauschwert auflöst (vgl. Kap. XXI). Das Politische als solches löst sich in einer durch den Tauschwert vermittelten Medienwirklichkeit auf, und Baudrillard spricht von einer „Resorption des Politischen“ 26 , die jede Art von Revolte oder Revolution unmöglich macht. So kommt es, dass in seiner Erzählung in apokalyptischem Ton vom „Schluss mit dem großen marxistischen Versprechen“ 27 die Rede ist und schließlich sogar vom „Ende der Geschichte“. 28 Wir sind, wenn man Baudrillard glauben darf, in der (schon von Arnold Gehlen angekündigten) 29 Posthistoire angekommen, in der nichts Neues mehr zu erwarten ist. Obwohl in einem ganz anderen Kontext und aus anderen Gründen als Pareto, nähert auch Baudrillard seine Erzählung Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ an. Als radikale Kritiker der Moderne und der Herrschaftsansprüche ihres Universalismus erscheinen im „Vierten Teil“ dieses Buches Michel Foucault und Michel Maffesoli eher als Geistesverwandte Baumans und nicht als Weggefährten Baudrillards. Vor allem Maffesoli kehrt sich gegen den Fortschrittsglauben der Moderne, den er mit dem Prometheus-Mythos assoziiert (vgl. Kap. XXIII), und sieht eine postmoderne Ära dionysischer Lebenslust heraufziehen, die seiner Meinung nach von Jugendgruppen (Hippies, Rock-Gruppen, Techno-Gruppen) angekündigt wird, an denen sich seine Soziologie orientiert. Auch sie beschreibt gesellschaftliche Entwicklung nietzscheanisch als kreisförmige Bewegung, nicht als linearen Emanzipationsprozess. Insgesamt wird deutlich, dass die linearen, auf ein klar vorgegebenes Ziel gerichteten Erzählungen, die in der Moderne die Gründungsphase der Soziologie prägten, in der Spätmoderne und Postmoderne von skeptischen Erzählungen abgelöst werden, die entweder einen defensiven Charakter annehmen (Habermas, Touraine) oder eine stagnierende Gesellschaft 26 J. Baudrillard, Die göttliche Linke, München, Matthes und Seitz, 1986, S. 19. 27 Ibid., S. 18. 28 Ibid., S. 77. 29 Vgl. A. Gehlen, „Über kulturelle Kristallisation“, in : W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, VCH-Verlag, 1988, S. 141: „Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind (…).“ <?page no="32"?> Einleitung 16 beschreiben, deren Zukunft „verbaut ist“ (Adorno / Horkheimer, Bauman, Baudrillard). Zugleich wird deutlich, dass die Frage, „wie Gesellschaft erzählt wird“, in eine Soziologie der Soziologie mündet, wie sie Pierre Bourdieu in seiner Inaugural-Vorlesung am Collège de France 30 fordert. Der Entwicklung der soziologischen Theorien vom emanzipatorischen Versprechen zu Besorgtheit, Skepsis und Verzweiflung kann ein symptomatischer Wert nicht abgesprochen werden, wie sich in verschieden Kapiteln dieses Buches zeigen wird. Es genügt nicht, soziologische Theorien darzustellen und im Dialog aufeinander zu beziehen. Sie sollen auch - zumindest ansatzweise - im historisch-philosophischen und gesellschaftlichen Kontext erklärt werden. Ihre Erklärung kann nur die Form einer soziologischen Metaerzählung annehmen. Dass diese Erzählung „Von der Moderne zur Spätmoderne, zur Postmoderne“ ihre Kontingenz als nur mögliche Konstruktion oder Hypothese zu reflektieren hat, versteht sich in dem hier entworfenen Zusammenhang von selbst. Sie ist jedoch alles andere als willkürlich, zumal das postmoderne Selbstverständnis von Autoren wie Lyotard, Eco, Baudrillard, Bauman und Maffesoli von der Realität einer postmodernen Problematik zeugt. 30 P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, Paris, Minuit, 1982, S. 54-55. <?page no="33"?> 17 Theoretische Prolegomena Die drei unter dem Titel „Theoretische Prolegomena“ zusammengefassten Kapitel sollen drei komplementäre Fragen beantworten: Wer beobachtet Gesellschaft, und wie wirken sich seine Beobachtungen auf seine Theoriebildung aus? Wer erzählt Gesellschaft, und wie können verschiedene soziologische Erzählungen mit Erkenntnisgewinn aufeinander bezogen werden? Und schließlich: Inwiefern ergänzen Semiotik und Soziologie einander, wenn es gilt, die Konstitution individueller oder kollektiver Subjekte zu beschreiben und ihre Interaktion in Erzählungen besser zu verstehen? Da in der „Einleitung“ schon einiges zu den Schlüsselbegriffen „Beobachtung“, „Theorie als Erzählung“ und „Dialogizität“ gesagt wurde, sollen im Folgenden lediglich die Grundgedanken der drei Kapitel zusammengefasst werden. Beobachtung ist nie ein neutraler, objektiver oder werturteilsfreier Vorgang, sondern hängt immer mit Neigungen und Interessen zusammen. Diese sind nicht nur individuellen (psychischen), sondern auch kollektiven (sozialen, kulturellen, ideologischen) Ursprungs. Sie bewirken, dass eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler nicht alles unterschiedslos beobachtet, sondern bestimmte Selektionen durchführt, die sich auf die ins Auge gefasste Objektkonstruktion („Gesellschaft“, „Schichtung“, „Wissenschaft“ oder „Kunst“) auswirkt. Stets steuern auch kollektive Relevanzkriterien diese Selektionen: Sie entscheiden darüber, was als relevant, weniger relevant oder irrelevant gelten soll. Im Falle von Zeitungen und Zeitschriften, für deren Inhalte Redaktionen zuständig sind, ist der kollektive Charakter von Relevanzkriterien und Selektionen kaum zu übersehen. Aber auch in scheinbar rein individuellen journalistischen oder sozialwissenschaftlichen Abhandlungen machen sich kollektive Wertsetzungen, Normen und Argumentationsmuster bemerkbar. Nicht zufällig schrieb der liberale und individualistisch denkende Herbert Spencer lange Jahre für die britische Wochenzeitschrift The Economist, die bis heute liberales Gedankengut verbreitet (vgl. Kap. IX. 1). Auch kultur- und sozialwissenschaftliche Zeitschriften neigen dazu, Beiträge aufzunehmen, die den ideologischen Denkmustern der Redaktionen entsprechen. Diese Denkmuster, die als Relevanzen und Selektionen sozialwissenschaftlichen Diskursen zugrunde liegen, entscheiden über die Ausrichtung des Diskurses als Erzählung. Diese kann niemals frei von Werturteilen sein, weil sie mit einer besonderen (partikularen und nicht verallgemeinerungsfähigen) Perspektive zusammenfällt. <?page no="34"?> Theoretische Prolegomena 18 Dennoch ist Max Webers Plädoyer für Werturteilsfreiheit in den Sozialwissenschaften (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII. 1) nicht umstandslos von der Hand zu weisen. Will soziologische Theorie nicht in ideologischem Engagement oder gar in platter Propaganda aufgehen und die Fallstricke des Marxismus-Leninismus meiden, muss sie Wege suchen, die zu einer Distanzierung von den eigenen Wertsetzungen und den aus ihnen hervorgehenden Objektkonstruktionen führen. In diesem Sinn wird am Ende des ersten Kapitels nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen sozialem (ideologischem) Engagement und theoretischer Distanzierung als selbstkritischer Reflexion im Sinne von Norbert Elias’ Schrift Engagement und Distanzierung 1 gefragt. Eine solche Distanzierung, so lautet dort die Schlussfolgerung, ist noch am ehesten in einem Dialog heterogener wissenschaftlicher Standpunkte vorstellbar, in dessen Verlauf einander widersprechende Theorien als Erzählungen der Gesellschaft aufeinander bezogen werden. Durch ihre dialogische Zusammenführung als produktive Kollision werden einige ihrer oft unreflektierten Grundannahmen erschüttert und ihre Vertreter zu einer reflektierenden, selbstkritischen Distanzierung angehalten. Diese kann, wie sich im zweiten Kapitel zeigt, zu einer korrigierenden Ergänzung oder Erneuerung, im Extremfall zu einer Aufgabe der Theorie führen. Durch diese dialogische Offenheit für andere Theorien und ihre Gegenargumente unterscheidet sich sozialwissenschaftliche Theorie von der Ideologie. Diese gründet zwar wie die Theorie auf einem Wertsystem und erzählt, ausgehend von diesem Wertsystem, die Wirklichkeit, sie weist aber als Diskurs eine dualistische Struktur auf (hier richtig, dort falsch, hier gut, dort böse), die bewirkt, dass sie sich als Monolog mit der Wirklichkeit gleichsetzt und dadurch Kritik als Gegenargument ausschließt. Im Gegensatz dazu wird Theorie von ihrem eigenen Subjekt als heuristische, nur mögliche Konstruktion aufgefasst, nicht als Abbild der Wirklichkeit. Vom Dialog mit konkurrierenden theoretischen Konstruktionen verspricht sich dieses Subjekt eine reflektierende Erneuerung und Weiterentwicklung seiner Theorie. Es ist der Möglichkeit gewahr, dass eine „Umerzählung“ stets möglich ist und dass das von Adorno favorisierte und vom Dialog begünstigte „Gegen-sich-selbst-Denken“ mit Kreativität einhergeht. Ideologie als monologische Erzählung und Macht- oder Herrschaftsinstrument kommt auch im dritten Kapitel zur Sprache, an dessen Ende das erzähltheoretische Potenzial von Erving Goffmans Handlungssoziologie kommentiert wird. Ohne Erzähltheorien welcher Art auch immer zu erwähnen, zeigt Goffman, wie in psychiatrischen Kliniken und anderen „totalen Institutionen“ die autobiografischen Erzählungen der Insassen in die 1 Vgl. N. Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt, Suhrkamp, 1983. <?page no="35"?> Theoretische Prolegomena 19 dominierende Erzählung der Institution integriert und dadurch „umerzählt“ werden. Durch diese „Umerzählung“ wird dem Selbstverständnis der Insassen (ihrer „Ich-Identität“) ein institutionalisiertes Fremdverständnis gleichsam überstülpt. Das dritte Kapitel in seiner Gesamtheit soll zeigen, dass das Interesse für das alltägliche Erzählen und die Struktur der Erzählung Semiotik und Soziologie miteinander verbindet und dass die Projektion semiotischer Termini wie Aktant, narratives Programm oder Fokalisator in den soziologischen Bereich das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie - vor allem der Handlungssoziologie - sichtbar macht. Auf einer anderen Ebene als Goffman erzählt Mead, dessen Ansatz im ersten Abschnitt des dritten Kapitels kommentiert wird, wie das Individuum als handlungsfähige Instanz im Prozess der Sozialisation durch die Interaktion infraindividueller Instanzen (der Aktanten „I“, „Me“ und „Self“: vgl. Kap. III. 1) zustande kommt und wie es als sozialisierter Erwachsener mit anderen Individuen interagiert. An Mead knüpft Goffman an, wenn er die Interaktion als Sozialisation auf kollektive Aktanten im Sinne von Greimas’ Semiotik ausdehnt. Er zeigt, wie Teams oder Ensembles vom Theater bis zum Hotelpersonal eine Fas sade (front) aufbauen, die es ihnen gestattet, eine dramatisierte Handlungsabfolge zu bewältigen, die stets eine Erzählung im Sinne der Strukturalen Semiotik ist. In Asyle bringt er schließlich die Herrschaftsmechanismen des Erzählens zur Sprache, die im letzten Abschnitt des dritten Kapitels im dialogischen Kontext analysiert werden. <?page no="37"?> 21 I. Wer beobachtet Gesellschaft? Standorte der Theorie zwischen Engagement, Wertfreiheit und Distanzierung Inhaltsverzeichnis 1. Engagement: Marx, die Marxisten und Hegels Erbe 2. Wertfreiheit als Replik auf den Marxismus: Von Max Weber zum Kriti schen Rationalismus 3. Die „freischwebenden Intellektuellen“ Karl Mannheims und die Wertfrei heit: „Der Streit um die Wissenssoziologie“ 4. Die Kritische Theorie als Antwort auf Marx, M. Weber und Mannheim: Engagement, Nichtidentität und Emanzipation 5. Positivismus vs. Konstruktivismus: Von Auguste Comte zum Behavioris mus 6. Engagement, Distanzierung, Beobachtung: Von Norbert Elias zu Niklas Luhmann Schon die Titelfrage enthält ein grundsätzliches Problem, das im Folgenden an entscheidenden Stellen angeschnitten wird. Denn der Beobachter einer Gesellschaft unterscheidet sich vom Beobachter einer Landschaft oder einer Pflanzenwelt dadurch, dass er selbst von seinem „Objekt“ auch beobachtet, interpretiert und bewertet wird: zumal wenn er sich an eine politisch interessierte Öffentlichkeit wendet, die über sein Fach oder über die Wissenschaft als ganze hinausreicht. Dieses Problem, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler es mit Objekten zu tun haben, die zugleich Subjekte sind, die sich selbst, die Wissenschaftler und die Wissenschaft als ganze beobachten, deuten und bewerten, beschäftigt die Soziologie seit ihrer Entstehung. Seit ihrer Entstehung drängen sich dem Soziologen folgende Fragen auf: Soll er versuchen - wie der Geologe, der Astronom oder der Biologe -, möglichst unvoreingenommen zu beobachten und zu registrieren? Soll er sich vornehmen, anhand seiner Beobachtungen Gesetze aus der sozialen Entwicklung oder aus dem Handeln der Akteure herauszulesen? Soll er sich Wertungen oder Werturteile individueller oder kollektiver Akteure zu eigen machen und sich auf ihrer Seite für bestimmte Ziele engagieren? Oder soll er - im Gegenteil - danach streben, sich von allen Wertsetzungen und Wertungen, die er beobachtet und zu verstehen sucht, verstehend zu distanzieren und für einen wertungsfreien oder wertfreien wissenschaftlichen Diskurs sorgen? Wird die letzte Frage bejaht, drängt sich sogleich die Frage nach der Rolle der Kritik auf, die von so verschiedenen Philosophen und Soziologen <?page no="38"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 22 wie Karl R. Popper, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu für den Motor der wissenschaftlichen Entwicklung gehalten wird. Sind eine gesellschaftskritische Einstellung und ein Verzicht auf Wertung nicht unvereinbar? Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird deutlich, dass Engagement und Distanzierung (im Hinblick auf Wertungen) einander möglicherweise nicht ausschließen, weil beide für die wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich sind. Dem Verb beobachten wohnt nicht nur das Problem der Parteinahme bzw. der Neutralität (als Werturteilsfreiheit oder Wertfreiheit) inne, sondern auch das Problem der theoretischen Perspektive, dem die Überlegung zugrunde liegt, dass von jeder Theorie andere Tatsachen wahrgenommen und auf spezifische Art konstruiert werden. Von den zahlreichen Theorien, die in verschiedenen Wissenschaften miteinander konkurrieren, behauptet jede implizit oder explizit, den richtigen Standpunkt oder die wahre Perspektive zu vertreten. Aber schon dem Ausdruck „wahre“ oder gar „objektive Perspektive“ haftet Widersinn an, weil jede Perspektive nur eine Teilansicht ist: „Betrachtungsweise oder -möglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus“ (Duden). Entscheidend ist der nur mögliche oder kontingente Charakter der Perspektive, den Nietzsche hervorhob, als er schrieb „daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (…), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind (…).“ 1 An diesen Gedankengang knüpft Simon Jander an, wenn er bemerkt: „Jede Erkenntnis, jede Theorie, jede ‚Wahrheit‘ ist eine spezifische Auslegung, eine perspektivische Interpretation der Welt und somit von vornherein fragwürdig und relativ.“ 2 Im Rahmen des dialogischen Ansatzes, der hier vertreten wird, nimmt das Wort „fragwürdig“ außer einer negativen auch eine positive Bedeutung an: Die Theorien, die im Folgenden eine Rolle spielen, sind würdig, sind es wert, auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt zu werden. Die Auseinandersetzung mit ihnen soll zwar nicht zu einer statischen, objektiven Wahrheit im metaphysischen Sinne führen, sie soll aber neue Erkenntnisse und Wahrheitsmomente zeitigen, an denen man vorläufig, heuristisch festhalten kann - bis sie von der wissenschaftlichen Entwicklung überholt werden. Die folgenden Kommentare zu den Begriffen „Engagement“, „Wertfreiheit“ und „Distanzierung“ werden in den Kapiteln IV (Hegel, Marx), XII (M. Weber) und XIII (N. Elias) in anderen Kontexten wieder aufgegriffen und 1 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 497. 2 S. Jander, „Zwischen Auflösung und Setzung: Nietzsches Perspektivismus und die Reflexionsbewegungen in der Essayistik der Moderne“, in: W. Braungart, K. Kaufmann (Hrsg.), Essayismus um 1900, Heidelberg, Winter, 2006, S. 145. <?page no="39"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 23 konkretisiert. Möge die dadurch entstehende Redundanz zu ihrem besseren Verständnis beitragen. Im Zusammenhang mit dem Stichwort „Engagement“ können zwei grundsätzliche Einstellungen von Beobachtern unterschieden werden: Engagement für die Bewahrung des Bestehenden (Hegel) und Engagement für dessen Umgestaltung (Marx, Touraine, feministische Theorien). 1. Engagement: Marx, die Marxisten und Hegels Erbe Hegel und Marx als Hegelianer unterscheiden sich vom spätmodernen Skeptiker Nietzsche wesentlich dadurch, dass sie nicht „perspektivisch“ denken, sondern an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis festhalten. Gegen Kant, der Erkenntnis für einen subjektiven Prozess hält, der an die menschliche (subjektive) Wahrnehmung von Raum und Zeit gebunden ist, so dass wir die Dinge nicht „an sich“ - d.h. objektiv - sondern nur als „für uns seiend“ erkennen können 3 , verteidigt Hegel die Möglichkeit objektiver Erkenntnis: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ 4 Dies bedeutet: Wenn wir den historischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang verstehen, können wir die Wirklichkeit als sinnvolle Totalität objektiv erkennen. Kant wirft er vor, dass er Subjekt und Objekt trennt und die objektive Wirklichkeit als „Ding an sich“ der subjektiven Erkenntnis entzieht: „Die ganze Erkenntnis bleibt [bei Kant] innerhalb der Subjektivität stehen, und drüben ist als Äußeres das Ding an sich.“ 5 Hegels Anspruch, Erkenntnis und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt identifizieren zu können, hat weitreichende politische Folgen. Indem Hegel behauptet, in seinem philosophischen System die Weltvernunft und ihren Gang durch die Geschichte wiederzugeben, identifiziert er seinen Diskurs als Erzählung mit der gesellschaftlichen Entwicklung und postuliert deren vernünftigen Charakter. Dadurch kommt eine Konstruktion der „Vernunft als vorhandener Wirklichkeit“ 6 zustande, die auf eine Apologie der herrschenden Verhältnisse hinausläuft. Wer vernünftig ist, akzeptiert diese Verhältnisse als rational und notwendig und versöhnt sich mit ihnen: „(…) Diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, 3 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1998, S. 120: „ (…) Das transzendentale Objekt aber bleibt uns unbekannt.“ 4 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Werke, Bd. XX, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 350. 6 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 26. <?page no="40"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 24 an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen (…).“ 7 Das heißt: Wer die soziale Wirklichkeit als unvernünftig, ungerecht oder unvollkommen kritisiert, hat sie nicht begriffen. Semiotisch ausgedrückt: Wer die von Hegels Diskurs konstruierte Wirklichkeit nicht akzeptiert, ist irrational und verdient nicht die Bezeichnung „Philosoph“. Das Hegelsche Denken ist weit von Nietzsches Perspektivismus und von jeder Art des konstruktivistischen Bewusstseins entfernt. Fazit: Hegel engagiert sich politisch auf Seiten der Herrschenden, konkret auf Seiten des preußischen Staates, dem er als Beamter und Hochschullehrer diente und dessen Sittlichkeit er für die ultima ratio historischer Entwicklung hielt. Dies durchschaute der junge Marx, als er für eine Umkehrung der Perspektiven und eine Revolutionierung der „unvernünftigen Wirklichkeit“ 8 plädierte. Über den vernünftigen oder unvernünftigen Charakter der Wirklichkeit entscheidet freilich der Standpunkt des Beobachters sowie sein Diskurs, der als Erzählung der Wirklichkeit von diesem Standpunkt aus - zumeist teleologisch auf ein Ziel (telos) hin - gesteuert wird. Anders als Hegel beruft sich Marx nicht auf die Staatsräson als Verkörperung des „Weltgeistes“ und der dem historischen Prozess innewohnenden Vernunft, sondern auf das Bewusstsein der sozialen Klasse, die unter der Ausbeutung menschlicher Arbeit im Kapitalismus am meisten leidet: auf das Proletariat. Von ihm erwartet er die Überwindung der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse in der klassenlosen Gesellschaft, die in seinem Diskurs gleichsam als Endziel der historischen Entwicklung (d.h. seiner Erzählung) an die Stelle von Hegels bürgerlichem Staat tritt. Marx᾽ theoretisches Engagement besteht darin, dass er sein Denken, seine materialistische Dialektik auf das Kollektivbewusstsein des revolutionären Proletariats gründet, das ihm zum neunen historischen Subjekt wird, welches Hegels idealistische Konstruktion eines „Weltgeistes“ als Subjekt der Geschichte ersetzt. Die folgende Passage lässt ein Engagement erkennen, welches das Schicksal der materialistischen Philosophie mit dem der revolutionären Klasse verknüpft: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen (…).“ 9 Diese Formulierung deutet an, dass es sich bei Marx keineswegs um eine einfache materielle Überdeterminierung des Geistigen durch das Materielle, des „Überbaus“ durch die „Basis“ handelt, sondern um eine Wechselbeziehung im Rahmen einer Art von „Wahlverwandtschaft“. (Vgl. weiter unten Max Webers Kritik an Marx.) 7 Ibid., S. 27. 8 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 74. 9 Ibid., S. 223. <?page no="41"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 25 Diese Bindung des Denkens an die materiellen Interessen einer revolutionären Klasse hat Marx veranlasst, im Vorwort zum ersten Band von Das Kapital, seine Vorgehensweise als eine Umkehrung der Hegelschen Philosophie darzustellen: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil.“ 10 Diese Einschätzung, die durchaus ihre Berechtigung hat, wird in den meisten Kommentaren zu Marxʼ Werk wiederholt, erläutert und konkretisiert. Dabei wird übersehen, dass sich Marx auf diskursiver Ebene keineswegs von Hegel gelöst hat, im Gegenteil: Wie Hegel identifiziert er seinen Diskurs mit der historischen Wirklichkeit, indem er ihn mit dem avanciertesten historischen Bewusstsein, dem des Proletariats, verbindet. Freilich hat er dieses Bewusstsein anhand wirklicher Ereignisse selbst konstruiert. Weit davon entfernt, sich Nietzsches Perspektivismus zu eigen zu machen und seine Theorie als ein Ensemble von möglichen Hypothesen aufzufassen, behauptet er, die historische Wahrheit zu besitzen. Dadurch verwandelt er seinen Diskurs in einen Monolog, der die dialogische Auseinandersetzung mit theoretischen Gegenentwürfen vorab ausschließt (vgl. Kap. II). Dieser Wille, Denken und Sein, Diskurs und Wirklichkeit, Theorie und Praxis monologisch zu identifizieren, tritt in Georg Lukácsʼ von Hegels und Marxʼ Dialektik geprägtem Frühwerk Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) besonders krass in Erscheinung. Aufgrund seiner historischen Stellung als revolutionäres Subjekt der Geschichte erscheint das Proletariat dem Hegelianer und Marxisten Lukács als dem Bürgertum kognitiv weit überlegen: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere (…).“ 11 Selbst wenn man diese Behauptung akzeptiert, wird man wissen wollen, wer die „Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt“ (jedoch keinesfalls von selbst), definiert oder (re-)konstruiert. Lukács kennt in dieser Hinsicht keine Zweifel; ihm erscheint „der Marxismus als wissenschaftlicher Standpunkt des Proletariats“. 12 Im Laufe der Jahrzehnte haben allerdings so viele verschiedene, miteinander verfeindete „Marxismen“ diesen Standpunkt gedeutet und revidiert 13 , dass sich Nietzsches Perspektivismus gleichsam von selbst durchgesetzt hat. 10 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S. 12. 11 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1970, S. 288. 12 Ibid., S. 308. 13 Vgl. R. Aron, Marxismes imaginaires. D’une sainte famille à l’autre, Paris, Gallimard, 1970. <?page no="42"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 26 Nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem das revolutionäre Proletariat in die kapitalistische Gesellschaftsordnung größtenteils integriert worden war, sahen sich Marxisten wie Lucien Goldmann, André Gorz und Serge Mallet gezwungen, das marxistische Engagement neu zu definieren, und zwar im Hinblick auf die Entstehung einer neuen Arbeiterklasse, einer nouvelle classe ouvrière, der sie eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse durch das Erzwingen radikaler Sozialreformen (etwa der Arbeiterselbstverwaltung) zutrauten. „Ich glaube“, bemerkt Goldmann, „dass wir uns an dieser neuen Mittelschicht von Angestellten (nouvelle couche moyenne salariée), an dieser neuen Arbeiterklasse, orientieren sollten.“ 14 Die Ausrichtung des marxistischen Diskurses mag sich - aus gesellschaftlichen Gründen - geändert haben, nicht jedoch seine monologische Strukturierung, die damit zusammenhängt, dass sich dieser Diskurs die Interessen bestimmter sozialer Akteure zu eigen macht und behauptet, in deren Perspektive die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit (als sinnvolle Totalität) 15 richtig begreifen zu können. Die Frage, was geschieht, wenn sich herausstellt, dass es diese „neue Arbeiterklasse“ als selbstbewusst handelnde Instanz nicht gibt, darf in einem derart strukturierten Diskurs nicht aufkommen. Engagement als theoretischer Standpunkt ist auch außerhalb des Marxismus anzutreffen. So versucht beispielsweise der französische Soziologe Alain Touraine, der meint, dass die soziale Bewegung die Klasse als Agens der Geschichte abgelöst hat 16 , den Standpunkt fortschrittlicher sozialer Bewegungen einzunehmen. Es sei die Aufgabe der Intellektuellen, bemerkt er in Critique de la modernité, „ein Bündnis zwischen dem Subjekt [als Bewegung] und der Vernunft“ 17 zu ermöglichen. Sollen sich aber Sozialwissenschaftler als kritische Intellektuelle auf Seiten von sozialen Bewegungen engagieren? Diese Frage wird im siebzehnten Kapitel noch einmal aufgeworfen. Feministische Sozialwissenschaftlerinnen wie Françoise Gaspard, die bisweilen aus den von Touraine aufgewerteten Bewegungen hervorgehen 18 , wären nicht abgeneigt, diese Frage zu bejahen. Politisches Engagement und wissenschaftliche Erkenntnis, würden sie sagen, schließen einander nicht aus. Sind aus feministischer Sicht Diskriminierung von Frauen, asymmetrische Machtverteilung und die Anwendung von symbo- 14 L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 170. 15 Vgl. M. Jay, Marxism and Totality. The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley-Los Angeles, Univ. of California Press,1984, S. 102-127. 16 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 282. 17 Ibid., S. 420. 18 Vgl. F. Gaspard, „Le sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le sujet. Autour d’Alain Touraine, Paris, Fayard, 1995, S. 144-148. <?page no="43"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 27 lischer Gewalt nicht eher erkennbar als im Rahmen von etablierten soziologischen Theorien, deren Struktur möglicherweise einen männlichen bias aufweist? Staatsräson, Klasse, Bewegung, Ideologie: Gibt eine Theorie der Gesellschaft, die wertend Partei ergreift, nicht vorab die Möglichkeit preis, soziale Zusammenhänge verstehend zu erklären? Verurteilt sie sich nicht selbst dazu, anachronistisch zu werden, sobald die Staatsräson als Illusion durchschaut wird, der Klassenkampf erlahmt, die Bewegung sich auflöst und die diskreditierte Ideologie ihre Anziehungskraft verliert? 2. Wertfreiheit als Replik auf den Marxismus: Von Max Weber zum Kritischen Rationalismus Max Weber, der mit Marxʼ Werk gut vertraut war, hat eine verstehende Soziologie entworfen (vgl. Kap. XII), die versucht, gesellschaftliche Erscheinungen verstehend zu erklären, ohne sie zu bewerten. Obwohl sein Ansatz so breit angelegt und so vielseitig ist, dass er als bloße „Replik auf Marx“ grob vereinfacht und dadurch missverstanden werden müsste, kann sein Plädoyer für Wertfreiheit oder Werturteilsfreiheit durchaus als Alternative zum hegelianischen Marxismus aufgefasst werden, der sich, wie sich gezeigt hat, mit der historischen Immanenz, d.h. mit dem sich in der Geschichte entfaltenden Sinn und den ihn verwirklichenden Kräften, identifiziert. Webers Ansatz kann auch als Alternative zu allen soziologischen Theorien aufgefasst werden, die sich vom politisch-ideologischen Engagement leiten lassen und auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit Kritik und Veränderungswillen reagieren (z.B. Touraines Handlungssoziologie, feministische Soziologie, Kritische Theorie). Im Anschluss an Max Weber wird Wertfreiheit allgemein definiert als „die Forderung nach Objektivität, nach interesseloser, reiner Wirklichkeitsaussage, nach sauberer Trennung von Seins- und Sollens-Aussagen in der sozialwissenschaftl. Forschung und Theoriearbeit“. 19 Weber selbst unterscheidet in seinem richtungweisenden Aufsatz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“ Wertung und Wertbeziehung: „Es sei nur daran erinnert, daß der Ausdruck ‚Wertbeziehung‘ lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ‚Interesses‘ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.“ 20 19 K-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 965. 20 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973, S. 277. <?page no="44"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 28 Diese Unterscheidung veranschaulicht Leo Strauss, wenn er schreibt: „Weber bestand aber nicht weniger nachdrücklich auf dem grundlegenden Unterschied zwischen ‚Wertbeziehungen‘ und ‚Werturteilen‘: wenn man z.B. sagt, etwas sei im Hinblick auf die politische Freiheit bedeutsam, dann nimmt man weder für noch gegen die politische Freiheit Stellung.“ 21 Schon an dieser Stelle drängt sich im Zusammenhang mit dem unscheinbaren Wörtchen „etwas“ die Frage auf, ob die Feststellung „Privateigentum ist für die politische Freiheit bedeutsam“ als wertfrei gelten kann. Und: Wer definiert „politische Freiheit“? Anders gesagt: Den Wertbeziehungen als Einstellungen zu bestimmten Werten und als Selektionen von Werten, die zum Gegenstand einer soziologischen Analyse gemacht werden, liegen Bewertungen zugrunde. Folgende Fragen kommen auf: Warum werden diese Wertsetzungen und diese besonderen Aspekte der Wertsetzungen untersucht und nicht andere? Gibt es eine wertfreie Selektion? Weber selbst verdeutlicht seinen Wertfreiheitsbegriff im Zusammenhang mit dem Charisma und der charismatischen Herrschaftsform (vgl. Kap. XII. 4), die auf außergewöhnlichen oder gar „übernatürlichen“ Eigenschaften und Vorzügen eines Menschen gründet. Die Tatsache, dass das Auftreten eines solchen Menschen, etwa eines Schamanen, eines Propheten oder eines Politikers, „vom Standpunkt der Wertung“, wie Weber es ausdrückt, „als plumper ‚Schwindel‘“ 22 erscheinen mag, ist unerheblich: „Allein darnach fragt die Soziologie nicht: der Mormonenchef ebenso wie jene ‚Helden‘ und ‚Zauberer‘ bewährten sich in dem Glauben ihrer Anhänger als charismatisch Begabte.“ 23 Es geht folglich um die Rekonstruktion des sozialen Verstehens der beteiligten Akteure sowie um den Nachvollzug ihres Selbstverständnisses. Wenn nun Weber drei Grundtypen der Herrschaft unterscheidet, nämlich die legale Herrschaft, deren reinster Typus die Bürokratie ist, die traditionale Herrschaft im Sinne des Patriarchats sowie die charismatische Herrschaft, so stellt er sich drei „reine Typen der legitimen Herrschaft“ 24 vor, die zugleich Idealtypen oder aus der empirischen Wirklichkeit 21 L. Strauss, „Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten (1953)“, in: H. Albert, E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1979, S. 74. Vgl. auch: G. Oakes, „Rickerts Wert/ Wertungs-Dichtomie und die Grenzen von Webers Wertbeziehungslehre“, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 155, wo Oakes feststellt, dass Weber „eine Sphäre rein theoretischer Wertbeziehungen ausweist, die unabhängig von jedweder Wertung besteht“. 22 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/ 22-4 (Hrsg. E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 132. 23 Ibid. 24 M. Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 151. <?page no="45"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 29 gleichsam extrapolierte und herausgehobene Konstruktionen sind. „Er zeigte den Idealtypus als heuristische Konstruktion“ 25 , erläutert Ute Gerhardt den Sachverhalt. Eine solche Konstruktion kommt als wissenschaftliches Modell in der sozialen Wirklichkeit zwar nicht vor, soll aber (im vorliegenden Fall) das Verständnis tatsächlich vorhandener Formen „legitimer Herrschaft“ erleichtern. Die Bezeichnung „legitim“ ist kein Werturteil, sondern bezieht sich auf den Umstand, dass eine bestimmte Herrschaftsform von den Beherrschten als legitim im Sinne der charismatischen Autorität, der Tradition oder der Rechtsstaatlichkeit aufgefasst und anerkannt wird. Auch in diesem Fall geht es also darum, das Selbstverständnis und das sinnvolle Handeln der Akteure verstehend nachzuvollziehen - ohne es zu bewerten. Dies gilt auch für Webers Studien, die unter dem Titel Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus erschienen sind. In ihnen soll gezeigt werden, wie die protestantische - vor allem calvinistische - Prädestinationslehre eine „innerweltliche (also nicht auf das Jenseits ausgerichtete) Askese“ zeitigt, die eine zugleich asketische und im wirtschaftlichen Sinne rationale Lebensführung entstehen lässt, die auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass der Protestant seinen wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen für „Gottes Gnade“ oder die „certitudo salutis“ 26 deutet. Dazu heißt es bei Weber: „Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung. Dieser asketische Lebensstil aber bedeutet eben (…) eine an Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.“ 27 Diese rationale Lebensgestaltung, die sich vor allem im Nordwesten Europas und in Nordamerika durchsetzt, erklärt die rasche Entfaltung und den Erfolg des Kapitalismus in diesen Weltregionen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Webers Aufsätze zur „protestantischen Ethik“ dialogisch (im Sinne von Bachtin: vgl. Einleitung) als Replik auf Marxʼ Kapitalismuskritik aufzufassen sind, die Weber als unzulässige Vereinfachung erscheint. Daher reagiert er (wieder vereinfachend: s.o.) „auf die Vorstellung des naiven Geschichtsmaterialismus, daß derartige ‚Ideen‘ als ‚Widerspiegelung‘ oder ‚Ueberbau‘ ökonomischer Situationen ins Leben treten (…).“ 28 Er wirft „die Frage nach der Wirkung von Ideen in der Geschichte“ 29 auf, wie Wolfgang Schluchter es ausdrückt, und beantwortet 25 U. Gerhardt, Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 231. 26 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013, S. 171. 27 Ibid., S. 181. 28 Ibid., S. 79. 29 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 230. <?page no="46"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 30 sie, indem er die aktive Rolle der Idee hervorhebt. Zugleich versucht er, diese Rolle als Selbstverständnis der Akteure verstehend-wertfrei zu rekonstruieren. Gegen eine solche Rekonstruktion ist nichts einzuwenden, zumal auch hier versucht wird, Webers Selbstverständnis - zumindest teilweise (vgl. Kap. XII) - zu rekonstruieren, ohne es gleich zu bewerten. Zum Abschluss soll jedoch gezeigt werden, dass der Werturteilsfreiheit enge Grenzen gesetzt sind: 1. weil in den Sozialwissenschaften das Selbstverständnis der Akteure und das Fremdverstehen durch den Wissenschaftler oft auseinanderklaffen, so dass engagierte Kritik (Wertung) unvermeidlich wird; 2. weil das Vokabular und die Semantik der Sozialwissenschaften nie ideologiefrei, sondern stets mit ideologischen Werturteilen befrachtet sind; 3. weil der sozialwissenschaftliche Diskurs als „Erzählung“ (d.h. als semantische, syntaktische und narrative Struktur: vgl. Kap. II) eine zumeist nichtreflektierte Ideologie artikuliert, die auf Werturteilen gründet. Es ist zwar stets möglich, das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen (etwa in der Psychoanalyse, der Anthropologie oder der Soziologie) wertfrei zu rekonstruieren, so dass die Betroffenen selbst sich mit dieser Rekonstruktion einverstanden erklären könnten, aber der Sozialwissenschaftler oder Psychologe kann es sich nicht auf naive Art zu eigen machen. Wenn sich beispielsweise eine politische Partei (etwa die österreichische FPÖ) selbst als „freiheitlich“ bezeichnet, in Wirklichkeit aber nationalistisches, antieuropäisches und rechtsradikales Gedankengut propagiert, so kann der Sozialwissenschaftler diese Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und politischem Handeln nicht einfach übergehen oder sich das ideologische Selbstverständnis dieser Partei gar aneignen. Diese Spannung zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen hat auch Weber Probleme bereitet, und Jürgen Kaube ist wohl zuzustimmen, wenn er zu Weber bemerkt: „Auch den Soziologen schärft er dabei noch einmal ein, ihre eigenen Werte aus der wissenschaftlichen Forschung herauszuhalten. Er hält sich freilich selbst nicht an diese Maßgabe und lässt seine Wertungen auf eine fast raffinierte Art in seine Untersuchungen einfließen.“ 30 Es geht wohl nicht anders 31 , denn das Vokabular, das Weber verwendet, ist eher der Aufklärung sowie Kants Philosophie und Heinrich Rickerts 30 J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin, Rowohlt, 2014 (3. Aufl.), S. 338. 31 Vgl. W. J. Mommsen in: „Max Weber und die Welt von heute. Eine Diskussion mit Wilhelm Hennis, Wolfgang J. Mommsen und Pietro Rossi“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, München, DTV, 1988, S. 204-205. <?page no="47"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 31 neukantianischem Idealismus 32 verpflichtet als Hegels Dialektik oder dem Marxschen Materialismus, gegen den Weber polemisiert. Kann man wertfrei polemisieren? Allgemein ist festzustellen, dass das Vokabular der Sozialwissenschaften nie ideologiefrei ist. Daher wird ein Begriff wie Pierre Bourdieus wissenschaftliches Feld (champ scientifique) 33 längst nicht von allen Soziologen anerkannt und verwendet - im Gegensatz zu der linguistisch verwandten Metapher magnetisches Feld, die von keinem Physiker auf der Welt beanstandet wird. Dieses Argument ist auch auf die Konstruktion von Idealtypen (traditionale Herrschaft, legale Herrschaft, charismatische Herrschaft oder Kapitalismus) anwendbar. Zum letzteren als Idealtypus bemerkt Andrew M. Koch: „For example, does the ideal-type of capitalism contain ‚market pricing‘ and ‚double entry bookkeeping‘ or does it contain ‚the creation of surplus value‘ and the ‚appropriation of labor-time from the work force by the owning class‘? Both indicators can be empirically verified in study. The place for ‚warring gods’ is secured.“ 34 Koch zeigt hier, dass konkurrierenden Definitionen des „Kapitalismus“ Wertungen eingeschrieben sind, die auch dem Vokabular innewohnen (dies gilt auch für Definitionen von Begriffen wie „Sozialismus“, „Demokratie“ oder „Kunst“). Kurzum, ideologisches Vokabular und ideologische Interessen dringen nicht nur in den theoretischen Diskurs ein, sondern auch in dessen Definitionen und Objektkonstruktionen als „Idealtypen“. Der kritische Rationalist Hans Albert versucht auf sehr fragwürdige Art, das Wertfreiheitspostulat im sozialwissenschaftlichen Bereich zu legitimieren, wenn er über die These, „daß eine Neutralisierung der sozialwissenschaftlichen Sprache nicht möglich sei“, schreibt: „Diese These kann heute eigentlich nur noch eine gewisse Plausibilität für diejenigen haben, die bereit sind, mehr als die Hälfte der modernen sozialwissenschaftlichen Literatur zu übersehen. Sie kommt dem alltäglichen Wertplatonismus des Alltagsdenkens entgegen, nimmt aber keine Rücksicht auf die Tatsache, daß im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften eine Disziplin nach der anderen - beginnend mit den physikalischen und den mathematischen Disziplinen - aus dem Bereich der wertenden Betrachtung in den der wertfreien Analyse übergegangen ist.“ 35 32 Vgl. R. Münch, „Verstehende Soziologie: Max Weber“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2008, S. 143-144. 33 Vgl. P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, Kap. II: „Un monde à part“. 34 A. M. Koch, Romance and Reason. Ontological and Social Sources of Alienation in the Writings of Max Weber, Lanham-Oxford-New York, Rowman and Littlefield-Lexington Books, 2006, S. 87. 35 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1980, S. 64. <?page no="48"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 32 Diese Passage ist aufschlussreich, weil sie erkennen lässt, wie in den Sozialwissenschaften auf rhetorischem Wege Probleme umgangen werden können: Erst ist von den Sozialwissenschaften die Rede („mehr als die Hälfte…“); dann wechselt der Diskurs unvermittelt und (vielleicht) unbemerkt in den „physikalisch-mathematischen“ Bereich über. Damit ist das Problem der Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften natürlich nicht gelöst. 36 Webers Art, Gesellschaft zu erzählen, zeigt indessen, dass der soziologische Diskurs als Erzählstruktur alles andere als neutral oder wertfrei ist. Vom traditionssprengenden Charisma heißt es etwa in Wirtschaft und Gesellschaft: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ 37 Was ist an diesem Satz wertfrei? Implizit wird hier - mit einem polemischen Seitenblick auf Hegel, Marx und möglicherweise Pareto - behauptet, dass nicht Kollektive als Nationen, Klassen oder Eliten für soziale Umwälzungen verantwortlich sind, sondern „charismatische“ Individuen. Webers Erzählung gründet auf einer spätliberalen, individualistischen und von Nietzsches Vorstellung des Übermenschen beeinflussten 38 Ideologie, die das individuelle Handeln in den Vordergrund treten lässt und die kollektiven Akteure von der Weltbühne verdrängt. Deren Marginalisierung ist keineswegs wertfrei - ebenso wenig wie die Aufwertung individuellen Handelns im Charisma (vgl. Kap. XII). 3. Die „freischwebenden Intellektuellen“ Karl Mannheims und die Wertfreiheit: „Der Streit um die Wissenssoziologie“ Karl Mannheims Wissenssoziologie könnte insofern als eine Konkretisierung von Webers Wertfreiheitspostulat aufgefasst werden, als Mannheim die Frage nach dem Standort, von dem aus Gesellschaft beobachtet wird, neu stellt. Dabei knüpft er an Nietzsches Perspektivenproblematik an, die er soziologisch umdeutet. Er geht von dem Gedanken aus, dass alle Perspektiven, die Menschen (auch als Wissenschaftler) einnehmen, ideologisch sind und spricht von einem totalen Ideologiebegriff, der kein „falsches 36 Den entgegengesetzten Standpunkt nimmt Johann August Schülein ein, wenn er zur Differenz zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften bemerkt: „Während beispielswiese Schrödingers Gleichungen von allen Physikern gleich verstanden werden, bleibt es offen, wie Luhmanns Theorie ‚ökologischer Kommunikation‘ genau zu verstehen ist (…) und wie sie zu bewerten ist (…).“ J. A. Schülein, Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlichen Erkennens, Weilerswist, Velbrück, 2002, S. 23. 37 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 139. 38 Vgl. G. A. Di Marco, Marx, Nietzsche, Weber. Gli ideali ascetici tra critica, genealogia, comprensione, Neapel, Guida, 1984, S. 184-215. <?page no="49"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 33 Bewusstsein“ bezeichnet - wie im Marxismus -, sondern die „Seinsgebundenheit des menschlichen Denkens“ 39 : die Tatsache, dass jeder aufgrund seiner besonderen Position in der Gesellschaft nur einen partikularen Standpunkt einnehmen kann. 40 Wie Max Weber liegt auch Mannheim viel daran, die miteinander konkurrierenden und kollidierenden Wertungen und ideologischen Perspektiven oder Aspektstrukturen in den Sozialwissenschaften zu überwinden und einen neutralen Standpunkt jenseits aller Wertungen, Aspektstrukturen oder Ideologien im allgemeinen Sinn einzunehmen. In seinem bekannten Werk Ideologie und Utopie (1929) spricht er auch von einem „wertfreien Ideologiebegriff“ 41 , um anzudeuten, dass alle Perspektiven, auch die eigene, ideologisch sind. Er versucht, zwischen den divergierenden ideologischen Aspektstrukturen zu vermitteln, um eine objektive Gesamtansicht zu ermöglichen, einen wertfreien Standpunkt jenseits der „Perspektiven“: „Die meisten unserer Darlegungen bewegen sich ganz spontan in der Richtung einer Neutralisierung der Seinsgebundenheit im Sinne des sich darüber Erhebens.“ 42 Diese „Neutralisierung“ ist ein Versuch, Webers Wertfreiheitspostulat in den Sozialwissenschaften mit neuem Leben zu erfüllen. Dazu bemerkt Mannheim selbst: „Ich trachte also - um es kurz zu sagen - den Grundwillen zur Wertfreiheit noch einmal zu verlebendigen.“ 43 In ihrer Einleitung zu Mannheims Konservatismus-Buch kommentieren David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr: „Seine eigentliche Vorliebe, zu der er sich stolz bekannte, galt der für das wissenschaftliche Arbeiten unabläßlichen Werturteilsfreiheit.“ 44 Worin besteht nun Mannheims Erneuerungsversuch? Er besteht darin, dass er eine soziale Gruppierung entdeckt (konstruiert), deren Mitglieder so kritisch und selbstkritisch sind und in so allgemeinen Kategorien denken, dass sie in der Lage sind, gleichsam über ihren Schatten zu springen, über die Grenzen ihrer Ideologie oder „Aspektstruktur“ hinauszugehen und zwischen den partikularen „Aspektstrukturen“ zu vermitteln. Diese Gruppierung bezeichnet er im Anschluss an Alfred 39 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke, 1978 (6. Aufl.), S. 237. 40 In ihrem Buch über Mannheim sprechen David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr von „einer mit kollektiven Lebensformen verbundenen Denkweise“. Vgl. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 74. 41 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 75. 42 Ibid., S. 259. 43 V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), „Diskussion über ‚Die Konkurrenz‘“, in: Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. I: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 401 („Schlußwort von Dr. Mannheim“). 44 D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, „Mannheim und der Konservatismus. Über die Ursprünge des Historismus“, in: K. Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (Hrsg. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr), Frankfurt, Suhrkamp,1984, S. 34. <?page no="50"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 34 Weber, den Bruder Max Webers, als die freischwebende Intelligenz: „Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose Schicht ist (in Alfred Webers Terminologie gesprochen) die sozial freischwebende Intelligenz.“ 45 Diese Intelligenz besetzt bei Mannheim die Stellung, die Georg Lukács dem revolutionären Proletariat vorbehielt, wie Lucien Goldmann 46 richtig bemerkt. Von der Anziehungskraft, die Lukácsʼ Werk auf Mannheim ausübte, berichten Kettler, Meja und Stehr. 47 In dem hier konstruierten Zusammenhang ist die Komplementarität zu Max Webers Argumentation wesentlich: Auch Mannheim sucht einen Standpunkt jenseits der ideologischen Konflikte und Werturteile, von dem aus Sozialwissenschaftler die gesellschaftlichen Verhältnisse als solche - ohne Verzerrung durch Engagement, Ideologie und Wertung - erkennen könnten. Er meint, dass die „freischwebenden Intellektuellen“ diesen Standpunkt einnehmen, weil sie nicht wie das Bürgertum oder die Arbeiterklasse durch eine gemeinsame Stellung und gemeinsame Interessen im Produktionsprozess, sondern durch das Band der Bildung zusammengehalten werden. Wie Alfred Weber erwartet er vom „Kulturmenschen“ eine besondere Fähigkeit zur Synthese; wie der Kulturphilosoph Max Scheler, der „Bildungswissen“ und „Erlösungswissen“ dem „Herrschaftswissen“ entgegensetzt 48 , meint er, im Bereich der Bildung Erkenntnisinteressen finden zu können, die über rein technisches und ideologisches Wissen hinausgehen. 49 Abgesehen davon, dass der Intellektuelle im bildungsbürgerlichen Sinn immer mehr zum Anachronismus wird, weil die Differenzierung des Wissens und der Wissenschaft den Einzelnen immer häufiger zwingt, sich zu „spezialisieren“ (d.h. auf Allgemeinbildung zu verzichten), treten in Mannheims Versuch, Wertfreiheit neu zu begründen, Probleme auf, die auch auf Max Webers Soziologie lasten. Hier sollen zum Abschluss nur drei hervorgehoben werden: 1. Die theoretischen Diskurse der „freischwebenden Intellektuellen“ können nicht „neutralisiert“ werden, weil sie besondere ideologische Interessen und Wertungen artikulieren. 2. Da ihre Neutralisierung nicht möglich ist, ist die 45 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 135. 46 L. Goldmann, Sciences humaines et philosophie, Paris, Gonthier, 1966, S. 52. 47 Zu Mannheims Einschätzung von Lukácsʼ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) bemerken D. Kettler, V. Meja und N. Stehr in Karl Mannheim, Chichester-London-New York, Horwood-Tavistock, 1984, S. 38: „Mannheim was fascinated by that work, but never accepted its revolutionary teachings.“ 48 Vgl. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern-München, Francke, 1980 (3. Aufl.). 49 Ein Vergleich der Positionen von Marx, Alfred Weber, Max Scheler mit Mannheims Wissenssoziologie findet sich in: K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie, Lüneburg, Dietrich zu Klampen, 1986, S. 66-67. <?page no="51"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 35 „sozial freischwebende Intelligenz“ keine homogene, sondern eine ideologisch extrem heterogene Gruppe. 3. Da sie ideologisch heterogen und von Konflikten zerrissen ist, kann sie keine einheitliche und „überparteiliche“ Perspektive einnehmen. Zu diesen drei Punkten kann angemerkt werden, dass es häufig gerade die Intellektuellen sind, die in den modernen, postfeudalen Gesellschaften Ideologien als Wertsysteme konstruieren. Man denke an die Enzyklopädisten und an Rousseau als Vorläufer der Revolution von 1789, man denke an Lenin und Trotzki im Marxismus-Leninismus und an Alfred Rosenberg im Nationalsozialismus. Bekannte soziologische, philosophische und literaturwissenschaftliche Debatten zeigen, dass theoretische Argumente stets auch ideologisch motiviert sind, so dass es in den Gesprächen zwischen Habermas und Luhmann 50 , im sog. Positivismusstreit 51 und in den Diskussionen zwischen Formalisten und Marxisten 52 nie zu einem globalen Konsens kam. Dieser kam auch innerhalb des Marxismus nicht zustande, als Bertolt Brecht, Anna Seghers, Ernst Bloch und Georg Lukács über Fragen des Realismus diskutierten. 53 Den Grund für den permanenten Dissens zwischen Intellektuellen nennt Alexander von Schelting im Streit um die Wissenssoziologie: „Wie soll diese Abschätzung (bzw. jene Einigung) möglich sein, wenn es keinen außerhalb der partikularen ‚Aspektstrukturen‘ liegenden Standpunkt mit eigenen überpartikularen Geltungskriterien geben kann? “ 54 Solange es diesen Standpunkt jenseits der partikularen „Perspektiven“ oder „Aspektstrukturen“ in den Sozialwissenschaften nicht gibt, bleibt auch das Wertfreiheitspostulat als Beobachtungskriterium problematisch - ohne deshalb unbrauchbar zu sein, weil es zu Recht eine unvoreingenommene Rekonstruktion des Selbstverständnisses von Akteuren fordert (s.o.). Den soziologischen Grund, warum es keinen allumfassenden und von allen anerkannten Gesichtspunkt geben kann, gibt in einem frühen Stadium des Streits Hans Speier an: „Es gibt Intellektuelle, die Arbeiter, und 50 Vgl. J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt, Suhrkamp, 1971. 51 Vgl. Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt- Neuwied, Luchterhand (1969), 1972. 52 Vgl. H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976. 53 Vgl. H.-J. Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismusdebatte. Materialen zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt, Suhrkamp, 1973. 54 A. von Schelting, „Die Grenzen der Soziologie des Wissens“, in: V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. II: Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 843. <?page no="52"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 36 Intellektuelle, die Junker sind.“ 55 Diese Gruppen folgen divergierenden Interessen, die sich in divergierenden Denkrichtungen artikulieren. Horkheimer wendet zu Recht ein, dass sich Mannheim über den Nexus von Interesse und Ideologie oder „Weltanschauung“ hinwegsetzt und die Beziehungen zwischen Weltanschauungen idealistisch sublimiert: „Für ihn gibt es die gemeinen Kämpfe des geschichtlichen Alltags und daneben auch die Gegensätze der ‚Weltanschauungssysteme‘.“ 56 Diese können nicht zu einem verallgemeinerungsfähigen Standpunkt synthetisiert werden, weil partikulare (konservative, liberale, sozialistische) Gruppeninteressen eine solche Synthese verhindern. Die Tatsache, dass es deshalb keinen „Archimedischen Punkt“ jenseits der partikularen Standpunkte gibt, bedeutet jedoch nicht, dass ein Dialog zwischen heterogenen Theorien nicht sinnvoll ist: Denn gerade im Spannungsverhältnis zwischen Dissens und Konsens, das zwischen heterogenen Standpunkten herrscht, können sich Wahrheitsmomente herauskristallisieren, die eine kritische Metatheorie des Dialogs festhalten kann (vgl. Kap. II). 4. Die Kritische Theorie als Antwort auf Marx, M. Weber und Mannheim: Engagement, Nichtidentität und Emanzipation Da die Kritische Theorie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers, aus der die Dialogische Theorie hervorgeht, die diesem Buch zugrunde liegt, im sechsten und sechzehnten Kapitel ausführlicher zur Sprache kommt, soll im Folgenden vor allem ihre Differenz von Hegel, Marx, M. Weber und Mannheim hervorgehoben werden. Aus Max Horkheimers für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule programmatischem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) ist eine Ablehnung aller hier kommentierten Positionen herauszulesen: des Hegelschen Herrschaftsdenkens, das sich mit der Wirklichkeit identisch wähnt, des hegelianischen Marxismus, der sich selbst als Philosophie des Proletariats (miss-)versteht, sowie des Wertfreiheitspostulats M. Webers und Mannheims, das kritisches Engagement des Sozialwissenschaftlers vorab ausschließt. Den Kerngedanken seines Aufsatzes fasst Horkheimer in wenigen Worten zusammen: „Zur Entwicklung der Gesellschaft gehört aber das bewußt kritische Verhalten.“ 57 Aus diesem Satz sind Horkheimers Kritiken an 55 H. Speier, „Soziologie oder Ideologie? Bemerkungen zur Soziologie der Intelligenz“, in: ibid., S. 533. 56 M. Horkheimer, „Ein neuer Ideologiebegriff? “, in: ibid., S. 490. 57 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt, Fischer, 1970, S. 45. <?page no="53"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 37 Hegel, am Marxismus und an den soziologischen Theorien M. Webers und Mannheims ableitbar. Horkheimer verteidigt die kritische Einstellung, die stets Hegels Missfallen erregte, sooft sie sich bei den Romantikern (etwa bei Friedrich Schlegel, später bei den Junghegelianern) 58 bemerkbar machte. Zu Hegels These über den vernünftigen Charakter der Wirklichkeit bemerkt Horkheimer, die Vernunft sei „bei Hegel affirmativ geworden, bevor noch die Wirklichkeit als vernünftig zu bejahen ist“. 59 Nach dem bisher Gesagten liegt Hegels Replik auf der Hand: Horkheimer ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Gesellschaft und ihre Entwicklung als sinnvolle Totalität zu verstehen. In dieser Diskussion ergreift Horkheimer Partei für Marx und die Marxisten: Auch als Totalität erscheint ihm Gesellschaft nicht als vernünftige, von Menschen gewollte Wirklichkeit, sondern als ein irrationales Zusammenspiel von Kräften, das vor allem im Spätkapitalismus seine Dynamik der Ausbeutung von Natur und Mensch verdankt. Dennoch lehnt er es im Jahre 1937 - auch angesichts der Erfolge des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus - ab, seine Hoffnungen auf die revolutionäre Gesinnung des Proletariats zu setzen. Gegen die Positionen von Marx und Lukács wendet er ein: „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ 60 Obwohl Horkheimer Anfang der 1930er Jahre noch hoffte, die Arbeiterklasse würde gegen die nationalsozialistische Diktatur aufbegehren 61 , gewann er - wie Adorno - immer mehr den Eindruck, dass der kritische Intellektuelle isoliert war. 62 Dies bedeutet nicht, dass er Mannheims These über die „freischwebenden“ und wertfrei denkenden Intellektuellen übernahm (s.o.). Der kritische Intellektuelle ist zwar isoliert, er engagiert sich aber politisch auf Seiten der Unterdrückten gegen Herrschaft, Bevormundung und Ausbeutung: „Der Geist ist liberal. Er verträgt keinen äußeren Zwang, keine Anpassung seiner Ergebnisse an den Willen irgendeiner Macht. Von dem Leben der Gesellschaft ist er jedoch nicht losgelöst; er schwebt nicht über ihr.“ 63 58 Vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München, Fink, 1992 (2. Aufl.), S. 254. 59 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 25. 60 Ibid., S. 33. 61 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Die Arche, 1970, S. 26. 62 Zur Bindung der Kritischen Theorie der Nachkriegszeit an eine Gruppe von isolierten Intellektuellen vgl. A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S. 38: „Intellektuellengruppen, ihre Diskurse und Praktiken, sind der wesentliche Kontext für die Wahrheitspolitik Horkheimers und Adornos.“ 63 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 40. <?page no="54"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 38 An diese Maxime halten sich Horkheimer und Adorno auch noch in ihrer im Exil entstandenen und nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Dialektik der Aufklärung (1947), in der sie sich noch weiter von den marxistischen Positionen entfernen. Im sechsten Kapitel wird sich zeigen, dass sie versuchen, weiter auszuholen als Marx und die Marxisten, indem sie die Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus aus einem allgemeineren Prinzip ableiten: aus der Herrschaft des Menschen über die Natur, des Subjekts als Geist über das Objekt. Adorno erscheint der gesamte europäische Idealismus als ein Symptom dieser Naturbeherrschung. Vor allem den Anspruch der Hegelschen Philosophie, Ausdruck einer vernünftigen Weltgeschichte und mit dieser identisch zu sein, betrachtet er als den Höhepunkt eines Herrschaftsdenkens, das seinen Ursprung in der Herrschaft des Subjekts über das Objekt nicht reflektiert. Seine auf das Partikulare 64 ausgerichtete negative Dialektik fasst er als einen Gegenentwurf zu Hegels systematischer und affirmativer Dialektik auf, die sich als Apologie der Staatsräson und ihrer Herrschaft über alles Natürliche, Partikulare und Individuelle idealistisch hinwegsetzt: „Solche Dialektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel. Bei diesem koinzidierten Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten.“ 65 Schon Marx merkte kritisch an, dass diese Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Gesellschaft bei Hegel nur im abstrakten Denken zustande kam, nicht jedoch in der gesellschaftlichen Praxis, in der weiterhin Ausbeutung und Entfremdung herrschten. Die Versöhnung konnte nur durch die Umwälzung der realen Verhältnisse in der proletarischen Revolution herbeigeführt werden. Diese Erzählung der Gesellschaft, die von der historischen Immanenz geprägt und von der Hoffnung getragen wird, dass die Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt in der Geschichte zustande kommt, wird von Adorno - wie von Horkheimer - nicht mehr akzeptiert. Die von Marx und Lukács geforderte Einheit von kritischer Philosophie und revolutionärem Proletariat als Einheit von Theorie und Praxis führt letztlich nur zur Blendung der Theorie: „Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen.“ 66 Anders ausgedrückt: Die politische Taktik, zu der sich die Marxisten und nach ihnen die Marxisten-Leninisten gezwungen sahen, hat im Laufe der Jahre die ursprünglich kritische 64 Vgl. Vf., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), darin vor allem: „Theodor Adorno: Dialectique en suspens“. 65 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 143. 66 Ibid., S. 144. <?page no="55"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 39 Theorie von Marx und Engels in eine Staatsideologie verwandelt - und gezeigt, wie jede sozialwissenschaftliche Theorie von der ihr innewohnenden Ideologie (als Wertsystem) zugrunde gerichtet werden kann. In dieser Situation, in der das Proletariat in Westeuropa und Nordamerika in die spätkapitalistischen Verhältnisse integriert wird, während in Osteuropa die kommunistischen Parteien ein totalitäres System gegen die Interessen der Arbeiterklasse durchsetzen, leitet Adorno seine Negative Dialektik mit einem Verzicht auf Praxis und einem Plädoyer für Philosophie ein. 67 Marx konnte noch glauben, dass die revolutionäre Verwirklichung seiner Philosophie, in der die Versprechen des deutschen Idealismus und der Aufklärung aufgehoben waren, Philosophie als solche überflüssig machen würde. Das Scheitern der Revolution in Ost und West lässt Philosophie wieder aktuell werden. Für Adorno kommt aber nur eine Philosophie in Frage, die entschlossen mit jeder Form des Herrschaftsdenkens, also auch mit dem marxistischen Revolutionsprojekt, bricht, ohne den kritischen und emanzipatorischen Anspruch aufzugeben. Diese Philosophie orientiert sich an den Emanzipationsversprechen der Kunst, deren begriffslose, mimetische Sprache nach einer Versöhnung des Subjekts mit der Natur als Objekt strebt und sich jenseits des durchrationalisierten Herrschaftsdenkens artikuliert. Über die Kunst schreibt Adorno in seiner postum erschienenen Ästhetischen Theorie (1970): „Daß sie, ein Mimetisches, inmitten von Rationalität möglich ist und ihrer Mittel sich bedient, reagiert auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten.“ 68 Kunst wird ihm zur obersten kritischen Instanz, von deren Standort aus der soziale Gesamtzusammenhang zu betrachten und zu verstehen ist: „Eben diese Irrationalität versteckt und verleugnet die kapitalistische Gesellschaft, und dagegen repräsentiert Kunst Wahrheit im doppelten Verstande; in dem, daß sie das von Rationalität verschüttete Bild ihres Zwecks festhält, und indem sie das Bestehende seiner Irrationalität: ihres Widersinns überführt.“ 69 Kritische Kunst nimmt hier die Stellung ein, die bei Hegel der Weltgeist, bei Marx das Proletariat einnahmen (vgl. Kap. VI). Abermals stellt sich die Frage, von welcher Warte aus Gesellschaft beobachtet, erzählt und kritisiert werden soll. Ist ihre Entwicklung rational, wie Hegel meint, so dass der Beobachter nur die ihr innewohnenden Gesetze der Vernunft nachzuvollziehen braucht? Muss sie zur Vernunft durch die von Marx und Lukács geforderte revolutionäre Umwälzung gezwungen werden? Ist Webers Versuch, sie als historischen Rationalisierungsprozess 67 Vgl. ibid., S. 13 und „Einleitung“. 68 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 86. 69 Ibid. <?page no="56"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 40 (vgl. Kap. XII) verstehend zu erklären, nicht sinnvoller als alle Plädoyers für Umgestaltung? Was ist von Adornos ästhetischer Umorientierung des kritischen Denkens zu halten, der die Erzählung einer immer intensiver werdenden Rationalisierung und Naturbeherrschung zugrunde liegt? Im zweiten Kapitel wird eine kritische Theorie der Gesellschaft im dialogischen Sinne (im Sinne von Bachtin) entworfen, die einerseits an Adornos und Horkheimers Postulat der Nichtidentität mit konkreten sozialen Kräften (Proletariat, neue Arbeiterklasse, Bewegung) anknüpft, andererseits Adornos Ausrichtung auf die Mimesis der Kunst ablehnt. Statt dieser Ausrichtung sollen die dialogischen Ansätze in Adornos negativer Dialektik und in seiner Theorie des Essays in Anlehnung an Bachtins Dialogizität weiterentwickelt werden und in allen Kapiteln dieses Buches zur Anwendung kommen. 5. Positivismus vs. Konstruktivismus: Von Auguste Comte zum Behaviorismus Der ältere und neuere Positivismus, der seit Auguste Comte (1798-1857) in der Philosophie, den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle spielte, soll hier - trotz aller z.T. berechtigter Kritiken in Hermeneutik, Dialektik und Konstruktivismus - als mögliche Gegenposition zum Marxismus und zur Kritischen Theorie kommentiert werden. Er ist seit Comte vom Szientismus geprägt, d.h. von einer etwas naiven Orientierung an den Naturwissenschaften, die eine scharfe Trennung von Subjekt und Objekt zur Folge hat, sowie von dem Versuch, gesellschaftliche Objekte (Gruppen und Individuen) unvoreingenommen und ohne ideologisches oder politisches Engagement zu beobachten. Im Wörterbuch der Soziologie wird der Positivismus wie folgt definiert: „Lehre vom ‚Tatsächlichen‘, ‚Gegebenen‘, eine erkenntnistheoretische und methodologische Grundhaltung, die wissenschaftliches Arbeiten auf die Erfassung und Erklärung beobachtbarer, erfahrbarer ‚Tatsachen‘ begrenzt wissen will. Dementsprechend werden jegliche Informationen, Überlegungen und Spekulationen, die mit den jeweils zur Verfügung stehenden erfahrungswissenschaftlichen Möglichkeiten nicht bestätigt oder zurückgewiesen werden können, als außerwissenschaftlich erklärt.“ 70 Diese Definition stimmt - trotz der historischen Distanz - mit den Definitionen Comtes in Discours sur l’esprit positif (1844, dt. Rede über den Geist des Positivismus, 1994) überein, einem programmatischen Entwurf, in dem ausschließlich Faktenaussagen („einfache Aussage einer besonderen oder 70 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 692. <?page no="57"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 41 allgemeinen Tatsache“) 71 als wissenschaftliche Behauptungen akzeptiert werden. In Übereinstimmung mit Comtes radikal weltlicher und rationalistischer Einstellung (vgl. Kap. V) bilden dort wissenschaftliche („positive“) Erkenntnis einerseits und Religion und Metaphysik andererseits einen schroffen Gegensatz. Am Ende des Zweiten Teils des Werks wird scheinbar objektiv die „notwendige Überlegenheit des positiven Geistes über den alten theologisch-metaphysischen“ 72 festgestellt. (Im fünften Kapitel wird sich zeigen, dass es sich in diesem Fall um eine mögliche Erzählung der Gesellschaft unter vielen handelt.) Aus folgenden Gründen ist man heute weniger zuversichtlich als Comte, in den Sozialwissenschaften unumstrittene, wertfreie Tatsachenaussagen machen zu können: 1. Tatsachen sind, wie u.a. die radikalen Konstruktivisten richtig erkannt haben 73 , stets konstruiert, und ihre Konstruktionen kommen in Diskursen zustande, die nie frei von ideologischem Engagement sind. Der schon erwähnte Begriff wissenschaftliches Feld (Bourdieu) bezeichnet keine von allen akzeptierte Tatsache, sondern ist eine mögliche Konstruktion, die von vielen Soziologen abgelehnt wird, die Bourdieus gesellschaftskritische Soziologie (als Ideologie) mit Misstrauen betrachten. Sie mögen Luhmanns (keineswegs neutrale) Konstruktion eines „Wissenschaftssystems“ vorziehen. 2. Dies ist der Grund, warum die „kausalen Beziehungen“ zwischen Tatsachen, die Positivisten seit Comte bevorzugen, auch problematisch sind. Anders als die biologisch unumstrittene Aussage über das kausale Verhältnis von Feuchtigkeit und Schimmelbildung ist die im Rahmen von Max Webers Soziologie mögliche Aussage über „charismatische Individuen“ als Verursacher sozialer Veränderungen in Geschichts- und Sozialwissenschaft nicht unumstritten, weil im Marxismus die Klassen, bei Comte die Wissenschaft und bei Pareto die Eliten für solche Veränderungen verantwortlich gemacht werden. Auch Webers Charisma ist also kein Faktum, sondern eine durchaus brauchbare ideologisch-theoretische Fiktion. 74 3. Schließlich setzt sich der Positivismus über die schon kommentierte Tatsache hinweg, dass in den Sozialwissenschaften Objekte zugleich Subjekte sind, so dass das Engagement der erforschten Individuen und Gruppen mit dem der Wissenschaftler kollidieren kann. Der Begriff „Positivismus“ wird häufig überdehnt und bisweilen verwendet, um einen unliebsamen Soziologen oder Philosophen zu diskre- 71 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (Hrsg. I. Fetscher), Hamburg, Meiner, 1994, S. 16. 72 Ibid., S. 81. 73 Vgl. E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 188: Glasersfeld zeigt, dass das Wort „Faktum“ von lat. facere (= machen) kommt und folglich als Konstruktion aufzufassen ist. 74 Vgl. R. Haller, Facta und Ficta, Stuttgart, Reclam, 1986. <?page no="58"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 42 ditieren. Zu Unrecht kritisiert beispielsweise Adorno den - stark von Comte beeinflussten - Emile Durkheim als „Positivisten“. 75 Denn bei Durkheim fehlt der für alle Varianten des Positivismus charakteristische Szientismus (vgl. Kap. IX). In Les Règles de la méthode sociologique (1895, dt. Die Regeln der soziologischen Methode, 1961) stellt Durkheim unmissverständlich fest, dass die Objekte der Soziologie ganz anders beschaffen sind als die Objekte der Biologie („organische Erscheinungen“) 76 oder der Psychologie. Auch die Bezeichnung des Kritischen Rationalismus (Karl R. Poppers, Hans Alberts: s.o.) als „Positivismus“ oder „Neupositivismus“ 77 ist irreführend, weil sich vor allem Popper vom neupositivistischen Wiener Kreis (Schlicks, Carnaps, Reichenbachs) kritisch distanziert hat und weil sein Kritischer Rationalismus nur als Replik auf den Positivismus adäquat zu verstehen ist. Als positivistisch oder neupositivistisch kann der von den Amerikanern John B. Watson und B. F. Skinner entwickelte Behaviorismus in Psychologie und Soziologie bezeichnet werden (vgl. Kap. III. 1). Er orientiert sich an den Naturwissenschaften und beobachtet im Rahmen eines „Reiz-Reaktions- Schemas“ („stimulus-reponse“) menschliches Verhalten - ohne wie Max Weber die subjektiven Absichten der Handelnden rekonstruieren zu wollen. Auf diese Art werden Individuen und Gruppen zu reinen Objekten ohne Subjektivität, die mit wissenschaftlicher Distanz beobachtet werden. 6. Engagement, Distanzierung, Beobachtung: Von Norbert Elias zu Niklas Luhmann Auf diese szientistische Einstellung reagiert Norbert Elias, dessen Theorie des Zivilisationsprozesses im dreizehnten Kapitel kommentiert wird, in seinem Aufsatz „Engagement und Distanzierung“ mit einem kritischen Kommentar zu allen Versuchen, sich positivistisch vom Menschen als Objekt zu distanzieren. Zur Methode der „Objektivierung“ bemerkt er: „Sie dient oft als ein Mittel, um Schwierigkeiten, die aus dem spezifischen Dilemma der Menschenwissenschaftler erwachsen, zu umgehen, ohne sich ihm zu stellen; in vielen Fällen schafft sie eine Fassade von Distanzierung, hinter der sich eine höchst engagierte Einstellung verbirgt.“ 78 So zeigt beispielsweise Robert C. Bannister, wie sehr Protestantismus und Sozialdarwinismus als 75 Vgl. Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1976, S. 11. 76 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (Hrsg. R. König), Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (8. Aufl.), S. 107. 77 Vgl. Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, op. cit. 78 N. Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 35. <?page no="59"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 43 unreflektierte latente Einstellungen die frühe amerikanische Soziologie, die sich an den „hard sciences“ orientierte, beherrscht haben. 79 Daher versucht Norbert Elias, zwischen Engagement und Distanzierung dialektisch zu vermitteln und ihr Verhältnis zu reflektieren. Er skizziert ihr Spannungsverhältnis, das hier zentral ist, als eine Art Gratwanderung zwischen der Scylla ideologischer Parteilichkeit und der Charybdis unverbindlicher Gedankenspiele ohne gesellschaftlichen Bezug. „Wertfreiheit“ im Sinne von M. Weber erscheint ihm nicht als Option, weil das soziale Engagement aus den Sozialwissenschaften nicht wegzudenken ist. Wie in diesem Kapitel wird in Eliasʼ Aufsatz „Engagement und Distanzierung“ grundsätzlich zwischen der Position des Naturwissenschaftlers, der „durch fest etablierte Berufsstandards und andere institutionelle Sicherungen in relativ hohem Maße gegen die Durchdringung mit heteronomen Wertungen geschützt“ 80 ist, und der des Sozialwissenschaftlers unterschieden, dessen Theorie nicht von seinem sozialen Engagement zu trennen ist. Im Gegensatz zum Neukantianer Max Weber, der immer wieder versucht, Wissenschaft und Politik, Verstehen und Werten sauber zu trennen, denkt Elias eher in Kategorien der dialektischen Vermittlung. Davon zeugt die folgende Passage aus „Engagement und Distanzierung“: „Das Problem, vor dem die Menschenwissenschaftler stehen, läßt sich also nicht einfach dadurch lösen, daß sie ihre Funktion als Gruppenmitglieder zugunsten ihrer Forscherfunktion aufgeben. Sie können nicht aufhören, an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppen und ihrer Zeit teilzunehmen, können nicht vermeiden, von ihnen betroffen zu werden. Ihre eigene Teilnahme, ihr Engagement ist überdies eine der Voraussetzungen für ihr Verständnis der Probleme, die sie als Wissenschaftler zu lösen haben.“ 81 (Vgl. Kap. XIII. 1.) Eines der besten Beispiele ist wohl das zeitgenössische feministische Engagement in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Indem Soziologinnen wie Annette Treibel Themen und Probleme zur Sprache bringen, die bisher entweder vernachlässigt oder nur indirekt behandelt wurden - „Geschlecht als soziale Konstruktion und Dekonstruktion“ oder „Konstituierung, Kontinuität und Wandel des Geschlechterverhältnisses“ 82 -, erschließen sie der Soziologie neue Bereiche, deren (durchaus kritische) Erforschung sich auf das Selbstverständnis des Fachs auswirkt. Dabei folgen sie nicht nur wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, sondern auch 79 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity 1880- 1940, Chapel Hill-London, The University of North Carolina Press, 1987, S. 65-66. 80 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 14. 81 Ibid., S. 30. 82 Vgl. A. Treibel, Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (7. Aufl.), Kap. V und XI. <?page no="60"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 44 ihrem ideologischen, wertenden Engagement für Emanzipation. (Zur Affinität von Kritischer Theorie und feministischer Wissenschaft vgl. Kap. VII.) Jedoch ist dieses Engagement nur dann wissenschaftlich fruchtbar, wenn es von einer selbstkritischen Distanzierung begleitet wird, die stets auch Abstand zur Ideologie wahrt. Aus Eliasʼ Betrachtungen geht hervor, dass es die Aufgabe einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, für selbstkritische Autonomie und Distanz zum eigenen Engagement zu sorgen: „Wieweit es unter gegenwärtigen Bedingungen für Gruppen wissenschaftlicher Spezialisten möglich ist, die Standards der Autonomie und Adäquatheit im Nachdenken über soziale Ereignisse zu heben und sich selbst die Disziplin größerer Distanzierung aufzuerlegen, kann nur die Erfahrung zeigen.“ 83 Distanzierung wird durch kritische Selbstreflexion begünstigt, die im Dialog zwischen heterogenen theoretischen Positionen kaum zu vermeiden ist. Wer sich auf diesen Dialog einlässt, gleicht jemandem, der versucht, eine Fremdsprache zu lernen und sich immer wieder gezwungen sieht, über seine Muttersprache, über ihre Möglichkeiten, Lücken und Grenzen nachzudenken. Erst im Dialog mit dem fremden Wort erschließt sich ihm die Besonderheit des seit langem Vertrauten. Auch die eigene Theorie und ihre Begriffsbildung werden in einer Auseinandersetzung mit dem Andersartigen nicht mehr als Selbstverständlichkeiten betrachtet, sondern als besondere, d.h. nur mögliche, kontingente Konstruktionen, die mit anderen Konstruktionen konkurrieren. Im Dialog lernt der Theoretiker, die eigene Theorie mit den Augen eines „Beobachters zweiter Ordnung“ (Luhmann) zu betrachten, wobei eine kritische Distanz zum eigenen Diskurs entsteht. Luhmann interessiert sich für die Frage, „ob ein Beobachter zweiter Ordnung sich nicht darauf konzentrieren könnte, das zu beobachten, was der Beobachter erster Ordnung nicht beobachten kann (…).“ 84 Im Dialog wird der Beobachter erster Ordnung immer wieder angehalten, den Standpunkt eines Beobachters zweiter Ordnung einzunehmen und die eigene Theorie mit dessen Augen zu betrachten: gleichsam von außen. Auf struktureller Ebene ermöglicht der Dialog eine Beobachtung dritter Ordnung, sooft ein Teilnehmer auf Metaebene zwei oder drei verschiedene Positionen in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet und dabei auf den eigenen Standpunkt bezieht. Dass dieser Standpunkt nicht weniger kontingent ist als die beobachteten Standpunkte, versteht sich von selbst. Indem er aber eine vergleichende Perspektive eröffnet, lässt er die Vorzüge und 83 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 58. 84 N. Luhmann, „Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? “, in: P. Watzlawick, P. Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1991, S. 66. <?page no="61"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 45 Schwächen der beobachteten Theorien hervortreten und trägt zu ihrem konkreteren Verständnis bei. Im zweiten Kapitel soll u.a. gezeigt werden, wie die vom Dialog begünstigte Distanzierung zwischen wertender Ideologie und wissenschaftlicher Theorie auf diskursiver (semantisch-narrativer) Ebene möglich ist und wie durch das Aufeinandertreffen heterogener soziologischer Theorien Freiräume für kritisch-selbstkritisches Nachdenken entstehen, die neue Erkenntnisse ermöglichen. Zusammenfassung und Ausblick: In diesem Kapitel ging es primär um die Frage, wie Gesellschaft und ihre Entwicklung beobachtet werden. Jede sozialwissenschaftliche Beobachtung gründet auf besonderen (partikularen) Relevanzkriterien, die von der Einstellung des Beobachters zeugen: Er kann - wie Marx, Lukács, Touraine oder die Feministin F. Gaspard - beschließen, auf die beobachteten gesellschaftlichen Probleme mit Engagement zu reagieren und für bestimmte soziale Gruppen Partei zu ergreifen; er kann mit Max Weber versuchen, möglichst neutral, ohne Parteinahme und Werturteil Gesellschaft verstehend zu erklären und mit dem Wissenssoziologen Karl Mannheim nach einer Gruppe Ausschau halten, die über den Antagonismen und Konflikten steht. Er kann schließlich mit Norbert Elias erkennen, dass Wertungen im sozialwissenschaftlichen Diskurs nicht zu vermeiden sind und beschließen, ein Gleichgewicht zwischen sozialem Engagement und selbstkritischer Distanzierung vom Werturteil anzustreben. Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, wie sich Beobachtung der Gesellschaft als Entscheidung für bestimmte Relevanzkriterien auf die Struktur des theoretischen Diskurses als Erzählung auswirkt und wie Distanzierung im Dialog zwischen heterogenen theoretischen Standpunkten begünstigt wird. <?page no="63"?> 47 II. Wer erzählt Gesellschaft und wie? Prozess oder Handlung? Theorie als Erzählung, Konstrukt und Dialog Inhaltsverzeichnis 1. Standort und Relevanz, Klassifikation und Definition: Die semantische Basis 2. Aktanten und Akteure, Fokalisatoren und Prozesse 3. Theorie als Soziolekt und Diskurs: Theorie, Ideologie und Kultur 4. Ideologie und Theorie als zwei Diskurstypen: Monolog und Dialog 5. Der theoretische Dialog als kritische Überprüfung: Widerlegung oder Erschütterung? Geschichte und Soziologie sind verwandte Disziplinen, deren Bereiche in Sozialgeschichte, Zeitgeschichte und Ideengeschichte ineinander greifen. Titel wie Die nachindustrielle Gesellschaft (Daniel Bell), Konsequenzen der Moderne (Anthony Giddens) oder Historisch-genetische Theorie der Kultur (Günter Dux) deuten an, dass sich Gesellschaft unablässig ändert und dass Soziologen das Bedürfnis verspüren, deren Entwicklung zu erzählen und zu erklären. Dass jede ihrer Erzählungen „bereits als solche eine Form der Erklärung ist“ 1 , wie der in der Einleitung zitierte Historiker Werner Schiffer sagt, soll in diesem Kapitel näher erläutert werden. Auch die oft als „statisch“ bezeichnete Systemtheorie eines Talcott Parsons weist narrative, historische Komponenten auf, und einige Titel aus Parsonsʾ Buch The System of Modern Societies (1971, dt. Das System moderner Gesellschaften, 1972, 1985) legen die Vermutung nahe, dass auch dieses scheinbar statische System aus einander ergänzenden historischen Erzählungen hervorgegangen ist: „Prämoderne Grundlagen moderner Gesellschaften“ (3. Kapitel), „Die erste Kristallisierung des modernen Systems“ (4. Kapitel) und: „Gegenbewegung und weitere Entwicklung“ (5. Kapitel). Schon in diesem Stadium drängt sich jemandem, der gern mit dem Erzählen experimentiert, die Frage auf, ob die „erste Kristallisierung“ wirklich die erste war und ob ihr nicht eine frühere vorausging. Kann man die Entwicklung der Gesellschaft nicht ganz anders erzählen, wenn man von einer anderen Warte aus und mit anderen Relevanzkriterien beobachtet? Der Standort des Beobachters kann eine Epoche wie die Renaissance verlängern oder verkürzen, kann sie früher oder später beginnen lassen. Während sie bei einem Komparatisten wie Paul van Tieghem nur 40 Jahre 1 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. <?page no="64"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 48 dauert, erstreckt sie sich bei Ulrich Weisstein, einem seiner Kritiker, über drei Jahrhunderte: vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. 2 Dies bedeutet konkret, dass die beiden Wissenschaftler kulturelle und literarische Erscheinungen ganz unterschiedlich beurteilen, weil sie von grundverschiedenen Relevanzkriterien (Unterscheidungen, Klassifikationen, Definitionen) ausgehen. In der Soziologie - wie in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften - entscheiden die Relevanzkriterien über die Beschaffenheit der semantischen Basis einer Theorie als „Erzählung“: Sind Rationalisierung und Säkularisierung (Comte) für die Entstehung moderner Gesellschaften relevant oder die durch Industrialisierung und Urbanisierung hervorgerufenen Klassenkämpfe? Soll der Theoretiker als Beobachter des Sozialen von der Unterscheidung System / Umwelt (Luhmann) ausgehen und den Differenzierungsprozess „erzählen“, oder soll er (wie Habermas) einen Gegensatz zwischen den Systemen oder Medien „Macht“ und „Geld“ einerseits und der „Lebenswelt“ andererseits konstruieren? 3 Soll er seine Erzählung teleologisch auf ein Ziel (telos) ausrichten, so dass sich die Entwicklung auf eine säkularisierte, rationale (Comte) oder eine klassenlose, von aller Ausbeutung befreite Gesellschaft (Marx) zubewegt? Oder soll er seiner Erzählung im Anschluss an Nietzsches „ewige Wiederkehr“ eine zirkuläre Form geben und wie Vilfredo Pareto die „Zirkulation der Eliten“ beschreiben? Er kann auch - wie eine bestimmte avantgardistische Literatur - den Ausgang der Entwicklung offen lassen und im konkretesten Fall nur einige mögliche Szenarien skizzieren, wie es Luhmann und einige Soziologen der Nachmoderne tun. Im Laufe der Darstellung verschiedener soziologischer Ansätze soll deutlich werden, dass die Zuversicht, mit der die frühen Soziologen - Saint-Simon, Comte, Spencer und Marx - ihre teleologisch angelegten Erzählungen entwarfen, in Spätmoderne und Postmoderne schwindet. Schließlich stellt sich die in diesem Kapitel wichtige Frage nach den handelnden Instanzen: Handeln ausschließlich Individuen oder auch Gruppen, Klassen oder gar Organisationen, Institutionen und Systeme? Wer ist überhaupt handlungsfähig? Solche Fragen treten in den Hintergrund, wenn man davon ausgeht, dass Gesellschaft nicht durch menschliches Handeln in Bewegung gehalten wird, sondern durch Prozesse, die zwar durch individuelle und kollektive Handlungen in Gang gesetzt werden, jedoch bald 2 Vgl. U. Weisstein, Comparative Literature and Literary Theory, Bloomington-London, Indiana Univ. Press, 1973, S. 76. 3 Vgl. Vf., „Theorie als Erzählung. Die Geburt des Konstruktivismus aus dem Geiste der Spätmoderne“, in: M. Arnold, G. Dressel, W. Viehhöfer (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 312- 317. <?page no="65"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 49 ihre Eigengesetzlichkeit entfalten, die nicht aus Einzelhandlungen welcher Art auch immer ableitbar ist. Die Erzähltheorien, die in letzter Zeit vor allem im Bereich der Semiotik entwickelt wurden, sind vorwiegend handlungsorientiert und halten auf diese Frage keine Antworten parat. Soziologische Theorien, die von Comte und Durkheim bis Luhmann und Bourdieu vor allem den Prozesscharakter der Entwicklung wahrnehmen, könnten in diesem Punkt einen Beitrag zur Narrativik leisten. Wie kommen aber theoretische Diskurse als Erzählungen zustande? Auf diese Frage soll dieses Kapitel antworten. 1. Standort und Relevanz, Klassifikation und Definition: Die semantische Basis Der Standort des Beobachters, der Gegenstand des ersten Kapitels war, entscheidet darüber, was für relevant, weniger relevant oder irrelevant gehalten wird. Relevanzkriterien und Relevanzen sind keine rein subjektive Angelegenheit. Der Begriff Relevanz (relevance, pertinence) stammt aus der Phonologie des Prager Linguistischen Zirkels 4 und bezeichnet phonetische Unterschiede und Gegensätze innerhalb der Sprache, die sich auch auf deren Semantik auswirken können. Während im Deutschen der Unterschied zwischen stimmhaftem und stimmlosem „s“ lediglich die norddeutsche bzw. die süddeutsche Aussprache konnotiert (etwa in den Wörtern „sofort“ oder „sozial“) und keinerlei Auswirkungen auf die Wortbedeutung hat, ist er im Französischen semantisch relevant. Davon zeugt u.a. der Gegensatz zwischen stimmlosem und stimmhaftem „s“ in den Wörtern poisson und poison. Während das erste Wort „Fisch“ bedeutet, bedeutet das zweite Wort „Gift“. Bei der Bestellung eines Fischgerichts kann diese phonetische Relevanz lebenswichtig sein. Obwohl in den Sozialwissenschaften Relevanzkriterien und Relevanzen nicht so klar vorgegeben sind wie in der Phonologie, können sich Anthropologen und Soziologen nicht über bestimmte sozial relevante Gegensätze und Unterschiede - etwa männlich / weiblich - hinwegsetzen, zumal in einigen Sprachen (etwa den romanischen und den slawischen) die Grammatik von Frauen und Männern unterschiedlich gehandhabt werden muss (Beispiel aus dem Russischen: ja byl / ich war = männlich; ja byla = weiblich). Andere Relevanzen hängen - vor allem in der Soziologie - sehr stark vom beobachtenden Subjekt ab, wie sich im ersten Kapitel bereits herausgestellt hat. Soll sich das Augenmerk primär auf das individuelle Handeln 4 Vgl. J. Fontaine, Le Cercle linguistique de Prague, Tours, Mâme, 1974, S. 28. Siehe auch: D. Sperber, D. Wilson, Relevance. Communication and Cognition, Oxford, Blackwell (1986), 1994, S. 118-123. <?page no="66"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 50 richten wie etwa bei Max Weber und später bei James Coleman, auf das kollektive Handeln von Klassen wie bei Karl Marx und Georg Lukács oder auf die Differenzierungsprozesse, die Soziologen von Emile Durkheim bis Niklas Luhmann beobachten? Was bewegt Gesellschaft und hält sie in Bewegung: das Handeln des Einzelnen (etwa der großen historischen Gestalt), der Konflikt zwischen Volksgruppen, religiösen Gruppen und Klassen oder die immer intensiver werdende Arbeitsteilung? Arno Bammé meint beispielsweise, dass der technologische Fortschritt zur Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklung werden könnte. Davon zeugt der Titel seines Buches, das 2007 erschien: Die Neuordnung des Sozialen durch Technologie. 5 Aber schon auf den ersten Seiten der Schrift wird deutlich, dass auch andere Faktoren relevant sind: „Geld, sagte ich, sei neben der Technologie von zentraler Bedeutung für die Dynamik der (post-)modernen Gesellschaft, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits, makrosoziologisch gesehen, ermöglicht Geld, vor allem in seiner virtualisierten Form, die ‚Effizienz der Weltmärkte‘. Es treibt den Prozess der Globalisierung voran, des ‚Handelns aus der Ferne‘, des Herauslösens integrativer Mechanismen aus lokalen Kontexten.“ 6 Das „Geld“ wird hier, wie sich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, zu einem mächtigen Aktanten (einem Auftraggeber: siehe weiter unten) und tritt gleichberechtigt neben die „Technologie“ als Auftraggeberin und treibende Kraft. Schon in dem hier zitierten Satz aus Bammés Buch wird deutlich, dass die Relevanzkriterien und Relevanzen der soziologischen Theorie als Erzählung ihre Richtung vorgeben: Sie bewegt sich zwischen Technologie und Ökonomie auf ein Stadium zu, das u.a. als „Globalisierung“ bezeichnet wird. Welche Rolle spielen aber weitere - von Bammé erwähnte - Faktoren wie kulturelle Einflüsse, Migrationsströme, soziale und politische Konflikte, Kriege und ökologische Probleme? Es ist wohl nicht möglich, im Rahmen einer soziologischen Theorie, die Hegels Motto „das Wahre ist das Ganze“ 7 folgt, allen relevanten Faktoren Rechnung zu tragen, ohne den Rahmen der Theorie durch Eklektizismus oder Überdehnung der Komplexität zu sprengen. Daher wird hier der Weg des Dialogs vorgeschlagen, auf dem heterogene, aber thematisch verwandte Theorien zusammengeführt und kritisch überprüft werden. Dass jede dieser Theorien auf andere Relevanzen ausgerichtet ist, in denen ein partikulares Erkenntnisinteresse oder eine „Motivation“ (Schütz) zum Ausdruck kommt, bestätigt Alfred Schütz, der sich mit dem Rele- 5 A. Bammé, Die Neuordnung des Sozialen durch Technologie, Marburg, Metropolis Verlag, 2007. 6 Ibid., S. 16-17. 7 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. <?page no="67"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 51 vanzproblem aus soziologischer Sicht ausführlich befasst hat: „Im Moment genügt es zu bemerken, daß in jedem Augenblick unseres Lebens das Bewußtsein auf einen gewissen Weltausschnitt konzentriert ist, der durch die Gesamtsumme aller Motivationsrelevanzen bestimmt wird. Das können wir ‚Aufmerksamkeit‘ oder ‚Interesse‘ nennen.“ 8 An anderer Stelle von Schütz̕ Werk heißt es von dem als relevant bezeichneten Problem, es werde „nunmehr als thematisch relevant konstituiert, abgelöst von seinem Motivationszusammenhang, gewissermaßen in seinem eigenen Recht, es wird interessant und deshalb befragenswert“. 9 Das Wort „konstituiert“ deutet darauf hin, dass es sich bei jedem theoretischen Problem, jedem Objekt um eine Konstruktion handelt, die auf Relevanzkriterien gründet. Dazu bemerkt Hartmut Esser: „Jede soziologische Erklärung ist ein theoretisches Modell und daher kein unmittelbares Abbild der sog. Wirklichkeit. Deshalb handelt es sich immer um eine Vereinfachung. Es geht gar nicht anders.“ 10 In dem hier entworfenen Zusammenhang wird dieses Modell als Erzählkonstruktion aufgefasst, die aus Beobachtungen und den ihnen entsprechenden semantischen Entscheidungen hervorgeht: aus Relevanzentscheidungen, Selektionen und Klassifikationen. Als Vereinfachung wird diese Konstruktion der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Eine Annäherung an deren Komplexität soll der offene Dialog ermöglichen, der heterogene Perspektiven aufeinander bezieht. Jede der großen soziologischen Erzählungen geht, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, von bestimmten Relevanzen aus, die die Form von relevanten Gegensätzen annehmen. Bei Auguste Comte ist beispielsweise der Gegensatz zwischen Glauben (Religion, Metaphysik) und Vernunft (Wissenschaft) relevant, und seine Erzählung bewegt sich auf Verwissenschaftlichung und Verweltlichung zu. Wie bei anderen Soziologen entscheidet auch bei Comte die Relevanz als semantischer Gegensatz über Dynamik und Richtung des Diskurses. Ähnliches lässt sich von Karl Marx̕ groß angelegter - in vieler Hinsicht hegelianischer (vgl. Kap. IV) - Erzählung sagen, die auf dem semantischen Gegensatz Kapitalismus / Kommunismus bzw. Kapital / Arbeit gründet: Anders als die Erzählung Comtes, die eher Ereignisse und Prozesse beschreibt, wird Marx̕ Erzählung vom Konflikt zwischen zwei kollektiven Aktanten (vgl. Abschn. 2) angetrieben, die um das Objekt „Gesellschaft“ (um den Objekt-Aktanten, Greimas) kämpfen. 8 A. Schütz, Das Problem der Relevanz, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S. 101. 9 A. Schütz, „Strukturen der Lebenswelt“, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. III: Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag, Nijhoff, 1971, S. 161. 10 H. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. I: Situationslogik und Handeln, Frankfurt- New York, Campus, 1999, S. 21. <?page no="68"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 52 In größeren, aber weniger konkreten Dimensionen denken Adorno und Horkheimer, wenn sie in ihrer Dialektik der Aufklärung den Gegensatz Natur / Geist für relevant erklären und die zunehmend fatale Herrschaft des Geistes über die Natur, des Subjekts über das Objekt nachzeichnen (vgl. Kap. VI). In vieler Hinsicht komplementär zu ihrem Entwurf verhalten sich die verschiedenen feministischen Theorien, die in ihren zahlreichen Varianten vom semantischen Gegensatz männlich / weiblich ausgehen und viele Probleme der vormodernen und modernen Gesellschaft aus der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts ableiten. Dass ihre Konstruktionen auf verschiedenen Ebenen die Konstruktion Adornos und Horkheimers ergänzen, weil der Geist (als Logos, Ratio und System) seit jeher männlich war, liegt auf der Hand (vgl. Kap. VII). Ein Vergleich der Relevanzkriterien von Luhmann und Habermas lässt die Auswirkung der Relevanzen auf das verwendete Vokabular erkennen: Der semantische Stellenwert des Wortes „System“ ändert sich, sobald es in andere Relevanzen eingebunden wird. „Im ersten Schub wird die traditionelle Differenz von Ganzem und Teil durch die Differenz von System und Umwelt ersetzt“ 11 , heißt es in Luhmanns Soziale Systeme. In diesem Satz geht es primär um eine Verlagerung der Relevanz. Durch die neue Unterscheidung von System und Umwelt führt der Beobachter eine neue Relevanz ein und leitet zugleich eine neue Erzählung ein: die Erzählung von der fortschreitenden Systemdifferenzierung, die die traditionellen hermeneutischen und dialektischen Erzählungen ersetzen soll. Diese Erzählung ist zugleich eine neue Konstruktion des Objekts „Gesellschaft“. Ganz anders konstruiert und erzählt Jürgen Habermas das gleiche Objekt, wenn er (wie sich in der Einleitung gezeigt hat) vom Gegensatz zwischen den Systemen (Medien) Macht und Geld einerseits und der Lebenswelt andererseits ausgeht. Anders als die Erzählung Luhmanns, die den sozialen Differenzierungsprozess zum Gegenstand hat, gründet seine Erzählung auf einem Konfliktmodell, das vom Widerspruch zwischen Markt und Macht einerseits und einer Lebenswelt der Verständigung und des Konsensstrebens andererseits strukturiert wird: „Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest.“ 12 Es liegt auf der Hand, dass in diesem Modell die „Lebenswelt“ positiv, die „Systeme Macht und Geld“ durchweg negativ konnotiert sind. Zugleich nimmt das Wort „System“ bei Habermas eine ganz andere Bedeutung an als bei Luhmann, obwohl es sich mit Luhmanns Definitionen der Systeme „Wirtschaft“ und „Politik“ überschneidet. Im Rahmen einer so angelegten 11 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 22. 12 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 192. <?page no="69"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 53 Konstruktion kann der „Erzähler“ (als Beobachter) nur ein Ziel verfolgen: die Einrichtungen der Lebenswelt gegen die Monetarisierung durch Marktgesetze und die Machtansprüche der Politik verteidigen. In allen theoretischen Erzählungen - von Comte und Marx bis Luhmann und Habermas - begründen die Relevanzen bestimmte komplementäre Klassifikationen (Klassen von Begriffen). Während bei Comte eine positive Klasse von Begriffen wie „positives Wissen“, „Wissenschaft“, „Tatsache“, „Erkenntnis“ usw. durch eine negativ konnotierte Klasse ergänzt wird, der Begriffe wie „Metaphysik“, „Theologie“, „Mythos“ und „Glaube“ angehören, leitet Marx seine Klassifikationen von dem für ihn relevanten Gegensatz Kapitalismus / Kommunismus (Kapital / Arbeit) ab: Der Begriffsklasse „Materialismus“, „Wissenschaft“, „konkrete Erkenntnis“, „Praxis“ usw. steht die Begriffsklasse „Idealismus“, „Ideologie“, „abstrakte Erkenntnis“, „Spekulation“ usw. gegenüber. Algirdas J. Greimas bezeichnet solche Wortklassen als semantische Isotopien, für deren Kohärenz ein Oberbegriff (Klassem) wie „Kapitalismus“ oder „Sozialismus“ bürgt. Isotopie ist: „Wiederholtes Auftreten auf einer syntagmatischen Ebene von Klassemen, die für die Homogenität des Diskurses als Aussage bürgen.“ 13 Von den semantischen Strukturen oder Isotopien bei Comte und Marx wird im vierten und fünften Kapitel ausführlicher die Rede sein. Auch bei Luhmann und Habermas sind die Wortklassen, die die semantische Basis der jeweiligen theoretischen Diskurse bilden, von den Relevanzen ableitbar. Bei Luhmann wird die Umwelt eines Systems - etwa der Wirtschaft - von allen anderen sozialen Systemen gebildet, so dass es zu einer (naheliegenden) Klassifikation der Systeme in „Politik“, „Wissenschaft“, „Religion“, „Kunst“ usw. kommt. Die Differenz System / Umwelt beinhaltet aber auch Wortklassen oder Isotopien, die sich einerseits auf das „System“, andererseits auf die „Umwelt“ beziehen. Auf das System beziehen sich u.a.: „Autonomie“, „Autopoiesis“, „Selbstreferenz“, „Fremdreferenz“; auf die Umwelt: „Komplexität“, „Kontingenz“, „Außenbereich“, „Außeneinwirkungen“ usw. Bei Habermas gehen aus der postulierten Relevanz Klassifikationen hervor, in denen sich der wertende Gegensatz System / Lebenswelt auf die positiven oder negativen Konnotationen der semantischen Einheiten auswirkt: „strukturelle Gewalt“, „Verdinglichung“, „Ungleichheit“, „Kolonialisierung“ usw. im Gegensatz zu: „Kommunikation“, „Verständigung“, „Gleichheit“, „Konsens“ usw. Die hier skizzierten relevanzabhängigen Klassifikationen lassen Begriffsdefinitionen entstehen („System“, „Umwelt“, „Lebenswelt“), die in je- 13 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 196-197. <?page no="70"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 54 dem theoretischen Diskurs, in jeder soziologischen Erzählung einen anderen semantischen Inhalt annehmen. Das Wort „System“ ist als Signifikant (Saussure), als vieldeutige phonetische Einheit, unbestimmt; erst in der Semantik eines Diskurses, die durch Relevanzen und Klassifikationen entsteht, nimmt es eine konkrete Bedeutung an und wird dadurch als Begriff bestimmt. Dennoch ist es nicht immer eindeutig, und man könnte zeigen, dass es im Falle von Wörtern wie „System“ und „Lebenswelt“ sowohl bei Luhmann als auch bei Habermas zu Sinnverschiebungen kommt. 14 Abschließend kann festgehalten werden, dass jede theoretische „Erzählung“ als Diskurs eine semantische Basis hat, die den Erzählvorgang ermöglicht und für ihn unentbehrlich ist. Ohne beobachtete und postulierte Relevanzen und die aus ihnen hervorgehenden Klassifikationen und Definitionen können Geschichte, Wirtschaftsgeschichte oder Gesellschaft nicht erzählt und in ihrer Entwicklung erklärt werden. Um eine Theorie zu verstehen, ist es daher notwendig, ihre semantischen Grundlagen als Relevanzen zu analysieren. Im Folgenden soll mit Hilfe der Begriffe Aktant, Akteur, Fokalisator, Erzählprogramm und Prozess die eigentliche Dynamik der theoretischen Erzählung erläutert werden. 2. Aktanten und Akteure, Fokalisatoren und Prozesse Bekanntlich können in Märchen, Novellen und Romanen alle möglichen Instanzen handeln und so den Fortgang der Erzählung sichern: Helden und Antihelden aller Art, Tiere, mythische Wesen wie Drachen, aber auch außerirdische Instanzen wie die Sonne oder der Mond, die in der Dichtung oft angeredet, befragt und zum Handeln aufgefordert werden. Aber auch Kollektive können in der Literatur handeln: etwa die „Partei“, von der ein Sozialist in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften sagt: „Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel! “ 15 Dieses „Wir“ kommt auch in der Sozialphilosophie und der Soziologie vor: etwa wenn Saint-Simon seine Hoffnung in das entschlossene Handeln der „Industriellen“ setzt oder wenn Marx das „Proletariat“ gegen das „Bürgertum“ antreten lässt. Im letzten Satz des Kommunistischen Manifests ruft er gar die Proletarier als Kollektiv zum revolutionären Handeln auf. 14 Dass es zu zahlreichen Sinnverschiebungen bei T. S. Kuhns „Paradigmabegriff“ kommt, und zwar in einem und demselben Buch, nämlich The Structure of Scientific Revolutions, hat Margaret Masterman gezeigt. Vgl. M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Bd. IV, Cambridge, Univ. Press (1970), 1982, S. 61-65. 15 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Hamburg, Rowohlt, 1952, S. 1324. <?page no="71"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 55 Nicht ganz zu Unrecht betrachtet Max Weber Kollektive als handelnde Instanzen mit Skepsis und versucht, seine verstehende Soziologie (vgl. Kap. I und XII) ausschließlich auf das Handeln von Individuen auszurichten. Mit einem Seitenblick auf Marxisten und Sozialisten meint er feststellen zu können: „Auch eine sozialistische Wirtschaft müßte soziologisch genau so ‚individualistisch‘, d.h.: aus dem Handeln der Einzelnen: - der Typen von ‚Funktionären‘, die in ihr auftreten, - heraus, deutend verstanden werden (…).“ 16 Aber beschließt die Partei (als Parteipräsidium oder Politbüro) nicht den Fünfjahresplan? Kann in einer Marktwirtschaft die Regierung oder die Handelskammer nicht Beschlüsse fassen, die stets kollektiv sind, weil sie nie von einer einzelnen Person stammen und (juristisch gesehen) nie von Einzelpersonen getragen werden? Es wird sich zeigen, dass in verschiedenen soziologischen Theorien Institutionen, Organisationen, Bewegungen und sogar Systeme - zu Recht oder zu Unrecht - als handelnde Instanzen und als treibende Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung aufgefasst werden. Wo Individuen gemeinsam etwas beschließen, werden Voraussetzungen für gemeinsames, kollektives Auftreten und Handeln geschaffen. Die von Algirdas Julien Greimas und seinen Mitarbeitern entwickelte Strukturale Semiotik versucht, allen diesen Fragen und Problemen Rechnung zu tragen, indem sie im Anschluss an Lucien Tesnière 17 den Begriff des Aktanten einführt, der im Prinzip alle wirklichen, abstrakten, mythi schen, kollektiven und individuellen Instanzen bezeichnet, die handlungsfä hig sind oder für handlungsfähig gehalten werden: „Die Aktanten sind Personen oder Dinge, die in welcher Eigenschaft und auf welche Art auch immer, sogar als einfache Statisten und auf völlig passive Art, am Prozess beteiligt sind.“ 18 Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, dass Erving Goffman im Zusammenhang mit seiner dem Theater entlehnten Terminologie „Teams“ oder „Ensembles“ als kollektive Aktanten einführt. Grundsätzlich unterscheidet Greimas zwei Arten von Aktanten: Aktan ten der Kommunikation (des Aussagevorgangs) und Aktanten der Erzäh lung (der Aussage). Aktanten der Kommunikation sind alle Erzähler (Sender) literarischer oder theoretischer Texte und alle ihre Hörer oder Leser (Empfänger). Aktanten der Erzählung sind die in der Erzählung handelnden Instanzen, die symmetrisch in Helden und Antihelden, Helfer und Widersa cher, Auftraggeber und Gegenauftraggeber eingeteilt werden. Alle diese Instanzen sind Subjekt Aktanten: handelnde Subjekte oder Antisubjekte. Eine 16 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie (Unvollendet 1919-1920), Studien ausgabe, Bd. I/ 23 (Hrsg. K. Borchardt et al.), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014, S. 12. 17 Vgl. L. Tesnière, Eléments de syntaxe structurale, Paris, Klincksieck, 1959, S. 102 sowie A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 3 („Actant“). 18 Ibid. <?page no="72"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 56 wichtige Funktion erfüllt in jeder Erzählung - symmetrisch zu den Subjekt- Aktanten - der Objekt-Aktant, dessen sich sowohl der Held als auch der Antiheld bemächtigen wollen: die Prinzessin oder der Schatz im Märchen, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Macht oder der Mensch in einer ideologischen oder soziologischen Erzählung. Eine besondere Rolle fällt dem Subjekt-Aktanten als Auftraggeber (destinateur, Greimas) zu: „Der Auftraggeber (gesellschaftliche Autorität, die den Helden mit einem Heilsauftrag betraut) teilt dem Helden die Rolle des Beauftragten zu (…).“ 19 Dieser Heilsauftrag beinhaltet ein Erzählprogramm (programme narratif, Greimas, Courtés), in dem es stets darum geht, ein Ziel zu erreichen (z.B. die „klassenlose Gesellschaft“) oder sich eines Objekts zu bemächtigen (z.B. der Prinzessin im Märchen oder des Staatsapparats in Lenins Staat und Revolution). Der Auftraggeber (der König im Märchen, Gott in monotheistischen Diskursen, die Geschichte im Marxismus) spielt auch in der Philosophie und der Soziologie eine entscheidende Rolle, denn auf ihn berufen sich die Erzähler, um die Handlungen ihrer Helden plausibel zu machen und zu rechtfertigen. Bei Marx erscheint die „Geschichte“ als Auftraggeberin, die die Handlungen des „Proletariats“ mit Vernunft erfüllt und legitimiert. Symmetrisch dazu tritt die „Beharrung“ oder „Reaktion“ als Gegenauftraggeberin des „Bürgertums“ (des „Adels“) und als „Negation der Geschichte“ auf. Den Aktantenbegriff ergänzt der Begriff des Akteurs, von dem Joseph Courtés sagt, er könne als „Synkretismus mehrerer Aktanten“ 20 aufgefasst werden: Ein Politiker kann als individueller Akteur beispielsweise den kollektiven Aktanten „Regierung“, „Parlament“ und „Partei“ angehören. Umgekehrt setzen sich kollektive Aktanten - z.B. Parteien - aus zahlreichen individuellen Akteuren zusammen. Für die Soziologie ist das Wechselverhältnis Akteur-Aktant deshalb von Bedeutung, weil das Handeln eines einzelnen Akteurs oftmals nur im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektivaktanten erklärt werden kann. 21 Auf dieser Ebene wird sich zeigen, dass Versuche, gesellschaftliche Entwicklungen ausschließlich aus individuellen Handlungen abzuleiten, fragwürdig sind (vgl. Kap. III). Die Handlungen von Aktanten sind keine isolierten Taten, sondern laufen auf semantischen Ebenen oder Isotopien (s.o.) der soziologischen Erzählung (des soziologischen Diskurses) ab, die durch die hier beschrie- 19 A. J. Greimas, Du Sens, Paris, Seuil, 1970, S. 234. 20 J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 21 A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 168-169. <?page no="73"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 57 benen semantischen Relevanzen und Klassifikationen - etwa Kapitalismus / Kommunismus oder System / Umwelt - zustande kommen. Greimas zeigt, wie Aktanten und Akteure in mythischen, literarischen, politischen und theoretischen Diskursen diesen Isotopien zugeordnet werden können. Wie in literarischen oder politischen Erzählungen, in denen sich die Helden und ihre Helfer auf den komplementären Isotopien „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ und „Menschlichkeit“ bewegen, die Antihelden und ihre Helfer hingegen auf den Isotopien „Lüge“, „Ungerechtigkeit“ und „Unmenschlichkeit“, bewegen sich auch in theoretischen Diskursen die Subjekte auf positiv konnotierten Isotopien wie „Wahrheit“, „Wissenschaft“, „Erkenntnis“, „Lebenswelt“, während die Antisubjekte der „Unwahrheit“, „Unwissenschaftlichkeit“ oder der (ideologischen) „Verschleierung“ geziehen werden. Für die semiotische Aktantentheorie ist schließlich der Begriff der Modalität wesentlich. 22 Er bezeichnet - vereinfacht ausgedrückt - Haltungen und Fähigkeiten wie „sollen“, „wollen“, „wissen“ und „können“, die Handlungen und ganze Programme als narrative Programme (programmes narratifs, Greimas, Courtés) ermöglichen. Ohne besondere Fähigkeiten wären individuelle und kollektive Aktanten (Akteure) nicht in der Lage, sich Ziele zu setzen und diese Ziele auch zu erreichen. Dies gilt für mythische Helden und Romanhelden ebenso wie für politische Parteien, die versuchen, mit Hilfe ihrer Programme und Proklamationen die Öffentlichkeit von ihren Fähigkeiten oder Modalitäten zu überzeugen und für ihre Programme als Erzählungen künftiger Taten zu gewinnen. Dass literarische Helden von Autoren mit fantastischen Modalitäten - vor allem des „Wissens“ und „Könnens“ - ausgestattet werden, ist bekannt. Von Ariostos Orlando Furioso bis zu Ian Flemings James Bond werden Helden mit Wunderwaffen ausgerüstet, die es ihnen gestatten, den furchterregendsten Feind (etwa Dr. No) zu besiegen. Was wir den Schriftstellern glauben, weil das Papier der Fiktion besonders geduldig ist, nehmen wir Philosophen und Soziologen nicht ohne weiteres ab, weil vor allem die Soziologie als Wissenschaft empirische Ansprüche erhebt und auch erheben soll. So kommt es, dass nicht nur Hegels „Weltgeist“ bei den empirisch denkenden Philosophen Großbritanniens und der USA Unmut erregte, sondern auch Marx̕ „Proletariat“, das mit einem revolutionären Bewusstsein (als Modalität) ausgestattet wird, das sich empirischer Überprüfung entzieht. Der Hegelianer und Marxist Georg Lukács geht noch einen Schritt weiter, wenn er in seiner Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) schreibt: „D.h. es ist gerade so wenig ein Zufall, wie ein rein 22 Vgl. A. J. Greimas, „Pour une théorie des modalités“, in: ders., Du Sens II. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1983, S. 71-79. <?page no="74"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 58 theoretisch-wissenschaftliches Problem, daß das Bürgertum theoretisch in der Unmittelbarkeit stecken bleibt, während das Proletariat darüber hinausgeht.“ 23 Hier wird das Proletariat mit einer nahezu fantastischen Modalität des Wissens ausgestattet, die es in die Lage versetzen soll, das Bürgertum als Antisubjekt aus dem historischen Feld zu schlagen. In diesem Zusammenhang fällt dem Begriff Fokalisator, den Gérard Genette in die Narrativik eingeführt hat, eine wichtige Rolle zu. Er bezeichnet die literarische Figur, mit deren Augen der Schriftsteller als Erzähler die von ihm geschaffene Welt beobachtet. 24 Diese Figur fällt zumeist mit dem positiv konnotierten Subjekt-Aktanten (Helden) zusammen und ist somit in das Aktantenmodell der Strukturalen Semiotik integrierbar. In Geschichte und Klassenbewußstsein stellt Lukács an anderer Stelle den „Marxismus als wissenschaftliche[n] Standort des Proletariats“ 25 dar. Dies bedeutet, dass er die gesellschaftliche Wirklichkeit aus der Sicht des Proletariats (seines Fokalisators) beobachtet und beurteilt - so wie der Schriftsteller einer Novelle oder eines Romans die „Wirklichkeit“ von seinem Helden beobachten lässt. In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig beispielsweise wird die Welt von Venedig mit den Augen der Hauptfigur Aschenbach betrachtet. Das Problem, das sich hier abzeichnet, geht aus dem Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Empirie hervor: Während der Leser der Novelle Thomas Mann alles glauben kann, was er von seinem Protagonisten und dessen Modalitäten (Kenntnissen, Fähigkeiten) sagt, weil er alle Figuren seiner Novelle erfunden hat, wird der Leser von Geschichte und Klassenbewußtsein die fantastischen Modalitäten, mit denen Lukács das „Proletariat“ ausstattet, mit berechtigter Skepsis betrachten. Er wird sich fragen, ob dieses „Proletariat“ tatsächlich der empirischen - der Erfahrung, Befragung, Beobachtung zugänglichen - Arbeiterklasse entspricht oder eine theoretische Fiktion ist. Davon wird hier ausführlicher im Marxismus-Kapitel die Rede sein. In der soziologischen Theorie macht sich dieses Problem immer wieder bemerkbar: etwa bei Alain Touraine, dem Soziologen des „gesellschaftlichen Handelns“, der meint, den Standpunkt der emanzipatorischen sozialen Bewegungen (Frauenbewegungen, „Grüne“, Friedensbewegungen) einnehmen zu sollen. Aber können diese Bewegungen tatsächlich, wie er glaubt, der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung eine Wende zum Besseren geben? Oder stattet er sie mit Modalitäten aus, die einer empirischen Überprüfung nicht standhalten? Hier wird deutlich, dass der soziologische Diskurs Wirklichkeiten schafft, die in mancher Hinsicht mit de- 23 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 288. 24 Vgl. G. Genette, Figures III, Paris, Seuil,1972, S. 206-211. 25 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 308. <?page no="75"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 59 nen der erzählenden Literatur vergleichbar sind. Dadurch können in den Sozialwissenschaften mythische Aktanten entstehen, die nicht das halten (können), was sich ihre Schöpfer von ihnen versprechen. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb einige Soziologen - von Comte und Durkheim bis Luhmann - nicht so sehr Aktanten und Akteuren ihre Aufmerksamkeit widmen, sondern sozialen Prozessen wie Differenzierung, Arbeitsteilung oder Institutionalisierung. Freilich schließen Prozesse Handlungen nicht aus, denn sie werden von individuellem und kollektivem Handeln in Gang gesetzt und in Bewegung gehalten. Aber sie lassen immer wieder etwas Neues entstehen, was die Handelnden weder beabsichtigt noch vorausgesehen haben. Die Narrativik kennt zwar den Prozess-Begriff, stellt ihn aber nicht ins Zentrum ihrer Betrachtungen. 26 In der Soziologie hingegen gehört er zu den Schlüsselbegriffen, wie Norbert Elias̕ Werk Über den Prozeß der Zivilisation (1969) zeigt (vgl. Kap. XIII). Wie entsteht das Neue und Unvorhergesehene? Es entsteht aus koordinierten und unkoordinierten Handlungen, die neue Bedingungen und neue Situationen schaffen, an denen sich künftige Handlungen orientieren müssen. Zwei Beispiele mögen veranschaulichen, was gemeint ist: Man nimmt sich vor, einen Geburtstag wie gewohnt im intimen Kreis zu feiern, lädt aber spontan eine neue, noch wenig bekannte Nachbarin ein. Erstaunt stellt man fest, dass die vertraute Stimmung der Unsicherheit, ja der Anonymität weicht, weil die neue Nachbarin unsicher wirkt, nicht aus sich herausgeht usw. Durch Einwanderung (also durch das Handeln vieler) wächst eine Kleinstadt zur Großstadt heran, die Handwerker und kleinen Geschäfte werden von arbeitsteiligen Betrieben, Supermärkten und Kaufhäusern verdrängt, und auch in diesem Fall nimmt die Anonymität zu. Kein Handelnder, kein Akteur hat diesen Zustand beabsichtigt, herbeigewünscht: und doch tritt er ein mit allen Vor- und Nachteilen. Hartmut Esser spricht in diesem Zusammenhang vom „ungeplante[n] Resultat eines Prozesses des wechselseitig bezogenen Handelns und Reagierens von ‚rationalen‘ Akteuren“. 27 Luhmann bezeichnet diese Erscheinung als Emergenz: „Oft spricht man in diesem Zusammenhang auch von ‚emergenten‘ Ordnungen und will damit sagen, daß Phänomene entstehen, die nicht auf die Eigenschaften ihrer Komponenten, zum Beispiel auf die Intentionen von Handelnden zurückgeführt werden können. Aber ‚Emergenz‘ ist eher die Komponente einer 26 Vgl. G. Prince, Dictionary of Narratology, Aldershot, Scholar Press, 1988, S. 77: „process“. 27 H. Esser, Soziologische Anstöße, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 203. <?page no="76"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 60 Erzählung als ein Begriff, der zur Erklärung von Emergenz verwendet werden könnte.“ 28 Sie ist Komponente einer Erzählung, weil sie dem entspricht, was der Semiotiker Tzvetan Todorov als Ereigniskausalität 29 bezeichnet: Ein Ereignis geht aus dem vorhergehenden hervor, und es kommt zu einer Verkettung von Ereignissen, die den Eindruck weckt, als laufe ein Prozess ohne Handlungen, ohne Aktanten, ohne Subjekte ab. Aber dies ist eine Illusion, wie sich im Luhmann-Kapitel zeigen wird. In der Soziologie käme es darauf an, Handlung und Prozess im theoretischen Diskurs dialektisch aufeinander zu beziehen. Es fragt sich nun, in welchen Kontexten theoretische Diskurse als semantische und narrative Strukturen entstehen. 3. Theorie als Soziolekt und Diskurs: Theorie, Ideologie und Kultur Bisher wurde soziologische Theorie als Erzählung aufgefasst, die durch ein Aktantemodell und besondere semantische Vorentscheidungen (Relevanzkriterien, Klassifikationen, Definitionen) strukturiert wird. Obwohl Einzelpersonen für die Besonderheit einer Theorie verantwortlich sind, entwerfen sie diese Theorie nicht als isolierte Individuen ohne Kontakt zur Umwelt, sondern als sprachbegabte Subjekte, die nur dadurch zu Subjekten werden konnten, dass sie sich im Laufe ihrer Sozialisation in einem ständigen Dialog mit anderen (individuellen und kollektiven) Subjekten entwickelt haben. Auch ihre Theorie kann deshalb nur dialogisch als nachahmende, zustimmende oder ablehnende Reaktion auf andere Theorien und ihre Sprachen verstanden werden. Die Theorie als Diskurs, als semantisch-narrative Konstruktion entsteht in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der sie nicht nur auf andere theoretische Diskurse, sondern auch auf die Alltagssprache, auf die in ihr wirkenden ideologischen Sprachen, Fachsprachen aller Art, Philosophien, Literaturen und Sprachen der Werbung reagiert. Diese Sprachen sind keineswegs „freischwebend“, sondern können verschiedenen ideologischen Gruppen, Berufen, Organisationen und Bewegungen zugeordnet werden: religiösen oder literarischen Gruppierungen, politischen Parteien, Frauenbewegungen, Umweltschützern usw. Es sind keine rein individuellen Sprachen, sondern Soziolekte, denen ein bestimmtes Vokabular wie „freie Marktwirtschaft“, „Konkurrenz“, „Leistungsanreize“ im Falle des Neoliberalismus oder „Sexismus“, „Ungleichbehandlung“ oder „symbolische Gewalt“ im Falle des Feminismus eigen ist. 28 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 134- 135. 29 Vgl. T. Todorov, „Poétique“ in: O. Ducrot et al., Qu’est-ce que le structuralisme ? , Paris, Seuil, 1968, S. 133. <?page no="77"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 61 Dieses Vokabular wird von bestimmten Relevanzkriterien und semantischen Klassifikationen strukturiert. Innerhalb eines jeden Soziolekts können beliebig viele Diskurse (als semantische und syntaktisch-narrative Strukturen oder Erzählungen) generiert werden. Obwohl jeder Diskurs von allen anderen mehr oder weniger stark abweicht, sind allen Diskursen eines Soziolekts bestimmte lexikalische, semantische und narrative Komponenten gemeinsam: Sie können alle zu einer „großen Erzählung“ als Erzählprogramm (des Liberalismus, Feminismus oder Marxismus) gebündelt werden, die dem Soziolekt als sozialem Standort einer Gruppe entspricht. Das hier angeführte Stichwort „symbolische Gewalt“, das einige feministische Gruppierungen der Soziologie Pierre Bourdieus entnehmen, weist auf ein symbiotisches Verhältnis zwischen ideologischen und wissenschaftlichen Soziolekten hin (und auch auf die Schwierigkeit, Webers Postulat der Wertfreiheit in den wissenschaftlichen Semantiken durchzusetzen). 30 Tatsächlich zeigen Karl R. Poppers frühe Erfahrungen, dass Theorien in einer sozio-linguistischen Situation entstehen, in der Theoretiker mit Zustimmung oder Kritik auf ideologische und theoretische Soziolekte und deren Diskurse reagieren. Dazu bemerkt Popper: „Meine Begegnung mit dem Marxismus war eines der wichtigsten Ereignisse meiner intellektuellen Entwicklung. Sie lehrte mich Dinge, die ich nie vergessen habe (…).“ 31 An anderer Stelle fügt Popper im Zusammenhang mit Einsteins Physik hinzu: „Das war eine Einstellung, die sich von der dogmatischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied - und noch mehr von der Einstellung ihrer Anhänger.“ 32 Der Zusatz ist nicht ganz unwichtig, weil er andeutet, dass der theoretische Dialog nicht nur zwischen Einzelpersonen - Popper, Einstein, Marx, Freud - stattfindet, sondern zwischen theoretischen und zugleich ideologischen Gruppensprachen oder Soziolekten. Popper setzte sich auch kritisch mit dem Logischen Positivismus des Wiener Kreises (Schlick, Carnap) auseinander - weshalb er nicht als „Positivist“ bezeichnet werden sollte. Der dialogisch-polemische Ursprung einer Theorie, der hier zu beobachten ist, bewirkt, dass jede sozialwissenschaftliche Theorie am ehesten als intertextuelle, d.h. dialogische Reaktion auf andere Theorien zu verstehen ist. Dazu bemerkt Roland Barthes im Anschluss an Bachtins Theorie des Dialogs und Julia Kristevas Begriff der Intertextualität: „Der Text teilt 30 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IV: „Ideologie und Wertfreiheit: Von Max Weber zum Kritischen Rationalismus“, Kap. V: „Ideologie und Wissenschaft: Von Louis Althusser zu Michel Pêcheux“ und Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 31 K. R. Popper, Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1979, S. 45. 32 Ibid., S. 48. <?page no="78"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 62 die Sprache neu ein (er ist das Feld der Neueinteilung). Eine Art, diese Dekonstruktion-Konstruktion in die Wege zu leiten, ist, Texte sowie die Textfetzen, die im Umfeld eines bestimmten Textes und schließlich in ihm selbst vorkommen, umzugestalten: Jeder Text ist ein Intertext.“ 33 Das heißt: Jeder Text ist als Dialog mit anderen Texten zu verstehen, die er umgestaltet, umdeutet. Wie kommt diese Umgestaltung zustande? Sie kommt dadurch zustande, dass jemand wie Popper im Verlauf seines Dialogs mit anderen theoretischen Soziolekten und Diskursen neue Relevanzkriterien, Klassifikationen und Definitionen postuliert und beispielsweise die vom Wiener Kreis geforderte „Verifikation“ oder „Verifizierbarkeit“ wissenschaftlicher Theorien durch das Kriterium der „Falsifizierbarkeit“ (Widerlegbarkeit) von Theorien ersetzt. Durch dieses neue Relevanzkriterium wird sein Diskurs als Intertext, als dialogisches Konstrukt, zum „Feld der Neueinteilung“. Dass diese „Neueinteilung“ nicht nur theoretisch und wissenschaftlich motiviert ist, lässt Poppers Verhältnis zum Liberalismus, zur liberalen Ideologie, erkennen. Zu diesem Verhältnis bemerkt Alan Ryan: „That is, it is not so much that his philosophy of science supports his liberalism as that it expresses it. This is not a claim which I imagine Popper himself would accept; indeed, I imagine that he would be extremely hostile to it.” 34 In diesen Sätzen wird zweierlei deutlich: Einerseits ist eine Philosophie oder sozialwissenschaftliche Theorie nie frei von ideologischen Interferenzen (Grundsätzen, Ansichten, Wertungen); andererseits geben Philosophen und Sozialwissenschaftler diese Interferenzen nicht gern zu, und zumeist reflektieren sie sie auch nicht. Popper verteidigt zwar die liberalindividualistische Gesellschaftsordnung, stellt aber keine Beziehung zwischen ihr und seiner Wissenschaftstheorie her, obwohl er andeutet, dass „freie Diskussion“ als liberales Prinzip für die Entfaltung der Wissenschaft wesentlich ist: „Gedankenfreiheit und freie Diskussion sind letzte Werte des Liberalismus, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.“ 35 An anderer Stelle heißt es: „Und diese Selbstkritik und Selbstbefreiung ist nur in einer pluralistischen Atmosphäre möglich, das heißt in einer offenen Gesellschaft, die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert.“ 36 In Übereinstimmung mit Ryan kann allerdings gezeigt werden, dass Poppers Plädoyer für „Falsifizierbarkeit“ (Widerlegbarkeit) von Hypothesen und 33 R. Barthes, „Théorie du texte et intertextualité“ , in: S. Rabau (Hrsg.), L’Intertextualité, Paris, Flammarion, 2002, S. 59. 34 A. Ryan, „Popper and Liberalism“, in: G. Currie, A. Musgrave (Hrsg.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht-Boston-Lancaster, Nijhoff, 1985, S. 89. 35 K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München-Zürich, Piper, 1984, S. 172. 36 Ibid., S. 162. <?page no="79"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 63 Theorien seiner Auffassung einer „offenen“ und „pluralistischen“ Gesellschaft homolog ist, in der inmitten von Vielfalt das Konkurrenzprinzip herrscht. 37 Poppers Ansatz wurde hier als Beispiel angeführt, damit nicht der Eindruck entsteht, dass sich nur engagierte Theorien (vgl. Kap. I) wie Marxismus, Feminismus oder Kritische Theorie in ständiger Wechselbeziehung zu Ideologien entfalten - und dass „wirklich“ wissenschaftliche Theorien „neutral“, „objektiv“ oder „wertfrei“ sind. Alle sozialwissenschaftlichen The orien gehen von Relevanzkriterien und Klassifikationen aus, die z.T. ideologisch motiviert und fundiert sind. In den Sozialwissenschaften gibt es keine neutralen oder objektiven Relevanzkriterien, Selektionen und Klassifikationen. Dies gilt auch für die hier vertretene Kritische Theorie, die zwar ebenfalls liberale und individualistische Werte verteidigt, zugleich aber (im Gegensatz zum Kritischen Rationalismus Poppers) den liberalen Individualismus als Herrschaftsprinzip radikal kritisiert. Poppers Auseinandersetzungen mit dem Logischen Positivismus des Wiener Kreises, mit Marxismus, Psychoanalyse, Liberalismus und Sozialismus zeigen, dass sich eine Theorie als semantisch-narrative Struktur in einer sozio linguistischen Situation entwickelt, die mit einer bestimmten Kultur fast koextensiv ist. Insofern sind alle Theorien nicht nur ideologisch, sondern auch kulturell geprägt. Dies gilt für Max Webers „verstehende Soziologie“ ebenso wie für Emile Durkheims Soziologie der Arbeitsteilung und des Kollektivbewusstseins. Während auf Weber neben dem deutschen Neukantianismus (vor allem dem Heinrich Rickerts) auch die damaligen deutschen Wirtschaftstheorien, der Marxismus, der Sozialismus, der Liberalismus und Nietzsches Philosophie eingewirkt haben, verdankt Durkheim viele seiner Relevanzkriterien den Philosophien Rousseaus und Montesquieus sowie dem Positivismus Auguste Comtes (vgl. Kap. IX). Auch der Sozialismus und der Kollektivismus seines Zeitgenossen Jean Jaurès haben Spuren in seinem Werk hinterlassen. Der Unterschied zwischen Weber und Durkheim, zwischen einer auf das individuelle Handeln und einer auf die prozesshaften Veränderungen der Gesellschaft ausgerichteten Soziologie, kann somit als zugleich ideologischer und kultureller Unterschied aufgefasst werden. Jede soziologische Theorie ist in einen ideologischen, kulturellen und sprachlichen Kontext eingebettet, aus dem sie hervorgeht. Das bisher Gesagte zeigt, wie wenig befriedigend Versuche sind, „Theorie“ rein formal als „System von Aussagen“ oder „Propositionen“ zu definieren. So schrieb schon vor längerer Zeit der amerikanische Soziologe Neil Smelser: „Eine in vieler Hinsicht immer noch befriedigende Definition 37 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur und So zialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), S. 95-99. <?page no="80"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 64 formaler Theorie wurde vor einem halben Jahrhundert von Parsons aufgestellt: Theorie ist ‚ein Gebilde logisch voneinander abhängiger, verallgemeinerter Aussagen über empirische Beziehungen‘.“ 38 Über diese von Parsons und Smelser vorgeschlagene Definition gelangt Hermann Astleitner nicht hinaus, wenn er Theorien als „Systeme von Aussagen“ 39 definiert und von ihnen (wie die meisten Anhänger des Kritischen Rationalismus) u.a. „Präzision“, „Informationsgehalt“, „logische Konsistenz“ sowie „empirische Überprüfbarkeit“ 40 verlangt. Gegen solche Kriterien ist nichts einzuwenden, zumal sie sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im sozialwissenschaftlichen Bereich gelten. Ihre Schwäche besteht darin, dass sie den spezifischen Charakter soziologischer Theorien als „Erzählungen der Gesellschaft“ nicht erfassen und ihre Entstehung in besonderen sozialen, kulturellen und sprachlichen Kontexten nicht nachvollziehen können. Warum lehnt es Max Weber ab, die Gesellschaft - wie Marx oder Touraine - mit Hilfe von kollektiven Aktanten zu erzählen? Warum richtet er seine Erzählung auf die Handlungen von Individuen aus? Warum steht bei Durkheim der Gesellschaftsprozess im Vordergrund und nicht die Handlung, und warum gibt Pareto seiner Erzählung eine zirkuläre Form? Formale Definitionen von Theorien („Theorie als System von Aussagen“) bieten keine Antworten auf diese Fragen und können außerdem die „Erzählung als Form der Erklärung“ (W. Schiffer) nicht beschreiben. Insofern erscheinen sie auch aus formaler Sicht als unzureichend. Es kommt hinzu, dass sie den wesentlichen Nexus von Ideologie und Theorie ausblenden. 4. Ideologie und Theorie als zwei Diskurstypen: Monolog und Dialog Im Anschluss an das bisher Gesagte sollen im Folgenden Ideologie und Theorie als grundverschiedene Diskurstypen gegeneinander abgegrenzt werden. Eine solche Abgrenzung ist notwendig, damit nicht der Eindruck entsteht, dass alle soziologischen Theorien „irgendwie“ ideologisch sind und dass sich Ideologie und Theorie nicht unterscheiden lassen. Erschwert wird eine Unterscheidung dadurch, dass ein Soziologe wie Rudolf Richter feststellt, „dass sich wissenschaftliche Theorien von nichtwissen- 38 N. Smelser, „Soziologische Theorien“, in: D. Bögenhold (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart, Lucius & Lucius-UTB, 2000, S. 69. 39 H. Astleitner, Theorieentwicklung für SozialwissenschaftlerInnen, Wien-Köln-Weimar, Böhlau, 2011, S. 20. 40 Ibid., S. 23-24. <?page no="81"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 65 schaftlichen nur graduell unterscheiden“. 41 Dies ist höchstwahrscheinlich richtig; aber wie sieht das „Graduelle“ auf struktureller, diskursiver Ebene aus? Es hat sich gezeigt, dass auch Ideologien Gesellschaft und Politik erzählen: etwa indem sie die sowjetische Intervention in Afghanistan als „brüderliche Hilfe“ gegen „reaktionäre Kräfte“ darstellen oder indem sie versuchen, die bekannte liberale These plausibel zu machen, der zufolge sich Marktwirtschaft und Demokratie parallel entwickeln, so dass eine funktionierende Marktwirtschaft ohne demokratische Ordnung nicht denkbar ist (die Entwicklung Chinas zeigt, dass die Wirklichkeit vielfältiger ist als die Einbildungskraft der Ideologen). Zugleich wurde deutlich, dass eine ursprünglich kritische Theorie wie die von Marx und Engels im Rahmen des Marxismus-Leninismus in eine Staatsideologie verwandelt werden kann. Die Grenzen zwischen Ideologie und Theorie scheinen somit fließend zu sein. Sie sind fließend, weil Ideologie und Theorie eine gemeinsame Grundlage haben: Beide sind Wertsysteme, d.h. Systeme von Wertsetzungen und Werturteilen. Sie können im Prinzip beide konservativ, liberal, marxistisch (sozialistisch), anarchistisch, feministisch oder ökologisch („grün“) sein. Dadurch unterscheiden sie sich von naturwissenschaftlichen Theorien, die zwar auf funktionaler Ebene für ideologische Zwecke eingesetzt werden können (etwa um die „Sicherheit“ eines Kernkraftwerks zu „beweisen“), deren Vokabular und Semantik (etwa „Kernspaltung“ oder „Anziehungskraft“) aber nicht ideologisch sind. Den Unterschied veranschaulicht, wie früher bereits angedeutet, ein Vergleich zweier sprachlich verwandter Metaphern: „wissenschaftliches Feld“ im Sinne von Bourdieu und „magnetisches Feld“ im Sinne der Physik. Obwohl aus sprachwissenschaftlicher Sicht beide Metaphern vergleichbar sind, hat der physikalische Ausdruck einen ganz anderen Status als der soziologische: Während der physikalische universelle Geltung beanspruchen kann, weil er von allen Physikern auf der ganzen Welt akzeptiert wird, findet der soziologische nur unter denjenigen Soziologen Anerkennung, die sich auf Bourdieus Theorie berufen. Diese Theorie ist - wie alle soziologischen Theorien - aus ideologischen Gründen umstritten. Es kommt hinzu, dass jeder sozialwissenschaftlichen Theorie ein implizites oder explizites ideologisches Engagement zugrunde liegt, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat. Ohne Engagement würde es der Theorie an Mo tivation fehlen. Im theoretischen Diskurs als Erzählung wird dieses Engagement unter anderem dadurch erkennbar, dass das Subjekt der Theorie die Gesellschaft aus der Sicht eines Fokalisators erzählt: aus der Sicht des 41 R. Richter, Soziologische Paradigmen. Eine Einführung in klassische und moderne Kon zepte, Wien, WUV-Univ.-Verlag, 200l, S. 20. <?page no="82"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 66 Proletariats, der Frauenbewegung, der „grünen“ Bewegung oder des autonomen Individuums. Die Ideologie im allgemeinen Sinn, die Ideologie als Wertsystem, Gruppensprache oder Soziolekt, unterscheidet sich daher nicht wesentlich von der Theorie, die auch auf einem System von Werten gründet, welches das Engagement des Theoretikers ermöglicht und erhält. Beide, sowohl Ideologie als auch sozialwissenschaftliche Theorie, sind Wertsysteme. Der eigentliche Unterschied zwischen Ideologie und Theorie tritt auf der Ebene der Diskursstruktur in Erscheinung. Auf dieser Ebene kann die Ideologie in einem ideologiekritischen Sinne restriktiv definiert werden: Sie ist ein Diskurs, dessen Aussagesubjekt Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der Wirklichkeit im Rahmen von dualistischen Aktantenmodellen (Gut / Böse; Held / Antiheld) tilgt, sich unreflektiert mit der Wirklichkeit identifiziert und dadurch einen Monolog hervorbringt, der ein dialogisches Verhältnis zu andersartigen Diskursen und zur Alterität allgemein unmöglich macht. 42 Die Kurzfassung dieser Definition lautet: Die Ideologie ist ein dualistisch strukturierter Monolog, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert. Wie die Identifizierung im Einzelnen vor sich geht, beschreibt ausführlich der Semiotiker Luis J. Prieto: „Die Erkenntnis einer materiellen Realität ist ideologisch, wenn das Subjekt die Grenzen und die Identität des Objektes, zu dem diese Realität für es geworden ist, als in der Realität selbst befindlich betrachtet, d.h. wenn das Subjekt der Realität selbst die Idee zuspricht, die es aus ihr konstruiert hat. Das Subjekt einer ideologischen Erkenntnis ist sich dann dieser Konstruktion nicht bewußt (…).“ 43 Anders gesagt: Das ideologische Subjekt blendet den Konstruktionsvorgang aus, der seine Objekte (z.B. „Wissenschaft“, „Kultur“, „Demokratie“) hervorbringt, und identifiziert seinen Diskurs mit diesen Objekten. Dadurch verbietet es implizit oder explizit anderen Subjekten, diese Objekte anders zu konstruieren und blockiert den Dialog, indem es jede Art von Alterität negiert. Zugleich vertuscht der ideologische Diskurs durch seine monologische Struktur und seine Identifizierung mit der Wirklichkeit die Tatsache, dass er selbst im Laufe der Sozialisation auf dialogischem Weg aus verschiedenen, oft heterogenen Sprachen hervorgegangen ist. Prietos ausführliche Beschreibung der Identifikationsmechanismen ist auch deshalb wichtig, weil sie veranschaulicht, was Adorno und Horkheimer mit „Identitätsdenken“ meinen. Sie wenden sich gegen die rationalistische und hegelianische Annahme, „der ordo idearum wäre der ordo 42 Vgl. Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 61. 43 L. J. Prieto, „Entwurf einer allgemeinen Semiologie“, in: Zeitschrift für Semiotik 1, 1979, S. 263. <?page no="83"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 67 rerum“ 44 , das Denken wäre mit der Wirklichkeit identisch. Gegen Hegels Postulat, das von ihm entwickelte dialektische Denken sei identisch mit der realen Welt und ihrer Entwicklung, entwirft Adorno in seiner Negativen Dialektik eine Dialektik der „Nichtidentität“ von Denken und Sein (vgl. Kap. VI). Dabei zeigt er das ideologische Moment von Hegels Philosophie auf: ihre Behauptung, ihre Konstrukte seien in der Wirklichkeit selbst zu finden, so dass Denken und Realität identisch oder identifizierbar seien. Wie der ideologische Diskurs blendet Hegels Dialektik den Konstruktionsvorgang aus, dessen Wahrnehmung zu dem Schluss führen muss, dass Denken und Sein, Subjekt und Objekt zweierlei sind und dass folglich alle von uns beschriebenen Objekte als unsere Objektkonstruktionen aufgefasst werden müssen. Dieser semiotischen (Prieto) und dialektischen (Adorno) Kritik am „Identitätsdenken“ trägt die folgende Definition des theoretischen Diskurses Rechnung, die im Gegensatz zur „Ideologie“ im restriktiven Sinne konstruiert wird: Die Theorie ist ein von ideologischen Interessen geleiteter Diskurs, dessen Aussagesubjekt über seine Relevanzkriterien, seine semantischnarrativen Verfahren und seine Aktantenmodelle im sozio-linguistischen Kontext als Entstehungszusammenhang nachdenkt und sie als partikulare, kontingente Konstruktionen einer ambivalenten und vieldeutigen Wirklichkeit auffasst, deren empirisch fundierte Erkenntnis den Dialog mit anderen Theorien voraussetzt. 45 Die Kurzfassung dieser Definition lautet: Der theoretische Diskurs fasst sich selbst als kontingente Konstruktion auf, die in einem empirisch fundierten, offenen Dialog mit andersartigen Diskursen überprüft werden kann. Diese konstruktivistische und dialogische Auffassung des theoretischen Diskurses knüpft an die konstruktivistischen und dialogischen Elemente in Adornos Essays und in seiner Negativen Dialektik an. Adorno fasst den Essay als ein selbstkritisches Denken auf, das nicht nur seine Voraussetzungen reflektiert, sondern sich bisweilen auch gegen sich selbst kehren kann, um sich selbst in Frage zu stellen: „Er [der Essay] zehrt die Theorien auf, die ihm nah sind; seine Tendenz ist stets zur Liquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt.“ 46 Hier zeichnet sich ein selbstkritisches „Gegen-sich-selbst-Denken“ ab, das in der Negativen Dialektik explizit so bezeichnet wird. 47 Dialektik wird dort nicht nur als selbstkritisches, sich seiner eigenen Kontingenz be- 44 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 23. 45 Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 62. 46 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 39. 47 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 142 und Kap. VI im vorliegenden Band. <?page no="84"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 68 wusstes Denken aufgefasst, sondern als ein Denken, das sich dialogisch Gegenmeinungen und Gegenhypothesen (d.h. der Alterität) öffnet, um sich selbst am Leben zu erhalten, um nicht ideologisch zu verkrusten. Zugleich erscheint hier der Dialog als mit der „Kraft des befreienden, infragestellenden, innovativen und nichtantizipierbaren Gesprächs“ 48 im Sinne von Hans-Herbert Kögler ausgestattet. Dies bedeutet, dass Adornos Variante der Kritischen Theorie sich nicht notwendigerweise - wie Adorno selbst meint - an der Mimesis der Kunst zu orientieren hat, und auch nicht - wie Habermas behauptet - in den „Poststrukturalismus“ münden muss: „Wenn man Adornos Negative Dialektik und Ästhetische Theorie ernstnimmt und sich auch nur einen Schritt von dieser Beckettschen Szene entfernen will, dann muß man so etwas wie ein Poststrukturalist werden.“ 49 Man kann, aber man muss nicht: Von Adorno führt nicht nur ein Weg zur kritischen Kunst, die eine Versöhnung mit der Natur antizipiert, und dann weiter zum „Poststrukturalismus“. Es hat sich gezeigt, dass in Adornos Essayistik und seiner negativen Dialektik auch Spuren des Dialogs zu finden sind, denen man bis zu dem Punkt folgen kann, an dem eine dialogische Theorie entsteht, der das „Gegen-sich-selbst-Denken“ zur Methode wird. Da die dialogischen Elemente der Theorie sowie ihre Verbindung zu Adornos negativer Dialektik schon erörtert wurden, soll zum Abschluss der theoretische Dialog als kritische Überprüfung von Theorien näher betrachtet werden. Dabei wird die Auseinandersetzung mit dem Kritischen Rationalismus - vor allem mit Poppers Plädoyer für Widerlegbarkeit - eine wichtige Rolle spielen. 5. Der theoretische Dialog als kritische Überprüfung: Widerlegung oder Erschütterung? In einem Dialog zwischen verschiedenen theoretischen Positionen sind Kritik und kritische Überprüfung ohne Dissens kaum vorstellbar. Der Dissens kann ebenso wichtig sein wie der Konsens, und ein Gespräch mag am fruchtbarsten sein, wenn Konsens und Dissens einander die Waage halten. Ein Essayist wie Montaigne schätzt gerade den Dissens: „Prallen Meinungen aufeinander, verärgert oder beleidigt mich das also keineswegs - es dient mir vielmehr als Anregung und Ansporn.“ 50 Adorno erweist sich als ein Erbe Montaignes, wenn er in der Ausrichtung auf das Andere und 48 H.-H. Kögler, Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart, Metzler, 1992, S. 7. 49 J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 172. 50 M. de Montaigne, Essais, Frankfurt, Eichborn, 1998, S. 463. <?page no="85"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 69 Heterogene ein wesentliches Element der Theorie und der Theoriebildung erblickt. Denn erst durch die Projektion ins Andere und Andersartige erscheint der eigene Standpunkt in einem neuen, ihn verfremdenden Licht. Der Theoretiker lernt, das Eigene mit den Augen des Anderen zu betrachten. In diesem Zusammenhang will es durchaus einleuchten, dass eine intersubjektive Überprüfung von Theoremen oder Theorien innerhalb von einer Wissenschaftlergruppe etwas anderes ist als eine Überprüfung zwischen verschiedenen Gruppen, deren Soziolekte und Diskurse ideologisch heterogen sind. Während sich innerhalb von einer marxistischen Gruppe gleichsam von selbst die Frage nach der Bedeutung der Klassen und der sich ändernden Klassenbeziehungen in der zeitgenössischen Gesellschaft stellt, wird in einem Dialog zwischen einer marxistischen und einer feministischen Gruppe die Relevanz dieser Frage angezweifelt und stattdessen die Frage aufgeworfen, ob Herrschaftsstrukturen und „symbolische Gewalt“ nicht eher im Verhältnis der Geschlechter zutage treten. Die Auseinandersetzung zwischen zwei heterogenen Gruppen bewirkt, dass Selbstverständlichkeiten und Dogmen, die innerhalb eines Kollektivs die Diskussionen beherrschen, erschüttert werden. Dadurch wird die intersubjektive Überprüfung in einer ideologisch-theoretischen Gruppe durch die wirksamere interdiskursive Überprüfung zwischen Gruppen ergänzt. Diese Überprüfung ist wirksamer, weil nun heterogene theoretische Diskurse als Erzählungen, als semantisch-narrative Strukturen aufeinandertreffen und jenes „Gegen-sich-selbst-Denken“ ermöglichen, von dem Adorno spricht. In der Vergangenheit haben sich Diskussionen zwischen heterogenen ideologischen und theoretischen Positionen als besonders fruchtbar erwiesen. Als Beispiel sollen die z.T. polemisch geführten Debatten zwischen Formalisten und Marxisten im nachrevolutionären Russland der 1920er Jahre veranschaulichen, was gemeint ist. Während Formalisten wie Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov und Boris Ejchenbaum vor allem in der Frühphase ihrer Entwicklung von Kants Gedanken ausgingen, dass Kunst oder „das Schöne“ „ohne Begriff gefällt“ und daher nicht in begriffliche Rede als Ideologie oder Weltanschauung übertragen werden kann, knüpften Marxisten wie Anatolij Lunačarskij oder Lev Trockij an Hegels Ästhetik an, in der Kunst als Ausdruck eines bestimmten Bewusstseins aufgefasst wird: als „scheinen der Idee“ (Hegel). Wie Hegel war Lunačarskij der Meinung, dass Kunst Ideen ausdrückt und dabei vor allem die Sinne anspricht: „Wie muß die Idee in der Kunst aussehen, um, ohne nur abstrakter Gedanke zu sein, dem ideologischen Bereich zuzu- <?page no="86"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 70 gehören? - Es ist evident, daß sie den Charakter des Gefühls tragen muß.“ 51 In diesem Zusammenhang warfen die Marxisten die Frage nach der gesellschaftlichen Entstehung der Kunst auf: nach ihrem Warum. Diese Frage beantworteten sie zumeist mit Hinweisen auf Ideologien, die Kunstwerke ausdrückten, oder auf Klassenlagen, denen sie entsprachen. Was in einem theoretischen Soziolekt „evident“ ist, kann in einem anderen als abwegig erscheinen. Zu Luna arskijs These stellt Šklovskij die Gegenthese auf: „Eine neue Form erscheint nicht, um einen neuen Inhalt auszu drücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“ 52 Hier steht in Übereinstimmung mit neuen Relevanzkriterien nicht länger die Frage nach dem „Warum“, sondern die Frage nach dem „Wie“, der neuen Form, im Mittelpunkt. Anders ausgedrückt: Der formalistische Beobachter zweiter Ordnung beobachtet die marxistische Theorie und stellt fest, dass ihre Vertreter Wesentliches übersehen: die Tatsache, dass Künstler nicht Werke hervorbringen, um neue Gefühle oder Ideen auszudrücken, sondern um alte, verbrauchte Formen, die kein „neues Sehen“ mehr ermöglichen, durch neue Formen abzulösen. Obwohl die Debatten zwischen Formalisten und Marxisten in der Sowjetunion nicht fortgesetzt werden konnten, weil die Formalisten von der stalinistischen Zensur mundtot gemacht wurden, brachten sie neue Erkenntnisse hervor, die vor allem in der Semiotik und einigen literatursoziologischen Richtungen auf fruchtbaren Boden fielen. Hier erkannten Be obachter dritter Ordnung - d.h. Beobachter des Dialogs zwischen Formalisten und Marxisten - die Notwendigkeit, an die schon der russische Literaturwissenschaftler Pavel Medvedev erinnerte: die formalistische Frage nach dem „Wie“ mit der marxistischen Frage nach dem „Warum“ der Kunst zu verknüpfen und in der Form selbst (der Schreibweise, dem Stil) ein sozia les Faktum zu erkennen. Auf diese Art kann in der Auseinandersetzung zwischen heterogenen Diskursen ein Wahrheitsmoment sichtbar gemacht werden, das als inter diskursives Theorem zu bezeichnen wäre: etwa die sowohl in Prietos Semiotik als auch in Adornos Dialektik geltende Annahme, dass Denken und Sein nicht identisch sind und dass eine Identifizierung von Diskurs und Wirklichkeit ideologisch ist. 51 A. Luna arskij, „Der Formalismus in der Kunstwissenschaft“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 89. 52 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB, 1969, S. 51. <?page no="87"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 71 Ein weiteres Beispiel für das Zustandekommen eines interdiskursiven Theorems ist die dem Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie gemeinsame Auffassung der Ideologie als eines geschlossenen Systems und als einer dualistischen Rede, die „Wahrheit“ und „Unwahrheit“, „Gut“ und „Böse“ einander manichäisch gegenüberstellt. 53 Trotz ihrer Heterogenität im Bereich der sozialen Wertung setzen sich Kritischer Rationalismus und Kritische Theorie für Offenheit und Dialogizität ein. Aus dialogischer Sicht ist nicht die Frage relevant, die Andreas Balog aufwirft, nämlich „ob ein Gesichtspunkt vorstellbar ist, von dem aus die einzelnen Ansätze als Teile eines größeren Ganzen sichtbar werden“. 54 Denn dieses „größere Ganze“, das auch Hegel vorschwebte, erweist sich letztlich auch als partikular, als Teilperspektive, die sich selbst als allgemein gültig präsentiert, zugleich aber vieles im Dunkeln lässt. Den Sinn des theoretischen Dialogs fasst Uwe Schimank knapp und klar zusammen, wenn er schreibt: „Die eine Perspektive wird an wichtigen Punkten erst durch Einblendung einer anderen richtig ausgeleuchtet, setzt also für die eigene Entfaltung deren Hinzunahme voraus.“ 55 Mithin ist der Zweck des Dialogs nicht nur die wechselseitige Kritik, sondern auch die wechselseitige Erhellung theoretischer Diskurse, die zu deren besserem Verständnis beiträgt. Freilich geht es auch um eine kritische Überprüfung, die die Schwachstellen der beteiligten Theorien erkennen lässt. Dieser Gedanke erinnert an Poppers Kritischen Rationalismus, der die Wissenschaftlichkeit von Theorien und Hypothesen an ihre Widerlegbarkeit oder Falsifizierbarkeit knüpft. Für die Dialogische Theorie, die hier als Variante der Kritischen Theorie (Adornos, Horkheimers) vorgeschlagen wird, ist die kritische Überprüfung im Dialog akzeptabel, nicht jedoch das Postulat der Falsifizierbarkeit. Zu Recht wendet der Soziologe Jean-Claude Passeron ein, dass dieses Postulat in den Sozialwissenschaften nicht anwendbar ist: „Die empirische Überprüfung einer theoretischen Aussage kann in der Soziologie niemals die logische Form einer ‚Widerlegung‘ (‚Falsifizierung‘) im Popperschen Sinne annehmen.“ 56 In den Naturwissenschaften mag es durchaus möglich sein, Hypothesen oder ganze Theorien zu widerlegen (etwa die These, dass das Atom die letzte unteilbare Einheit sei); in den Kultur- und Sozial- 53 Vgl. K. Salamun, Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik, Wien- Köln-Graz, Böhlau, 1988, S. 41-42 (zur Geschlossenheit) und S. 59 (zum Manichäismus). 54 A. Balog, Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis der Grundprobleme, Stuttgart, Lucius & Lucius, 2001, S. 6. 55 U. Schimank, Gesellschaft, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 152. 56 J.-Cl. Passeron, Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonnement naturel, Paris, Nathan, 1991, S. 359. <?page no="88"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 72 wissenschaften ist dies kaum zu bewerkstelligen, weil hier Theorien aus Kulturen, Sprachen und Ideologien (als Wertsystemen) hervorgehen und zugleich von Beobachtern beurteilt werden, deren Kriterien ebenfalls kulturell, sprachlich und ideologisch bedingt sind. In den Sozialwissenschaften wird das Verb „widerlegen“ zu pauschal verwendet, ja missbraucht. Als Beispiel sei hier Ulrich Becks scheinbar vernichtendes Urteil über Niklas Luhmanns Soziologie angeführt: „Auch die Systemtheorie, die Gesellschaft subjektunabhängig denkt, ist gründlich widerlegt worden (auch wenn deren Dogmenverwalter und Organisationsfunktionäre noch nicht abgewickelt und aufs Altenteil geschickt werden).“ 57 So amüsant diese Rhetorik auch sein mag, der Soziologie kann sie nur schaden, und sie ist sicherlich nicht dazu angetan, Befürworter der Systemtheorie an ihrer Einstellung zweifeln zu lassen. Ihre Fragwürdigkeit mag ein Hinweis auf das autonome Rechtssystem verdeutlichen: In einem Gerichtsverfahren hat es keinen Sinn, religiöse, moralische oder politische Argumente geltend zu machen, denn Gerichte werden nur juristische (rechtlich formulierbare) Argumente anerkennen, weil sich ihr Sprachsystem ausschließlich aus Rechtssätzen zusammensetzt (zu denen etwa der Grundsatz gehört, dass Unkenntnis eines Gesetzes seine Anwendbarkeit nicht berührt: „ignoratia legis neminem excusat“). Insofern beleuchtet Luhmann durchaus einen wichtigen Aspekt der Differenzierung, wenn er die Autonomie und Autopoiesis (Kap. XV) des Rechtssystems und aller anderen Systeme hervorhebt. Hier gibt es nichts zu „widerlegen“. Seine Systemtheorie enthält - wie die Talcott Parsonsʼ - weitere sehr brauchbare Gedanken, die in diesem Buch möglichst unverzerrt wiedergegeben und gewürdigt werden sollen. Dies bedeutet keineswegs, dass Systemtheorien durch Vergleiche oder in Diskussionen nicht erschüttert werden können. Luhmann selbst hat Parsonsʼ systematische Soziologie grundsätzlich in Frage gestellt, als er daran erinnerte, dass der von Parsons privilegierte soziale Wertekonsens nicht länger als Grundlage der Gesellschaft aufzufassen sei (vgl. Kap. XV). Aber er weist zu Recht darauf hin, dass auch Parsonsʼ Soziologie keineswegs widerlegt wurde. 58 In dieser von der „Unwiderlegbarkeit“ geprägten Situation, in der sich die Sozialwissenschaften befinden, erscheint der Dialog im Sinne einer kritischen Überprüfung als der einzige Ausweg. Im Verlauf dieser Prüfung werden Theorien oder Theorieteile meistens jedoch nicht endgültig 57 U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (5. Aufl.), S. 158- 159. 58 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 240: „Die Parsonssche Theorie ist selten angemessen begriffen und nie angemessen widerlegt worden.“ Dies gilt auch für die Systemtheorie Luhmanns. <?page no="89"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 73 widerlegt (wie bei Popper) sondern „erschüttert“. Der Ausdruck „Erschütterung“ stammt von Otto Neurath, der in seiner Rezension von Poppers Logik der Forschung (1934/ 2002, Rez. 1935) schreibt: „Wo Popper an die Stelle der ‚Verifikation‘ die Bewährung einer Theorie treten läßt, lassen wir an die Stelle der ‚Falsifizierung‘ die ‚Erschütterung‘ einer Theorie treten (…).“ 59 Diese Erschütterung im Dialog (in der Diskussion, im „Geistergespräch“ oder im Theorienvergleich) ist alles andere als trivial. Sie kann, wie sich in der Formalismus-Marxismus-Debatte gezeigt hat, Schwachstellen sichtbar machen; sie kann auch Wahrheitsmomente als interdiskursive Theoreme oder gemeinsame Erkenntnisse zeitigen. Der Dialog, der in den folgenden Kapiteln reproduziert oder inszeniert wird, erfüllt drei komplementäre Funktionen: 1. Er kann die Stärken und Schwächen („blinden Flecken“) von Theorien sichtbar machen. 2. Er kann dadurch zu ihrem besseren Verständnis beitragen (dies ist seine didaktische Funktion, die bereits Sokrates schätzte). 3. Er kann schließlich zu ihrer „Entfaltung“ (Schimank) beitragen und dem unvoreingenommenen Beobachter ihre Aktualität als Entwicklungspotenzial vor Augen führen. - Kurzum: Es geht auch darum, alle hier kommentierten Theorien mit neuem Leben zu erfüllen. Zusammenfassung und Ausblick: Es hat sich gezeigt, dass aus der Beobachtung der Gesellschaft bestimmte Relevanzkriterien, Klassifikationen und Definitionen hervorgehen, welche die Ausrichtung eines soziologischen Diskurses als semantischer und syntaktisch-narrativer Struktur festlegen. Dies bedeutet: Gesellschaft wird in Übereinstimmung mit den semantischen Vorentscheidungen des Aussagesubjekts dargestellt und erzählt. Die Entscheidung für den als relevant postulierten semantischen Gegensatz System / Umwelt (Luhmann) bringt eine andere theoretische Erzählung hervor als die Entscheidung für den Gegensatz System(e) / Lebenswelt (Habermas). Theoretische und ideologische Erzählungen sind als Aktantenmodelle im Sinne von Greimas darstellbar, in denen Fokalisatoren (Genette) darüber entscheiden, von welchem Standpunkt aus beobachtet und erzählt wird. Während ideologische Aussagesubjekte ihre Erzählungen als dualistisch strukturierte Monologe konzipieren, die sie mit der Wirklichkeit identifizieren, wobei der Konstruktionsprozess ausgeblendet wird, tragen theoretische Subjekte der Vieldeutigkeit der Wirklichkeit Rechnung. Sie fassen ihre Diskurse als kontingente, nur mögliche Konstruktionen auf, die in einem 59 O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation“ (1935), in: O. Neurath, Gesammmelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II (Hrsg. R. Haller, H. Rutte), Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1981, S. 638. <?page no="90"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 74 offenen Dialog auf ihre Stärken und Schwächen hin überprüft werden können. Diese Überprüfung wird hier als „Erschütterung“ im Sinne von Otto Neurath aufgefasst, nicht als Widerlegungs- oder Falsifizierungsversuch im Sinne von Karl R. Popper, der in den Sozialwissenschaften wenig Aussicht auf Erfolg hat. Im nächsten Kapitel soll im Zusammenhang mit den Theorien von George Herbert Mead und Erving Goffman durch Projektion semiotischer Termini in den soziologischen Bereich das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie erläutert werden. <?page no="91"?> 75 III. Subjekt- und Handlungstheorie semiotisch und soziologisch: Von Algirdas Julien Greimas zu George Herbert Mead und Erving Goffman Inhaltsverzeichnis 1. Sozialisation durch infraindividuelle Aktanten: „The ‚I‘ and the ‚Me‘ as Phases of the ‚Self‘“ bei George Herbert Mead 2. Von Mead zu Erving Goffman: Individuelle und kollektive Aktanten in sozialen „Rahmen“ 3. Rolle und Stigma: Interaktion als Subjektivierung und Entsubjektivierung 4. Subjektivität, Machtanspruch und Erzählung: Wer erzählt wen? Dieses Kapitel setzt insofern die Argumentation des zweiten fort, als es die Probleme der Subjektivität, der Handlung (der Aktanten, Greimas) und der Erzählung in einem interdisziplinären Kontext wieder aufgreift. Es soll gezeigt werden, dass die Soziologie zwar keine vollständige Erzähltheorie entwickelt hat, durchaus aber Aktantenmodelle konstruiert, die in George Herbert Meads Diskurs vorwiegend infraindividuelle Aktanten („I“, „Me“ und „Self“) zum Gegenstand haben, aus denen sich (ähnlich wie in Freuds Psychoanalyse, die das „Ich“, das „Es“ und das „Über-Ich“ unterscheidet) das individuelle Subjekt zusammensetzt. Komplementär dazu hat es Erving Goffmans Theorie der sozialen Interaktion immer wieder mit rudimentären Alltagserzählungen zu tun, deren individuelle oder kollektive Subjekte versuchen, eine Handlungssituation zu definieren, einen Handlungsablauf zu steuern oder Machtansprüche zu erheben. Im Hinblick auf Mead und Goffman erscheint es sinnvoll, zwei theoretische Ebenen zu unterscheiden: Während Mead ein Aktantenmodell im Sinne von Greimas entwirft, um das Zustandekommen individueller Subjekte zu erzählen und zu erklären (abermals fungiert die Erzählung als Erklärung im Sinne von Werner Schiffer), macht Goffman in nahezu allen seinen Werken alltägliche Erzählungen von Individuen und Gruppen zum Gegenstand seiner Betrachtungen. Dies hindert ihn nicht daran, selbst in die Rolle des Erzählers zu schlüpfen und zu erzählen, was beispielsweise mit einer Person geschieht, die in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Dabei nimmt er die Perspektive dieser Person ein und lässt sie so als Fokalisator (Genette: vgl. Kap. II. 2) seiner Erzählung auftreten. Es mag bereits deutlich geworden sein, weshalb dieses Kapitel noch zu den „Theoretischen Prolegomena“ gehört und nicht zu einem der Hauptteile, in denen die makrosoziologische Erzählung der gesellschaftlichen <?page no="92"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 76 Entwicklung zentral ist: Es geht nicht primär darum, Meads und Goffmans Soziologien als theoretische Erzählungen „im Übergang von der Moderne zur Postmoderne“ darzustellen, sondern darum, auf das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie durch eine Projektion semiotischer Begriffe in den soziologischen Bereich aufmerksam zu machen. Diese Fokussierung auf Subjektivität, Handlung und Erzählung, die der Strukturalen Semiotik und einer bestimmten Soziologie gemeinsam ist, hat auch einen thematischen Grund: Mead und Goffman verstehen sich vor allem als Handlungstheoretiker, nicht als Beobachter gesellschaftlicher Langzeitentwicklungen. Meads Kommentare zur gesellschaftlichen Evolution, die zur „Erreichung einer universalen menschlichen Gesellschaft“ („attainment of a universal human society“) 1 führen soll, sind zwar aus seinem Aktantenmodell, dem der Universalismus-Gedanke zugrunde liegt, ableitbar, letztlich aber zu skizzenhaft, um einen Vergleich mit den großen historischen Erzählungen von Marx, Comte, Spencer oder Durkheim zu rechtfertigen. Bei Goffman würde man vergeblich nach makrosoziologischen Überlegungen, die noch bei einem postmodernen Soziologen wie Michel Maffesoli (vgl. Kap. XXIII) anzutreffen sind, Ausschau halten. Goffmans Gegenstand umschreibt Tom Burns im Anschluss an den amerikanischen Autor selbst völlig richtig als „‚microsociology‘ of social interaction“. 2 Bei Mead und Goffman geht es letztlich um die Frage, wie und in welchen Situationen individuelle und kollektive Aktanten entstehen und handeln. Dieses Erkenntnisinteresse geht aus ihrer Orientierung am amerikanischen Pragmatismus hervor, die bis zu einem gewissen Grad biografisch bedingt ist. Die Kernthese des Pragmatismus, dessen wichtigste amerikanische Vertreter Charles Sanders Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952) sind, besagt, dass sich die Wahrheit von Aussagen im objektorientierten Handeln (griech. pragma, praxis) zu bewähren hat. Emile Durkheim, der sich ausführlich mit der Bedeutung des Pragmatismus für die Soziologie auseinandersetzt, fasst diese These im Zusammenhang mit William James zusammen: „Eine Idee ist wahr, wenn sie als geistige Vorstellung mit dem vorgestellten Gegenstand übereinstimmt.“ 3 Diese These widerspricht zwar dem hier vertretenen konstruktivistischen Ansatz, der nicht nach Übereinstimmung fragt, sondern nur mehr oder weniger überprüfbare Objektkonstruktionen gelten 1 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 1973, S. 358. (Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1934, S. 310.) 2 T. Burns, Erving Goffman, London-New York, Routledge, 1992, S. 8. 3 E. Durkheim, „The Pragmatist Movement“, in: E. Durkheim et al., Essays on Sociology and Philosophy (Hrsg. K. H. Wolff), New York, Harper and Row, 1960, S. 399. <?page no="93"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 77 lässt; sie bildet aber den Ausgangspunkt des amerikanischen Pragmatismus und der hier kommentierten Soziologien, die aus der Denktradition dieses Pragmatismus hervorgegangen sind. George Herbert Mead (1863-1931) studierte am Oberlin College in Ohio, an der Harvard Universität sowie in Leipzig bei dem damals international einflussreichen Psychologen Wilhelm Wundt und in Berlin, wo er die Hermeneutik Wilhelm Diltheys kennen lernte. 1891 folgte er einem Ruf an die Universität von Michigan in Ann Arbor, wo er das Fach Psychologie vertrat. Wenige Jahre später (1894) begleitete er seinen Freund John Dewey, einen bedeutenden Vertreter des Pragmatismus, nach Chicago, wo er bis zu seinem Tod Philosophie und Psychologie lehrte. Von Dewey und James übernahm Mead den Gedanken, dass nicht nur Wahrheit, sondern auch Per sönlichkeit im Handeln als sozialer Interaktion zustande kommt: Sie geht aus zwischenmenschlicher Kommunikation hervor. Die theoretische Lage am „Department of Philosophy and Psychology“ in Chicago schildert Jürgen Raab: „Beide [Dewey und Mead] argumentierten gegen den naturwissenschaftlich orientierten, ‚strengen‘ Behaviorismus eines John B. Watson (1878-1958) und Burrhus F. Skinner (1904- 1990), der gleichsam in Erweiterung der Theorie vom Reiz-Reaktions-Mechanismus das menschliche Verhalten auf derselben Ebene wie tierische Verhaltensweisen zu interpretieren sucht.“ 4 Im Gegensatz zu den „strengen“ Behavioristen Watson und Skinner kann Mead als „sozialer Behaviorist“ 5 bezeichnet werden, weil er den sozialen Faktor „Interaktion“ in den Prozess der Subjekt- oder Persönlichkeitsbildung einführt. Aus seiner Sicht bildet sich individuelle Subjektivität im Laufe der Sozialisation als Interak tion. Auch in Erving Goffmans Werk steht zwischenmenschliche „Interaktion“ im Mittelpunkt nahezu aller Betrachtungen. Über Goffman schreibt Jonathan H. Turner: „Erving Goffman war vielleicht der kreativste Theoretiker von Interaktionsprozessen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.“ 6 Aber wer war Goffmann? Er wurde 1922 im kanadischen Manville (Alberta) als Sohn ukrainisch-jüdischer Eltern geboren, besuchte eine High School in Winnipeg, brach später ein Chemie-Studium an der 4 J. Raab, Erving Goffman, Konstanz-München, UVK, 2014 (2. Aufl.), S. 40. 5 Vgl. H. Joas, „Einleitung“, in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. I (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1980), 1987, S. 13, wo Joas betont, Mead sei „trotz seiner Begriffswahl niemals Behaviorist oder Determinist in irgendeinem Sinne [gewesen]“. Aber warum sollte man sich über Meads Begriffswahl („social behaviorism“) hinwegsetzen, zumal ein Konsens darüber besteht, dass er den Behaviorismus Skinners und Watsons im sozialen Kontext völlig umgedeutet hat? 6 J. H. Turner, „The Rise of Interactionist and Phenomenological Theorizing“, in: ders., The Structure of Sociological Theory, Belmont (CA), Wadsworth Publishing Company, 1998, S. 392. <?page no="94"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 78 Universität von Manitoba ab und arbeitete eine Zeit lang am National Film Board of Canada in Ottawa. Er schloss ein Studium der Soziologie an der Universität von Toronto mit einem MA ab und wurde danach von der „Graduate School“ der Universität Chicago, später von der Universität Edinburg als Forscher aufgenommen. In Edinburg verfasste er seine Dissertation (Communication Conduct in an Island Community, 1953), die aus einem auf der Shetland Insel Unst durchgeführten „field work“ hervorging. Das Thema des „field work“ fasst Tom Burns in wenigen Worten prägnant zusammen: „the interplay between locals and visitors in and around the hotel he stayed in“. 7 Diesem Thema der sozialen Interaktion, bei dem es um die Selbstdarstellung den Anderen gegenüber (konkret: des Hotelpersonals den Gästen gegenüber) geht, blieb Goffman bis an sein Lebensende treu. 1958 folgte er einem Ruf nach Berkeley (Kalifornien), wechselte aber ein Jahrzehnt später (1969) an die University of Pennsylvania in Philadelphia, um dem Wirbel zu entgehen, den er in Kalifornien als Modeautor verursacht hatte. Ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten der „American Sociological Association“ starb er 1982 an einem Krebsleiden. In den Abschnitten 2-4 soll deutlich werden, dass Goffmans Handlungstheorie aus dem Dreiecksverhältnis zwischen Meads „sozialem Behaviorismus“, Georg Simmels Soziologie der menschlichen „Wechselbeziehungen“ und Durkheims Soziologie des sozialen Faktums (fait social) ableitbar ist. 1. Sozialisation durch infraindividuelle Aktanten: „The ‚I‘ and the ‚Me‘ as Phases of the ‚Self‘“ bei George Herbert Mead In den Titel dieses Abschnitts wurde der Titel eines Aufsatzes von Mead 8 integral aufgenommen, um die Termini „I“, „Me“ und „Self“ vor Missverständnissen und Verzerrungen zu bewahren. Dass die Übertragung dieser Termini ins Deutsche nicht in jeder Hinsicht befriedigt und dazu angetan ist, Verwirrung zu stiften, ist seit langem bekannt. Dazu bemerkt Hans Joas: „Die von Mead geprägten Termini sind schwer übersetzbar, zumal sie keineswegs über Definitionen eingeführt und völlig konsistent verwendet werden.“ 9 Worum geht es konkret bei der Übersetzung? Joas erklärt: „Für ‚I‘ und ‚me‘ wurden ‚Ich‘ und ‚Mich‘ als wörtliche Entsprechungen gewählt; ‚self‘ aber wurde mit Ich-Identität bzw. abgekürzt Identität übersetzt.“ 10 („Me“ wurde leider auch mit „ICH“ übersetzt: vgl. weiter unten.) Im Folgenden wird nicht versucht, die Verwirrung durch neue Übersetzungs- 7 T. Burns, Erving Goffman, op. cit., S. 11. 8 Vgl. G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 192. 9 H. Joas, „Einleitung“, in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, op. cit., S. 16. 10 Ibid., S. 17. <?page no="95"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 79 vorschläge zu steigern, sondern es werden - wo immer möglich - die Originalbezeichnungen verwendet. Bekannter als Meads Terminologie dürfte die Sigmund Freuds sein, zu deren Verbreitung auch populärwissenschaftliche Texte beigetragen haben. Dass Freud infraindividuelle Aktanten einführt, die Teile der individuellen Subjektivität sind, zeigt der folgenden Satz aus seinem Text über „Das Ich und das Es“: „Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen.“ 11 Diese Terminologie ist keineswegs unumstritten. Vor langen Jahren fand in der Wochenzeitung Die Zeit (10.12.1982, S. 40) eine polemische Diskussion über Freuds Psychoanalyse statt, in der einer der Teilnehmer (R.-H. Uebel, Bergisch Gladbach) zu der Triade „Ich“, „Es“, „Über-Ich“ bemerkte: „Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert müssen die Freudschen Begriffe ‚das Es‘ und ‚das Ich‘ anthropologisch wie sprachanalytisch gesehen als kaum erträgliche gedankliche Schlampereien gesehen werden.“ Ein Einwand gegen diese Termini lautet, dass sie in der Wirklichkeit nichts bezeichnen und daher keinen empirischen Wert haben. In dem hier entworfenen Kontext wird dieser Einwand einerseits als richtig anerkannt, andererseits aber als irrelevant verabschiedet. Er ist zwar richtig, weil Freuds Begriffe keine sichtbaren Gegenstände oder Gestalten bezeichnen; er ist zugleich aber irrelevant, weil es nicht auf Objektbezeichnungen, sondern auf mehr oder weniger brauchbare Konstruktionen ankommt. Die psychoanalytische Praxis von Freud bis Lacan hat gezeigt - etwa durch Beobachtungen von Verdrängungsmechanismen -, dass sich die Freudschen Konstruktionen durchaus bewähren können. 12 Es geht nicht darum, diese Behauptung plausibel zu machen, sondern Meads triadische Konstruktion „I“, „Me“, „Self“ analog zu der Freuds, auf die sich Mead bezieht 13 , aufzufassen, um ihren Stellenwert besser zu verstehen. Auch Meads Terminologie bezeichnet nichts Konkretes, Gegenständliches, sondern ist eine Aktanten-Konstruktion, mit deren Hilfe Sozialisationsprozesse in Phasen eingeteilt und beobachtet werden können. Der Ausdruck „in Phasen eingeteilt“ evoziert nicht zufällig eine Erzählung im Bereich der Mikrosoziologie, deren Gegenstand die Konstitution individueller Subjekte ist. Wie Freud bemüht sich Mead, die Frage zu beantworten, wie ein individuelles Subjekt im Laufe seiner Sozialisation als Interaktion zustande kommt. Erzählt wird also die Entstehung des Individuums in Gesellschaft und Kultur. Wie Freud setzt der Erzähler Mead im 11 S. Freud, „Das Ich und das Es“, in: „Psychologie des Unbewußten“, Studienausgabe, Bd. III (Hrsg. A. Mitscherlich et al.), Frankfurt, Fischer, 1982, S. 292. 12 Vgl. J. Roether, „‚Marion‘. Eine Fallstudie“, in: P. V. Zima, Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, S. 102-112. 13 Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 254-255. <?page no="96"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 80 Anschluss an das von William James (s.o.) eingeführte Begriffspaar ‚I‘ und ‚Me‘ infraindividuelle Aktanten ein, um ein bestimmtes Geschehen anhand einer Konstruktion, eines Aktantenmodells, zu veranschaulichen. Würde man ihn bitten, knapp und klar auf die Frage zu antworten, wie ein individuelles Subjekt entsteht, so könnte er erwidern: „im Spannungsverhältnis zwischen ‚I‘, ‚Me‘ und ‚Self‘.“ Wie sieht dieses Verhältnis konkret aus? Mead stellt es folgendermaßen dar: „Das ‚Ich‘ reagiert auf die Identität [‚self‘], die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das ‚ICH‘ [‚me‘] ein und reagieren darauf als ein ‚Ich‘ [‚I‘].“ 14 Zur Verdeutlichung wurden hier die Originalbezeichnungen in eckigen Klammern eingefügt. Vorsichthalber wird auch der englische Originaltext wiedergegeben: „The ‚I‘ reacts to the self which arises through the taking of the attitudes of others. Through taking those attitudes we have introduced the ‚me‘ and we react to it as an ‚I‘.“ 15 Dies bedeutet, dass das individuelle Subjekt als „Self“ oder „Identität“ aus der Wechselwirkung von „I“ und „Me“ besteht. Eine kompakte Definition von „Self“ schlägt Stefan Kaufmann vor: „(…) Das ‚Self‘ (also Identität) bezeichnet den spezifischen Stil, zwischen ‚I‘ und ‚me‘ Ausgleich zu schaffen.“ 16 Diese Auffassung wird von Charles W. Morris in seiner Einleitung zu Meads Geist, Identität und Gesellschaft (Mind, Self, and Society, 1934) bestätigt: „Die vollständige Identität stellt sich Mead jedoch sowohl als ‚Ich‘ wie als ‚ICH‘ [‚Me‘] vor.“ 17 („The complete self, however, is conceived by Mead as being both ‚I‘ and ‚me‘.“) 18 Das heißt, dass das ‚Me‘ (übersetzt mit „ICH“ oder „Mich“) die Präsenz des Anderen oder der Anderen in unserem Bewusst sein bezeichnet. Als „I“ oder „Ich“ reagieren wir auf diese Präsenz, indem wir uns in einem permanenten Dialog mit den Anderen deren Ansichten oder Einstellungen vergegenwärtigen. Mead geht davon aus, „daß das jeweilige Individuum die Haltung anderer sich selbst gegenüber übernimmt und daß es schließlich alle diese Haltungen zu einer einzigen Haltung oder einer einzigen Position kristallisiert, die als die des ‚verallgemeinerten Anderen‘ bezeichnet werden kann“. 19 Im englischen Original ist von „taking the attitudes of others toward himself“ 20 die Rede, und dieser reflexive und selbstreflexive Prozess führt dazu, dass im 14 Ibid., S. 217. 15 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 174. 16 S. Kaufmann, „Handlungstheorie“, in: L. Gertenbach et al., Soziologische Theorien, München, Fink, 2009, S. 51. 17 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 27. 18 Ch. W. Morris, „Introduction. George H. Mead as Social Psychologist and Social Philosopher“, in: G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. XXV. 19 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 130. 20 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 90. <?page no="97"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 81 Bewusstsein der Einzelperson die Vorstellung von einem „generalized other“ 21 entsteht. Harald Wenzel erklärt: „Die Anderen sind die primären Objekte unserer Erfahrung.“ Er fügt hinzu: „Die Heranbildung unserer eigenen Ich-Identität ist von der des alter ego abhängig - und umgekehrt.“ 22 Obwohl sich Mead von Freud distanziert, wenn er von „der mehr oder weniger phantastischen Psychologie der Schule Freuds“ 23 spricht, lässt er sich von der Psychoanalyse leiten, wenn er das „Me“ als Präsenz des (verallgemeinerten) Anderen im Einzelbewusstsein mit dem „Über-Ich“ als „Zensor“ vergleicht: „Um eine Formulierung Freuds zu verwenden: das ‚ICH‘ [‚Me‘] funktioniert im Sinne eines Zensors.“ 24 („If we use a Freudian expression, the ‚me‘ is in a certain sense a censor.“) 25 Dies bedeutet konkret, dass jemand, der beispielsweise eine wertende Stellungnahme abgeben soll, „die Übereinstimmung seines Urteils mit der Bewertung anderer anwesender Personen unterstellt“ 26 , wie es Wolfgang Ludwig Schneider ausdrückt. Diese reflexive Vorgehensweise ist sprachlich, d.h. durch Symbole vermittelt, und Harald Wenzel spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von „symbolisch vermittelter Interaktion“. 27 Durch die Verwendung und Speicherung sprachlicher Symbole werden Menschen zu Reflexion, Erinnerung und reflexivem Handeln befähigt, das sie vom reizbedingten Reagieren der Tiere unterscheidet. Zugleich wird der Unterschied zwischen dem naturwissenschaftlich verfahrenden Behaviorismus Watsons und Skinners und dem „sozialen Behaviorismus“ („social Behaviorism“, Mead) 28 deutlich. In Meads Ansatz wird die Einwirkung von Reizen auf das menschliche Handeln zwar berücksichtigt, aber dieses Handeln wird zugleich in den gesellschaftlichen Kontext der Sozialisation und der sprachlich vermittelten, reflexiven Interaktion eingebettet. Ähnlich wie Freud geht Mead davon aus, dass sich soziale Konstellationen bilden können, in denen das „Ich“ gegen die Zensur des „Me“ (des Freudschen „Über-Ich“) aufbegehrt und die Fesseln sozialer Konformität abwirft. Das „Ich“, das Mead auch als die „Antwort des Einzelnen auf die 21 Ibid. 22 H. Wenzel, Mead zur Einführung, Hamburg, Junius, 1990, S. 57. 23 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 255. 24 Ibid., S. 254. 25 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 210. 26 W. L. Schneider, „Handlungen als Derivate der Interaktion: George H. Mead“, in: ders., Grundlagen der soziologischen Theorie, Bd. I: Weber - Parsons - Mead - Schütz, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008 (3. Aufl.), S. 210. 27 H. Wenzel, Mead zur Einführung, op. cit., S. 74. 28 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 91. <?page no="98"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 82 Haltung der anderen ihm gegenüber“ 29 definiert, ist zugleich die kreative Instanz, welche die Initiative ergreift: „Das ‚Ich‘ liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative.“ 30 In dieser Hinsicht überschneidet es sich mit dem Freudschen „Ich“, das jedoch weniger Spielraum hat, weil es genötigt ist, unablässig zwischen der Zensur des „Über-Ichs“ und der Impulsivität des naturwüchsigen „Es“ (als Leidenschaft, Sexualität) zu vermitteln. Meads „Ich“ erscheint als zugleich freier und sozialisierter als das „Ich“ der Psychoanalyse, weil es nicht den Impulsen des „Es“ ausgesetzt ist und weil es auf die Präsenz der Anderen im „Me“ gesellschaftskonform oder gesellschaftskonträr reagieren kann. Somit hat es die Möglichkeit, ein konformistisches oder rebellisches „Self“ als „Identität“ zu entwickeln. Meads Modell der rebellischen „Identität“ ist der Künstler. „Neue Entwicklungen finden in den Aktionen des ‚Ich‘ statt, die Struktur aber, die Form der Identität [self] ist konventionell geprägt“ 31 , heißt es in Meads Geist, Identität und Gesellschaft, wo sich moderne Kunstproduktion - wie im Russischen Formalismus und im Tschechischen Strukturalismus - durch permanente „Verletzung der Norm“ 32 (Mukařovský) profiliert: „In der Haltung des Künstlers, beim künstlerischen Schaffen, wird das Element der Neuheit bis zur äußersten Grenze betont.“ 33 Freilich gilt dies nur für die moderne oder postmoderne Kunst: Für die klassische Form (etwa die des 17. Jahrhunderts) ist eher die Ausrichtung auf den Publikumsgeschmack als den „verallgemeinerten Anderen“ (den „generalized other“) ausschlaggebend. Hingegen ist Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966) für die rebellische Moderne und die Freiheit des „Ichs“ kennzeichnend. Meads Aktantenmodell, das aus den infraindividuellen Instanzen „I“, „Me“, „Self“ besteht, wohnt eine narrative Dynamik inne, die in den interindividuellen und supraindividuellen Bereich hineinreicht. Wenn ein Kleinkind spielt (Mead spricht von „play“) übernimmt es bisweilen die Rollen anderer Kinder oder der ihm bekannten erwachsenen Personen: Es spielt die Bäckerin, von der es nachgemachte Brötchen kauft, oder den Milchmann, von dem es eine Flasche Milch verlangt. Die Lage ändert sich grundlegend, wenn Jugendliche später an einem Spiel als „Wettkampf“ oder „game“ (Mead) teilnehmen. In dieser Situation reicht das Spielen einzelner Rollen (Bäckerin, Milchmann) nicht mehr aus: Jedes teilnehmende Individuum hat auf der Ebene des „Me“ die Rollen des 29 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 221. 30 Ibid. 31 Ibid., S. 253. 32 Vgl. J. Mukařovský, „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“, in: ders., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 45-46. 33 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 253. <?page no="99"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 83 eigenen und des gegnerischen Teams zu erlernen und zu verinnerlichen. Dieses „role-taking“ bewirkt, dass sich im Bewusstsein des Kindes ein „verallgemeinerter Anderer“ als „generalized other“ ausbildet, der im Sinne des semiotischen Aktantenmodells zu seinem kollektiven Auftraggeber wird. Dieser Auftraggeber (destinateur, Greimas) beauftragt das an einem Wettkampf teilnehmende Kind mit einem „Heilsauftrag“ („mission de salut“, Greimas). Denn im Wettkampf oder „game“ soll ein gemeinsames Ziel (als Objekt-Aktant) erreicht werden: „Insoweit das Kind die Haltungen anderer einnimmt und diesen Haltungen erlaubt, seine Tätigkeit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu bestimmen, wird es zu einem organischen Glied der Gesellschaft.“ 34 Aus diesem Satz und dem bisher Gesagten insgesamt sind zwei Erzählungen ableitbar, die in Meads Diskurs zwar nur implizit sind, aber an entscheidenden Stellen zutage treten und ineinander greifen: Die erste erzählt den Sozialisationsprozess, in dessen Verlauf sich das „Self“ als „Identität“ in der Interaktion von „I“ und „Me“ bildet. Diese „innere“ Interaktion ist aber nur im Kontext der „äußeren“ Interaktion zwischen Individuen zu verstehen, die in eine zweite, gemeinsame Erzählung eingebunden sind, weil sie sich ein Ziel (etwa im Wettkampf) gesetzt haben: Davon zeugt das „Me“ als Präsenz der Anderen im Subjekt. Dieses „Me“ verbindet die beiden Erzählungen, weil es im Laufe der Sozialisierung das Individuum befähigt, an komplexen Interaktionen teilzunehmen. Denn mit dem „Me“ werden auch über das „role-taking“ die Modalitäten des „Wissens“, „Könnens“ und „Wollens“ vom Subjekt erworben, die es ihm ermöglichen, sich in einem Wettkampf („game“) zu bewähren. Das Kind, das zum ersten Mal an einem Fußballspiel teilnimmt und im Eifer des Gefechts ein Eigentor schießt, hat mit entsprechenden Reaktionen der Anderen und des verinnerlichten „generalized other“, seines Auftraggebers, zu rechnen. Es fühlt: „Du hast den Auftrag nicht erfüllt“. Von der narrativen Struktur der Meadschen Handlungstheorie zeugt der folgende Satz aus Geist, Identität und Gesellschaft: „Der Wettkampf hat eine Logik, durch die eine derartige Organisation der Identität möglich wird: es gilt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen; die Handlungen der einzelnen Personen sind alle im Hinblick auf dieses Ziel miteinander verbunden, so daß sie nicht miteinander in Konflikt geraten; in der Haltung des Mitspielers befindet man sich nicht im Konflikt mit sich selbst.“ 35 Auch dieser Satz, der selbst eine Teilerzählung ist, kombiniert die beiden Erzählungen (die „innere“ Erzählung der Identitätsbildung mit der „äußeren“ Erzählung des Handlungsablaufs), weil er zeigt, wie die Logik des Wettkampfs die Bildung individueller und kollektiver Identitäten ermöglicht. 34 Ibid., S. 202. 35 Ibid., S. 201. <?page no="100"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 84 Nahezu alle narrativen Elemente der Strukturalen Semiotik sind vorhanden: die gegeneinander antretenden Mannschaften als Subjekt und Antisubjekt (die zugleich als Auftraggeber und Gegenauftraggeber fungieren), der Handlungsablauf als narratives Programm, der Objekt-Aktant als „Ziel“ („Sieg über die Gegner“), die „Identität“ des Mitspielers als Ensemble von Modalitäten oder Kompetenzen und schließlich die Einbindung individueller Akteure („Mitspieler“) in den kollektiven Aktanten „Mannschaft“ (in den Wörtern „miteinander“ und „Mitspieler“ enthalten). Kurzum, Mead erzählt, wie sich in individueller und kollektiver Interaktion in einem narrativen Kontext (Wettkampf, Zielsetzung) individuelle Identität bildet, die von einem „generalisierten Anderen“, dem universellen Auftraggeber, gesteuert wird. Wie bereits angedeutet, hofft Mead, dass die „menschliche Gemeinschaft“ als „Weltgesellschaft“ (würde Luhmann sagen: vgl. Kap. XV) einst die Stelle dieses „generalisierten oder verallgemeinerten Anderen“ einnehmen wird. Von dieser Hoffnung zeugen verschiedene Schriften Meads zur sozialen Evolution und Geschichtsphilosophie. Ähnlich wie bei Durkheim (vgl. Kap. IX) erscheint das Kollektiv als „generalisierter Anderer“ und als Auftraggeber des Individuums: „Das Individuum kann jetzt als generalisierter Anderer in der Einstellung der Gruppe oder Gemeinschaft zu sich selbst Stellung nehmen.“ 36 Dieser „generalisierte Andere“ soll schließlich alle Gruppengrenzen (Mannschaft, Wissenschaftlergruppe, Partei, Nation) überwinden und auf die gesamte Menschheit als „menschliche Gemeinschaft“ ausgedehnt werden. Die „individuelle Perspektive“ soll „zur Perspektive der umfassendsten Gemeinschaft - der Gemeinschaft der denkenden Menschen“ 37 werden. Freilich fasst Mead auch die Möglichkeit ins Auge, dass die Hoffnung auf die Entstehung einer menschlichen Gemeinschaft enttäuscht werden könnte: „Es muß eine menschliche Gemeinschaft geben, aber es kann keine menschliche Gemeinschaft geben, solange nicht die Werte anerkannt werden, welche die Ziele ihres Strebens sind.“ 38 Hier wird eine Schwachstelle in Meads Argumentation sichtbar, die nicht so leicht zu beseitigen ist: Wer definiert die „Werte“ und „Ziele“? In welchem Diskurs als Erzählung, als semantisch-narrativer Struktur sollen sie für alle verbindlich definiert werden? Soll das Ziel die „klassenlose Gesellschaft“ im Sinne von Marx (vgl. Kap. IV) oder die liberale Gesellschaft freier Individuen im Sinne von Spencer (vgl. Kap. IX) sein? Oder gar eine verwissenschaftlichte Gesellschaft, in der Experten und Technokraten das Sagen haben? 36 G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. II (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1983), 1987, S. 218. 37 Ibid., S. 216. 38 Ibid., S. 251. <?page no="101"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 85 Es geht leider nicht nur um Meads historischen Diskurs, weil das Problem schon in seinem Konzept des „generalized other“ angelegt ist: Wie allgemein kann dieser „verallgemeinerte Andere“ in einer polarisierten und fragmentierten Gesellschaft sein? In einem Wettkampf liegt die Antwort auf der Hand: Der „generalisierte Andere“ ist der Sport mit seinen Regeln und deren Hütern - oder (um einiges partikularer) die Mannschaft. Aber schon im wissenschaftlichen Bereich erweist sich Allgemeingültigkeit als problematisch: Schreibe ich eine Dissertation bei einem kritischen Rationalisten, den ich als „Me“ (als „Doktorvater“) verinnerlicht habe, setze ich mich mit der Behauptung, der Kritische Rationalismus argumentiere undialektisch, einer massiven Kritik aus; soll die Dissertation bei einem Vertreter der Kritischen Theorie zustande kommen, werde ich womöglich als agent provocateur eingestuft, wenn ich an der Wissenschaftlichkeit dieser Theorie zweifle, weil ich entdecke, dass ihre Aussagen nicht falsifizierbar sind. Daher ist schon das wissenschaftliche „Me“ problematisch: denn es ist stets partikular. In der Politik ist alles noch radikaler: Aus einer Partei werde ich ausgeschlossen, wenn ich mir Überlegungen und Argumente der Gegenpartei zu eigen mache - auch wenn es nur einige und durchaus einleuchtende sind. (Was in der Theorie trotz Stirnrunzeln noch diskutabel ist, wird in der dualistisch strukturierten Ideologie als Sakrileg geahndet.) Fazit: Der Geltungsbereich des „generalized other“ müsste konkretisiert und auf den Alltag eingeschränkt werden: auf eine soziale Welt des Konsenses, in der - fast - alle erwarten, dass für Waren und Dienstleistungen gezahlt wird, dass man Bekannte und Verwandte grüßt und keine Bananenschalen zum Fenster hinauswirft. In Moral, Religion, Wissenschaft, Politik und Ästhetik hingegen zerfällt der „generalisierte Andere“ in tausend Fragmente. Daher ist die Vorstellung von einer „menschlichen Gemeinschaft“, die jenseits aller partikularen Interessen und Wertungen die Rolle des „generalized other“ beanspruchen und als telos der gesellschaftlichen Entwicklung gelten könnte, utopisch. 2. Von Mead zu Erving Goffman: Individuelle und kollektive Aktanten in sozialen „Rahmen“ Goffman war mit Meads Werk, an das er kritisch anknüpft, bestens vertraut. Anders als Mead, der sich auf die Entstehung und Zusammensetzung individueller Subjektivität im Sozialisationsprozess konzentriert, nimmt er auch Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen (Teams, Ensembles) in den Blick. Seine Aktantenmodelle haben nicht infraindividuellen, sondern individuellen und supraindividuellen Charakter und sind mit den Modellen Georg Simmels vergleichbar, der, wie sich im elften Kapitel zeigen wird, <?page no="102"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 86 Vergesellschaftung als Wechselwirkung handelnder Individuen (nicht Kollektive) auffasste. Zum Verhältnis von Simmel und Goffman bemerkt Jürgen Raab: „Goffman wird also Simmels soziologischen Ansatz noch verfeinern und erweitern.“ 39 Die Verfeinerung betrifft vor allem Selbstverständnis und Selbstdarstellung („presentation of self“), die Erweiterung betrifft die Ausdehnung der Interaktionen auf kollektive Aktanten. Wie Meads und Simmels Modelle sind auch die Goffmans als heuristische Konstruktionen, nicht als Abbildungen der Wirklichkeit aufzufassen. Goffman bezieht sich an verschiedenen Stellen seines Werks auf Mead und nimmt sich vor, dessen Ansatz weiterzuentwickeln. In seiner Kritik an Mead geht es vornehmlich um die Wirkung der Interaktion auf das individuelle Subjekt. (Goffman verwendet die Bezeichnungen „Individuum“ und „Subjekt“ als Synonyme 40 ; d.h. dass er von der hier gebräuchlichen Terminologie, in der individuelle und kollektive Subjekte [Subjekt-Aktanten] unterschieden werden, abweicht.) Zunächst wirft er Mead vor, dass er nur den unmittelbaren Interaktionsbereich von Individuen berücksichtigt und nicht das soziale Umfeld insgesamt: „Mead hatte nur darin unrecht, daß er glaubte, die einzigen relevanten Anderen wären diejenigen, die dem Individuum anhaltende und besondere Aufmerksamkeit zu schenken bereit seien.“ 41 Aus Goffmans Sicht sind aber auch jene Personen und Gruppen relevant, die dem Einzelnen keine besondere Aufmerksamkeit schenken, ihn aber durchaus wahrnehmen - etwa als Fußgänger im Straßenverkehr - und auf ihn als normale, beruhigende Erscheinungen durch Ausweichen oder Anhalten reagieren. Diese Interaktion als bloße Kopräsenz oder Wahrnehmung bezeichnet Goffman als unfocused interaction und unterscheidet sie von der focused interaction, die im Gespräch, Spiel oder Streit zustande kommt. Er wirft Mead vor, dass er sich einseitig mit dieser intensiven Interaktion befasst und die unfocused interaction unberücksichtigt lässt. Goffmans zweiter Kritikpunkt betrifft die Auswirkungen der Interaktion auf die Subjektkonstitution des Individuums: „Die Meadsche These, daß der Einzelne die Haltung anderer ihm gegenüber selbst übernimmt, scheint eine zu starke Vereinfachung zu sein. Der Einzelne muß sich vielmehr auf 39 J. Raab, Erving Goffman, op. cit., S. 33. 40 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt, Suhrkamp (1974), 1982, S. 353: „Im folgenden wollen wir einige andere Aspekte normaler Erscheinungen untersuchen, die eng zusammenhängen mit dem Konzept des Individuums oder Subjekts (…).“ 41 Ibid., S. 367. <?page no="103"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 87 andere verlassen, um das Bild von sich zu vervollständigen, von dem ihm selbst nur ein Teil zu malen gestattet ist.“ 42 Diese Kritik kann als eine Radikalisierung von Meads Sichtweise gelesen werden: Das individuelle Subjekt bildet sich nicht einfach durch „role-taking“, durch die Übernahme der Einstellungen anderer Personen ihm gegenüber, sondern ist auf diese Personen angewiesen, um ein vollständiges Bild seiner selbst zu erhalten. Dies bedeutet, dass sich individuelle Subjektivität bei Goffman in noch stärkerem Maße in der Interaktion bildet als bei Mead. Diese Interaktion findet - nach Goffman - stets in sozialen Rahmen (frames) statt. Der Rahmen-Begriff stammt vom amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson (1904-1980). 43 Er könnte als die den Handelnden gemeinsame Auffassung ihrer Interaktionssituation definiert werden. Goffman selbst spricht von „Interpretationsschemata“. 44 Soziale Rollen, Selbstdarstellungen und Handlungen werden stets in einem bestimmten Rahmen - etwa dem eines öffentlichen Vortrags, einer Abiturfeier oder eines Begräbnisses - betrachtet. Jonathan H. Turner konkretisiert die soziologische Rahmen-Metapher, indem er sie auf den Bildrahmen bezieht: „Der Rahmen gleicht in vieler Hinsicht einem Bildrahmen, weil er die dargestellten Ereignisse eingrenzt und so durch Einkapselung von ihrer Umgebung unterscheidet.“ 45 Doch die Rahmen-Metapher ist nicht einfach eine persönliche Erfindung Batesons und Goffmans; sie ist, wie Danilo Martuccelli richtig bemerkt, ein Symptom der Moderne, in der - anders als in traditionalen Gesellschaften - Situationen nicht mehr durch ständische Zugehörigkeit, religiöses Ritual oder die Heiligkeit einer Stätte definiert werden, sondern stets von neuem ausgehandelt werden müssen. Martuccelli stellt zu Recht eine Verbindung zwischen Goffmans Schlüsselbegriff und der Forschungssituation an der Universität von Chicago in den 1950er Jahren her, an der Goffman bei Everett C. Hughes studierte. Die sogenannte Chicago School, die von Robert E. Park (1864-1944), Albion Small (1854-1926), Florian Znaniecki (1882-1958) und anderen zwischen den Weltkriegen begründet und von Georg Simmels Soziologie des Handelns (vgl. Kap. XI) beeinflusst wurde, befasste sich intensiv mit Situationen des modernen Großstadtlebens, deren Unbestimmtheit und labile 42 E. Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (11. Aufl.), S. 93-94. 43 Vgl. Y. Winkin, La Nouvelle communication, Paris, Seuil, 1981, S. 13-89. 44 E. Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (10. Aufl.), S. 31. 45 J. H. Turner, „Erving Goffman’s Dramaturgical Approach“, in: ders., The Structure of Sociological Theory, op. cit., S. 406. <?page no="104"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 88 Schichtung definitorische Anstrengungen von allen Interagierenden erheischt. Martuccelli spricht von häufigen „Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Situationsdefinitionen“ und bemerkt zu William I. Thomas, einem anderen Mitglied der Chicago School: „Thomas ist sich der Tatsache bewusst, dass die Definitionen, die Individuen auf ihre Situationen anwenden, zu wirklichen Elementen der sozialen Welt werden wie die objektiven Komponenten selbst.“ 46 Sie werden zu sozialen Fakten (faits sociaux) im Sinne von Durkheim (vgl. Kap. IX), mit denen Individuen in ihren Interaktionen konfrontiert werden: etwa beim Schlange Stehen vor dem Kino, bei einer Trauerfeier oder einem Abschiedsfest. Immer wieder befasst sich Goffman mit solchen sozialen Fakten, die in der Moderne ad hoc definiert oder „gerahmt“ werden müssen, weil der traditionelle Rahmen - etwa der religiöse des Mittelalters - fehlt. Soll die Trauerfeier für eine verstorbene Kollegin oder einen Kollegen religiös eingerahmt werden oder nicht? Was hätte sich die verstorbene Person gewünscht? Was wünschen sich die Familienangehörigen? Sind sie sich einig? Welche Lösung ist akzeptabel, weil sie niemanden vor den Kopf stößt? Rahmen ist bei Goffman ein Schlüsselbegriff, weil er als stets zu definierender Kontext die Bühne bildet, auf der Interaktion stattfindet. Nicht zufällig hat er diesen Begriff in seinem ersten Werk The Presentation of Self in Everday Life (1959, dt. Wir alle spielen Theater, 1983) eingeführt. Dort geht es sowohl um richtiges Theater als auch um die alltäglichen Aufführungen, an denen wir selbst immer wieder teilnehmen. Goffman unterscheidet Primärrahmen und deren Modulationen. Die Primärrahmen teilt er in natürliche und soziale ein. 47 Die in jeder Hinsicht soziale Inszenierung von z.B. Karl Mays Romanen kann unter freiem Himmel mitten in einer Wald- und Felsenlandschaft stattfinden, und ein jäh aufkommendes Gewitter, mit dem niemand gerechnet hat, kann die natürliche Rahmung mit einem Wirklichkeitseffekt beleben. Soziale Primärrahmen gehen ausschließlich aus menschlichen Interaktionen hervor. Ein von Goffmann privilegiertes Modell ist das Theater, in dem individuelle Akteure zu kollektiven Aktanten: zu Teams oder Ensembles gruppiert werden. Zu einer Modulation des Theater-Rahmens kommt es immer dann, wenn die Inszenierung eines Ereignisses die Form einer Aufführung mit verteilten Rollen annimmt: etwa die feierliche Überreichung einer Auszeichnung, an der mehrere Personen teilnehmen. Auch der Abschied kann theatra- 46 D. Martuccelli, „L’Ecole de Chicago“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 435. 47 E. Goffman, Rahmen-Analyse, op. cit., S. 31 : „Im täglichen Leben in unserer Gesellschaft empfindet, ja macht man einen einigermaßen klaren Unterschied zwischen zwei großen Klassen primärer Rahmen: natürlichen und sozialen.“ <?page no="105"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 89 lisiert werden: Am Ende seiner Amtszeit verabschiedete sich der tschechische Präsident Václav Havel, der zu den bekanntesten Dramenautoren Tschechiens gehört, mit einer kollektiven Verbeugung seines Teams (Ensembles), dessen Mitglieder einander wie am Ende einer Vorstellung bei den Händen hielten. Goffman verwendet die Theater-Metapher, um das Auftreten kollektiver Aktanten in der Gesellschaft zu veranschaulichen und um die Interaktion zwischen diesen Aktanten und den individuellen Akteuren, die ihnen angehören, erklären zu können. In diesem Kontext mag es sinnvoll sein, an das Verhältnis von kollektiven Aktanten und ihren individuellen Akteuren in der Strukturalen Semiotik zu erinnern. So erklärt beispielsweise Joseph Courtés, dass „ein Aktant (…) im Diskurs aus mehreren Akteuren (…) gebildet werden kann“. 48 Komplementär dazu heißt es bei Goffman: „Ich werde den Ausdruck ‚Ensemble‘ (team) für jede Gruppe von Individuen verwenden, die gemeinsam eine Rolle aufbauen.“ 49 Hier wird deutlich, dass sowohl für die Strukturale Semiotik als auch für Goffmans Soziologie der Interaktion die Wechselbeziehung zwischen individuellen und kollektiven Instanzen wesentlich ist. Wie sieht diese Beziehung konkret aus? Sie weist drei Aspekte auf: Unterordnung des Individuums (des Akteurs) unter den kollektiven Aktanten (das Ensemble oder Team); Koordinierung der Tätigkeiten innerhalb des Kollektivs; Aufbau einer gemeinsamen Fassade (eines „presentation of self“) dem Publikum gegenüber. Zur Unterordnung heißt es bei Goffman: „Häufig muß auch jedes Mitglied einer Gruppe, die sich darstellt, eine ihm eigentlich fremde Rolle übernehmen, wenn die Gesamtwirkung des Ensembles zufriedenstellend sein soll.“ 50 Zur Koordinierung bemerkt Goffman, „daß Individuen, die Mitglieder des gleichen Ensembles sind, auf Grund dieser Tatsache in einer wichtigen Beziehung zueinander stehen“ 51 , und erklärt schließlich, dass ein Großstadtmädchen, das sich um die „Stellung einer Empfangsdame“ bewirbt, „neben ihrer eigenen Fassade auch noch die Fassade der Organisation aufbauen“ 52 muss. Dieser kollektive Zusammenhalt als Unterordnung, Koordination und gemeinsame Fassade (front) ist nicht nur in Theater und Alltag entscheidend, sondern auch in der Politik. Eine Regierung muss stets darauf bedacht sein, als homogener, gut koordinierter Aktant mit einheitlicher Fassade aufzutreten, denn: „Offene Meinungsverschiedenheiten vor dem Publikum er- 48 J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 49 E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München, Piper, 2017 (17. Aufl.), S. 75. 50 Ibid., S. 74. 51 Ibid., S. 77. 52 Ibid., S. 73. <?page no="106"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 90 zeugen, wie wir sagen, einen Mißklang.“ 53 Ihre Mitglieder müssen darauf achten, „daß sie keine öffentlichen Meinungsäußerungen abgeben, bevor die offizielle Stellung des Ensembles einmal festgelegt ist“. 54 Dies gilt vor allem für Koalitionsregierungen, deren Vertreter sich verschiedenen Parteien als kollektiven Aktanten mit eigenen Interessen, Programmen und Fassaden verpflichtet fühlen. Dass diese „Programme“ auch narrative Programme sind, in denen Ziele als Objekt Aktanten anvisiert werden, wird im folgenden Satz deutlich, in dem es von individuellen Akteuren heißt: „Soweit sie in Zusammenarbeit einen gegebenen Eindruck aufrechterhalten, um damit ihre eigenen Ziele zu erreichen, bilden sie ein Ensemble in unserem Sinn.“ 55 Dieser Eindruck als „Fassade“ kann nur gewahrt werden, wenn sorgfältig zwischen Vorderbühne (frontstage) und Hinterbühne (backstage, Goffman) unterschieden wird und die Trennung der beiden Bereiche erhalten bleibt. Im Theater wird bekanntlich jeder Versuch des Publikums, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wo sich Schauspielerinnen und Schauspieler entspannen und möglicherweise auf das langweilige Publikum lästern, unterbunden. Aber auch Regierungen unternehmen alles, damit Neugierige, vor allem Journalisten, nichts von ihren internen Querelen erfahren und die in den Medien mühsam aufgebaute oder soeben reparierte Fassade beschädigen. Eine einheitliche Fassade ist auch für die dramatic realization oder dra matische Durchführung (Goffman) wichtig, die in der Politik weitgehend mit einer erfolgreichen Verwirklichung des Wahlprogramms (des narrativen Programms) zusammenfällt. Dabei müssen eine Regierung und jedes ihrer Mitglieder den Eindruck wahren, dass sie unablässig für ihr Land tätig sind. (Man sagt, dass Mussolini aus dieser Gesinnung heraus das Licht in seinem Büro die ganze Nacht brennen ließ - se non è vero, è ben trovato.) Dieses Beispiel führt gleichsam von selbst zur nächsten Komponente des Rollenspiels: zur Idealisierung (idealization) der Rollenperformanz. Im wissenschaftlichen Bereich mag es der allwissende Professor sein, in der Politik das fürsorgliche Staatsoberhaupt, das eine von Naturkatastrophen heimgesuchte Region besucht oder sich als unermüdlicher Kämpfer gegen Korruption feiern lässt. Diese idealisierende Fassade kann zerbröckeln, wenn es einem eifrigen Journalisten gelingt, hinter der Fassade ein geheimes Auslandskonto des Politikers zu entdecken, der dann auch nicht mehr hoffen kann, seine Person durch Mystifikation (mystification) zu überhöhen, weil er einer trüge rischen Selbstdarstellung (misrepresentation) überführt wurde. Von schei- 53 Ibid., S. 81. 54 Ibid. 55 Ibid., S. 79. <?page no="107"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 91 ternden Mystifikationen zeugen sowohl die Skandale der Tagespolitik als auch die Abrisse der zahlreichen Stalin-Denkmäler in Osteuropa, die aus einem pompös inszenierten Personenkult hervorgingen. Insgesamt ist es aus Goffmans Sicht wichtig, auf die Kontrolle des Ausdrucks (expressive control) zu achten, um nicht aus dem Rahmen zu fallen oder ihn zu sprengen. In der Spätmoderne, in der der Konsens über Wertsetzungen immer wieder in Frage gestellt wird, mag es einzelnen Individuen schwierig erscheinen, die Kontrolle des Ausdruck zu wahren, um im Rahmen zu bleiben. Zu ihnen gehört der Antiheld Michele Ardengo in Alberto Moravias Roman Die Gleichgültigen (Gli indifferenti, 1929), der an das zerfallende Wertsystem seiner Gesellschaft nicht mehr glauben kann: „Man kann hinter einem Sarg nicht lachen oder gerade dann weinen, wenn die beiden Brautleute die Ringe wechseln…; das wäre skandalös, noch schlimmer, unmenschlich…; wer aus Gleichgültigkeit nichts empfindet, muß eben heucheln…; so geht es mir mit euch - ich gebe vor, Leo zu hassen, meine Mutter zu lieben…“ 56 Hier wird deutlich, was Martuccelli mit „Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Situationsdefinitionen“ in der Moderne meint: In der modernen Gesellschaft sind Rahmen nicht mehr gegeben, sondern müssen in verschiedenen Interaktionen stets von neuem definiert werden, weil kein Wertekonsens mehr vorausgesetzt werden kann und längst nicht jeder alle offiziellen Wertsetzungen spontan nachempfindet (vgl. Luhmanns Kritik an Parsonsʼ Wertekonsens in Kap. XV). Dies ist einer der Gründe, warum Goffman in seinem letzten Buch Forms of Talk (1981), in dem er auch den Vortrag („The Lecture“) kommentiert, die Improvisationskunst und Anpassungsfähigkeit des Vortragenden betont. Der Rahmen steht nie fest, sondern muss stets an die Situation, in der interagiert wird, angepasst werden. Der Vortragende muss beispielsweise die Aufnahmefähigkeit des Publikums richtig einschätzen: „The speaker is encouraged to pitch his remarks down to fit the competence of a large audience (…).“ 57 Er muss ein „Self“ konstruieren, das sein Publikum anspricht: „He performs this self-construing at the podium.“ 58 Den Rahmen sprengt jemand, der mitten in einer Konversation oder geselligen Plauderei, in der auch Themen wie „Finanzkrise“ oder „Handelskrieg“ zur Sprache kommen, anfängt, einen Vortrag über Finanzpolitik oder Wirtschaft zu halten und so eine „Umrahmung“ einleitet. Er langweilt die Umstehenden, die plötzlich spüren, wie ihre Schuhe drücken oder ihre 56 A. Moravia, Die Gleichgültigen, Reinbek, Rowohlt (1963), 1979, S. 275. 57 E. Goffman, Forms of Talk, Oxford, Blackwell, 1981, S. 170. 58 Ibid., S. 194. <?page no="108"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 92 Beine anschwellen, und das Weite suchen - oder sich nach einem anderen, bekömmlicheren Rahmen umsehen. 3. Rolle und Stigma: Interaktion als Subjektivierung und Entsubjektivierung Von der Rolle und ihrer Verknüpfung mit der Fassade als Selbstdarstellung war hier öfter die Rede. Rolle und Stigma hängen insofern zusammen, als das „Stigma“ auch eine negative soziale Rolle und „Stigmatisierung“ eine negative Rollenzuweisung bezeichnen. Sieht man sich die Definitionen von „Rolle“ und „Stigma“ in Nachschlagewerken näher an, stellt man fest, dass sie implizit auf Rahmen verweisen und sogar narrative Elemente enthalten. In The Penguin Dictionary of Sociology wird Rolle in aller Knappheit wie folgt definiert: „(…) Rollen sind Bündel gesellschaftlich definierter Eigenschaften und Erwartungen, die mit sozialen Positionen verknüpft werden.“ („[…] Roles are the bundles of socially defined attributes and expectations associated with social positions.“) 59 Das Wort „expectations“ deutet an, dass im Zusammenhang mit „Position“ und „Rolle“ von einer bestimmten Person konkrete Handlungen und Handlungssequenzen in einem institutionell definierten Rahmen erwartet werden: ein Unterrichtsprogramm im Falle von Lehrerinnen und Lehrern, ein Genesungsprogramm im Falle von Ärztinnen und Ärzten. Auch diskrepante Rollen sind denkbar: etwa die eines Doppelagenten, der in zwei verschiedenen Rahmen agiert, im Auftrag von zwei - möglicherweise verfeindeten - Auftraggebern handelt und zwei einander ausschließende Programme zu realisieren hat. Auch „Stigma“ (lat. = Brand- Schandmal) ist als „negative Rolle“ im Zusammenhang mit den Begriffen Rahmen und (Erzähl-)Programm zu betrachten: „physisches, psychisches oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe (oder Gesellschaft) negativ unterscheidet und aufgrund dessen ihr soziale Deklassierung, Isolation oder sogar allg[emeine] Verachtung droht.“ 60 „Gruppe“ und „Gesellschaft“ bilden hier die Rahmen, in denen eine negative Erzählung („Deklassierung, Isolation, Verachtung“) vorstellbar ist. In eine solche Erzählung des sozialen Abstiegs verstrickt sich ein Lehrer, der eine Schülerin sexuell belästigt, oder ein Wissenschaftler, der ein Plagiat anfertigt, um seine Karriereaussichten zu verbessern. In beiden Fällen sind Umdeutungen und Umerzählungen denkbar: Der Lehrer kann beteuern, dass er nur Trost spenden wollte, der Wissenschaftler kann (wenn ihm nichts Originelleres einfällt) behaupten, er habe nur die Anführungs- 59 N. Abercrombie, S. Hill, B. S. Turner, The Penguin Dictionary of Sociology, London, Penguin, 2006 (5. Aufl.), S. 332. 60 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 864. <?page no="109"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 93 zeichen vergessen. In beiden Fällen geht es um korrigierende Handlungen, wie Goffman sagt, die Missverständnisse beseitigen sollen. Während bestätigende Handlungen wie Hilfsbereitschaft im Alltag mit Freundlichkeit belohnt werden, verlangen zweideutige oder missverständliche Handlungen - etwa „wenn ein Fuß gegen einen anderen stößt“ 61 - nach Korrekturen: Umdeutungen und Umerzählungen. Zum unbeabsichtigten Zusammenstoß der Füße bemerkt Goffman: „(…) Die dazu gegebene Deutung besagt, daß es sich um eine unbeabsichtigte Handlung handelt, die eine geringfügige Ungeschicklichkeit darstellt, die vom Akteur bedauert wird.“ 62 Dies gilt weitgehend auch für den normverletzenden Lehrer und den Autor des Plagiats: In beiden Situationen steht eine korrigierende Deutung an, die zugleich eine Umerzählung ist: „Eine unsittliche Berührung war nicht beabsichtigt, ich wollte nur Trost spenden.“ - „Ein Plagiat war nicht beabsichtigt, ich habe nur die Anführungszeichen vergessen“ - oder zeitgemäßer: „Der Computer (als Antisubjekt oder Widersacher) hat sie gelöscht.“ In allen diesen Fällen streben die „Missetäter“ (Goffman) nicht nur eine Korrektur der Bedeutung und der Erzählung an, sondern versuchen zugleich, ihre Rolle ins rechte Licht zu rücken, um der Stigmatisierung zu entgehen. Wer Anderen auf die Füße tritt, möchte nicht als brutaler Tollpatsch gelten, der Lehrer will seine moralische Rollenintegrität als Pädagoge wahren, und der Wissenschaftler unternimmt alles, um von der scientific community wieder als seriöses Mitglied anerkannt zu werden. Hier wird deutlich, dass Rollenspiel und Stigmatisierung unmittelbar die Identität von Individuen (ihr Self) betreffen: und zwar im Rahmen des Gegensatzes normal / abnormal. In diesem Zusammenhang unterscheidet Goffman drei Arten von Identität: soziale Identität, persönliche Identität und Ich-Identität. Die soziale Identität setzt sich aus den allgemeinsten Merkmalen einer Person zusammen: Alter, Geschlecht, Sprache (Akzent, Dialekt), Volkszugehörigkeit. Die persönliche Identität konkretisiert diese allgemeinen Kategorien durch Aussehen, Größe, Namen und Herkunft. Von beiden Identitäten gilt: „Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht.“ 63 Das Individuum wird tatsächlich im Verlauf der nichtfokussierten Interaktion (s.o.) nach Alter, Geschlecht, Aussehen und Größe beurteilt, und erst in der fokussierten Interaktion kommen Sprache, Name und Herkunft zur Geltung. Alle diese 61 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, op. cit., S. 195. 62 Ibid. 63 E. Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt, Suhrkamp (1967), 1975, S. 132. <?page no="110"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 94 Faktoren betreffen sowohl das Selbstverständnis als auch das Fremdverständnis eines Menschen (die Art, wie Andere ihn sehen). Bei Goffman ist jedoch auch von der Ich-Identität die Rede, die ausschließlich das Selbstverständnis betrifft. Denn die Anderen können nicht wissen (und erfahren vielleicht nie), wie sich jemand zuhause, im stillen Kämmerlein selbst einschätzt. Von der Ich-Identität heißt es bei Goffman, sie sei „zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit“. 64 Im Folgenden geht es um die Frage, wie Rollenverteilung und Stigmatisierung im Spannungsverhältnis zwischen Ich-Identität und sozialer oder persönlicher Identität, zwischen Selbstverständnis und Fremdverständnis zustande kommen. Es soll gezeigt werden, dass die Strategie des „Stigma- Managements“ (Goffman) in diesem Spannungsfeld entwickelt und angewandt wird. Ihr Hauptanliegen ist: die Ich-Identität als Selbstverständnis gegen alle Varianten des Fremdverständnisses - vor allem des stigmatisierenden - durchzusetzen, um autonomes Subjekt zu sein. Denn das stigmatisierende Fremdverständnis kommt einer Entsubjektivierung gleich - und gegen sie wehrt sich das Subjekt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. In diesem Zusammenhang könnte die Ich-Identität als Kern der Subjektivität aufgefasst werden, der allen Fremdverständnissen trotzt. Insofern übertreibt Jonathan H. Turner, wenn er Goffman vorwirft, er „leugne die Existenz eines Kernsubjekts oder einer permanenten Identität“ („denial of a core self or permanent identity“). 65 Es trifft jedoch zu, dass Goffman die Ich-Identität nicht als den „wahren Kern“ der Person bezeichnet. Sie könnte jedoch als der „Subjektkern“ aufgefasst werden. Im körperlichen Bereich kann jemand, der an einer Behinderung leidet, versuchen, diese Ich-Identität zu wahren oder zu erneuern und durch intensive sportliche Tätigkeit sein Gebrechen auszugleichen. Ein Unfall, der die Hand eines Pianisten verstümmelt, kann zur Entstehung einer neuen Lebenserzählung und einer neuen Subjektivität (Ich-Identität) jenseits der stigmatisierenden Verletzung beitragen: „Ein Unfall beendet eine ordentliche Pianistenkarriere und eine außerordentliche Kritikerkarriere beginnt.“ 66 In diesem Fall entspricht auch die Kritikerkarriere dem Selbstverständnis (der Ich-Identität) des Künstlers und hilft ihm, das Stigma der Verstümmelung zu ertragen, zu „managen“. Zum Stigma-Management gehört auch die Täuschung, die Goffman ausführlich bespricht und zu der die Verheimlichung von Gebrechen gehört: 64 Ibid. 65 J. H. Turner, „Erving Goffman’s Dramaturgical Approach“, in. ders., The Structure of Sociological Theory, op. cit., S. 409. 66 H. Lübbe, „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“, in: G. von Graevenitz, O. Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München, Fink, 1998, S. 35. <?page no="111"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 95 „so wenn ein Lehrer das petit mal (epileptischen Anfall) eines Schülers für momentanes Tagträumen hält; Betrunkenheit, etwa wenn ein Mann mit Zerebrallähmung bemerkt, daß seine Gangart immer fehlinterpretiert wird.“ 67 Der Strategie der Verheimlichung folgte auch das Verhalten einiger Juden im Nationalsozialismus, die versuchten, den Behörden eine falsche soziale und persönliche Identität vorzutäuschen und zugleich als gleichberechtigte Deutsche oder international anerkannte Staatsbürger (bisweilen mit ausländischen Pässen) aufzutreten. Auch Nichtjuden wehrten sich gegen die nationalsozialistisch organisierte Stigmatisierung: Der Philosoph Hans Vaihinger etwa ließ nach einer gegen ihn gerichteten antisemitischen Polemik des Nationalsozialisten Dietrich Klagges die folgende Verlagskorrektur (als eingelegten Zettel) in Klaggesʼ Buch Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung (1937) anbringen, um sich vom Stigma zu reinigen: „Berichtigung. Nach Mitteilung der Verlagsbuchhandlung Felix Meiner ist der auf Seite 10 genannte Philosoph Hans Vaihinger arischer Abstammung.“ (Seine Philosophie des „Als Ob“ wurde dort von Klagges als „jüdisches Denken“ und „erkünsteltes Gebäude“ geschmäht: möglicherweise aufgrund ihrer Subtilität.) In der gesellschaftlichen und sprachlichen Situation des Totalitarismus werden Individuen angehalten, sich auch der absurdesten Sprachregelung des herrschenden Soziolekts anzupassen und sich stigmatisierenden Bezeichnungen wie „Jude“ zu entziehen. Es setzt sich ein Streben nach Normalität, im Extremfall eine „Vortäuschung von Normalität“ 68 (Goffman) durch. Im Prinzip ist jeder verdächtig, weil nahezu jeder etwas vortäuscht: vor allem sein Einverständnis mit dem totalitären Regime. Was Goffman über Normalität schreibt, gilt in besonderem Maße für den Totalitarismus: „So wie sich bei dem Subjekt das Gefühl einstellen kann, daß normale Erscheinungen die allerverdächtigsten sind, so können die ihm gegenüberstehenden Anderen zu der Überzeugung kommen, daß der vertrauensselige Eindruck, den er macht, der am wenigsten glaubwürdige ist.“ 69 Schließlich wird jemand, der allen geradezu als eine Inkarnation von Normalität erschien, verdächtigt und als „Klassenfeind“, „Jude“ oder „Spion“ verhaftet (auch Klagges verdächtigte Vaihinger und versuchte, ihn zu stigmatisieren). In allen diesen Fällen geht es darum, der gesellschaftlich organisierten Entsubjektivierung, der Reduktion auf einen minderwertigen oder gefährlichen sozialen Status, zu entgehen und die eigene Ich-Identität als Selbstverständnis und authentische Subjektivität gegen den sozialen Druck zu 67 E. Goffman, Stigma, op. cit., S. 108. 68 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, op. cit., S. 368. 69 Ibid. <?page no="112"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 96 behaupten. Den Betroffenen kommt es auch darauf an, gegen Stigmatisierung und Diskriminierung ihren Anspruch auf alle sozialen Rollen in Politik, Verwaltung oder Wissenschaft durchzusetzen. Denn Stigmatisierung beinhaltet häufig einen partiellen Ausschluss aus dem öffentlichen Bereich und seinem Rollensystem, das denjenigen vorbehalten bleibt, die der offiziellen Norm entsprechen. Auch dieser Ausschluss läuft auf eine Reduktion der individuellen Subjektivität hinaus: auf Entsubjektivierung. Nach dem bisher Gesagten erscheint eine zusätzliche Definition von „Stigma“ möglich, welche die eingangs zitierte Definition konkretisiert: Stigma ist die Negation der Ich-Identität als Selbstverständnis durch ein negativ konnotiertes Fremdverständnis, das sich der sozialen und der persönlichen Identität eines Individuums bemächtigt. Im letzten Abschnitt soll gezeigt werden, wie diese Vereinnahmung des individuellen Subjekts in „totalen Institutionen“ (psychiatrischen Kliniken, Gefängnissen, Kasernen) auf verschiedenen komplementären Ebenen organisiert wird. 4. Subjektivität, Machtanspruch und Erzählung: Wer erzählt wen? Als erste Ebene kommt wieder der Rahmen im Sinne von Goffman in Frage, zumal er den Begriff der totalen Institution, den Goffmans Chicagoer Mentor Everett C. Hughes prägte, konkretisiert. Besonders anschaulich wird die Rolle des Rahmens in der totalen Institution von Richard Münch dargestellt: „Weil es nicht möglich ist, aus dem Rahmen der totalen Institution auszubrechen, wird alles, was die Insassen tun, primär durch diesen Rahmen geprägt.“ 70 Dies bedeutet, dass alles, was Insassen sagen oder tun, im Kontext der totalen Institution gedeutet wird und entsprechende Konsequenzen hat. Verhalten sie sich konform, werden sie belohnt, lehnen sie sich gegen die Institution auf, wird ihr Verhalten als Symptom ihrer Krankheit oder kriminellen Neigung gedeutet und entsprechend behandelt. Dies geschieht auf der zweiten, der narrativen Ebene, deren Rahmen durch die „totale Institution“ vorgegeben wird. Wer in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird, ist vorab stigmatisiert: als „krank“, „abnormal“ oder „gefährlich“. Ihm stehen zwei Strategien als narrative Programme zur Wahl: Anpassung oder Widerstand. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch Goffmans Darstellung der Klinik in Asylums (1961, dt. Asyle, 1972), in der, wie schon Danilo Martuccelli bemerkte 71 , alle Vorgänge aus der Sicht der Patientinnen und Pa- 70 R. Münch, „Die Dramaturgie der strategischen Kommunikation: Erving Goffman“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. II: Handlungstheorie, Frankfurt, Campus, 2007 (2. Aufl.), S. 295. 71 Vgl. D. Martuccelli, „Erving Goffman, la condition moderne ou le soupçon permanent“, in: Sociologies de la modernité, op. cit., S. 448. <?page no="113"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 97 tienten erzählt werden, die der Autor zu seinen Fokalisatoren macht. Angesichts dieses fokalisierenden Engagements kann nicht von Werturteilsfreiheit im Sinne von Max Weber die Rede sein, da sich Goffman ja die Perspektive der Insassen zu eigen macht. 72 Diese Perspektivierung als Fokalisierung veranschaulicht die folgende Passage aus Asyle, die auch in anderer Hinsicht aufschlussreich ist: „Kurz gesagt, durch die Hospitalisierung wird der Patient überlistet, indem er der üblichen Ausdrucksformen beraubt wird, durch welche der einzelne sich dem Zugriff der Organisation entziehen kann: Respektlosigkeit, Schweigen, sotto voce geäußerte Bemerkungen, unkooperatives Verhalten, mutwillige Zerstörung von Einrichtungsgegenständen usw.; solche Zeichen des Sich- Ausschließens werden nun als Anzeichen der rechtmäßigen Zugehörigkeit des Urhebers gewertet.“ 73 Nicht nur negativ konnotierte Ausdrücke wie „überlistet“ und „beraubt“ deuten an, dass der Autor-Erzähler den Standpunkt des Patienten einnimmt, sondern auch und vor allem seine Diskursanalyse, die zeigt, wie der Widerstand des Insassen durch eine Integration seiner Sichtweise und seiner Handlungen in die Erzählung der Anstalt als kollektiver Gegenauftraggeberin und Antisubjekt in einem integriert wird. Während der Insasse als schwaches Subjekt und Auftraggeber in eigener Sache beteuert, er sei ein freier und normaler Mensch, der nur wegen des Unverständnisses oder der Boshaftigkeit seiner sozialen Umgebung in die Klinik eingewiesen wurde, deutet die Klinik seine Erzählung und seine Handlungen um, indem sie sie als Symptome wertet, die eine Aufnahme in die Psychiatrie rechtfertigen, ja notwendig erscheinen lassen. Ihre Erzählung lautet: „Du bist nicht der, für den du dich hältst; deine Äußerungen und Handlungen lassen klar deine Anomalie erkennen, die hier behandelt werden muss.“ Dabei wird die Vorgeschichte der Patientin oder des Patienten immer wieder zur Rechtfertigung der institutionellen Erzählung herangezogen. Auf dieser Ebene stellt Goffman einen Vergleich mit der Erzählsituation im Totalitarismus an. Sein Beispiel stammt aus China: „Von chinesischen ‚Gehirnwäsche‘-Lagern wird behauptet, sie würden diese Interpretationsprozesse ins Extrem treiben, indem die harmlosen Alltagsereignisse aus der Vergangenheit des Gefangenen in Symptome konterrevolutionärer 72 Vgl. dazu J. Raab, Erving Goffman, op. cit., S. 26. Von Goffman heißt es dort: „Immerhin bekennt er sich ausdrücklich zu Webers Postulat der Werturteilsfreiheit (…).“ Diese Einschätzung ist wohl ein Selbstmissverständnis. Sie zeigt, dass Werturteilsfreiheit vor allem auf narrativer Ebene (Perspektivierung, Fokalisierung, Aktantenmodell) nicht durchzuhalten ist. 73 E. Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 292. <?page no="114"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 98 Aktivität umgedeutet werden.“ 74 Sicherlich handelt es sich stets um Interpretationsprozesse; diese sind aber zugleich Prozesse der Umerzählung. Der Staat und die Klinik sind darauf aus, die Insassen in ihre Erzählung einzubinden und die widerständige Erzählung des aufbegehrenden Einzelnen aus der Welt zu schaffen. Dass dieser Einzelne seine eigene Erzählung konstruiert, die von seiner Ich-Identität als Subjekt-Kern ausgeht, wird von Goffman keineswegs übersehen. Auf sein von der „totalen Institution“ proklamiertes persönliches Scheitern antwortet der Insasse mit einem narrativen Gegenentwurf: „Darauf reagiert der Insasse meist in der Form, daß er sich eine Geschichte, einen Standpunkt, einen traurigen Bericht - also eine Wehklage und Apologie - zurechtlegt, die er seinen Schicksalsgefährten beständig erzählt, um seinen gegenwärtigen niedrigen Status zu erklären.“ 75 Abermals erscheint hier die Erzählung als eine „Form der Erklärung“ im Sinne von Werner Schiffer. Wer Goffmans Ausführungen aufmerksam folgt, kann keineswegs mit Tom Burns zu dem Schluss gelangen, dass der amerikanische Soziologe den Machtfaktor unberücksichtigt lässt. Burns meint, dass das Thema „Macht“ nirgends in Goffmans Werk zur Sprache kommt und fügt hinzu: „There is hardly any mention of power relationships between categories and groups of people, or between individuals.“ 76 Burns relativiert zwar diese vor allem von Marxisten vorgebrachte Kritik durch Hinweise auf Stigma und Asyle, geht aber auf Goffmans Analysen der Machtverhältnisse zwischen Institution und Insassen im letztgenannten Werk nicht ein (ebenso wenig wie die marxistischen Kritiker Goffmans, die nie ein Auge für die Vermittlung der Macht durch sprachliche Strukturen hatten). Asyle ist aber ein Buch über Machtausübung: Davon zeugt auch Goffmans Kommentar zu den chinesischen Umerziehungslagern. Wer wollte behaupten, dass diese nichts mit Machtverhältnissen zu tun haben? Gefängnisse und psychiatrische Kliniken unterscheiden sich nicht grundsätzlich von diesen Lagern: Auch in ihnen geht es letztlich darum, sich des Vokabulars, der Semantik und der Narrativik der Insassen zu bemächtigen, um sie in die offizielle Erzählung und Ideologie der Machthaber einzubinden. Zum Abschluss sollen hier das stets geheim gehaltene Verhältnis von Machtausübung und Erzählung sowie die Erzählung als Machtausübung näher betrachtet werden. Dazu bemerkt der Semiotiker Louis Marin: „Dieses Geheimnis lüften und einen Diskurs über den Diskurs der Macht sprechen heißt Kritik.“ 77 74 Ibid., S. 89. 75 Ibid., S. 70. 76 T. Burns, Erving Goffman, op. cit., S. 54. 77 L. Marin, Le Récit est un piège, Paris, Minuit, 1978, S. 10. <?page no="115"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 99 Wird ein Land besetzt, sorgt die Besatzungsmacht umgehend für eine Erzählung, die ihr Vorgehen rechtfertigt. Die sowjetischen Invasionen der Tschechoslowakei im Jahre 1968 und Afghanistans im Jahre 1979 wurden durch Hinweise auf konterrevolutionäre Bewegungen in beiden Ländern gerechtfertigt. Dabei verließen sich die damaligen Moskauer Machthaber auf eine vereinfachte Variante der marxistisch-leninistischen Erzählung, die besagt, dass die Weltrevolution als Fortschreiten zu stets höheren Stadien des Sozialismus unumkehrbar sei, dass man aber wachsam bleiben und konterrevolutionäre Umtriebe im Keim ersticken müsse (die übliche Mischung aus Determinismus und Voluntarismus: Während der Determinismus die Zuversicht stärkt, rechtfertigt der Voluntarismus Gewalt). Widerstände und Proteste gegen die Besatzungsmacht wurden als Beweise für die Anwesenheit von Konterrevolutionären oder die Realität der Konterrevolution gedeutet und als „empirisches Material“ in den marxistischleninistischen Diskurs, den wissenschaftlichen Diskurs par excellence, dankbar aufgenommen. Wie immer fanden sich Kollaborateure, die bereit waren, diesen Diskurs in Stadt und Land zu propagieren. Erinnert das nicht an Goffmans Darstellungen des Verhältnisses zwischen Klinikleitung und Insassen? Zur Veranschaulichung noch eine kleine Textprobe aus Asyle. Zu den „distanzierenden Akten“ der Insassen heißt es dort: „Meist definiert die offizielle psychiatrische Doktrin solche distanzierenden Akte als psychotisch (…).“ 78 Ersetzt man „psychiatrische“ durch „marxistisch-leninistische“ und „psychotisch“ durch „konterrevolutionär“, befindet man sich wieder im marxistisch-leninistischen Diskurs. Kritik fällt relativ leicht; weniger leicht fällt es einem Autor, einen kritischen Blick auf das eigene Unternehmen zu werfen. Er ist in diesem Fall aber kaum zu vermeiden, weil es doch in den folgenden Kapiteln um die Darstellung soziologischer Theorien als Erzählungen-Erklärungen geht - und zwar im Rahmen einer groß angelegten Erzählung, deren Kurzform lautet: „Die Entwicklung der Soziologie von der Moderne und der Spätmoderne zur Postmoderne“. Jede Metatheorie als Erzählung-Erklärung erhebt (ob der Autor sich dessen bewusst ist oder nicht) einen Machtanspruch, und es drängt sich - vor allem nach den hier vorgebrachten Argumenten - die Frage auf, wie er mit dem Machtfaktor umgehen will. Im Anschluss an Adornos Essayismus, der dialogische Elemente enthält 79 , und an Michail M. Bachtins Dialogizität (vgl. „Einleitung“) soll die Offenheit des unabschließbaren Dialogs dafür sorgen, dass die hier kom- 78 E. Goffman, Asyle, op. cit., S. 293. 79 Vgl. Vf., „Der Essay als Theorie und Utopie: Von Lukács zu Adorno“, in: ders., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, S. 168: „Essay, Parataxis, Dialog: Drei Wege der Kritischen Theorie (Epilog)“. <?page no="116"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 100 mentierten Theorien möglichst unverzerrt, ihrem Selbstverständnis nach dargestellt werden. Dies schließt Kritik nicht aus, aber diese soll auch die Gegenkritik, die Gegenstimme (Bachtin) zu Wort kommen lassen, die möglicherweise bewirkt, dass sich eine Leserin oder ein Leser für einen theoretischen Standpunkt entscheidet, der mit dem des Autors nichts zu tun hat - oder gar mit ihm kollidiert: etwa für Luhmanns Systemtheorie. Dass diese nicht vollständig wiedergegeben wird, versteht sich von selbst (auch der Autor einer Theorie kann diese nicht vollständig wiedergeben, zusammenfassen); aber ihre Kernargumente und Luhmanns Gegenkritik (etwa an Habermas) sollten im offenen Dialog nicht untergehen. Die Dialogische Theorie versteht sich mithin als Alternative zu den Systemtheorien (hier vor allem Hegels, Parsonsʼ und Luhmanns), die versuchen, alle Denkrichtungen, alle theoretischen Standpunkte in ein System zu integrieren, „für den Gegner einen berechtigten Platz im eigenen theoretischen Rahmen zu finden“ und zu erklären, „weshalb er opponiert“ 80 (Luhmann). Im System lautet die Antwort zumeist: wegen seiner Unzulänglichkeiten, die systematisch durch „Aufhebungen“ und „Synthesen“ überwunden werden können (vgl. Kap. IV zu Hegel und Kap. XV zu Luhmann). Der „Gegner“ sieht es naturgemäß anders und erzählt seine eigene Geschichte jenseits der Systemgrenzen. Diese Antwort der Systemdenker ist den Reaktionen der „totalen Institutionen“ nicht ganz unähnlich. Auch sie wissen, warum der Dissident, Insasse oder Patient „opponiert“: wegen seiner Unzulänglichkeiten, die unter bestimmten Bedingungen beseitigt werden können. Die Hauptbedingung ist die Unterwerfung unter den totalen, alles umfassenden Diskurs. Diesen Diskurs sprengt Dialogische Theorie: Sie ist als Metatheorie eine Methode der Verständigung und kritischen Überprüfung und ein Versuch, jederzeit der kritisierten Gegenstimme Gehör zu verschaffen. Sie ist ein Versuch, „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“ (Adorno). Zusammenfassung und Ausblick: Sowohl im Zusammenhang mit Mead als auch im Zusammenhang mit Goffman konnte die Bedeutung narrativer Strukturen in soziologischen Theorien beobachtet werden. Während Mead zeigt, wie in der infraindividuellen Interaktion zwischen „I“, „Me“ und „Self“ das individuelle Subjekt als Aktant (Greimas) zustande kommt und letztlich im Auftrag des „Generalized Other“ (als Auftraggeber, Greimas) handelt, zeichnet sich in Goffmans Soziologie die Bedeutung kollektiver Aktanten (Teams, Ensembles) ab, die das Handeln der ihnen angehörenden individuellen Akteure mitbestimmen. Zugleich wird - vor allem in Goffmans Stigma 80 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft (Hrsg. D. Horster), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (4. Aufl.), S. 68 (vgl. Kap. XV. 1). <?page no="117"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 101 und Asylums - deutlich, dass die Erzählung ein stigmatisierendes Machtinstrument sein kann: In der totalen Institution (Klinik, Gefängnis, Kaserne) wird die Erzählung des individuellen Akteurs in die des kollektiven Aktanten „Institution“ integriert. Dadurch wird individuelles Selbstverständnis durch das institutionelle Fremdverständnis vereinnahmt und das Subjekt seiner Subjektivität beraubt. In der Theorie, die sich dem Anderen (der Alterität) und dem Dialog öffnet, kommt es darauf an, diesem Machtanspruch der Theorie als Erzählung und Metaerzählung Rechnung zu tragen. In den folgen den Kapiteln wird daher versucht, dem Selbstverständnis der dargestellten Theorien und ihrer Subjekte gerecht zu werden und sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen sichtbar zu machen. Dass die Darstellung einer Theorie (auch die Selbstdarstellung! ) nie vollständig sein kann und stets auf Rele vanzkriterien und Selektionen gründet, versteht sich von selbst. <?page no="119"?> 103 Erster Teil: Moderne soziologische Theorien als Erzählungen und ihre Kritik in der Spätmoderne Moderne Denker wie Hegel, Marx und Comte unterscheiden sich grundsätzlich von Denkern der Spät- und Postmoderne durch ihre groß angelegten, teleologisch konzipierten Erzählungen, die in der „Absoluten Idee“ (Hegel) gipfeln, eine „klassenlose“, herrschaftsfreie Gesellschaft (Marx) ankündigen oder eine radikale Neuordnung des menschlichen Zusammenlebens durch wissenschaftlichen Fortschritt (Comte) voraussagen. Wird die Postmoderne mit Jean-François Lyotard - etwas einseitig - als „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ 1 aufgefasst, dann werden im soziologischen Bereich die Konturen einer theoretischen Entwicklung sichtbar, in deren Verlauf ehrgeizige Prognosen und Ankündigungen einer besseren Zukunft ihre Überzeugungskraft einbüßen. Die Skepsis, von der Lyotard spricht, ist indessen keine rein postmoderne Attitüde, weil sie schon von bedeutenden Vertretern der spätmodernen Soziologie wie Alfred Weber, Max Weber, Emile Durkheim, Vilfredo Pareto und Georg Simmel angekündigt wird. In ihren Werken wird bereits deutlich, dass es aus gesellschaftlichen Gründen nicht mehr akzeptabel erscheint, die Geschichte der Menschheit als Sozialgeschichte in einem happy end ausklingen zu lassen. Im zweiten Teil dieses Buches wird nach den Gründen für diese seit der Spätmoderne (also seit ca. 1850) wachsende Skepsis dem philosophischen und soziologischen Erzählen gegenüber gefragt. Es wird sich jedoch zeigen, dass auch Autoren der Spätmoderne, der eigentlichen Gründungsphase der Soziologie, auf das Erzählen nicht verzichten, sich aber hüten, es in euphorische Entwürfe à la Comte oder Marx münden zu lassen. Ihnen erscheinen die Grenzen, Unwägbarkeiten und Gefahren der menschlichen Entwicklung ebenso wichtig wie deren Möglichkeiten und Potenziale. Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die noch zur Spätmoderne gehört, in mancher Hinsicht aber schon die Postmoderne ankündigt, schließt katastrophale Folgen der Naturbeherrschung, die der junge Marx nur ansatzweise analysiert, nicht mehr aus. Aktuell und bestechend sind die modernen soziologischen Entwürfe deshalb, weil sie die historische Entfaltung von Sinn erzählen und nicht wie Camusʼ spätmoderne Philosophie von Sinnzerfall und Absurdität handeln. 1 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S. 14. <?page no="120"?> Moderne soziologische Theorien 104 „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ 2 , beschließt Camus seine Betrachtungen in Der Mythos von Sisyphos. Das ist nicht einfach. Einfacher und befriedigender ist es, den modernen Großerzählungen zu folgen, die nicht von Sisyphos, sondern von Prometheus ausgehen, der für schöpferische Zuversicht und zukunftsträchtigen Elan bürgt. Dass dieser Elan auch von zeitgenössischen Soziologen gewürdigt, ja sogar mit Nostalgie betrachtet wird, zeigt ein Artikel von Dirk Kaesler: „‚Große Erzählungen‘ sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“. Vorausgesetzt wird hier, dass die „Form der Erzählung (…) bereits als solche eine Form der Erklärung“ 3 ist, wie es der in der Einleitung zitierte Historiker Werner Schiffer ausdrückt. Kaesler unternimmt einen Versuch, die soziologische Moderne zu aktualisieren, wenn er ihre „großen Erzählungen“ gegen die „allgegenwärtig angebotenen ‚kleinen Erzählungen‘, wie sie vor allem durch die empirische Sozialforschung erzeugt werden“ 4 , ausspielt und hinzufügt: „Dazu zählt beispielsweise die ‚heroische Erzählung‘ des Auguste Comte mit ihrem Versprechen von der Religion der Vernunft, der harmonischen Integration von gesellschaftlicher Ordnung und individuellen menschlichen Bedürfnissen, bei der die Soziologie die geistige Führung und politische Steuerung der Gesellschaft übernimmt, gewissermaßen einem französischen Echo der bürgerlich-Hegelschen Erzählung vom Sieg der Vernunft. Man denke an die andere ‚heroische‘ Große Erzählung des Karl Marx, mit dessen Vision von der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Fremdbestimmung (…).“ 5 Im vierten und fünften Kapitel soll hier dieser Versuch, die modernen soziologischen „Großerzählungen“ zu aktualisieren, fortgesetzt werden. In einer dialogischen Konfrontation zwischen Marx und Comte sollen die Stärken, Probleme und Schwächen beider Theorien hervortreten und im Kontext der heutigen Gesellschaft betrachtet werden. In einer Zeit, in der Comtes Soziologie auf das mit negativen Konnotationen befrachtete Schlagwort „Positivismus“ reduziert wird, in der viele, die sich der allgegenwärtigen Wirkung der Medien nicht entziehen können, den Eindruck gewinnen, dass Marx seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Verschwinden von Karl-Marx-Stadt niemandem etwas zu sagen hat, mag eine Aktualisierung beider Denker wichtig sein. 2 A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg, Rowohlt (1959), 1981, S. 100. 3 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. 4 D. Kaesler, „‚Große Erzählungen‘ sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? , Münster, Lit-Verlag, 2005, S. 356. 5 Ibid. <?page no="121"?> Moderne soziologische Theorien 105 Zu dieser Aktualisierung gehören die im sechsten und siebenten Kapitel inszenierten Dialoge zwischen Marx, Comte und der Kritischen Theorie sowie zwischen Marx, Comte und einigen feministischen Theorien, die von ganz anderen Relevanzkriterien ausgehen als die modernen Denker. Es wird sich zeigen, dass den z.T. sehr verschiedenen feministischen Ansätzen vor allem im Bereich der Beobachtung und der Relevanz eine besondere Bedeutung zukommt. Die Tatsache, dass die spätmoderne Kritische Theorie Adornos und Horkheimers sowie die zeitgenössischen feministischen Theorien schon im ersten Teil im Zusammenhang mit Marx und Comte kommentiert werden, so dass der Eindruck eines Anachronismus entstehen mag, hängt mit dem dialogischen Aufbau des Buches zusammen: Die Wirkung der Marxschen Theorie und der verschiedenen Varianten des Marxismus mag in den letzten drei Jahrzehnten abgenommen haben; sie machte sich aber zeitweise in Diskussionen um die Kritische Theorie bemerkbar, die z.T. aus Marxʼ Philosophie hervorging, auf die sie kritisch reagierte. Komplementär dazu kann Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als eine Kritik an Comtes Positivismus und an positivistischen Philosophien Comtescher Provenienz gelesen werden. Insofern greifen in diesem Bereich Moderne und Spätmoderne - als Selbstkritik der Moderne - dialogisch ineinander. Ähnliches kann von den feministischen Theorien gesagt werden, die sich sporadisch mit dem Marxismus und der Kritischen Theorie auseinandersetzen und versuchen, die Leerstelle auszufüllen, die in beiden Theoriekomplexen durch die Vernachlässigung des Geschlechtergegensatzes entsteht. Auch sie bewirken, dass Marxʼ Gesellschaftstheorie und die aus ihr ableitbaren Varianten des Marxismus in die Gegenwart hineinragen und schon deshalb nicht pauschal in eine vergangene Moderne der „großen Metaerzählungen“ relegiert werden können. In diesem vom Dialog strukturierten Zusammenhang ist auch die Tatsache zu erklären, dass Herbert Spencers moderne Erzählung der Differenzierung und Individualisierung erst am Anfang des „Zweiten Teils“ kommentiert wird, wo Emile Durkheims spätmoderne Begründung der Soziologie als Antwort auf den Spencerschen Individualismus erscheint. Spencers Entwurf und Durkheims Entgegnung sollen gleichsam eine Brücke von der Moderne zur Spätmoderne schlagen. Im Übergang von Spencer zu Durkheim soll auch deutlich werden, warum die moderne Zuversicht, die bei Spencer in einer fortschreitenden Selbstbehauptung und Emanzipation des Einzelnen zum Ausdruck kommt, einer spätmodernen, krisenbedingten Skepsis weicht. Insgesamt zeigt diese Einleitung zum „Ersten Teil“, dass nicht nur die soziologischen Theorien die gesellschaftliche Wirklichkeit erzählen, sondern dass auch die „Theorie der Theorie“, die hier auf Metaebene die <?page no="122"?> Moderne soziologische Theorien 106 Entwicklung der Gesellschaftstheorien darstellt, eine Metaerzählung ist, in der die Aufeinanderfolge von „Moderne“, „Spätmoderne“ und „Postmoderne“ aus bestimmten Relevanzkriterien hervorgeht. Relevant sind beispielsweise das Reflexivwerden der Moderne in der Spätmoderne (Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne) sowie die postmoderne „Skepsis den Metaerzählungen“ gegenüber, die sich mit dem Beginn der Postmoderne (nach 1950) durchsetzt. <?page no="123"?> 107 IV. Kapital und Tauschwert, Arbeit und Klassenkampf: Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx Inhaltsverzeichnis 1. Hegels idealistische Erzählung als Versöhnung von Subjekt und Objekt 2. Die Öffnung des Hegelschen Diskurses bei Marx 3. Die materialistische Neubesetzung der Hegelschen Aktanten: Geschichte, Bürgertum, Proletariat und Prozess 4. Ein neuer Fokalisator: Das „Proletariat“ 5. Das theoretische Potenzial von Marxʼ Soziologie Hegel und Marx sind beide Denker der Moderne, deren Entwürfe auf sehr verschiedene Arten von der historischen Zuversicht eines Bürgertums zeugen, das die Entwicklung der Gesellschaft als ein Fortschreiten zu immer höheren Stadien sieht. Während sich Hegels Denken innerhalb der bürgerlichen Ordnung bewegt, die es nicht überschreiten, sondern als vernünftige und zeitgemäße Ordnung erklären will, kündigt Marx eine neue Ära jenseits der bürgerlichen Klassengesellschaft an. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie die soziale Entwicklung als einen Emanzipationsprozess auffassen, in dessen Verlauf die Freiheit des Einzelnen und der Gruppe stetig zunimmt. Diese Zuversicht hängt nicht zuletzt mit der historischen und gesellschaftlichen Situation zusammen, in der sie lebten und wirkten. Trotz aller Restaurationen, die ihr folgten, hatte die Französische Revolution von 1789 eine anhaltende Signalwirkung 1 , weil sie zeigte, dass die feudal-absolutistische Ordnung nicht die einzig mögliche war und dass sie durch eine vernünftigere, gerechtere und menschlichere Ordnung überwunden werden konnte. Während Hegel - wie später Comte in einem ganz anderen Kontext - diese neue Ordnung für endgültig hielt und dadurch eine Postmoderne vorwegnahm, in der sich viele keine „Alternative“ zum Bestehenden vorstellen können („living without an alternative“, sagt Zygmunt Bauman) 2 , trat Marx aus dem Bann des Hegelschen Systems heraus, indem 1 Vgl. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 19- 20: „Die Begegnung mit der Revolution und der Enthusiasmus für sie in der Tübinger Zeit (1788-1793) stehen am Anfang des geistigen Weges Hegels. Von diesem Enthusiasmus ist alles ausgegangen; er stiftet die Freundschaft mit Hölderlin und mit Schelling.“ 2 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S. 175. <?page no="124"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 108 er die Kritik des Bürgertums am Absolutismus als eine vom Proletariat getragene Kritik am Bürgertum fortsetzte. Diese Kritik geht durchaus auch aus dem utopischen Bewusstsein des Bürgertums hervor, das in Rousseaus Werk und in der Romantik 3 zum Ausdruck kommt. Dazu bemerkt Reinhart Koselleck: „Endlich trug das letzte Objekt der Kritik, der absolutistische Staat, auf seine Art dazu bei, das utopische Gesellschaftsbild des Bürgertums zu etablieren.“ 4 Aus diesem Gesellschaftsbild ging schließlich die Utopie von Karl Marx hervor, die freilich auch in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt ist, deren Messianismus aus verschiedenen Schriften des jungen Marx spricht. Während die christlichen Impulse Hegel zu einer Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt drängen, hält der Marxsche Messianismus das Verlangen nach Erlösung wach. In der christlichen Theodizee sind Versöhnung und Erlösung komplementäre Begriffe, von denen der eine den anderen voraussetzen kann. Christoph Türcke übertreibt keineswegs, wenn er zu Marx bemerkt: „Nur eine Theorie, in deren Innerstem, das Feuer der Erlösungsidee brennt, ist in der Lage, die Totalität der Kapitalverhältnisse als falsche Totalität zu durchschauen und damit angemessen darzustellen.“ 5 Dies bedeutet zugleich, dass Marxʼ Sozialwissenschaft von der großen religiösen Erzählung nicht zu trennen ist und dass in der Soziologie das religiösideologische Engagement, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, das Erkenntnisinteresse und den Erkenntnisfortschritt wesentlich mitbedingt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die modernen Erzählungen von Hegel, Marx und Comte die Form der „Großerzählung“ (vgl. D. Kaesler in der Einleitung zum „Ersten Teil“) nicht der Religion verdanken, zumal Hegels System häufig als säkularisierte Theodizee aufgefasst wird und Comte für die von ihm entworfene, von der positiven Wissenschaft regierte Gesellschaft eine weltliche Religion konzipiert, die die partikularen Interessen überwinden und den Egoismus des Einzelnen bändigen soll (vgl. Kap. V). Nicht zu Unrecht erinnert Robert C. Tucker an die religiöse Form von Marxʼ Erzählung: „Marx sieht ebenso wie das Christentum das ganze Dasein als Geschichte; er erzählt im Grund eine Geschichte mit einem Ablauf von Anfang, Mitte und Ende.“ 6 3 Vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München, Fink, 1992, S. 367. 4 R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg, Alber, 1959, S. 7. 5 Ch. Türcke, „Über die theologischen Wurzeln der Marxschen Kritik“, in: E. Schweppenhäuser, D. zu Klampen, R. Johannes (Hrsg.), Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg, zu Klampen, 1987 (2. Aufl.), S. 31. 6 R. C. Tucker, Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos, München, Beck, 1963, S. 19. <?page no="125"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 109 Dieser Ursprung in der Religion, die im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert noch keineswegs in die säkularisierte Enklave eines „Religionssystems“ (Luhmann) oder eines „Feldes“ (Bourdieu) verbannt worden war, verringert weder das theoretische Potenzial der Großtheorien noch schmälert er ihre wissenschaftlichen Verdienste. Denn die Aktualität von Hegel und Marx besteht u.a. darin, dass ihre Theorien als groß angelegte und widerstreitende Hypothesen über die Gegenwart betrachtet werden können. Ihr Widerstreit ist teilweise aus den stark divergierenden Biografien der beiden Denker ableitbar. Während Hegel (1770-1831) in Tübingen Theologie und Philosophie studierte, 1808 zum Gymnasialdirektor in Nürnberg, 1816 zum Professor in Heidelberg ernannt wurde und nach 1818 als staatstragender Ordinarius in Berlin Philosophie lehrte, führte Marx (1818-1883) nach seinem Bonner und Berliner Studium der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Geschichte ein unstetes Leben als Redakteur der Rheinischen Zeitung und Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, die er im Pariser Exil (nach 1843) gemeinsam mit dem rebellischen Junghegelianer Arnold Ruge betreute. Im Gegensatz zum staatstragenden Philosophen Hegel bekämpfte er den bürgerlich-kapitalistischen Staat und verbannte sich aus dessen Gesellschaft noch bevor er sich ins Londoner Exil begab, wo er 1883 starb. Schließlich verzichtete er auf die wegen seiner chronischen Geldnöte übernommene Redaktion der liberal-demokratischen Rheinischen Zeitung: „nicht allein, weil die Zeitung in Folge ihrer allzu scharfen Sprache von der Regierung verboten wurde, sondern vor allem aus Ekel vor den ständigen Zensurschikanen, die ihn zwangen, ‚mit Nadeln statt mit Kolben zu fechten‘, und weil er es überdrüssig war, ‚sich selbst zu verfälschen‘.“ 7 Angesichts dieser Schwierigkeiten gibt er auch den Gedanken auf, an der Bonner Universität als Privatdozent tätig zu sein. In diesem Zusammenhang lautet Wolfgang Eßbachs These, dass die radikale Gesellschaftskritik der Junghegelianer, zu denen auch Marx (als deren Kritiker) zählte, im Zusammenhang mit ihrer „Entlassung aus dem Staatsdienst“ 8 zu betrachten sei. Anders als Hegel, der seine Apologie des damaligen preußischen Staates in welthistorische Dimensionen kleidete, indem er Staat und bürgerliche Gesellschaft miteinander versöhnte, attackierte Marx als vom Bürgertum verbannter Philosoph den kapitalistischen Klassenstaat. Doch die biografisch bedingten Standorte der beiden Denker sind nicht schlicht als kontingente Kuriosa zu verabschieden. 7 S. Landshut, „Einleitung“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. XXI. 8 W. Eßbach, Die Junghegelianer. Zur Soziologie einer Intellektuellengruppe, München, Fink, 1988, S. 26. <?page no="126"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 110 Während Hegel behaupten könnte, dass seine Darstellung des modernen Staates, der nicht mit dem damaligen Preußen identisch sein muss, der Form des zeitgenössischen Staatswesens entspricht, könnte Marx einwenden, dass gerade der Zusammenbruch des (in den 1960er und 70er Jahren) scheinbar unbeweglichen Ostblocks gezeigt hat, dass die Zukunft offen bleibt und dass folglich auch der „Westen“ nicht gegen Widersprüche und Umbrüche gefeit ist. Während Hegel die postmoderne These bestätigen könnte, dass wir ohne Alternative zum Spätkapitalismus als „postindustrieller Gesellschaft“ ohne revolutionäres Proletariat leben müssen, könnte Marx auf die sich beschleunigenden wirtschaftlichen, technologischen und politischen Entwicklungen sowie auf die sich häufenden Krisen hinweisen und so Zweifel an der Persistenz des bürgerlich-kapitalistischen Systems wecken. Stets sind verschiedene theoretische Erzählungen denkbar, und keine von ihnen deckt sich mit der Wirklichkeit - auch wenn sie ideologisch behauptet, mit dieser identisch zu sein. Indes haben alle Versuche, diese Art von Großtheorien auf die Gegenwart anzuwenden, den Nachteil, dass ihre historische Spannweite, ihr Abstraktionsniveau und ihre Vieldeutigkeit sehr viele, auch widersprüchliche Auslegungen und Anwendungen ermöglichen. Dies ist wohl einer der Gründe, warum Robert K. Merton Theorien der „mittleren Reichweite“ („theories of the middle range“), die er u.a. anhand von Emile Durkheims Studie über den Selbstmord exemplifiziert 9 , Großtheorien im Sinne von Hegel, Marx oder Comte vorzieht. Es ließe sich allerdings zeigen, dass vor allem Marxʼ Erzählung durchaus auch Theoreme „mittlerer Reichweite“ (etwa zum Klassenkampf) enthält, die jedoch nur in dem sie umfassenden Kontext konkret zu verstehen sind - so wie Durkheims Selbstmord-Studie (vgl. Kap. IX) nur im Rahmen von Durkheims Differenzierungstheorie klare Konturen annimmt, die wiederum eine Großtheorie der Gesellschaft und ihrer Entwicklung ist. 1. Hegels idealistische Erzählung als Versöhnung von Subjekt und Objekt Hegels Philosophie ist ein groß angelegter Versuch, den vernünftigen Charakter der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen und nachzuweisen, dass sich jedes vernünftige Subjekt mit ihr identifizieren kann. Wer sich vornimmt, die Wirklichkeit aus dieser Sicht darzustellen und zu erzählen, wird zugleich dazu neigen, diese Wirklichkeit in ihrer Entwicklung zu rechtfertigen und zu zeigen, „daß die Vernunft die Welt 9 Vgl. R. K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York, The Free Press, 1968 (enlarged ed.), S. 59. <?page no="127"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 111 beherrsche, daß es also in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“. 10 Dies bedeutet, was die „Form der Erzählung“ angeht, dass sich diese als rechtfertigende Retrospektive präsentiert und nicht etwa als Negation des Bestehenden oder als zukunftsorientierte Prophetie im Sinne von Marx. Hegel will die bestehenden Verhältnisse erklären und rechtfertigen, nicht kritisieren. Seine Aversion gegen Dissens und Kritik kommt bereits in einer seiner Habilitationsthesen zum Ausdruck: „Philosophia critica caret ideis et imperfecta est Scepticismi forma.“ („Der kritischen Philosophie fehlt es an Ideen, und sie ist eine unvollkommene Form des Skeptizismus.“) 11 Konkrete Gestalt nehmen die Ablehnung des kritischen Bewusstseins und die Zurückweisung der Kritik in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts an, wo es schon in der „Vorrede“ zu der vorgelegten Schrift heißt: „Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll.“ 12 Diese affirmative Einstellung Hegels ist aus seinen Kritiken an den kritischen Philosophien Kants, Fichtes und der Romantiker 13 ableitbar, denen er ihr Unvermögen vorwirft, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt zu überbrücken und sich die Wirklichkeit als vernünftige Totalität anzueignen. Sie fordern zumeist lediglich die Einheit von Subjekt und Objekt, von Gedanken und Wirklichkeit. Sie sind aber außerstande, diese Einheit in ihren Philosophien zu verwirklichen, weil sie die Welt nicht als sinnvolle Totalität begreifen, sondern auf eine „Vereinigung“ von Gedanken und Wirklichkeit hoffen, sie bloß herbeisehnen. Hegel wirft Fichte vor, er gelange „nicht zur Idee der Vernunft, als der vollendeten, realen Einheit des Subjekts und Objekts, oder des Ich und Nicht-Ich; sie ist ein Sollen, wie bei Kant, ein Ziel, ein Glauben, daß beides an sich eins sei, aber ein Ziel, dessen Erreichung derselbe Widerspruch wie bei Kant ist, nicht die gegenwärtige Wirklichkeit an ihm hat“. 14 10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1995 (4. Aufl.), S. 20. 11 G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 533. 12 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 26. 13 Zu Hegels Kritik an Kant und an der Romantik vgl. O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, München, Fink, 1999, S. 126-133 sowie: J. D’Hondt, De Hegel à Marx, Paris, PUF, 1972, S. 143-148. 14 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Werke, Bd. XX, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1986, S. 409. <?page no="128"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 112 Eine Philosophie, die die Wirklichkeit als vollendete und vollkommene, nicht aber als zu verändernde Totalität begreift, wird zu einer teleologischen Erzählung, deren Teleologie ein geschlossenes System zeitigt, dessen telos innerhalb des Bestehenden liegt und nicht jenseits von ihm. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Hegels Denken, wie noch zu zeigen sein wird, von Marxʼ zukunftsweisender Gesellschaftskritik und von der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, die im sechsten Kapitel im Gegensatz zu Hegel und Marx dargestellt wird. Einer der ersten, die die Form der Hegelschen Erzählung aus marxistischer Sicht kommentiert haben, war Ernst Bloch. Er meint, in ihr eine Variante der platonischen Anamnese zu erkennen, der Wiedererinnerung der Seele an die „reinen Formen“, unter denen sie vor ihrer Vereinigung mit dem Körper weilte. Es gehe auch bei Hegel um die Erinnerung an etwas schon Vorhandenes oder Dagewesenes: jedoch in historischer Perspektive, in der Vergangenheit und Gegenwart als vernünftige Einheit ohne Zukunft erscheinen: „Wonach weiterhin nur Vergangenheit als stillgelegte, nicht Zukunft als Zeitmodus des Noch-Nicht-Seins, an Ewigkeit angrenzen soll.“ 15 Es wird sich zeigen, dass Marx - im Anschluss an einige Junghegelianer wie Feuerbach, Ruge und F. Th. Vischer - versucht, Hegels geschlossenes System 16 zu öffnen und die Erzählung auf die Zukunft auszurichten. Hegel bestätigt Blochs Darstellung in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, wo er im neoplatonischen Sprachduktus erklärt: „Der Geist ist wesentlich Resultat seiner Tätigkeit: seine Tätigkeit ist Hinausgehen über die Unmittelbarkeit, das Negieren derselben und Rückkehr in sich.“ 17 Dieser Satz kann zugleich als Skizze von Hegels Aktantenmodell gelesen werden: Die historische Entwicklung ist eine Tätigkeit des Geistes, der zunächst mit einer ihm unverständlichen Unmittelbarkeit konfrontiert wird, über die er begreifend hinausgeht, bis er, von Erkenntnis zu Erkenntnis eilend, in einer Bewegung von konzentrischen Kreisen die Wirklichkeit als konkrete Totalität erfasst, „sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt“ 18 und sich als „selbstbewußte[r] Geist“ 19 wiederfindet. Das Aktantenmodell und die Erzählung als ganze gründen auf dem semantischen Gegensatz von Geist und Materie, wobei dem Geist die aktive Rolle zufällt: „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir 15 E. Bloch, „Hegel und die Anamnesis; contra Bann der Anamnesis“, in: ders., Auswahl aus seinen Schriften, Frankfurt, Fischer, 1967, S. 124. 16 Vgl. dazu: M. Marković, „Entfremdung und Selbstverwaltung“, in: E. Th. Mohl et al., Folgen einer Theorie. Essays über „Das Kapital“ von Karl Marx, Frankfurt, Suhrkamp, 1967, S. 181: „Das gesamte System Hegels bleibt historisch geschlossen und an den bestehenden gesellschaftlichen Kontext gebunden.“ 17 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 104. 18 Ibid., S. 105. 19 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit., S. 26. <?page no="129"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 113 sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit.“ 20 In dieser Behauptung ist die Annahme enthalten, dass der Geist zwar auf die Materie einwirken kann, von den ihn umgebenden materiellen Faktoren aber weder bedingt noch bewegt wird. Dies hat zur Folge, dass Hegel die Geschichte der Gesellschaft und des Staates als Geschichte des Geistes in seinen verschiedenen Erscheinungsformen erzählt und das Aktantenmodell mit „Geistern“ statt mit konkreten Gesellschaftskräften und ihren materiellen Interessen besetzen kann. Auch die Modalitäten der handelnden Instanzen (ihr „Wissen“, „Wollen“ und „Können“: vgl. Kap. II. 2) sind vorwiegend geistiger Natur: Sie sind alle auf der semantischen Ebene oder Isotopie „Geist“ anzusiedeln, der im Bereich der Aktanten die Isotopie „Denken“ entspricht. Wie sieht das Aktantenmodell konkret aus? Es versteht sich fast von selbst, dass es hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden kann, da eine detaillierte semiotische Darstellung 21 , die Hegels Gesamtwerk und dessen verschiedene Phasen berücksichtigen wollte, Hunderte, wenn nicht gar Tausende Seiten beanspruchen würde. Wenn diese Darstellung sinnvoll sein und den Vergleich mit Marx (und Comte) erleichtern soll, kann sie sich nur auf die wesentlichen Faktoren beziehen, die eine klärende Funktion erfüllen. Bei Hegel tritt der Aktant, der als Auftraggeber (destinateur, Greimas) und Subjekt-Aktant alle anderen handelnden Instanzen bewegt, als Weltgeist auf. Symmetrisch zu ihm tritt die Materie, zu der auch die Natur mit ihrer Kontingenz und ihren Unwägbarkeiten gehört, als Gegenauftraggeberin auf. Hegel beobachtet die historische Entwicklung, die ihm als Selbstverwirklichung des Weltgeistes erscheint, dessen Handeln von den Modalitäten „Vernunft“ (wissen) und „Notwendigkeit“ (müssen) zeugt. Dementsprechend erzählt er die Geschichte der Menschheit, und seine Erzählung hat, wie Bloch zeigt, retrospektiven Charakter. Sie ist ein von Bejahung und Einverständnis zeugender Rückblick: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert.“ 22 In der nachchristlichen Erzählung Hegels erscheint der die Vernunft verwirk- 20 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 30. 21 Vgl. A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 13-18. In diesem Buch erstreckt sich die semiotische Analyse einer Kurzgeschichte von sechs Seiten über 267 Seiten. Auf längere Texte sind Greimas’ Methode und Terminologie nur in großen Zügen anwendbar. 22 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 22. <?page no="130"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 114 lichende Weltgeist bisweilen als Synonym für „Gott“: „Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes.“ 23 Kurzum, was immer auch geschehen ist, es war vernünftig und notwendig. Auf die kritisch-polemischen Einwände von Marx bis Adorno und Zygmunt Bauman („The phrase which infuriated me very early in my intellectual life […] was Hegel’s concept of the identity between the real and the rational.”) 24 würde Hegel antworten, dass sie die historische Vernunft als Totalität nicht begriffen haben. Ihre Hinweise auf das Irrationale der zwei Weltkriege könnte er mit einer Fortsetzung seiner Erzählung beantworten: Der Nationalismus (als Idee) musste sich selbst vernichten, indem er im italienischen Faschismus und im deutschen Nationalsozialismus extreme, destruktive und anachronistische Formen annahm und dadurch die Europäische Union als übernationales Gebilde und historische Synthese ermöglichte. So beschleunigt gerade das Negative, das Fehler, Verbrechen und Katastrophen zeitigt, das Fortschreiten des Weltgeistes zu immer höheren historischen Stadien. Von diesem Geist sagt Hegel in der Phänomenologie des Geistes: „(…) Er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.“ 25 Diese bloß schauende, kontemplative Haltung dem Negativen Gegenüber würde Marx beanstanden und den Satz entsprechend umformulieren: „Er ist diese Macht nur, indem er das Negative in revolutionäre Praxis überleitet.“ Möglicherweise hat Hegel Wesentliches übersehen… Übersehen hat er die materiellen Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind. Davon zeugt seine Konkretisierung des Aktantenmodells durch die Unterordnung der „Volksgeister“ unter den „Weltgeist“: „Die Prinzipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge sind selbst nur Momente des einen allgemeinen Geistes, der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt.“ 26 Dies bedeutet, dass der Weltgeist als Auftraggeber die „Volksgeister“ (wohl auch im Singular: den „Volksgeist“) als Subjekt-Aktanten instrumentalisiert, um sein narratives Programm (die Menschheitsgeschichte), das die Absolute Idee zum Ziel hat, verwirklichen zu können. Man könnte die „Volksgeister“ auch als konkrete Akteure auffassen, die dem abstrakten oder mythischen Aktanten „Weltgeist“ angehören oder in seinem Auftrag tätig sind. Anders und unvollständig gibt Ernst Bloch Hegels Aktantenmodell wieder, wenn er erklärt: „Hegel nennt den Träger und das Subjekt der Ge- 23 Ibid., S. 53. 24 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, op. cit., S. 206. 25 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 36. 26 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 104-105. <?page no="131"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 115 schichte vielmehr, mit völligem Idealismus, ‚Volksgeist‘.“ 27 Es hat sich jedoch gezeigt, dass dieser Subjekt-Aktant seine historische und zugleich narrative Funktion dem übergeordneten Aktanten und Auftraggeber „Weltgeist“ verdankt, der ihm einen Heilsauftrag (mission de salut, Greimas) erteilt: nämlich die Vernunft als Objekt-Aktanten und zusammen mit ihr die Freiheit aller Subjekte in der Geschichte zu verwirklichen. Dieser Heilsauftrag, der Hegels Erzählung zugrunde liegt, ergeht auch an jeden Einzelnen als Akteur, der sich dem kollektiven Aktanten „Volk“ als Instrument des „Weltgeistes“ unterzuordnen hat. Der Philosoph tritt insofern als Helfer (adjuvant, Greimas) des „Weltgeistes“ auf, als er dem Einzelnen (dem Hörer, Leser) die Tätigkeit des „Weltgeistes“ und die ihr zugrunde liegende Vernunft erklärt. Zum Verhältnis von Individuum und Volk (seinen Einrichtungen, Institutionen, Bräuchen) bemerkt Hegel: „Das Verhältnis des Individuums dazu ist, daß es sich dieses substantielle Sein aneigne, daß dieses seine Sinnesart und Geschicklichkeit werde, auf das es etwas sei.“ 28 Dies bedeutet konkret, dass der Einzelne nur durch seine Eingliederung in den Volkskörper am Wesen des Weltgeistes und am Gang der Geschichte (dem narrativen Programm des Weltgeistes) partizipieren kann. Kritische Distanz zum eigenen Volk kommt für Hegel nicht in Betracht. Den „englischen Volksgeist“ beschreibt er mit folgenden Worten: „Ein jeder Engländer wird sagen: Wir sind die, welche den Ozean beschiffen und den Welthandel besitzen, denen Ostindien gehört (…).“ 29 Wenn ein Engländer anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, welche Herrschaftsmechanismen den Welthandel ermöglichen, und sich fragt, ob eine europäischer Staat „Ostindien“ besitzen kann, ist er möglicherweise kein Engländer mehr, weil sich sein Denken dem „Volksgeist“ entfremdet. Insofern hat Bloch Recht: Hegels Denken ist idealistisch, weil es von den materiellen Interessen und Herrschaftsmechanismen innerhalb und außerhalb der nationalen Gesellschaft abstrahiert. Hegel geht zwar ausführlich auf die partikularen Interessen der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft ein, aber nur um sie dem grand design des im Auftrag des „Weltgeistes“ agierenden „Volksgeistes“ zu subsumieren, um sie idealistisch in der „Sittlichkeit des Staates“ zu verflüchtigen. Diese Interessen müssen weder aufeinander noch auf die des Volkes oder Staates, dem die Individuen oder Gruppen angehören, abgestimmt sein: Ihr scheinbar unkoordiniertes Zusammenspiel bewirkt, dass sie schließlich der Sache des „Weltgeistes“ dienen und sich in den Gang der Geschichte einfügen. Hegel 27 E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt, Suhrkamp (1962), 1985, S. 136. 28 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 99. 29 Ibid. <?page no="132"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 116 nennt diesen Vorgang „die List der Vernunft“: „Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.“ 30 Jean-Pierre Lefebvre und Pierre Macherey stellen es so dar: „Alles läuft dann so ab, als ob die Weltvernunft die partikularen menschlichen Leidenschaften ‚überlisten‘ würde, indem sie sie für ihre Zwecke benutzt, ohne dass sie sich dessen bewusst würden. Die privaten Zwecke werden so zu Mitteln, die Entfaltung des Geistes zu fördern.“ 31 In dem hier entworfenen Zusammenhang ist das Interessante an Hegels „List der Vernunft“ ihr Prozess-Charakter: die Tatsache nämlich, dass sich aus zahlreichen voneinander unabhängigen und auch widersprüchlichen Handlungen individueller und kollektiver Aktanten ein gesellschaftlicher Prozess ergibt, der aus Hegels Sicht der Intention des Hauptsubjekts und Auftraggebers „Weltgeist“ entspricht. So entsteht eine Dialektik von Intentionalität, Handlung und Prozess, in der bei Hegel die vom „Weltgeist“ verkörperte subjektive Absicht dominiert. Dieser anthropomorphe Zug in Hegels Erzählung ist wohl einer der Gründe, warum sie in der zeitgenössischen Gesellschaft, in der seit Parsonsʼ Werk The Social System (1951) Systemtheorien intensiv diskutiert werden, die das Prozesshafte der gesellschaftlichen Entwicklung hervorheben, mit Skepsis betrachtet wird. Diese Skepsis rührt auch daher, dass der „Weltgeist“ als Motor der Geschichte Hegel als Fokalisator dient, aus dessen Sicht er das Weltgeschehen betrachtet und deutet. Hegel kommentiert die verschiedenen Stufen der Weltgeschichte, die dem Auftreten bestimmter „Volksgeister“ entsprechen, und erklärt: „Diese Stufen zu realisieren, ist der unendliche Trieb des Weltgeistes, sein unwiderstehlicher Drang, denn diese Gliederung sowie ihre Verwirklichung ist sein Begriff. - Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewußtsein.“ 32 Bloch spricht vom „Gespräch des Weltgeistes mit sich selbst“. 33 Ist dies nicht eine Erzählung der Geschichte, in deren Verlauf der Held - als eigener Auftraggeber und Fokalisator - Hindernisse überwindet, allmählich seine Bestimmung findet und „zum vollen Bewußtsein“ gelangt? 30 Ibid., S. 49. 31 J.-P. Lefebvre, P. Macherey, Hegel et la société, Paris, PUF, 1987 (2. Aufl.), S. 35. Vgl. auch: D. Moyar, „Die Verwirklichung meiner Autorität: Hegels komplementäre Methode von Individuen und Institutionen“, in: Ch. Halbig, M. Quante, L. Siep, Hegels Erbe, Frankfurt, Suhrkamp, 2004. Moyar untersucht die Dialektik von Individuum und Institution bei Hegel. 32 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 73-74. 33 E. Bloch, Subjekt-Objekt, op. cit., S. 136. <?page no="133"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 117 Man fühlt sich in einen Bildungsroman versetzt, in dem „Trieb“, „Drang“ und „Wille“ schließlich zur Selbstverwirklichung des Helden führen: eines Helden, dessen Standpunkt der Erzähler einnimmt, um die Wirklichkeit als sinnvolle Einheit darstellen zu können. Dieser Erzähler (als Autor) nimmt nicht nur den Standpunkt seines Helden ein; er kennt den Helden auch, weil er ihn aus sich heraus erschaffen hat. Man fühlt sich abermals an einen Roman erinnert, wenn Hegel vom (göttlichen) „Geist“ sagt, „daß er nicht pressiert ist, nicht zu eilen und Zeit genug hat“, und später hinzufügt: „aber der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg“. 34 Aber diesen Weg hat Hegel selbst vorgezeichnet und hat ganz allgemein den Raum und die Zeit des Geistes in seiner Erzählung konstruiert. Daraus folgt, dass der Geist als „Weltgeist“ sein Konstrukt ist, so wie der Protagonist eines Romans ein Konstrukt des Schriftstellers ist und mythische Auftraggeber (Götter) in allen Religionen Konstrukte von Propheten und Priestern sind. Daraus folgt zugleich, dass Hegels System nicht die Allgemeinheit beanspruchen kann, die dem Selbstbewusstsein des zu sich gekommenen „Weltgeistes“ entspricht, weil dieses System als persönliches Konstrukt Hegels partikular ist. Darauf haben der Junghegelianer Friedrich Theodor Vischer 35 und später Friedrich Nietzsche hingewiesen. Zu Hegels Weltgeist als „Gott“ bemerkt Nietzsche: „Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelschen Hirnschalen durchsichtig (…), so daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eignen Berliner Existenz zusammenfielen.“ 36 Das Stichwort „Existenz“ verweist auf die existenzialistische Umdeutung Hegels bei Sartre, der im Anschluss an Kierkegaard 37 das philosophische System als partikularen Entwurf Hegels auffasst: „Von diesem Standpunkt aus betrachtet, steht am Anfang des Hegelschen Systems nicht das Sein, sondern die Person Hegels, so wie sie gemacht wurde, so wie sie sich selbst gemacht hat.“ 38 Diese von den Junghegelianern bis Sartre anhaltende Hegel-Kritik führt zu der Einsicht, dass die von Hegel proklamierte Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der vom „Weltgeist“ geschaffenen Ordnung in Wirklichkeit seine Erfindung, seine Konstruktion ist. Dies bedeutet, dass der Einzelne als Hegels Adressat nicht hoffen kann, die Freiheit zu erlangen, die sich aus der 34 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. I, Werke, Bd. XVIII, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1986, S. 55. 35 Vgl. F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. IV, München, Meyer und Jessen, 1922, S. 482. 36 F. Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen“, in: Werke, Bd. I (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 263. 37 Vgl. S. Kierkegaard, Das Buch über Adler, Düsseldorf-Köln, Diederichs, 1962, S. 106. 38 J.-P. Sartre, „L’Universel singulier“, in: Kierkegaard vivant. Colloque organisé par L’UNESCO à Paris du 21 au 23 avril 1964, Paris, Gallimard, 1966, S. 39. <?page no="134"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 118 Einsicht in die Vernunft des „Weltgeistes“ und seiner Welt ergibt und die ihm Hegel in seiner Philosophie des Rechts verspricht: „Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Aufforderung ergangen ist, zu begreifen (…).“ 39 Nun kann aber das Beobachten der Gesellschaft auch zu ganz anderen Ergebnissen führen als bei Hegel und eine Erzählung hervorbringen, die zu einer Umkehrung der Hegelschen Verhältnisse führt: eine Erzählung, deren Ziel nicht die Versöhnung, sondern die Erlösung ist. Sie mag in letzter Instanz auch religiös motiviert sein, ist aber anders strukturiert und lässt ganz andere Aktanten und Akteure auf den Plan treten. Der Umstand, dass beide Erzählungen hier als partikulare, kontingente Konstruktionen aufgefasst werden, widerlegt sie keineswegs. Im Gegenteil: Sie werden als heuristische Entwürfe, als Hypothesen über die Wirklichkeit nicht primär mit der Frage konfrontiert: Stimmt das? - sondern mit der wesentlich ergiebigeren, weil produktiven Frage: Was erkennen wir, wenn wir Hegels oder Marxʼ theoretische Konstruktionen auf unsere gesellschaftliche Wirklichkeit anwenden? Oder: Welche Aspekte unserer Gesellschaft verstehen wir besser, wenn wir diese im Rahmen von Hegels oder Marxʼ Erzählung betrachten? Kurzum: Es geht auch um die Aktualisierung oder Wiederbelebung beider Theorien. 2. Die Öffnung des Hegelschen Diskurses bei Marx Marxʼ radikale Kritik an Hegel zeigt - wie die Kritiken der Junghegelianer, Nietzsches, Kierkegaards und Sartres -, dass Hegel als Erzähler weit davon entfernt ist, den Werdegang des „Weltgeistes“ in der Geschichte objektiv darzustellen, weil die Geschichte auch aus einer anderen Perspektive beobachtet und ganz anders erzählt werden kann. Marx erscheint nicht der Gegensatz zwischen Geist und Materie als relevant, sondern der Gegensatz zwischen materiellen Interessen konkreter gesellschaftlicher Gruppierungen. Er verlagert seine Erzählung auf die semantische Ebene oder Isotopie „Materie“, wobei er den mechanischen Materialismus korrigiert, indem er die aktiven Momente des Idealismus in ihn eingehen lässt. Auf dieser Ebene geht er in seinen Frühschriften von einer materialistischen Kritik an Hegel aus: vor allem an Hegels Staats- und Rechtsphilosophie. Was er an ihr beanstandet, ist ihre idealistische Abstraktion. Hegel geht zwar - wie Marx - von der menschlichen Tätigkeit, der menschlichen Arbeit aus, abstrahiert aber von deren materieller Form, indem er sie 39 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit., S. 26-27. <?page no="135"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 119 vergeistigt: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.“ 40 So ist es zu erklären, dass Hegel in seinem System alle Widersprüche überwindet, indem er sie ins Geistige projiziert, und alle Konflikte löst, indem er sie ideell sublimiert. Letztlich geht es ihm darum nachzuweisen, dass alle Gegensätze, die im Laufe des gesellschaftlichen Prozesses entstehen, dadurch überwunden werden, dass die gegensätzlichen Terme in höheren Synthesen aufgehoben werden, und zwar im doppelten Sinne des Wortes „aufheben“: Sie hören auf zu existieren, indem sie in die neue Synthese eingehen, werden in dieser aber, wenn auch in abgewandelter Form, aufbewahrt. Wer den Prozess der historischen Aufhebungen als rationalen Prozess, als Verwirklichung der Vernunft durch den „Weltgeist“ und als dessen Selbstverwirklichung begriffen hat, kann sich mit diesem Prozess weitgehend identifizieren und ist seiner sozialen Umgebung und der Entwicklung seiner Gesellschaft nicht entfremdet. Die Überwindung der Entfremdung kommt folglich durch rein geistige Tätigkeit, durch ein Begreifen des vernünftigen Gesamtzusammenhangs, zustande. Gegen dieses Denken, das auf die Versöhnung im Ideellen ausgerichtet ist, lehnt sich Marx auf, weil er in der Gesellschaft Herrschaftsverhältnisse, Antagonismen und Ungerechtigkeiten beobachtet, die ein Konfliktpotenzial entstehen lassen, das nicht durch philosophische Einsicht als allumfassendes Verständnis-Einverständnis entschärft oder gar getilgt werden kann. Dies betont der junge Marx, wenn er im Zusammenhang mit Hegels Phänomenologie des Geistes schreibt: „Wenn er [Hegel] z.B. Reichtum, Staatsmacht etc. als dem menschlichen Wesen entfremdete Wesen gefaßt, so geschieht dies nur in ihrer Gedankenform… Sie sind Gedankenwesen - daher bloß eine Entfremdung des reinen, das ist abstrakten philosophischen Denkens.“ 41 Indirekt wird hier Hegel als Helfer des „Weltgeistes“ und als Vermittler zwischen diesem und dem entfremdeten Staatsbürger kritisiert. Denn der Philosoph als geistiges und von der materiellen Wirklichkeit selbst entfremdetes Wesen tut nichts anderes, als seinen Lesern den Gang der Geschichte als vernünftige Entwicklung plausibel zu machen. Er kann dies tun, weil er von der realen Geschichte und den in ihr wirkenden materiellen Interessen, Antagonismen und Konflikten abstrahiert. Nur so kann er seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass der moderne Staat als „Sittlichkeit“ die ultima ratio ist, mit der sich der freie, zur 40 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 270. 41 Ibid., S. 254. <?page no="136"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 120 Vernunft gekommene Bürger zu identifizieren hat. Dazu bemerkt Marx in seiner „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“: „Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, bewegt sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist, was sie aussagt, und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist.“ 42 In dieser Passage ist die Öffnung des Hegelschen Systems zur Zukunft hin angelegt. Im Gegensatz zu Hegel, der den existierenden Staat für eine Inkarnation der vom „Weltgeist“ verwirklichten Vernunft hält, erblickt Marx im Staat einen Bestandteil der konsolidierten bürgerlichen Herrschaftsstruktur. Was dieser Staat von sich selbst aussagt, ist das Gegenteil von dem, was er ist: nämlich Ideologie als Rechtfertigung und Tarnung. Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann bleibt nichts anderes übrig, als die unvernünftige Wirklichkeit auf materieller Ebene durch revolutionäre Praxis zu verändern. Den „dialektischen Standpunkt von Marx“ definiert Erich Gerlach im Anschluss an Karl Korsch als „Zusammenfallen des ‚Begreifens‘ und ‚Veränderns‘“. 43 Durch diese dynamische Koinzidenz wird Hegels System als Rechtfertigungsdenken und Ideologie gesprengt. Ein zukunftsträchtiges und in die Zukunft weisendes Denken entsteht. Dazu heißt es bei Ernst Bloch: „Auch im Lichtpunkt Optimismus aber wird erst seit Marx die Vergangenheit nicht nur in die Gegenwart und diese wieder in die kontemplierte Vergangenheit, sondern beide sind auf den Horizont der Zukunft gebracht.“ 44 Marx erscheint hier als der moderne Denker par excellence, weil er einerseits zwar in Übereinstimmung mit den französischen Enzyklopädisten und der Aufklärung am Fortschrittsglauben des aufsteigenden Bürgertums festhält, andererseits aber den Fortschritt über die bürgerlichen Verhältnisse hinaustreibt: in eine bessere, menschlichere Zukunft. Er will die „Vorgeschichte“ der Menschheit in ihre eigentliche, ihre wahre Geschichte überleiten, die erst durch die revolutionäre Praxis des „Proletariats“ ermöglicht wird. Diese Praxis beinhaltet die Abschaffung des entfremdenden Privateigentums und die Beseitigung der ebenso entfremdenden Arbeitsteilung. Dadurch wird Hegel nicht nur „auf die Füße gestellt“, wie Marx sagt, sondern seine idealistische Erzählung, die eine Apologie des Bestehenden ist, wird durch die Anwendung materialistischer Relevanzkriterien auf die 42 K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 74. 43 E. Gerlach, „Vorwort“, in: K. Korsch, Marxismus und Philosophie, Frankfurt-Wien, Europäische Verlagsanstalt-Europa Verlag, 1966, S. 11. 44 E. Bloch, Über Methode und System bei Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 1975 (2. Aufl.), S. 139. <?page no="137"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 121 Isotopien „Materie“ und „Handlung“ projiziert und entsprechend umstrukturiert. Nicht das Denken als „Geist“ ist die Grundlage der menschlichen Geschichte, sondern die Wirtschaft als deren Basis. Obwohl das Denken durchaus auf diese Basis einwirken kann und somit als aktiver Faktor aufzufassen ist 45 , wie die Funktion der Gesellschaftskritik in Marxʼ Diskurs zeigt, gehört es im Wesentlichen zu einem von der Wirtschaft determinierten Überbau. Zu ihm gehört auch Hegels Idealismus, der die wirtschaftlichen Determinanten des Geistigen ideologisch verdeckt und dadurch die bestehende Ordnung rechtfertigt. Aus dieser Rechtfertigung bestehender Verhältnisse wird in Marxʼ Kritik deren radikale Infragestellung. Zu seiner Umdeutung der Hegelschen Erzählung bemerkt Marx im „Nachwort zur zweiten Auflage“ von Das Kapital (Bd. I): „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ 46 Marx beanstandet nicht nur die Trennung des Geistigen vom Materiellen und die Verselbständigung des ideellen Prozesses, sondern kehrt die Hegelschen Verhältnisse um, indem er die materiellen Interessen als „Basis“ zur Grundlage der historischen Entwicklung und seiner eigenen Erzählung macht. In dieser Form hat Dialektik, die Hegel als rein geistigen und das Bestehende rechtfertigenden Prozess auffasst, eine praktisch-negierende, sprengende Wirkung, „weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“. 47 In dieser Passage ist die Öffnung des durch Anamnesis (Bloch) geschlossenen und rückwärtsgewandten Hegelschen Systems vollzogen: Dialektik ist keine Apologie historisch gewordener, verfestigter Verhältnisse mehr, sondern deren praktisch-materielle Negation. 45 Vgl. S. Hook, From Hegel to Marx. Studies in the Intellectual Development of Karl Marx, Ann Arbor, Univ. of Michigan Press (1962), 1966, S. 281: „For Marx knowledge gives power by virtue of the activities it sets up in transforming things on behalf of social needs.“ 46 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1969), 1981, S. 12. 47 Ibid. <?page no="138"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 122 Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, wie sich diese Umkehrung von Hegels System auf Marxʼ Aktantenmodell als Gerüst seines historischen Diskurses auswirkt. Zugleich wird deutlich, dass seine Behauptung, seine „dialektische Methode“ sei das „direkte Gegenteil“ der Hegelschen, eine Vereinfachung und Übertreibung ist. Denn Marxʼ Vorgehensweise bleibt der Hegels in so mancher Hinsicht verpflichtet. 3. Die materialistische Neubesetzung der Hegelschen Aktanten: Geschichte, Bürgertum, Proletariat und Prozess Nicht nur die Wirklichkeit kann auf verschiedene Arten erzählt werden, auch die Theorien, die Gesellschaft erzählen, sind interpretierbar, wie die zahlreichen, einander oft widersprechenden Kommentare zu Hegel und Marx zeigen, und können auf verschiedene Arten rekonstruiert werden. In seiner Sémantique structurale (1966) entwirft Greimas ein provisorisches Aktantenmodell des Marxschen und marxistischen Diskurses, in dem er den „Menschen“ als Subjekt der Erzählung auftreten lässt, die „klassenlose Gesellschaft“ als Objekt-Aktanten auffasst, die „Geschichte“ als Auftraggeberin, die „Menschheit“ als beauftragte Instanz, die „Arbeiterklasse“ als Helferin des Subjekts „Mensch“ und das „Bürgertum“ als Widersacher beider. 48 Greimas hat später seine Diskurs- und Aktantentheorie revidiert, indem er u.a. dem Auftraggeber (destinateur) symmetrisch einen Gegenauftraggeber (anti-destinateur) gegenüberstellte und dem Subjekt ein Antisubjekt. Zugleich verzichtete er auf die Begriffe Helfer (adjuvant) und Widersacher (opposant). (Hier wird deutlich, dass Aktantenmodelle als heuristische Konstruktionen und Orientierungshilfen, nicht als Abbildungen der Wirklichkeit aufzufassen sind.) Im Folgenden werden die letzten beiden Begriffe beibehalten und in das neue Modell integriert, in dem die „Geschichte“ weiterhin als Auftraggeberin erscheint, die „Negation der Geschichte“ oder „Reaktion“ als Gegenauftraggeberin, das „Proletariat“ als von der „Geschichte“ beauftragtes Subjekt, das „Bürgertum“ als Antisubjekt, die „klassenlose Gesellschaft“ wieder als Objekt-Aktant (als telos der Erzählung), der „materialistische Philosoph“ als Helfer des „Proletariats“ und der „idealistische Philosoph“ (oder „Ideologe“) als Widersacher des „Proletariats“ bzw. Helfer des „Bürgertums“, der die wahren Verhältnisse idealistisch verbrämt. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass das „Proletariat“, das an die Stelle der Hegelschen „Volksgeister“ tritt, zugleich die Funktion des Fokalisators (Genette: vgl. Kap. II 2) erfüllt, die bei Hegel dem „Weltgeist“ zufiel (und die es in Greimasʾ Strukturaler Semiotik nicht gibt). Ausgehend von seinen materialistischen Relevanzkriterien, betrachtet Marx die 48 A. J. Greimas, Sémantique structurale, Paris, Larousse, 1966, S. 181. <?page no="139"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 123 gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht des „Proletariats“, statt sich auf den Standpunkt des „Weltgeistes“ zu stellen. Wie in einem Bildungsroman, etwa in Thomas Manns Der Zauberberg, in dem der Held Hans Castorp zugleich Subjekt und Fokalisator ist, erfüllt bei Marx das „Proletariat“ die Funktion des Helden, aus dessen Sicht die Wirklichkeit und das Geschehen beobachtet und erzählt werden. Wer nach dem bisher Gesagten den Eindruck gewonnen hat, dass es sich bei der Anwendung erzähltheoretischer Begriffe auf philosophische und soziologische Diskurse eher um eine spielerische Transposition ins Sprachliche oder Literarische handelt als um eine Rekonstruktion mit Erkenntniswert, wird seine Ansicht möglicherweise revidieren, wenn sich herausstellt, dass viele Probleme der Marxschen Theorie dadurch entstehen, dass sie als Erzählung narrative Funktionen enthält, die Wirklichkeit in Fiktion, Facta in Ficta verwandeln. Von der nach-erzählten „Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft“ heißt es beispielsweise im Manifest der kommunistischen Partei, „sie bewegte sich in Klassengegensätzen“. 49 Wird hier nicht von nationalen, kulturellen 50 , religiösen und sprachlichen Gegensätzen abstrahiert, die zusammen mit Gegensätzen zwischen Ständen und Klassen die soziale Entwicklung beherrschten? Wird nicht auch von Prozessen wie Differenzierung, Arbeitsteilung und Bürokratisierung abstrahiert, die Soziologen wie Durkheim und Max Weber analysieren, um zu zeigen, wie sie zu treibenden Kräften der sozialen Evolution werden? Inwiefern entspricht das „Proletariat“ als kollektiver Aktant der empirischen Arbeiterklasse; inwiefern ist es eine von Marx, dem Erzähler, dem Romancier, geschaffene Fiktion? Die Darstellung der Erzählschemata, die Marx konstruiert, um die gesellschaftliche Entwicklung erzählend zu erklären, soll nicht nur das Funktionieren seiner Erzählung verständlich machen, sondern auch die Lücken und die Fiktionen dieser Erzählung zutage treten lassen. Es geht hier nicht darum, Marxʼ Theorie durch die Aufdeckung ihrer fiktionalen Aspekte zu diskreditieren, sondern darum, alle soziologischen Theorien als Erzählungen zu verstehen, um ihren Konstrukt-Charakter hervortreten zu lassen und um sie auf dieser Ebene als Konstruktionen - d.h. als Hypothesen über die Wirklichkeit - zu vergleichen. 49 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 546. 50 Zum kulturtheoretischen Defizit der Marxschen Theorie vgl. B. Ternes, Karl Marx. Eine Einführung, Konstanz, UVK-UTB, 2008, S. 245: „Marxens Begriff von den materiellen Bedingungen ist für heutige Verhältnisse zu eng, weil er in diesen materiellen Bedingungen nicht die kulturellen unterbrachte und damit ignorierte, dass eine im Umbruch befindliche Gesellschaft sich neue Herausforderungen auch kulturell aneignen muss.“ <?page no="140"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 124 Auf seinen Relevanzkriterien aufbauend, stellt Marx in der Deutschen Ideologie fest, dass seine Theorie der Gesellschaft „auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen [bleibt], erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideenformationen aus der Praxis“ 51 , und kommt zu dem Schluss, „daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte, auch der Religion, Philosophie und sonstiger Theorie ist“. 52 Die „Revolution“ fungiert hier zwar als abstrakter Aktant, der aber durch die Einführung konkreter kollektiver Aktanten, nämlich der antagonistischen sozialen Klassen, konkretisiert wird, die im Kontext der „Weltgeschichte“ 53 als Auftraggeberin des „Proletariats“ agieren. Berühmt wurde der Satz, der gleich am Anfang des Manifests der kommunistischen Partei dem Untertitel „Bourgeois und Proletarier“ folgt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ 54 Das in diesem Satz skizzierte Aktantenmodell ist in der Sozialphilosophie und der Soziologie keine Einzelerscheinung. Auch in Alexis de Tocquevilles L’Ancien régime et la révolution (1856) findet sich der folgende Satz, der Marxʼ Relevanzkriterien zu bestätigen scheint: „Zweifellos kann man mir Individuen entgegenhalten; ich aber spreche von Klassen, sie allein beherrschen die Geschichte.“ („On peut m’opposer sans doute des individus; je parle des classes, elles seules doivent occuper l’histoire.“) 55 Freilich unterscheiden sich Tocquevilles Klassen von den Marxschen u.a. dadurch, dass sie in mancher Hinsicht noch den feudalen Ständen ähneln und nicht primär ökonomisch definiert werden. 56 Dennoch zeigt seine Betonung des Klassencharakters der Gesellschaft, dass Marxʼ Rekonstruktion der Geschichte als Klassenkonflikt keine reine Fiktion ist, weil jemand wie Tocqueville, der Gesellschaft von einem ganz anderen Standort aus beobachtet, eine ähnliche Rekonstruktion vorschlägt - ohne Marxʼ Schlüsse zu ziehen. Sowohl in den Frühschriften als auch in Das Kapital konkretisiert Marx sein Aktantenmodell, indem er die beiden antagonistischen Klassen und ihre Positionen im sozio-ökonomischen Kontext betrachtet. In der folgenden Passage aus Das Kapital (Bd. II) steht der „Kapitalist“ metonymisch für die „Bourgeoisie“: „Das Klassenverhältnis zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter ist also schon vorhanden, schon vorausgesetzt, in dem Augenblick, wo beide in dem Akt G - A (A - G von seiten des Arbeiters) sich gegen- 51 K. Marx, „Die deutsche Ideologie (1845/ 46)“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 368. 52 Ibid. 53 Ibid., S. 365. 54 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 525. 55 A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution, Paris, Gallimard, 1952, S. 207. 56 Vgl. G. Poggi, Images of Society. Essays on the Sociological Theories of Tocqueville, Marx, and Durkheim, Stanford, Univ. Press, London, Oxford Univ. Press, 1972, S. 39. <?page no="141"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 125 übertreten. [A = Arbeit, G = Geld] Es ist Kauf und Verkauf, Geldverhältnis, aber ein Kauf und Verkauf, wo der Käufer als Kapitalist und der Verkäufer als Lohnarbeiter vorausgesetzt wird, und dies Verhältnis ist damit gegeben, daß die Bedingungen zur Verwirklichung der Arbeitskraft - Lebensmittel und Produktionsmittel - getrennt sind als fremdes Eigentum von dem Besitzer der Arbeitskraft.“ 57 Diese Entfremdung von seiner Arbeit und seinem Arbeitsprodukt überwindet der Arbeiter nicht durch einen geistigen oder gedanklichen Aneignungsprozess, der zur Versöhnung mit den herrschenden Zuständen führt (insofern ist der idealistische Philosoph sein Widersacher), sondern durch Praxis: durch revolutionäres Verhalten. Es geht bei Marx um „die Aufhebung der ganzen alten Gesellschaftsform und der Herrschaft überhaupt“. 58 Nach dem Stadium, das Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet, sollte es also in der befreiten Gesellschaft keine Herrschaftsstrukturen mehr geben. Den Befreiungsprozess stellt sich Marx als geschichtsimmanente Entwicklung vor, nicht als Verwirklichung eines dieser Entwicklung äußerlichen Ideals. 59 In der Deutschen Ideologie ist er sehr um eine Distanzierung von „utopischen Sozialisten“ wie Owen und Saint-Simon bemüht, die ihre Diskurse auf einen Idealzustand ausgerichtet haben: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ 60 In dieser Passage fällt - trotz der Projektion der Erzählung auf die materialistische Ebene (Isotopie) - die Nähe zu Hegel auf: Wie Hegel, der Kant und Fichte vorwirft, dass sie die Wirklichkeit mit Imperativen, Postulaten und Idealvorstellungen konfrontieren, wirft Marx den utopischen Sozialisten vor, dass sie Ideal und Wirklichkeit einander unvermittelt gegenüberstellen. Er selbst plädiert - wie Hegel - für eine Dialektik der historischen Immanenz, in der das Neue aus den Widersprüchen hervorgeht, an denen das Alte leidet und zugrunde geht. In diesem Sinne soll das „Proletariat“, das in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft keine Klasse ist, weil es als unterdrückte und aus- 57 K. Marx, Das Kapital, Bd. II: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1970), 1976, S. 35. 58 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 360. 59 Insofern ist Marxʼ Kritik nicht einfach eine „moral critique“, wie Amy E. Wendling behauptet. Vgl. A. E. Wendling, Karl Marx on Technology and Alienation, New York, Palgrave Macmillan (2009), 2011, S. 86. 60 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, op. cit., S. 361. <?page no="142"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 126 gebeutete Mehrheit die Anliegen der gesamten Menschheit darstellt, in der Revolution die Klassengesellschaft als Herrschaftssystem überwinden: „Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf (…).“ 61 Diese Argumentation leuchtet nicht auf Anhieb ein, zumal Marx das „Proletariat“ immer wieder als „Klasse“ bezeichnet 62 und die ganze Geschichte als „Geschichte von Klassenkämpfen“ auffasst. Warum sollte eine Klasse nicht als solche einer anderen Klasse gegenüberstehen? Marxʼ Postulat, dass das „Proletariat“ als Subjekt der Geschichte die „ganze Gesellschaft“ oder gar die Menschheit vertritt, hat keine empirische Basis und ist noch am ehesten im Zusammenhang mit Hegels historischer Dialektik zu verstehen, die eine Bewegung des „Weltgeistes“ vom Unmittelbaren und Besonderen zum Allgemeinen beschreibt. Als Subjekt-Aktant erscheint das „Proletariat“ hier als ein Erbe des „Weltgeistes“ und des „Volksgeistes“. Am deutlichsten tritt der hegelianische Ursprung der Marxschen Theorie in dem Gedanken zutage, dass die gesellschaftskritische Philosophie in der letzten historischen Phase vom „Proletariat“ verwirklicht wird: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.“ 63 Es lohnt sich, diesen Satz näher zu betrachten. Zunächst fällt auf, dass das „Proletariat“ im Rahmen des Aktantenmodells mit einer Modalität des Wissens (savoir, Greimas) ausgestattet wird, die bewirkt, dass aus einer passiven „Klasse an sich“ eine „Klasse für sich“, d.h. eine Klasse mit revolutionärem Bewusstsein, wird. Diese Modalität des Wissens ist die Voraussetzung für die Modalitäten des „Wollens“ und „Könnens“ (vouloir, pouvoir, Greimas), die beide das revolutionäre Handeln ermöglichen. Nur eine Klasse, die sich ihrer Stellung in der Gesellschaft, ihrer Unterdrückung durch die Bourgeoisie, aber auch ihrer Stellung im Produktionsprozess und ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit bewusst wird, ist in der Lage, die Revolution durchzuführen. 64 61 Ibid., S. 375. 62 Vgl. K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 513 und K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 8. 63 Ibid., S. 223. 64 Zu Marxʾ Behauptung, das „Proletariat“ finde in der Philosophie seine „geistigen Waffen“, bemerkt der Austromarxist Karl Renner: „Ich bezweifle, daß in der ganzen ruhmvollen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie jemals ein Promill der Arbeiter, der sozialdemokratischen Wählerschaft, wirklich nur einen schmalen Katechismus Marxscher Lehren aufgenommen und verdaut hat.“ (K. Renner, „Ist der Marxismus Ideologie oder Wissenschaft! “, in: G. Mozetič [Hrsg.], Austromarxistische Positionen, Wien- <?page no="143"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 127 Ferner fällt auf, dass in der zitierten Passage die Philosophie zur Helferin und der gesellschaftskritische Philosoph zum Helfer (adjuvant, Greimas) der revolutionären Klasse werden. Auch hier werden Parallelen zu Hegels Geschichtsphilosophie erkennbar: Ähnlich wie der Hegelsche Philosoph zum Helfer des „Weltgeistes“ (bei Marx: der „Bourgeoisie“, des Antisubjekts) wurde, indem er der Öffentlichkeit den vom „Weltgeist“ gesteuerten historischen Prozess erläuterte, wird Marx als Philosoph zum Helfer des „Proletariats“, indem er ihm seine gesellschaftliche Lage und seine historische Mission erläutert. Am klarsten kommt die Helfer-Rolle wohl am Ende des Manifests zum Ausdruck, das mit dem berühmten Aufruf endet: „Proletarier aller Länder vereinigt euch! “ Hier wird deutlich, warum kritische Gesellschaftswissenschaft nicht auf Werturteile verzichten kann: Wo die Frage nach einer besseren, menschlicheren Welt im Vordergrund steht, dort kann Werturteilsfreiheit oder Wertfreiheit im Sinne von Max Weber nicht das entscheidende Kriterium sein; dort tritt die Theorie als Erbin einer revolutionären, anarchistischen Romantik auf, die in Großbritannien Shelley, Schüler des Anarchisten Goodwin, vertrat. In seinem bekannten Gedicht The Masks of Anarchy (entstanden: 1819) reagiert er auf die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes von Manchester durch die Regierung von Castlereagh: „I met Murder on the way - / He had a mask like Castlereagh.“ Das Gedicht endet mit einem Aufruf, der den des Manifests vorwegnimmt: Rise like lions after slumber In unvanquishable number - Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you - Ye are many - they are few. 65 Die von Marx beschriebene Situation des britischen Proletariats wird hier insofern wiedergegeben, als Marx davon ausgeht, dass sich die Zahl der Kapitalisten durch Kapitalkonzentration in Großkonzernen zusehends verringert, während die Zahl der Arbeitslosen stetig wächst, bis die Mehrheit der Ausgebeuteten die Minderheit der Ausbeuter beseitigt. Es fragt sich allerdings, ob die gesellschaftliche Entwicklung, die sehr vielschichtig ist und gegenläufige Tendenzen kennt, weil sowohl geplante als auch unüberlegte Handlungen, vorhergesehene und unvorhergesehene Ereignisse und Pro- Köln-Graz, Böhlau, 1983, S. 84.) Dies scheint der Unterschied zwischen der Arbeiterklasse als empirischer Größe und dem „Proletariat“ in Marxʾ Aktantenmodell zu sein. 65 P. B. Shelley, „The Masks of Anarchy“, in: ders., The Major Works (Hrsg. Z. Leader, M. O’Neill), Oxford, Univ. Press, 2003, S. 411. <?page no="144"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 128 zesse aller Art ineinander greifen, von einem dualistischen Aktantenmodell, wie es Marx entwirft, adäquat erfasst werden kann. Möglicherweise ist der berühmte Satz aus dem Manifest, der die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Klassenkämpfen darstellt, eine Vereinfachung, weil er wesentliche Elemente der gesellschaftlichen Entwicklung ausblendet, indem er diese Entwicklung tendenziell auf den Konflikt zwischen nur zwei Klassen - Bürgertum und Proletariat - reduziert. Nicht nur Prozesse wie soziale Differenzierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung bleiben unterbelichtet, sondern auch die Rollen anderer Klassen: etwa des Adels, der Bauern und des „Lumpenproletariats“ (Marx). Nicht nur im Großbritannien des 19. Jahrhunderts und im Bismarck- Reich, auch noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs spielte der Adel - etwa die preußischen Junker - eine nicht zu unterschätzende politische Rolle sowohl in der Diplomatie als auch beim Militär. In seiner ausführlichen Analyse der Machtergreifung Louis Bonapartes (später Napoleon III) in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852/ 69) unterstreicht Marx selbst die Rolle der Parzellenbauern, die ihren Interessen nach zwar eine Klasse sind, aufgrund ihrer Isolierung jedoch nicht von einem Klassenbewusstsein zusammengehalten werden (jede Bauernfamilie wirtschaftet nahezu autark und lebt getrennt von den anderen Bauernfamilien). Sie sind aufgrund ihrer sozialen Lage eine „Klasse an sich“, ohne eine sich dieser Lage bewusste „Klasse für sich“ zu sein. Durch ihr passives Einverständnis ermöglichen diese Bauern den Aufstieg Louis Bonapartes. Schließlich sieht sich Marx jedoch gezwungen, seine Erklärung zu nuancieren, indem er konservative von revolutionären Bauern unterscheidet und dadurch die „Bauern“ als kollektiven Aktanten in Frage stellt: „Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauer (…).“ 66 Spätestens hier kommt der Gedanke auf, dass es neben dem revolutionären „Proletariat“ auch ein konservatives geben könnte - wie sich später im Italien der 1920er Jahre und im Deutschland der 30er Jahre gezeigt hat, als ein Teil der Arbeiterschaft die Faschisten und die Nationalsozialisten wählte. Was Marx über das mit negativen Konnotationen befrachtete „Lumpenproletariat“ zu sagen hat, gilt möglicherweise auch für das „Proletariat“: „Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach 66 K. Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-Engels, Studienausgabe IV: Geschichte und Politik 2, Frankfurt, Fischer (1966), 1974, S. 114. <?page no="145"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 129 wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ 67 Angesichts der Tatsache, dass Marx auch die „Mittelstände“, die „kleinen Industriellen“, die „kleinen Kaufleute“, die „Handwerker“, die „Bauern“ einerseits als „reaktionär“ bezeichnet, weil sie befürchten müssen, vom Kapitalismus der „Bourgeoisie“ zugrunde gerichtet zu werden, sie andererseits als „revolutionär“ etikettiert, nämlich „im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat“ 68 , stellt sich abermals die Frage nach der Anwendbarkeit seines Aktantenmodells auf die vielschichtige gesellschaftliche Entwicklung. Was genau erklärt die Gegenüberstellung zweier kollektiver Aktanten wie „Proletariat“ und „Bourgeoisie“? Sie erklärt nicht die Machtergreifung Louis Bonapartes, weil diese, wie Marx selbst feststellt, (auch) von der „konservativen“ Bauernschaft ermöglicht wurde. Sie erklärt nicht die entscheidende Rolle der Bauern während der russischen Revolution von 1917. Sie erklärt auch nicht das zwiespältige - teils revolutionäre, teils reaktionäre - Verhalten der italienischen und deutschen Arbeiterschaft während der Entstehung des Faschismus und des Nationalsozialismus. Marxʼ Bemerkungen zum „Lumpenproletariat“ lassen vermuten, dass die von ihm prognostizierte „Verelendung“ der Arbeiterklasse diese zumindest teilweise in ein unberechenbares, manipulierbares und „käufliches Lumpenproletariat“ verwandeln könnte. Allerdings erfasst man das Marxsche Modell nicht vollständig, solange man die Beziehungen zwischen den Aktanten nicht auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse als Basis bezieht, die Marx in Das Kapital ausführlich analysiert. Stärker als in seinen Frühschriften betont er dort die Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, ohne jedoch den Klassenkonflikt und das aus dem Jugendwerk bekannte Aktantenschema zu vernachlässigen: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ 69 In diesem Satz tritt nicht nur der prozesshafte Charakter der sozialen Evolution in den Vordergrund, sondern diese wird auch als „naturgeschichtlicher Prozeß“ aufgefasst, der bestimmten Gesetzen gehorcht. Zusätzlich wird die Rolle des Einzelnen, des Individuums, diesem Prozess untergeordnet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Klassen als kollektive 67 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 536-537. 68 Ibid., S. 536. 69 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 3. <?page no="146"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 130 Aktanten der Geschichte deren Bewegung passiv erleiden. Sie erscheinen in Das Kapital allerdings als in historische Prozesse eingebunden, so dass die „Geschichte“ dort zur allmächtigen Auftraggeberin wird, deren kollektive und individuelle Aktanten und Akteure nur über wenig Spielraum verfügen. So ist es zu erklären, dass Louis Althusser in Für Marx (1965) und Das Kapital lesen (1965) Marxʼ „Wissenschaft von der Entwicklung gesellschaftlicher Formationen“ 70 mit Galileo Galileis Physik vergleichen konnte und eine Interpretation von Das Kapital vorschlug, die sozio-ökonomische Prozesse in den Vordergrund stellte und das Handeln der Klassen sowie anderer kollektiver Aktanten im Hintergrund verschwinden ließ. In einer später erschienenen selbstkritischen Publikation, die zugleich als Replik auf zahlreiche Kritiken konzipiert war, gab er zu, Klassenbegriff und kollektives Handeln vernachlässigt zu haben. 71 Diese Überbetonung des Prozess-Charakters von Das Kapital hat eine Vorgeschichte im Austromarxismus. 72 Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Marx in Das Kapital eine Wechselbeziehung zwischen historischem Prozess und kollektiver Handlung vorschwebte. Während er im 12. Kapitel des ersten Bandes („Teilung der Arbeit und Manufaktur“) die Entmenschlichung des Arbeiters durch den arbeitsteiligen Prozess beschreibt, der „den Arbeiter zum Teilarbeiter verstümmelt“ 73 , schildert er im 23. Kapitel, in dem er „Das allgemeine Gesetz der Kapitalakkumulation“ untersucht, den Nexus von Akkumulation 74 und Klassenlage: „Es [das Gesetz] bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“ 75 Sie produziert es durch die unfreiwillige Schaffung von Mehrwert, der dadurch zustande kommt, dass der Arbeiter zusätzlich zu seinem Existenzbedarf einen Überschuss produziert, den sich der Kapitalist als Unternehmer und Eigentümer der Produktionsmittel aneignet - wodurch Kapitalakkumulation ermöglicht wird. Der Akkumulationsprozess des Kapitals führt 70 L. Althusser, Für Marx, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 125. 71 L. Althusser, Eléments d’autocritique, Paris, Hachette, 1974, S. 93. 72 Vgl. G. Mozetič, Die Gesellschaftstheorie des Austromarxismus. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen, Methodologie und soziologisches Programm, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1987, S. 48-53. 73 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 322. 74 Vgl. R. Schmiede, Grundprobleme der Marx’schen Akkumulationstheorie, Frankfurt, Athenäum Verlag, 1973, S. 117. 75 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 595. <?page no="147"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 131 zur Verelendung der Arbeiterschaft und zu deren Bewusstwerdung: zu deren Verwandlung in eine „Klasse für sich“, die ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt. Den Übergang vom Prozess zur Handlung stellt anschaulich Wolfgang Schluchter dar, wenn er den Kern der Marxschen Theorie in fünf Punkten zusammenfasst, die hier gerafft wiedergegeben werden: „1. Die ständige Revolutionierung der Produktivkräfte“ 2. löst einen „Zwang zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals aus“ und hat 3. „die Entqualifizierung der Arbeitskraft und die wachsende Verelendung immer größerer Teile der Bevölkerung“ sowie 4. die „Verschärfung der Klassengegensätze und die Erosion von Zwischen- und Übergangsklassen“ zur Folge. 5. Die letzte Phase dieser Entwicklung ist „der wachsende Organisationsgrad der Arbeiterklasse und, damit verbunden, ihre wachsende Bereitschaft zur Revolution“. 76 Diese Darstellung ist für die soziologische Theorie von besonderem Interesse, weil sie erkennen lässt, wie Prozess und Handlung ineinander greifen: wie aus einem (1) technisch-wirtschaftlichen Prozess zwangsläufig (2) ein wirtschaftlicher Prozess hervorgeht, der (3) weitreichende soziale Konsequenzen (Verelendung) hat, die wiederum (4) Antagonismen und Konflikte zeitigen, zu deren Folgen (5) Unruhen, Revolutionen oder Bürgerkriege gehören. Die allgemein-theoretische Frage lautet: wie gesellschaftliche Entwicklung dargestellt werden soll, ohne dass das Prozesshafte zum Determinismus gerinnt und ohne dass die Betonung der Handlung ein Abgleiten ins Voluntaristische bewirkt. 4. Ein neuer Fokalisator: Das „Proletariat“ Wenn Marx in „Das Elend der Philosophie“ die Sozialisten und Kommunisten als „Theoretiker der Klasse des Proletariats“ 77 , d.h. als deren Helfer (adjuvants, Greimas) auffasst, so nimmt er implizit die Position eines theoretischen Erzählers ein, der die Geschichte des „Proletariats“ aus dessen Sicht erzählt: d.h. aus der Sicht des Subjekt-Aktanten. Dadurch wird das „Proletariat“ zu seinem Fokalisator, so wie Tonio Kröger und Aschenbach (in Tod in Venedig) zu Fokalisatoren des Schriftstellers Thomas Mann und seiner Erzähler werden. Freilich bezieht sich Marx auf eine historische Wirklichkeit und auf wirkliche Menschen mit ihren Einrichtungen, Handlungen und Kämpfen, nicht auf eine von ihm konstruierte fiktionale Welt. Dennoch hat auch er anhand bestimmter Relevanzkriterien und Erzählschemata seine soziale Welt konstruiert, in der nicht etwa die Arbeits- 76 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 100. 77 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 513. <?page no="148"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 132 teilung im Sinne von Durkheim, sondern der wirtschaftlich bedingte Klassenkampf als die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint. Zu diesen Erzählschemata als Konstruktionen gehört auch die Fokussierung, die in der Erzähltheorie zwei wesentliche Aspekte aufweist: innere und äußere Fokussierung. Während in einer Erzählung mit innerer Fokussierung der Erzähler die Gedanken und Regungen des Helden (der Protagonisten) kennt, ist ihm in einer Erzählung mit äußerer Fokussierung die Gedanken- und Gefühlswelt des Helden nicht zugänglich. Genette spricht in diesem Zusammenhang vom „betonten Nichtwissen des Erzählers im Hinblick auf die eigentlichen Gedanken des Helden“. 78 Das Besondere an der von Marx konstruierten Erzählstruktur besteht darin, dass der Erzähler sowohl in den Frühschriften als auch in Das Kapital zwischen äußerer und innerer Fokussierung oszilliert. Obwohl die verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sachverhalte stets aus der Sicht des „Proletariats“ oder des „Arbeiters“ dargestellt werden, wird die in Marxʼ Diskurs vorherrschende äußere Fokussierung nicht durchgehalten. Sie wird vom folgenden Satz veranschaulicht, der die Arbeitsteilung als Ausbeutung zum Gegenstand hat: „Was die Teilarbeiter verlieren, konzentriert sich ihnen gegenüber im Kapital.“ 79 Marx beschreibt hier im Rahmen des von ihm als relevant postulierten Gegensatzes von „Arbeit“ und „Kapital“ bestimmte Vorgänge aus der Sicht der Ausgebeuteten, ohne deren Ansichten oder Gedanken wiedergeben zu wollen. Diese „Außenansicht“ herrscht auch in dem folgenden Satz aus dem Kommunistischen Manifest vor: „Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ 80 In diesem Satz wird die Schwächung des Kollektivbewusstseins als Klassenbewusstsein durch das marktbedingte, individualisierende Prinzip der Konkurrenz beobachtet - und zwar ohne Kenntnis der Ansichten und Gedankengänge des Aktanten. Zu einem Perspektivenwechsel kommt es in dem folgenden Satz aus Das Kapital, in dem die geistige Entwicklung des Arbeiters nachgezeichnet wird, der sich zunächst als „Maschinenstürmer“ gegen die Maschine kehrt, die er für den Verlust seines Arbeitsplatzes verantwortlich macht: „Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploi- 78 G. Genette, Figures III, Paris, Seuil, 1972, S. 210. 79 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 322. 80 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 535. <?page no="149"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 133 tationsform übertragen lernt.“ 81 Hier wird - wie in einem Bildungsroman - eine „Innenansicht“ geboten nach dem Motto: „Zunächst begriff er nicht… später lernte er zu unterscheiden.“ Erzählt wird wiederum aus der Sicht des Helfers, der es als seine Aufgabe ansieht, durch Erläuterungen des Gesamtzusammenhangs das revolutionäre Bewusstsein des „Proletariats“ als Modalität des „Wissens“ und „Könnens“ zu wecken. Der Übergang zur inneren Fokussierung findet auch im folgenden Satz aus der Deutschen Ideologie statt, in dem von einer Klasse die Rede ist, „die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht (…)“. 82 Hier drückt der Helfer des Proletariats nicht die Hoffnung aus, dass die Arbeiterklasse ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt, indem sie zur „Klasse an und für sich“ wird, sondern orientiert sich selbst am Bewusstsein des „Proletariats“, dessen Gedanken, Ansichten und Affekte er zu kennen scheint - wie der realistische Romancier die inneren Regungen seines Helden. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass die Arbeiterklasse als homogener, kollektiver Aktant jemals dieses revolutionäre, sie einigende Bewusstsein hatte. Im Übergang von der äußeren zur inneren Fokussierung verwandelt sich das „Proletariat“ von einem kollektiven in einen mythischen Aktanten. In den Frühschriften wird das revolutionäre Bewusstsein dem „Proletariat“ aufgrund seiner Klassenlage im Kapitalismus von Marx zugerechnet. Diese Zurechnung erfolgt in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ nach altbewährter Hegelscher Manier. Die Rolle des „Weltgeistes“, der zu Hegels Fokalisator wurde, fällt dort dem „Proletariat“ zu. Es wird als Subjekt der Geschichte mit der Aufgabe betraut, den menschlichen Emanzipationsprozess durch die Verwirklichung der Philosophie zu vollenden: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ 83 Diese metaphorisch postulierte Symbiose zwischen der gesellschaftskritischen Philosophie und dem „Proletariat“ ist eine Fortsetzung der Hegelschen Dialektik mit scheinbar materialistischen Mitteln und hat mit der materiellen Existenz der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert wenig zu tun. Wesentlich vorsichtiger formuliert der reife Marx in seinem Nachwort zur zweiten Auflage von Das Kapital (Bd. I) im Jahre 1873. Zur Kritik der „bürgerlichen Ökonomie“ heißt es dort: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschicht- 81 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 386. 82 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 366. 83 Ibid., S. 224. <?page no="150"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 134 licher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat.“ 84 Die Erzählstruktur („geschichtlicher Beruf“, „Umwälzung“) bleibt erhalten und auch das Symbiose-Postulat, das die revolutionäre Praxis mit der Verwirklichung der Philosophie als „Kritik“ der „bürgerlichen Ökonomie“ betraut. Die Abweichung von der Jugendschrift fällt mit dem Satzanfang zusammen: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt…“ Der apodiktische, hegelianische Sprachduktus der frühen Jahre weicht hier einer vorsichtig formulierten Hypothese. Tatsächlich ist das von Marx konstruierte „Proletariat“ ein mythischer Aktant, eine Fiktion, die sich aus folgenden Gründen nicht in der empirischen Wirklichkeit des 19. und des 20. Jahrhunderts bewähren konnte: 1. Die Arbeiterklasse war nie ein homogener kollektiver Aktant, sondern setzte sich aus verschiedenen sozialen Gruppierungen zusammen, die mit verschiedenen Forderungen und Programmen auftraten. 2. Nicht alle waren „revolutionär“ im Sinne von Marx, sondern versuchten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihre Integration in die bürgerliche Gesellschaft (in den Mittelstand) 85 zu erreichen. 3. Die „Fabrikantengier“ 86 , die Marx z.T. für die „Verelendung des Proletariats“ verantwortlich macht, wurde vom Staat, von der Justiz und der Arbeiterbewegung (später von den Gewerkschaften und dem collective bargaining) gebremst: wie Marx selbst in Das Kapital richtig bemerkt. 87 Kurzum, die Entwicklung bewegte sich nicht linear auf die von Marx ersehnte Revolution zu, sondern erreichte auf Umwegen die Integration der Arbeiterklasse in die bürgerlichkapitalistische Ordnung. 88 Ihre Integration als Verbürgerlichung ist mit der Theorie der proletarischen Verelendung unvereinbar. Dieser Entwicklung trägt auch der junge Georg Lukács in seiner Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein aus dem Jahr 1923 nicht Rechnung, wenn er voller Zuversicht in hegelianisch-marxistischem Sprachduktus behauptet: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere; liegt doch in ihr methodisch die Auflösung jener Probleme, um die die größten Denker der bürgerlichen Epoche vergeblich gerungen haben, sachlich die 84 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 8. 85 Vgl. M. Young, P. Willmott, Family and Kinship in East London (1957), Harmondsworth, Pelican, 1969, Kap. XI: „Movement between classes“. 86 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 251. 87 Ibid., S. 367. 88 Vgl. A. Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Köln-Wien, Europäische Verlagsanstalt, 1980. <?page no="151"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 135 adäquate geschichtliche Erkenntnis des Kapitalismus, die für das bürgerliche Denken unerreichbar bleiben muß.“ 89 Diese Passage ist für die Persistenz der Marxschen und marxistischen Erzählung symptomatisch, weil sie zeigt, wie sehr auch Lukács noch im Rahmen dieser Erzählstruktur denkt. Wie Marx rechnet er dem „Proletariat“ ein bestimmtes wissenschaftlich-revolutionäres Bewusstsein zu, das zum Bewusstsein eines weitgehend fiktiven Fokalisators wird, den der Theoretiker-Romancier Lukács ins Leben ruft, um sich seinen Standpunkt zu eigen machen zu können. Anders ausgedrückt: Er projiziert seinen marxistischen Standpunkt in das Bewusstsein eines scheinbar homogenen, mit fantastischen Modalitäten ausgestatteten „Proletariats“, das als mythischer Aktant der empirischen Arbeiterklasse keineswegs entspricht. Diese ist heterogen und durchaus nicht abgeneigt, verschiedenen politischen Bewegungen zu folgen: kommunistischen, sozialdemokratischen, nationalistischen, faschistischen und nationalsozialistischen. Wesentlich später, Ende der 1960er Jahre, beobachtet der Marxist und Lukács-Schüler Lucien Goldmann die Integration des vermeintlich revolutionären „Proletariats“ in die spätkapitalistische Gesellschaft und versucht, es durch einen neuen Fokalisator als potenziell revolutionären oder radikal-reformistischen kollektiven Aktanten zu ersetzten. In Übereinstimmung mit André Gorz, Serge Mallet u.a. bezeichnet er diesen neuen Aktanten als „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“): „die Facharbeiter, die Techniker, die Angestellten der Mittelschicht“. 90 Dieser vom Neomarxisten konstruierte Aktant ist zwar weniger mythisch als Marx’ und Lukács’ „Proletariat“, aber schon Goldmanns Aufzählung dreier Gruppen lässt vermuten, dass er zu heterogen ist, um sich als revolutionärerer Aktant zu konstituieren und die von Goldmann geforderte Arbeiterselbstverwaltung (als Objekt-Aktanten der Erzählung) durchzusetzen. Dennoch verharrt auch Goldmann noch in der von Marx konstruierten Erzählung: „Wir wollen die Revolution, man muss sie durchführen (…).“ 91 Und es geht abermals darum, den neuen Fokalisator als „Subjekt der Umwälzung“ („sujet de la transformation“) zu finden, um „von seinem Standort aus zu sprechen“ („pour essayer de parler dans sa perspective“). 92 So wird noch in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die geschichtsimmanente Dialektik 93 Hegels und Marx’ fortgesetzt, und es wird 89 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 288. 90 L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne. Pour une sociologie de la totalité, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 167. 91 Ibid., S. 181. 92 Ibid. 93 Vgl. Vf., Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Editions Universitaires, 1973, S. 35. <?page no="152"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 136 deutlich, wie schwierig es ist, aus einer vorkonstruierten ideologisch-theoretischen Erzählstruktur, die sich zeitweise durchgesetzt hat, auszubrechen. Dieser Erzählstruktur wohnt ein weiteres Problem inne, das selten zur Sprache kommt: die von Marx - oft implizit - postulierte problematische Analogie zwischen revolutionärem Bürgertum (dem Bürgertum von 1789) und revolutionärem Proletariat. Vor allem im Bereich der Modalitäten oder „Kompetenzen“ erweist sich diese Analogie als problematisch, weil das Bürgertum schon im 17. Jahrhundert Wirtschaft, Handel, Finanzen, Wissenschaft und Kunst beherrschte, während das Proletariat des 19. Jahrhunderts sehr weit davon entfernt war, diese hegemoniale Funktion des frühen Bürgertums zu erfüllen und dadurch die Nachfolge der bürgerlichen Klasse anzutreten. Tocqueville zeigt 94 , dass sich eine wirtschaftlich-politische Hegemonie des Bürgertums lange vor 1789 abzeichnete: eine Art stiller Revolution vor der Revolution. Das Proletariat des 19. Jahrhunderts war hingegen eine unterworfene Klasse, die zeitweise zwar die soziale Mehrheit ausmachte, in Verwaltung, Politik, Finanzwelt und Wissenschaft aber keinerlei Bedeutung hatte. Daher ist das Marxsche Modell, das dem „Bürgertum“ das „Proletariat“ als ebenbürtigen oder gar überlegenen Aktanten gegenüberstellt, irreführend. Es verdeckt die historische Asymmetrie, die das Verhältnis der beiden Klassen prägte. Wie sehr Marx in seiner Erzählung und dem dualistisch strukturierten Modell dachte und lebte, wie sehr er als Erzähler und Helfer auf die Erlösung durch seinen Helden und Fokalisator hoffte, lässt ein Brief an Friedrich Engels aus dem Jahr 1857 erkennen: „Ich arbeite wie wahnsinnig die Nächte hindurch daran, meine ökonomischen Studien zusammenzukriegen, so daß ich mindestens die Grundzüge klar habe, bevor die Flut kommt.“ 95 Die Flut kam nicht. Aber das Ausbleiben der prophezeiten Weltrevolution, deren Erwartung von den Hoffnungen des jüdisch-christlichen Messianismus nicht zu trennen ist, spricht nicht gegen Marx: Sein Glaube an sein „Proletariat“, an seinen Helden, ist mit Nietzsches Glauben an den „Übermenschen“, mit Max Webers Glauben an die Rolle des „charismatischen Individuums“ und mit Alain Touraines zeitgenössischem Plädoyer für die „soziale Bewegung“ vergleichbar. Dieser Glaube als wissenschaftliches Engagement im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I und Kap. XIII) hat Marx dazu befähigt, mit erstaunlicher Weitsicht die destruktiven Mechanismen und Schwächen des Kapitalismus zu beschreiben und zu zeigen, wie Geldwirtschaft als Vermittlung durch den Tauschwert Entfremdung und Ver- 94 Vgl. A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution, op. cit., S. 90. 95 K. Marx, zitiert nach: R. C. Tucker, Karl Marx, op. cit., S. 299. <?page no="153"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 137 dinglichung zeitigt. Zum Abschluss sollen daher das theoretische Potenzial und die Aktualität der Marxschen Kritik hervorgehoben werden. 5. Das theoretische Potenzial von Marx Soziologie Das theoretische Potenzial des Marxschen Werks sollte im Bereich der Ge sellschaftskritik gesucht werden: nicht im Bereich der revolutionären Prophezeiung und schon gar nicht in den über das ganze Werk verstreuten Bemerkungen zur „sozialistischen Gesellschaft“. Was Marx zu dieser neuen Gesellschaftsform sagt, etwa dass sie die entfremdende Arbeitsteilung überwinden wird, läuft der Entwicklung aller realen Gesellschaften der Moderne zuwider. Obwohl in so verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft und Wissenschaft sporadisch versucht wird, die Auswirkungen von Arbeitsteilung und Spezialisierung durch fachübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu mildern, nimmt die Arbeitsteilung in allen zeitgenössischen Gesellschaften eher zu als ab: Davon zeugen u.a. Nuklearmedizin, Kristallographie und Computerlinguistik als hochspezialisierte Fächer. Was Marx zur „Diktatur des Proletariats“ als Vorstufe zu Sozialismus und Kommunismus zu sagen hat, zeigt lediglich, wie leicht es ist, im Strom sprachlicher Metaphorik, Probleme zu verdecken, die sich in der Wirklichkeit als schwer lösbar, wenn nicht gar als unlösbar erweisen: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ 96 Wie so oft, steht das Wesentliche in einem scheinbar harmlosen Einschub, der den Staat mit dem „organisierten Proletariat“ gleichsetzt. Rhetorisch können die beiden kollektiven, tendenziell mythischen Aktanten „Staat“ und „Proletariat“ problemlos identifiziert werden (wie später bei Lenin); in der Praxis des „realen Sozialismus“ hat sich jedoch gezeigt, dass die revolutionäre Klasse zu keinem Zeitpunkt den Staat unter Kontrolle hatte (sicherlich nicht nach der Unterdrückung der Arbeiter- und Matrosenrevolte von Kronstadt) 97 , sondern dass der Staat zu einem Instrument der Partei (genauer: ihres Politbüros oder Präsidiums) wurde, die in der Sowjetunion das Land im Namen des „Proletariats“ verwaltete. Marx setzt sich allzu leichtfertig über soziale Faktoren wie Organisation, Büro- 96 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 547. 97 Vgl. „Die Kronstädter Kommune“, in: G. Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1967, S. 67-73. <?page no="154"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 138 kratisierung oder das Machtstreben von Eliten hinweg und ebnet dadurch dem Leninismus den Weg. 98 Auch sein dualistisches Aktantenmodell, das, wie sich gezeigt hat, nur im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Prozessen zu verstehen ist, ist eine - narrative - Vereinfachung der sozialen Entwicklung. Zu Recht beanstandet Richard Münch in einer kritischen Würdigung von Marxʼ Beitrag zur Soziologie die Reduktion auf wirtschaftliche Faktoren wie die „Enteignung der Bauern und [die] Kommerzialisierung der Landwirtschaft in England“. 99 Sein Einwand gründet zum Teil auf der Bedeutung des religiösen Faktors für das wirtschaftliche Handeln, die Max Weber hervorhebt: „Ohne die Bildung der starken Nationalstaaten in Europa, ohne die Unterstützung des Handels und der Industrie durch ein System des Wirtschaftsrechts, ohne die Einführung der Arbeitsethik durch den Puritanismus hätte sich kein Kapitalismus in Europa entwickeln können.“ 100 Dies ist zweifellos richtig; Marx könnte allerdings erwidern, dass es ihm nicht primär um die Entstehung des Kapitalismus in Europa geht, sondern um die Kritik des Kapitalismus und der Klassengesellschaft. Tatsächlich ist im Bereich der Kritik das theoretische Potenzial seines Werks angelegt. Sowohl in den Frühschriften als auch in späteren Werken aus den 1850er Jahren wie Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie untersucht Marx die Auswirkungen der Marktgesetze und der Vermittlung durch den Tauschwert (den Wert, den eine Sache als Tauschobjekt auf dem Markt besitzt) auf die menschlichen Beziehungen. Das Geld als Tauschwert bewirkt zunächst, dass auf dem Markt Ungleiches getauscht wird, dass Gegenstände unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Qualität gegeneinander „aufgerechnet“ werden, sobald das Geld zwischen ihnen vermittelt (das Kompensationsgeschäft ist ein Beispiel). Der Tauschwert ist allen Gebrauchswerten gegenüber indifferent, weil er durch das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage zustande kommt: Meine Wohnung mag einen sehr hohen Gebrauchswert 101 für mich gehabt haben, verliert aber an Tauschwert, sobald ein Überangebot an Wohnungen entsteht. Dies gilt auch für menschliche Arbeit: Ein Feinmechaniker, 98 Vgl. E. Heinrich, „Marxʾ Leninismus“, in: H.-G. Backhaus et al. (Hrsg.), Beiträge zur Marxschen Theorie 4, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 129. 99 R. Münch, Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2008, S. 128. 100 Ibid. 101 Zum Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert vgl. W. F. Haug, Vorlesungen zur Einführung ins „Kapital“, Köln, Pahl-Rugenstein, 1974, S. 48: „(…) Der Begriff Gebrauchswert ist dann ein Beziehungsbegriff, der am nützlichen Ding eine bestimmte Art von Beziehung zwischen Mensch und Natur faßt.“ Und: „In der von uns untersuchten Gesellschaftsform ist der Gebrauchswert zugleich Träger des Tauschwerts (…).“ (S. 51) <?page no="155"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 139 der sich auf die Reparatur von Schreibmaschinen spezialisiert hat, stellt fest, dass seinen bisher geschätzten Fähigkeiten auf dem Markt kein Tauschwert mehr entspricht, sobald der Computer die Schreibmaschine ersetzt. Dazu bemerkt Marx: „Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt.“ 102 Es wechselt, weil Angebot und Nachfrage stark in Zeit und Raum variieren. Menschen neigen dazu, den Gebrauchswert als Produkt menschlicher Arbeit zu übersehen und Waren vorwiegend nach ihrem Tauschwert zu beurteilen, der sich als „Fetisch“ verselbständigt, weil Waren als Verhältnisse zwischen Sachen und nicht als Verhältnisse zwischen Menschen und ihren Tätigkeiten erlebt werden: „Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und daher von der Warenproduktion unzertrennlich sind.“ 103 Menschliche Produkte werden einander über den Tauschwert gleichgesetzt, aber von den Menschen ausschließlich als Waren, als „Dinge“ wahrgenommen, d.h. verdinglicht. Marx kommentiert mit dem berühmt gewordenen Satz: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ 104 Was mit der Arbeit geschieht, kann auch mit dem Arbeiter als Arbeitskraft geschehen, wenn er wie sein Arbeitsprodukt auf dem Markt verdinglicht wird. Dadurch können Wiedersprüche und Konflikte in einer Gesellschaft entstehen: Vertreter der Wirtschaft importieren „Arbeitskräfte“ aus aller Herren Länder, um ihre Produktivität aufrechtzuhalten oder zu steigern; es treffen aber Menschen aus verschiedenen Kulturbereichen ein, die sich in ihrer neuen Umgebung fremd fühlen und als Fremde behandelt werden. Die Reduktion des Menschen auf seine „Arbeitskraft“ zeitigt Entfremdung: nicht nur von seiner Arbeit, deren Produkt er sich nicht aneignen kann, sondern auch von seiner sozialen Umwelt, die er kaum versteht. 105 In „Nationalökonomie und Philosophie“ notiert Marx: „Arbeiter selbst ein Kapital, eine Ware.“ 106 Seine Theorie des Warenfetischismus, dessen ästhetische Aspekte Wolfgang F. Haug untersucht 107 , der Verdinglichung und Entfremdung ist aktueller denn je, weil in der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft die Bezie- 102 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 18. 103 Ibid., S. 52. 104 Ibid., S. 53. 105 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, S. 67-80. 106 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 309. 107 Vgl. W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (5. Aufl.), S. 17: „Das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Ware wird zum Instrument für den Geldzweck.“ <?page no="156"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 140 hungen zwischen Menschen vorwiegend durch den Tauschwert geregelt werden, der allen kulturellen Werten gegenüber - auch Charaktereigenschaften wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft - indifferent ist. Dazu bemerkt Marx in den Grundrissen: „Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert (…).“ 108 In seinem Frühwerk holt Marx noch weiter aus, wenn er zeigt, dass der Tauschwert, der von allen besonderen Eigenschaften und Qualitäten abstrahiert, alle kulturellen Werte negiert. Diese Negation kommt als Zusammenführung von Gegensätzen zustande, wobei die miteinander verknüpften, einander widersprechenden Werte einander annullieren, indifferent werden. Vom Geld heißt es in „Nationalökonomie und Philosophie“: „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, die Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.“ 109 Diese Indifferenz allen politischen, moralischen, ästhetischen Werten gegenüber veranschaulicht gegenwärtig der Waffenhandel. Der Waffenhändler unterscheidet nicht zwischen Recht und Unrecht, Demokratie und Diktatur: Ihm ist jeder Käufer Recht, der pünktlich zahlt. Und seine Einstellung ist - zumindest grundsätzlich - die aller großen und kleinen Händler sowie der meisten Konsumenten, die sich vornehmlich nach dem Preis der Ware richten und nicht etwa nach ihrer Herkunft. In einer vom Tauschwert beherrschten Wirtschaftsgesellschaft droht auch die von Wissenschaftlern weiterhin verteidigte Suche nach Wahrheit (nach Luhmann wird das Wissenschaftssystem vom Gegensatz wahr / unwahr strukturiert) 110 zu einem Anachronismus zu verkommen. Immer öfter werden Universitäten mit der Frage nach der „gesellschaftlichen Relevanz“ ihrer Fächer und ihrer Forschung konfrontiert und nach Kriterien des (wirtschaftlichen) Nutzens beurteilt. Auf dieser Ebene eilt Marx seiner Zeit weit voraus, wenn er in einer Fußnote im 13. Kapitel von Das Kapital bemerkt: „Die ‚fremde‘ Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt, wie fremde Arbeit.“ 111 Inzwischen ist die Wissenschaft dem Kapital gar nicht mehr so fremd: Es hat zahlreiche Forschungsstätten zu seinen Anhängseln gemacht. 112 108 K. Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. XLII, Berlin, Dietz Verlag (1983), 2015 (3. Aufl.), S. 90. 109 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 301. 110 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 209. 111 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 345. 112 Vgl. P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 175: „Ähnlich wie für das Verhältnis der Wissenschaft zur Politik und zu den Medien läßt <?page no="157"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 141 Auch die Einverleibung der Arbeit schreitet voran, selbst wenn sie ganz andere Formen annimmt als im 19. Jahrhundert. Während die Disziplinierung von Arbeitern und Angestellten im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleichsam von außen durch Vorarbeiter, Aufseher und Vorgesetzte erfolgte, wird sie in der nachmodernen Gesellschaft als Selbstdisziplinierung verinnerlicht. Es bleibt zwar jedem überlassen, wie er sich die Zeit einteilt, solange er das vorgeschriebene oder vereinbarte Arbeitspensum bewältigt. Dabei spielt auch Erreichbarkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wer aus beruflichen Gründen jederzeit erreichbar sein muss, kann es sich nicht leisten, Telefon, Handy oder e-mail auszuschalten. Eine der Folgen ist, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt und der Arbeits- und Leistungsdruck nur selten nachlässt. Marx, der den Arbeitstag in Das Kapital sorgfältig analysiert hat, könnte heute zeigen, in welchem Ausmaß Arbeitnehmer vom Kapital zeitlich vereinnahmt werden. Jedenfalls würde er Steve Legille und Benjamin Toussaint Recht geben, die feststellen: „Die Arbeit erfährt eine höhere Subjektivierung, diese liegt jedoch nicht im Sinne der arbeitenden Individuen, sondern eher im Sinne der Wirtschaft (…). Nicht die Arbeit wird an den complex man angepasst, sondern der flexible man hat sich an die Marktbedingungen anzupassen.“ 113 Tatsächlich zeigt Richard Sennett in seinem Buch Der flexible Mensch, das den Untertitel Die Kultur des neuen Kapitalismus trägt, wie sich wirtschaftliche Ausbeutung durch Selbstdisziplinierung als flexible Befolgung der Marktgesetze gewandelt hat (vgl. Kap. XXII). Sie ist aber nach wie vor aktuell. Weiterhin aktuell ist daher auch das Werk von Marx, das - wie alle anderen theoretischen Werke - selektiv zu lesen und darauf zu überprüfen ist, welche seiner Argumente noch stichhaltig sind und welche nicht mehr gelten, weil sie schon bei ihrer Entstehung fragwürdig waren oder durch spätere Ereignisse und Entwicklungen widerlegt wurden. Zu vermeiden ist auf jeden Fall eine auf Impressionen und Intuitionen gründende Haltung, die Marxʼ Theorie verabschiedet, weil im Jahre 1989 die Berliner Mauer fiel, für deren Bau der Kritiker und Revolutionär Marx in keiner Weise verantwortlich war. sich auch im Hinblick auf das Verhältnis zur Wirtschaft von einer engeren Kopplung sprechen.“ Inzwischen hört sich diese vorsichtige Formulierung wie ein understatement an. 113 S. Legille, E. Toussaint, Soziale Entfremdung. Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und Phänomenen sozialer Entfremdung in Tätigkeiten mit interaktivem Charakter, Diplomarbeit, Univ. Innsbruck, 2007, S. 44. Vgl. auch M. Moldaschl, G. G. Voß, Subjektivierung von Arbeit, München-Mering, Rainer Hampp Verlag, 2002, S. 36. <?page no="158"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 142 Zusammenfassung und Ausblick: In diesem Kapitel sollte gezeigt werden, wie im Übergang von Hegel zu Marx der Diskurs der dialektischen Philosophie, der beim Idealisten Hegel die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als vernünftige Ordnung rechtfertigt, bei Marx materialistisch umgedeutet und durch revolutionäre Perspektivierung zur Zukunft hin geöffnet wird. Während Hegel im Rahmen eines idealistischen Aktantemodells, in dem der „Weltgeist“ als sein Auftraggeber und Fokalisator fungiert, die Notwendigkeit des Bestehenden zu erklären versucht, nimmt Marx sich vor, dessen historische Kontingenz und Veränderbarkeit nachzuweisen: Statt wie Hegel einen Diskurs der Versöhnung (mit der Wirklichkeit) zu entwerfen, konstruiert er eine Erzählung, in der die „Geschichte“ als Auftraggeberin das „Proletariat“ als Subjekt-Aktanten mit der Erlösung der Gesellschaft von Kapitalismus und bürgerlicher Herrschaft beauftragt. In dieser Erzählung wird das „Proletariat“ zu Marxʼ Fokalisator, aus dessen Sicht er die Entwicklung und die Zukunft der Gesellschaft erzählt. Dabei gerät das „Proletariat“ als narratives Konstrukt zu einem mythischen Aktanten, der nur ansatzweise der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts entspricht. Trotz aller Schwächen der Marxschen Theorie sollte gezeigt werden, dass einige ihrer Komponenten hochaktuell sind, weil Marx mit ungewöhnlicher Weitsicht einige Probleme zeitgenössischer Gesellschaften analysiert: die sich in alle Lebensbereiche ausbreitende Herrschaft der Marktgesetze (des Tauschwerts), die aus ihr resultierende Verdinglichung und die sie begleitende Entfremdung. Dennoch wird im nächsten Kapitel Auguste Comtes Theorie der Säkularisierung und Rationalisierung als möglicher Gegenentwurf zu Marxʼ Kapitalismuskritik in Betracht gezogen. <?page no="159"?> 143 V. Säkularisierung und Rationalisierung: Auguste Comtes Erzählung als Antwort auf das Marxsche Geschichtsverständnis - und die marxistische Replik Inhaltsverzeichnis 1. Condorcet und Saint-Simon als Vorläufer: Fortschritt als Industrialisierung, Säkularisierung und Rationalisierung 2. Das „Drei-Stadien-Gesetz“ und die „Enzyklopädie“: Säkularisierung und Rationalisierung 3. Die semantische Grundlage des Comteschen Diskurses und sein Aktantenmodell 4. Marx vs. Comte vs. Marx 5. Auswertung und Ausblick Jede soziologische Erzählung geht von besonderen Gegensätzen und Unterscheidungen aus, die dadurch zustande kommen, dass ein Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern die soziale Wirklichkeit auf spezifische Art wahrnimmt und deshalb bestimmte Aspekte dieser Wirklichkeit für relevant hält und andere nicht. Die Relevanzkriterien des Einzelnen und der Gruppe hängen u.a. von der gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Situation ab, in der sie sich als Beobachter befinden. Es leuchtet ein, dass ein Theoretiker, der den Industrialisierungsprozess in Deutschland und Großbritannien erlebt und vor allem den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beobachtet, die Entwicklung der Gesellschaft anders erzählen muss als ein Theoretiker wie Comte, der im Anschluss an die französische Aufklärung den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen oder Glauben und Vernunft für relevant hält. Dabei spielen die Erfahrungen der Soziologen sowie ihre Sozialisation in einem besonderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld eine entscheidende Rolle. Während Marx in einem feudal-absolutistischen Deutschland aufwuchs, das er für rückständig hielt, weil sein Bürgertum die Französische Revolution von 1789 nur in Gedanken, nicht aber in der Tat nachvollzog, wuchs Auguste Comte (1798-1857) in einer katholischen Familie im südfranzösischen Montpellier und später als Polytechnicien in einer Pariser Gesellschaft auf, in der die entscheidende Frage lautete: Wie kann man die Revolution, die in die Napoleonischen Kriege mündete und immer wieder ausbrach (1830, 1848), beenden? Während Marx, wie sich gezeigt hat, im Londoner Exil die Revolution herbeisehnte und voller Ungeduld auf die Befreiung durch das Proletariat wartete, überlegten Claude-Henri de Saint Simon und sein Sekretär <?page no="160"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 144 Auguste Comte im nachrevolutionären Paris, wie die aufgewühlte Gesellschaft in eine neue, fortschrittliche Ordnung überführt werden könnte. Obwohl Comte die Klassengegensätze des frühen 19. Jahrhunderts durchaus wahrnimmt, misst er ihnen nicht die gleiche Bedeutung bei wie Marx, der den Klassenantagonismus für den Motor der Geschichte hält (vgl. Kap. IV. 3). Angesichts von Industrialisierung, Technisierung und Rationalisierung kommt Comte zu dem Schluss, dass in der modernen Gesellschaft, die dabei ist, die Fesseln des Ancien Régime abzustreifen, nur der Gegensatz zwischen theologischem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft von zentraler Relevanz sein kann. Dieser Gegensatz ist zweifellos auch bei Marx wichtig, der sich als Begründer eines wissenschaftlichen Sozialismus sieht, der alle Religionen, Ideologien und Utopien hinter sich lässt. Die Säkularisierungstendenz als Absage an die Transzendenz oder das „Jenseits“ verbindet Marx und Comte. Während aber Marx die Ansicht vertritt, dass nur die proletarische Revolution den Historischen Materialismus als neues wissenschaftliches Denken verwirklichen kann, neigt Comte zu der Auffassung, dass die gesetzmäßige Entwicklung der „Zivilisation“ 1 der wissenschaftlichen Vernunft oder der „positiven Wissenschaft“ zum Sieg über Glauben und Aberglauben verhelfen wird. In dieser Hinsicht steht der französische Philosoph Hegel, dessen Werk er oberflächlich kannte 2 , näher als Marx. Dazu bemerkt Oskar Negt in seiner Studie über Comte und Hegel: „Für Comte und Hegel ist die Geschichte ein gesetzmäßiger Zusammenhang, durch den Einzelerscheinungen untereinander und in Beziehung auf das Ganze bestimmt sind.“ 3 Dies bedeutet, dass Comte - wie Hegel und stärker als Marx - den Prozesscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung hervorhebt. In seinen Augen greifen Ereignisse, Handlungen und Strukturen ineinander und setzen Prozesse in Gang, deren konkrete Ergebnisse niemand abzusehen vermag, deren Richtung als „marche de la civilisation“ 4 aber der Philosoph als „positiver Denker“ und Wissenschaftler sehr wohl voraussagen kann. Dazu bemerkt Comte selbst: „Denn das übergeordnete Gesetz der Fortschritte des menschlichen Geistes reißt alles mit sich fort und beherrscht alles; die Menschen sind für dieses Gesetz nur Instrumente.“ 5 Diese Auffassung der menschlichen Geschichte erinnert nicht zufällig an Hegels „List 1 Vgl. A. Comte, Soziologie, Bd. II: Historischer Teil der Sozialphilosophie. Theologische und metaphysische Periode (Hrsg. H. Waentig), Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1923 (2. Aufl.), S. 376. 2 Vgl. O. Negt, Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1964, S. 99. 3 Ibid., S. 96. 4 A. Comte, Philosophie des sciences, Paris, Gallimard, 1996, S. 238. 5 A. Comte, Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne, Paris, L’Harmattan, 2006, S. 78. <?page no="161"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 145 der Vernunft“ (Kap. IV. 1). Denn auch Comte ist der Meinung, dass die Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach auf die Absichten und Handlungen von Einzelpersonen und Gruppen reduziert werden kann. Man denke an Gorbatschows „Perestroika“, die wesentlich zur Stärkung des sowjetischen Systems beitragen sollte, schließlich jedoch zu dessen Zerfall führte. Man denke auch an die „Krisen“ der Europäischen Union, die neue Verträge erzwingen, von denen einige („Maastricht“, „Lissabon“) einen nicht immer intendierten Funktionswandel der bestehenden europäischen Institutionen zur Folge haben. Es wird sich jedoch zeigen, dass Comte soziales Handeln keineswegs vernachlässigt und dass seinem Diskurs als Erzählung ein Aktantenmodell zugrunde liegt, das den sozialen Prozessen eine bestimmte Richtung vorgibt. In diesem Aktantenmodell fällt der positiven Wissenschaft und dem sie vertretenden positiven Wissenschaftler eine entscheidende Rolle zu: Es geht darum, bevorstehende Ereignisse und Entwicklungen mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu antizipieren, um sie beeinflussen zu können: „Sehen um vorherzusehen: das ist das dauernde Unterscheidungsmerkmal der wahren Wissenschaft (…).“ 6 Es geht folglich darum, in gesellschaftliche und natürliche Vorgänge einzugreifen, um sie in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und menschlichen Bedürfnissen zu gestalten. Während sich Marx aber von der proletarischen Revolution eine völlig neue Gesellschaftsordnung verspricht, möchte Comte die sich in der bürgerlichen Gesellschaft verstärkenden Tendenzen der Rationalisierung und Säkularisierung mit Hilfe der Wissenschaftler, der „Industriellen“ und der Proletarier so weit treiben, bis eine neue, rationale Ordnung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entsteht. Dabei fällt den positiven Wissenschaftlern, nicht den Proletariern, die geistige, intellektuelle (nicht die politische) Führungsfunktion zu. Anders als Marx stellt Comte das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht in Frage; im Gegenteil, er verteidigt es. 7 Konsequent lehnt er auch den Klassenkampf ab. 8 Dies hat zur Folge, dass Comte im Gegensatz zu Marx, der voller Ungeduld die Revolution erwartet, welche die neue Gesellschaft einläuten soll, die Revolution beenden möchte, um jenseits des revolutionären Chaos die vernünftige Ordnung aufzubauen, die auf der positiven Wissenschaft gründet. 6 A. Comte, Soziologie, Bd. III: Abschluß der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen, op. cit., S. 614. 7 Vgl. A. Comte, Catéchisme positiviste (1852). Ed. établie et présentée par F. Dupin, Paris, Editions du Sandre, 2012, S. 124. 8 Vgl. ibid., S. 270-272. <?page no="162"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 146 Marx oder Comte? Revolutionärer Abbruch eines alles zerstörenden Systems oder positiv-wissenschaftliche Neufundierung der Gesellschaft? Im vorletzten Abschnitt werden diese Fragen in einem Kontext aufgeworfen, in dem (ein fiktiver) Marx und die Marxisten auf Comte reagieren, in dem aber auch (ein fiktiver) Comte als Zeitgenosse zu Wort kommt. Die Gegensätze zwischen diesen beiden Denkern und die Kontroversen, die sie heute noch nähren, sollten nicht dazu führen, dass das Gemeinsame übersehen wird, das Marx und Comte verbindet: die moderne Zuversicht, dass eine vernünftige, menschliche Gesellschaftsordnung zum Greifen nahe ist. Aus dieser Zuversicht gingen „Metaerzählungen“ (Lyotard) hervor, die schon spätmoderne Soziologen wie Durkheim, Simmel, Alfred und Max Weber mit Skepsis betrachteten. 1. Condorcet und Saint-Simon als Vorläufer: Fortschritt als Industrialisierung, Säkularisierung und Rationalisierung Wie Marx, der sich auf Hegel und die Junghegelianer (z.B. Feuerbach) beruft und zugleich gegen sie polemisiert, bezieht sich auch Comte immer wieder auf Vorgänger, die in seinen Augen die Richtung vorgeben, die das Denken in einer verweltlichten Gesellschaft einschlagen sollte, die dabei ist, aus der theologischen Hegemonie des Feudalismus und des Absolutismus auszubrechen. Zu diesen Vorgängern gehört - außer den Begründern des Rationalismus Francis Bacon und René Descartes - auch der abtrünnige Adelige Marie Jean Antoine Marquis de Condorcet (1743-1794), der sich als Mathematiker, Rationalist, Sensualist und Kritiker des Ancien Régime den Enzyklopädisten um Diderot und d’Alembert anschloss und die Revolution von 1789 unterstützte. Sein Glaube an den Fortschritt der Vernunft kommt vor allem in seinem Entwurf einer historischen Darstellung des Fortschritts des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, 1794) zum Ausdruck. Auf den modernen Charakter von Condorcets Erzählung geht indirekt Wilhelm Alff in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe ein, wenn er bemerkt: „Zukunft gibt es für den Aufklärer, wie überhaupt für den tätigen Menschen, allein als Ermöglichung einer besseren Welt.“ 9 In diesem von der Aufklärung der Enzyklopädie geprägten Kontext entstand der zukunftsorientierte, auf das Ziel einer vernünftigeren und menschlicheren Gesellschaft ausgerichtete Diskurs Auguste Comtes. Diesen Diskurs antizipiert Condorcet, wenn er in seinem Entwurf erklärt: „Die Fortschritte in den Wissenschaften sichern die Fortschritte in der Technik des Unterrichts, die wiederum die der Wissenschaften 9 W. Alff, in: M. J. A. Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Hrsg. W. Alff), Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 8. <?page no="163"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 147 beschleunigen; und dieser wechselseitige Einfluß, dessen Wirkung sich fortwährend erneuert, muß zu den nachhaltigsten und mächtigsten Ursachen der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gerechnet werden.“ 10 Condorcets Entwurf ist in jeder Hinsicht modern, denn der Aufklärer glaubt an die Möglichkeit, die Menschheit mit Hilfe des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts aus Unterdrückung, Unmündigkeit und Schicksalsergebenheit in einen Zustand zukunftsorientierter Selbstgestaltung hinausführen zu können. Ihm schwebt „das Bild eines Menschengeschlechts“ vor Augen, „das von allen Ketten befreit, der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet (…).“ 11 Bei Comte ändern sich Struktur und Ausrichtung dieses fortschrittsorientierten Diskurses kaum. Dieser wird aber mit neuen Inhalten ausgefüllt, denn Comte nimmt sich vor, „das Werk Condorcets umzugestalten“ 12 , wie Henri Gouhier sagt. Als Erbe Bacons, Descartesʼ und Condorcets glaubt er, dass nur die wissenschaftliche Vernunft den Menschen helfen kann, sich aus der Verstrickung in Glauben und Aberglauben zu befreien. Wie Condorcet ist er der Meinung, dass Wissenschaft, Technik und Wirtschaft durch ihre Wechselbeziehungen eine historische Dynamik entfalten, die wesentlich zur Überwindung der feudal-absolutistischen Verhältnisse, des blinden Glaubens und des Vorurteils beiträgt. Es nimmt daher nicht wunder, dass er Condorcet in vielen seiner Schriften als seinen liebsten Bürgen auftreten lässt, sooft er den Nexus von Wissenschaft, Gesellschaft und Fortschritt erläutert. In seinem „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“ (1822) lobt er Condorcets Verdienste um die Verwissenschaftlichung der Politik: „Die allgemeine Auffassung der Vorgehensweise, die dazu angetan ist, die Politik auf die Ebene der Erfahrungswissenschaften zu heben, wurde von Condorcet entdeckt.“ 13 Wesentlich später, in seinem Catéchisme positiviste (1852), spricht er von „meinem wesentlichen Vorläufer, dem hervorragenden Condorcet“ („mon précurseur essentiel, l’éminent Condorcet“). 14 Es wird sich allerdings zeigen, dass der Soziologe Comte die feudale Ordnung ganz anders einschätzt als der Aufklärer und Enzyklopädist. 10 Ibid., S. 215. 11 Ibid., S. 221. 12 H. Gouhier, La Jeunesse d’Auguste Comte, Bd. III: Auguste Comte et Saint-Simon, Paris, Vrin, 1970 (2. Aufl.), S. 273. 13 A. Comte, „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“, in: ders., Philosophie des sciences (Hrsg. J. Grange), Paris, Gallimard, 1996, S. 379. 14 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 18. <?page no="164"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 148 Hat dieser entscheidend Comtes Auffassung der wissenschaftlichen Entwicklung und seine Religionskritik beeinflusst, so gab Claude-Henri Comte de Saint-Simon (1760-1825) seiner Gesellschaftstheorie den entscheidenden Impuls. 15 Denn dem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben Condorcets fügt er den - potenziell sozialistischen - Gedanken hinzu, dass die werktätige Bevölkerung für die Entwicklung der Gesellschaft verantwortlich sein sollte - und nicht die adelige „Mußeklasse“ (Veblen) 16 , die von der Besteuerung befreit ist, von ihren Renten lebt und mehrheitlich nicht arbeitet. Diese Aufwertung der arbeitenden, schaffenden Bevölkerung mag auf den ersten Blick an Marx erinnern; bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Saint-Simon von ganz anderen Relevanzkriterien und Klassifikationen ausgeht als Marx und die Marxisten: Während Marx den Grundgegensatz zwischen Kapital und Arbeit für relevant erklärt und in Übereinstimmung mit diesem Gegensatz die kollektiven Aktanten „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ einander gegenüberstellt, konstruiert Saint-Simon einen Gegensatz zwischen dem arbeitenden Volk, also den Bürgern, Bauern und Arbeitern auf der einen Seite, und dem Adel auf der anderen. Für Marx war der Antagonismus zwischen Adel und Bürgertum nicht mehr relevant, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, dass vor allem seit der Revolution von 1848 das Bürgertum die herrschende Klasse war und der Adel im bürgerlich-kapitalistischen System eine untergeordnete Rolle spielte. Der im Jahre 1760 (also 58 Jahre vor Marx) geborene Saint-Simon, der die Restauration des Ancien Régime in den Jahren 1814 und 1815 erlebte, als nach den Schlachten bei Leipzig (1813) und Waterloo (1815) Ludwig XVIII den Thron bestieg, schätzte die Verhältnisse verständlicherweise anders ein. Mit Marx verbindet ihn jedoch die Hervorhebung der gesellschaftlichen Arbeit, und Jean Dautry hat zweifellos Recht, wenn er im Zusammenhang mit Saint-Simons Denken bemerkt: „Nie hatte man bis dahin so stark die wirtschaftliche und soziale Tätigkeit des Menschen betont. Noch nie hatte man auf diese Art Arbeit und Müßiggang einander entgegengesetzt.“ 17 Marx und Engels schätzen Saint-Simons Rolle etwas anders ein, weil sie 15 Vgl. H. Gouhier, La Vie d’Auguste Comte, Paris, Vrin, 1997, S. 120. 16 Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen (1857-1929) entwickelte eine Theorie, der zufolge die Kapitalakkumulation im Hochkapitalismus den Aufstieg einer Klasse ermöglicht, die abseits vom Produktionsprozess von ihren Renten lebt und durch „demonstrativen Müßiggang“ und „demonstrativen Konsum“ („conspicuous“ oder „ostentatious consumption“) auffällt: T. Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt, Fischer, 2011 (2. Aufl.), Kap. III und Kap. IV. 17 J. Dautry, „Claude-Henri de Saint-Simon“, in: Cl.-H. de Saint-Simon, Textes choisis (préface et commentaires par J. Dautry), Paris, Editions Sociales, 1951, S. 30. <?page no="165"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 149 meinen, dass sich erst in seinem letzten Werk - in Le Nouveau Christianisme (1825) - Spuren des Sozialismus finden. 18 Tatsache ist, dass Saint-Simon, der eine Zeit lang die Zeitschrift L’Industrie herausgab, in der ersten Phase seiner Theoriebildung vor allem die soziale Rolle der „Industriellen“ betont, in denen er potenzielle Verbündete des Königtums sieht. 19 Davon zeugen seine vielen Briefe an die „Mächtigen“, im vorliegenden Fall ein Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats Ludwigs XVIII, dessen Autor sich für die Gründung einer „Industriellenpartei“ einsetzt: „einer Partei, die von den Industriekapitänen geleitet werden sollte“ („d’un parti qui soit dirigé par les chefs des travaux industriels“). 20 In einem zweiten Schreiben, das er an A. M. Terneau, einen Abgeordneten, richtet, wird deutlich, dass es ihm darum geht, die Interessen der „Industriellen“ und der Arbeiter zur Synthese zu bringen: „die Interessen der Unternehmer mit denen der Arbeiter zu kombinieren“ („combiner les intérêts des entrepreneurs avec ceux des ouvriers“). 21 Noch in seinem letzten Werk, dem Nouveau Christianisme, in dem er ein säkularisiertes Christentum entwirft, das für den sozialen Konsens bürgen soll, versucht er, die Bedeutung des Klassengegensatzes herunterzuspielen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass „die Klassen nur noch durch Nuancen voneinander getrennt werden“. 22 Diese aus marxistischer Sicht beschönigende oder gar verschleiernde Einschätzung erscheint aus heutiger Sicht, angesichts der Entstehung einer breiten Mittelschicht, gar nicht so unrealistisch. Saint-Simons Einstellung beschreibt in großen Zügen Manfred Hahn: „Obgleich der späte Saint-Simon für die zahlreichste und ärmste Klasse, d.h. für die Arbeiter streitet, kennt er keinen ausgeprägten und erst recht keinen unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen industrieller Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Kapital und Lohnarbeit. Unternehmer und Arbeiter zählen bei ihm zur großen Klasse der ‚industriels‘, der produktiv Tätigen.“ 23 18 Vgl. K. Marx, Das Kapital, Bd. III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1971, S. 572: „Man muß überhaupt nicht vergessen, daß erst in seiner letzten Schrift, dem ‚Nouveau Christianisme‘, St. Simon direkt als Wortführer der arbeitenden Klasse auftritt und ihre Emanzipation als Endzweck seines Strebens erklärt.“ 19 Cl.-H. de Saint-Simon, Considérations sur les mesures à prendre pour terminer la Révolution (éd. 1820), Paris, Chez les Marchands de Nouveautés, 1820, S. VIII-IX. (Reprint, Paris, Hachette, s.d.) 20 Cl.-H. de Saint-Simon, 1 ère opinion politique des industriels. 1 er chant des industriels (éd. 1821), Paris, Chez l’auteur, 1821, S. 197. (Reprint, Paris, Hachette, s.d.) 21 Ibid., S. 205. 22 Cl.-H. de Saint-Simon, Textes choisis, op. cit., S. 42. 23 M. Hahn, Präsozialismus: Claude-Henri de Saint-Simon, Stuttgart, Metzler, 1970, S. 46. <?page no="166"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 150 Für die Entwicklung von Auguste Comte, der lange Jahre Saint-Simons Sekretär war und gemeinsam mit ihm Artikel und Abhandlungen für verschiedene Zeitschriften verfasste, ist diese Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung entscheidend. Entscheidend ist für ihn auch Saint-Simons Gedanke, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts primär darauf ankommt, in Frankreich die Revolution zu beenden. Davon zeugen Saint- Simons Considérations sur les mesures à prendre pour terminer la Révolution (1820). Zu Recht bemerkt Michel Bourdeau, dass dieser Gedanke nicht nur Saint-Simon und Comte verband, sondern einer ganzen Generation als Richtlinie diente: „Für alle Angehörigen seiner [Comtes] Generation stellt sich die Frage: Wie kann man die Revolution beenden? “ 24 Diese Frage unterscheidet Saint-Simon und Comte grundsätzlich von Marx: Sie gibt andere Relevanzkriterien vor und lässt einen anderen Diskurs als Erzählung entstehen. Obwohl er im Jahre 1824 mit Saint-Simon brach und später nicht gut auf seinen früheren Arbeitgeber zu sprechen war, machte sich Comte dessen Sicht der Klassenbeziehungen und der historischen Entwicklung zu eigen, die Saint-Simon in drei Stadien einteilt: das theologische, das metaphysische und das positive oder industrielle (vgl. Abschn. 2 und 4). 25 Noch in seinem Catéchisme positiviste (1852), also vier Jahre nach der bürgerlich-proletarischen Revolution von 1848, stellt sich Comte eine friedliche Zusammenarbeit von Industriellen, Wissenschaftlern und Arbeitern vor. 26 Insgesamt wird deutlich, dass die als relevant postulierten Unterscheidungen und Gegensätze als semantische Basis den Ablauf der soziologischen Erzählung bestimmen: Während Marx die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, Bürgertum und Proletariat für entscheidend hält, beobachten Saint- Simon und Comte den Konflikt zwischen dem Ancien Régime und dem Bürgertum und stellen alle produktiven Kräfte der Gesellschaft den adeligen Müßiggängern gegenüber. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass Marx mehr als ein halbes Jahrhundert nach Saint-Simon, einem Denker des 18. Jahrhunderts, zur Welt kam und zwanzig Jahre jünger war als Comte, der immerhin als sein Zeitgenosse gelten kann; es hängt auch mit der labilen Konstitution der französischen Republik zusammen, die noch im 24 M. Bourdeau, Les Trois états. Science, théologie et métaphysique chez Auguste Comte, Paris, Editions du Cerf, 2006, S. 132. 25 Vgl. E. Durkheim, Le Socialisme, Paris, PUF (1928), 2011, S. 154: „(…) Nach Saint-Simon durchlaufen die europäischen Gesellschaften nacheinander drei soziale Systeme: das theologische oder feudale System, das metaphysische oder juristische System und das positive System. In dieser Formel erkennt man das berühmte Gesetz der drei Stadien, das Comte seiner Doktrin zugrunde legte. Sie stammt folglich von Saint-Simon.“ Allerdings findet man die ersten Skizzen dieses Schemas schon bei Turgot und Condorcet. 26 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 270-272. <?page no="167"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 151 ausgehenden 19. Jahrhundert (etwa im Jahre 1877) von traditionalistischen und monarchistischen Kräften in Frage gestellt wurde. 27 Trotz dieser kulturellen und politischen Unterschiede ist den drei Denkern eines gemeinsam: der moderne Gedanke, dass die vernünftige, menschliche Gesellschaft vor uns liegt. Davon zeugt das Ende von Saint-Simons Buch De la réorganisation de la société européenne (1814), in dem er sich, Entwicklungen des 20. Jahrhunderts antizipierend, für ein vereinigtes Europa einsetzt: „Das goldene Zeitalter der Menschheit liegt keineswegs hinter, sondern vor uns; es hängt von der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Ordnung ab (…).“ 28 Um diese Vervollkommnung geht es bei Comte. 2. Das „Drei-Stadien-Gesetz“ und die „Enzyklopädie“: Säkularisierung und Rationalisierung Auguste Comte verdankt seine Bekanntheit als Philosoph und Soziologe vor allem dem sogenannten Drei-Stadien-Gesetz, dem zufolge die Entwicklung der Menschheit (und auch des einzelnen Menschen) in drei Stadien eingeteilt werden kann: in ein theologisches, ein metaphysisches und ein positives oder wissenschaftliches. Der Gedanke an eine solche Differenzierung geistiger Zustände findet sich in rudimentärer Form bereits bei dem Physiokraten Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781), der auch Condorcet beeinflusst hat, und vor allem bei Saint-Simon. 29 Allerdings geht Turgot in seinem Aufsatz über Fortschritt und Niedergang in Wissenschaft und Kunst 30 von dem Gedanken aus, dass die drei Ideensysteme - das theologische, das metaphysische und das positiv-wissenschaftliche - in verschiedenen gesellschaftlichen Formationen koexistieren und nicht nacheinander auftreten. Obwohl Comte diese Koexistenz durchaus wahrnimmt 31 (auch in unserer Gesellschaft ist ein Nebeneinander von religiösen, metaphysischen und wissenschaftlichen Vorstellungen noch nachweisbar), geht er zumeist von dem Gedanken aus, dass wir es mit einer Stufenfolge und einem Fortschritt 27 Vgl. F. Pisani-Ferry, Le Coup d’Etat manqué du 16 mai 1877, Paris, Laffont, 1965. 28 Cl.-H. de Saint-Simon, De la réorganisation de la société européenne, Paris, Editions Payot-Rivages, 2014, S. 143-144. 29 Vgl. M. J. A. Condorcet, Vie de Monsieur Turgot (1786), Paris, Slatkine (Reprints), 2012 sowie E. Durkheim, Le Socialisme, op. cit, S. 114 und S. 154. 30 Vgl. Th. L. M. Thurlings, Turgot en zijn tijdgenoten. Schets van de bevestiging van de economische wetenschap, Wageningen, Veenman en Zonen, 1978, S. 161-162. 31 Vgl. A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 300: „Heute koexistieren drei verschiedene Systeme im Herzen der Gesellschaft: das theologisch-feudale System, das wissenschaftlich-industrielle System und schließlich das vorübergehende Mischsystem der Metaphysiker und Legisten.“ <?page no="168"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 152 zu tun haben, die beide auf eine Rationalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft hinauslaufen. In ihren ersten Entwicklungsphasen denkt die Menschheit vorwiegend theologisch (zunächst fetischistisch, dann polytheistisch, später monotheistisch), danach metaphysisch-religionskritisch und schließlich positivwissenschaftlich. In Discours sur l’ensemble du positivisme (1848), einer Schrift aus dem Spätwerk, wird das Gesetz als Stufenfolge klar dargestellt: „Zunächst das theologische Stadium, in dem eindeutig spontane Fiktionen vorherrschen, die durch nichts zu beweisen sind; danach das metaphysische Stadium, das gewöhnlich durch die Vorherrschaft personifizierter Abstraktionen oder Entitäten geprägt ist, und schließlich das positive Stadium, das auf der exakten Einschätzung der äußeren Wirklichkeit gründet.“ 32 In der Originalfassung des Cours de philosophie positive heißt es wörtlich: „(…) Chaque branche de nos connaissances, passe successivement par trois états théoriques différents : l’état théologique, ou fictif; l’état métaphysique, ou abstrait; l’état scientifique, ou positif.“ 33 Kurz danach ist vom „menschlichen Geist“ („esprit humain“) die Rede, und es fragt sich, ob Comtes „Drei-Stadien-Gesetz“ nicht eher eine geistesgeschichtliche als eine gesellschaftswissenschaftliche Entwicklung beschreibt. Es soll jedoch deutlich werden, dass dieses „Gesetz“, das eher eine beobachtbare Regelmäßigkeit oder Tendenz als ein Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinne bezeichnet, auch materielle Komponenten hat. Das Nacheinander der Stadien fasst Comte - ähnlich wie Hegel die Entfaltung der Bewusstseinsformen - als einen Prozess auf, der letztlich zwar auf menschliches Denken und Handeln zurückzuführen ist, zugleich aber als eine sich oft verselbständigende Abfolge von Ereignissen und Konfigurationen aufgefasst werden kann, in deren Strukturen das Handeln von individuellen und kollektiven Aktanten eingebettet ist. Obwohl Comtes Diskurs, wie sich zeigen wird, durchaus ein Aktantenmodell zugrunde liegt, ist das Prozesshafte seiner Erzählung stärker ausgeprägt als bei Marx. Die Grundform des theologischen Stadiums ist nicht der Monotheismus des europäischen Mittelalters, wie man vermuten könnte, sondern der Polytheismus. „Für Comte ist der Polytheismus die vollendete Form des Theologismus“ 34 , erklärt Laurent Fedi. Es geht primär um den Polytheismus der Antike, der nach dem Zerfall des Römischen Reiches allmählich vom christlichen Monotheismus des Mittelalters abgelöst wird. 32 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme (Hrsg. A. Petit), Paris, Flammarion, 1998, S. 73. 33 A. Comte, „Cours de philosophie positive“, in: ders., Philosophie des Sciences, op. cit., S. 52. 34 L. Fedi, Comte, Paris, Les Belles Lettres, 2004, S. 118. <?page no="169"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 153 Comte vertritt nun die etwas ungewöhnliche Ansicht, dass die moderne Ära als „metaphysische“ Kritik am feudal-theologischen System nicht erst in der Renaissance, sondern schon im ausgehenden Mittelalter, genauer: im 14. Jahrhundert, beginnt. Fedi hält diese Ansicht für eine von Comtes „gewagtesten und vielleicht fruchtbarsten“ 35 Thesen. Zugleich mit dem Zerfall des theologischen Weltbildes, das dem Prozess der Verweltlichung nicht mehr standhalten kann, beginnt das metaphysische Stadium, das seinen ersten Höhepunkt in der Reformation und seinen zweiten in der Aufklärung erreicht, die in die Französische Revolution mündet. Im Catéchisme bezeichnet Comte das metaphysische Stadium als „Übergangszeit“, wenn er zu den „drei Stadien“ bemerkt: „Das erste ist immer provisorisch, das zweite vorübergehend (transitoire) und das dritte als einziges endgültig.“ 36 Obwohl Comte verständlicherweise dem dritten, dem „positiven“ Stadium die allergrößte Bedeutung beimisst, kann jemandem, der seine Philosophie aus der Sicht der Kritischen Theorie betrachtet, das zweite, das metaphysisch-kritische Stadium, als das fruchtbarste erscheinen. Denn dieses Stadium prägt der kritische Geist, der gegen den Aberglauben ins Feld zieht, mit Voltaire und Diderot die Gewissheiten des theologischen Systems in Frage stellt und den Einzelnen von der Bevormundung durch das scholastische Dogma befreit. Der positiv denkende Comte kann dieser kritischen Negativität keinen Reiz abgewinnen und lässt keine Gelegenheit aus, sich von Rousseaus Gesellschaftskritik, die er für das metaphysische Denken als typisch erachtet, zu distanzieren. 37 Außer den Philosophen und Schriftstellern betrachtet er „die Rechtsgelehrten als eine Art Metaphysiker“ 38 und macht sie für den Radikalismus der Französischen Revolution verantwortlich. Er wendet sich gegen die „revolutionäre Metaphysik“ und „die metaphysische oder revolutionäre Politik“. 39 Trotz seiner Aversion gegen Negativität und Kritik, aus der der Ordnungstheoretiker Comte (wie Hegel) nie ein Hehl macht, unterstreicht er immer wieder die historische Funktion des metaphysischen Stadiums. Insgesamt begrüßt er „die allmähliche Zerstörung des theologischen und militärischen Systems unter dem wachsenden Einflusse des metaphysischen Geistes“. 40 Dieser „Geist“ hat insofern eine historische Funktion, als er wesentlich zur Überwindung der feudal-theologischen Verhältnisse beiträgt: „Umgekehrt kann man nicht mehr bestreiten, daß ohne die revolutionäre 35 Ibid., S. 124. 36 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 77. 37 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 560. 38 Ibid., S. 410. 39 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 32. 40 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 365. <?page no="170"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 154 Lehre alle Ideen des politischen Fortschrittes, wie vage sie auch heute sein mögen, unter der finstern Vorherrschaft der alten Philosophie notwendig verschwinden würden.“ 41 In diesem Satz kommt die ambivalente Einstellung Comtes der Aufklärung gegenüber zum Ausdruck: Einerseits begrüßt er ihre kritische Wirkung, die das alte theologische System zersetzt; andererseits möchte er diese Wirkung - zusammen mit der Revolution - so rasch wie möglich beenden, um die neue, positiv-wissenschaftliche Ordnung etablieren zu können. Denn Comte liegt sehr viel daran, Fortschritt und Ordnung so aufeinander abzustimmen, dass der Fortschritt im Rahmen der Ordnung stattfindet und das revolutionäre Chaos überflüssig wird. Es geht darum, „die Bedingungen der Ordnung mit denjenigen des Fortschritts in Einklang zu bringen“. 42 Abermals wird deutlich, wie sehr nicht nur Saint-Simons Denken, sondern auch das Comtes von der Französischen Revolution und ihren Nachwirkungen, vor allem den Napoleonischen Kriegen, geprägt ist. Im positiv-wissenschaftlichen Stadium, das Comte für endgültig (aber nicht für statisch) hält, soll es vernünftig zugehen: Vage metaphysische Begriffe wie Rousseaus „Volkssouveränität“ oder volonté générale werden verschwinden, und die Probleme der Gesellschaft werden mit Hilfe wissenschaftlicher Theoreme und Termini gelöst werden. Wie stellt sich Comte dieses „positive Stadium“, das sich jenseits von Theologie und Metaphysik entfalten soll, konkret, soziologisch vor? Dazu heißt es in seinem „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“(1822): „In dem einzurichtenden System wird die geistliche (spirituel) Macht in den Händen der Wissenschaftler sein und die weltliche Macht in den Händen der Industriekapitäne (chefs des travaux industriels).“ 43 Erst in späteren Arbeiten werden die Frauen und das Proletariat in dieses Machtgefüge aufgenommen, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird. Auch hier wird deutlich, dass Comte trotz aller Unstimmigkeiten und Verstimmungen, die es zwischen ihm und Saint-Simon gegeben haben mag, einige Gedanken seines ehemaligen Arbeitgebers und Weggefährten weiterentwickelt. Die Bezeichnung geistlich (spirituel) lässt Comtes anhaltende Verbundenheit mit dem katholisch-theologischen Gesellschaftssystem erkennen. Er kann sich - auch in einer völlig säkularisierten Welt - eine Gesellschaftsordnung ohne eine „Priesterklasse“ nicht vorstellen (vgl. Abschn. 3) und schlägt vor, dass die Wissenschaftler im „positiven Stadium“ das Priesteramt übernehmen. Nicht zufällig nimmt sein Catéchimse positiviste (Positivistischer Katechismus) die Form eines Dialogs zwischen einem Priester- 41 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 66. 42 Ibid., S. 81. 43 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 266. <?page no="171"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 155 Wissenschaftler und einer Frau an, in dessen Verlauf der weltliche Priester seiner Gesprächspartnerin die neue Ordnung erläutert. (In Wirklichkeit ist dieser Dialog ein Monolog, weil die Gesprächspartnerin alle Ansichten des Priesters teilt: Sie ist eine narzisstische Selbstprojektion des Autors im Sinne des Freudschen Ichideals.) 44 In einer seiner Vorlesungen über Metaphysik weist Adorno ganz richtig darauf hin, dass man bei Comte „mehr Invektiven gegen die Metaphysik finde[t] als gegen die Theologie“, und er fügt hinzu, Comte hätte in seiner Spätphase „die Wahnidee [gehabt], aus der Wissenschaft selber eine Art von Kult und etwas wie eine positive Religion zu machen“. 45 In diesem Zusammenhang teilen Bruno Péquignot und Pierre Tripier Comtes Entwicklung in zwei Phasen ein: „eine erste Phase, während der er die rationalen Prinzipien einer allgemeinen und systematischen Organisation der Wissenschaften erarbeitet, und eine zweite Phase, während der er die Grundlagen einer rationalen Religion der Menschheit, der positivistischen Religion, entwirft“. 46 Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass Comtes Wunsch, in der „positiven Gesellschaftsordnung“ die Form der christlichfeudalen Ordnung (religiöse Doktrin, Priesterklasse, Riten) beizubehalten, mit seiner katholischen Erziehung zusammenhing und trotz aller Säkularisierungsschübe nicht erlosch. Damit wäre zugleich sein eigenes Dictum bestätigt: „Malgré soi, on est de son siècle.“ („Man ist, ob man will oder nicht, ein Kind seines Jahrhunderts.“) 47 So ist es zu erklären, dass er am Ende seines Systems der positiven Politik seine „positive Religion“ als Nachfolgerin des Monotheismus präsentiert: „Einer echten Universalität ausschließlich fähig vereint der Positivismus die entgegengesetzten Qualitäten seiner beiden monotheistischen Vorläufer, wobei er besser als der Katholizismus zu den Unteren passt, die er adelt, und mehr als der Islamismus die würdige Herrschaft der Oberen konsolidiert.“ 48 Tatsächlich sieht Comtes „Menschheitsreligion“ dem Ka- 44 Ichideal: „Von Freud im Rahmen seiner zweiten Theorie des psychischen Apparats verwendeter Ausdruck: Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzißmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das das Subjekt sich anzugleichen sucht.“ (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp [1972], 1973, S. 202- 203.) 45 Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), Hrsg. R. Tiedemann, in: ders., Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. XIV (Hrsg. Th. W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 16. 46 B. Péquignot, P. Tripier, Les Fondements de la sociologie, Paris, Nathan, 2000, S. 30. 47 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 239. 48 A. Comte, System der positiven Politik, Bd. IV, Wien, Turia und Kant, 2012, S. 445. <?page no="172"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 156 tholizismus der Form nach zum Verwechseln ähnlich - zumal sie auch die römische Hierarchie größtenteils reproduziert. Weniger banal als Hinweise auf Comtes Sozialisation ist die Überlegung, dass Comte im Laufe der Jahre der Gedanke kam, dass eine Gesellschaftsordnung nicht dauerhaft auf Vernunft und Wissenschaft gründen kann. Daher suchte er nach einem konsensfähigen Wertsystem, das gleichsam als sozialer Kitt ein stabiles Zusammenleben ermöglichen sollte. Dieser Gedanke wurde später von Soziologen wie Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Talcott Parsons aufgegriffen und konkretisiert. Es ist einer der Grundgedanken der Soziologie, wenn er auch bei Comte in einem sonderbaren Gewand auftritt, und kann nicht auf eine „Wahnidee“ (Adorno) reduziert werden. Denn Comte hat - wie kein anderer vor ihm - den Prozess der Säkularisierung untersucht und kam zu dem Schluss, dass eine völlig verweltlichte Gesellschaft, in der jeder Einzelne nur seinen persönlichen Nutzen vor Augen hat, nicht überleben kann. Sein Entwurf einer weltlichen „Menschheitsreligion“ ist eine Antwort auf die in der Postmoderne hochaktuelle Frage, wie dem sich ausbreitenden Individualismus als Egozentrik und Egoismus zu begegnen sei. Dass diese Antwort fragwürdig ist und heute skurril anmutet, liegt auf der Hand. Zurück zur „ersten Phase“ von Comtes wissenschaftlicher Entwicklung und zu seiner „systematischen Organisation der Wissenschaften“. Es geht um sein von den Enzyklopädisten beeinflusstes Projekt einer „Enzyklopädie der Wissenschaften“, das aus seiner Formulierung des „Drei-Stadien- Gesetzes“ hervorgeht. Das Projekt kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Es gilt zu zeigen, dass Naturwissenschaften wie Astronomie, Physik und Chemie allmählich aus dem Bann der Religion und des Mythos heraustreten (vom polytheistischen Ursprung der Astronomie zeugen noch die Namen einiger Planeten: Jupiter, Mars, Venus) und in einem frühen Stadium zu positiven, tatsachenorientierten Wissenschaften werden. Dieser Prozess der Emanzipation hat einerseits einen Säkularisierungsschub zur Folge, andererseits eine Rationalisierung des sozialen Lebens, die wesentlich zur Entstehung einer modernen Gesellschaft beiträgt. Zu Recht weist daher Henri Gouhier darauf hin, dass Comte im Anschluss an seine Formulierung des Drei-Stadien-Gesetzes die enzyklopädische Hierarchie entdeckte, die sich gleichsam von selbst aus diesem Gesetz ergibt: „Comte hat das Gesetz der enzyklopädischen Hierarchie nach dem der drei Stadien entdeckt, denn das Drei-Stadien-Gesetz ermöglicht erst die soziale Physik.“ 49 Als „soziale Physik“ bezeichnet Comte zunächst die Soziologie, der er ihren Namen gab (kein geringes Verdienst). 49 H. Gouhier, La Jeunesse d’Auguste Comte, op. cit., S. 296. <?page no="173"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 157 Werner Fuchs-Heinritz fasst zusammen: „Die Grundwissenschaften sind: Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und die jetzt zu begründende Soziale Physik (bzw. Soziologie), und zwar in dieser Reihenfolge. (…) Als erste hat die Astronomie das theologische und das metaphysische Stadium hinter sich gelassen, als letzte wird die Soziologie das tun.“ 50 Dies ist nun keineswegs sicher. Comte selbst zeigt am konkretesten, dass er Religion und Sozialwissenschaft nicht sauber zu trennen vermag, die Einflüsse des Protestantismus und des Sozialdarwinismus in der frühen amerikanischen Soziologie wurden von Robert C. Bannister ausführlich untersucht 51 , und neuerdings reagiert der Soziologe Amitai Etzioni auf einen entfesselten Individualismus ideologisch, indem er in seinen wissenschaftlichen Publikationen unverhohlen den religiös gefärbten Kommunitarismus predigt und - wie seinerzeit Comte - um Anhänger wirbt. 52 Somit erscheint Comtes Gedanke, dass die Soziologie als komplexeste Wissenschaft die vorwiegend naturwissenschaftliche Enzyklopädie der Wissenschaften abschließt, heute als eine der vielen soziologischen (positivistischen) Illusionen. In diesem Zusammenhang ist es kaum hilfreich, wenn Comte in seiner Rede über den Geist des Positivismus erklärt: „Zunächst in seiner ältesten und verbreitetsten Bedeutung betrachtet, bezeichnet das Wort positiv das Tatsächliche im Gegensatz zum Eingebildeten (…).“ 53 Ist das von ihm konstruierte oder imaginierte „positive Stadium“ als „tatsächlich“ aufzufassen oder als „eingebildet“, „chimérique“ 54 , wie es im französischen Original heißt? Ist die Soziologie „tatsächlich“ als „positive Wissenschaft“ analog zur Physik oder Astronomie begründbar - oder handelt es sich auch in diesem Fall um eine Schimäre? Angèle Kremer Marietti mag durchaus Recht haben, wenn sie darauf hinweist, dass Comte keineswegs als ein Szientist anzusehen ist, der eine Universalwissenschaft ins Auge fasst und sich um die Besonderheit und die spezifischen Verfahren einzelner Wissenschaften - etwa der Soziologie - nicht sorgt. Comte hatte nicht die Absicht, die Soziologie als Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben auf die Biologie als Elementar- 50 W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1998, S. 147. 51 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity 1880- 1940, Chapel Hill-London, Univ. of North Carolina Press, 1987, S. 233. 52 Vgl. A. Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, London, Harper-Collins-Fontana, 1995, S. 253-267. Wie Comte betont Etzioni die Pflichten des Einzelnen, die die Rechte ergänzen oder (Comte) ersetzen sollten. Beide Autoren sind antiliberal, Comte stärker als Etzioni. 53 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (Hrsg. I. Fischer), Hamburg, Meiner, 1994, S. 45. 54 A. Comte, Discours sur l’esprit positif, Paris, Vrin, 1983, S. 64. <?page no="174"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 158 wissenschaft vom Menschen zu reduzieren: „Man muss anerkennen, dass Comte den spezifischen Charakter der gesellschaftlichen Erscheinungen entdeckt hat: ein Verdienst, das man ihm streitig macht, wenn man ihm ein sogenanntes ‚biologisches Modell‘ zuschreibt.“ 55 Diese Einschätzung ist teilweise richtig, verdeckt aber die Tatsache, dass Comte versucht, den positiv-wissenschaftlichen Charakter der Soziologie im Rahmen einer Enzyklopädie zu bestimmen, deren Prinzipien von der Mathematik und den Naturwissenschaften (Astronomie, Physik, Chemie, Biologie) vorgegeben werden. Dadurch kommt es zu einem „Methodenmonismus, der Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften vereint“ 56 , wie Jürgen Brankel es ausdrückt. In diesem Kontext verschwindet eine Besonderheit der Soziologie aus dem Blickfeld: ihre Verankerung in religiösen Vorstellungen und ideologischen Wertsetzungen. Diese Besonderheit unterscheidet sie ganz wesentlich von einer Naturwissenschaft wie der Physik und lässt Comtes Ausdruck physique sociale fragwürdig erscheinen. Fragwürdig ist darüber hinaus Comtes gesamte Enzyklopädie als Taxonomie oder Klassifikation, die keineswegs, wie Jürgen Brankel meint, „alle Wissenschaften miteinander verbindet“. 57 Denn Comte lässt die Psychologie, wie Jacques Muglioni bemerkt, umstandslos in der Gehirnforschung aufgehen: „Zwischen der Gehirnphysiologie, die nach Comte von Gall nur angekündigt wird, und der philosophischen Menschheitsgeschichte hat die Psychologie daher keinen Platz.“ 58 Noch gravierender als dieser Reduktionismus ist Comtes Auslassung der Wirtschaftswissenschaft, die er als Leser von Adam Smith und als Kritiker der Politischen Ökonomie durchaus kannte. Kremer Marietti verharmlost allzu sehr, wenn sie diese Auslassung aus einer rein persönlichen Vorliebe oder Entscheidung ableitet: „Comte kann in der Politischen Ökonomie nicht die Sozialwissenschaft erkennen, die er sucht (…).“ 59 Denn die Ausblendung der Wirtschaftswissenschaft hat, wie jede sozialwissenschaftliche Relevanzentscheidung und die sich aus ihr ergebende Klassifikation, ideologisch-politische Folgen. 60 Hätte Comte eine kritisch reflektierte Politische Ökonomie in seine Enzyklopädie aufgenommen, 55 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte. Entre le signe et l’histoire, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 18. 56 J. Brankel, Theorie und Parxis bei Auguste Comte. Zum Zusammenhang von Wissenschaftssystem und Moral, Wien, Turia und Kant, 2008, S. 46. 57 Ibid., S. 30. 58 J. Muglioni, Auguste Comte. Un philosophe pour notre temps, Paris, Kimé, 1995, S. 159. 59 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 192. 60 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VII. 3 (d): „Die semantische Ebene: Relevanz, Klasse und Kode“. <?page no="175"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 159 wäre er möglicherweise zu der Einsicht gelangt, dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, Bürgertum und Proletariat abzeichnet; dass der Tauschwert alle kulturellen Werte aushöhlt, so dass schließlich kein alle Menschen verbindendes soziales Wertsystem mehr vorausgesetzt werden kann. Möglicherweise wusste er nur allzu gut, warum er die Ökonomie ausklammerte. 3. Die semantische Grundlage des Comteschen Diskurses und sein Aktantenmodell Das Drei-Stadien-Gesetz und die „Enzyklopädie“ lassen in großen Zügen die semantische Basis von Comtes Diskurs erkennen, die diesem Diskurs als Erzählung eine bestimmte Richtung vorgibt. Diese Richtung hängt stets von den semantischen Relevanzkriterien und Selektionen ab, für die sich ein Beobachter der Gesellschaft entscheidet. Entscheidet er sich für den Gegensatz Kapital / Arbeit, entsteht eine Erzählung, in der die kollektiven Aktanten „Bürgertum“ und „Proletariat“ gegeneinander antreten. Diese Erzählung vermied Comte u.a. dadurch, dass er die Wirtschaftswissenschaft aus seiner Enzyklopädie ausschloss und im Anschluss an sein Drei-Stadien- Gesetz einen anderen semantischen Gegensatz für relevant erklärte: den zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft. Dieser von Comte im Anschluss an die Enzyklopädisten, an Condorcet und Saint-Simon postulierte Gegensatz lässt ein Aktantenmodell und eine Erzählung entstehen, in denen ganz andere Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar werden als bei Marx und den Marxisten. Im Folgenden soll zwar durchaus die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Ausgliederung der Ökonomie aus der Comteschen Enzyklopädie politisch brisant ist; diese Tatsache soll aber nicht dazu dienen, Comtes Diskurs vorab zu diskreditieren. Denn im Vordergrund steht hier die Frage, welche Tatbestände, Ereignisse und Entwicklungen Comte wahrnahm, die Marx aufgrund seiner semantischen und narrativen Vorentscheidungen nicht wahrnehmen konnte. Es geht somit um eine vergleichende Beobachtung dritten Grades, die Comtes innovative Andersartigkeit (im Hinblick auf Marx) erkennen lässt, schließlich aber - im nächsten Abschnitt - Marx und Comte miteinander konfrontiert, um die Vorzüge und Defizite ihrer beiden Diskurse aus heutiger Sicht erkennbar zu machen. Comte spricht zwar immer wieder vom „Gang der Zivilisation“ 61 und unterstreicht damit den Prozesscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung; dies hindert ihn aber nicht daran, bestimmte Instanzen für diese Ent- 61 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 238. <?page no="176"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 160 wicklung verantwortlich zu machen und seiner Erzählung ein Aktantenmodell zugrunde zu legen. In Übereinstimmung mit dem als relevant postulierten Gegensatz Glaube / Vernunft tritt in allen seinen Teilerzählungen und in seinem Diskurs als ganzem, der trotz aller Veränderungen, die er durchmacht 62 , für die Einheit seines Werks bürgt, die Menschheit als Auftraggeberin und die Gottheit oder (allgemeiner) die Transzendenz als Gegenauftraggeberin auf. Freilich erscheinen beide abstrakte oder mythische Aktanten häufig unter Synonymen wie „Mensch“, „Gesellschaft“, „übernatürliche Kräfte“, „Gott“, „Geist“, „Götter“ (einige Revolutionäre und „Metaphysiker“ wandten sich dem antiken Polytheismus zu). Bisweilen wird die Menschheit als „Großes Wesen“(„Grand-Etre“) bezeichnet - etwa im System der positiven Politik. Die „wissenschaftliche Vernunft“ tritt bei Comte als das Subjekt der Geschichte oder der gesellschaftlichen Entwicklung, d.h. als positiv konnotierter Aktant auf, dem zusammen mit den Industriellen die „positiven Wissenschaftler“, allen voran Comte selbst, als Akteure angehören. Dieses von der „Menschheit“ beauftragte Subjekt wird von Comte mit optimalen Modalitäten wie „Rationalität“, „Wissenschaftlichkeit“ und „Tatsachenwissen“ ausgestattet, die seinen Sieg über alle Widersacher wahrscheinlich erscheinen lassen. Das Antisubjekt, das die Entwicklung (den Fortschritt) im Auftrag der „Transzendenz“ rückgängig zu machen versucht oder sie stört, hat einen Doppelcharakter, weil es sich aus Theologie und Metaphysik zusammensetzt. Als kollektiver Aktant ist es mit negativen Modalitäten wie „Rückständigkeit“ und „Irrationalismus“ behaftet, denen es seine Niederlagen verdankt. Es gleicht einem zerstrittenen Paar oder einer labil geschichteten Koalition von Kräften, von denen einige zeitweise die Sache der Vernunft und des Wissensfortschritts begünstigen. Während die „Theologie“, deren Akteure Adelige, Priester und Könige sind, zur Ordnung drängt und - ohne es zu wollen - bisweilen den vernünftigen, geordneten Fortschritt ermöglicht, schwächt die „Metaphysik“ (Philosophen, Literaten, Rechtsgelehrte) die „Theologie“ durch Kritik und revolutionäre Gesinnung. Sie fördert dadurch das narrative Programm des Subjekt-Aktanten Vernunft. Deren „List“ im Sinne von Hegel macht sich in den Konflikten zwischen Akteuren der Theologie und denen der „Metaphysik“ bemerkbar. Der prozesshafte Charakter der sozialen Entwicklung ist auf diese Konflikte zurückzuführen, die bewirken, dass immer wieder Konstellationen und Situationen entstehen, die in keiner Weise den Absichten der Akteure und Aktanten entsprechen. 62 Vgl. M. Bourdeau, Les Trois états, op. cit., S. 143. <?page no="177"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 161 Dennoch ist bei Comte die Gegenwart historischer Intentionalität überall zu beobachten. Denn die Spannungen innerhalb des doppelten und sich ständig verdoppelnden Antisubjekts macht sich die Vernunft als positive Wissenschaft zunutze, um den Fortschritt im Interesse der Menschheit als Auftraggeberin voranzutreiben: um ihr narratives Programm durch die Instrumentalisierung sozialer Prozesse zu verwirklichen. Von diesem Programm zeugt die folgende Passage aus dem Cours de philosophie positive (dt. Soziologie), die mit dem revolutionären Sieg der „Metaphysik“ über die „Theologie“ beginnt: „Auch mußte der politische Triumph der metaphysischen Schule, wie für jeden anderen Gedankenkreis, eine unerläßliche Vorbereitung für das erste soziale Auftreten der positiven Schule bilden, welcher die tatsächliche Beendigung der revolutionären Epoche durch die definitive Begründung eines ebenso fortschrittlichen wie regelmäßigen Systems ausschließlich vorbehalten ist.“ 63 Aber geht es in der gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich um eine Auseinandersetzung zwischen „Schulen“ als geistigen Richtungen? Sind nicht auch materielle, ökonomische Interessen im Spiel, die Gegensätze zwischen Landadel und Hochfinanz, zwischen Industriellen und Arbeitern zeitigen? Comte geht zwar immer wieder auf konkrete Aktanten und Akteure (Adelige und Priester, Literaten und Rechtsgelehrte) ein, neigt aber häufig dazu, kompakte soziale Interessen auf hegelianische Art in geistige Kontroversen, in „Schulen“ zu verflüchtigen - oder Eliten für die soziale Entwicklung verantwortlich zu machen. 64 Davon zeugt seine ausführliche Analyse der „revolutionären Bewegung (…), die seit dem 14. Jahrhundert die Elite der Menschheit mehr und mehr dazu drängt, sich von dem theologischen und militärischen Systeme völlig frei zu machen“. 65 Hat nicht Saint-Simon (und zeitweise auch Comte) die Masse der Werktätigen, Industrielle, Bauern und Arbeiter, dem müßigen Adel entgegengesetzt? Wie wirkt sich die auch materiell, ökonomisch bedingte Konfrontation dieser sozialen Gruppierungen auf den Fortgang der Geschichte aus? Comte weicht solchen Fragen aus (vgl. Abschn. 4). Sein narratives, teleologisch konstruiertes 66 Programm ist auf ein Ziel gerichtet, das mit der Beauftragung der „wissenschaftlichen Vernunft“ durch die „Menschheit“ als „Grand-Etre“ vorgegeben wird: die Verwirklichung des positiv-wissenschaftlichen Stadiums der Gesellschaft. Diese Verwirklichung ist zugleich der Objekt-Aktant des Diskurses im Sinne von 63 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 26-27. 64 In System der positiven Politik, Bd. IV, S. 317 heißt es unmissverständlich: „Da die okzidentale Revolution mehr intellektuell als sozial ist (…).“ 65 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 569. 66 W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, op. cit., S. 139. <?page no="178"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 162 Greimas. 67 Denn im positiven Stadium soll es zu einer Befreiung der Auftraggeberin „Menschheit“ von allen theologischen Fesseln und metaphysischen Irrungen kommen. In Comtes Erzählung können die einzelnen Akteure der kollektiven Aktanten „Vernunft“ bzw. „Theologie-Metaphysik“ als Helfer und Widersacher aufgefasst werden. Während die Sache der wissenschaftlichen (positiven) Vernunft von Denkern wie Comte - später Emile Littré und anderen Positivisten - vertreten wird, kämpfen auf der anderen Seite reaktionäre Adelige und Priester sowie kritische Philosophen und Literaten (im Sinne von Voltaire und Rousseau) gegen den wissenschaftlichen Geist: die einen für die Theologie, die anderen für eine revolutionäre Metaphysik. Paradoxerweise nennt Comte „Theologie“ und „Metaphysik“ oft in einem Atemzug und konstituiert dadurch einen ambivalenten Doppelaktanten als Gegner der positiven Vernunft. 68 Wie sehr sich Comte als Akteur des Aktanten „wissenschaftliche Vernunft“ mit diesem identifiziert, lässt eine Passage aus dem Cours de philosophie positive (dt. Soziologie, Bd. III) erkennen, in der seine Erzählung der Gesellschaft unmerklich zur Ich-Erzählung gerät: „Da ich, wie ich zu sagen mich erkühne, diese neue Grundwissenschaft geschaffen und bis jetzt allein gepflegt habe (…).“ 69 Aus erzähltheoretischer Sicht kommt diesem Satzanfang besondere Bedeutung zu: erstens, weil der Erzähler als Ich-Erzähler selbst in seiner Geschichte auftritt, was in soziologischen Diskursen zwar durchaus vorkommt, aber doch recht ungewöhnlich ist; zweitens, weil dieser Erzähler zugibt, dass er seinen Subjekt-Aktanten, die „wissenschaftliche Vernunft“ als positive „Grundwissenschaft“, selbst „geschaffen“ hat. In seinem „Plan des travaux scientifiques pour réorganiser la société“ heißt es ergänzend: „Ich habe es gewagt, diesen Plan zu entwerfen, und ich unterbreite ihn feierlich den Wissenschaftlern Europas.“ 70 Hier drängt sich die Vermutung auf, dass Comte eine Erzählung konstruiert hat, deren Auftraggeberin - „die Menschheit“ - auch seine Schöpfung ist. Dies ist nicht weiter verwunderlich: denn die Theologen haben ihre Götter als Auftraggeber konstruiert, der „Weltgeist“ ist Hegels ganz persönliches Konstrukt, und dies gilt auch für Marxʼ „Proletariat“, das als von der „Geschichte“ 67 Vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979: „objet“. 68 Vgl. A. Comte, System der positiven Politik, Bd., IV, op. cit., S, 321, wo Theologie und Metaphysik als „Rückschrittlichkeit und Anarchie“ und als „inkohärente Mischung“ charakterisiert werden. 69 A. Comte, Soziologie, Bd. III, op. cit., S. 560. 70 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 277. <?page no="179"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 163 beauftragtes Subjekt und Fokalisator im Marxschen Diskurs entstand (vgl. Kap. IV). In Comtes Diskurs erfüllt die Funktion des Fokalisators der positive Wissenschaftler als Akteur des überindividuellen Aktanten Vernunft. Mit seinen Augen wird das Weltgeschehen betrachtet, aus seiner Sicht und mit Hilfe seiner Modalitäten wird an Theologen und Metaphysikern als Antisubjekten Kritik geübt. Davon zeugt die ausgeprägte Tendenz zur Ich-Erzählung, die man bei Marx vergeblich suchte und die den narzisstischen Zug in Comtes Diskurs erkennen lässt. Marxʼ Fokus liegt nicht in ihm selbst, sondern außerhalb von ihm: in einem - durchaus mythisierten - „Proletariat“. Vor allem in Comtes Spätwerk fällt dem „Proletariat“ auch eine besondere Rolle zu. Es ist jedoch nicht die des Fokalisators, sondern die des Adressaten (destinataire, Greimas). In Werken wie Discours sur l’ensemble du positivisme (1848) und Catéchisme positiviste (1852) lässt Comte zwei (potenzielle) Adressaten der wissenschaftlichen Vernunft auftreten, die zugleich seine Adressaten und Helfer sind oder sein könnten: die „Proletarier“ und die „Frauen“. Comtes Überlegungen zu dieser Erweiterung und Erneuerung der positivistischen Theorie klingen plausibel: Anders als die gebildeten Bürger, deren Denken in religiösen und metaphysischen Vorurteilen befangen ist, sind Proletarier und Frauen aufgrund ihrer Bildungsferne eher für die Argumente der positiven Wissenschaft empfänglich. Sie könnten dem Positivisten helfen, die Verwirklichung des „positiven Stadiums“ zu beschleunigen. Dazu heißt es bereits in der Rede über den Geist des Positivismus (1844): „Wenn die berühmte tabula rasa von Bacon und Descartes jemals vollständig verwirklicht werden könnte, wäre es gewiß bei den heutigen Proletariern, die vor allem in Frankreich sich weit mehr als irgendeine andere Klasse dem Idealbild jener die rationale Positivität vorbereitenden Verfassung nähern.“ 71 In diesem Zusammenhang bezeichnet Angèle Kremer Marietti das Proletariat zu Recht als „Helfer der geistlichen Macht“ („auxiliaire du pouvoir spirituel“). 72 Comte selbst spricht in Discours sur l’ensemble du positivisme im Zusammenhang mit den Proletariern von „entscheidenden Helfern der neuen Philosophen“ („auxiliaires décisifs des nouveaux philosophes“). 73 Das Proletariat tritt hier nicht als Subjekt der Geschichte auf - wie bei Marx -, sondern als Adressat und Helfer des positiven Wissenschaftlers oder der positiven Wissenschaft, der es helfen soll, das positive gesellschaftliche 71 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, op. cit., S. 93. 72 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 199. 73 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme, op. cit., S. 164. <?page no="180"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 164 Stadium schneller zu erreichen. Für Comte ist nicht die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse, sondern deren geistige Einstellung entscheidend. Diese Einstellung meint Comte auch bei den Frauen anzutreffen, die er als homogene Gruppe auffasst, ohne sich um Standes- und Klassengegensätze zwischen adeligen und bürgerlichen Frauen einerseits und Arbeiterinnen oder Bäuerinnen andererseits zu sorgen. Die Struktur des Catéchisme positiviste legt recht eindeutig die Führungsrolle des positiven Denkers fest: Zusammen mit den Proletariern sollen sich die Frauen von ihren bisherigen geistigen Führern - den Theologen und Metaphysikern - trennen und sich dem positiven Denken (Comtes) zuwenden. 74 Im Kräfteverhältnis zwischen Proletariern, Frauen, Industriellen und positiven Wissenschaftlern (den neuen „Priestern“) bleibt diesen die Schlüsselposition vorbehalten: „So wird die Priesterschaft zur Seele der wahren Soziokratie.“ („C’est ainsi que le sacerdoce devient l’âme de la vraie sociocratie.“) 75 Comte fügt hinzu, dass diese Gruppe eine ausschließlich be ratende Funktion erfüllt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er Theorie und Praxis, wissenschaftliche und politische Tätigkeit voneinander trennt. Zugleich wird jedoch an entscheidenden Stellen des Catéchisme deutlich, dass das von ihm entworfene positive Denken zur Grundlage der neuen Gesellschaft werden soll, so dass die „Seele“ dieser Gesellschaft als das eigentliche historische Subjekt erscheint, das im Auftrag der „Menschheit“ handelt. Von der überragenden Position der Auftraggeberin „Menschheit“ zeugt schließlich die von Comte - vor allem in Catéchisme positiviste - konzipierte, radikal säkularisierte Religion. Es ist eine Religion ohne Gott und Götter, ohne Transzendenz. Gouhier charakterisiert diese Religion in aller Knappheit durch drei Verneinungen: „Kein Gott, keine Seele, keine Ewigkeit.“ 76 Die Aufgabe der neuen Priesterschaft - der positiven Wissenschaftler - besteht darin, die Aufmerksamkeit aller Gruppen der Gesellschaft auf das Diesseits zu richten und zur Ehrung des Großen Wesens (Grand-Etre), der Menschheit, beizutragen: „Schließlich wird die priesterliche Vorsehung dafür sorgen, dass wir systematisch das Wesen und das Schicksal des Großen Wesens erkennen, indem sie uns allmählich die Gesamtheit der wirklichen Ordnung erkennen lässt.“ 77 Kurzum, die positive Wissenschaft soll jenseits von Theologie und Metaphysik allen Beteiligten die Erkenntnis der wirklichen Welt ermöglichen: eine Erkenntnis, die zur Anerkennung und Vereh- 74 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 64-65. 75 Ibid., S. 259. 76 H. Gouhier, La Vie d’Auguste Comte, op. cit., S. 111. 77 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 125. <?page no="181"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 165 rung des Großen Wesens (der „Menschheit“, der Auftraggeberin der „wissenschaftlichen Vernunft“) führt. Es lohnt sich, die Beschaffenheit der einzelnen Aktanten, mit deren Hilfe Comte die Entwicklung der Gesellschaft erzählt, näher zu betrachten. Zunächst fällt auf, dass ihnen allen ein hoher Abstraktionsgrad gemeinsam ist. Die Menschheit als Auftraggeberin (des Subjekts, des Wissenschaftlers) kann nur jemand als Einheit wahrnehmen und verehren, der sich über deren widerspruchsvolle Heterogenität keine Gedanken macht. Skepsis steigt auf, wenn man mit Robert Musil feststellt, dass der Mensch „ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft“ 78 ist. Wird dort Heterogenität entdeckt, wo Comte Homogenität vermutet, drängt sich auch die Frage auf, ob die „Menschheit“ wirklich als kollektiver Aktant (als Auftraggeberin) aufgefasst werden kann - oder ob ihr diese fiktive Funktion nur in Comtes Diskurs zufällt. Diese Überlegung gilt auch für „die Frauen“ und „die Proletarier“ als Ad ressaten und Helfer des Subjekt Aktanten „wissenschaftliche Vernunft“ (oder „Wissenschaftler“). Im Zusammenhang mit den „Frauen“ wurde bereits eine mögliche Heterogenität festgestellt, die sie als Adressatinnen und Helferinnen der positiven Wissenschaft wenig geeignet erscheinen lässt, zumal Comte die sogar für das 19. Jahrhundert recht konservative Ansicht vertritt, dass die Frau am häuslichen Herd am besten aufgehoben ist: „Freiwillig im häuslichen Heiligtum eingeschlossen (volontairement enfermée au sanctuaire domestique), setzt sie sich dort für die Vervollkommnung ihres Gemahls und ihrer Kinder ein, von denen sie auf würdige Art die wohlverdiente Anerkennung empfängt.“ 79 Dies ist alles andere als positive Wissenschaft; eher ist es reine Ideologie als Apologie herrschender Verhältnisse. 80 Ähnlich wie bei Marx wird auch bei Comte das „Proletariat“ zu einem mythischen Aktanten. Obwohl Comte immer wieder die Nähe zur arbeitenden Bevölkerung suchte und Vorträge vor Pariser Arbeitern (z.B. über Astronomie) hielt, abstrahiert er systematisch von den wirklichen sozialen und ökonomischen Verhältnissen der Arbeiterschaft, wenn er „das Proletariat“ als einen homogenen Aktanten auffasst, der sich für die positive Lehre empfänglich zeigen wird. Die wirkliche Arbeiterschaft ist weder homogen als revolutionäre Klasse im Sinne von Marx noch homogen im Sinne von Comtes positivistischer Gesinnung: Sie zerfällt oft in Rebellen, Kon- 78 R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. VIII (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 1081. 79 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 248. 80 Vgl. A. Le Bras-Chopard, „Une statue de marbre. L’idéal féminin d’Auguste Comte: Convergences et dissonances avec ses contemporains socialistes“, in: M. Bourdeau et al. (Hrsg.), Auguste Comte aujourd’hui, Paris, Kimé, 2003, S. 176: „La place de la femme dans la société: mariage et famille“. <?page no="182"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 166 formisten und Opportunisten. Ihnen allen ist ein Utilitarismus gemeinsam, der sie nicht gerade für die Aufnahme philosophischer Doktrinen - welcher Art auch immer - prädisponiert. Auch die „Theologen“ und „Metaphysiker“, die Comte häufig gemeinsam als Doppelaktanten und Antisubjekt auftreten lässt, bilden keineswegs homogene Gruppen. Die Theologen folgen verschiedenen, oft unvereinbaren Doktrinen, und Comte selbst hat Mühe, die Einheit der Metaphysiker als Rechtsgelehrte, Philosophen und Literaten nachzuweisen, zumal bekannt ist, dass seine beiden Vorzeigemetaphysiker - Rousseau und Voltaire - verfeindet waren. Am ehesten bilden noch die „Industriellen“ eine handlungsfähige kollektive Einheit, obgleich auch sie sich als Konkurrenten oft von unvereinbaren Interessen leiten lassen. Es geht hier nicht primär darum, Comtes Aktantemodell zu dekonstruieren, sondern darum, bestimmte Konstruktionsvorgänge sichtbar zu machen, die Comtes soziologische Erzählung ermöglichen. An erster Stelle wären die schon kommentierten Relevanzkriterien zu nennen, aus denen der Gegensatz zwischen Menschheit und Gottheit, wissenschaftlicher Vernunft und religiösem Glauben hervorgeht. Die Aktanten, die im Rahmen dieses Gegensatzes auftreten, kommen dadurch zustande, dass Comte von den wirklichen Gruppierungen und ihren Verhältnissen - Industrielle, Arbeiter, Frauen - abstrahiert und sie als homogene, idealisierte Einheiten auftreten lässt. Dabei bedient er sich u.a. der Metonymie (als Synekdoche): Ein Teil der Arbeiterschaft, die er persönlich kennen gelernt haben mag, steht für „das Proletariat“, ein Teil der weiblichen Bevölkerung steht synekdochisch (Teil für das Ganze) für „die Frauen“ allgemein. In diesem besonderen Fall drängt sich die Vermutung auf, dass er „die Frauen“ mit der früh verstorbenen (1846) Clotilde de Vaux identifiziert, in die er sich nach seiner unglücklichen Ehe mit Caroline Massin platonisch verliebt hat. Kurzum, die Konstruktion der Erzählung wird dadurch ermöglicht, dass der Autor scheinbar konkrete Gruppierungen auftreten lässt - „die Menschheit“, „die Frauen“, „das Proletariat“, „die Industriellen“, „die Metaphysiker“ -, die in Wirklichkeit abstrakte oder gar mythische Aktanten sind, denen kein kohärenter und empirisch feststellbarer Handlungsablauf zugerechnet werden kann. Die Erzählung erscheint nur deshalb plausibel, weil der Theoretiker in den meisten Fällen von den wirklichen Zuständen abstrahiert. Die mythischen Komponenten kommen dadurch zustande, dass er - wie Marx - seine Aversionen und Hoffnungen in die empirisch inhaltslosen Aktanten projiziert. Dadurch kommt ein „Proletariat“ zustande, das in seiner Gesamtheit - oder zumindest mehrheitlich (Umfragen, Statistiken fehlen) - antimetaphysisch eingestellt ist und eine Vorliebe für die positive Wissenschaft entwickelt. <?page no="183"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 167 In dem hier entworfenen Zusammenhang ist es wichtig, den Konstruktionsvorgang nachzuzeichnen, der eine soziologische Erzählung entstehen lässt. Diese ist niemals eine „teils richtige, teils falsche“ Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern stets eine sprachliche, d.h. semantische, syntaktische und narrative Konstruktion, die die Wirklichkeit in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Dass dieser Konstruktion im Falle von Comte eine z.T. konservative Ideologie zugrunde liegt, haben seine Kommentare zur Stellung der Frau in der Gesellschaft gezeigt. Auch der Umstand, dass er die Diktatur Louis-Napoleons begrüßte, zeugt von einem ausgeprägten Sinn für Ordnung. 81 Die Konfrontation mit Marx im nächsten Abschnitt wird seine konservative Einstellung zur Arbeiterschaft erkennen lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Comte insgesamt als konservativer Denker aufzufassen ist. 4. Marx vs. Comte vs. Marx Beobachter wissenschaftlicher Kontroversen erwarten in den meisten Fällen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen eine Position als richtig, die andere als falsch erweist. In einem Kontext, in dem jede Theorie als mögliche Konstruktion oder „Erzählung“ betrachtet wird, können sich solche Erwartungen selbst als fragwürdig erweisen. Denn jede Konstruktion lässt bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zutage treten, die andere Konstruktionen verdecken oder nur teilweise beleuchten. Entscheidend ist daher die Frage, welche Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit man selbst für wichtig hält. Da im vorliegenden Fall der Autor auf dem Standpunkt der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers steht, die er hier als Dialogische Theorie weiterentwickelt, ist es naheliegend, dass er mehr Verständnis für Marx als für Comte aufbringen wird. Dennoch liegt ihm viel daran, Comte als einen aktuellen Denker darzustellen, der wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung beobachtet, die bei Marx im Dunkeln bleiben. Im Folgenden sind Kritik und Gegenkritik konstruiert, stützen sich teilweise aber auf Argumente, die in der Sekundärliteratur zu Marx und Comte vorgebracht wurden. In seiner Kritik an Comte könnte Marx von der hier bereits kommentierten Tatsache ausgehen, dass der Autor der positivistischen Enzyklopädie die Wirtschaftswissenschaft als Politische Ökonomie ausließ, obwohl er mit ihr vertraut war. Eine der Folgen ist, dass er die wirtschaftlichen Positionen und Interessen der von ihm beobachteten Gruppierungen nicht wahrnimmt. Folglich nimmt er auch nicht die wirtschaftlichen Ursachen der 81 Vgl. C. Cassina, „Comte face à la dictature“, in: M. Bourdeau et al. (Hrsg.), Auguste Comte aujourd’hui, op. cit., S. 186. <?page no="184"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 168 sozialen Konflikte wahr, die er zwar beschreibt, ohne sie aber erklären zu können. Die Klassenkonflikte werden ins Ideelle sublimiert. In Comtes Philosophie des sciences, wo wieder einmal die drei Weltanschauungen oder „Philosophien“ - die theologische, die metaphysische und die positive - erörtert werden, hört sich das so an: „Tatsächlich ist klar, dass wenn eine dieser drei Philosophien in der Wirklichkeit eine allgemeine und umfassende Vorherrschaft erringen könnte, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung entstünde, aber das Übel besteht darin, dass es keine wirkliche Organisation gibt.“ 82 Es ist recht unwahrscheinlich, dass die metaphysische Philosophie, die Comte an zahlreichen Stellen seines Werks für Revolution und Anarchie verantwortlich macht, zur Grundlage irgendeiner Ordnung werden könnte. Wichtiger ist hier die Marxsche Überlegung, dass nicht Philosophien um die Vorherrschaft in der Gesellschaft kämpfen, sondern von Interessen geleitete soziale Klassen. Der Landadel und der Klerus bremsen den kapitalistischen Fortschritt, weil sie beobachten, wie ihr Landbesitz der Erosion durch die Marktgesetze zum Opfer fällt. Die Industriellen, die als Kapitalisten über die Produktionsmittel verfügen, sind sehr daran interessiert, die Löhne der Arbeiter niedrig zu halten, um Mehrwert und stabile Profitraten zu sichern. Diese Interessengensätze blendet Comte zusammen mit der Politischen Ökonomie aus, sooft er ein harmonisches Miteinander von Arbeitern, Industriellen und positiven Wissenschaftlern im „positiven Stadium“ schildert: „Dann wird das Proletariat erkennen, dass die Hauptfunktion des Patriziats [der Industriellen, der Kapitalisten] darin besteht, allen Beteiligten die friedliche Erfüllung dieser häuslichen Bedürfnisse zu sichern (…).“ 83 Diese soziale Harmonie wird durch die völlige Unterwerfung des Proletariats unter die Interessen der Kapitalisten erkauft. Im Katechismus wird „der materielle Besitz unmittelbar von der positiven Religion gerechtfertigt“ 84 , und Comte spricht dort von einer „würdigen Unterwerfung“, einer „digne soumission“ 85 des Proletariats, die er mit einem Corneille-Zitat rechtfertigt. Konsequent schlägt er vor, dass das industrielle „Patriziat“ (die Kapitalisten) nach Gutdünken die Höhe der Arbeitergehälter bestimmt: „Aber das Verhältnis zwischen dem konstanten und dem variablen Teil des Arbeitergehalts wird von Industriezweig zu Industriezweig verschieden sein und Gesetzen entsprechen, die nur das Patriziat bestimmen kann.“ 86 82 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 81. 83 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 265. 84 Ibid., S. 124. 85 Ibid., S. 264. 86 Ibid., S. 266. <?page no="185"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 169 In Discours sur l’ensemble du positivisme, wo die Rolle der „privaten Industrie“ („industrie privée“) 87 gelobt wird, fällt der positivistischen Wissenschaft die Aufgabe zu, im Konfliktfall zwischen Industriellen und Arbeitern zu vermitteln: „die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme moralisch zu lösen“. 88 Dadurch wird diese Wissenschaft zu einer Konsensideologie, deren Hauptfunktion darin besteht, für die Stabilität des kapitalistischen Systems zu sorgen. Es geht folglich um eine Zähmung des Proletariats, nicht um die Stärkung seines revolutionären Elans. Angesichts solcher Vermittlungsversuche könnte Marx wiederholen, was er über Proudhon in „Das Elend der Philosophie“ schrieb: „Er will die Synthese sein, und ist ein zusammengesetzter Irrtum, er will als Mann der Wissenschaft über Bourgeois und Proletariern schweben; er ist nur der Kleinbürger, der beständig zwischen dem Kapital und der Arbeit, zwischen der politischen Ökonomie und dem Kommunismus hin und her geworfen wird.“ 89 Durch dieses Oszillieren zwischen den Polen bestätigen beide, sowohl Proudhon als auch Comte, die bestehende Ordnung. So sehen es auch Autoren, die Comtes Werk vom Marxschen Standpunkt aus betrachten oder aus der Sicht der Kritischen Theorie. Gerhard Wagner schreibt beispielsweise: „Während Marx alles daran setzte, die bürgerliche Gesellschaft abzuschaffen, wollte Comte sie perfektionieren.“ 90 Ergänzend ist bei Paul Kellermann von einer „Kongruenz von Positivismus im Comteschen Sinn mit [einer] positiven Affirmation des Bestehenden“ 91 die Rede. Aus der Sicht der Erzähltheorie als Aktantentheorie ist die folgende Bemerkung von Claudio de Boni besonders aufschlussreich, weil sie sich auf eine Passage bei Comte bezieht, in der das Proletariat abermals der Obhut der Industriellen anvertraut wird: „In dieser Argumentation bleibt das Proletariat jedoch ein Objekt, selbst wenn es das wichtigste Objekt ist, und wird nicht zum Subjekt der positiven Politik.“ 92 In der hier vorgeschlagenen Konstruktion ist das Proletariat nicht das Objekt, sondern (wie „die Frauen“) Adressat und Helfer des Subjekts „wissenschaftliche Vernunft“ oder „positiver Wissenschaftler“. Jedenfalls ist es nicht - wie bei Marx - das Subjekt der Geschichte. 87 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme, op. cit., S. 198. 88 Ibid. 89 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 514-515. 90 G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, Hamburg, Junius, 2001, S. 83-84. 91 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg, Rombach, 1967, S. 53. 92 C. de Boni, „La Question du prolétariat dans la pensée d’Auguste Comte“, in : A. Kremer Marietti (Hrsg.), Auguste Comte. La Science, la Société, Paris, L’Harmattan, 2009, S. 183. <?page no="186"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 170 Da Comte die ökonomische Problematik übergeht, kann er den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Industriellen und Proletariern nicht konkret im dialektischen Sinne verstehen. Denn dieser Antagonismus hängt nicht nur mit dem Herrschaftsverhältnis zwischen den Klassen und der Unterdrückung der Arbeiter zusammen, sondern auch mit der Herrschaft der Marktgesetze und des Tauschwerts: mit der Verdinglichung der Menschen als Arbeitskräfte und Waren und mit ihrer aus dieser Verdinglichung ableitbaren Entfremdung. Es geht um die Entfremdung des einzelnen Arbeiters von seinem Produkt, das er sich nicht aneignen kann, vom arbeitsteiligen Produktionsprozess, der für ihn unüberschaubar ist, von seinen Mitmenschen, die ihn als Geldquelle und Ware behandeln, und schließlich von sich selbst als instrumentalisierter Arbeitskraft, deren soziale Definition nicht seinem Selbstverständnis entspricht. 93 Wer so verdinglicht, instrumentalisiert und entfremdet ist, kann sich nicht mit Hilfe einer Wissenschaftlergruppe, der positivistischen „Priester“, mit den ihn ausbeutenden Industriellen oder Kapitalisten solidarisch erklären. Aus Marxscher Sicht erscheint das ganze kapitalistische System der „Industriellen“ als falsch, weil es den Menschen verstümmelt und das soziale Gewebe durch Verdinglichung und Entfremdung zerstört. Jede Art von Denken, die dieses System rechtfertigt und durch wissenschaftlichen Fortschritt perpetuiert, erscheint als Ideologie. Diese Kritik lässt die Bedeutung der Relevanzkriterien und Klassifikationen (der semantischen Basis) für den Ablauf eines Diskurses als Erzählung erkennen. Indem Comte die Wirtschaftswissenschaft aus seiner Enzyklopädie ausschließt und die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und Klassen jenseits des Wirtschaftssystems betrachtet, kann er wesentliche Probleme der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (Verdinglichung, Entfremdung, Klassengegensätze) nicht erfassen. Er schärft aber den Blick für andere Probleme, die bei Marx, dessen Diskurs vom Gegensatz Kapital / Arbeit ausgeht und teleologisch auf die Revolution ausgerichtet ist, nicht angeschnitten werden. Comte würde diese Ausrichtung des Diskurses auf die Revolution wohl an erster Stelle beanstanden und Marx als „Metaphysiker“ bezeichnen, der sich von einer neuen Umwälzung eine neue Ordnung verspricht. Comte muss diese revolutionäre Hoffnung als eine gefährliche Illusion erscheinen, weil er der Meinung ist, dass sich Gesellschaft nur in geordneten Verhältnissen entfalten kann. Insofern haben Autoren wie Pierre Macherey und Angèle Kremer Marietti 93 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, S. 67-86. <?page no="187"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 171 Recht, wenn sie die Bedeutung der „Kontinuität“ 94 und der „Harmonie“ 95 für Comtes Theorie hervorheben. Sie übersehen jedoch das eigentliche Problem, auf das es Comte ankommt, das er aber nirgends explizit zur Sprache bringt. Es ist das Problem der sozialen Komplexität, über das sich Marx hinwegsetzt, wenn er meint, dass die proletarische Revolution schlagartig alle Widersprüche und Unzulänglichkeiten der kapitalistischen Ordnung beseitigen würde. Indirekt spricht Comte, der das Wort „System“ kaum verwendet, das Thema „Systemkomplexität“ an, wenn er bemerkt, „daß das wahre soziale Problem in dieser Hinsicht darin besteht, die fundamentale Lage dieser ungeheuren Majorität zu verbessern, ohne die Standesunterschiede zu vernichten und die unentbehrliche Gesamtökonomie zu stören“. 96 Einerseits kommt in diesen Zeilen abermals Comtes systemerhaltende Einstellung zum Ausdruck, andererseits wird in ihnen auch ein zeitgemäßer und hochaktueller Gedanke artikuliert: der Gedanke, dass es zugleich unproduktiv und gefährlich ist, das komplexe System der Industriegesellschaft gewaltsam umzuwälzen und dabei das soziale Beziehungsgeflecht zusammen mit dem wirtschaftlichen Funktionsgefüge zu zerstören. „Systemveränderung“, würde Comte im zeitgenössischen Sprachduktus gegen Marx einwenden, „ist nur im Rahmen einer bestimmten Ordnung möglich, die dafür bürgt, dass die fortschrittlichen, innovativen Maßnahmen das bisher Erreichte nicht in Frage stellen oder gar zerstören.“ An Comte knüpfen direkt oder indirekt Denker wie Karl R. Popper und Niklas Luhmann an, wenn sie die gesellschaftliche Veränderung als ein „piecemeal social engineering“ 97 (Popper) - ohne große historische Sprünge - oder als „Steigerung der Systemirritabilität“ 98 (Luhmann), d.h. als Vervollkommnung der bestehenden Systeme auffassen. Einige Revolutionen, die nach Marx stattfanden, scheinen diesen Denkern Recht zu geben. So führte beispielsweise in der jungen Sowjetunion die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft in den 1920er Jahren zu Unterdrückung und Hungersnot, in China hatte der „Große Sprung nach 94 P. Macherey, Comte. La philosophie et les sciences, Paris, PUF, 1989, S. 27. 95 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 67. 96 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 149. 97 K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul (1945), 1963, S. 222: „A social technology is needed whose results can be tested by piecemeal social engineering.“ Eine solche Technologie ist nicht dazu angetan, eine Alternative zum bestehenden System zu entwerfen. 98 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 185: „Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann.“ Damit ist aber nicht die Frage beantwortet, was geschehen soll, wenn sich herausstellt, dass diese Systeme Mensch und Natur zerstören. <?page no="188"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 172 vorn“ vorwiegend wirtschaftliche Rückschläge zur Folge, und in Kambodscha mündete die von Pol Pot angeführte Revolution in Genozid und eine teilweise Zerstörung der Gesellschaft. Es ist, als hätte Comte die revolutionären Absurditäten des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt, wenn er vom „absonderlichen wirtschaftlichen Vorschlag“ spricht, „den Gebrauch des Geldes zu unterdrücken“, vom katastrophalen Vorhaben, „die großen Hauptstädte, die Hauptzentren der modernen Zivilisation, als drohende Herde der sozialen Korruption zu vernichten“, und sich schließlich gegen das „Prinzip einer strengen Gleichheit der gewöhnlichen Entlohnung für alle möglichen Arbeiten“ 99 wendet. Die revolutionären Verhältnisse, die die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg den anderen COMECON-Staaten aufzwang, begannen mit einem destruktiven Egalitarismus und führten schließlich zu Stagnation und Rückständigkeit. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die chinesische Führung vor allem darum bemüht, die Ordnung zu erhalten, um die Entfal tung einer immer komplexer werdenden Wirtschaft zu ermöglichen. Die Auswertung dieser Ereignisse, die hier freilich nicht möglich ist, könnte Comtes Ansicht bestätigen, dass Fortschritt nur innerhalb der Ord nung möglich ist, die Comte, der Theoretiker der sich schnell entwickelnden Wissenschaften, nicht mit „Statik“ verwechselte. 100 Seine Maxime trifft vor allem dann zu, wenn die Komplexität einer Gesellschaft so stark zunimmt, dass jede Art von „Umwälzung“ nur Rückschläge bewirken kann: sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozial-politischen Bereich. In diesem Sinne sollte man die Komplexität der zeitgenössischen Gesellschaft als eine „Herausforderung“, ja als die Herausforderung im Sinne von Edgar Morin verstehen. 101 In mancher Hinsicht antwortet Comte auf diese Herausforderung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er und Saint-Simon waren auch in anderer Hinsicht ihrer Zeit voraus: Sie wussten oder ahnten eher, das eine neue Friedens- und Gesellschaftsordnung nur auf europäischer Ebene möglich ist. Im Gegensatz zu Marx, der durchaus international dachte, den spezifisch europäischen Kontext jedoch nicht wahrnahm und nicht analysierte, stellt Comte unmissverständlich fest: „Aber eine europäische Krise erfordert eine europäische Vorgehensweise.“ („Mais il faut évidemment à une crise européenne un traite- 99 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 90. 100 Paul Kellermann geht davon aus, dass Comtes „positives Stadium“ als ein „stationäres Stadium ohne Ende verstanden werden“ muss: P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, op. cit., S. 52. Comte ist zwar der (durchaus plausiblen) Meinung, dass es zu den modernen Wissenschaften keine Alternative gibt, aber als Wissenschaftshistoriker, der sich mit der Entwicklung von Wissenschaften wie Astronomie, Physik und Biologie ausführlich befasst hat, stellt er sich das „positive Stadium“ selbstverständlich nicht als etwas „Stationäres“ vor, das sich nicht mehr entwickelt. 101 Vgl. E. Morin, Introduction à la pensée complexe, Paris, ESF éditeur, 1990, S. 134. <?page no="189"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 173 ment européen.“) 102 Sowohl von den positiven Wissenschaftlern als auch von den Industriellen erwartete er, dass sie den europäischen Integrationsprozess vorantreiben. Zu Recht diagnostiziert er bei den (damaligen) Industriellen einen „ungezähmten Patriotismus“ („patriotisme sauvage“) 103 , der den Einigungsprozess behindern könnte; zu Unrecht setzt er aber voraus, dass die Wissenschaftler das europäische Projekt einstimmig unterstützen würden: denn nicht wenige Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts dachten national, ja sogar nationalistisch. Wenn sich jedoch Habermas für eine europäische Verfassung ausspricht 104 und Bourdieu eine europäische Gewerkschaft fordert 105 , so handeln sie durchaus im Sinne von Comte - wenn auch anderthalb Jahrhunderte nach dessen Tod. 5. Auswertung und Ausblick Die Frage „Marx oder Comte? “ wäre falsch gestellt, weil sie eine einseitigideologische Antwort erheischt. Die Konfrontation der beiden Denker hat gezeigt, dass jeder Diskurs als Erzählung (als semantisch-narrative Struktur) die soziale Wirklichkeit anders konstruiert und dabei bestimmte Aspekte hervortreten lässt und andere verdeckt. Für Marx kündigt die Revolution die Erlösung von der kapitalistischen Ordnung an; für Comte kündigt die neue positive Ordnung die Erlösung von der endemisch werdenden Revolution an. Marx nimmt die Verzerrungen des kapitalistischen Systems wahr; Comte untersucht das Potenzial der bürgerlichen Industriegesellschaft. Angesichts der bisher vorgebrachten Argumente stehen zwei mögliche Hypothesen einander gegenüber: Der Kapitalismus, der Mensch und Umwelt zerstört, kann nur auf revolutionärem Weg überwunden werden. Und: Eine komplexe Industriegesellschaft wird revolutionäres Chaos vermeiden und versuchen, den Fortschritt im Rahmen der bestehenden Ordnung voranzutreiben. Aus der Sicht der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, die im nächsten Kapitel als mögliche Replik auf Hegelianismus, Marxismus und Positivismus dargestellt wird, erscheint der Kapitalismus als eine extreme Form der Naturbeherrschung, die auf die Dauer Natur und Mensch zugrunde richtet. Vertreter dieser Theorie werden daher weiterhin an dem 102 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 268. 103 Ibid., S. 269. 104 Vgl. J. Habermas, „Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 191. 105 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un mouvement social européen“, in: ders., Contre-feux 2, Paris, Raisons d’Agir, 2001, S. 17. <?page no="190"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 174 Gedanken festhalten, dass das kapitalistische System überwunden werden muss, wenn die Katastrophe vermieden werden soll. Von Auguste Comte könnten sie und ihre marxistischen Kontrahenten jedoch lernen, dass diese Überwindung das schon Erreichte nicht in Frage stellen darf und in einem europäischen Kontext, dessen Institutionen konkrete übernationale Maßnahmen ermöglichen, zu denken ist. Freilich drückt dieses Schlusswort nichts Endgültiges aus. Es fasst lediglich eine mögliche Einsicht zusammen, die sich aus der Konfrontation zweier moderner Theorien ergibt. Es soll vor allem deren Aktualität unterstreichen, die auch in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommt, in denen Durkheim, Max Weber und Pareto als Gesprächspartner von Marx und Comte auftreten. Zusammenfassung und Ausblick: Für Comte sind andere Selektionen und Gegensätze relevant, die Marxʼ Klassengegensatz überlagern: an erster Stelle der Gegensatz zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft, der aus seiner Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung ihre Dynamik und Richtung vorgibt. Ausgehend von diesem Gegensatz versucht Comte, die soziale Evolution als Prozess der Säkularisierung und Rationalisierung zu begreifen und zu erzählen. In diesem Prozess spielen kollektive Aktanten und individuelle Akteure durchaus eine Rolle: Während die „Theologen“ versuchen, das „theologische Stadium“ des Mittelalters zu erhalten, unternehmen die „Metaphysiker“ der Aufklärung (Voltaire, Diderot, Rousseau) alles, um diese Ordnung durch eine aufgeklärt-bürgerliche, d.h. durch ein „metaphysisches Stadium“, zu ersetzen. Comte lehnt ihre revolutionäre Gesinnung ab, weil er überzeugt ist, dass nur die neue Wissenschaft (die Soziologie), die er im Rahmen seiner „Enzyklopädie der Wissenschaften“ analog zu den etablierten Naturwissenschaften betrachtet, in der Lage ist, für soziale Entwicklung im Rahmen von Recht und Ordnung zu sorgen und ein „positives oder wissenschaftliches Stadium“ herbeizuführen: Nur sie wird der Komplexität moderner Gesellschaften gerecht, welche die „Metaphysiker“ nicht wahrnehmen. Sein Subjekt und Fokalisator ist die wissenschaftliche Vernunft oder der sie vertretende „positive Wissenschaftler“, der im Auftrag der „Menschheit“ handelt und im „positiven Stadium“ der Entwicklung als intellektueller Berater der „Industriellen“ die Gesellschaft verwaltet. Um dieses Stadium zu erreichen und zu konsolidieren, versucht Comte, die „Frauen“ und die „Proletarier“ als Adressaten und Helfer des Wissenschaftlers (der Wissenschaftler) zu gewinnen. Im Gegensatz zu Marx setzt er sich über die materiellen Interessen der verschiedenen Gruppierungen hinweg und plädiert idealistisch für ein Bündnis von „Wissenschaftlern“, „Industriellen“, „Proletariern“ und „Frauen“. Dadurch konsolidiert er die Hegemonie der kapitalistischen „Industriellen“ und trägt zur Erhaltung der bestehenden Ordnung <?page no="191"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 175 bei. Dennoch ist sein Argument, dass jede Veränderung oder Reform der Komplexität moderner Verhältnisse Rechnung tragen muss, noch heute hochaktuell. Im nächsten Kapitel soll Adornos und Horkheimers Kritik an Hegelianismus, Marxismus und Positivismus näher betrachtet werden. <?page no="193"?> 177 VI. Naturbeherrschung und Subjektivität: Adornos und Horkheimers Kritische Theorie als Antwort auf Positivismus, Hegelianismus und Marxismus Inhaltsverzeichnis 1. Neue Relevanzkriterien: Herrschaft und Natur, Subjekt und Objekt (Aktantenmodell) 2. Kritik an Rationalismus und Positivismus: Natur und „instrumentelle Vernunft“ 3. Kritik an Hegels „Identitätsdenken“: Negative Dialektik I 4. Kritik an Marx und am Marxismus: Negative Dialektik II 5. Die Kunst als Helferin des individuellen Subjekts: Ratio und Mimesis, Es say, Modell und Parataxis 6. Die marxistische Kritik an der Kritischen Theorie und Adornos mögliche Replik Theorien sind keine fensterlosen Monaden, die unabhängig von Kommunikation, Engagement und Kritik zustande kommen, sondern kritische und oftmals polemische Repliken auf theoretische und ideologische Diskurse der Gegenwart oder der Vergangenheit. Im historischen und gesellschaftlichen Kontext sind sie daher nur als dialogische Gebilde zu verstehen, in welche die Interessen und Kontroversen einer bestimmten Epoche eingegangen sind. Marx reagierte polemisch auf Hegel, die Junghegelianer, die britische Politische Ökonomie, auf Proudhon und viele andere; Comte setzte sich kritisch mit den Theologen, mit Rousseau, Voltaire und Condorcet auseinander. Auch die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die hier von der im Ansatz grundverschiedenen Theorie von Jürgen Habermas getrennt wird, ist konkret am ehesten in ihrem dialogischen Verhältnis zu Positivismus, Hegelianismus und Marxismus zu verstehen. Wie die Theorien von Marx und Comte ist sie in einer besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation entstanden, in der Faschismus, Nationalsozialismus, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus um die politische und ideologische Vorherrschaft rangen; in der Marxismus, Positivismus, Existenzialismus und Anarchismus mit ihren Polemiken immer wieder den für die moderne bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Nexus von Politik, Philosophie und Wissenschaft zutage treten ließen. 1 1 Vgl. z.B. M.-A. Burnier, Les Existentialistes et la politique, Paris, Gallimard, 1966. <?page no="194"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 178 Auf den Diskurs der Kritischen Theorie, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marxismus liiert war und sich nach dem Krieg immer mehr von ihm distanzierte 2 , ist - wie auf alle anderen Theorien - Bachtins Skizze der ideologischen und sprachlichen Situation anwendbar, in der Diskurse dialogisch-wertend auf andere Diskurse reagieren. Bachtin spricht von der „dialogischen Orientierung [des Wortes] inmitten fremder Aussagen“. 3 Freilich sind Adorno (1903-1969) und Horkheimer (1895-1973) keine Zeitgenossen von Marx oder Comte, und aus chronologischer Sicht sollte ihre Variante der Kritischen Theorie nach Durkheim, Simmel und Max Weber kommentiert werden. Ihre wichtigsten Gesprächspartner sind jedoch - außer Zeitgenossen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean- Paul Sartre, deren Philosophien im soziologischen Kontext weniger wichtig sind -, Hegel, Marx und Comte. Es wird sich zeigen, dass Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) gegen den Positivismus Comtescher Provenienz polemisieren und dass Adorno seine negative Dialektik im Gegensatz zur positiven Dialektik Hegels definiert. Es kommt hinzu, dass Marxisten wie Georg Lukács und Lucien Goldmann nicht nur Zeitgenossen, sondern auch kritische Gesprächspartner Adornos und Horkheimers waren. Dies ist der Grund, warum die Kritische Theorie an dieser Stelle - und nicht etwa im „Dritten Teil“ des Buches - diskutiert wird. Ein weiterer Grund ist ihre Nähe zu einigen feministischen Theorien, die ebenfalls als Antworten auf Marxʼ Theorie des Klassenkonflikts dargestellt und im nächsten Kapitel erörtert werden. Adornos und Horkheimers Kritische Theorie ist nicht nur als Kritik an Hegel, Marx und Comte (am Positivismus) zu verstehen, sondern auch als eine grundsätzliche Ablehnung der modernen „Metaerzählung“, in der die Geschichte der Menschheit als ein Fortschreiten zu immer höheren Stadien (Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus oder Theologie - Metaphysik - positive Ordnung) aufgefasst wird. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung, die die jahrtausendealte Herrschaft des Menschen über die Natur für einen verhängnisvollen Prozess halten, neigen zu der Ansicht, dass es im zeitgenössischen Stadium, in dem eine globale ökologische oder strategisch-militärische Katastrophe nicht mehr auszuschließen ist, primär darauf ankommt, der fatalen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Diese Skepsis allen soziologischen Evolutionstheorien gegenüber ist teilweise aus den Biografien der beiden Autoren ableitbar, 2 Vgl. M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt, Fischer, 1976, Kap. II: „Die Genese der Kritischen Theorie“ sowie R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S. 140-141. 3 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 168. <?page no="195"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 179 die gezwungen waren, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 Deutschland zu verlassen. Theodor Wiesengrund Adorno promovierte über Edmund Husserl (1924) und habilitierte sich mit einer Arbeit über Søren Kierkegaard (1931). 1933 wurde ihm die venia legendi entzogen, und er emigrierte 1934 nach Großbritannien, wo er bis 1938 an der Universität Oxford lehrte. 1938-41 war er im Bereich empirische Sozialforschung in New York tätig und von 1941 bis 49 in Berkeley (Kalifornien), wo er zusammen mit Else Frenkel-Brunswick, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford an einer empirischen Untersuchung zum „autoritären Charakter“ 4 , einem wesentlichen Element von Faschismus und Nationalsozialismus, arbeitete. Dort hatte er auch intensiven Kontakt zu Thomas Mann und war an der Entstehung von dessen Roman Doktor Faustus (1947), der auch das Erstarken des Nationalsozialismus zu Gegenstand hat, beteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Frankfurt im Jahre 1949 setzte er seine Arbeit am Institut für Sozialforschung fort, dessen Direktor er zeitweise war. Auch Max Horkheimer, der zusammen mit Adorno die Dialektik der Aufklärung (1947) schrieb, die von den Erlebnissen des Totalitarismus, der Judenverfolgung und des Exils geprägt ist, erlebte den Nationalsozialismus als einschneidendes, katastrophales Ereignis. Er war ordentlicher Professor für Sozialphilosophie und Direktor des von Carl Grünberg 1923 gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, musste aber als Jude 1933 emigrieren: zunächst nach Paris, später nach New York, wo er von 1934 bis 1945 als Direktor des Institute for Social Research an der Columbia University tätig war. 1950 wurde er wieder zum Professor am Institut für Sozialforschung in Frankfurt ernannt, wo er zusammen mit Adorno die Kritische Theorie weiterentwickelte, die sich nach dem Krieg zunehmend vom Marxismus distanzierte. Sie vermochte dessen aufklärerisches und hegelianisches Vertrauen in den historischen Prozess nicht länger zu teilen. Historischer Fortschritt, wie ihn Hegel, Marx und Comte deuten, ist für Adorno und Horkheimer ein Fortschreiten zur Katastrophe, weil ihm in seiner gegenwärtigen Form das Prinzip einer immer intensiver werdenden Naturbeherrschung innewohnt. Aus Adornos Sicht wäre nur ein Heraustreten aus diesem verhängnisvollen Prozess echter Fortschritt: „Fortschritt heißt demnach: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit 4 Vgl. Th. W. Adorno et al., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt, Suhrkamp, 1973. <?page no="196"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 180 inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über die Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt.“ 5 Dies bedeutet, wie noch zu zeigen sein wird, dass die menschliche Herrschaft über die Natur, die auf Ausbeutung, Machtzuwachs und Gewinn ausgerichtet ist, sich als irrational erweist und sich vor allem in der Herrschaft des Menschen über den Menschen naturwüchsig und destruktiv auswirkt. Eine menschlichere, mit der Natur versöhnte, d.h. nicht mehr gewalttätige Gesellschaft würde die Naturwüchsigkeit hinter sich lassen und das Recht des Größeren und Stärkeren, das auch die kapitalistische Wirtschaft beherrscht, abschaffen. Eine solche Auffassung des historischen Prozesses bedeutet, wie Adorno selbst andeutet, „aus dem Bann heraustreten“, aus dem Prozess der falschen, naturwüchsigen Vergesellschaftung ausbrechen, bevor es zu spät ist. Sie bedeutet zugleich eine Abkehr von der Moderne als Neuzeit, deren Vertreter - Hegel, Marx, Comte, Spencer - darauf vertrauten, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung trotz ihrer Widersprüche und Verwerfungen auf das Ziel einer besseren, menschlicheren Gesellschaft zubewegt. Was Adorno und Horkheimer aufgeben, ist diese Auffassung der historischen Immanenz: den Gedanken, dass die der sozio-historischen Entwicklung innewohnenden Gesetze, Regelmäßigkeiten oder Tendenzen für eine Befreiung der Menschheit von Unterdrückung, Ausbeutung und Bevormundung sorgen würden. Während Denker wie Hegel, Marx und Comte den historischen Fortschritt zwar von verschiedenen Standorten aus, aber mit der gleichen modernen Zuversicht beobachteten, die sie von der Aufklärung geerbt hatten, sehen die Autoren der Kritischen Theorie keinen Grund mehr, diese Zuversicht zu teilen. Sie stellen - vor allem in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung - ein Scheitern der Aufklärung fest, die ihre Emanzipationsversprechen nicht halten kann, weil sie auf Gedeih und Verderb mit dem Herrschaftsprinzip als Naturbeherrschung liiert ist. Die Lösung, die Adorno und Horkheimer vorschwebt ist: eine Neubestimmung der Aufklärung, die nur durch eine Ablösung gesellschaftskritischer Theorie vom Herrschaftsprinzip zu erreichen ist. Vom gegenwärtigen Gang der Geschichte, der weiterhin von der Naturbeherrschung bestimmt wird, kann sich Kritische Theorie nur abwenden. Dazu bemerkt Adorno in einer seiner Vorlesungen aus den 1960er Jahren: „(…) Der kritische Maßstab, der es der Vernunft erlaubt und der die Vernunft nötigt und dazu verpflichtet, der Übermacht des Weltlaufs sich ent- 5 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 65) (Hrsg. R. Tiedemann), in: Th. W. Adorno, Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. XIII (Hrsg. Theodor W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 214. <?page no="197"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 181 gegenzustellen, der ist stets und in jeder Situation der Hinweis auf die konkrete Möglichkeit, es anders zu machen (…).“ 6 Adorno geht es nicht mehr darum, sich auf hegelianische Art dem Weltlauf als „Weltgeist“ anzuschließen, ihn zu seiner eigenen Sache zu machen oder ihn in Übereinstimmung mit Comte zu fördern, sondern darum, ihm Widerstand zu leisten, um die sich abzeichnende Katastrophe zu verhindern. Dieser Widerstandswille des kritischen Theoretikers zeitigt die Negativität der Kritischen Theorie: ihre Nichtidentität mit der schlechten Wirklichkeit und dem Weltlauf, die sie von Hegel, Marx und Comte unterscheidet. Zugleich läuft dieser Widerstand auf einen Bruch mit der Moderne als Neuzeit hinaus: mit ihrer Fortschrittsgläubigkeit, die sich in ihren groß angelegten, von aufklärerischer Zuversicht getragenen „Metaerzählungen“ (Lyotard) niederschlägt. Adorno und Horkheimer sind insofern Vertreter der Spätmoderne (des Modernismus), als sie - ähnlich wie Emile Durkheim, Alfred Weber, Max Weber und Georg Simmel - die Moderne mit einem skeptischen und kritischen Blick betrachten. Als spätmoderne Denker setzten sie die Selbstkritik der Moderne 7 fort, die Nietzsche, Baudelaire und Dostoevskij initiiert haben und die auch die Werke spätmodern-modernistischer Schriftsteller wie Kafka, Pirandello und Musil prägt. 1. Neue Relevanzkriterien: Herrschaft und Natur, Subjekt und Objekt (Aktantenmodell) Wie Hegel, Marx und Comte erzählen Adorno und Horkheimer die Gesellschaft, auch wenn sie sie nicht als eine Entwicklung auffassen, die sich gleichsam von selbst oder mit Hilfe des Philosophen auf einen Zustand der Freiheit und des Glücks zubewegt. Sie erzählen, wie sie in der Dialektik der Aufklärung selbst sagen, die „Urgeschichte der Subjektivität“ 8 , die durch die Herrschaft des menschlichen Subjekts über die Natur als Objekt und über andere Menschen gekennzeichnet ist. Dieser Prozess fortschreitender Naturbeherrschung hat nicht nur die Ausbeutung und die Zerstörung der Natur sowie die Unterdrückung ausgebeuteter Menschen zur Folge, sondern auch die Selbstdisziplinierung des herrschenden Subjekts, die extreme Formen annehmen und die Zerstörung dieses Subjekts bewirken kann: „Die Herrschaft des Menschen über sich 6 Ibid., S. 100. 7 Zur Spätmoderne (Modernismus) als Selbstkritik der Moderne vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), S. 28. 8 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 71. <?page no="198"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 182 selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht.“ 9 Dies bedeutet, dass der Mensch, der über die Natur und andere Menschen herrscht, letztlich seine Subjektivität durch Selbstbeherrschung verstümmelt. Adorno und Horkheimer veranschaulichen ihre Argumentation mit Hilfe des Odysseus-Mythos, in dem Entsagung als Selbstbeherrschung und Herrschaft über andere ineinander greifen. Von Odysseus heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muß er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.“ 10 Wesentliche Aspekte der disziplinierten und disziplinierenden Industriegesellschaft werden hier im mythisch-fiktionalen Kontext angesprochen: Der Einzelne, der sich selbst Gewalt antun muss, um in der Konkurrenzgesellschaft zu überleben, sieht sich bisweilen gezwungen, seine Mitarbeiter oder Angestellten zu opfern, um „Ballast abzuwerfen“, um sein Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren. Aufgrund der vielen Verzichte, die er leisten muss, um erfolgreich zu sein, muss er eine verstümmelte Subjektivität in Kauf nehmen, die weder den Subjekt-Vorstellungen der frühbürgerlichen Renaissance noch denen des Bildungsbürgertums entspricht, dem Adorno und Horkheimer angehörten. Hier wird deutlich, dass deren Erzählung ganz anders aufgebaut ist als die von Comte oder Marx: Während Comte vom Gegensatz Glaube / Vernunft (Wissenschaft) ausgeht und Marx den Klassengegensatz zum Ausgangspunkt seiner Geschichtsinterpretation macht, holen die Autoren der Kritischen Theorie viel weiter aus und erklären den Gegensatz Natur / Herrschaft für relevant. Sie erzählen eine „Urgeschichte des Subjekts“, die zeigen soll, wie ein aufgeklärtes, rationalistisches Subjekt als „Geist“ über die „Natur“ herrscht, das Herrschaftsprinzip auf alle Objekte, alle Bereiche der Natur und der Gesellschaft ausdehnt und schließlich seiner eigenen Herrschaft als Selbstbeherrschung zum Opfer fällt, weil es gezwungen ist, die Natur in sich selbst zu verleugnen, zu unterdrücken. Zusammen mit der „inneren“ Natur fällt dieser Selbstbeherrschung und Selbstdisziplinierung auch die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, zum Opfer. Ähnlich wie beim britischen Psychoanalytiker Ronald D. Laing 11 gehört Erfahrung in den Werken von Adorno und Horkheimer zu den zentralen 9 Ibid. 10 Ibid., S. 74. 11 Vgl. R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 12-13. <?page no="199"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 183 Begriffen. Zunehmende Selbstdisziplinierung, die mit wachsender Naturbeherrschung einhergeht, hat zur Folge, dass Erfahrung und die auf ihr gründende Subjektivität atrophieren. Davon zeugt gegenwärtig die bis ins kleinste Detail organisierte Pauschalreise, die nach dem „Transfer ins Strandhotel“ von dem anhand mehrerer Preislisten ausgewählten „Urlaubsland“ nur noch das „Wellness“-Angebot erfahrbar macht, das den gemeinsamen Nenner aller „Urlaubsländer“ bildet. Diese werden austauschbar, weil sie vornehmlich nach Preiskategorien oder Preis-Leistungs-Verhältnissen beurteilt werden. Ihre geographischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Besonderheiten werden gerade durch die Konzentration auf das für sie „Typische“ (das kommerzialisierte Kulturklischee) ausgeblendet, und das transferierte Subjekt muss als postmoderner Odysseus auf Erfahrungen, die es als selbständig Reisender machen könnte, verzichten. Die „Urgeschichte des Subjekts“ läuft somit auf dessen Atrophie hinaus, die mit der immer intensiver werdenden Naturbeherrschung und der immer engmaschiger werdenden gesellschaftlichen Organisation als Leistungs-, Sicherheits- und Kontrollmechanismus zusammenhängt. Im Rahmen des Gegensatzes Herrschaft / Natur kommt ein völlig anderes Aktantenmodell zustande als bei Hegel oder Marx, in dem der Kapitalismus als nur eine mögliche Variante der Naturbeherrschung erscheint. Diese wird zum eigentlichen Problem - nicht die sie reproduzierende Klassenherrschaft. Die beherrschte „Natur“ tritt bei Adorno und Horkheimer als die Instanz auf, die zur Versöhnung mahnt. Sie wird zur Auftraggeberin eines Subjekts, das aufgefordert wird, mit der bisherigen Menschheitsgeschichte zu brechen und sich als „Geist“ auf seine eigene Natur zu besinnen, die es unterdrücken muss, solange es der „Herrschaft“ als Gegenauftraggeberin gehorcht. Aus deren Bann kann es noch am ehesten mit Hilfe der „Kunst“ heraustreten, die zusammen mit dem kritischen Philosophen zur wichtigsten Helferin (adjuvant, Greimas) des gespaltenen Subjekts wird. Dieses Subjekt ist gespalten, weil es, wie sich gezeigt hat, in sich das Naturprinzip mit dem Herrschaftsprinzip vereinigt. Aus der Verstrickung in die Herrschaftsmechanismen soll es sich als „Geist“ mit Hilfe der Kunst lösen. Denn: „In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden.“ 12 Auf dem Weg zur „Versöhnung mit der Natur“, dem Objekt-Aktanten von Adornos und Horkheimers Diskurs 13 , stößt das sich versöhnende und 12 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 202. 13 Vgl. E.-A. Sewing, Grenzen und Möglichkeiten der Adornoschen Ästhetik heute, Frankfurt-Bern-New York, Lang, 1991, S. 44, wo die Autorin zu dem Schluss kommt, „daß die Versöhnung die zentrale Kategorie der Ästhetischen Theorie Adornos darstellt“. <?page no="200"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 184 befreiende Subjekt auf seine Widersacher (opposants, Greimas): auf den die Natur instrumentalisierenden rationalistischen („aufgeklärten“) Positivismus und das herrschaftliche Hegelsche Systemdenken. Adorno und Horkheimer betrachten es als eine der wesentlichen Aufgaben Kritischer Theorie, alle Varianten des Systemdenkens und der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) als Mechanismen der Naturbeherrschung zu analysieren und ihre Verbindungen zu verschiedenen Formen technokratischen Handelns aufzuzeigen. Dadurch wird Kritische Theorie - zusammen mit der gesellschaftskritischen Kunst - zur Helferin eines Subjekts, dessen Spaltung sich aus seiner ambivalenten Stellung zwischen Herrschaft und Natur, Unterwerfung und Befreiung ergibt. Indirekt geht Per Jepsen auf diese Subjekt-Spaltung bei Adorno ein, wenn er den Widerstreit zwischen der inneren Natur des Subjekts und seiner gesellschaftlich vermittelten Rationalität beschreibt: „Umgekehrt sei aber auch die unmittelbare Hingabe des Subjekts an die Impulse der inneren Natur mit Freiheit im emphatischen Sinn nicht zu verwechseln, weil ohne Ich-Kontrolle und Rationalität hieraus nur der Zwang, sich den eigenen Trieben zu unterwerfen, resultiere. Weder Vernunft noch Impuls an sich, sondern einzig die Versöhnung der beiden kennzeichne also die Verfassung einer nicht länger widersprüchlichen Autonomie des Subjekts.“ 14 Diese Beschreibung erinnert an die Stellung des Freudschen „Ich“ zwischen „Es“ und „Überich“. Das „Ich“ soll nicht blindlings den „Es“-Trieben folgen; es soll diese Triebe aber auch nicht völlig verleugnen und im „Überich“ als kultureller Instanz aufgehen. Es nimmt eine ambivalente Position zwischen Trieb und Gewissen, Natur und Kultur ein, und diese Ambivalenz 15 des Subjekts (als „Ich“) ist nicht nur für die Psychoanalyse kennzeichnend, sondern auch für zahlreiche Romane der Spätmoderne: für die Romane Musils, Prousts, Gides, Svevos, D. H. Lawrences und Virginia Woolfs, deren Protagonisten zwischen Vernunft und Naturtrieb, Bewusstem und Unbewusstem, Tag und Traum schwanken. 16 Nicht zufällig ist ihnen allen ein ausgeprägtes Interesse für Freuds Psychoanalyse und Nietzsches Philosophie gemeinsam. Nietzsche war wohl der erste, der nahezu alle Aspekte der menschlichen Ambivalenz untersuchte, die sich aus der prekären Stellung des Einzelnen zwischen Natur und Kultur, Trieb und Moral ergibt. 17 14 P. Jepsen, Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, S. 168. 15 Zur Ambivalenz-Problematik bei Freud und in der Spätmoderne vgl. Vf., Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, S. 8-14. 16 Vgl. Vf., L’Ambivalence Romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2., erw. Aufl.), S. 336-347. 17 Vgl. F. Nietzsche, „Der Fall Wagner“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 938. <?page no="201"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 185 Mit Nietzsche und den Romanciers verbindet Adorno und Horkheimer die Ausrichtung ihrer Theorie auf den Einzelnen, auf das individuelle Subjekt. Es ist die eigentlich kritische Instanz und zugleich der Kern des Aktantenmodells, das der Kritischen Theorie als Erzählung der Gesellschaft zugrunde liegt. Dies geht recht eindeutig aus Adornos Aufsatz über „Individuum und Organisation“ hervor, in dem es zur Position des Individuums in der zeitgenössischen Gesellschaft heißt: „Das individuelle Bewußtsein, welches das Ganze erkennt, worin die Individuen eingespannt sind, ist auch heute noch nicht bloß individuell, sondern hält in der Konsequenz des Gedankens das Allgemeine fest. Gegenüber den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünftige beim isolierten Einzelnen besser überwintern, als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben.“ 18 In dieser Passage, die als eine indirekte Kritik an Hegel und Marx (vgl. Abschn. 3 und 4) gelesen werden könnte, weil sie dem „Weltgeist“ und den „kollektiven Mächten“ die Modalität „Vernunft“ abspricht, erscheint der kritische Einzelne als Fokalisator von Adornos und Horkheimers Erzählung. Das gesellschaftliche Geschehen wird aus seiner Sicht betrachtet und beurteilt - und nicht aus der Sicht des „Weltgeistes“ oder des „Proletariats“. Zugleich tritt der kritische Philosoph als Helfer des individuellen Subjekts auf, das er mit kritischen Kompetenzen ausstattet: u.a. mit den Modalitäten „Vernunft“ und „Verallgemeinerungsfähigkeit“, die den „kollektiven Mächten“ fehlen. Dadurch wird als Alternative zu Hegels und Marxʼ geschichtsimmanenter Dialektik, die auf überindividuellen und kollektiven Subjekten wie „Weltgeist“, „Volksgeist“ und „Proletariat“ gründet, eine negative Dialektik begründet, die sich am kritischen Individuum orientiert und dabei dem historischen Prozess als fortschreitender Befreiung ihr Vertrauen entzieht. Dies übersieht Norbert Elias, wenn er Adorno pauschal als „humane[n] Marxist[en]“ 19 bezeichnet. Adornos negative Dialektik ist eher als eine radikale Kritik an der historischen, auf die revolutionäre Klasse als kollektiven Aktanten ausgerichteten Dialektik von Marx zu verstehen. Sein Bruch mit Hegel und Marx bietet eine Erklärung für die von ihm gewählte 18 Th. W. Adorno, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 84-85. 19 N. Elias, „Adorno-Rede: Respekt und Kritik“, in: ders., Aufsätze und andere Schriften, Bd. I, Gesammelte Schriften, Bd. XIV (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 496. <?page no="202"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 186 Bezeichnung „negative Dialektik“ 20 , deren raison d’être eng mit der Kritikfähigkeit des autonomen Individuums zusammenhängt. Der autonome Einzelne verfügt über eine besondere Kompetenz oder Modalität, wenn er in Adornos Essay über Paul Valéry „Der Artist als Statthalter“ als Künstler auftritt. In diesem Essay verschmelzen Subjekt und Helfer zu einem kritischen Aktanten, der als „isolierter Einzelner“ zum Vertreter oder Statthalter des „gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ wird: „Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.“ 21 Karl Markus Michel mag in gewisser Hinsicht Recht haben, wenn er feststellt, Kunst sei bei Adorno das, „was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war“. 22 Allerdings ist die Kunst nicht das historische Subjekt selbst, sondern, wie sich zeigen wird (vgl. Abschn. 5), die Helferin des Subjekts, das versucht, aus dem Räderwerk der Naturbeherrschung auszubrechen. Das Subjekt ist das kritische Individuum, und seine Idealgestalt ist der Künstler oder der kritische Philosoph. Im Gegensatz zu den Aktantenmodellen von Hegel und Marx, die auf überindividuelle Instanzen wie „Weltgeist“ und „Proletariat“ ausgerichtet sind, gründet Adornos und Horkheimers Aktantenmodell auf dem kritischen Einzelnen. Im Rahmen dieses Modells erscheint die Geschichte nicht als Auseinandersetzung zwischen abstrakten oder kollektiven Aktanten („Volksgeistern“, „Klassen“) und schon gar nicht als Auftraggeberin des „Proletariats“, sondern als ein verhängnisvoller Prozess, den der „isolierte Einzelne“ noch am ehesten kritisch reflektieren kann. Freilich handelt es sich, wie Rolf Wiggershaus bemerkt, um das Individuum „der nachliberalistischen Gesellschaft“ 23 , dessen Zukunft in der Zwischenkriegszeit ungewiss war - und noch stets ungewiss ist. Daniel Kipfer treibt die Paradoxien von Adornos individuellem Subjekt auf die Spitze, wenn er schreibt: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“ 24 20 Vgl. L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: La Quinzaine littéraire 78, 1969. In seinem Nachruf auf Adorno wirft Goldmann der Frankfurter Schule in ihrer Gesamtheit ihre Abkehr von der historischen Immanenz des Marxismus vor. 21 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 194-195. 22 K. M. Michel, „Versuch, die Ästhetische Theorie zu verstehen“, in: B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialien zur Ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp (1979), 1980, S. 73. 23 R. Wiggershaus, Theodor. W. Adorno, München, Beck, 1987, S. 69. 24 D. Kipfer, Individualität nach Adorno, Tübingen, Francke, 1999, S. 82. <?page no="203"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 187 Angesichts solcher Argumente sollte man die Ambivalenz von Adornos Einzelsubjekt in Erinnerung rufen: Es ist einerseits das in den Herrschaftsmechanismus verstrickte und zum Untergang verurteilte Subjekt, andererseits das sich durch Reflexion und Kritik befreiende Subjekt, das durchaus noch Widerstand leisten kann und von seinem Helfer, dem kritischen Philosophen, aufgerufen wird, es zu tun. 2. Kritik an Rationalismus und Positivismus: Natur und „instrumentelle Vernunft“ Konkret ist Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als eine kritisch-polemische Auseinandersetzung mit dem Rationalismus im Sinne von René Descartes und Francis Bacon zu verstehen, der bei Auguste Comte durch seine Historisierung und seine Ausrichtung auf Tatsachenwissen eine Neubestimmung erfährt. „Sehen, um vorauszusehen: das ist das dauernde Unterscheidungsmerkmal der wahren Wissenschaft“ 25 , heißt es in einer von Comtes Schriften, wo die positive Wissenschaft zum Instrument der Naturbeherrschung wird und es dem herrschenden Subjekt ermöglichen soll, sich alle Objekte gefügig zu machen, anzueignen. Zu Recht weist Pierre Macherey darauf hin, dass es bei Comte darauf ankommt, eine Wissenschaft zu konzipieren, die nicht Selbstzweck ist, sondern dem Menschen als Mittel dient, sich eine „wirksame und möglichst vollständige Herrschaft über die Natur“ 26 zu sichern. In diesem Kontext kann Gesellschaftskritik, die sich der Instrumentalisierung des Wissens widersetzt und zugleich nach Denkformen jenseits der Naturbeherrschung sucht, nur als fragwürdige „Metaphysik“ erscheinen, die dazu angetan ist, Gesellschaft zu destabilisieren. Adorno ist sich der Tatsache bewusst, dass Comtes Positivismus, der dazu tendiert, das Wissen in ein Herrschaftsinstrument zu verwandeln, schließlich zur Apologie eines autoritären Regimes werden muss. In einem Brief an Walter Benjamin spricht er von der „autoritär-positivistischen Menschheitsreligion Comtes“. 27 Dies bedeutet, dass sich erst jenseits des herrschaftlichen, instrumentellen Wissens ein Erkenntnismodus abzeichnet, der sich den Objekten nähern kann, ohne sie durch Herrschaftsansprüche zu verzerren. Sowohl in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als auch in Horkheimers - ebenfalls in den 1940er Jahren entstandenen - Schriften 25 A. Comte, Soziologie, Bd. III: Abschluß der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen (Hrsg. H. Waentig), Jena, Verlag Gustav Fischer, 1923, S. 614. 26 P. Macherey, Comte. La philosophie et les sciences, Paris, PUF, 1989, S. 84. 27 Th. W. Adorno - W. Benjamin, Briefwechsel 1928-1940 (Hrsg. H. Lonitz), Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 399. <?page no="204"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 188 Vernunft und Selbsterhaltung (1942) und Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. 1947) wird versucht, Gegenentwürfe zu allen Varianten des Positivismus zu präsentieren. Die Kritik der Aufklärung, die deren herrschaftsbedingten Verblendungszusammenhang nachzeichnet, mündet bei Horkheimer in eine Kritik der „instrumentellen Vernunft“, die aus dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen ableitbar ist, der sich inmitten einer ihm feindseligen Natur behaupten muss und deshalb alles daransetzt, um sich diese Natur zu unterwerfen. Der Versuch restloser Naturbeherrschung geht jedoch mit wachsender Verblendung einher, weil die feindselige Umwelt, in der sich das Subjekt behaupten will, nur aus strategischer Sicht als manipulierbares oder gar zu beseitigendes Hindernis wahrgenommen wird, nicht als Objekt der Erkenntnis. Im Utilitarismus und im Rationalismus der Aufklärung meinen Adorno und Horkheimer, die Hauptquelle dieses instrumentellen Denkens zu erkennen: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn.“ 28 Diese Art von Erkenntnis, die auf Herrschaft und Manipulation aus ist, ist in Wirklichkeit keine. Nietzsche erklärt warum: „Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff (…).“ 29 Somit entsteht der Begriff dadurch, dass man sich über das Individuelle und Besondere hinwegsetzt. Man setzt sich darüber hinweg, um inmitten einer feindseligen Natur überleben zu können. Selbsterhaltung wird zum Hauptanliegen. Dabei wird Ungleiches, Abweichendes kurzerhand einem Begriff subsumiert, der das lebensnotwendige Handeln ermöglicht und das Subjekt wieder zum Herren der Lage macht: „Wer zum Beispiel das ‚Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet.“ 30 Hier beschreibt Nietzsche eine Art „Urszene“, aus der Adornos und Horkheimers „Urgeschichte des Subjekts“ hervorgehen könnte. Der Mensch, dem es primär um seine Selbsterhaltung zu tun ist, sieht sich genötigt, sein Denken den bedrohlichen Umständen anzupassen und es als Instrument in seinem Kampf ums Überleben einzusetzen. Dabei wird dieses Denken verzerrt, weil es letztlich aus groben Schematisierungen besteht, die der Eigenart der Objekte nicht gerecht werden. Daher plädieren 28 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 20. 29 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. V, op. cit., S. 313. 30 F. Nietzsche, „Die Fröhliche Wissenschaft“, in: ders., Werke, Bd. III, op. cit., S. 118-119. <?page no="205"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 189 Adorno und Horkheimer für einen „Vorrang des Objekts“, das in seiner Einmaligkeit und Vielseitigkeit unerkannt bleibt, solange es vorsichtshalber vorschnell einem Begriff subsumiert wird und dadurch einer Abstraktion zum Opfer fällt. Diese Kritik am vorschnellen Subsumieren, das aus dem Herrschaftsprinzip hervorgeht, wird in der Dialektik der Aufklärung zu einer Kritik an der bürgerlichen Marktgesellschaft, die in zunehmendem Maße vom Tauschwert beherrscht wird, der nur Äquivalente kennt: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung.“ 31 Die „Urgeschichte des Subjekts“, deren Anfang Nietzsche skizziert, wenn er versucht, sich und seine Leser in prähistorische Zeiten zu versetzen, gipfelt in der bürgerlichen Marktgesellschaft, in der das „subsumierende“ Machtstreben sich mit dem abstrahierenden Tauschwert paart. Dadurch wird die Neigung des instrumentellen Denkens, begrifflich zu schematisieren und von der Eigenart der Objekte zu abstrahieren, verstärkt. Diese Neigung findet ihre vollkommenste Form im System, das Adorno und Horkheimer als das Ideal der Aufklärung erscheint: „Ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt.“ 32 Das System könnte insofern als Extremform der Abstraktion und des Herrschaftsprinzips betrachtet werden, als es - wie das Hegelsche - den Anspruch erhebt, alle Phänomene erfassen zu können und mit der Wirklichkeit identisch zu sein. Gegen dieses „Identitätsdenken“, dessen nach Selbsterhaltung strebendes und die Natur beherrschendes Subjekt sich über die Eigenart der Objekte hinwegsetzt, indem es sie mit sich selbst, d.h. mit seiner eigenen Begrifflichkeit identifiziert, wenden sich Adorno und Horkheimer in nahezu allen ihren Schriften. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass Adornos Kritik an Hegel - vor allem in der Negativen Dialektik - als eine Fortsetzung seiner Kritik an der rationalistischen und positivistischen Identifizierung von Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit gelesen werden kann. Horkheimer konkretisiert die Entwicklung des Herrschaftsprinzips in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wenn er in seiner Schrift Vernunft und Selbsterhaltung zeigt, wie im Übergang von der liberal-individualistischen Wirtschaftsform zum Monopolkapitalismus die Herrschaftsmechanismen verstärkt wurden: „Die Episode der freien industriellen Wirtschaft mit ihrer Dezentralisierung in die vielen Unternehmer, von denen keiner so groß war, daß er mit den anderen nicht hätte paktieren 31 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 18. 32 Ibid., S. 17. <?page no="206"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 190 müssen, hat die Selbsterhaltung in Grenzen des Humanen verwiesen, die ihr ganz äußerlich sind. Das Monopol hat die Grenzen wieder gesprengt und mit ihm kehrt Herrschaft zu ihrem eigenen Wesen zurück (…).“ 33 In der Zeit des Monopolkapitalismus, in der die Großkonzerne durch Straffung der Organisation den Leistungsdruck erheblich erhöhen 34 und nicht unwesentlich zur Kommerzialisierung aller Lebensbereiche beitragen, nimmt das Herrschaftsprinzip neue Formen an. Es reduziert die Autonomie des Einzelnen, der sich gezwungen sieht, mehr als je zuvor die Regeln der instrumentellen Vernunft zu befolgen und sich selbst zu instrumentalisieren, indem er sich optimal vermarktet. 35 Dabei verzichtet er auf kritische Reflexion, die ihm als einzige helfen könnte, die Herrschaftsmechanismen der instrumentellen Vernunft zu durchschauen und nach Alternativen zu fragen. In seinem Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft nimmt sich Horkheimer als Helfer des nach Autonomie strebenden Subjekts dieser Aufgabe an und deckt die Blindheit des instrumentellen Denkens auf. Vernunft darf nicht auf technische, marktorientierte Vernunft reduziert werden: „Solche Mechanisierung ist in der Tat wesentlich für die Expansion der Industrie; aber wenn sie zum Charakterzug des Geistes wird, wenn Vernunft selbst sich instrumentalisiert, nimmt sie eine Art von Materialität und Blindheit an, wird sie ein Fetisch, eine magische Wesenheit, die mehr akzeptiert als geistig erfahren wird.“ 36 Diese Passage ist aktueller, als sie es in den 1940er Jahren war, weil sich in der nachmodernen Gesellschaft, die man nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen lassen kann, die Neigung von Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen verstärkt hat, alles Wissen nach dem instrumentellen Prinzip zu beurteilen. Während Comte noch für die Trennung von Theorie und Praxis und eine vom unmittelbaren Nutzen unabhängige Forschung plädierte 37 , wird in der heutigen Zeit immer häufiger nach dem Nutzen, dem Praxisbezug und der beruflichen Relevanz der Wissenschaften gefragt. Es ist, als hätte er die gegenwärtige gesellschaftliche und sprachliche Situation vorausgeahnt, wenn Horkheimer schreibt: „Es ist vielmehr der Philosophieprofessor, der den Physiker nachzuahmen sucht, um seinen 33 M. Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung (1942), Frankfurt, Fischer, 1970, S. 28. 34 Vgl. V. de Gaulejac, La Société malade de la gestion. Idéologie gestionnaire, pouvoir managérial et harcèlement social, Paris, Seuil (2005), 2009, S. 44-45. 35 Davon zeugt der Sammelband Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft (Hrsg. S. Neckel, G. Wagner), Berlin, Suhrkamp, 2013. 36 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 32. 37 Vgl. A. Comte, Catéchisme positiviste (1852), Hrsg. F. Dupin, Paris, Editions du Sandre, 2012, S. 259. <?page no="207"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 191 Tätigkeitsbereich in ‚all die erfolgreichen Wissenschaften‘ einzugliedern, der mit Gedanken umgeht, als wären sie Dinge, und jede andere Idee von Wahrheit außer derjenigen eliminiert, die aus der modernen Naturbeherrschung abstrahiert ist.“ 38 An zeitgenössischen Universitäten, an denen Fächer mit geringen Studentenzahlen (bisweilen aber mit hochmotivierten Studierenden) abgeschafft werden, werden die Vertreter aller Wissenschaften in zunehmendem Maße danach beurteilt, ob sie durch möglichst praxisrelevante Projekte „Drittmittel“ einwerben können oder nicht. Diese Orientierung an Zahl und Finanzkraft zeugt von einem ungebremsten Willen, die Naturbeherrschung auf die Spitze zu treiben. Diese Entwicklung verkennen kritische Rationalisten wie Karl R. Popper, wenn sie - wie Auguste Comte - hoffen, dass die modernen Wissenschaften wesentlich dazu beitragen werden, die Schwierigkeiten, mit denen die zeitgenössische Gesellschaft konfrontiert wird, zu meistern. Der Titel des Sammelbandes Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969) ist irreführend, weil es in ihm um eine Auseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und Karl R. Poppers Kritischem Rationalismus geht, der eine Kritik des Wiener Logischen Positivismus ist - und nicht dessen Fortsetzung. 39 Die Beiträge decken jedoch einige positivistische Tendenzen des Kritischen Rationalismus auf, die im Wesentlichen darauf zurückzuführen sind, dass Popper auf die modernen Naturwissenschaften und die aus ihnen hervorgehenden Technologien vertraut, wenn es gilt, die Probleme der spätkapitalistischen Gesellschaft zu lösen. In einem Sprachduktus, der an Comte erinnert, plädiert er in seiner Kritik an Karl Mannheims Wissenssoziologie für eine „soziale Technologie“: „A social technology is needed whose results can be tested by piecemeal social engineering.“ 40 Es geht folglich nicht um eine radikale Abkehr von Naturbeherrschung und instrumenteller Vernunft, sondern um eine schrittweise Verbesserung des Bestehenden. Diese Einstellung ist insofern „positivistisch“ im Sinne von Comte, als auch der französische Philosoph die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht überwinden, sondern mit Hilfe der positiven Wissenschaft vervollkommnen und konsolidieren wollte. In diesem Zusammenhang kritisiert Adorno den instrumentellen Charakter der kritisch-rationalistischen Wissenschaftsauffassung: „Ihr instrumenteller Charakter, will sagen, ihre Orientierung am Primat verfügbarer 38 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, op. cit., S. 56. 39 Vgl. K. R. Popper, „Der logische Positivismus ist tot: Wer ist der Täter? “, in: ders., Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1979, S. 123-124. 40 K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul, 1963, S. 222. <?page no="208"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 192 Methoden anstatt an der Sache und ihrem Interesse, inhibiert Einsichten, die ebenso das wissenschaftliche Verfahren treffen wie dessen Gegenstand. Kern der Kritik am Positivismus ist, daß er der Erfahrung der blind herrschenden Totalität ebenso wie der treibenden Sehnsucht, daß es endlich anders werde, sich sperrt (…).“ 41 Popper würde freilich (mit Comte) antworten, dass das Streben der Kritischen Theorie nach totaler Umgestaltung zugleich utopisch und gefährlich ist (vgl. Kap. XVI. 6). Damit ist die gesamte Kontroverse auf die Relevanzkriterien der teilnehmenden Diskurse verwiesen: Ist der Gegensatz zwischen Natur und Naturbeherrschung (Herrschaft) relevant oder der kritisch-rationalistische Gegensatz zwischen demokratischer Marktwirtschaft und Totalitarismus? Der Entscheidung für eine dieser beiden Relevanzen liegt stets ein Werturteil zugrunde, das auch die Beobachtung der Gesellschaft lenkt. 3. Kritik an Hegels „Identitätsdenken“: Negative Dialektik I Will man die Negativität der Kritischen Theorie und vor allem Adornos negative Dialektik konkret, d.h. im philosophisch-historischen Kontext verstehen, muss man ihrem dialogischen Charakter Rechnung tragen. Denn sie ist nicht nur eine Reaktion auf den Positivismus, sondern auch - und vielleicht vor allem - auf den Hegelianismus und den hegelianischen Marxismus. Aus kritisch-theoretischer Sicht verbindet den Positivismus und den Hegelianismus der Wille, das Objekt mit dem Subjekt zu identifizieren. Beide philosophische Richtungen gehen vom Primat eines herrschenden Subjekts aus, welches sich das Objekt aneignet, indem es dieses Objekt seiner Begrifflichkeit unterwirft und es für seine Zwecke instrumentalisiert. Indem Hegel immer wieder behauptet, er habe Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Denken und Sein in seinem System versöhnt, behauptet er zugleich den vernünftigen Charakter der sozialen Wirklichkeit und der Weltgeschichte (vgl. Kap. IV. 1). In der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heißt es unmissverständlich: „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“ 42 Diese Vernunft wurde jedoch, wie sich im vierten Kapitel gezeigt hat, von Hegel als System konstruiert. Wenn er erklärt, „die Philosophie [sei] ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ 43 , 41 Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1984 (11. Aufl.), S. 21-22. 42 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 20. 43 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 26. <?page no="209"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 193 so bedeutet dies, dass er selbst seine Zeit mit seinem System gedanklich zu erfassen suchte. Schon der Junghegelianer, Hegel-Schüler und später Hegel-Kritiker Friedrich Theodor Vischer bemerkte, dass dieses System eine Gewalttour ist, die aus dem Herrschaftsanspruch und konkret aus der Herrschaft des Menschen über die Natur resultiert. Vischer gelangt zu dem Schluss, dass Hegels System der Natur aufgestülpt wurde, dass es diese Natur aber nicht erklärt: „Er meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt; daher, weil das Anderssein unerklärt daneben liegen bleibt, fallen sie doch auseinander und ist die Wesensfülle in seiner Vorstellung von der Weltvernunft nur seine ehrliche Vorstellung.“ 44 Lange vor Adorno weist Vischer darauf hin, dass Hegels Anspruch, in seinem System die gesamte Wirklichkeit als konkrete Totalität wiederzugeben, nur die Tatsache verdeckt, dass dieses System eine partikulare Konstruktion ist und ein Versuch, die Welt als Natur begrifflich zu beherrschen und dem Subjekt als Geist um jeden Preis anzugleichen. Vischer ist einer der ersten Kritiker des Hegelschen Identitätsdenkens. An diesem Punkt, an dem die Widersprüche des idealistischen Systems sichtbar werden, setzt Adornos Kritik ein, auf die sich der Kommentar der Eindeutigkeit halber ab jetzt konzentriert. Adorno sieht in Hegels System einen Höhepunkt der Naturbeherrschung, die ideologisch vom Arbeitsethos begleitet wird. Geistige Arbeit erscheint als ein Sublimat materieller Arbeit, die notwendig ist, um die Naturgewalten zu bezwingen. Von Hegel heißt es: „Arbeit wird ihm zu ihrer Reflexionsform, zur reinen Tat des Geistes, zu dessen produktiver Einheit. Denn nichts soll außer ihm sein. Das factum brutum aber, das im totalen Geistbegriff verschwindet, kehrt in diesem wieder als logischer Zwang.“ 45 Dieser Zwang „bewirkt den Schein der Versöhnung“. 46 Von einer echten Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur kann folglich nicht die Rede sein, und Hegels System erscheint Adorno - ähnlich wie der rationalistische Positivismus - als ein raffiniertes Instrument der Naturbeherrschung. Seine logischen Zwänge sind sublimierte materielle Arbeit. Als Alternative stellt sich Adorno ein Denken vor, das sich jenseits aller Systemzwänge dem Objekt nähert, ohne es beherrschen zu wollen. 44 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. IV (Hrsg. R. Vischer), München, Meyer und Jessen, 1922, S. 482. 45 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt, Suhrkamp (1963), 1966, S. 32. 46 Ibid. <?page no="210"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 194 Seine Variante der Kritischen Theorie ist als ein polemisch-kritischer Dialog mit Hegel zu verstehen. Davon zeugen die folgenden Schlüsselsätze in der Negativen Dialektik: „Solche Dialektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel. Bei diesem koinzidierten Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten.“ 47 An dieser Stelle setzt Adorno die Kritik Vischers und anderer Junghegelianer an Hegels Systemdenken fort: Dieses Denken meint, die gesamte Wirklichkeit erfasst zu haben und daher mit dieser Wirklichkeit identisch zu sein, lässt aber alle ihre Elemente aus, die in seiner Begrifflichkeit nicht aufgehen. 48 Dieses Problem wäre konkreter im Zusammenhang mit den hier kommentierten Relevanzkriterien und den aus ihnen ableitbaren Terminologien (Klassifikationen, Definitionen) zu verstehen. Indem sich der Beobachter der Gesellschaft für bestimmte Relevanzkriterien entscheidet, klammert er andere Relevanzkriterien aus und legt dadurch die besondere Richtung seines Diskurses fest. Wenn er mit Hegel den Gegensatz Geist / Materie für relevant hält, erzählt er eine ganz andere Geschichte, als wenn er mit Marx den Klassengegensatz in den Vordergrund stellt oder mit Adorno und Horkheimer den Gegensatz zwischen Natur und Herrschaft. In jedem dieser Fälle fällt Licht auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit, während andere Aspekte im Dunkeln bleiben. Man könnte auch sagen, dass sie in den Diskurs als Konstruktion nicht aufgenommen werden. Dies bedeutet zugleich, dass kein Diskurs den Anspruch erheben kann, die gesamte Wirklichkeit als Totalität zu erfassen. Nur ein Diskurs, dessen Aussagesubjekt auf Relevanzkriterien verzichtete, könnte diesem Anspruch gerecht werden; aber ein solcher Diskurs würde sich sogleich in der vieldeutigen Wirklichkeit auflösen, weil die - stets partikularen - Relevanzkriterien, aus denen alle Selektionen, Klassifikationen und Definitionen hervorgehen, die Basis eines theoretischen Diskurses bilden. Kurzum: Jeder theoretische Diskurs kann per definitionem nur partikular, perspektivisch sein, nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen. Da sich Hegel über dieses Problem hinwegsetzt, kann er behaupten, in seinem System (seinem systematischen Diskurs) die Wirklichkeit als Totalität eingefangen zu haben. Tatsächlich hat er aber diese Wirklichkeit in eine begriffliche Zwangsjacke gesteckt, weil sein System zwar durchaus partikular ist (wie alle anderen auch), zugleich aber von sich behauptet, allumfassend, allgemeingültig und mit der Wirklichkeit identisch zu sein. Diesen Identitätsanspruch kritisiert Adorno als Gewaltakt und herr- 47 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 143. 48 Vgl. M. Bozzetti, Hegel und Adorno. Die kritische Funktion des philosophischen Systems, Freiburg-München, Alber, 1996, S. 164. <?page no="211"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 195 schaftliche Illusion, die mit der Herrschaft des Menschen über die Natur verwoben ist. In seiner Vorlesung über Negative Dialektik erinnert er daran, „daß die These von der Identität zwischen dem Begriff und der Sache eigentlich der Lebensnerv überhaupt des idealistischen Denkens, man kann sagen: des traditionellen Denkens überhaupt ist (…).“ 49 Er fügt hinzu: „Und negative Dialektik als Kritik heißt vor allem anderen die Kritik eben an diesem Identitätsanspruch (…).“ 50 Während dem Identitätsanspruch ein affirmatives oder positives Moment innewohnt, weil Hegel und die Hegelianer sich mit der als vernünftig definierten historischen Wirklichkeit identifizieren, wendet sich negative Dialektik von dieser Wirklichkeit ab, weil sie mit Marx (vgl. Kap. IV. 2) deren irrationalen Charakter wahrnimmt. Dieser besteht u.a. darin, dass der von allen Partikularitäten abstrahierende Tauschwert, der die Gesellschaft beherrscht, die eigentliche Instanz ist, welche die von Hegel, Fichte und anderen Idealisten praktizierte Identifikation von Subjekt und Objekt, Begrifflichkeit und Wirklichkeit durch Abstraktion ermöglicht: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es (…).“ 51 Anders gesagt: Das Tauschprinzip, das von allen besonderen Eigenschaften der Menschen und Dinge abstrahiert, ermöglicht die begriffliche Abstraktion, die der idealistischen Identifikation von Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit innewohnt. Konsequent lehnt es Adorno ab, Hegels idealistischer, positiver Dialektik zu folgen, wenn es gilt, die Negation der Negation in Positivität münden zu lassen. „Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens (…)“ 52 , heißt es in der Negativen Dialektik. Adornos Theorie als ganze sperrt sich gegen die Aufhebung der Widersprüche und Negativitäten im Positiven, in der Affirmation des Bestehenden. Sie verharrt im Negativen, und Inge Münz-Koenen mag Recht behalten, wenn sie anmerkt: „Der Verweischarakter auf eine negierte Realität, den jede Utopie besitzt, wird von Adorno absolut gesetzt.“ 53 Die Negation der spätkapitalistischen Realität, die - anders als bei Marx und den Marxisten - auf keine historische Aufhebung oder Überwindung 49 Th. W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/ 66 (Hrsg. R. Tiedemann), in: Th. W. Adorno, Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. XVI (Hrsg. Theodor W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 37. 50 Ibid. 51 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 147. 52 Ibid., S. 159. 53 I. Münz-Koenen, Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität des Utopischen bei Bloch, Adorno, Habermas, Berlin, Akademie Verlag, 1997, S. 93. <?page no="212"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 196 zielt, fördert das kritische Bewusstsein, das sowohl Hegel als auch Comte (der es mit dem metaphysischen Stadium assoziierte) missbilligten. Dieses kritische Bewusstsein, Erbe des liberalen Individualismus, wird in Adornos Aktantenmodell als besondere Kompetenz oder Modalität (Greimas) dem isolierten Individuum zugerechnet, das Adorno in Übereinstimmung mit anderen Vertretern der Kritischen Theorie wie Horkheimer, Marcuse und Leo Löwenthal gegen Hegelianer und Marxisten verteidigt. 54 Gegen Hegel, der im Rahmen seines überindividuellen Aktantemodells das individuelle Subjekt dem „Weltgeist“ und den „Volksgeistern“ unterordnet, wendet Adorno ein: „Hegel war sonderbar inkonsequent, als er das individuelle Bewußtsein, Schauplatz der geistigen Erfahrung, die seine Welt beseelt, der Zufälligkeit und Beschränktheit zieh. Erklärbar ist das nur aus der Begierde, das kritische Moment zu entmächtigen, das mit individuellem Geist sich verknüpft.“ 55 Es ist auch auf struktureller, diskursiver Ebene zu erklären: Hegel erzählte Geschichte mit Hilfe von überindividuellen (abstrakten und kollektiven) Aktanten und wurde daher von seinem eigenen Diskurs dazu an gehalten, individuelles Handeln als sekundär oder zufallsbedingt darzustellen. Das diskursive Subjekt ist zwar frei, sich für bestimmte Relevanzkriterien und die aus ihnen ableitbaren Selektionen, Klassifikationen und Definitionen zu entscheiden; hat es sich jedoch auf eine bestimmte Semantik festgelegt, ist seine Freiheit als Beliebigkeit auf narrativer Ebene drastisch eingeschränkt. Adornos Festhalten am autonomen Individuum als kritischer Instanz hat u.a. zur Folge, dass sich seine Kritische Theorie Kants Thesen über die Grenzen unserer Erkenntnis zu eigen macht und sie gegen Hegels Anspruch auf totale Erkenntnis ausspielt. Martin Zencks Behauptung, Adornos Ästhe tische Theorie sei „ein konsequent gegen Hegel gerichteter Kant“ 56 , könnte man in mancher Hinsicht auch auf seine Erkenntnistheorie anwenden. Trotz seiner Kritik an Kant und dessen mit der Naturbeherrschung liierter Askese nähert sich Adorno Kants Position, wenn er es ablehnt, Hegel zu folgen und das „Ding an sich“ in der Totalität absoluten Wissens aufzulösen. 57 „Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik“, erklärt er, „daß sie 54 Zur Rolle von Individualismus und Liberalismus in der Kritischen Theorie vgl. Vf., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), S. 16-17. 55 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 53. 56 M. Zenck, Kunst als begriffslose Erkenntnis. Zum Kunstbegriff der ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos, München, Fink, 1977, S. 98. 57 Vgl. Hegels Kritik an Kant in: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philo sophie, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 333: „Die Kantische Philosophie ist theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung, nämlich, daß nichts Wahres, sondern nur die Erscheinung gewußt werden könne.“ <?page no="213"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 197 sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung. Kant hat in der Lehre vom transzendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon etwas aufgezeichnet“. 58 Im folgenden Abschnitt soll deutlich werden, dass Adornos Rekurs auf Kants Skepsis gegenüber uneingeschränkter Erkenntnis, seine Kritik des idealistischen Identitätsdenkens (Fichtes, Hegels) und seine Weigerung, das individuelle Subjekt als kritische Instanz mythischen oder kollektiven Mächten unterzuordnen, seine Kritik am Marxismus motivieren. Diese Kritik ist kaum zu verstehen, wenn man Adorno mit Peter Dews als einen „Frankfurt Marxist“ 59 bezeichnet. 4. Kritik an Marx und am Marxismus: Negative Dialektik II Es soll im Folgenden keineswegs suggeriert werden, dass Adornos Denken mit Marx und dem Marxismus nichts zu tun hat. Der Kerngedanke, der Adorno und Marx verbindet, kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Der Kapitalismus ist ein irrationales, naturwüchsiges System, dessen Negativität in seinen Herrschaftsverhältnissen zutage tritt und einer radikalen Kritik ausgesetzt werden sollte, die nach Alternativen sucht. Wie Marx erkennt Adorno in der modernen Marktgesellschaft die entfremdenden und verdinglichenden Tauschverhältnisse, die den Menschen auf seine Arbeitskraft reduzieren und ihn in ein Anhängsel technischer Einrichtungen verwandeln. Der wesentliche Unterschied, der Adorno von Marx und den Marxisten trennt, findet sich - wie bereits angedeutet - in ihren Relevanzkriterien und in ihrer Art, Gesellschaft zu erzählen. Während Marx die Relevanzkriterien verhältnismäßig eng fasst und beim Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ansetzt, erweitern Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung die Relevanz auf den Gegensatz Natur / Herrschaft. Dies hat weitreichende Folgen für die Erzählung der Gesellschaft, wie die folgende Passage aus der Negativen Dialektik zeigt: „Was Marx und Engels dazu bewog, gleichsam noch den Sündenfall der Menschheit, ihre Urgeschichte, in politische Ökonomie zu übersetzen, obwohl doch deren Begriff, an die Totalität des Tauschverhältnisses gekettet, selber ein Spätes ist, war die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Revolution.“ 60 Anders gesagt: Die Übersetzung des Prinzips der Naturbeherrschung in die Begriffe der politischen Ökonomie greift zu kurz, weil die politische 58 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 396. 59 P. Dews, „Adorno, Poststructuralism and the Critique of Identity“, in: S. Jarvis (Hrsg.), Theodor W. Adorno. Critical Evaluations in Cultural Theory, Bd. II, London-New York, Routledge, 2007, S. 402. 60 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 314. <?page no="214"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 198 Ökonomie als Theorie des Kapitalismus selbst ein Epiphänomen der viel früher einsetzenden Naturbeherrschung ist. Dies heißt zugleich, dass Marx und Engels in Anbetracht einer möglichen Revolution ihr Augenmerk auf Symptome richten, statt sich mit den eigentlichen Ursachen zu befassen: Sie erzählen die moderne Geschichte des Subjekts, statt weiter auszuholen und sich seine Urgeschichte vorzunehmen. (Ein marxistischer - und zugleich positivistischer Einwand - kann jetzt schon vorgebracht werden: Die Vertreter der Kritischen Theorie begnügen sich mit theologisch-mythischen Ausdrücken wie „Sündenfall“ und „Urgeschichte“, statt den historischen Wendepunkt zu bezeichnen, an dem die Herrschaft des menschlichen Subjekts über die Natur tatsächlich eingesetzt hat.) Da sich Marx und Engels nicht mit der eigentlichen Ursache der kapitalistischen Herrschaft (mit dem Prinzip der Naturbeherrschung) auseinandersetzen, können sie sich der Illusion hingeben, dass die revolutionäre Umwälzung der herrschenden Verhältnisse durch die arbeitende Bevölkerung, das Proletariat, die Befreiung der Menschheit von Herrschaft und Zwang einläuten könnte. Sie übersehen, dass schon dem Begriff der Arbeit, der als geistige Arbeit bereits bei Hegel zur treibenden Kraft der Geschichte wurde, das Prinzip der Naturbeherrschung (als Naturbearbeitung) innewohnt. Dies ist der Grund, weshalb die proletarische Revolution, „auch dort, wo sie gelang“ (Adorno) misslingen musste. Da sie überall das Prinzip der Naturbeherrschung perpetuierte, mündete sie nicht in eine Ära der Freiheit und der Versöhnung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch, sondern ließ neue Herrschaftsverhältnisse im „realen Sozialismus“ entstehen. Diese Diagnose hat zwei unmittelbare Konsequenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Bruch zwischen der Kritischen Theorie Adornos (Horkheimers) und dem Marxismus führten: Die erste ist ein Verzicht auf die für den Marxismus unverzichtbare Einheit von Theorie und Praxis. Die Theorie kann eine Praxis, die weiterhin in Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist, nicht begleiten: „Indem aber, in der gerühmten Theorie-Praxis, jene unterlag, wurde diese begriffslos, ein Stück der Politik, aus der sie hinausführen sollte; ausgeliefert der Macht.“ 61 Die zweite Konsequenz, die aus dem Verzicht auf die Einheit von Theorie und Praxis hervorgeht, ist der Verzicht auf historische Immanenz, die Marx und die Marxisten von Hegel geerbt haben. Es ist der schon erwähnte Gedanke (vgl. Kap. IV), dass der von Widersprüchen und Kämpfen angetriebene sozio-historische Prozess gleichsam von selbst immer höhere 61 Ibid., S. 144. <?page no="215"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 199 Stadien der Entwicklung erreichen und schließlich in Befreiung und Versöhnung münden würde, weil ihm Kräfte, die nach Überwindung streben, innewohnen. Die Negativität von Adornos und Horkheimers Kritischer Theorie hängt mit diesem Verzicht auf historische Immanenz ursächlich zusammen. Denn eine Kritik, die auf die Einheit von Theorie und Praxis verzichtet, erkennt keine gesellschaftliche Kraft oder Bewegung, die in der Lage wäre, die bestehenden Verhältnisse zu überwinden. Daher kann sie sich mit keiner der existierenden sozialen Kräfte identifizieren und verharrt in der Negativität als Nichtidentität. Dies hängt auch damit zusammen, dass Adorno und Horkheimer die Gesellschaft rund ein Jahrhundert nach Marx und Engels beobachteten. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse als Produktionsverhältnisse so konsolidiert sind, dass die Entwicklung der Produktivkräfte (im Marxschen Sinn) sie nicht mehr sprengen kann. Dazu bemerkt Adorno in seinem Aufsatz „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “: „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.“ 62 Die „Technik“ wird hier stellvertretend für die Naturbeherrschung genannt. In dieser Passage wird zweierlei deutlich: Der bei Marx zentrale Antagonismus zwischen Bourgeoisie („Nutznießern“) und Proletariern büßt seine Relevanz, die das 19. Jahrhundert beherrschte, ein; er hat aufgehört, die treibende Kraft zu sein, welche die Produktionsverhältnisse (als Klassenherrschaft) sprengen könnte. Daher ist eine Überwindung der spätkapitalistischen Verhältnisse trotz aller Widersprüche, die ihnen zugrunde liegen, nicht in Sicht. Diese Diagnose erklärt nicht nur die Negativität der Kritischen Theorie, die sich auf eine radikale Kritik des Bestehenden beschränkt, sondern auch die Bedeutung dieser Theorie für die Postmoderne, die an die revolutionären Versprechen der Moderne nicht mehr anknüpfen kann, weil die Revolutionen nicht hielten, was sie versprachen. Gianni Vattimo, ein Vertreter postmodernen Denkens, spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Heidegger von Verwindung, welche, wie 62 Th. W. Adorno, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “, in: ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 173. <?page no="216"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 200 er meint, die revolutionäre Überwindung verdrängt hat. 63 Im soziologischen Zusammenhang bedeutet dies, dass wir die revolutionären Hoffnungen, die Horkheimer noch in der Zwischenkriegszeit hegte 64 , „verwunden“ haben. Diese „Verwindung“, die Adorno mit seiner negativen Dialektik antizipiert, widerspricht der hegelianischen und marxistischen Auffassung der Dialektik, in der Widersprüche stets über das Bestehende hinausweisen. Insofern haftet dem Ausdruck „negative Dialektik“ Widersinn an, und Adorno ist nicht zu Unrecht vorgeworfen worden, durch sein Insistieren auf Negativität und Nichtidentität das dialektische Denken desavouiert zu haben. 65 Diesem Vorwurf könnte Adorno mit der Feststellung begegnen, dass die Revolutionen, die den realen Sozialismus etablierten, die von ihm und Horkheimer analysierten Herrschaftsmechanismen nicht nur nicht abgeschafft, sondern gefestigt haben. Letztlich waren sie für „jene antiliberalen und autoritären Perversionen“ verantwortlich, „die die Marxische und Engelssche Theorie dann mit der Installierung in den östlichen Staaten erfahren hat“. 66 Kurzum: Die Marxsche und marxistische Theorie fiel schließlich der von ihr induzierten Praxis zum Opfer. Als Staatsideologie wurde sie zu einem Herrschaftsinstrument und geriet so in den von ihr nicht ausreichend reflektierten Prozess der Naturbeherrschung. Dazu bemerkt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik in einer luziden Studie zur „Naturproblematik bei Karl Marx“: „Dadurch, daß Marx die Entfremdung von der Natur als Teilmoment der entfremdeten gesellschaftlichen Arbeit bestimmt (…), verliert er jedoch bei seiner weiteren Analyse der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft die Entfremdung von der Natur - zwar nicht gänzlich, wohl aber weitgehend - aus den Augen.“ 67 Damit kehrt der Kommentar zur Relevanzproblematik zurück, die am Anfang eines jeden Diskurses als Erzählung steht. Marx beobachtet den Klassenkampf und postuliert die ihm entsprechende Relevanz, den Gegensatz von Kapital und Arbeit; ein Jahrhundert später beobachten Adorno und Horkheimer das Scheitern der Revolutionen und ihre Pervertierungen im realen Sozialismus. Um die Ursachen dieses Scheiterns zu erklären, holen sie weiter aus und erklären den Gegensatz zwischen Natur und Herrschaft für relevant. 63 Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. 64 A. Schmidt, Materialismus zwischen Metaphysik und Positivismus. Max Horkheimers Frühwerk. Darstellung und Kritik, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1993, S. 49-50. 65 Vgl. B. Scholze, Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2000, S. 286-287. 66 Th. W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, op. cit., S. 143. 67 W. Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx, Freiburg-München, Alber, 1984, S. 85. <?page no="217"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 201 Aus ihm geht eine spätmoderne Erzählung hervor, in der die ehrgeizigen Entwürfe von Marx und Comte zu der Hoffnung zusammenschrumpfen, dass die sich abzeichnende Katastrophe doch noch vermieden werden kann. „Der heraufziehenden Katastrophe“, lautet Adornos Fazit, „korrespondiert eher die Vermutung einer irrationalen Katastrophe in den Anfängen. Heute hat sich die vereitelte Möglichkeit des Anderen zusammengezogen in die, trotz allem die Katastrophe abzuwenden.“ 68 Dennoch halten Adorno und Horkheimer an der Möglichkeit des Anderen fest. An diese Möglichkeit erinnert die kritische Kunst, die durch ihre Negativität der falschen Totalität der bestehenden Verhältnisse Widerstand leistet. Zugleich evoziert sie durch ihre nichtbegrifflichen, mimetischen Momente eine Rationalität jenseits von Naturbeherrschung und Herrschaftsprinzip, die Adorno im Essay, im Modell und im parataktischen (nicht-hypotaktischen, nicht-hierarchischen) Schreiben zu verwirklichen sucht. Es geht um den Entwurf einer Theorie, die sich den herrschaftlichen, identifizierenden Mechanismen rationalistischer, hegelianischer und marxistischer Diskurse entzieht. 5. Die Kunst als Helferin des individuellen Subjekts: Ratio und Mimesis, Essay, Modell und Parataxis Die Darstellung des Aktantenmodells der Kritischen Theorie im ersten Abschnitt hat gezeigt, dass die überindividuellen (mythischen, kollektiven) Aktanten, auf denen die Diskurse von Hegel und Marx gründen, von Adorno und Horkheimer durch das kritikfähige individuelle Subjekt ersetzt werden. Dieses Subjekt ist jedoch gespalten, weil es zwischen dem Impuls der Naturbeherrschung und dem Impuls, der es zur Versöhnung mit der Natur drängt, hin- und hergerissen wird. Es ähnelt dem Subjekt der Psychoanalyse, das sich zwischen konträren Kräften zu behaupten hat. Die Helfer dieses Subjekts, die seine Versöhnung mit der Natur ermöglichen könnten, sind das kritische Denken und die Kunst. Die Orientierung an der Kunst, die vor allem das Spätwerk Adornos prägt, klingt bereits in der Dialektik der Aufklärung an, in der sich die Kunst als einzige dem naturbeherrschenden Fortschritt als Rationalisierung widersetzt. 69 Der Gegensatz von Aufklärung und Kunst ist spätestens seit Novalis romantischen Ursprungs, und es überrascht kaum, dass sich Adorno und Horkheimer auf den Romantiker Schelling berufen, um den „Vorrang [der Kunst] vor der begrifflichen Erkenntnis“ zu rechtfertigen: „Nach Schelling setzt die Kunst da ein, wo das Wissen die Menschen im Stich läßt. Sie gilt 68 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 315. 69 Vgl. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 29. <?page no="218"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 202 ihm als ‚das Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen‘.“ 70 An dieser Stelle tritt die Helferrolle der Kunst klar in Erscheinung: Sie soll dem menschlichen Subjekt, das sich nicht mehr auf sein von Alltag und Wissenschaft überliefertes Wissen verlassen kann, den Weg weisen. Nicht verlassen kann sich das Subjekt auf das rein begriffliche, instrumentelle Denken, das als abstrahierendes mit dem Herrschaftsprinzip verquickt ist, dem schließlich die menschliche Subjektivität selbst zum Opfer fällt. Adorno und Horkheimer suchen in der kritischen Kunst nach Elementen, die dazu angetan sind, das begriffliche Denken so weit zu modifizieren, dass es der Naturbeherrschung abschwört und sich mit der Natur versöhnt. Diese Elemente gehören dem mimetischen, nichtbegrifflichen Bereich der Kunst an, mit dessen Hilfe sie sich dem auf Begriffe angewiesenen kommunikativen Sprachgebrauch entziehen. Dazu heißt es in der Ästhetischen Theorie Adornos: „Die neue Kunst bemüht sich um die Verwandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische.“ 71 Um diesen Satz zu verstehen, genügt es nicht zu bedenken, dass kommunikative Sprache vorwiegend begrifflichen und instrumentellen (mitteilenden, fragenden, befehlenden) Charakter hat; es gilt zugleich, auf Adornos Kunstbegriff zu achten, der nicht „Kunst“ in allen ihren von der Literatursoziologie erfassten Erscheinungen meint, sondern sich auf die (spät-)moderne, kritische Kunst Kafkas, Prousts, Becketts und Valérys konzentriert. Von dieser Kunst ließe sich behaupten, dass sie durch ihren hermetischen, vieldeutigen Charakter der kommunikativen Sprache Widerstand leistet. Das Mimetische oder die Mimesis im Sinne von Adorno ist schwer zu definieren, weil es letztlich das ist, was sich der begrifflichen Definition oder Darstellung - d.h. der herrschaftlichen Identifikation durch das Subjekt - entzieht. Dazu bemerkt W. Martin Lüdke: „Was nun die Leistung der Mimesis ausmacht, stellt sich zugleich als Schwierigkeit ihrer adäquaten Beschreibung dar: denn das Besondere, Nichtidentische, ist ja eben das, was sich festen Bestimmungen, Begriffen - der Identifikation - entzieht.“ 72 Eine Übersetzung von Adornos Terminologie ins Semiotische ist einerseits riskant, wirft andererseits aber Licht auf seine theoretische Intention. Denn „Mimesis“ als Widerstand gegen kommunikative Rede, gegen das mitteilende Wort, bezieht sich auf die Ausdrucksebene der Sprache im Sinne von Louis Hjelmslev 73 : auf die Ebene der vieldeutigen Signifikanten, die 70 Ibid., S. 31. 71 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 171. 72 W. M. Lüdke, Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno - Beckett, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 68. 73 Vgl. L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, Kap. 13: „Ausdruck und Inhalt“. <?page no="219"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 203 nicht ohne weiteres in Begriffe als Signifikate (Saussure) übersetzt werden können. Die hermetischen Gedichte Mallarmés, Valérys und Celans entziehen sich der kommunikativen Begriffsbestimmung, weil sie nicht begriffliche Strukturen, nicht Strukturen von Signifikaten sind, sondern Konstellationen vieldeutiger Signifikanten. Dass sich Adorno von der Hermetik und Negativität solcher Texte eine gesellschaftskritische Wirkung verspricht, lässt der folgende Satz aus seiner Ästhetischen Theorie erkennen: „Die hermetischen Gebilde üben mehr Kritik am Bestehenden als die, welche faßlicher Sozialkritik zuliebe formaler Konzilianz sich befleißigen und stillschweigend den allerorten blühenden Betrieb der Kommunikation anerkennen.“ 74 Das heißt, dass für Adorno die Form als Ausdrucksebene die entscheidende kritische Komponente ist und nicht der - leicht verständliche - kritische „Inhalt“ im Sinne von Naturalisten wie Hauptmann oder Zola, der bisweilen dazu einlädt, ihn auf den ideologischen oder marktgängigen Begriff zu bringen. Adorno erscheint die im Mimetischen verharrende, begriffslose Kunst als Helferin des nach Autonomie strebenden kritischen Subjekts, weil sie ein Denken ermöglicht, das über die aus herrschenden Konventionen hervorgehende Begrifflichkeit und ihre Rationalität hinausweist. Es geht darum, eine durch die künstlerische Mimesis vermittelte Rationalität zu finden, die jenseits der aus der Naturbeherrschung ableitbaren „instrumentellen Vernunft“ liegt. In diesem Zusammenhang ist einer der Kernsätze aus Adornos Ästhetischer Theorie zu verstehen: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 75 Dies bedeutet, das Vernunft, die um der begrifflichen Herrschaft willen ihr mimetisches Moment als Angleichung an das Objekt verdrängt, irrational wird. Mimesis und Erfahrung bilden einen unauflösbaren Nexus: Erst wenn es gelingt, sich einem Objekt - einem Menschen, einer Sprache, einem Land - mimetisch anzugleichen, statt es begrifflich zu beherrschen, besteht Hoffnung, es zu verstehen. Etwas davon hat Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Kapitel über den Essayismus antizipiert: „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, - denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein - glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.“ 76 Musils Versuch, das Objekt, „von vielen Seiten“ zu nehmen, ohne es auf einen Begriff zu reduzieren, entspricht in vieler Hinsicht Adornos ge- 74 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 218. 75 Ibid., S. 489. 76 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. I (Hrsg. A. Frisé), Hamburg, Rowohlt, 1978, S. 250. <?page no="220"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 204 waltfreier, mimetischer Betrachtungsweise. Denn auch Musil ist der Meinung, dass eine vielseitige essayistische Annäherung an das Objekt eher zu dessen Erfahrung und Erkenntnis beiträgt als ein begriffliches Zurechtstutzen, das dem herrschaftlichen Impuls folgt. Die begriffliche Reduktion lässt die Erfahrung des Objekts in seiner Vielschichtigkeit nicht zu. Dies ist der Grund, weshalb Adorno den Essay bevorzugt, den er als theoretische Alternative zum (rationalistischen, hegelianischen) System betrachtet, das Subjekt und Objekt, Denken und Sein im Herrschaftsanspruch identifiziert. Der Essay ist dem romantischen Fragment verwandt, das ebenfalls als Antwort auf die identifizierende Systematisierung des Rationalismus und der Aufklärung aufgefasst werden kann: „Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.“ 77 In dieser Hinsicht ist der Essay der nichtbegrifflichen Kunst verwandt; von ihr unterscheidet er sich dennoch „durch sein Medium, die Begriffe (…), und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins“. 78 Der Essay ist nicht Kunst; Adorno erscheint er aber als Vermittler zwischen künstlerischer Mimesis, die auf das Besondere und Einmalige ihrer Gegenstände zielt, und einer kritischen Theorie, die danach strebt, sich ihren Gegenständen mimetisch zu nähern, ohne sie in Begriffen aufzulösen. In der Negativen Dialektik geht es darum, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ 79 - oder, wie Reinhard Kager es ausdrückt, „Mimesis und Rationalität miteinander zu verschmelzen“. 80 Adorno hofft, diese „Verschmelzung“ durch die herrschaftsfreie „Konstellation des Essays“ 81 zu erreichen. Es gilt, der hierarchischen Anordnung rationalistischer und hegelianischer Diskurse abzusagen und der alternativen Strukturierung des Essays zu folgen: „Er koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren“. 82 Er bietet das Bild eines „konstruierte[n] Nebeneinander“. 83 Das Denken soll auf diese Art von den induktiven und deduktiven Zwängen einer Logik befreit werden, die ein lückenloses System entstehen lässt. 77 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 22. 78 Ibid., S. 12-13. 79 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 25. 80 R. Kager, Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, Frankfurt-New York, Campus, 1988, S. 198. 81 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 37. 82 Ibid., S. 47. 83 Ibid. <?page no="221"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 205 Schon dem jungen Adorno schwebte das Ideal eines Denkens in „Konstellationen“ oder „Konfigurationen“ vor, das von Mallarmés experimentellem Gedicht „Un coup de dés“, Walter Benjamins Philosophie und Arnold Schönbergs Zwölftontechnik inspiriert ist. 84 Es ist ein Denken, das sich seinen Objekten nähert, ohne ihnen Gewalt anzutun, und das bereits in einer frühen Schrift Adornos aus den 1930er Jahren skizziert wird. Vom Philosophen heißt es dort: „Es bleibt ihm keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“ 85 Anders als bei Hegel fällt die Wahrheit nicht mit dem Abschluss des Systems zusammen, sondern wird durch die Konstellation oder Konfiguration (Adorno verwendet die beiden Bezeichnungen als Synonyme) evoziert. Dazu bemerkt Anders Bartonek: „Die Begriffe sollen sich dabei gegenseitig korrigieren und in der Konstellation der Begriffe die Selbstkritik des identifizierenden Denkens wirken lassen (…).“ 86 Im Wort „Selbstkritik“ treten zwei Aspekte von Adornos Denken zutage, die hier bereits erwähnt wurden: Es ist ein Denken, das als spätmoderne Selbstkritik der rationalistisch-systematischen Moderne aufgefasst werden kann; es zeugt zugleich von der Spaltung oder vom Doppelcharakter des individuellen Subjekts, das einerseits dieser herrschaftlichen Moderne noch angehört, andererseits aber danach strebt, sich von dieser Moderne und ihren Herrschaftsmechanismen zu emanzipieren. Die kritische Kunst soll ihm helfen, dieses emanzipatorische Projekt zu verwirklichen. Zu diesem Projekt gehört auch das „Denken in Modellen“, das Adorno in der Negativen Dialektik praktiziert: „Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinem allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen.“ 87 Dank seiner Ausrichtung auf das Spezifische und Besondere und seiner Resistenz gegen begriffliche Herrschaft ist das Modell dem Essay verwandt, von dem es auch die Konstellation (Konfiguration) als Struktur erbt. Sie bürgt für die Offenheit der Argumentation und die Unabschließbarkeit des Denkprozesses. „Eine jede Konstellation ist vorläufig (…)“ 88 , erklärt Philipp von Wussow. Es wird 84 Vgl. A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, Könighausen und Neumann, 2011, S. 158. 85 Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I: Philosophische Frühschriften (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 369. 86 A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv, op. cit., S. 159. 87 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 37. 88 Ph. von Wussow, Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2007, S. 198. <?page no="222"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 206 sich zeigen, dass gerade diese Einschätzung auch auf den Dialog, wie er hier konzipiert wurde, zutrifft. Es ist, als wollte Adorno die Offenheit und Vorläufigkeit seines eigenen Denkens demonstrieren, wenn er in seiner Ästhetischen Theorie auch dem Modell als theoretischer Figur absagt und sich für die Parataxis entscheidet, die Hölderlins „rondohafter“ (Adorno) nicht-hierarchischer Dichtung 89 nachempfunden ist. Über die Darstellungsschwierigkeiten, mit denen er beim Schreiben der Ästhetischen Theorie konfrontiert wurde, schreibt Adorno in einem Brief: „Sie bestehen (…) darin, daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der Negativen Dialektik verfolgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ 90 Diese Entscheidung für Parataxis als Konstellation stellt nicht nur eine Rückkehr zum Jugendwerk dar; sie evoziert zugleich die von Adorno geschätzte hermetische Dichtung Mallarmés, deren experimentellen und avantgardistischen Höhepunkt das Gedicht „Un coup de dés“ bildet. Dessen Ende wird mit den Worten UNE CONSTELLATION, die sich auf ein Sternbild beziehen, angekündigt. 91 Tatsächlich lag auch dem späten Mallarmé viel daran, das diskursive Nacheinander durch ein konfiguratives Nebeneinander, durch eine Konstellation als Gleichzeitigkeit, zu ersetzen. 92 Adornos Ausrichtung der Kritischen Theorie auf die Kunst, lässt erkennen, wie weit er sich von Marx entfernt hat: An die Stelle des kollektiven Aktanten „Proletariat“ tritt das kritisch reflektierende Individuum, dem die Kunst helfen soll, aus der Verstrickung des Positivismus (der Aufklärung), des Hegelianismus und des Marxismus in Naturbeherrschung und Herrschaft auszubrechen. Die Marxisten haben diesen Ausbruchsversuch nicht goutiert. 89 Vgl. Th. W. Adorno, „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins”, in: ders., Noten zur Literatur III, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 165-166. 90 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 541. 91 Vgl. S. Mallarmé, „Un coup de dés“, in : Œuvres complètes I, éd. présentée, établie et annotée par B. Marchal, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1998, S. 387. 92 Vgl. Vf., Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2018 (2., erw. Aufl.), S. 57. <?page no="223"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 207 6. Die marxistische Kritik an der Kritischen Theorie und Adornos mögliche Replik In der Zwischenkriegszeit war die Kritische Theorie durchaus noch als „marxistisch“ zu bezeichnen, weil sie sich an die historische Immanenz hielt, die besagt, dass die neue, menschlichere Gesellschaft aus den Widersprüchen des Bestehenden hervorgehen würde. Sowohl Adorno 93 als auch Horkheimer standen in den 1930er Jahren, als das Erstarken des Nationalsozialismus die gesellschaftliche Situation prägte, dem damaligen Marxismus recht nahe. Davon zeugt ein Interview Horkheimers mit Otmar Hersche: „Ich habe die Marxsche Theorie insofern akzeptiert, als sie sagt, die bessere Gesellschaft könne sich nur durch die Revolution verwirklichen. Und angesichts des Terrorregimes erschien mir das immer mehr als das einzig Wahre und Richtige.“ 94 Nach dem Zweiten Weltkrieg wird jedoch deutlich, dass die Revolution von 1917 nicht eine Ära der Freiheit und der zwischenmenschlichen Annäherung einläutete, sondern neue Unterdrückung, die nach Lenins Tod (1924) in Stalins Diktatur und in den von späteren Machthabern erneuerten Stalinismus mündete. Die Hoffnung der Marxisten-Leninisten (die sie mit Auguste Comte teilten), dass eine wissenschaftlich fundierte Gesellschaft alle älteren Gesellschaftsformen übertreffen würde, wurde nicht erfüllt: im Gegenteil. Amos Schmidt kommentiert Horkheimers Abkehr vom Marxismus in einem gesellschaftlichen und historischen Kontext: „Die Pervertierung der Lehren von Marx und Engels in den sozialistischen Ländern der östlichen Welt, die Verwandlung der Begriffe der Marxschen Theorie in ‚Klischees‘ in den Ländern des Diamat stellen sich als Anstoß und Grund für die Abkehr Horkheimers vom Marxismus heraus. So bekennt er in Interviews, daß er kein Marxist mehr sei, dass er sich vom Marxismus losgesagt und sein Verhältnis zu Marx sich geändert habe.“ 95 Das Problem besteht darin, dass kritische Gesellschaftstheorie und Machtausübung wahrscheinlich unvereinbar sind: Den neuen sowjetischen Machthabern ging es nach der Revolution nicht primär darum, Herrschaftsstrukturen abzuschaffen und die Herrschaft über die Natur zu lockern, sondern, wie Lenins Abhandlung über Staat und Revolution zeigt, darum, den Staatsapparat der jungen Sowjetunion zu erneuern und zu stärken. Ihre Einstellung zum Marxismus ist mit der Einstellung der französischen Revolutionäre zur Aufklärung zu vergleichen: In beiden Fällen 93 Vgl. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, op. cit. S. 141-142. 94 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S. 26- 27. 95 A. Schmidt, Materialismus zwischen Metaphysik und Positivismus, op. cit., S. 51. <?page no="224"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 208 wird ein Ideensystem instrumentalisiert und in eine Ideologie verwandelt, die im Falle des Marxismus-Leninismus die postrevolutionären Zustände und die Machtansprüche des Sowjetstaates rechtfertigen soll. Adorno fasst diese Situation mit dem bekannten Satz zusammen, der die Negative Dialektik einleitet: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 96 Dies bedeutet, dass die Hoffnung des jungen Marx, das Proletariat würde als „Herz“ der kritischen Philosophie diese verwirklichen, nicht erfüllt wurde. Da sie nicht erfüllt wurde, hat kritisches Denken als Negation des Bestehenden weiterhin seine Berechtigung. Es wird jede Komplizenschaft mit einer schlechten Praxis vermeiden, die als Verwirklichung des Marxschen Projekts auftritt. Horkheimer folgt Adorno, wenn er sowohl der historischen Immanenz als auch der revolutionären Praxis absagt und sich in den 1950er Jahren auf die kritische Kunst als Helferin des Subjekts beruft: „Denn Kunst ist mit der Wahrheit identisch, und diese zwingt uns in die wirkliche Praxis, in den endlosen und so ungleichen Kampf für die Kreatur.“ 97 Diese ästhetische Wende des kritischen Denkens, die in Adornos Ästhetischer Theorie am prägnantesten zum Ausdruck kommt, besiegelt den Bruch mit dem Marxismus als geschichtsimmanenter, revolutionärerer Kritik, die sich als Synthese von Theorie und Praxis versteht. Die marxistischen Kritiken an der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Habermasʼ sind in diesem Kontext zu verstehen. Ihnen allen - sowohl den westeuropäischen als auch den osteuropäischen - ist eines gemeinsam: Sie beanstanden den Bruch mit der historischen Immanenz, der auf einen Bruch mit dem Klassenkampf-Gedanken hinausläuft. Diesem wohnt die Forderung nach einer Einheit von kritischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Praxis inne. Die Diskurse einiger Marxisten-Leninisten zeigen, wie sehr sich ideologische Mechanismen (im Sinne von Kap. II. 4) in den Kultur- und Sozialwissenschaften auf Kosten theoretischer Reflexion und Offenheit durchsetzen können: Sie werden vom semantischen Dualismus strukturiert (hier richtig und gut, dort falsch und böse), identifizieren sich monologisch mit der Wirklichkeit und sind teleologisch auf den real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und den mittel-osteuropäischen Staaten ausgerichtet. Als charakteristisches Beispiel mag an dieser Stelle die Polemik von Igor S. Narski, die unter dem Titel Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos (1975) erschien, veranschaulichen, was gemeint ist. Durch das Wort „Anmaßung“ wird Adornos Philosophie nicht nur vorab 96 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 13. 97 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland (Hrsg. W. Brede), Frankfurt, Fischer, 1974, S. 12. <?page no="225"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 209 negativ konnotiert, sondern zugleich auch moralisch als „Überheblichkeit“ oder „unberechtigter Anspruch“ zurückgewiesen. Der Autor wirft Adorno erwartungsgemäß vor, er breche „völlig mit der sozialen und Klassenanalyse“ 98 und fügt im Sinne einer marxistischen Dialektik der historischen Immanenz hinzu: „Die Empörung Adornos gegen die imperialistische Wirklichkeit war aufrichtig (…), aber sein Leiden führt nicht zu revolutionären Entschlüssen.“ 99 Wie diese Entschlüsse aussehen könnten, wird an anderer Stelle klar: „Der Antikommunismus und Antisowjetismus ließ Adorno keine Möglichkeit, sich neue Orientierungen und Ziele anzueignen (…).“ 100 Aus Narskis Sicht sind diese Ziele über jeden Zweifel erhaben und werden der Diskussion entzogen, die u.a. den sozialistischen Charakter der damaligen Oststaaten in Frage stellen könnte. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung stellt der Autor mit unverhohlener Genugtuung fest: „Den bereits in einigen Ländern existierenden und sich festigenden Sozialismus konnte Adorno natürlich nicht abschaffen (…).“ 101 Er hat sich selbst abgeschafft. Bemerkenswert an diesem Diskurs ist Narskis Festhalten an einer - von Hegel und Marx geerbten - modernen Zuversicht, die die Marxsche Erzählung dadurch weiterführt und konkretisiert, dass sie im realen Sozialismus die Verwirklichung der von Marx und Engels angekündigten Gesellschaftsordnung zu erkennen meint. Über den repressiven Charakter dieser Gesellschaftsordnung, der in Ostdeutschland 1953, in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 zutage trat, setzt sich Narskis Diskurs ideologisch hinweg. Auch Peter Reichel blendet in Verabsolutierte Negation (1972) die für die marxistisch-leninistische Ideologie peinlichen Ereignisse aus, wirft Adorno vor, er sei nicht gewillt, „sich den Marxismus in seiner Gesamtheit anzueignen“, und fügt hinzu: „Deshalb sieht sich Adorno veranlaßt, die ‚Reinheit‘ dieses seines ‚Marxismus‘ gegen die Philosophie des siegreichen Proletariats, gegen die Theorie und Praxis des gegenwärtigen Sozialismus, gegen das sozialistische Weltsystem überhaupt zu verteidigen. Auf diese Weise wird Marx vor dem Marxismus gerettet und avanciert durch Adorno zu dessen schärfstem Kritiker.“ 102 In diesem Fall besteht die Ideologie darin, dass sie Reflexion und Kritik monologisch verbietet: Der sowjetisch definierte Marxismus muss „in 98 I. S. Narski, Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos, Frankfurt, Verlag Marxistische Blätter, 1975, S. 28. 99 Ibid., S. 50. 100 Ibid., S. 46. 101 Ibid., S. 11. 102 P. Reichel, Verabsolutierte Negation. Zu Adornos Theorie von den Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung, Frankfurt, Verlag Marxistische Blätter, 1972, S. 21. <?page no="226"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 210 seiner Gesamtheit“ angeeignet werden; Fragen nach seiner theoretischen Aktualität, seiner empirischen Stichhaltigkeit, seinen Lücken und Unzulänglichkeiten sind unerwünscht. Die Ideologie enthält jedoch auch Wahrheitsmomente, die sie freilich nicht als solche kennzeichnet, sondern ironisch verbrämt. Denn es ist durchaus richtig, dass Adorno Marx gegen seine Instrumentalisierung im realen Sozialismus verteidigt, dass er versucht, ihn vor dem Marxismus-Leninismus zu retten und sein kritisches Potenzial gegen das repressive System zu wenden. Wie Reichel, der Adorno „Furcht vor dem Klassenkampf“ 103 bescheinigt und ihm eine Apologie herrschender Verhältnisse vorwirft, bekennt sich auch Günter Rohrmoser in Das Elend der kritischen Theorie (1970), einer Polemik gegen Adorno, Marcuse und Habermas, zur historischen Immanenz: „Die negative Dialektik bei Marx besagt nichts anderes als eben dies, daß die Geschichte aus sich selbst heraus den Träger einer möglichen Überwindung ihrer eigenen Negativität erzeuge.“ 104 Das ist richtig; Adorno würde allerdings bezweifeln, dass dieser Träger im Westen noch etwas bewirken kann und dass er im Osten die Macht bis 1989 ausgeübt hat. Nicht völlig abwegig ist Rohrmosers Einwand, dass dialektische Negativität und die Ausrichtung auf das „total Andere“ dazu angetan sind, „das Bestehende als notwendig zu fixieren“. 105 Schon Sartre warf dem für Adorno so wichtigen Stéphane Mallarmé 106 vor, seine radikale Negation des Bestehenden laufe auf dessen Affirmation hinaus. Diesen Gedanken entwickeln auch Ritsert und Rohlshausen in ihrer immer noch lesenswerten Studie Der Konservativismus der Kritischen Theorie (1971), in der sie - vor allem Jürgen Habermas, Karl Otto Apel und Claus Offe - vorwerfen, in einer von der Negativität geprägten Aufklärung zu verharren, statt nach revolutionärer Veränderung zu streben. Die von den Autoren anvisierte Alternative ist abermals historische Immanenz: „Die Aufklärung eines Bewußtseins und nicht die Befreiung durch kollektive Handlung eines Subjekts, das Objekt historisch konkreter Herrschaft und Zwänge ist, wird mit ‚Emanzipation‘ gleichgesetzt.“ 107 Während sich dieser Satz vor allem auf Apel und Habermas bezieht, ist die Schlussbetrachtung Adorno gewidmet: „Die Reinheit der Idee, die Negativität des Denkens ist das Signum der Resistenz. Adorno übersieht, daß es auch das Signum der Unwirksamkeit ist.“ 108 Dieser Gedanke ist sicherlich nicht 103 Ibid., S. 49. 104 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie, Freiburg, Rombach, 1970, S. 61. 105 Ibid., S. 49. 106 Vgl. J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques 18-19, 1979, S. 193-194. 107 J. Ritsert, C. Rohlshausen, Der Konservativismus der kritischen Theorie, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1971, S. 90. 108 Ibid., S. 101. <?page no="227"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 211 abwegig, weil radikale Ablehnung des Bestehenden mit radikaler Abstinenz als Verzicht auf alle Praxis einhergeht. Adorno könnte allerdings antworten, dass die von den Marxisten ins Auge gefassten Alternativen auf Illusionen gründen, weil das „Proletariat“ (die Arbeiterklasse) integriert ist und die „revolutionäre Praxis“ zu einer Fantasievorstellung der linken Intellektuellen verkommt. Im Anschluss an die Revolten des Jahres 1968 konnten die hier genannten Marxisten in den 1970er Jahren noch hoffen, dass es in Westeuropa mit oder ohne Zutun des kommunistischen Ostens zu gesellschaftlichen Umwälzungen in ihrem Sinne kommen würde. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus und der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 machte ihre Hoffnungen zunichte und ließ sie die postmoderne Verwindung entdecken. Dennoch sind nicht alle ihre Einwände gegen die Kritische Theorie obsolet. Ihr Kerngedanke, dass eine radikale Ablehnung des Bestehenden, die in Adornos Satz aus den Minima Moralia „Das Ganze ist das Unwahre“ 109 zum Ausdruck kommt, auf resignierende Akzeptanz der existierenden Verhältnisse hinausläuft, enthält ein Wahrheitsmoment. Er spielt auch in Lucien Goldmanns Kritik an der Frankfurter Schule eine wesentliche Rolle. Adorno und Marcuse wirft Goldmann vor, dass sie „es ablehnten, sich mit einer der sozialen Kräfte innerhalb der Gesellschaft zu identifizieren oder zu einer solchen Kraft zu werden“. 110 Als Vertreter einer kritischen Dialektik der Immanenz 111 stimmt Goldmann mit den Marxisten-Leninisten überein. Von ihnen unterscheidet er sich wesentlich dadurch, dass er sich - wie Adorno und Horkheimer - weigert, das Sowjetimperium mit dem Sozialismus im Sinne von Marx zu identifizieren. Freilich könnten Adorno und Marcuse einwenden, dass Goldmanns Vorschlag, das Marxsche „Proletariat“ durch die „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“) 112 zu ersetzen, auf der fragwürdigen Annahme gründet, dass diese Gruppierung als relativ homogener und handlungsfähiger Aktant aufgefasst werden kann. Die Entwicklungen haben diese Skepsis bestätigt: Die neue Arbeiterklasse, die sich laut Goldmann aus Arbeitern, Angestellten und Technikern zusammensetzt, hat keine Revolution durchgeführt und bisher auch keine radikalen, systemverändernden Reformen erzwungen. Es ist außerdem keineswegs sicher, dass es sie als „Klasse an und für sich“ im Sinne von Marx gibt. 109 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 57. 110 L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: La Quinzaine littéraire, op. cit. 111 Vgl. Vf., Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Ed. Universitaires, 1973. 112 Vgl. L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 167-181. <?page no="228"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 212 Dennoch spricht auch heute noch einiges für geschichtsimmanente Kritik und gegen eine totale Negation. Wenn beispielsweise Pierre Bourdieu in einer Rede vor dem DGB für einen europäischen Staat und einen europäischen Gewerkschaftsbund plädiert, die dem globalisierten Kapital Widerstand leisten könnten, so argumentiert er durchaus im Sinne einer immanenten Kritik. 113 Auch Alain Touraines Soziologie, die sich für eine Stärkung gesellschaftskritischer Bewegungen (Feministinnen, „Grüne“, Arbeitslose) einsetzt 114 , hat teil an dieser historischen Immanenz. Die Europäische Union selbst kann nicht - trotz berechtigter Kritiken an ihr - pauschal dem „unwahren Ganzen“ im Sinne von Adorno zugerechnet werden, solange sie durch ihre übernationale, vielsprachige Präsenz einen Rückfall in den nationalistischen oder chauvinistischen Monolog verhindert oder erschwert. Eine kritische Theorie der Gesellschaft wird sich dennoch weigern, sie nach hegelianischem oder marxistischem Vorbild zum historischen Telos oder Objekt-Aktanten ihres Diskurses zu machen. Kritische Theorie als Dialogische Theorie, wie sie im zweiten Kapitel skizziert wurde, ist ein „Gegen-sich-selbst-Denken“ im Sinne von Adorno: ein Denken, das seine eigenen ideologischen Prämissen kritisch reflektiert und sein Engagement nie so weit treibt, dass der kritische und selbstkritische Gedanke dem Dualismus, der Identität mit dem Bestehenden und dem Monolog zum Opfer fällt. Es will seinen Gegenstand - etwa Auguste Comtes Soziologie - in seiner Entstehung, Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit verstehen, statt ihn mit der eigenen Begrifflichkeit zu identifizieren. Darin setzt es Adornos Kritische Theorie fort; geht aber auch dialogisch über sie hinaus. Zusammenfassung und Ausblick: Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers kann als eine Replik auf Hegel, Marx und den Positivismus Comtescher Provenienz aufgefasst werden. Trotzt aller Unterschiede ist dem Positivismus und der hegelianisch-marxistischen Dialektik ihr Einverständnis mit der instrumentellen Vernunft und dem Prinzip der Naturbeherrschung gemeinsam. Im Positivismus manifestiert sich dieses Einverständnis in der Forderung nach Anwendbarkeit und Nützlichkeit des Wissens; im Hegelianismus in der Identifizierung von Denken und Sein und im Marxismus in der Verknüpfung von Theorie und Praxis. Adornos und Horkheimers Antwort auf Instrumentalisierung (Anwendbarkeit), Identifizierung und Praxisorientierung der Theorie ist die Trennung von Theorie und Praxis auf allen 113 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un nouvel internationalisme“, in: ders., Contre-feux, Paris, Raisons d’Agir, 1998, S. 68. 114 Vgl. A. Touraine, Comment sortir du libéralisme ? , Paris, Fayard, 1999, S. 65. <?page no="229"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 213 Ebenen und ihre Umorientierung auf die künstlerische Mimesis. Diese soll dem vom Herrschaftsprinzip bedrohten individuellen Subjekt, dem Fokalisator der kritisch-theoretischen Erzählung, helfen, aus seiner Verstrickung in die Naturbeherrschung herauszufinden und sich mit der Natur als seiner Auftraggeberin zu versöhnen, statt sie zu instrumentalisieren. In seinen Hauptwerken versucht Adorno, in Essay, Modell und Parataxis Denk- und Argumentationsstrukturen jenseits des Herrschaftsprinzips zu entwickeln. Die dialogischen Elemente in seinem Essayismus werden hier zu einem der Ausgangspunkte der Dialogischen Theorie, die einen Versuch darstellt, die Offenheit des Essayismus in anderer Form weiterzuentwickeln. Im nächsten Kapitel werden feministische Gesellschaftstheorien in den Dialog einbezogen, und es zeigt sich, dass als Alternative zum zentralen Gegensatz der Kritischen Theorie - Natur / Herrschaft - der Gegensatz männlich / weiblich in Frage kommt, der die Kritische Theorie in einigen Punkten korrigiert und ergänzt. <?page no="231"?> 215 VII. Subjektivität und Subjektkritik, Bewegung und Emanzipation: Feministische Gesellschaftstheorien als Antworten auf den Marxismus und die Kritische Theorie Inhaltsverzeichnis 1. Neue Relevanz - neue Erzählung 2. Subjektivität individuell und kollektiv: Für und wider den Subjektbegriff 3. Weibliche Subjektivität und soziale Bewegung 4. Aktantenmodelle: Frau oder Frauen? Emanzipation oder Integration? 5. Feminismus und Kritische Theorie: Subjekt, Natur und Herrschaft 6. Dialogizität: Die Stimme der Anderen Der Grund, weshalb die feministischen Theorien an dieser Stelle kommentiert werden und nicht im Zusammenhang mit den postmodernen Soziologien, mit denen sie bisweilen assoziiert werden 1 , hängt mit zwei Faktoren zusammen: Viele von ihnen sind in Auseinandersetzungen mit marxistischen Entwürfen und mit der Kritischen Theorie entstanden; die meisten sind - wie der Marxismus und die Kritische Theorie - als Kritiken der Herrschaft konzipiert. Im Gegensatz zu postmodernen Ansätzen, die das Partikulare verteidigen und dadurch einen eher defensiven Charakter annehmen (Zygmunt Bauman) oder von einer apokalyptischen Einstellung zur zeitgenössischen Gesellschaft zeugen (Jean Baudrillard), knüpfen Feministinnen wie Françoise Gaspard, Judith Butler oder Nancy Fraser als Kritikerinnen der Herrschaft an das für den Marxismus und die Kritische Theorie unverzichtbare (moderne) Emanzipationsversprechen an. Trotz dieser gemeinsamen Ausgangspunkte, die für theoretische und politische Affinitäten bürgen, fehlt es nicht an Dissens. Er betrifft - wie so oft - die Relevanzkriterien, die den Ausgangspunkt aller Theorien bilden und zugleich von deren grundlegenden Wertsetzungen oder Ideologemen zeugen. Indem die Feministinnen primär weder vom Klassengegensatz ausgehen noch vom Gegensatz Herrschaft / Natur, sondern vom historischen Gegensatz männlich / weiblich, sprechen sie sich für spezifischere Relevanzkriterien aus als Adorno und Horkheimer und stellen den Gegensatz Bürgertum / Proletariat (Kapital / Arbeit) als für die Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungen unzureichend in Frage. Zu Recht spricht Karin Gottschall in ihrer gründlichen und soziologisch weit ausholenden Studie 1 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), Kap. II. <?page no="232"?> Feministische Gesellschaftstheorien 216 Soziale Ungleichheit und Geschlecht von der „Geschlechtsblindheit des soziologischen Mainstream“. 2 Obwohl auch die feministischen Soziologinnen nicht die „wahre Geschichte“ 3 erzählen, von der Günter Dux spricht, beobachten sie die Gesellschaft von einer ganz anderen Warte aus als Marx und die Marxisten, als die Vertreter der Kritischen Theorie. Ihr Kernargument kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Eine kritische Theorie der Gesellschaft kann nur einseitig sein und Zerrbilder zeitigen, solange sie der Geschlechterdifferenz und dem Gegensatz männlich / weiblich nicht Rechnung trägt. Das Plädoyer für neue Relevanzkriterien und einen neuen Ausgangspunkt der Gesellschaftserzählung bringt eine neue Konstruktion des Objekts „Gesellschaft“ hervor, in der Vergessenes und Verdrängtes vergegenwärtigt wird. Marxʼ Klassengegensatz erscheint als einseitig, und der kritisch-theoretische Gegensatz Herrschaft / Natur erweist sich im Lichte feministischer Kritik als zu unspezifisch. Während Günter Rohrmoser in seiner Kritik an der Kritischen Theorie noch behaupten kann, Marx sei „der Meinung, daß in einer sich ihrer bewußten Kontrolle entziehenden Weise die Bourgeoisie in der Gestalt des männlichen Proletariats den eigenen Totengräber produziert“ 4 , weisen zeitgenössische Feministinnen darauf hin, dass anscheinend auch Marx und die Marxisten die Gesellschaftsgeschichte als eine Geschichte männlicher Konflikte erzählen, in der Frauen bestenfalls die Rolle des staunenden, bangenden, leidenden oder hoffenden Publikums zufällt. Fehlt im Kommunistischen Manifest nicht ein Kapitel über Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen und ihre Rolle im Klassenkampf? Ist der Klassenkampf die Haupttriebfeder gesellschaftlicher Entwicklung, oder wird diese auch von anderen Kräften angetrieben, die Marx und die Marxisten nicht beobachtet oder aus kulturellen, ideologischen und theoretischen Gründen nicht beachtet haben? Ergänzend zu ihrer Kritik am Marxismus könnten Feministinnen den unspezifischen Charakter der kritisch-theoretischen Relevanzkriterien bemängeln: Die Hypothese über eine „Katastrophe am Anfang“, von der Adorno spricht, sollte durch konkretere Untersuchungen über frühe Herrschaftsstrukturen und über die sich verschiebenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern ergänzt werden. 2 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Wiesbaden, Springer, 2000, S. 289. 3 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann, Frankfurt, Suhrkamp (1992), 1997, S. 415. 4 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Freiburg, Rombach, 1970 (2. Aufl.), S. 61. <?page no="233"?> Feministische Gesellschaftstheorien 217 Auf der Ebene der Relevanzkriterien setzt sich daher Regina Becker- Schmidt für eine Konkretisierung von Adornos Kritischer Theorie im Bereich der Geschlechterforschung ein. Die in der Dialektik der Aufklärung erforschte Herrschaft über die Natur ist ihr zu unbestimmt: „Adorno übersieht keineswegs die Konflikte zwischen den Geschlechtern, aber in seiner scharfsinnigen Herrschaftsanalyse bleibt das Geschlechterverhältnis als gesellschaftlicher Gewaltzusammenhang unbestimmt (…).“ 5 Sie übertreibt zwar, wenn sie behauptet, „Klassenverhältnisse und deren Transformation“ 6 seien für Adorno „ausschlaggebend“, sie hat aber Recht, wenn sie indirekt feststellt, dass Adornos Relevanzkriterien längst nicht alle Herrschaftsformen erfassen und daher zu kurz greifen. Ihre Darstellung ist auch deshalb aufschlussreich, weil sie erkennen lässt, an welchen Stellen Kritische Theorie und feministische Kritik sich überschneiden und einander ergänzen. Dennoch würde auch eine Synthese der beiden Kritiken nicht die „wahre Geschichte“ oder das „wahre Ganze“ ergeben, nach dem Hegel vergeblich Ausschau hielt. Die Bedeutung feministischer Theorien liegt nicht in ihren Bemühungen um eine umfassende Darstellung gesellschaftlicher Prozesse, sondern in ihren stets wiederholten und stets konkreteren Versuchen, mit Hilfe neuer Relevanzkriterien eine andere, eine vergessene oder verdrängte Geschichte der Gesellschaft zu erzählen, die die Erzählungen des Marxismus, des Positivismus und der Kritischen Theorie dialogisch relativiert. Es geht darum, die Gesellschaftsgeschichte als „His-story“ in Übereinstimmung mit dem relevanten Gegensatz männlich / weiblich durch eine Alternativgeschichte als „Her-story“ herauszufordern, wie Diane Elam 7 es formuliert: „Nach Jahrhunderten westlicher Geschichte, die genau genommen seine Geschichte war (die Erzählung von ‚großen‘ Männern), wandten sich Historikerinnen und Historiker dem Problem einer historischen Darstellung von Frauen zu. Was würde es bedeuten, die Geschichte von Frauen zu schreiben? Wie würde ihre Geschichte aussehen? “ 8 Ergänzend bemerkt 5 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen. Von der Bedeutung seiner Theorie für die Geschlechterforschung“, in: A. Gruschka, U. Oevermann (Hrsg.), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. 4.-6. Juli 2003 an der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, Wetzlar, Büchse der Pandora, 2004, S. 65. 6 Ibid. 7 D. Elam, Feminism and Deconstruction. Ms. en abyme, London-New York, Routledge, 1994, S. 35: „Her-Story or His-Story? “ 8 Ibid. <?page no="234"?> Feministische Gesellschaftstheorien 218 Günter Dux zu den tradierten Auffassungen der Geschichte: „Frauen können mit Recht geltend machen, diese Geschichte sei nicht ihre Geschichte.“ 9 Abermals tritt hier der narrative Charakter geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Theorien in den Vordergrund. Und auch in diesem Fall gilt Werner Schiffers Grundsatz, dass jede theoretische Erzählung „bereits als solche eine Form der Erklärung ist“. 10 Um diese neue „Form der Erklärung“, die von anderen Relevanzkriterien / Selektionen ausgeht und dadurch mit den Erzählungen des Marxismus, des Positivismus und der Kritischen Theorie konkurriert, geht es im Folgenden. Es geht um „ihre Geschichte“ und um deren Darstellung als einer soziologischen Alternative. 1. Neue Relevanz - neue Erzählung Die Relevanz, von der hier die Rede ist, ist keine individuelle Erfindung (die Erfindung einer einzelnen Frau), sondern entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Frauenbewegungen im Verlauf einer turbulenten Entwicklung, in der einzelne Frauen und Frauengruppen versuchen, sich gegen Ausbeutung zu wehren und sich männlichen Machtansprüchen gegenüber durchzusetzen. Dazu bemerkt Luis J. Prieto: „Der Standpunkt, der die Relevanz als Art, ein Objekt zu betrachten, hervorbringt, ist stets an ein Subjekt gebunden. Aber, muss man sogleich hinzufügen, an ein Subjekt, das einer gesellschaftlichen Gruppe angehört, in der das, was man als ‚symbolische Macht‘ bezeichnen könnte, bestimmte Standpunkte mit Legitimität ausstattet.“ 11 Dies bedeutet, dass der Standpunkt als Beobachtung der Gesellschaft und die dieser Beobachtung entsprechenden Relevanzkriterien aus den jahrhundertealten kollektiven Erfahrungen von Frauen und Frauenbewegungen hervorgehen und dass die neue Erzählung als Her story eine soziale Erscheinung ist. Sie ist mit den Erzählungen der marginalisierten Junghegelianer (vgl. Kap. IV und VI) und der Angehörigen des Instituts für Sozialforschung (gegründet 1923) zu vergleichen, aus dem die Kritische Theorie hervorging. Auch die feministische Kritik ist als Reaktion auf Herrschaft, Machtausübung und antagonistische Verhältnisse zu verstehen. In dem Maße, wie die Präsenz der Frauen im Produktionsprozess seit dem 19. Jahrhundert zunimmt, bekommt die Gesellschaft diese Reaktion immer stärker zu spüren. Auf der Ebene der Beobachtung, auf der Relevanzkriterien zustande kommen, legt die französische Soziologin Françoise Gaspard den Finger 9 G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, op. cit., S. 437. 10 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. 11 L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 148. <?page no="235"?> Feministische Gesellschaftstheorien 219 auf die Wunde, wenn sie lapidar feststellt: „die Soziologie hat die Frauen ignoriert“ („la sociologie a ignoré le femmes“). 12 Die Soziologen haben sich dadurch selbst geschadet, weil sie im Dialog der Theorien eine Perspektive übergangen haben, in der sie einige ihrer Wissenslücken erkannt und neue Erkenntnisse gewonnen hätten: etwa die Erkenntnis, dass Subjektivität zumeist mit männlicher Subjektivität identifiziert wird. Was die „Entdeckung der Frauen“ zu vorgerückter Stunde für die theoretische Erzählung des Marxismus bedeutet, erläutert Nancy Fraser, wenn sie zur Gender-orientierten Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung bemerkt: „Sie zeigt, dass männliche Herrschaft für den klassischen Kapitalismus wesentlich ist und nicht etwas Hinzukommendes.“ 13 Auch hier geht es um Relevanzkriterien: Der Gegensatz Kapital / Arbeit wird in Frasers Diskurs vom Gegensatz männlich / weiblich überlagert und bildet die Grundlage ihres Diskurses und seiner Teleologie. Das Ziel dieses Diskurses ist nicht länger die „klassenlose Gesellschaft“, sondern eine herrschaftsfreie, aus weiblicher Sicht gerechtere und menschlichere Gesellschaft, die eine Aufhebung des Klassenantagonismus im Sinne von Marx nicht herbeiführen kann. In ihrer Kritik an Habermasʼ Kritischer Theorie lässt Fraser die feministischen Relevanzkriterien in den Mittelpunkt der theoretischen Erzählung rücken, wenn sie die gesellschaftliche Entwicklung als Auseinandersetzung zwischen feministischen und (ebenfalls von Frauen angeführten) antifeministischen Bewegungen darstellt. In dieser Auseinandersetzung geht es um gesellschaftliche und sprachliche Bedeutungen, um Sinnbildung und symbolische Machtverteilung: „Diese Bewegungen mitsamt ihren Verbündeten und staatlich verwalteten Institutionen sind in Konflikte involviert, in denen es um die Bedeutungen der Wörter ‚Frauen‘ und ‚Männer‘, ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ geht, um die Deutung weiblicher Bedürfnisse; um die Interpretation und gesellschaftliche Konstruktion weiblicher Körper und um Gender-Normen, die die wichtigsten Gesellschaftsrollen bestimmen, die zwischen Institutionen vermitteln.“ 14 Hier wird eine zugleich historische, gesellschaftliche und sprachliche Situation beschrieben, in der Frauen auf individueller und kollektiver Ebene um ihre Rechte kämpfen. Der Wandel theoretischer Relevanzkriterien, der einer Bewegung des Kaleidoskops gleicht, lässt eine völlig neue Konstellation erkennen, in der nicht Klassen gegeneinander antreten oder Wissen- 12 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le Sujet. Autour d’Alain Touraine, Paris, Fayard, 1995, S. 147. 13 N. Fraser, „What’s Critical about Critical Theory? The Case of Habermas and Gender“, in: S. Benhabib, D. Cornell (Hrsg.), Feminism as Critique. Essays on the Politics of Gender in Late-Capitalist Societies, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1986, S. 45. 14 Ibid., S. 53. <?page no="236"?> Feministische Gesellschaftstheorien 220 schaftler, Theologen und Metaphysiker einander bekämpfen (wie bei Comte), sondern Frauenbewegungen und Gegenbewegungen sich gegenseitig die Vorherrschaft im Bereich der symbolischen Ordnung streitig machen. Dadurch entsteht eine neue Erzählung, die das Objekt „Gesellschaft“ anders konstruiert und soziale Entwicklungen anders erklärt als Marx, Comte oder die Kritische Theorie. Françoise Gaspard zeigt, wie wenig revolutionär die Französische Revolution von 1789 war, wenn sich das Augenmerk auf die Frauenemanzipation im ausgehenden 18. Jahrhundert richtet. Das männlich dominierte „revolutionäre“ Bürgertum bediente seine eigenen Interessen, als es durch eine geschickte Manipulation der historischen Semantik die reaktionären Umtriebe adeliger Frauen vor und während der Revolution hervorhob, um nach der Revolution alle Frauen aus dem öffentlichen Bereich ausschließen zu können. Gaspard kehrt zur Frage nach den Relevanzkriterien zurück, wenn sie sich u.a. auf Arbeiten des Mediävisten Georges Duby 15 beruft, die zeigen, dass die sich ständig verschiebenden Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern eine lange Geschichte haben und dass die männliche Herrschaft weder etwas Natürliches noch eine anthropologische Konstante ist: „Was diese Arbeiten überdeutlich zeigen, ist die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen Frauen und Männern in Gesellschaft und Politik eine Geschichte haben und dass man daher eine Auffassung vermeiden sollte, der zufolge männliche Herrschaft eine Invariante ist und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein langer, stiller Strom sind.“ 16 Gaspard zeigt, dass Frauenbewegungen entstehen und verschwinden und dass die Intensität ihrer Aktivitäten keineswegs der Intensität gesellschaftlicher Revolutionen und Revolten entspricht: „Die Frauen sind kollektiv weniger im Jahre 1789 aktiv als im Jahre 1791, weniger im Jahre 1968 als nach 1970.“ 17 Dies könnte dahingehend gedeutet werden, dass gesellschaftliche Umbrüche zwar Frauen ermutigen, für ihre Rechte einzutreten und die Machtverhältnisse zu ändern, dass sie aber als Umbrüche wahrgenommen werden, die auf kollidierende männliche Interessen zurückzuführen sind - und mit Frauenemanzipation wenig zu tun haben. Der Soziologe Günter Dux, der eine genetische Soziologie und Kulturtheorie entwickelt, die nach der Entstehung von sozialen Konstellationen, 15 Vgl. G. Duby, Le Chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale, Paris, Hachette, 1981. 16 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, op. cit., S. 145. 17 Ibid., S. 151. <?page no="237"?> Feministische Gesellschaftstheorien 221 Strukturen und Institutionen fragt 18 , ergänzt die von Fraser und Gaspard angestellten Überlegungen durch eine erklärende Erzählung, die auf der These gründet, dass die männliche Vorherrschaft mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Mann seit Jahrhunderten die Familie beschützt und „nach außen“ vertritt. Dadurch fällt ihm eine Vormachtstellung zu, die er im Laufe der Jahrhunderte ausbauen und konsolidieren kann. Dux spricht von der „Außenzuständigkeit des Mannes“: „Die Außenzuständigkeit des Mannes läßt im Verhältnis zur Frau eine Schutzpflicht entstehen. Die aber ist der beste Boden für eine Bevormundung, zumindest wiederum im Außenverhältnis.“ 19 Diese Dominanz „im Außenverhältnis“ führt dazu, dass Männer für die Beziehungen zwischen ihren Familien zuständig sind und ihre Töchter in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen (den Familieninteressen) verheiraten. Über die „Außenzuständigkeit“ dringt der Machtfaktor „auf einem Umweg in das Verhältnis zwischen den Geschlechtern“ ein: „über die Verfügung der Alten, vornehmlich der Männer, über die Töchter“. 20 Der Tausch der Frauen, der zwischen Familien stattfindet, wird von Männern (Vätern) organisiert. Laut Dux bedeutet dies, dass der Geschlechterkonflikt letztlich durch externe Faktoren in das Verhältnis zwischen Mann und Frau hineingetragen wird. Denn Dux ist nicht zu Unrecht der Meinung, dass dieses Verhältnis grundsätzlich von der geschlechtlichen Liebe geprägt ist - und nicht etwa von einem biologisch bedingten Antagonismus. Allerdings ist die Außen- oder Schutzfunktion des Mannes biologischer Provenienz, weil der Mann sie seiner Größe und Körperkraft verdankt. Vor allem in archaischen Gesellschaften fällt ihm die Aufgabe zu, die Frau(en), die Familie und den Stamm vor Feinden und Naturgewalten zu schützen. In der Antike und im mittelalterlichen Feudalismus wandelt sich diese Schutzfunktion zwar, bleibt aber in ihren wesentlichen Aspekten bis in die frühe Moderne hinein erhalten. In neuester Zeit verliert sie allerdings an Bedeutung: nicht nur weil die Familie häufig zerfällt, so dass die alleinstehende Mutter auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen ist, sondern auch deshalb, weil in der Wissens- und Technologiegesellschaft Körperkraft sekundär wird. In einem Rechtsstaat, in dem Faustrecht kaum noch durchsetzbar ist, ist die Frau immer seltener auf männlichen Schutz angewiesen; wichtiger ist für sie, der Gewalt innerhalb der Familie zu trotzen oder sich ihr zu entziehen. Als Karikatur oder Parodie der männlichen Schutzfunktion tritt noch in der moder- 18 Vgl. G. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist, Velbrück, 2000, S. 73, wo die Beziehung von Biologie und Sozialwissenschaft aus genetischer Sicht erörtert wird. 19 G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, op. cit., S. 421. 20 Ibid. <?page no="238"?> Feministische Gesellschaftstheorien 222 nen Gesellschaft der Zuhälter auf, der die Prostituierte zwar schützt, zugleich aber rücksichtslos ausbeutet. Luce Irigaray ergänzt die Untersuchungen von Günter Dux, wenn sie im Anschluss an Marx zur Rolle der Männer im „Außenbereich“ bemerkt: „Der Tausch von Frauen als Gütern begleitet und stimuliert den Austausch anderer ‚Reichtümer‘ unter den Männergruppen.“ 21 Sie beleuchtet zugleich einen neuen Aspekt des „Warentausches“, der bei Dux im Dunkeln bleibt, jedoch die Funktion des Tausches für die männliche Subjektivität zutage treten lässt: „Die Waren, die Frauen, sind Wertspiegel des Mannes / für den Mann.“ 22 Das heißt, dass die Macht des Mannes von seinem Tauschverhältnis zu anderen Männern gespiegelt wird. In diesem Verhältnis fungieren die Frauen als Spiegel männlicher Macht, Vollkommenheit und Subjektivität. 2. Subjektivität individuell und kollektiv: Für und wider den Subjektbegriff In den zahlreichen Debatten zwischen Feministinnen ist der Subjektbegriff aus zwei Gründen zentral und umstritten: erstens, weil „Subjekt“ nicht nur eine autonome, handlungsfähige, sondern zugleich auch eine unterworfene Instanz bezeichnet. Das lateinische Wort subiectum bedeutet sowohl das „Darunter-“, „Unterhalb-Liegende“ oder „Grundlegende“ als auch das „Unterworfene“; die subiecti sind die „Untertanen“. Zweitens: Da in der bisherigen Geschichte die handelnden Instanzen vor allem Männer waren, befürchten einige Feministinnen, dass das weibliche Streben nach einer eigenen Subjektivität und nach Handlungsfähigkeit letztlich auf eine Integration in das männliche System der Subjektivitäten und auf eine Unterwerfung unter die männliche Subjektform hinauslaufen könnte. In Anlehnung an Jacques Derridas Dekonstruktion 23 nehmen sie sich deshalb eine Dekonstruktion des Subjektbegriffs vor. Dekonstruktion bedeutet ihnen nicht „Destruktion“ oder „Zerstörung“, sondern eine kritische Zerlegung im Sinne von Derrida. Derrida selbst erläutert seinen Begriff „Dekonstruktion“ im Verhältnis zu Heideggers „Destruktion“: „Es war natürlich auch eine aktive und ein wenig sinnverschiebende Übersetzung von Heideggers Wort ‚Destruktion‘ als Destruktion der Ontologie, das auch nicht Annullierung, Vernichtung der Ontologie bedeutet, sondern eine Strukturanalyse (analyse de la structure) der traditionellen Ontologie.“ 24 21 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin, Merve, 1979, S. 179. 22 Ibid., S. 183. 23 Zur Beziehung von Feminismus und Derridas Dekonstruktion vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (2. Aufl.), Kap. VII. 5: „Feministische Dekonstruktion und feministische Kritik“. 24 J. Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris, Galilée, 1992, S. 226. <?page no="239"?> Feministische Gesellschaftstheorien 223 Feministinnen wie Luce Irigaray, Diane Elam und Judith Butler fassen eine solche „Strukturanalyse“ des Subjektbegriffs als dessen Dekonstruktion ins Auge. Ihre Kernfrage lautet, wie männliche Subjektivität zustande kommt und wie weibliche Subjektivität (jenseits aller männlichen Verzerrungen) komplementär oder im Gegensatz zu ihr aussehen könnte. Dabei spielt der verschiedenen Konstruktivismen und Semiotiken gemeinsame Gedanke eine Rolle, dass Subjektivität gesellschaftlich und sprachlich vorkonstruiert ist: Sie ist keine natürliche Gegebenheit, sondern wird im Laufe der Jahrhunderte von Männern - für alle Angehörigen der Gesellschaft - konstruiert. 25 Mary M. Talbot fasst zusammen: „Masculine and feminine identities are effects of discursive practices.“ 26 Sie werden beide in Diskursen als semantisch-syntaktischen und narrativen Strukturen oder „Erzählungen“ konstruiert. Mit dem Konstruktionsvorgang befasst sich im Anschluss an Marxismus und Psychoanalyse Luce Irigaray. Aus ihrer Sicht entspricht der etablierte Subjektbegriff den männlichen Vorstellungen, so wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte verfestigt haben. „Jede bisherige Theorie des Subjekts“, erklärt Irigaray, „hat dem ‚Männlichen‘ entsprochen.“ 27 Das männliche Subjekt bedient sich der Frau als Spiegel, in dem es narzisstisch seine körperlichen Vorzüge registriert, und als Kontrastfolie, die ihm dazu dient, diese Vorzüge kontrastiv zu den Mängeln der Frau aufzuwerten. Zu diesen imaginierten Mängeln gehört auch der fehlende Penis, den schon Freud in seinem Theorem über den „Penisneid“ des Mädchens implizit als ein „Fehlen“ darstellte. Dazu bemerkt Irigaray: „Freud hat die weibliche Sexualität hier wieder einmal als eine geringere männliche Sexualität gedacht.“ 28 Selbst wenn Werturteilsfreiheit (Kap. I. 2-3) im strengen Sinn nicht möglich ist, weil Wertung schon in den Relevanzkriterien und Selektionen sozialwissenschaftlicher Diskurse angelegt ist, könnte man von Freuds Psychoanalyse doch erwarten, dass sie für mehr selbstkritische Distanz (vgl. N. Elias, Kap. I und Kap. XIII) sorgt und die beiden Geschlechter als biologisch komplementär und gleichwertig betrachtet. Fast gleichzeitig mit Irigaray übt Juliet Mitchell 29 Kritik an Freuds Begriff des „Penis- 25 Zum Begriff des „Vorkonstruierten“ im semiotischen Sinne vgl. P. Henry, „Constructions relatives et articulations discursives“, in: Langages 37, 1975. 26 M. M. Talbot, Language and Gender. An Introduction, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1998, S. 191. 27 L. Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 169. 28 Ibid., S. 158. 29 Vgl. J. Mitchell, Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 125: „Und obzwar er den Begriff Penisneid fortentwickelte, ist doch das, was er über das Mädchen sagt, bislang noch reine Spekulation.“ <?page no="240"?> Feministische Gesellschaftstheorien 224 neids“. Immerhin ist es denkbar, dass Männer Frauen wegen ihrer Fähigkeit, Kinder zu gebären, beneiden könnten. Schließlich beinhaltet Komplementarität, dass auf beiden Seiten etwas fehlt - fehlen muss. Irigaray versucht, den phallozentrischen Diskurs, der männliche Subjektivität durch Abwertung der Weiblichkeit konstruiert, mit Hinweisen auf Widersprüche und Unstimmigkeiten innerhalb dieses Diskurses zu dekonstruieren. Sie zeigt, dass die Vorstellung von einem vollkommenen und sich selbst genügenden männlichen Subjekt, das seine Autarkie durch den Ausschluss des Weiblichen zu begründen sucht, eine Illusion ist. Die Illusion besteht in der Annahme, dass die Differenz männlich / weiblich als klare Abgrenzung zu denken ist und dass sich das Weibliche jenseits der männlichen Grenzen befindet. Doch dieses Weibliche ist als Spiegel und Kontrastfolie integraler Bestandteil der männlichen Subjektivität, die es mitkonstituiert. Ohne den sie konstituierenden Kontrast würde sie sich auflösen. Dazu bemerkt Judith Butler: „Irigarays Antwort auf den Auschluß des Weiblichen aus der Ökonomie der Repräsentation ist letztlich: Gut, ich will ohnehin nicht in eure Ökonomie aufgenommen werden, und ich will euch zeigen, was dieses nicht-intelligible Aufnehmende in eurem System anrichten kann; ich werde keine schlechte Kopie in eurem System sein, aber ich werde euch trotzdem ähnlich sein, indem ich die Textpassagen mimetisch vorführe, durch die ihr euer System konstruiert, und indem ich zeige, daß dasjenige, was nicht hinein darf, bereits drin ist (als sein notwendiges Außen) (…).“ 30 Tatsächlich dekonstruiert Irigaray den männlichen Subjekt- Diskurs durch zahlreiche parodierende Zitate, die an Derridas Parodien in Glas (Totenglocke) erinnern: Dort wird Hegels Logozentrismus durch die Parallellektüre einiger Texte des anarchistischen Schriftstellers Jean Genet relativiert. 31 Judith Butlers Kritik des Subjektbegriffs ergänzt insofern die kritischen Kommentare Irigarays, als sie von der Überlegung ausgeht, dass „Geschlecht“ und „Subjekt“ soziale Konstruktionen sind, die vorwiegend in männlich dominierten Kontexten entstehen. Butler steht auf dem Standpunkt, dass das Streben nach einer autonomen weiblichen Subjektivität nicht dazu führen darf, dass sich Frauen in die im Laufe der Geschichte vorkonstruierten männlichen Formen einfügen. Ihr kommt es darauf an, diese Formen kritisch zu zerlegen, ohne Subjektivität schlicht zu negieren oder aufzugeben. Es geht Butler jedoch nicht nur um eine Kritik des männlichen Subjektbegriffs, sondern auch um kritische Selbstreflexion, in der die Entstehung 30 J. Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin, Berlin Verlag, 1995, S. 71-72. 31 Vgl. J. Derrida, Glas - Que reste-t-il du savoir absolu? , Paris, Galilée, 1974. <?page no="241"?> Feministische Gesellschaftstheorien 225 individueller und kollektiver Subjektbegriffe des Feminismus in männlich dominierten politischen Systemen zur Sprache kommt. Emanzipation ist nur möglich, wenn sich diese zugleich reflexive und genetische Einstellung durchsetzt: „Die feministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ‚Frau(en)‘, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll.“ 32 Kurzum, eine Integration in das bestehende System männlicher Subjektkonstruktionen verhindert Emanzipation, statt sie zu fördern. Stärker noch als Butler und Irigaray setzt sich Diane Elam für eine dekonstruktivistische Kritik des Subjektbegriffs ein. Aus ihrer Sicht fasst der Slogan „gleiche Rechte für Frauen“ ein verhängnisvolles Programm zusammen, das auf eine Angleichung der Aktivistinnen an männliche Verhaltensmuster hinausläuft: „Feminism is destined to lose the entire argument, since the equal rights to which women aspire turn out to mean the right to be hu-MAN.“ 33 Als Alternative zu dieser Angleichung, die auf Integration hinausliefe, schlägt Elam eine dekonstruktivistische Vorgehensweise vor, die in der Praxis in einer Politik der Unentscheidbarkeit gipfelt. Sie plädiert für eine „radical indeterminacy“ 34 und verdeutlicht anhand der Debatten über Abtreibung, was sie sich konkret unter „Unentscheidbarkeit“ und „Unbestimmtheit“ vorstellt: „Um die Debatte über Abtreibung zu gewinnen, müsste man das Unentscheidbare zulassen, wobei Abtreibung weder eine Entscheidung wäre, die vorab gefällt werden könnte, noch eine Entscheidung, die ein für allemal für alle Frauen gelten würde.“ 35 Als allgemeines Prinzip, für das es sich zu kämpfen lohnt, könnte jedoch gelten, dass in allen Fällen die Frau entscheidet, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen will oder nicht. Dass diese Art von Unentscheidbarkeit für Frauen, die sich für weibliche Subjektivität und Handlungsfähigkeit einsetzen, nicht befriedigend ist, liegt auf der Hand. Die Heterogenität der weiblichen Gesellschaft und der Frauenbewegungen erinnert an die von Marx und Engels nur sporadisch kommentierte Heterogenität des Proletariats, das von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig verschiedene Interessen artikuliert und vom Gegensatz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen als kollektiver Aktant weiter geschwächt wird. Auch Frauenbewegungen werden häufig durch sprachliche (Belgien), ethnische (USA) und wirtschaftliche Gegensätze auseinander- 32 J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt, Suhrkamp (1991), 2014 (17. Aufl.), S. 17. 33 D. Elam, Feminism and Deconstruction, op. cit., S. 78. 34 Ibid., S. 59. 35 Ibid., S. 84. <?page no="242"?> Feministische Gesellschaftstheorien 226 dividiert und geschwächt. Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es nicht verwunderlich, dass einige Autorinnen die dekonstruktivistischen Kritiken der Subjektbildung nicht goutieren. So wendet sich beispielsweise die amerikanische Feministin Honi Fern Haber gegen alle an Derrida, Foucault und Lyotard anknüpfenden „Postmodernen“, die Subjektivität durch ihre kritische Zerlegung schwächen. Ohne die von Butler und Fraser betonte Notwendigkeit zu berücksichtigen, den Subjektbegriff auf seine Genese hin zu überprüfen und kritisch zu reflektieren, plädiert sie für kohärente Subjektivität und Gemeinschaft: „Postmoderne Politik stellt keine Option dar (…), denn sie schließt Gemeinschaftsbildung und zusammenhängende Subjekte (coherent subjects) aus, die beide für die Identitätsbildung des Andersartigen wesentlich sind.“ 36 Im letzten Satz ihres Buches stellt sie unumwunden fest, „The subject of oppositional struggle is subject-in-community and not the subject in isolation (…).“ 37 Dieser Rückgriff auf den soziologischen Schlüsselbegriff der Gemeinschaft, der immer wieder ideologisch ausgeschlachtet wird (vgl. Kap. X), lässt ein Dilemma des Feminismus erkennen, das aus dem Gegensatz von kritischer Reflexion und Handlung, von kritisch-reflexiver Theorie und handlungsorientierter Ideologie hervorgeht. Die Theorien der Frauenbewegungen neigen dazu, sich über dieses Dilemma hinwegzusetzen. 3. Weibliche Subjektivität und soziale Bewegung Dem soziologischen Begriff der Bewegung fällt in den feministischen Debatten eine Schlüsselrolle zu, weil viele Aktivistinnen und Autorinnen hoffen, jenseits der etablierten Institutionen und der politischen Parteienlandschaft, die zumeist männlich dominiert ist, neue Möglichkeiten zu finden, auf Wirtschaft, Politik und Kultur verändernd einzuwirken. Soziale Bewegungen sind zwar labil geschichtet, sind aber leicht zugänglich, flexibel und unterscheiden sich dadurch vorteilhaft von hierarchisch organisierten Parteien, die zu Oligarchiebildungen neigen 38 und leicht „verkrusten“ (vgl. Kap. VIII). Soziale Bewegungen werden seit den 1960er Jahren vom französischen Soziologen Alain Touraine untersucht, von dem im siebzehnten Kapitel ausführlicher die Rede sein wird. Er unterscheidet in seinen späteren Arbeiten Bewegungen, die besondere Gruppeninteressen artikulieren (etwa 36 H. Fern Haber, Beyond Postmodern Politics. Lyotard, Rorty, Foucault, New York-London, Routledge, 1994, S. 130. 37 Ibid., S. 134. 38 Vgl. R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (Hrsg. W. Conze), Stuttgart, Kröner, 1925, Teil VI: „Die oligarchischen Tendenzen der Organisation“. <?page no="243"?> Feministische Gesellschaftstheorien 227 die Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhunderts), von neuen kulturellen oder historischen Bewegungen, die nicht nur für die Rechte bestimmter Gruppen kämpfen, sondern versuchen, eine Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung herbeizuführen. Er vergleicht die zeitgenössischen ökologischen und feministischen Bewegungen mit den religiösen Bewegungen der Vergangenheit, die ebenfalls im „Feld der Historizität“ agierten, um den Verlauf der Geschichte in ihrem Sinne zu beeinflussen: „Die wichtigsten kulturellen Bewegungen der Geschichte waren die religiösen Bewegungen; in unserer Welt, die aus der Industriegesellschaft hervorgegangen ist, sind die Frauenbewegungen und die ökologisch-politischen die bedeutendsten (…).“ 39 Tatsächlich geht es diesen Bewegungen in vielen Fällen nicht nur um die Durchsetzung partikularer Interessen (etwa „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“), sondern um eine andere, vernünftigere Gesellschaft. Insofern setzten sie die modernen und spätmodernen Diskurse der Emanzipation, die Diskurse von Marx, Comte, Adorno und Horkheimer, fort. Eine der Grundthesen Touraines lautet, dass die demokratischen Bewegungen (Frauen, „Grüne“, Arbeitslose) nicht nur versuchen, eine historische Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung herbeizuführen, sondern auch die Subjektivität der sie konstituierenden individuellen Akteure zu stützen und zur Entfaltung zu bringen. Diese Fähigkeit, zur Entwicklung der kollektiven und individuellen Subjektivität beizutragen, spricht er den Antibewegungen ab. Zu ihnen rechnet er nationalistische, faschistische, fundamentalistische und bolschewistische Strömungen (vgl. Kap. XVII). Françoise Gaspard, die von Touraines Handlungssoziologie als sociologie de l’action ausgeht, betrachtet die verschiedenen Frauenbewegungen ebenfalls als Stützen weiblicher Subjektivität: sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene. Sie setzt sich indirekt für eine Erweiterung der Relevanzkriterien ein, wenn sie programmatisch feststellt: „Die Handlungssoziologie hat folglich ein riesiges Betätigungsfeld vor sich - und nicht nur im Hinblick auf Frauen als Mitwirkende in Frauenbewegungen, sondern als handelnde Instanzen allgemein, als Subjekte der Geschichte.“ 40 Darum geht es in Touraines Handlungssoziologie als Soziologie der Bewegungen: Durch ihre Teilnahme an Bewegungen, die gegen Unterdrückung, für Gleichberechtigung und Emanzipation kämpfen, sollen einzelne Frauen zu selbstbewussten Subjekten werden und Geschichte als einen Prozess erfahren, dem sie nicht hilflos ausgeliefert sind, weil sie ihn individuell und kollektiv mitgestalten. 39 A. Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents, Paris, Fayard, 1997, S. 177. 40 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, op. cit., S. 152. <?page no="244"?> Feministische Gesellschaftstheorien 228 Gaspard räumt zwar ein, dass nicht alle Frauenbewegungen als „soziale“ oder „kulturelle“ Bewegungen im Sinne von Touraine aufzufassen sind, weil ihr Handeln nicht immer im Rahmen eines „globalen Entwurfs“ auf eine „Utopie“ oder bessere Gesellschaft ausgerichtet ist. „Sie alle aber stellen die Beziehungen zwischen der ‚Gruppe‘ der Frauen und der ‚Gruppe‘ der Männer in Frage. Sie alle bewirken, dass die Gesellschaft sich verändert. Um die Gesellschaft zu verstehen, ist es daher unerlässlich, den zugleich gesellschaftlichen und sexuellen Charakter des Subjekts zu berücksichtigen.“ 41 Für die soziologische Theoriebildung ist diese Passage deshalb wichtig, weil sie zeigt, dass ein wesentlicher Aspekt der Gesellschaft und ihrer Entwicklung nicht erfasst und nicht verstanden wird, solange der Gegensatz männlich / weiblich ausgeklammert bleibt. Sowohl der Marxismus als auch die Kritische Theorie hätten ihre Analysen der Herrschaft konkreter gestalten können, wenn sie diesem Gegensatz Rechnung getragen hätten. Die Tatsache, dass das Geschlechterverhältnis bei Marx sekundär ist, bewirkt, „daß sich der von ihm vorgegebene grundbegriffliche Rahmen, insbesondere für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus, als nicht hinreichend erwiesen hat“. 42 Marx geht offensichtlich vom Klassengegensatz aus, wenn er im Zusammenhang mit Londoner Zeitungsberichten über den Tod einer zwanzigjährigen „Putzmacherin“ („Death from simple Overwork“: Juni 1863) berichtet: „Es handelte sich um den Tod der Putzmacherin Mary Anne Walkley, zwanzigjährig, beschäftigt in einer sehr respektablen Hofputzmanufaktur, exploitiert von einer Dame mit dem gemütlichen Namen Elise.“ 43 Diese Dame beschäftigt etwa 60 Mädchen, die „durchschnittlich 16, 5 Stunden, während der Saison aber oft 30 Stunden ununterbrochen arbeiten“. 44 In der Klassengesellschaft wird ihr Tod als normale Folge arbeitsbedingter Erschöpfung zur Kenntnis genommen. Marx hätte diese Art von Ausbeutung konkreter beschreiben und erklären können, wenn er außer dem im 19. Jahrhundert sicherlich ausschlaggebenden Klassengegensatz auch die männliche Dominanz in den Systemen „Medizin“, „Politik“ und „Justiz“ einbezogen hätte, die Kinder und Frauen als schwächste Glieder der Gesellschaft besonders krassen Formen der Ausbeutung preisgaben. 45 Seinen polemischen Kommentaren zu den z.T. zynischen Reaktionen von Medizinern, Juristen und Politikern auf den 41 Ibid., S. 155. 42 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, op. cit., S. 64. 43 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1969), 1981, S. 219. 44 Ibid. 45 Vgl. ibid., S. 209 zur Rolle der Kinderarbeit. <?page no="245"?> Feministische Gesellschaftstheorien 229 Tod der Zwanzigjährigen fehlt es zwar nicht an Brisanz, aber sein Verzicht auf die von den Feministinnen reklamierte Relevanz hat zur Folge, dass seinen Betrachtungen eine Dimension fehlt. Zugleich zeigt jedoch seine Analyse des frühen britischen Kapitalismus, dass innerhalb der Frauenwelt klassenbedingte Ausbeutung nicht nur gang und gebe war, sondern weit über die Grenzen zeitgenössischer Einbildungskraft hinausreichte. In seiner Abhandlung über die männliche Herrschaft (La Domination masculine, 1998), in der er durchaus im Sinne feministischer Bewegungen argumentiert, erinnert Pierre Bourdieu daran, dass die Marxschen Relevanzkriterien keineswegs der Vergangenheit angehören, weil Frauenbewegungen auch „vorrangig Frauen privilegieren können, die aus denselben sozialen Bereichen stammen wie die Männer, die jetzt die Machtpositionen einnehmen“. 46 Die „Dame mit dem gemütlichen Namen Elise“, die geschickt ein männlich dominiertes soziales Netzwerk manipuliert, kann folglich auch im 21. Jahrhundert erfolgreich agieren - und keineswegs im Sinne der Emanzipation. Es ist das Verdienst von Silvia Kontos, dass sie in einer historischen Übersicht über die Entwicklung von Frauenbewegungen in Deutschland auch deren Probleme und Schwächen aufzeigt, die bei Touraine und Gaspard, die dazu neigen, „Bewegung“ mit euphorischen Konnotationen zu versehen, unsichtbar bleiben. Die Bewegung wurde in den 1970er Jahren allzu sehr als einheitliches „Subjekt“ aufgefasst. Dies „verhinderte seit den 1980er Jahren eine angemessene Problematisierung der unterstellten Homogenität, verlängerte und verschärfte unausgetragene Konflikte um Macht und Zielsetzungen der Bewegung und blockierte damit ihre soziale Ausweitung und generationsübergreifende Erneuerung“. 47 Hier wird deutlich, dass die Homogenität von Bewegungen keineswegs vorausgesetzt werden kann, weil jede Bewegung von generationsbedingten, ideologischen oder ethnischen Brüchen durchzogen ist, die jederzeit ihren Zerfall bewirken können. Kontos schneidet auch ein Problem an, mit dem sich Marx und Engels im Kommunistischen Manifest befassen, wenn sie zeigen, wie die vom Markt induzierten Konkurrenzmechanismen die Klassensolidarität aufweichen. 48 Der Markt zersetzt die etablierten sozialen Rollenmuster und negiert zugleich alles, was aus marktwirtschaftlicher Sicht nicht produktiv ist, was 46 P. Bourdieu, La Domination masculine, Paris, Seuil (1998), 2002, S. 157-158. 47 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche. Die Frauenbewegung und ihre Vorgaben für eine kritische Gesellschaftstheorie“, in: J. Beerhorst, A. Demirović, M. Guggemos (Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 430-431. 48 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 535. <?page no="246"?> Feministische Gesellschaftstheorien 230 nicht vermarktet werden kann. „Im Kontext einer marktradikalen Modernisierung“, bemerkt Kontos, „geriet das Geschlechterverhältnis jedoch unter einen widersprüchlichen Druck, der die politischen Initiativen der Frauenbewegung desintegrierte. Sie wurden förmlich auseinander gerissen in die dem Neoliberalismus kompatiblen Teile, die mit der Schleifung der Bastion des männlichen Ernährers ganz nebenbei auch die Ansprüche an einen ‚Familienlohn‘ erledigten (…).“ 49 Damit waren die Bemühungen um eine gerechte Entlohnung der Frauen für Kindererziehung und Arbeit im häuslichen Bereich, die für Berufstätige eine doppelte Belastung mit sich bringen, vorerst gescheitert. Dennoch ist die Bilanz, die Kontos am Ende ihrer Darstellung zieht, nicht negativ. In mancher Hinsicht nähert sie sich den von Touraine und Gaspard vorgelegten Ergebnissen an, wenn sie feststellt, dass Frauenbewegungen aufgrund ihrer Flexibilität ihren Mitgliedern die Möglichkeit bieten, nicht nur „das Politikmonopol der Parteien und etablierten Verbände“ zu umgehen, „sondern auch den Etatismus der politischen Kultur in Deutschland“. 50 Diese Erkenntnis stimmt weitgehend mit den Erkenntnissen Touraines und Gaspards überein: Die schwache Institutionalisierung von Bewegungen schafft Flexibilität in Freiräumen, die man in Staatseinrichtungen und hierarchisch organisierten Parteien vergeblich suchte. Komplementär zur Flexibilität verhält sich die unvermeidliche Vielfalt, die Kontos in ihren Schlussbetrachtungen auch als „Stärke“ auffasst: „Als Vielfalt ist diese Uneinheitlichkeit jedoch auch die Stärke der Frauenbewegung. Sie hat sie bislang davor bewahrt, dem gesellschaftlichen Druck zur Re-Traditionalisierung von Politik gänzlich nachzugeben und hat sich dadurch die Nähe zu den geschlechterpolitischen Brüchen des Alltags erhalten.“ 51 Auch diese Nähe zu Alltag und „Lebenswelt“ (Habermas) bedeutet, dass Bewegungen zunehmend als Alternativen zu bürokratisierten Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen gesehen werden. Bevor das den meisten feministischen Diskurses gemeinsame Aktantemodell skizziert wird, sollen die Zielsetzungen der Frauenbewegungen näher betrachtet werden. Mit ihnen befasst sich ausführlich Nancy Fraser. Auch sie geht von einer Kritik am Marxismus aus, der die ökonomischen Aspekte von Konflikten in den Vordergrund stellt, was zur Folge hat, dass die politischen und kulturellen Konfliktkomponenten unberücksichtigt bleiben oder unterbewertet werden. Fraser folgt durchaus dem vom Marxismus inspirierten Argument, wenn sie eine Umverteilung der wirtschaftlichen (und politischen) Ressourcen zugunsten der Frauen fordert. Sie plädiert jedoch zugleich für eine 49 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche“, op. cit., S. 432. 50 Ibid., S. 444. 51 Ibid., S. 448. <?page no="247"?> Feministische Gesellschaftstheorien 231 mit dieser Umverteilung einhergehende Anerkennung des weiblichen Beitrags zu Gesellschaft und Kultur. Umverteilung allein genügt nicht, denn: „Frauen werden staatsbürgerliche Rechte vorenthalten. Alle diese Verletzungen sind Ungerechtigkeiten im Sinne von Missachtung; sie sind relativ unabhängig von der politischen Ökonomie und sind nicht bloß Überbauphänomene.“ 52 Wenn soziale Gerechtigkeit oder Gleichgewichtigkeit nur annähernd erreicht werden soll, schließt Fraser, muss das Ziel der Frauenbewegungen „sowohl Umverteilung als auch Anerkennung“ 53 sein. Diese zweifache Zielsetzung deutet an, dass sich die Herrschaftsverhältnisse seit dem 19. Jahrhundert drastisch gewandelt haben: Während das Proletariat buchstäblich ums Überleben kämpfte (wie weiter oben das Beispiel aus Marxʼ Das Kapital I zeigt), geht es im 20. und 21. Jahrhundert auch und vielleicht vorrangig um sozialen Status, um Bildung und kulturelle Anerkennung. Dadurch ändert sich nicht nur der Objekt-Aktant des Diskurses; es entsteht - mit der neuen Erzählung - ein neues Aktantenmodell. 4. Aktantenmodelle: Frau oder Frauen? Emanzipation oder Integration? Die meisten religiösen, ideologischen und theoretischen Diskurse konstruieren ihre eigenen Auftraggeber, denen sie besondere Modalitäten, Regungen und Zielsetzungen zuerkennen. Die „Vorsehung“, die „Götter“, die „Partei“, die „Bewegung“, die „Vernunft“ oder die „Menschheit“ (Comte) werden mit verschiedenen - bisweilen fantastischen - Eigenschaften ausgestattet, die ihre Auftraggeber-Funktion rechtfertigen. Die feministischen Diskurse können insofern als Antworten auf Hegelianismus und Marxismus aufgefasst werden, als sie dem „Weltgeist“ (Hegel) als Auftraggeber und der „Geschichte“ (Marx) als Auftraggeberin eine neue Auftraggeberin entgegensetzen, die eine andere Erzählung begründet: die „Geschichte“ als „Her-story“, die als Alternative zu „His-story“, d.h. zur Geschichte in ihrer tradierten und etablierten Form, präsentiert wird. Diese weiblich gedeutete Geschichte erscheint nicht nur als Alternative zu männlichen Erzählungen, in denen Frauen entweder nicht vorkommen oder die Funktion von Objekt-Aktanten erfüllen, die erobert, getauscht oder befreit werden, sondern auch als Instanz, die Frauen individuell und kollektiv einen „Heilsauftrag“ erteilt. Greimas definiert den destinateur oder Auftraggeber als „gesellschaftliche Autorität, die dem Helden einen besonderen Heilsauftrag erteilt“ und den Helden so zum Beauftragten (desti- 52 N. Fraser, „Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung: Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit“, in: J. Beerhorst, A. Demirović, M. Guggemos (Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, op. cit., S. 458. 53 Ibid., S. 461. <?page no="248"?> Feministische Gesellschaftstheorien 232 nataire) macht. 54 Dieser Auftraggeber ist insofern eine gesellschaftliche und sprachliche Autorität, als er in Diskursen zustande kommt, die ihn in Übereinstimmung mit ihrer individuellen und kollektiven Intentionalität konstruieren. Auf dieser Ebene sind ideologisches und theoretisches Engagement nicht zu trennen, weil jeder „Heilsauftrag“ per definitionem ideologisch oder religiös ist. Es wäre jedoch völlig unangebracht, feministische Diskurse deshalb aus dem wissenschaftlichen Bereich verbannen zu wollen: Hegels „Weltgeist“ und Marxʼ „Geschichte“ sind nicht weniger ideologisch als „Her-story“. Im Gegenteil: „Her-story“ ist zunächst ein durchaus wissenschaftlicher Vorschlag, die Lücken, die Geschichte, Soziologie oder Kunstgeschichte aufweisen, auszufüllen. Dass diesem Vorschlag eine ideologische Aufwertung der Frauenrolle als Engagement zugrunde liegt, versteht sich von selbst, ist aber kein Grund, ihn zurückzuweisen. Er lässt lediglich die ideologische Motivation erkennen, die die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien in Bewegung hält. 55 Symmetrisch zu „Her-story“ erscheint in diesem Modell in Übereinstimmung mit den Relevanzkriterien „His-story“ als Gegenauftraggeberin, die nach dem Motto verfährt „weitermachen wie bisher“ und versucht, Frauen nach Möglichkeit diskret verschwinden zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorgehensweise nicht im Interesse wissenschaftlicher Erkenntnis ist: Man möchte eben wissen, welche Rolle genau das weibliche Proletariat in Familie, Fabrik und Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert gespielt hat und welche Künstlerinnen (z.B. Anaïs Nin) 56 zur Entwicklung der europäischen Avantgarde beigetragen haben. Zugleich wird deutlich, dass sich verschiedene Formen des ideologischen Engagements unterschiedlich auf theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis auswirken: Während das ideologische Motto „weitermachen wie bisher“ theoretische Erkenntnis behindert, wird diese Erkenntnis von einem Engagement für „Her-story“ eher gefördert. (Viel hängt freilich davon ab, wie dieses Engagement theoretisch und empirisch verwirklicht wird.) „Engagement“ und „Distanzierung“ im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I und XIII) bilden folglich keinen absoluten Gegensatz, weil nicht nur selbstkritische „Distanzierung“, sondern auch „Engagement“ zur Erkenntnis der Wirklichkeit beitragen kann. 54 A. J. Greimas, Du Sens, Paris, Seuil, 1970, S. 234. 55 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 56 Vgl. T. Florenacig, L’incesto nel moderno. Una prospettiva d’analisi su Bronnen, Pirandello, Musil e Nin, Pasian di Prato (Udine), 2004. Kap. V: „Incesto e narcisismo mitopoietico nell’opera di Anaïs Nin“. Tatiana Floreancig hebt den originellen Charakter von Anaïs Nins Werk innerhalb der europäischen Avantgarde hervor. <?page no="249"?> Feministische Gesellschaftstheorien 233 In den feministischen Diskursen ist dieses Engagement sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu beobachten. Ausgehend von einer Kritik an verschiedenen Formen der Psychoanalyse, konzentriert sich Luce Irigaray eher auf die individuellen Aspekte der weiblichen Subjektbildung. Sie versucht, „Her-story“ auf individueller Ebene zu entwerfen, und ihre von der neuen Geschichte beauftragte Heldin ist die einzelne Frau, die dem Mann als „Spiegel“ seiner Vorzüge (s.o.) dient: „Die Frau aber, ausgehend von diesem Planspiegel einzig und allein, kann nur als das verkehrte Andere des männlichen Subjekts (sein alter ego) auftreten oder als Ort des Aufbrechens und Verschleierns der Ursache seines (phallischen) Begehrens, oder auch: als Mangel (…).“ 57 In dieser Passage tritt eher die individuelle Frau als Subjekt-Aktant auf und übt Kritik am narrativen Programm (Greimas) ihres männlichen Gegenüber. Judith Butler schlägt eine Brücke vom Individuellen zum Kollektiven, wenn sie im Anschluss an Foucault die paradoxe Situation erörtert, in der das Subjekt als Produkt bestimmter Machtkonstellationen erscheint und zugleich als die Instanz, die von diesen Machtkonstellationen zur Handlung befähigt wird. Zu Recht spricht sie von einer Ambivalenz des Subjekts, das zugleich überdeterminiert und frei (handlungsfähig) ist: „Meiner Ansicht nach liegt die Schwierigkeit zum Teil darin, daß das Subjekt selbst Schauplatz dieser Ambivalenz ist, in welcher das Subjekt sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit entsteht.“ 58 Sowohl dem individuellen als auch dem kollektiven weiblichen Subjekt (der Bewegung) stellt sich die Frage, wie sich die einzelne Frau und Frauen als Gruppe oder Bewegung von den Effekten der Macht befreien sollen, um die sich ihnen bietenden Möglichkeiten wahrnehmen zu können. Da Butler immer wieder von Foucaults Theorie der Unterwerfung (assujettissement) der Subjekte ausgeht, räumt sie - wie Foucault - dem Reflexionsvermögen der Subjekte als Modalität zu wenig Platz ein (vgl. Kap. XXIII. 3). Dies führt zu einem Dilemma als „Doublebind“. 59 Zum Verhältnis von Subjektivität und Überdetermination durch Sozialisation und Machtstrukturen bemerkt Rüdiger Bubner lapidar: „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“ 60 Tatsächlich sind die meisten feministischen Diskurse Reflexionen dieser Art: Versuche, dem struk- 57 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, op. cit., S. 134. 58 J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt, Suhrkamp (2001), 2013 (7. Aufl.), S. 19. 59 Ibid., S. 33. 60 R. Bubner, „Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten und mögliche Mißverständnisse der Gegenwart“, in: W. Hogrebe (Hrsg.), Subjektivität, München, Fink, 1998, S. 246. <?page no="250"?> Feministische Gesellschaftstheorien 234 turellen Schicksal der Frau und der Frauen in männlich dominierten Institutionen „die Spitze zu nehmen“. Die Fähigkeit zur Reflexion erscheint hier als die wichtigste Modalität des individuellen und kollektiven Subjekt- Aktanten „Frau“, der im Auftrag von „Her-story“ agiert. Auf individueller Ebene geht es darum, nicht mehr die Rolle des Spiegels zu akzeptieren, der den Narzissmus des Mannes bedient; auf kollektiver Ebene der Bewegungen kommt es darauf an, gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr als Schicksal zu erleiden, sondern auf sie einzuwirken, um ihr eine neue Wende zu geben. Diese zentrale Modalität der Reflexion stärkt insofern das individuelle und das kollektive Bewusstsein, als sie jedem vor Augen führt, wie sich Frauen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte (seit ihrem Eintritt in den Produktionsprozess als Erwerbsarbeit) Modalitäten oder Fähigkeiten angeeignet haben, von denen früher angenommen wurde, dass sie Männern vorbehalten sind: Sie sind in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft tätig, und ihre Präsenz in der Universitätswelt, die noch zu Max Webers Zeiten eine männliche Domäne war, ist nicht mehr wegzudenken. Werden diese Fähigkeiten reflektiert, tragen sie wesentlich zur Konstitution eines kollektiven Subjekt-Aktanten bei, der versucht, im Auftrag von „Her-story“ die gesellschaftliche Entwicklung umzuschreiben und umzugestalten. In dieser Hinsicht sind Frauen individuell und kollektiv kaum mit der Arbeiterschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergleichen, die für die Entwicklung der Wirtschaft zwar unentbehrlich war, in Politik, Wissenschaft und Kultur aber kaum eine Rolle spielte. Sie gleichen aber auch nicht dem revolutionären Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das, wie Tocqueville zeigt 61 , schon vor der Revolution von 1789 Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst beherrschte. Als Kollektiv nehmen Frauen heute eher eine Zwischenposition ein: Im Gegensatz zu den Arbeitern sind sie zwar in fast allen sozialen Bereichen vertreten, in den meisten Fällen aber noch weit von der angestrebten Gleichstellung entfernt. Deshalb setzen sie sich, wie Nancy Fraser es ausdrückt, sowohl für „Umverteilung“ als auch für „Anerkennung“ ein. Die Frage ist, ob diese beiden Zielsetzungen tatsächlich den Objekt-Aktanten der Frauen und Frauenbewegungen bilden. Um ihn konkreter bestimmen zu können, mag es hilfreich sein, die Funktion des Fokalisators in feministischen Diskursen näher zu betrachten. Ein kontrastiver Vergleich mit Marxʼ Diskurs lässt einen wesentlichen Unterschied erkennen: Obwohl zwischen den Wissenschaftlerinnen und der durchschnittlichen Frau im Singular oder der Frauenbewegung oft eine kritische Distanz zu beobachten ist, ist die Nähe einer Autorin zu ihrem 61 A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la Révolution, Paris, Gallimard, 1952, S. 312-313. <?page no="251"?> Feministische Gesellschaftstheorien 235 Geschlecht, in dessen Perspektive sie beobachtet und argumentiert, vorab gegeben, während Marx seine Nähe zum Proletariat als Forscher erst herstellen musste. Daraus folgt, dass die innere Fokussierung, bei der einer Erzählerin oder einem Erzähler das Bewusstsein des Aktanten zugänglich ist, in feministischen Diskursen nicht nur ausgeprägter ist als bei Marx, sondern auch empirisch gehaltvoller. Die Wissenschaftlerin, die sich mit der Position der Frau in einem Betrieb oder mit den sich wandelnden Strategien von Frauenbewegungen befasst, weiß zugleich: tua res agitur. Sie schreibt nicht nur über andere Frauen, sondern zugleich auch über sich selbst. Die Fragen, die beispielsweise Irigaray in ihren Interviews aufwirft, betreffen nicht nur die „Frau“ als Individuum oder die Frauenbewegungen; sie betreffen auch Irigaray selbst: als Autorin und Theoretikerin. In den folgenden Fragen geht es abermals um die Spiegelfunktion der Frau, die dem Mann zu seiner Selbstaufwertung dient: „Welches ‚Subjekt‘ kam dabei letzten Endes auf seine Kosten? Welches ‚Andere‘ wurde dabei auf die schwer repräsentierbare Funktion des Negativen reduziert? “ 62 Diese Fragen beziehen sich nicht auf soziale Gruppen, denen die Autorin nicht angehört; sie betreffen die Autorin selbst, die auch von ihrem Schicksal als Frau spricht, wenn sie das weibliche „Andere“ dem männlichen „Einen“ gegenüberstellt. Dies bedeutet nicht, dass eine „Zurechnung des Bewusstseins“, die in marxistischen Abhandlungen über das „Proletariat“ bisweilen sonderbare Projektionen des Eigenen ins Fremde zeitigt, in feministischen Diskursen fehlt. Die dekonstruktivistischen Argumente einer Diane Elam, die sich gegen Verallgemeinerungen und generalisierende Zurechnungen von Bewusstsein wehrt, zeugen davon. Sie zeugen zugleich von der Schwierigkeit, mit der alle soziologischen Theorien konfrontiert werden, die versuchen, das Bewusstsein verschiedener Gruppen adäquat zu erfassen: Die Positionsbestimmung einer Gruppe in einem besonderen sozialen Kontext mag ebenso aufschlussreich sein wie die Befragung ihrer Mitglieder. Aber beide Verfahren können zu Fehlschlüssen führen (wie Prognosen über das Wahlverhalten von Gruppen zeigen). Es kommt hinzu, dass es die Heterogenität von Frauenbewegungen kaum noch gestattet, von einem einheitlichen Bewusstsein zu sprechen. Im Gegensatz zu Françoise Gaspard ist Silvia Kontos sogar der Meinung, „dass heute von ‚der Frauenbewegung‘ überhaupt nicht mehr die Rede sein kann, allenfalls von einem Konfliktfeld, in dessen zahlreichen Arenen sich sehr unterschiedliche Gruppen von Frauen engagieren“. 63 Sie beobachtet 62 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, op. cit., S. 160. 63 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche“, op. cit., S. 427. <?page no="252"?> Feministische Gesellschaftstheorien 236 zudem, wie einige Frauen dem weiblichen Engagement den Rücken kehren, um in Parteiorganisationen erfolgreich zu sein: „Frauen, die in den Parteien etwas werden wollen, meiden mittlerweile die Jammerecke der Frauenthemen.“ 64 Gaspards Antwort liegt auf der Hand: Deshalb gibt es ja die Frauenbewegungen, die jenseits von Parteiorganisation und Staat flexibel agieren. Komplementär dazu argumentiert Birgit Sauer, wenn sie zeigt, dass sogar der Staat als potenzieller Verbündeter oder Helfer der Frauenbewegungen aufgefasst werden kann: „Der Staat kann auch nicht, wie in der frühen Frauenbewegung und Frauenforschung, nur als repressiv gedacht werden. Vielmehr sollte der Staat als ein gegenüber Geschlechterverhältnissen relativ autonomer Akteur gesehen werden. Und aus dem Staat bzw. in staatlichen Verdichtungsprozessen können sich auch neue Kräftekonstellationen entwickeln, die Veränderung ermöglichen, ja erzwingen.“ 65 Es kommt daher auf die Fähigkeit an, den Staat oder eine seiner Einrichtungen für die Ziele der Frauenbewegungen einzusetzen. 66 Zum Abschluss stellt sich die Frage, ob und wie diese Ziele als Objekt- Aktanten der Diskurse definiert werden können. Das bisher Gesagte deutet bereits an, dass verschiedene Frauengruppen grundverschiedene Ziele verfolgen, die dem Gegensatzpaar „Integration“ und „Emanzipation“ subsumiert werden können. Während „Karrierefrauen“, die, wie Kontos zeigt, in politischen Parteien aufsteigen wollen, die Solidarität mit Frauenbewegungen und Frauenanliegen aufkündigen und nach Integration in die männliche Ordnung streben, setzten sich andere Frauen - oft außerhalb 64 Ibid., S. 435. 65 B. Sauer, „Hat der Staat ein Geschlecht? Reflexionen über geschlechtsspezifische Formen des Regierens“, in: D. Martin, S. Martin, J. Wissel (Hrsg.), Perspektiven und Konstellationen Kritischer Theorie, Münster, Westfälisches Dampfboot, 2015, S. 77. 66 Vgl. auch: B. Sauer, „Den Staat ver/ handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft“, in: A. Demirović (Hrsg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2003, S. 167. Diese Einsicht, dass der Staat auch als Helfer der Frauen und Frauenbewegungen betrachtet werden kann, hat sich, Birgit Sauer zufolge, in langjährigen Auseinandersetzungen mit dem Marxismus durchgesetzt: „Die feministische Staatsdebatte entzündete sich in den späten 1970 Jahren im Kontext und in scharfer Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien (…).“ Auch in diesem Fall wurden von nichtmarxistischen Feministinnen die Relevanzkriterien des Marxismus in Frage gestellt: „Ihr Hauptkritikpunkt am marxistischen Feminismus war die Degradierung des Geschlechterverhältnisses zum Nebenwiderspruch.“ Im Gegensatz dazu kommen Feministinnen wie Sauer zu dem Schluss, dass der Staat zwar sporadisch von männlicher Dominanz zeugt, zugleich jedoch als Helfer der Frauenbewegungen in Frage kommt: „Der Succus feministischer Staatsdebatten lässt sich wie folgt formulieren: Zwischen Staat und männlicher Herrschaft gibt es zwar Homologien, nicht aber einen einzigen Mechanismus, der den maskulinistischen Charakter des Staates ausmacht (…).“ (S. 168) <?page no="253"?> Feministische Gesellschaftstheorien 237 der Institutionen - für Emanzipation und eine andere, menschlichere Gesellschaft ein. In diesem Sinne fasst beispielsweise Sabina Lovibond die Zielsetzungen des Feminismus auf, wenn sie von ihm sagt, er „strebe danach, den Krieg zwischen Männern und Frauen zu beenden und ihn durch kommunikative Transparenz oder Wahrhaftigkeit zu ersetzen“. 67 Integration oder Emanzipation? Hier wird - wenn auch in ganz anderer Form und in einer anderen historischen Situation - die Kontroverse zwischen Marxismus und Sozialdemokratie neu ausgetragen: Ist das Ziel der Bewegung die Überwindung der männlich-kapitalistischen Verhältnisse oder die Gleichstellung der Frauen (der Arbeiter) im bestehenden System? Gegenwärtig sieht es so aus, als würden nur wenige dieses System in Frage stellen. Viele wünschen sich aber „Umverteilung“, „Anerkennung“ und „Integration“. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Sehnsucht nach Überwindung, die aus Lovibonds Bemerkungen spricht, von einer postmodernen Verwindung im Sinne von Vattimo (Heidegger) abgelöst wird. 5. Feminismus und Kritische Theorie: Subjekt, Natur und Herrschaft Dem Feminismus und der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers ist das Oszillieren zwischen moderner Überwindung und postmoderner Verwindung gemeinsam. Davon zeugt der schon kommentierte erste Satz der Negativen Dialektik Adornos: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 68 Das Proletariat, von dem Marx erwartete, dass es die Philosophie verwirklichen würde, hat sie nicht verwirklicht - wahrscheinlich weil es dazu nicht imstande war. Ob Frauenbewegungen, die weiterhin Emanzipation als Ziel vor Augen haben, dieses Ziel einst erreichen werden, erscheint unter den gegenwärtigen Bedingungen zweifelhaft. Es ist aber weiterhin sinnvoll, die Möglichkeiten der Emanzipation durch eine Auseinandersetzung zwischen Feminismus und Kritischer Theorie dialogisch zu konkretisieren. Im Rahmen von „Her-story“ und den ihr zugrunde liegenden Relevanzkriterien wirft Regina Becker-Schmidt Adorno vor, dass er in seinen Analysen der Naturbeherrschung den Gegensatz männlich / weiblich unberücksichtigt lässt. „Auch die spätere Frauenbewegung nimmt er nicht wahr“ 69 , fügt sie hinzu. Sie will jedoch nicht beim „Androzentrismus- 67 S. Lovibond, „Feminism and Postmodernism“, in: R. Boyne, A. Rattansi (Hrsg.), Postmodernism and Society, Basingstoke-London, Macmillan, 1990, S. 167. 68 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 13. 69 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 65. <?page no="254"?> Feministische Gesellschaftstheorien 238 Vorwurf“ stehen bleiben, sondern sich um „reziproke Annährungen“ 70 zwischen Feminismus und Kritischer Theorie bemühen. Adorno übe zwar „Patriarchatskritik“, könne sich aber - Becker-Schmidt zufolge - nicht dazu durchringen, Frauen als den Männern ebenbürtige Subjekte anzuerkennen: „Gegen seinen Willen gerät seine Argumentation in die Nähe jener diskursiven Muster von Frauen als Naturwesen, mit deren Hilfe Männer über Jahrhunderte hinweg den Subjektstatus für sich allein reklamiert haben.“ 71 Adorno setze Freuds psychoanalytische Tradition fort, welche die Frau als kastriertes Mangelwesen auffasst: „Adorno bringt seine Vorstellung von der weiblichen Kastration mit der Menstruation in Verbindung.“ 72 Gegen diese Auffassung wendet Becker-Schmidt erwartungsgemäß, aber nicht zu Unrecht ein, in der Menstruation „kündig[e] sich die Potenz an, neues Leben zur Welt bringen zu können“. 73 Kurzum, Adorno bleibe den herrschenden „Konstruktionen von Geschlechteridentität“ 74 verhaftet, die von Judith Butler, auf die sich Becker- Schmidt beruft, kritisch zerlegt werden. Im Gegenzug zu dieser Auffassung der Frau als eines „verwundeten“ Mangelwesens plädiert Becker-Schmidt - in Übereinstimmung mit Autorinnen wie Honi Fern Haber (s.o.) - für die Anerkennung weiblicher Subjektivität als gleichberechtigter sozialer Instanz. Wie die amerikanische Feministin wendet sie sich konsequent gegen eine „postmoderne Verabschiedung des Subjekts“. 75 Trotz aller berechtigten Kritik an einem idealistischen Subjekt, das jenseits aller Widersprüche, Kontingenzen und Veränderungen mit sich selbst identisch bleibt, einer Kritik, die in den Werken einiger postmoderner Autoren zu einer voreiligen Verabschiedung des Subjektbegriffs führt, steht fest, dass es männliche und weibliche Subjektivität gibt: sofern Subjekt soziologisch und semiotisch als individuell oder kollektiv denkende und handelnde Instanz (als Subjekt-Aktant) definiert wird. 76 Aus der Sicht der Kritischen Theorie (Adornos und Horkheimers) stellt sich nicht so sehr die Frage, ob Frauen und Frauenbewegungen Subjekte sind, sondern welche Ziele sie verfolgen: Integration in die bestehenden Verhältnisse durch „Umverteilung“ und „Anerkennung“ im Sinne von Fraser oder eine andere Gesellschaft, die nicht mehr auf Herrschaft und Machtausübung gründet. 70 Ibid. 71 Ibid., S. 69. 72 Ibid. 73 Ibid., S. 70. 74 Ibid., S. 78. 75 Ibid., S. 77. 76 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2010 (3. Aufl.), S. 15-25. <?page no="255"?> Feministische Gesellschaftstheorien 239 Becker-Schmidt missversteht Adorno, wenn sie fragt: „Warum behauptet Adorno, Frauen seien zu ihrer Emanzipation auf die Hilfe des Mannes angewiesen? Warum können es nicht die eigenen leidvollen Erfahrungen sein, die Akte der Selbstbefreiung initiieren? “ 77 Es versteht sich von selbst, dass „Akte der Selbstbefreiung“ notwendig sind, wenn sich etwas ändern soll. Aber die erste Frage zeugt von Unverständnis: denn auch Männer sind zu ihrer Emanzipation auf die Hilfe der Frauen angewiesen, wenn, wie Sabina Lovibond zu Recht fordert, der Krieg zwischen Geschlechtern durch „kommunikative Transparenz“ ersetzt werden soll. Für die Beendigung eines Konflikts und für erfolgreiche Kommunikation müssen sich stets beide Seiten einsetzen, wie zahlreiche historische Beispiele zeigen. Machtstreben und strategisches Handeln sind nicht dazu angetan, Konflikte zu beenden - im Gegenteil. Solange erfolgreiche Frauen, die in politischen Parteien und anderen Organisationen die „Jammerecke der Frauenthemen“ (Kontos) meiden und die Anliegen von Frauenbewegungen durch Elitenbildung unterlaufen, wird sich an den bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht viel ändern. Becker-Schmidt stört die Naturnähe der Frauen in Adornos Diskurs: „Es ist, als enthielte die Naturnähe, in der die Frauen festgehalten werden, ein Versprechen.“ 78 Was Frauen mit der Natur und zugleich mit den Arbeitern, Arbeitslosen, Kindern und vielen Angestellten verbindet, ist die Unterwerfung unter die Naturbeherrschung (vgl. Kap. VI), die auch Herrschaft über unzählige Menschen ist - und letztlich Herrschaft des (männlichen) Subjekts über sich selbst, wie Adornos und Horkheimers Deutung des Odysseus-Mythos zeigt. Es geht in der Dialektik der Aufklärung nicht darum, in Übereinstimmung mit einem tradierten Stereotyp, das Silvia Bovenschen in Kultur und Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts untersucht und dem Xavière Gauthier zufolge auch die französischen Surrealisten folgten 79 , die Frau als passives Naturwesen zu entmündigen, sondern zu zeigen, wer unter der Naturbeherrschung leidet. Zugleich gilt es, der Frage nachzugehen, wer gegen die jahrtausendealte Herrschaft aufbegehren könnte. Aus der Sicht Adornos könnte die „Naturnähe“ der Frau auch deshalb emanzipatorisch wirken, weil sie (wie die Kunst) zur Mimesis führt: zu einem mimetisch-rationalen Verhalten, das „instrumentelle“, herrschaftliche Vernunft ersetzt. Dazu heißt es in der Ästhetischen Theorie: „Kunst ist die 77 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 71. 78 Ibid., S. 72. 79 Vgl. S. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 160-161 sowie X. Gauthier, Surréalisme et sexualité, Paris, Gallimard, 1970, S. 121. <?page no="256"?> Feministische Gesellschaftstheorien 240 Zuflucht des mimetischen Verhaltens. In ihr stellt das Subjekt, auf wechselnden Stufen seiner Autonomie, sich zu seinem Anderen, davon getrennt und doch nicht durchaus getrennt.“ 80 Dieses Subjekt ist nicht mehr das herrschende Subjekt, das die Natur und andere Menschen für seine Zwecke instrumentalisiert. Es ist das Subjekt, das sich dem Anderen öffnet und sich ihm bis zu einem gewissen Grad auch angleicht. Die Synthese von Öffnung und Angleichung könnte zur Ausfüllung einiger Lücken beitragen, die Feministinnen in Marxismus und Kritischer Theorie aufgezeigt haben. Ausgehend von den Relevanzkriterien feministischer Diskurse, erinnert Becker-Schmidt an die Diskrepanzen zwischen „Lohnarbeit“ und „Hausarbeit“ und stellt eine Benachteiligung von Frauen fest, die als Berufstätige und Hausfrauen einer doppelten Belastung ausgesetzt sind, ohne für ihre Hausarbeit entlohnt zu werden: „Marx und Adorno regten mich dazu an, danach zu fragen, warum diese Diskrepanzen nicht ins allgemeine Bewusstsein treten. Die erste Antwort ist hinlänglich bekannt: Die gesellschaftliche Relevanz der Hausarbeit bleibt unbeachtet, weil sie nicht marktvermittelt ist und somit im Privaten verschwindet.“ 81 Annette Treibel fasst Regina Becker-Schmidts Kernargument zusammen: „Frauen sind im Gegensatz zu Männern doppelt vergesellschaftet, sie werden für zwei Bereiche sozialisiert, die Erwerbsarbeit und die Familienarbeit.“ 82 Diese These muss allerdings mit einem Hinweis auf männliche Hausar beit relativiert werden: Männer bauen häufig - mit der Unterstützung von Verwandten und Nachbarn - das Familienhaus und sind in diesem Haus weiterhin tätig, wenn es gilt, die Leitungen, das Dach, die Gartenmauer oder das Auto der Frau oder Tochter zu reparieren. Dies trifft vor allem (aber nicht ausschließlich) auf Arbeiter-, Bauern- und Handwerker-Familien zu, die sich Architekten, Bauleiter oder Handwerker nicht leisten können. Die verschiedenen Tätigkeiten im häuslichen Bereich werden freilich in Übereinstimmung mit tradierten Rollenmustern eingeteilt und wirken sich auf die Stellung beider Geschlechter innerhalb der Familie aus. Das Problem der Hausarbeit, das sowohl im Marxismus als auch in der Kritischen Theorie vernachlässigt wird, schneidet auch Nancy Fraser in ihrem Aufsatz „What’s Critical about Critical Theory? “ an. In einer Kritik an Jürgen Habermas Begriff der Lebenswelt, die einen sozialen Bereich bezeichnet, in dem - laut Habermas - die Medien „Macht“ und „Geld“ keine oder nur eine geringe Rolle spielen, zeigt Fraser, dass die Familie als zen- 80 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 86. 81 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 86. 82 A. Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (7., erw. Aufl.), S. 286. <?page no="257"?> Feministische Gesellschaftstheorien 241 traler Bestandteil dieser Lebenswelt sehr wohl eine von Machtstrukturen durchwirkte Welt des Geldes ist, in der die Benachteiligung der Frau institutionalisiert ist. Aus Frasers Sicht erscheint die Familie in mancher Beziehung als eine Replika der männlich dominierten kapitalistischen Wirtschaft: „Da er die Rolle der Kindererzieherin unerwähnt lässt und auch die geschlechtsspezifische Sinngebung verschweigt, die den Rollen von Arbeiterin und Konsumentin zugrunde liegt, kann Habermas nicht wirklich verstehen, wie der kapitalistische Arbeitsplatz mit der modernen, klar begrenzten und männlich dominierten Kernfamilie zusammenhängt.“ 83 Kurzum, auch Habermas berücksichtigt nicht die Tatsache, dass weibliche Hausarbeit (vor allem die Kindererziehung) nicht als Arbeit anerkannt wird und dass die berufstätige Frau doppelt belastet wird. Fraser scheint an die Argumentation von Günter Dux (s.o.) anzuknüpfen, wenn sie feststellt, dass auch in der zeitgenössischen Gesellschaft dem Mann als Familienvater die „Rolle des Brotverdieners“ („breadwinner role“) 84 zufällt, so dass er die Familie „nach außen“ vertritt. Dass sich diese Position im sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu seinen Gunsten auswirkt und das Machtgefüge innerhalb der Familie nachhaltig prägt, versteht sich von selbst. Dies bedeutet (wie sich im Habermas-Kapitel zeigen wird), dass sich die Lebenswelt keineswegs jenseits von Herrschaftsstrukturen und Machtkämpfen befindet, wie Habermas mit der Vorstellung von einer „idealen Lebenswelt“ suggeriert, weil die Medien „Macht“ und „Geld“ über die „Außenzuständigkeit des Mannes“ (Dux) in die Familie als Kern der Lebenswelt eindringen und die Lebenswelt strukturieren. In diesem Zusammenhang setzt sich Karin Gottschall für eine soziologische Synthese von „Klasse“ (Marx), „Stand“ (M. Weber), „sozialer Differenzierung“ (Durkheim) und „Geschlecht“ ein. Sie weist auf den „‚strukturierenden Charakter‘ von Geschlechtszugehörigkeit“ 85 hin und fasst das Geschlechterverhältnis als „durchgängiges gesellschaftliches Strukturierungsprinzip“ 86 auf. Das heißt, dass bei der Beurteilung von Frauenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft Hausarbeit und Erwerbsarbeit, Familienstatus und beruflicher Status nicht zu trennen sind: Sie müssen stets aufeinander bezogen werden. Aus der Sicht der Kritischen Theorie Adornos könnte das Problem der unbezahlten Hausarbeit von Frauen und das komplementäre Problem der „Außenzuständigkeit“ von Männern, mit dem alleinstehende Mütter es gar nicht zu tun haben, ansatzweise durch mimetische Angleichung gelöst 83 N. Fraser, „What’s Critical about Critical Theory? “, op. cit., S. 45. 84 Ibid., S. 42. 85 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, op. cit., S. 166. 86 Ibid. 247. <?page no="258"?> Feministische Gesellschaftstheorien 242 werden. Die Hausarbeit könnte (und wird häufig) zu zweit bewältigt, und auch die berufstätige Frau vertritt die Familie „nach außen“, selbst wenn sie nur halbtags arbeitet oder weniger verdient. Die Teilung der Hausarbeit (Kindererziehung, Einkaufen, Kochen, Gartenarbeit) kann durchaus lustvoll sein und die Solidarität innerhalb der Familie steigern. Die neue Gesellschaft wird dadurch nicht entstehen, aber substantielle Veränderungen finden oft unbemerkt statt: durch einen allmählichen Wandel der Status- und Rollenmuster, der erst im Rückblick klare Konturen annimmt. 6. Dialogizität: Die Stimme der Anderen Es sei hier an Adornos im Vorwort schon zitierten Definitionsversuch der Dialektik erinnert: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 87 Die Entstehung der - männlichen und weiblichen - Subjektivität findet in einem permanenten Dialog statt: mit Eltern, Geschwistern, Nachbarkindern während der primären Sozialisation; mit Lehrerinnen und Lehrern, Kolleginnen und Kollegen während der sekundären Sozialisation. Das Kind erlernt seine Muttersprache, indem es die andere, die richtige Aussprache oder Grammatik der Mutter, der Eltern nachahmt. Es erlernt die Fremdsprache, indem es sich intensiv mit dem Anderen, dem Ungewohnten, dem Fremden auseinandersetzt und allmählich - bewusst und unbewusst - dessen Regeln und Gewohnheiten übernimmt. Die Entwicklung der Subjektivität, die alles andere ist als eine statische, unveränderliche, mit sich selbst identische Einheit, ist ohne ständige Interaktion mit den Anderen nicht denkbar. Immer wieder geht es auch darum, mit dem oder der Anderen „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“. 88 Da die Geschlechterbeziehung den ganzen Prozess der Sozialisation durchzieht und möglicherweise sein wichtigster Aspekt ist, hängt die Entwicklung individueller Subjektivität von einer ständigen Interaktion mit dem anderen Geschlecht ab. Hannelore Möckel-Rieke spricht in diesem Zusammenhang von „Simone de Beauvoirs Begriff der Frau als dem ‚gesellschaftlichen Anderen‘, das vom männlichen Subjekt aus definiert, ausgegrenzt und unterdrückt wird“. 89 Aus dialogischer Sicht erscheint diese repressive Ausgrenzung als Selbstverstümmelung: Das männliche Subjekt 87 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 142. 88 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., S. 375-377. 89 H. Möckel-Rieke, Fiktionen von Natur und Weiblichkeit. Zur Begründung femininer und engagierter Schreibweisen bei Adrienne Rich, Denise Levertov, Susan Griffin, Kathleen Fraser und Susan Howe, Trier, Wiss. Verlag Trier, 1991, S. 16. <?page no="259"?> Feministische Gesellschaftstheorien 243 unterdrückt nicht nur einen Teil seiner Natur (wie das die Natur beherrschende Subjekt der Dialektik der Aufklärung), sondern auch das soziale, kulturelle und psychische Potenzial, das die Interaktion mit dem anderen Geschlecht birgt. Beauvoir selbst plädiert für eine Ära der Androgynie, in der das Eine und das Andere zusammengeführt werden. Dazu bemerkt Françoise Rétif: „Das gesamte Werk Beauvoirs ist ein Plädoyer für die Entstehung einer androgynen Welt.“ 90 Sie erläutert die Funktion des Androgynie-Mythos bei Beauvoir: „Der Androgyne ist das Selbe und das Andere, das Identische und das Differente, das Männliche und das Weibliche in einem. Man kann sogar sagen, dass im Androgynen das Paar männlich / weiblich als Prototyp der Alterität aufgefasst wird. Der Androgyne wirft auf und löst in sich das Problem der Koexistenz, der Gleichheit und der Reziprozität.“ 91 Es geht hier nicht so sehr darum, den uralten und seit Platos Symposion intensiv diskutierten Mythos des Androgynen zu aktualisieren, sondern darum, die dialogischen Aspekte dieses Mythos hervorzuheben. In ihm wird Alterität als Ergänzung und Stärkung des männlich-weiblichen Subjekts dargestellt. Die Dialogizität des Mythos besteht darin, dass er die Komplementarität der Geschlechter, zu denen ursprünglich ein drittes, androgynes Geschlecht gehörte, veranschaulicht und zugleich zu verstehen gibt, dass das Eine auf das Andere angewiesen ist. Gerade dies wird durch den hier skizzierten Prozess der Sozialisation, den Claude Dubar als einen Prozess „wechselseitiger Anerkennung“ 92 definiert, bestätigt: Das männliche oder weibliche Subjekt kann sich ohne Interaktion mit dem anderen Geschlecht, der anderen Sprache und dem Andersdenkenden nicht entfalten. Dies gilt auch für den Alltag: Der Eine lebt auf, wenn die Andere seine Grübeleien unterbricht und sagt: „Du siehst das zu einseitig und zu schwarz; ich sehe es ganz anders.“ Und umgekehrt: Sie fasst Mut, wenn er sagt: „Sehen wir uns das Ganze noch einmal in Ruhe an.“ Für die gesellschaftliche Entwicklung, mit der sich die Makrosoziologie befasst, könnten solche Erfahrungen aus dem „Mikrobereich“, dem Bereich individueller Interaktion, bedeuten, dass ihre Richtung in einem permanenten Dialog der Geschlechter - und nicht monologisch von dem Einen oder dem Anderen - festgelegt wird. Zur „dialogischen Wahrheitssuche“ bemerkt Michail M. Bachtin: „Die dialogische Art der Wahrheitssuche wurde dem offiziellen Monologismus, der eine fertige Wahrheit zu besitzen beanspruchte, und der naiven Selbstsicherheit der Leute entgegengestellt, die etwas zu wissen, d.h. über bestimmte Wahrheiten zu verfügen glaub- 90 F. Rétif, Simone de Beauvoir. L’autre en miroir, Paris, L’Harmattan, 1998, S. 13. 91 Ibid., S. 70. 92 Cl. Dubar, La Socialisation. Construction des identités sociales et professionnelles, Paris, Armand Colin, 2010, S. 81. <?page no="260"?> Feministische Gesellschaftstheorien 244 ten.“ 93 Zu diesen Pseudowahrheiten gehören auch die gängigen Assoziationen der Frau mit „Natur“, „Emotion“, „Körper“, die Hannelore Möckel- Rieke beanstandet. 94 Die gemeinsame Geschichte, die Geschichte beider Geschlechter könnte entstehen, wenn „Her-story“ und „His-story“ ohne hegelianische Synthesevisionen so zusammengeführt werden, dass die offiziellen Wahrheiten stürzen und neue Wahrheitsmomente sichtbar werden, die möglicherweise eine neue Richtung vorgeben, die gesellschaftliche Entwicklung einschlagen könnte. Um solche Wahrheitsmomente geht es auch in diesem dialogisch angelegten Buch, in dem eine theoretische Erzählung die andere durch „Erschütterung“ relativiert, ohne sie zu widerlegen, ohne sie aus der Welt zu schaffen. Die andere Erzählung bleibt erhalten und meldet sich wieder zu Wort, sobald die sie kritisierende Erzählung zu Ende ist. Zusammenfassung und Ausblick: Feministische Gesellschaftstheorien stimmen einerseits mit dem Marxismus und der Kritischen Theorie überein, weil sie das Herrschaftsprinzip kritisch analysieren; andererseits distanzieren sie sich von den beiden Theoriekomplexen durch die Einführung neuer Relevanzkriterien: An die Stelle der Gegensätze Kapital / Arbeit und Herrschaft / Natur lassen sie den Gegensatz männlich / weiblich treten. Dadurch kommt eine Umerzählung der gesellschaftlichen Entwicklung zustande: Nicht der Klassekampf ist der Motor der Geschichte und auch nicht die Naturbeherrschung, sondern die Herrschaft des männlichen über das weibliche Geschlecht. Wie bei Marx wird die „Geschichte“ zur Auftraggeberin des Subjekt-Aktanten, aber nicht länger als „Geschichte“ allgemein, die als partikulare Geschichte, als „His-story“, kritisiert wird, sondern als „Her-story“, die als Auftraggeberin des Subjekt-Aktanten „Frau“ in dessen individueller oder kollektiver Gestalt (Bewegung) auftritt. Dieser Subjekt-Aktant wird zum Fokalisator der neuen Erzählung, die sowohl Marxisten als auch Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Theorie zum selbstkritischen Nachdenken ermuntert. Im Folgenden, vor allem in den Kapiteln über Tönnies (X) und Touraine (XVII), soll deutlich werden, dass sich Soziologen (nach Comte) immer wieder Gedanken über die gesellschaftskritische Rolle von Frauen als Individuen und Gruppen gemacht haben. 93 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 122. 94 Vgl. H. Möckel-Rieke, Fiktionen von Natur und Weiblichkeit, op. cit., S. 26. <?page no="261"?> 245 Zweiter Teil: Die soziologischen Theorien der Spätmoderne Die Spätmoderne könnte als eine Selbstkritik der Moderne aufgefasst werden. Diese Selbstkritik ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass bei Denkern wie Nietzsche und Schopenhauer, bei Dichtern wie Baudelaire Zweifel an den Versprechen der bürgerlichen Moderne im Sinne der Aufklärer Voltaire, Diderot und d’Alembert, im Sinne von Hegel, Marx und Comte aufkommen. „Le modne ne marche que par le malentendu“, „die Welt bewegt sich nur aus Missverständnis“ 1 , bemerkt Baudelaire und gibt zu verstehen, dass die von Hegel, Marx und Comte angepeilten hehren Ziele (die verwirklichte Vernunft, die klassenlose Gesellschaft, die wissenschaftlich organisierte Welt) möglicherweise aus falsch konstruierten (erzählten) Ereignisketten hervorgehen und daher nicht mehr als nebulöse Vorstellungen sind. Die von Machiavelli, Nietzsche und Freud beeinflusste spätmoderne Soziologie, deren Hauptvertreter Vilfredo Pareto, Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Max Weber und Alfred Weber sind, verdankt zwar Hegel, Marx und Comte wesentliche Erkenntnisse und Begriffe, kann aber die historische Euphorie, die den dialektischen und rationalistischen Entwürfen zugrunde liegt, nicht mehr nachvollziehen. Allzu häufig endeten Revolutionen des 19. Jahrhunderts (etwa die des Jahres 1848) in neuer, bonapartistischer Unterdrückung. Allzu oft wurde deutlich, dass wissenschaftlicher und technischer Fortschritt nicht nur alte Probleme löste, sondern vor den Augen der Beobachter neue Probleme anhäufte. Durch soziale Differenzierung, Arbeitsteilung, zunehmende Anonymität der Großstädte und Vereinsamung des Einzelnen setzte er den Zusammenhalt der Gesellschaft neuen Gefahren aus. Dies ist wohl der Hauptgrund, weshalb fast alle spätmodernen Soziologen - vor allem die hier genannten - auf die Teleologien ihrer modernen Vorläufer verzichten. Sie entwickeln soziologische Theorien, in denen Probleme und Fragestellungen von größerer Bedeutung sind als groß anagelegte Lösungsvorschläge im Sinne von Hegel, Marx und Comte. Ihre Skepsis den modernen „Metarezählungen“ (Lyotard) gegenüber wird in den postmodernen Soziologien von Michel Maffesoli, Zygmunt Bauman und Jean Baudrillard noch verstärkt. 1 Ch. Baudelaire, „Mon Cœur mis à nu“, in: ders., L’Art romantique, Paris, Julliard, 1964, S. 432. <?page no="262"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 246 Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels knüpfen zwar durchaus an die Klassen- und Klassenkampfproblematik von Marx und Engels an, versuchen aber im Anschluss an Machiavelli und Nietzsche zu zeigen, an welche Hindernisse die nach Vernunft und Menschlichkeit strebende Revolution stößt und weshalb sie letztlich scheitern muss. Die von ihnen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gemachten Beobachtungen und gestellten Prognosen nehmen im Rückblick geradezu prophetischen Charakter an und sollten nicht nur von Marxisten, sondern auch von der Kritischen Theorie und der feministischen Kritik zur Kenntnis genommen werden. Abermals gilt es, Adornos Rat zu folgen: „Gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben.“ Es ist schon deshalb bedauerlich, dass Namen wie Pareto und Mosca in den meisten Einführungen in die soziologische Theorie nicht vorkommen. Es ist ein besonderes Verdienst von Richard Münch, dass er sich im ersten Band seiner dreibändigen Einführung ausführlich und vielseitig mit Paretos Soziologie auseinandersetzt. 2 Durkheim und Tönnies fehlen zwar selten in Abhandlungen über soziologische Theorien, aber nur selten wird klar, dass es sich in ihrem Fall (wie bei Pareto) um Theorien der Krise handelt, in denen der Zusammenhalt der Gesellschaft als solcher zum Problem wird. Durkheim und Tönnies könnten als die eigentlichen Begründer der Soziologie gelten, weil sie sich (wie zu zeigen sein wird) den Faktoren zuwenden, die das Soziale der Gesellschaft ausmachen: ihre Solidarität (Durkheim), ihren Gemeinschaftscharakter (Tönnies). Durkheim greift eines der Themen aus Marxʼ vielschichtiger Theorie heraus, wenn er zeigt, wie Arbeitsteilung die soziale Solidarität und das Kollektivbewusstsein der Gruppe aushöhlt und wie dieser Prozess zu sozialen Pathologien (etwa zur Anomie) führt. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Beobachtung und Erzählung der Gesellschaft zu tun, die mit der Marxschen Auffassung konkurriert und dialogisch auf sie bezogen werden sollte. Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint aus dieser Sicht nicht mehr als andauernder Klassenkonflikt, sondern als fortschreitende Differenzierung, die einerseits unschätzbare Vorteile mit sich bringt, andererseits die Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft akut gefährdet. Mit etwas Übertreibung könnte der komplementär zu Durkheim argumentierende Tönnies als der Entdecker der „modernen Problematik“ bezeichnet werden, weil er in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) das Kernproblem moderner Gesellschaften umrissen hat, das uns bis heute beschäftigt: die Entwicklung der archaischen oder traditionellen Gemeinschaft, in der Menschen einander ähnlich sind und einander 2 Vgl. R. Münch, Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt- New York, Campus, 2008, S. 239-264. <?page no="263"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 247 kennen, zu einer anonymen Gesellschaft, in der das soziale Gewebe und die gesellschaftlichen Beziehungen täglich einer Zerreißprobe ausgesetzt sind und stets neu verhandelt werden müssen. Seinem Zeitgenossen Tönnies, der aus seiner Zuneigung für die Gemeinschaft kein Hehl macht, antwortet Georg Simmel, der zwar die Vorteile der Gemeinschaft durchaus kennt, zugleich aber auf die Befreiung des Einzelnen in der großstädtischen Geldwirtschaft hinweist - nach dem Motto „Stadtluft macht frei“. Dadurch beleuchtet er einen ganz anderen Aspekt der (Spät-)Moderne, der sowohl bei Durkheim als auch bei Tönnies unterbelichtet bleibt. Dennoch erscheinen sowohl Tönnies als auch Simmel im gegenwärtigen Kontext als Soziologen der Krise, die die ehrgeizigen Metaerzählungen von Marx, Comte und Spencer mit Skepsis betrachten. (Hier wird deutlich, dass die von Lyotard verkündete „Skepsis den Metaerzählungen gegenüber“ kein besonderes Charakteristikum der Postmoderne ist, sondern bereits in der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne einsetzt.) Diese Selbstkritik erreicht einen ihrer Höhepunkte bei Max Weber, der wie kein anderer vor ihm die Rationalisierungsprozesse nachgezeichnet hat, die Europa und später die USA zu dem gemacht haben, was sie sind. Zu diesen Rationalisierungsprozessen gehört auch die allmähliche Entstehung einer funktional differenzierten Bürokratie, auf die Weber immer wieder zu sprechen kommt: „Diese letztere Entwicklung speziell, welche die konkrete Sachkenntnis der Interessenten in den Dienst der rationalen Verwaltung fachgebildeter Beamter zu stellen sucht, hat sicherlich eine bedeutende Zukunft und steigert die Macht der Bürokratie noch weiter.“ 3 Dies kann so weit führen, dass der bürokratische Apparat schließlich zu einem „stählernen Gehäuse“ (Weber) wird, in dem der sozialen Körper erstickt oder zumindest zur Unbeweglichkeit verurteilt ist. Auch im Falle von Weber wird deutlich, dass er Hegels, Marxʼ und Comtes Zuversicht, was die modernen Entwicklungen angeht, nicht teilt. Seine Soziologie ist nicht nur in dieser Hinsicht als eine Antwort auf Marx (und Comte) zu lesen, sondern auch auf einer ganz anderen Ebene: Im Gegensatz zu Marx versucht Weber zu zeigen, dass nicht nur Wirtschaft die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung ist, sondern auch andere Faktoren: etwa der religiöse Glaube, der sich auf das wirtschaftliche Denken und Handeln auswirken kann. Eine ganz andere Art von Skepsis im Hinblick auf den sozialen Prozess finden wir bei Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, der sich vorstellt, dass die Entwicklung der Zivilisation als wirtschaftlicher und technischer 3 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband IV: Herrschaft (Hrsg E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 42. <?page no="264"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 248 Prozess die gesamte europäische Kultur in Frage stellen und zu einer „Rebarbarisierung“ führen könnte. Auf dieser Ebene überschneidet sich seine Diagnose durchaus mit der seines Bruders, der in Wirtschaft und Gesellschaft vom „Kampf des ‚Fachmensch‘-Typus gegen das alte ‚Kulturmenschentum‘“ 4 spricht. In mancher Hinsicht könnten beide Theorien, vor allem aber die Alfred Webers, als Repliken auf Norbert Eliasʼ These über den Prozess der Zivilisation aufgefasst werden. Seine These lautet: dass der Zivilisationsprozess, der einen seiner Höhepunkte in der höfischen Gesellschaft erreicht, im Laufe der Jahrhunderte zu einer Verfeinerung der Sitten führt, so dass Vulgarität, Gewaltanwendung und Grausamkeit immer weiter aus dem gesellschaftlichen Alltag verdrängt werden. Im Gegensatz dazu weist Alfred Weber auf das destruktive Potenzial der Zivilisation als Wirtschaft und Technik hin: Sie könnte durch ihren kruden Utilitarismus der Verfeinerung der Sitten entgegenwirken und durch ihre Indifferenz allen kulturellen Werten gegenüber eine neue Barbarei entstehen lassen. Auch in diesem Fall lohnt es sich also, sich die Gegenstimme anzuhören, um die gegenläufigen Tendenzen zu erkennen. Stimme und Gegenstimme treffen im neunten Kapitel aufeinander, dessen Platzierung und Struktur eher dem dialogischen als dem chronologischen Prinzip folgen. In diesem Kapitel wird Emile Durkheims Theorie aus seiner Kritik an Herbert Spencers liberalem Individualismus abgeleitet. Im Gegensatz zum liberalen Individualisten Spencer, der meint, dass ein Kollektiv nicht mehr als die Summe der ihm angehörenden Individuen ist, weist Durkheim darauf hin, dass durch die Interaktion der Individuen eine gruppespezifische Eigengesetzlichkeit entsteht, die als Kollektivbewusstsein über das individuelle Bewusstsein hinausgeht und nicht auf dieses zu reduzieren ist. In der heutigen Soziologie ist das Spanungsverhältnis zwischen kollektiver und individueller Fokussierung als Gegensatz zwischen Durkheim und Max Weber weiterhin aktuell. 4 Ibid., S. 45. <?page no="265"?> 249 VIII. Die „Zirkulation der Eliten“ und die „ewige Wiederkehr des Gleichen“: Von Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca zu C. Wright Mills und Robert Michels (Paretos machiavellistische und nietzscheanische Antwort auf Marx) Inhaltsverzeichnis 1. Die Standorte Paretos und Moscas in der Krise des italienischen Libera lismus 2. Paretos Handlungstheorie und seine „Zirkulation der Eliten“: Ein ma chiavellistisch nietzscheanisches Aktantenmodell als Replik auf den Marxismus 3. Mosca als Vorläufer und Überwinder von Paretos Soziologie: „Politische Formel“, „juristischer Schutz“, „Gleichgewicht der Kräfte“ 4. C. Wright Mills Antwort auf Mosca und Pareto: Eine Nuancierung der Elitentheorie 5. Michels und das „eherne Gesetz der Oligarchie“ Die soziologischen Theorien Paretos und Moscas können ihrer Struktur nach als Repliken auf die modernen Großerzählungen aufgefasst werden. Während Hegel, Marx und Comte die gesellschaftliche Entwicklung im Rahmen einer teleologischen, auf ein bestimmtes historisches Ziel ausgerichteten Erzählung darstellen und sich dabei von ihren Vorstellungen einer vernünftigen, befriedeten und menschlichen Gesellschaft leiten lassen, beschreiben Pareto und Mosca eine zirkuläre Bewegung, die auf eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ im Sinne von Nietzsche hinausläuft. Konkret: Ihre historische Erzählung mündet nicht in das happy end einer von aller Herrschaft befreiten Gesellschaft, sondern in neue Herrschaftsformen oder in eine Aktualisierung des Altbekannten. Auf seine Frage „Was ist denn am Philosophen rückständig? “ antwortet Nietzsche: „Daß er weiß, was wahr ist, was Gott ist, was das Ziel ist, was der Weg ist…“ 1 Aus dieser Sicht erscheinen Hegel, Marx und Comte als „rückständige Philosophen“: Sie kennen den Weg, der mit Hilfe des „Weltgeistes“, des „Proletariats“ oder der „positiven Wissenschaft“ durch die Geschichte hindurch ans Ziel führt. 1 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 702. <?page no="266"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 250 Mit Nietzsche, dessen Werk sie zumindest teilweise rezipiert haben 2 , betrachten die beiden italienischen Soziologen Pareto und Mosca die moderne Metaerzählung mit Skepsis. Sie erscheint ihnen als eine Art Wunschdenken, das den wirklichen gesellschaftlichen Situationen, den wirklichen Menschen mit ihren Leidenschaften, Schwächen und Ambitionen nicht oder nur unzureichend Rechnung trägt. Diesem Wunschdenken setzten sie als Erben Niccolò Machiavellis ein Realitätsdenken entgegen, das sich nicht lange bei der Frage aufhält, wie die ideale Gesellschaft aussehen sollte, sondern danach fragt, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist und wie aus dieser Wirklichkeit der Interessen, Herrschaftsansprüche und Machtkämpfe ihr Entwicklungspotenzial und ihre Entwicklung abgeleitet werden können. Sie kommen zu dem Schluss, dass diese Entwicklung keine lineare, teleologische, sondern eine zirkuläre Struktur aufweist. Zu Recht weist James Burnham, der in seinem Buch Die Machiavellisten (The Machiavellians, 1943) Pareto, Mosca und Michels in die machiavellistische Tradition stellt, darauf hin, dass nicht erst bei Nietzsche, sondern schon bei Machiavelli (lange vor dem Auftreten des europäischen Historismus) 3 der soziale Prozess als kreisförmige Bewegung dargestellt wird: „Der Wechselvorgang wiederholt sich und ist ungefähr zyklisch. Das heißt, die Formen des Wechsels kommen in der Geschichte immer wieder vor (…); diese Wechselformen schließen einen mehr oder weniger erkennbaren Kreis.“ 4 Komplementär zu dieser Darstellung ortet auch Carlo Mongardini Paretos Denken zwischen den Philosophien Machiavellis und Nietzsches. 5 Dies bedeutet, aus historisch-hermeneutischer Sicht betrachtet, dass eine Strukturanalogie zwischen Machiavellis zirkulärer Geschichtsauffassung und Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ postuliert wird. Diese Analogie sollte nicht nur als eine Kontinuität des Denkens missverstanden werden, die auf Einflüsse Machiavellis oder Nietzsches in der Soziologie zurückgeführt werden könnte. Obwohl die hier kommentierten Autoren nach- 2 Vgl. G. Eisermann, „Einleitung“, in: G. Eisermann, Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte, Anmerkungen, Stuttgart, Enke, 1962, S. 35: „Auch in dieser Hinsicht war Pareto also eine Parallelerscheinung zu Nietzsches „La gaya scienza“. 3 Das Bewusstsein vom historischen oder im Laufe der Entwicklung gewordenen Charakter aller sozialen Erscheinungen, das vor allem bei W. Dilthey zum Ausdruck kommt. 4 J. Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit, Zürich, Pan-Verlag, 1949, S. 90. 5 C. Mongardini, Vilfredo Pareto. Dall’economia alla sociologia. Con un’antologia dei primi scritti sociologici di Pareto, Rom, Bulzoni, 1973, S. 61. Paretos Unterscheidung zwischen subjektiv Empfundenem und objektiv Gegebenem führt Mongardini auf Machiavelli und Nietzsche zurück. <?page no="267"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 251 weislich sowohl Machiavelli als auch Nietzsche kannten und von Burnham zu Recht als „Machiavellisten“ (mit positiven Konnotationen: als „Verteidiger der Freiheit“) bezeichnet werden, ist ihre kreisförmige Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung eher auf die hier erwähnte Skepsis allen modernen „Metaerzählungen“ gegenüber zurückzuführen. Diese Skepsis ist im Kontext der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne zu erklären: Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass Aufklärung, Rationalismus, Positivismus und Dialektik im Sinne von Comte, Hegel und Marx nicht halten können, was sie versprachen. Bei Pareto, Mosca, C. Wright Mills und Michels zeichnen sich klar die Hindernisse ab, auf die die Versprechen der modernen Denker stoßen, an denen sie nach der Jahrhundertwende zerschellen. In seiner Abhandlung über die sozialistischen Systeme (Les Systèmes socialistes, 1902), in der er die Peripetien des Sozialismus-Gedankens von der Antike bis zur modernen Gewerkschaftsbewegung nachzeichnet, gibt Pareto zu verstehen, dass es auch im Sozialismus nicht zu der ersehnten Volkssouveränität kommen kann, weil sich schon in den Gewerkschaften Eliten bilden, die über die Massen der Mitglieder herrschen und sich oft auf deren Kosten mit den Arbeitgebern, den Kapitalisten, verständigen. Noch vor Pareto zeigt Mosca in seinem Buch über Die herrschende Klasse (Elementi di scienza politica, 1895) im Anschluss an Machiavelli, dass in allen Gesellschaften und Organisationen letztlich eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht - und diese oft für ihre partikularen Zwecke manipuliert. Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills und der deutsch-italienische Politikwissenschaftler Robert Michels führen diesen Gedanken aus, indem sie mit akribischer Genauigkeit die Prozesse beschreiben, die zur Bildung einer politischen Klasse als Elite führen. Während Mills die Dynamik einer power elite darstellt, die in den 1950er Jahren dadurch zustande kommt, dass Großunternehmer, Manager, Politiker und hohe Militärs aufgrund gemeinsamer Sozialisierung in den Institutionen Cliquen bilden, die das gesellschaftliche Leben der USA beherrschen, lässt Michels in seiner kenntnisreichen vergleichenden Studie Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (1911), die mindestens fünf Kulturbereiche umfasst (Großbritannien, USA, Deutschland, Italien und Frankreich), oligarchische Tendenzen in den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften erkennen: gerade in den Organisationen also, von denen Marx und Engels sich im Kommunistischen Manifest eine Auflösung der Klassenherrschaft versprechen. Um dem dialogischen Charakter dieser Darstellung Nachdruck zu verleihen, soll schon an dieser Stelle Michelsʼ Reaktion auf eine der Kernthesen aus dem Kommunistischen Manifest ausführlich wiedergegeben werden: „Nach Marx liegt zwischen der kapitalistischen und der kommu- <?page no="268"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 252 nistischen Gesellschaft die Periode der revolutionären Umwandlung aus der einen in die andere, eine Wirtschaftsperiode, der eine politische Übergangsperiode entspricht, ‚deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats‘, weniger euphemistisch ausgedrückt: eine revolutionäre Diktatur derjenigen Sozialistenführer, die im Namen des Sozialismus den Händen der sterbenden bürgerlichen Gesellschaft das Zepter der Herrschaft zu entwinden die Kraft und Geschicklichkeit haben werden.“ 6 Dies bedeutet im Klartext - und ohne marxistische Euphemismen -, dass sich eine neue Elite des Zepters der Herrschaft im Namen des Sozialismus und des Volkes bemächtigt. Aber das Zepter verschwindet nicht; es wird nur von einer anderen, einer kräftigeren Hand geschwungen. Kurzum: Die Eliten erneuern sich, gehen aber nicht in einer herrschaftsfreien, menschlicheren Gesellschaft auf. Nicht zufällig - und mit durchaus dialogischer Gesinnung - empfiehlt Franz Borkenau, der ehemalige Komintern-Funktionär, „der einstige Kommunist und einstige Stipendiat des Instituts für Sozialforschung“ 7 , Paretos Werk allen an den Problemen des Sozialismus Interessierten zur Lektüre. 8 Sie sollen erkennen, an welchen Hürden ihr Projekt in Ost und West bisher gescheitert ist. Auch die Autorinnen und Autoren emanzipatorischer Diskurse im Sinne des Feminismus und der Kritischen Theorie werden es mit Gewinn lesen. Sie werden sich möglicherweise mit Kafkas Erzähler gestehen müssen: „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet…“ Da die gesamte Elitentheorie bisweilen unter Faschismus-Verdacht gestellt wird, soll diese Einleitung mit einigen Bemerkungen zu Paretos, Moscas und Michelsʼ Einstellung zum Faschismus abgeschlossen werden. Pareto unterstützte, wenn auch mit einiger Skepsis, kurz vor seinem Tode im Jahre 1923 die Machtergreifung Mussolinis (1922: Marsch auf Rom), die seinem Verständnis nach den Aufstieg einer neuen Elite einläutete, und erntete lauten Beifall der neuen Machthaber. (Davon wird noch ausführlicher die Rede sein.) Mosca war ein konservativer Liberaler und ein Demokratie-Skeptiker, zugleich aber ein Faschismus-Kritiker, der sich im italienischen Parlament sogar mit Mussolini anlegte. Michels bekannte sich als 6 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (Hrsg. W. Conze), Stuttgart, Kröner, 1925, S. 359. 7 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S. 288. 8 Vgl. F. Borkenau, Modern Sociologist: Pareto, London Chapman and Hall, 1936, Kap. I sowie: ders., „A Manifesto of our Time“, in: J. H. Meisel, Pareto and Mosca, Englewood Cliffs, Prentice-Hall, 1965, S. 109. <?page no="269"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 253 Wahlitaliener - wohl auch im Zuge seiner Italien-Euphorie - ohne Vorbehalte zu Mussolinis Regime. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Theorien dieser Autoren pauschal auf eine faschistische Ideologie festgelegt werden können. Der gesellschaftskritische und in der gegenwärtigen Situation eher als „links“ einzustufende C. Wright Mills nimmt sich in The Sociological Imagination vor, „to pick up in a neat and meaningful way the Paretian distinction of governing and non-governing elites“ 9 , und beruft sich immer wieder auf Mosca und Michels. Seine Studie The Power Elite wäre ohne die Vorarbeiten dieser Autoren nicht denkbar. Hier wird deutlich, dass nicht nur literarische Werke, sondern auch soziologische Theorien und Philosophien vieldeutig sind - und dass sehr viel davon abhängt, was man aus ihnen macht. Viele miteinander verfeindete Ideologien können sich ihrer bemächtigen, um sie zu Instrumenten des politischen Kampfes umzugestalten. Die Aufgabe der Theorie als Diskurs besteht darin, sie im Dialog von vergangener und gegenwärtiger ideologischer Vereinnahmung zu befreien - auch von ihrer eigenen. 10 1. Die Standorte Paretos und Moscas in der Krise des italienischen Liberalismus Es ist kaum möglich, die Theorien Vilfredo Paretos und Gaetano Moscas zu verstehen, ohne die gesellschaftliche und sprachliche Situation Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu kennen. Freilich geht es hier nicht um die Geschichte Italiens nach der Verwirklichung von Machiavellis Traum durch Garibaldi (1807-1882): nach der Vereinigung aller italienischen Länder zu einem modernen Nationalstaat. Es geht vor allem um die Position des Bürgertums und seines wirtschaftlich tonangebenden Flügels: der liberalen Bourgeoisie um 1900. Denn dieser Bourgeoisie fühlten sich sowohl Pareto als auch Mosca zugehörig und verfolgten ihre Entwicklung mit Sorge, Irritation und Kritik. Beide beobachteten die italienischen Ereignisse gleichsam von außen: Pareto, der im Jahre 1848 in Paris zur Welt kam, wo seine Familie im Exil lebte, ließ sich nach verschiedenen Tätigkeiten in Italien (u.a. als Ingenieur) in Lausanne nieder, wo er bis 1907 eine Professur für Nationalökonomie innehatte. Er starb 1923 in Céligny bei Genf. Mosca wurde 1858 im sizilianischen Palermo geboren, also an der Peripherie des italienischen 9 C. W. Mills, The Sociological Imagination, Harmondsworth, Penguin-Pelican, 1980, S. 224. 10 Vgl. N. Bobbio, Saggi sulla scienza politica in Italia, Bari, Laterza, 1971, Kap. IV: „L’ideologia in Pareto e in Marx“ sowie Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. <?page no="270"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 254 Staates, war ursprünglich Jurist, später Soziologe und Politiker, von 1914 bis 1916 Unterstaatssekretär im Kolonialministerium, ab 1919 Senator und von 1923 bis 1933 Professor für Staatswissenschaft in Rom, wo er 1941 starb. Der Blick der beiden Sozialwissenschaftler auf die italienische Gesellschaft wurde aus biografischen Gründen zu einem Blick aus der Außenperspektive. Während der zweisprachige Pareto, der sowohl auf Französisch als auch auf Italienisch schrieb, Gelegenheit hatte, die Entwicklung der italienischen Gesellschaft mit der schweizerischen und der französischen zu vergleichen, betrachtete der Sizilianer Mosca die Ereignisse in Rom mit dem für Randgebiete wie Sizilien, Sardinien oder Friaul charakteristischen distacco: mit kritischer Distanz. In der Beobachtung beider Theoretiker trat bald ein Problem der italienischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund: die Schwäche des italienischen Bürgertums, insbesondere aber die des wirtschaftlich-politischen Liberalismus, den das Regime von Giovanni Giolitti (1842-1928) vertrat. Die soziale Situation wird knapp und klar von Guido Baglioni beschrieben: „Als Giolitti an die Macht kam und die ‚Doktrin‘ von der Neutralität des Staates in den kollektiven Arbeits- und Industriekämpfen vertrat, wurden die Bedingungen für spontane Manifestationen sozialer und politischer Dynamiken günstiger, wie das Anwachsen der Agitationen und Streiks sowie das Erstarken der Gewerkschaftsstrukturen zeigen.“ 11 Pareto und Mosca deuteten diese „Neutralität des Staates“ nicht ganz zu Unrecht als eine der Schwächen des Liberalismus, der das Regime schließlich im Jahre 1922 zum Opfer fallen sollte. Beide Denker erblickten in einer immer besser organisierten und immer selbstbewusster auftretenden Arbeiterklasse eine Bedrohung der bürgerlich-liberalen Ordnung. Im Zusammenhang mit Mosca, den H. Stuart Hughes als einen „Angehörigen der liberalen oberen Mittelklasse“ („member of the liberal upper middle class“) 12 definiert, spricht Baglioni etwas pauschal von einer „Restaurationspolitik“ („politica di restaurazione“) 13 und behauptet von Pareto, er setze sich für eine „archaische Gesellschaftsordnung“ 14 ein. Es wird sich zeigen, dass die Theorien Paretos und Moscas nicht gar so eindeutig sind, zumal Mosca den allergrößten Wert auf ein rechtsstaatliches System von checks and balances legt (vgl. Abschn. 4). 11 G. Baglioni, L’ideologia della borghesia industriale nell’Italia liberale, Turin, Einaudi, 1974, S. 112. 12 H. S. Hughes, „Gaetano Mosca and the Political Lessons of History“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 149. 13 G. Baglioni, L’ideologia della borghesia industriale nell’Italia liberale, op. cit., S. 165. 14 Ibid., S. 164. <?page no="271"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 255 So rechtsstaatlich-liberal ist Pareto keineswegs. Ihm geht es in erster Linie um die Erneuerung der sozialen Elite, die für den Zusammenhalt und die Entfaltung der Gesellschaft verantwortlich ist. Während er vor 1900 noch mit der Demokratie und dem Sozialismus sympathisierte und in der Zeit der Dreyfus-Affäre Partei für den in Frankreich zu Unrecht verurteilten jüdischen Capitaine Dreyfus Partei ergriff, änderte er nach der Jahrhundertwende radikal seinen Standpunkt. Dazu bemerkt S. E. Finer: „Aber um 1900 machte sein Denken eine totale Revolution durch.“ 15 Der Grund war die Schwäche des bürgerlich-liberalen Regimes unter Giolitti, die aus Paretos Sicht die Sozialisten und ihre Gewerkschaften dazu ermutigte, lautstark immer mehr Rechte zu beanspruchen, so dass bürgerliche Privilegien von Konflikt zu Konflikt allmählich durch Privilegien der Arbeiterklasse ersetzt wurden. Dass diese Beobachtung, die auch Moscas Argumentationen steuert, weil sie deren Relevanzkriterien bestimmt, einseitig war, liegt auf der Hand. Sie führte jedoch dazu, dass Pareto begann, eine Reaktion der bürgerlichen Elite herbeizuwünschen und in Mussolinis Faschismus - nicht ganz zu Unrecht - eine solche Reaktion zu erkennen meinte. Er soll hier selbst zu Wort kommen, zumal seine Einstellung zum Faschismus stark von seiner Elitentheorie geprägt ist. In einem Artikel mit dem Titel „Il Fascismo“, der im Januar 1922 erschien, zeichnen sich eher Skepsis und Kritik ab: „Unter dem Aspekt der formalen Logik ist der faschistische Glaube dem sozialistischen sicherlich unterlegen, schon deshalb, weil er sich noch in einem nebulösen Zustand befindet (…).“ 16 Ein Jahr später, in seinem Todesjahr, erscheint ihm die faschistische Bewegung als Keim einer neuen Elite, welche die ungelösten Probleme des europäischen Bürgertums mit Erfolg angehen könnte: „In Italien versucht der Faschismus, eine dieser Lösungen zu finden, indem er die alte herrschende Klasse (classe dirigente), die sich als völlig unfähig erwiesen hat zu regieren, durch eine neue ersetzt.“ 17 Die folgenden beiden Sätze klingen skeptisch: „Die Staatsmacht befand sich in einem Zustand des Zerfalls. Der Faschismus hat versucht, sie zu stärken. Die Zukunft wird uns zeigen, ob so eine neue Ära angefangen hat oder ob man zu den alten Fehlern zurückkehrt (…).“ 18 Die Schlussbetrachtung klingt jedoch zuversichtlich, ja euphorisch: „Man kann nur sagen, dass die Anfänge gut sind und die 15 S. E. Finer, „Introduction“, in: V. Pareto, Sociological Writings, London, Pall Mall Press, 1966, S. 11. 16 V. Pareto, „Il fascismo“, in: ders., Scritti sociologici (Hrsg. G. Busino), Turin, Tipografia Torinese, 1966, S. 1097. 17 V. Pareto, „Il fenomeno del fascismo“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 1185. 18 Ibid. <?page no="272"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 256 Hoffnung auf eine glückliche Zukunft rechtfertigen.“ 19 Allerdings fügt Pareto im vorletzten Satz hinzu, dass es nun gilt, „aus dem Provisorium hinauszutreten und gravierende Verfassungsprobleme zu lösen“. 20 Dass der Faschismus als Diktatur diese Probleme nicht lösen konnte, wäre Pareto spätestens im Jahre 1925 klar geworden, als die Weichen in Richtung Totalitarismus gestellt wurden. 21 Obwohl er - anders als der Jurist Mosca - keine Theorie des Rechtsstaates als eines Gleichgewichts von checks and balances entwickelt hat, hätte er an der totalitären Verfassung wahrscheinlich keinen Gefallen gefunden. Noch wahrscheinlicher ist, dass der ehemalige „Dreyfusard“ Mussolinis Bündnis mit dem antisemitischen Nationalsozialismus in den 30er Jahren abgelehnt hätte. Angesichts dieser Überlegungen erscheint Ettore A. Albertonis Urteil zu einseitig: „Dem Faschismus gegenüber, der sich immer stärker behauptet, nimmt Pareto eine Haltung der offenen Unterstützung an.“ 22 Es wäre ratsam - in dubio pro reo - vorsichtiger zu formulieren: Pareto unterstützt den Faschismus der ersten beiden Jahre (1922/ 23), weil er ihn mit der Entstehung einer neuen, noch unverbrauchten Elite identifiziert; den totalitären Faschismus, der sich nach 1925 entwickelte und sich in den 1930er Jahren auf Gedeih und Verderb mit dem NS-Staat verbündete, hat er nie kennen gelernt. Diese Darstellung mag, was Paretos Person angeht, etwas ausgewogener oder freundlicher sein, sie lässt zugleich aber auch eine Affinität zwischen Paretos Elitentheorie und seinen politischen Sympathien erkennen. Daher ist Luigi Montini Recht zu geben, der die folgende, aus diskurskritischer Sicht plausible These vertritt: „Pareto betrachtete den Faschismus mit Sympathie aufgrund bestimmter nicht oberflächlicher, sondern tief liegender Affinitäten zu seinem soziologischen Entwurf (…).“ 23 Es wird sich zeigen, dass diese Affinitäten in der Erzählstruktur und im Aktantenmodell von Paretos Diskurs angelegt sind, der durch seine zirkuläre Anordnung eine Emanzipation der Gesellschaft durch fortschreitende Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit ausschließt. Letztlich kann man nur Raymond Aron beipflichten, wenn er - angesichts der Vieldeutigkeit theoretischer Texte - vier Lesarten (lectures) von Paretos Diskurs vorschlägt: „die faschistische und darwinistische Lesart, die 19 Ibid., S. 1187. 20 Ibid. 21 Vgl. A. Aquarone, L’organizzazione dello stato totalitario, 2 Bde., Turin, Einaudi, 1978, Bd. I, Kap. I-III. Aquarone zeigt u.a., dass Mussolinis Staat die italienische Gesellschaft nie „total“, restlos beherrschte. 22 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca. Storia di una dottrina politica. Formazione e interpretazione, Mailand, A. Giuffrè Editore, 1978, S. 55. 23 L. Montini, Vilfredo Pareto e il fascismo, Rom, Volpe, 1974, S. 15. <?page no="273"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 257 machiavellistische oder autoritäre Lesart, die machiavellistisch-liberale Lesart und die skeptische oder zynische Lesart.“ 24 Jede dieser Lesarten erscheint plausibel, sofern man bedenkt, dass Paretos Skepsis in der spätmodernen Selbstkritik der Moderne angelegt ist und Machiavellis Realismus einerseits auf Machterhaltung (autoritäre Variante), andererseits aber auch auf das Wohlbefinden und das Freiheitsbedürfnis (liberale Variante) der Bevölkerung ausgerichtet ist. Machiavelli hat keine Apologie der Tyrannei geschrieben. Allerdings erhält die faschistische Lesart dadurch eine besondere Plausibilität, dass sie auf der zirkulären Struktur von Paretos Diskurs gründet, der nur die ewige Wiederkehr von Machtkämpfen, nur Nietzsches „Willen zur Macht“ kennt. 2. Paretos Handlungstheorie und seine „Zirkulation der Eliten“: Ein machiavellistisch-nietzscheanisches Aktantenmodell als Replik auf den Marxismus Paretos Handlungstheorie, die die Grundlage seiner Elitentheorie bildet, entstand in dem hier skizzierten gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext. Dem Ökonomen und Soziologen, der meinte, Marxʼ Mehrwert-Theorie endgültig widerlegt zu haben, erschien der marxistische Sozialismus in Italien und Frankreich als eine Bedrohung des liberal-bürgerlichen Rechtsstaates. Ihn irritierte vor allem der wachsende Einfluss des Marxismus bei der italienischen Jugend. S. E. Finer beschreibt die Entstehung von Paretos Handlungstheorie, die auf dem Gegensatz zwischen rationalem und nichtrationalem, logischem und nichtlogischem Handeln gründet: „Wie war es möglich, dass Behauptungen, die aus seiner Sicht nachweislich falsch waren, von der besten italienischen Jugend - um mit ihm zu sprechen - für ‚das neue Evangelium‘ gehalten wurden? Im Jahre 1897 kam ihm plötzlich der Gedanke, dass die meisten menschlichen Handlungen nicht aus rationalen Prozessen, sondern aus Emotionen hervorgehen. Menschen verspüren ein Bedürfnis und handeln; erst danach erfinden sie Rechtfertigungen. Nun brannte er darauf, eine Soziologie zu entwerfen, die auf diesem neuen Prinzip gründete.“ 25 Auf den ersten Blick ist klar, dass es hier um neue Modalitäten (Greimas) des Handelns geht, die das vernünftige Wissen, Wollen und Können des Marxschen Proletariats ersetzten sollen. Nicht Hegels Weltvernunft herrscht hier, sondern es gilt Nietzsches Satz: „Daß die Welt nicht der Inbegriff der ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch bewei- 24 R. Aron, „‚Lectures de Pareto‘, in: Convegno Internazionale Vilfredo Pareto (Roma, 25- 27 ottobre 1973), Atti dei Convegni Lincei IX, Rom, Accademia Nazionale dei Lincei, 1975, S. 41. 25 S. E. Finer, „Introduction“, in: V. Pareto, Sociological Writings, op. cit., S. 11. <?page no="274"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 258 sen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist.“ 26 Wie sieht nun Paretos Maßstab für rationales, logisches Handeln aus? Als Nachfolger des Wirtschaftswissenschaftlers Léon Walras an der Universität Lausanne (1893) und Verfechter einer mathematischen Wirtschaftswissenschaft, die er vor allem in seinem Cours d’Economie Politique (1896/ 7) zu begründen sucht, legt er als Maßstab ein logisch aufgebautes rationales Handeln an, in dem mit geeigneten Mitteln versucht wird, ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das ihm vorschwebende Modell ist das wirtschaftliche Handeln: Ein Unternehmer, der bestimmte Metallgeräte herstellt, erwirbt die neueste Maschine, die zwar teuer ist, aber so effizient, dass sie ihm gestattet, bei gleichbleibender Qualität schneller und billiger zu produzieren und sich so auf dem Markt Vorteile der Konkurrenz gegenüber zu sichern. In der Wirtschaft ist ein rationales Verhalten dieser Art („die sich lohnende Investition“) die Norm. Sobald man jedoch den wirtschaftlichen Bereich verlässt und die Gesellschaft insgesamt betrachtet, stellt sich heraus, dass sowohl individuelle als auch kollektive Aktanten von dieser Norm abweichen. Einfache Beispiele führt Pareto immer wieder an: Der archaische Stamm, der einen Regentanz veranstaltet, hat zwar ein rationales Ziel vor Augen (eine gute Ernte setzt Regen voraus), wendet aber kein zielführendes Mittel an. 27 Die antiken Seeleute, die Poseidon Opfer bringen, mögen überzeugt sein, dass die Opfer ebenso wichtig sind wie das Rudern, aber ihre Überzeugung ist nichtrational - selbst wenn sie ihnen Mut und mehr Kraft zum Rudern gibt. 28 Auch in der heutigen Zeit meinen Menschen, sich mit Hilfe von Amuletten und Heiligenbildern vor Verkehrsunfällen schützen zu können. In allen diesen Fällen - sowohl in der Wirtschaft als auch in den anderen Bereichen - haben wir es mit Modalitäten des Denkens und Handelns zu tun. Während das technische und wirtschaftliche Wissen den Unternehmer befähigt, durch den Nexus von Wissen und Können (Greimas) die Konkurrenz zu überholen, verleiht der Glaube an übernatürliche Kräfte den anderen Aktanten zwar Zuversicht und Mut, gewährt ihnen jedoch keinen Schutz - und führt auch keinen Regen herbei. Diese Aktanten peilen zwar die richtigen Ziele an (Regen, Schutz), setzen aber die falschen Mittel ein. 26 F. Nietzsche, „Menschliches Allzumenschliches“, in: Werke, Bd. II, op. cit., S. 873. 27 Vgl. aber: P. Winch, The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy, London- New York, Routledge (1958), 2001, S. 95-111. Winch kritisiert Paretos Versuch, die Vernunft der Wissenschaft im rationalistischen Sinne zur Universalvernunft zu erheben. Die Magie, wendet er ein, hat ihre eigene Vernunft: „(…) To try to understand magic by reference to the aims and nature of scientific activity, as Pareto does, will necessarily be to misunderstand it.“ (S. 100) 28 V. Pareto, „Le azioni non logiche“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 400-401. <?page no="275"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 259 Die Komplexität des sozialen Handelns wird gesteigert, wenn der Aktant zwar behauptet, mit bestimmten Mitteln ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, sich selbst aber und / oder andere täuscht: sowohl im Hinblick auf die Mittel als auch im Hinblick auf das Ziel. Auf individueller Ebene wird dies durch folgende Beispiele veranschaulicht: Ein Asket und Moralist lässt keine Gelegenheit aus, sexuelle Ausschweifungen „im Interesse der öffentlichen Moral“ zu verurteilen; in Wirklichkeit handelt er nicht aus reiner Abneigung, sondern um sein Interesse für Sexualität zu befriedigen (Paretos Beispiel). Ein Universitätsdozent behauptet, die Behandlung eines bestimmten wissenschaftlichen Themas sei „wichtig für das Fach und daher im Interesse der Studierenden“; in Wirklichkeit ist dieses Thema sein „Steckenpferd“ und interessiert die Studierenden nicht. Auf kollektiver Ebene werden diese Beispiele durch eine bekannte Situation aus der internationalen Politik ergänzt: Eine Regierung behauptet, die (Rück-)Eroberung eines fremden Staatsgebiets sei „im Interesse des Volkes und der nationalen Ehre“; in Wirklichkeit will sie nur in ihrem ureigensten Interesse von wirtschaftlichen und sozialen Problemen im eigenen Land ablenken, die sie nicht zu lösen vermag. Paretos eigenes Beispiel aus der Politik: „Ein Politiker verkündet die Theorie der Solidarität, und ihn treibt die Sucht nach Geld, Macht und Ehre.“ 29 In allen diesen Fällen wird ein mythischer Aktant als Auftraggeber des eigenen Handelns konstruiert („die Studierenden“, „das Volk“, „die Solidarität“), der die Funktion erfüllt, dieses Handeln zu rechtfertigen. Zugleich wird eine bestimmte Emotion oder ein bestimmtes Interesse durch diese Rechtfertigung (im Interesse der Moral, der Studierenden, im Interesse des Volkes, der Nation, der Solidarität) rationalisiert, d.h. für vernünftig erklärt. Pareto bezeichnet die zugrunde liegende Emotion oder das zugrunde liegende Interesse als Residuum (residuo, résidu), die Rechtfertigung als Derivation (derivazione, dérivation). Zum Asketen bemerkt er: „Alle gesellschaftlichen Erscheinungen sind zusammengesetzt, gemischt, und enthalten mehr als ein Residuum. Beim Asketen haben sie außer dem Residuum der Askese oft das des Hochmuts; denn er fühlt sich den gemeinen Sterblichen überlegen (…).“ 30 Aus solchen Befunden leitet Pareto seine These ab, „daß sich die Menschen in ihrem Handeln in erster Linie durch das Gefühl, die Leidenschaft 29 V. Pareto, Allgemeine Soziologie (Hrsg. C. Brinkmann), München, Finanzbuch-Verlag, 2006, S. 70. (Stark gekürzte deutsche Fassung von: V. Pareto, Trattato di sociologia generale [3 Bde.], Florenz, Barbera, 1916.) 30 Ibid., S. 142. <?page no="276"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 260 und das Eigeninteresse leiten lassen und erst in zweiter Linie durch den Verstand“. 31 Aber was genau sind Residuen und worin bestehen sie? Eine erste negative Definition findet sich in Paretos Aufsatz über die nichtlogischen Handlungen: „Le azioni non logiche“. Er spricht dort von einem „nichtlogischen Kern“, einem „nocciolo non logico“. 32 Eine positive und sehr brauchbare, weil allgemeine Definition findet sich bei Sidney Hook: „eine unveränderliche Prädisposition für bestimmte Handlungen oder Glaubensinhalte“ („invariant predisposition to action or belief“). 33 Ergänzend definiert Maurizio Bach Residuen als „nicht weiter reduzierbare oder zerlegbare, mithin elementare Handlungsskelette“. 34 Diese Definitionen sind auf die hier angeführten Beispiele anwendbar. Sie schließen sowohl Emotionen als auch Interessen ein: sowohl den Glauben an übernatürliche Mächte als auch die Angst der antiken Matrosen vor der hohen See; sowohl das zwanghafte Interesse an Sexualität als auch das Streben nach Macht und Ehre. Alle diese Neigungen oder Impulse mögen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Formen annehmen; sie sind aber in allen Gesellschaften präsent und werden von Pareto als ahistorische, anthropologische Konstanten aufgefasst, deren Permanenz wesentlich zu seiner Auffassung der Geschichte als „ewiger Wiederkehr des Gleichen“ beiträgt. Pareto unterscheidet insgesamt sechs Klassen von Residuen: 1. „Instinkt der Kombinationen“ (Flexibilität als Fähigkeit zu kombinieren: sowohl Ähnliches als auch Gegensätzliches); 2. „Persistenz der Aggregate“ (Standhaftigkeit als Festhalten an tradierten Werten, Beziehungen und Bewusstseinslagen); 3. „Bedürfnis nach Gefühlsausdruck durch äußere Handlungen“ (Pareto unterscheidet zwei Aspekte: „Ausdruck durch Kombinationen“ und „religiöse Exaltation“); 4. „Residuen der Soziabilität“ (Bedürfnis nach gesellschaftlicher Billigung und sozialer Einförmigkeit sowie Solidarität); 5. „Unverletztheit (intégrité) des Einzelnen und der Seinen“ (Sorge um die eigene Integrität und um die seines sozialen Umfeldes); 6. „Sexuelles Residuum“ (Sublimierung sexueller Regungen). 35 Die logisch-semantische Struktur dieser Klassifikation ist nicht einleuchtend, zumal es in einigen Fällen um intellektuelle Fähigkeiten (1), in 31 V. Pareto, „Das Individuelle und das Soziale“, in: ders., Ausgewählte Schriften (Hrsg. C. Mongardini), Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, S. 182. 32 V. Pareto, „Le azioni non logiche“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 432. 33 S. Hook, „Pareto’s Sociological System“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 58. 34 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns. Zur Soziologie Vilfredo Paretos, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 220. 35 V. Pareto, „Eine Anwendungsform soziologischer Theorien“, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 78-81. <?page no="277"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 261 anderen um soziale Einstellungen oder Bedürfnisse (2, 3, 4, 5) und schließlich um Triebe (6) geht. Insofern merkt N. S. Timasheff zu Recht kritisch an: „Paretos Klassifikation der Residuen wird nirgendwo erklärt oder gerechtfertigt.“ 36 Es kommt hinzu, dass in dieser Einteilung das Streben nach Macht, das Paretos gesamte Soziologie und vor allem seine Elitentheorie durchzieht, fehlt. Jedenfalls sollten „Residuen“ im Sinne von Pareto nicht auf „Gefühle“ oder „Instinkte“ reduziert werden, weil sie, wie sich hier zeigt, auch soziale, d.h. kulturell überlieferte Einstellungen oder Neigungen umfassen. Vor dieser Art des Reduktionismus warnt Maurizio Bach: „Residuen sind also auf keinen Fall mit Gefühlen nach geläufigem Verständnis zu verwechseln.“ 37 Warum diese Verwechslung in der Vergangenheit schwer zu vermeiden war, erklärt James Burnham: „Pareto hält sich nicht immer ganz streng an diese Unterscheidungen und benutzt manchmal Ausdrücke wie ‚Gefühl‘ oder „Instinkt“, wo er Residuum setzen müßte.“ 38 Hier wird deutlich, dass auch Pareto dort scheitert, wo Comte und Marx scheitern mussten: in seinem Vorhaben, die Soziologie als strenge Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften zu fundieren. Denn eine strenge Wissenschaft im Sinne der Physik setzt eine eindeutige Terminologie voraus (vgl. weiter unten). Entscheidend ist an dieser Stelle die von Pareto postulierte Beziehung zwischen Residuen und Derivationen, die bereits skizziert wurde. Wie sich gezeigt hat, bringt das von Residuen gesteuerte nichtlogische, nichtrationale Handeln es mit sich, dass die Handelnden bewusst oder halbbewusst Erklärungen oder Rechtfertigungen für dieses Handeln erfinden, die im Gegensatz zu den Erklärungen des Wirtschaftsunternehmers (s.o.) auf keine rationale Grundlage zurückgeführt werden können. Eine kompakte und brauchbare Definition der Derivationen bietet Carlo Mongardini, wenn er von „Erklärungen“ spricht, „die die Handlung zur logischen machen wollen“. 39 Wenn eine Regierung oder eine Militärjunta ihren Feldzug gegen den Nachbarstaat durch das „Argument“ rechtfertigt, sie müsse „ein verlorenes oder symbolträchtiges Gebiet in die Heimat zurückholen und handle daher im Auftrag der Nation“, so orientiert sie sich zwar - der Form nach - an der Erklärung des Unternehmers, er könne mit der neuen Maschine billiger und schneller produzieren, in Wirklichkeit verdeckt sie aber durch diese Derivation ihr eigentliches Interesse: ihre Macht noch möglichst lange zu erhalten. Die Nation wird hier von den Macht- 36 N. S. Timasheff, „The Social System, Structure, and Dynamics“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 66. 37 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 220. 38 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 191. 39 C. Mongardini, „Paretos Soziologie um die Jahrhundertwende“, in: V. Pareto, Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 45. <?page no="278"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 262 habern als mythischer Aktant (Auftraggeber) konstruiert, der ihnen einen legitimierenden Heilsauftrag (Greimas) gibt: den „Feldzug“, der von inneren Problemen des Landes ablenken soll. Pareto unterscheidet vier Klassen von Derivationen. In mindestens zwei von diesen Klassen spielen mythische Aktanten eine wesentliche Rolle: 1. „Behauptung“ (Verknüpfung von erfahrbaren oder imaginären Tatsachen mit Gefühlen); 2. „Autorität“ (Autorität eines Menschen, einer Tradition, eines göttlichen Wesens); 3. „Übereinstimmung mit Gefühlen oder Grundsätzen“ (Berufung auf „Gemeininteressen“, „rechtliche, metaphysische, übernatürliche Wesenheiten“); 4. „Beweise mit Worten“ (Pseudoargumentationen). Auf den ersten Blick fällt auf, dass sich (2) und (3) überschneiden, weil die Anrufung eines „göttlichen Wesens“ oder einer „metaphysischen oder übernatürlichen Wesenheit“ auf das Gleiche hinauslaufen. Schon wegen dieser semantischen Redundanz ist auch Paretos zweite Klassifikation nicht klar durchdacht. Aus semiotischer Sicht erscheinen „göttliche“, „metaphysische“ und „übernatürliche Wesenheiten“ allesamt als mythische Aktanten, die in den Diskursen, die Pareto als Derivationen bezeichnet, die Funktion von Auftraggebern erfüllen: „Gott verlangt von euch, dass ihr zu den Fahnen eilt, wenn das Vaterland ruft.“ „Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass unser Medikament oder Waschpulver das beste ist.“ Mythischer Objekt-Aktant: „Wir mussten so handeln, um unsere Ehre zu retten.“ Tradition als Auftraggeberin: „Das haben wir immer so gemacht.“ Es nimmt nicht wunder, dass Paretos Theorie der Derivationen immer wieder zu Freuds Begriff der Rationalisierung 40 und Marxʼ Ideologiebegriff in Beziehung gesetzt wurde. Freuds Psychoanalyse kannte Pareto wahrscheinlich nicht 41 ; Marxʼ Werk kannte er gut und nahm sich vor, mit der Derivation einen Gegenentwurf zur Ideologiekritik zu wagen, mit dem er auch die Marxsche Theorie als Derivation erfassen konnte. In einem Brief an seinen Freund Maffeo Pantaleoni heißt es u.a.: „Die Theorien, die Anschauungen der Menschen sind die äußere Hülle der Gefühle, die allein die wirksamen Triebkräfte des menschlichen Handelns sind.“ 42 40 Rationalisierung im Sinne von Freud definieren Laplanche und Pontalis: „Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben.“ (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp [1972], 1973, S. 418.) Die Verwandtschaft mit Paretos „Derivation“ ist frappierend. 41 Vgl. M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 217. 42 V. Pareto, Brief an Maffeo Pantaleoni vom 24. September 1909, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 263. <?page no="279"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 263 Zu diesen Theorien gehört nach Pareto auch der Marxismus: „Der Marxismus bietet uns eine Unzahl solcher Derivationen (…), die alle sozialen Erscheinungen durch den ‚Kapitalismus‘ erklären.“ 43 Mit einem Seitenblick auf den Marxismus verallgemeinert Pareto seinen gesellschaftskritischen Ansatz, wenn er über Theorien als Derivationen schreibt: „Sie plädieren mehr, als daß sie unparteiisch richten. Gefällt ihnen A, so muß gezeigt werden, daß alle Wirkungen von A nur ‚günstig‘ sein können; mißfällt ihnen A, ist zu zeigen, daß die Wirkungen ‚ungünstig‘ sind; ohne daß übrigens diese Ausdrücke günstig, ungünstig, wenigstens durch Angabe des Nutzens oder Schadens näher bestimmt würden.“ 44 Anscheinend schrieb Pareto diese Zeilen, ohne zu bedenken, dass sie nicht nur auf den Marxismus, sondern auch auf seine eigene Gesellschaftstheorie anwendbar sind. Ersetzt man in diesem Text A durch „Proletariat“, dann ist die erste Hälfte auf den Marxismus anwendbar, der die Handlungen des „Proletariats“ (je revolutionärer, desto besser) für „günstig“ hält; die zweite Hälfte kann aber auf Paretos eigenen Ansatz angewendet werden, in dem das Erstarken des „Proletariats“ und des Sozialismus als „ungünstig“ erscheint. Denn Pareto hat, wie sich gezeigt hat, kein Verständnis für das Emanzipationsstreben der Arbeiterklasse, sondern kann dieses nur einseitig als eine Bedrohung der liberal-kapitalistischen Ordnung betrachten, die (möglicherweise) nur Mussolini retten kann. Hier wird deutlich, dass Paretos Soziologie nichts mit einer „positiven“ Wissenschaft im Sinne von Comte oder mit einer „werturteilsfreien“ Wissenschaft im Sinne von Max Weber zu tun hat. Pareto ist zwar sehr bemüht, diese Soziologie im Anschluss an seine Wirtschaftswissenschaft und analog zu den Naturwissenschaften als positive und exakte Wissenschaft zu präsentieren, aber vor allem seine Theorie der Derivationen lässt die ideologische Einseitigkeit seiner Beobachtung und seiner Erzählung erkennen. Man meint Comte zu hören, wenn man in Paretos Artikel „L’economia e la sociologia dal punto di vista scientifico“ („Wirtschaft und Soziologie aus wissenschaftlicher Sicht“) liest: „Man muss die auf Gedankenassoziationen gründenden und aus Gefühlen hervorgehenden Argumente durch wissenschaftliche, auf Tatsachen basierende Argumente ersetzen.“ 45 Paretos Klassifikationen und Definitionen der Residuen und Derivationen haben indes gezeigt, dass sie zumindest teilweise auf fragwürdigen Konstruktionen gründen, die alles andere als reine Tatsachen bezeichnen: Die Existenz von „Residuen“ ist ebenso umstritten wie die des „Unbewussten“ Freuds. Sie ist 43 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 226. 44 Ibid., S. 240. 45 V. Pareto, „L’economia e la sociologia dal punto di vista scientifico“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 395. <?page no="280"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 264 nicht mit der Existenz von „Proteinen“ oder „Laugen“, mit der von „Neutronen“ oder „Elektronen“ zu vergleichen. 46 Daher ist Maurizio Bach Recht zu geben, wenn er Paretos Soziologie zwischen Positivismus und Hermeneutik bzw. Wissenssoziologie ansiedelt und feststellt, Pareto habe die hermeneutisch-wissenssoziologischen Komponenten seiner Theorie gar nicht wahrgenommen und sei so einem positivistisch-szientistischen Selbstmissverständnis zum Opfer gefallen: „Damit vollzieht Pareto einen definitiven Bruch mit seinem erklärten Methodenverständnis: der methodologische Positivismus verwandelt sich gleichsam unter der Hand in eine originär hermeneutische Methodik.“ 47 Bach fügt hinzu: „Er begann schon das noch gänzlich jungfräuliche Terrain der Wissenssoziologie zu pflügen, als sein methodisches Credo noch einem weitgehend verdinglichten sozialen Tatsachenbegriff verpflichtet war.“ 48 Das Problem besteht darin, dass sich dieses positivistische Credo wie ein Schleier über die Ideologie des Autors legt und zugleich den Zugang zu seiner Theorie erschwert, weil es deren ideologische Beweggründe verdeckt. Diese Beweggründe, die zum Teil schon genannt wurden, muss man kennen, um die Elitentheorie Paretos zu verstehen. Während sich Marx von der proletarischen Revolution auch die Emanzipation der Intellektuellen und der Juden versprach, erhoffte sich Pareto von der Erneuerung und Kräftigung der bürgerlichen Elite in Italien eine Eindämmung oder gar Zurückdrängung dieser Revolution, von der er sich als liberaler Bourgeois bedroht fühlte. Von seinem Aktantenmodell, in dem die „Bourgeoisie“ als Subjekt- Aktant ihren Gegnern, den Antisubjekten „Proletariat“ und „Sozialismus“, gegenüber gestärkt werden soll, zeugen die folgenden Sätze aus einem Artikel über soziologische Theorien: „Für viele Bürger nimmt die Arbeit der Sozialisten subjektiv die Form einer Arbeit an, die darauf gerichtet ist, den 46 Vgl. G. Eisermann, Max Weber und Pareto. Dialog und Konfrontation, Tübingen, Mohr- Siebeck, 1989, S. 55, wo es im Zusammenhang mit Pareto und Weber heißt: „Soziologie ist demnach jeder die Tatsachen bloß wertend interpretierenden und nach irgendwelchen Werturteilsmaßstäben messenden Sozialphilosophie unversöhnlich entgegengesetzt (…).“ Hier sollte gezeigt werden, wie sehr Paretos Theorie noch der „Sozialphilosophie“ verhaftet bleibt. Vgl. auch: G. Eisermann, Vilfredo Pareto. Ein Klassiker der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1987, S. 69: „So begann sich Pareto bereits 1895 zu der Haltung durchzuringen, ‚wir wollen lediglich Tatsachen auseinandersetzen und aus ihnen Schlußfolgerungen ziehen‘ (…).“ „Tatsachen“ kommen jedoch stets als Konstruktionen in einer ideologisch-theoretischen Erzählung zustande, die selbst eine Konstruktion ist und keine Widerspiegelung der Wirklichkeit. Daher ist auch Paretos „metodologia della storia“ („historische Methodologie“), von der Giovanni Busino spricht, alles andere als eine „Methodologie“ im naturwissenschaftlichen Sinn. (G. Busino, „Introduzione“, in: V. Pareto, Scritti sociologici, op. cit., S. 76.) 47 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 206. 48 Ibid., S. 225. <?page no="281"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 265 ‚sozialen Frieden‘, das ‚soziale Wohl‘, die ‚soziale Gerechtigkeit‘ und andere ähnliche ‚soziale‘ Dinge zu sichern. (…) Wenn diese Bürger wüßten, wo ihr Handeln hinführt, wären sie Helden und Märtyrer, aber da sie ihren eigenen Untergang betreiben, ohne es zu wissen, sind sie einfach töricht.“ 49 Von einer „positiven“ oder „wertfreien“ (Weber) Argumentation kann hier nicht die Rede sein: eher von einem ideologischen Prolog zur Elitentheorie. In dieser Theorie geht es auf ideologischer Ebene um die Stärkung der (scheinbar) versagenden bürgerlichen Elite; auf theoretischer Ebene um den Kerngedanken, dass der Klassenkampf in Wirklichkeit ein Kampf der Eliten ist, in dem es um die ständige Erneuerung der herrschenden Elite geht, die dadurch zustande kommt, dass eine vitale, aufstrebende Elite die an der Macht befindliche, zerfallende („dekadente“) Elite verdrängt. 50 In diesem Kontext ist die Tatsache wichtig, dass Pareto die herrschende (bürgerliche) Elite als Subjekt-Aktanten zu seinem Fokalisator macht: d.h. er beschreibt alle Entwicklungen von ihrer Warte aus. Dadurch dreht er die Marxsche Erzählperspektive um und gibt ihr eine reaktionäre Wende. Die Elite definiert Pareto als die Gruppe der Besten in einem bestimmten sozialen Bereich: „Bilden wir also eine Klasse aus den Menschen mit der höchsten Meßzahl in ihrem Tätigkeitszweige und geben dieser Klasse den Namen Elite.“ 51 Er unterscheidet eine regierende (politische) Elite von einer nichtregierenden, die in deren Umfeld agiert und sie mit Personal versorgt. 52 Dies bedeutet, dass die Elite nicht mit der Klasse identisch ist: Sie ist - als regierende und nichtregierende Elite - eine relativ kleine Gruppierung innerhalb der Klasse: des Bürgertums oder der Arbeiterklasse. Für die Struktur der Elitentheorie ist wieder das narrative Element entscheidend: Marxʼ Klassenkampferzählung wird dergestalt umgedeutet oder „umerzählt“, dass in Paretos Aktantenmodell die Bourgeoisie als Subjekt nicht dem Proletariat als Bevölkerungsmehrheit gegenübersteht, sondern dem Proletariat als neuer Elite und als Antisubjekt, als neuer „Aristokratie“. Der Sozialismus kündigt nicht die Auflösung aller Klassen in der „klassenlosen Gesellschaft“ an, sondern ermöglicht den Aufstieg einer neuen Elite, die aus der Arbeiterklasse hervorgeht: „Der Sozialismus erleichtert die Organisation der Eliten, die aus den unteren Klassen aufsteigen (…).“ 53 49 V. Pareto, „Eine Anwendungsform soziologischer Theorien“, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 120-121. 50 Vgl. V. Pareto, Les Systèmes socialistes. Bd. I: Cours professé à l’Université de Lausanne, Paris, Giard et Brière, 1902, S. 36. 51 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 247. 52 Vgl. ibid., S. 248. 53 V. Pareto, Les Systèmes socialistes, Bd. I, op. cit. S. 63. <?page no="282"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 266 Paretos neue Erzählung wird durch neue Relevanzkriterien und Klassifikationen ermöglicht. Anders als Marx, der den Gegensatz Bürgertum / Proletariat für relevant hält und zu zeigen versucht, wie Teile der bürgerlichen Mittelschicht allmählich verarmen und ins Proletariat absteigen, wodurch die proletarischen Massen weiter anschwellen und verelenden, relativiert Pareto diesen Gegensatz, indem er eine proletarische Elite von der restlichen Arbeiterschaft als Klasse absondert: „Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter sind den nichtorganisierten und nichtsozialistischen tatsächlich überlegen; sie stellen eine Elite dar.“ 54 Im Anschluss an diese Feststellung beschreibt Pareto die Arbeitskämpfe und sozialen Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft. Symmetrisch dazu hebt er die Heterogenität der bürgerlichen Elite hervor, deren abtrünnige Intellektuelle Partei für das Proletariat und gegen ihre eigene Klasse ergreifen - wodurch sie zu Helfern des Proletariats werden. Diese (soziologisch durchaus fruchtbare) neue Klassifizierung hat weitreichende Folgen für Paretos theoretische Erzählung: Der proletarischen Elite geht es nicht mehr um die Vernichtung des bürgerlichen Kapitals, sondern um wirtschaftliche und soziale Konzessionen und - mittelfristig - um die Aufnahme in die herrschende Elite oder um die Bildung einer neuen Elite. Die Bildung dieser neuen Elite wird durch die abtrünnigen sozialistischen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft begünstigt. Nichts - außer seiner Ideologie - hätte Pareto daran gehindert, im Rahmen seiner Elitentheorie für den Aufstieg der neuen, vitaleren Arbeiterelite zu plädieren, die seinen eigenen Ausführungen zufolge für die historische Dynamik der „Zirkulation“ sorgte. Auf dieser Ebene folgte er jedoch dem ideologischen Impuls, ergriff Partei für sein liberales Bürgertum - und nahm lieber eine theoretische Ungereimtheit in Kauf. Denn seine Theorie besagt, dass eine vitalere, aufstrebende Elite die herrschende, aber schon verbrauchte Elite von der Macht verdrängt - ja verdrängen soll. Warum sollte diese Rolle nicht der neuen Arbeiterelite zufallen? Damit ist die Zirkulation der Eliten in großen Zügen beschrieben. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, welche Rolle Paretos „Residuen“ und „Derivationen“ in dieser Kreisbewegung spielen. In seinen Darstellungen der „Zirkulation“ beruft sich Pareto fast ausschließlich auf die ersten beiden Kategorien der „Residuen“: „Instinkt der Kombinationen“ (Klasse I) und „Persistenz der Aggregate“ (II). Aus seiner Sicht sind beide Kategorien für den Machterhalt einer Elite wesentlich, und es hängt von der gesellschaftlichen Situation ab, welche dieser Fähigkeiten gebraucht werden und zum Tragen kommen. 54 Ibid., Bd. II, S. 423. <?page no="283"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 267 Pareto beschreibt eine Situation, in der die herrschende Elite ihre Macht eher durch den Kombinationsinstinkt als durch die „Persistenz der Aggregate“ erhalten kann: „Auf diese Weise festigen sich die Residuen des Kombinationsinstinkts (Klasse I) in der regierenden Schicht und schwächen sich die der Persistenz der Aggregate (Klasse II). Denn erstere taugen eben dazu, die Kunst des Zweckmäßigen zu üben, einfallsreiche Kombinationen zum Ersatz offenen Widerstandes zu entdecken, während die Residuen der Klasse II gerade zu diesem offenen Widerstande treiben und ein starkes Gefühl für die Persistenz der Aggregate die Biegsamkeit vermindert.“ 55 Pareto entwickelt hier eine Theorie der Modalitäten (Greimas), mit denen Eliten als kollektive Aktanten ausgestattet sein können: Während die Modalität der Kombination Flexibilität und Geschick beinhaltet, bietet die Modalität der Persistenz eine Gewähr für Kontinuität, Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit. Eine herrschende Elite überlebt am ehesten, wenn sie aufgrund ihrer Zusammensetzung zum rechten Zeitpunkt die richtige, d.h. von der sozialen und politischen Situation erforderte Modalität aktivieren kann. Zugleich muss sie die den beiden Residuen entsprechenden Derivationen einsetzen, die ihre Vorgehensweisen rechtfertigen: Geht sie „kombinierend“ vor, setzt sie Derivationen wie „Solidarität“, „Humanität“, „soziale Gerechtigkeit“ ein; geht sie „konsequent-persistent“ vor, beruft sie sich auf „Traditionen“, „Ideale“ oder „Recht und Ordnung“. Als Machiavelli-Leser assoziiert Pareto die Kombinationsfähigkeit mit der Schläue des Fuchses, die Persistenz mit dem Mut des Löwen. Die einschlägige Passage bei Machiavelli lautet: „Da also ein Fürst imstande sein muß, die Natur eines Tieres anzunehmen, so muß er sich den Fuchs und den Löwen aussuchen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen, der Fuchs gegen Wölfe. Man muß also Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und Löwe, um die Wölfe zu schrecken.“ 56 Im Anschluss daran, heißt es in Paretos Darstellung der Situation, in der eher Kombinationsinstinkte vonnöten sind: „Um Gewalt zu verhindern oder ihr zu widerstehen, nimmt die regierende Klasse ihre Zuflucht zu List, Betrug und Bestechung, wird mit einem Wort aus einem Löwen zu einem Fuchs.“ 57 Allerdings machte Pareto nie ein Hehl daraus, dass er es gern sähe, wenn die Nachfolger des schlau taktierenden Giolitti sich wieder mehr vom Löweninstinkt leiten ließen, den er bei der regierenden italienischen Elite vermisste und bei den immer selbstbewusster auftretenden Sozialisten (später den Faschisten) bewunderte. 58 Dies mag einer der Gründe sein, 55 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 270. 56 N. Machiavelli, Der Fürst, Stuttgart, Reclam, 1961, S. 104. 57 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 269. 58 Etwas einseitig beschreibt Richard Münch den Übergang von der „Persistenz der Aggregate“ zum „Residuum der Kombination“: „Mit der Ersetzung des Residuums der <?page no="284"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 268 warum er Mussolini mit Sympathie beobachtete. (Es fragt sich, wie er auf Mussolinis strategisch desaströse Feldzüge gegen Albanien, Griechenland und Äthiopien [Abessinien] reagiert hätte: Dem wild gewordenen Löwen fehlte jeglicher „Kombinationssinn“ - vor allem der geopolitische.) Machiavellis und Paretos Vergleiche der Herrschenden mit Tieren auf der Ebene der Modalitäten haben nicht nur anekdotischen, sondern auch symptomatischen Charakter im Sinne von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung: Um inmitten von Naturbeherrschung, Unterdrückung und politischer Taktik zu überleben, passt sich der Mensch blinder Naturwüchsigkeit an und verfällt dem Teufelskreis der Zirkulation. Er muss, wie Machiavelli sagt, „die Natur eines Tieres annehmen“. 59 Gerade diese irrationale Anpassung an die Naturgewalten will die Kritische Theorie vermeiden, indem sie menschliche Vernunft durch Mimesis - oder Dialogizität - aus der Naturwüchsigkeit hinausführt. Marx schwebte zwar eine andere, praxisorientierte Rationalität vor; aber auch er setzte sich für eine Vernunft ein, die das Herrschaftsprinzip auflöst und eine andere, menschlichere Art von Gesellschaft ermöglicht. Im Gegensatz dazu halten Pareto und Mosca an einer rationalistischen, rein instrumentellen Vernunft im Sinne der Dialektik der Aufklärung fest und kehren mit ihrer zyklischen Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung, deren kollektive Protagonisten die erstarkenden oder zerfallenden Eliten sind, zu der trostlosen Diagnose Machiavellis und Hobbes’ zurück: es könne nie anders werden, weil die menschliche Natur nun einmal so beschaffen sei. Ihre Ideologie ist nicht so sehr in ihren einzelnen Aussagen zu suchen, sondern in der Struktur ihrer Diskurse. Persistenz durch das Residuum der Kombination beginnen der Glaube an die Ideale und die Verpflichtung auf gemeinsame Ziele sowie auf die Gruppe dahinzuschwinden.“ (R. Münch, „Die italienische Tradition des Machiavellismus. Vilfredo Pareto“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 253.) Diese implizite Aufwertung der „Persistenz“ der „Kombination“ gegenüber entspricht nicht Paretos Vorstellungen. Er sah es so ähnlich wie Aristoteles, in dessen Philosophie jede gute Eigenschaft von einem negativen Extrem begleitet wird: etwa Sparsamkeit von Geiz, Freigiebigkeit von Verschwendungssucht usw. Die „Kombination“, die von Flexibilität zeugt, kann auch in Charakterschwäche und Orientierungslosigkeit (Opportunismus) ausarten; die „Persistenz“, die von Charakterstärke und Standfestigkeit zeugt, kann durchaus in Sturheit und Unbeweglichkeit abgleiten. 59 Vgl. F. Gilbert, Machiavelli e Guicciardini. Pensiero politico e storiografia a Firenze nel Cinquecento, Turin, Einaudi, 1970, S. 136: „Aber Machiavelli wusste, dass politisches Handeln, das nur auf der Vernunft gründete, seine Grenzen hatte.“ Hier fehlt der Gedanke, dass Machiavellis Vernunftbegriff begrenzt war: Er bezeichnete ausschließlich die instrumentelle, auf das Hic et Nunc gerichtete Vernunft. Ähnliches ließe sich von Pareto sagen. <?page no="285"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 269 3. Mosca als Vorläufer und Überwinder von Paretos Soziologie: „Politische Formel“, „juristischer Schutz“, „Gleichgewicht der Kräfte“ Wie bereits angedeutet, wurde hier Paretos Soziologie vor der Moscas kommentiert, weil Pareto eine umfassende, systematische Handlungstheorie entwickelt, die er mit seiner Elitentheorie verknüpft. Es sollte gezeigt werden, dass seine soziologische Theorie nicht nur als Replik auf den Marxismus, sondern auch als Soziologie des sozialen Handelns und der Herrschaftsformen wichtig ist. Zugleich wurde angedeutet, dass Pareto seine Elitentheorie auf der Grundlage von Moscas Theorie der „herrschenden Klasse“ entwickelt hat. Dazu bemerkt Mosca selbst, dass Pareto zu seiner Auffassung der Elite „im Anschluss an seine Kenntnis meiner politischen Klasse, d.h. der Begrifflichkeit, die ich nicht nur vorgetragen, sondern auch ausführlich in meinem Buch Elementi di Scienza Politica und sogar in früheren Arbeiten entwickelt habe“ 60 , gelangt ist. Liest man Ettore A. Albertonis Entstehungsgeschichte von Moscas Hauptwerk - Elementi di scienza politica (1895, dt. Die herrschende Klasse, 1950) - und berücksichtigt zugleich die Reihenfolge der Publikationen 61 , so kommt man zu dem Schluss, dass Moscas Ausführungen glaubwürdig sind. Im Zusammenhang mit diesem Werk erscheint Paretos Soziologie der Eliten in einem neuen Licht und wird im Kontext ihrer Zeit besser verstanden. Die Kernthese von Moscas Buch Die herrschende Klasse lautet: „In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird.“ 62 Diese These ist den hier kommentierten vier Autoren - Pareto, Mosca, C. Wright Mills und Robert Michels - gemeinsam. Sie erinnert zwar an die Klassentheorie von Marx, unterscheidet sich jedoch radikal von ihr dadurch, dass die hier genannten Theoretiker der Elite implizit und explizit behaupten, die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit könne niemals abgeschafft werden. Allerdings unterscheidet sich Moscas Elitentheorie in mancher Hinsicht von der Paretos: 1. Ausführlicher als Pareto geht Mosca auf die organisatorischen Aspekte der Elitenbildung ein (vor allem auf dieser Ebene beeinflusst er Michels). 2. Er zeigt, dass jede Elitenherrschaft (d.h. die Herrschaft einer „politischen Klasse“) auf einer diese Herrschaft legitimierenden 60 G. Mosca zit. nach: E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 49. 61 Paretos Werk Les Systèmes socialistes (2 Bde.) erschien 1902 in Paris, und sein soziologisches Hauptwerk Trattato di sociologia generale (3 Bde.), von dem hier die deutsche Teilübersetzung (Allgemeine Soziologie) verwendet wird, erschien 1916 in Mailand - beide einschlägigen Werke also eindeutig nach Moscas Elementi (1895). 62 G. Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, Bern, Francke, 1950, S. 53. <?page no="286"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 270 Formel (formula politica) gründet: z.B. „Gottesgnadentum“ oder „Volkssouveränität“. 3. Anders als Pareto legt der liberale Mosca den allergrößten Wert auf Rechtsstaatlichkeit und auf das, was er als juristischen Schutz (difesa giuridica) bezeichnet. 4. In diesem Kontext betont er auch die Notwendigkeit eines Mächtepluralismus (pluralità di forze) im Sinnes eines juristisch-politischen Systems von checks and balances. Insgesamt kann behauptet werden, dass er nicht nur ein Vorläufer Paretos ist, sondern auch über Pareto hinausgeht, weil er versucht, die Elitenherrschaft rechtsstaatlich zu begründen. Bei allen diesen Punkten ist jedoch zu berücksichtigen, dass Moscas Liberalismus keine demokratisch-parlamentarische Gesinnung einschließt: Mosca stand sowohl der Demokratie als auch dem Mehrparteiensystem skeptisch gegenüber. Zu Recht stellt Albertoni lapidar fest: „(…) Mosca ist ein nichtdemokratischer und konservativer Liberaler.“ 63 Dies ist wohl der Hauptgrund, warum er - wie Pareto - die Elite zum Fokalisator seiner theoretischen Erzählung macht: Auch er betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht der Herrschenden. Moscas Überlegungen zu den organisatorischen Aspekten von Herrschaft und Verwaltung sind quantitativ-qualitativer Art. Das Kernargument, mit dem er eine der Schwachstellen der Marxschen Lehre trifft, lautet, dass nur eine relativ kleine, straff organisierte Minderheit aufgrund ihrer Homogenität in der Lage ist, Macht auszuüben und eine Gesellschaft effizient zu verwalten. Die unorganisierte Bevölkerungsmehrheit ist außerstande, diese Aufgabe zu bewältigen. Schon im zweiten Kapitel seines Buches Die herrschende Klasse schneidet Mosca dieses organisatorische Problem an: „Andererseits ist die Minderheit einfach darum organisiert, weil sie die Minderheit ist. Hundert Menschen, die gemeinsam nach gemeinsamen Plänen handeln, werden tausend Menschen besiegen, die nicht übereinstimmen und mit denen man darum nacheinander einzeln fertig werden kann.“ 64 Immer wieder beruft sich Mosca in seinen Analysen des Minderheit- Mehrheit-Verhältnisses auf Saint-Simon und Comte, die er als seine Vorläufer betrachtet. Im fünften Kapitel hat sich gezeigt, wie sehr Saint-Simon die Führungsrolle der Industriellen betont, die seiner Meinung nach die Modernisierung der Gesellschaft vorantreiben sollten. Zu Saint-Simon bemerkt Mosca: „Schließlich hat Saint-Simon vor mehr als hundert Jahren die Hauptlinien unserer Theorie deutlich genug dargelegt.“ 65 Allerdings vergisst er hinzuzufügen, dass vor allem dem späteren Saint-Simon ein Bündnis zwischen den Industriellen und den Arbeitern vorschwebt (weshalb er 63 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 285. 64 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 55. 65 Ibid., S. 271. <?page no="287"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 271 in Marxʼ Das Kapital teils lobend, teils kritisch erwähnt wird). 66 Von diesem Bündnis will der konservative Mosca freilich nichts wissen. Entsprechend einseitig ist sein Comte-Verständnis: „Auguste Comte war ein geistiger Sohn von Saint-Simon. In seinem Système de politique positive ou de sociologie entwickelte er in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewisse Ideen seines Meisters weiter. Er behauptete, daß die Leitung der Gesellschaft in die Hände einer wissenschaftlichen Aristokratie übergehen müsse, die er ‚wissenschaftliche Priesterschaft‘ nannte.“ 67 In dieser Darstellung wird die Tatsache übergangen, dass bei Comte der Gruppe der Wissenschaftler eine ausschließlich beratende Funktion zufällt und dass die die neue (positive) Gesellschaft führenden Industriellen auch von den Proletariern und den Frauen (als Helfern) unterstützt werden sollen (vgl. Kap. V). Hier wird deutlich, wie sehr das ideologische (hier: konservative) Engagement eines Autors (vgl. Kap. I. 1) seine Relevanzkriterien, Selektionen und Unterschlagungen mitbestimmt. Denn eines der (ideologischen) Ziele seines Diskurses ist es, den Nachweis zu erbringen, „daß auch ein demokratisches Regime nicht die Führung durch eine organisierte Minderheit entbehren kann“ 68 und dass folglich „die Notwendigkeit einer herrschenden Klasse“ 69 auf der Hand liegt. Es zählt sicherlich zu Moscas Verdiensten, auf die Legitimationsprobleme herrschender Eliten hingewiesen zu haben. Herrschaft, meint er, sei labil geschichtet, wenn sie von der Mehrheit eines Volkes nicht als legitim erfahren wird. Seine Frage lautet, wie in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Situation die Herrschaft einer Elite als Minderheit legitimiert werden kann. Seine Antwort mündet in die historische Analyse einer Legitimationsproblematik, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft wandelt. Von diesem Wandel unberührt bleibt die Tatsache, dass es sich in allen Fällen um eine politische Formel handelt, die Herrschaft als legitime Herrschaft begründet. Mosca unterscheidet zwei Typen (Max Weber würde sagen: „Idealtypen“: vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII) von „Formeln“: Die erste hat einen traditionalistischen und idealistischen Charakter, weil sie die Machtbefugnisse eines Souveräns (Königs, Fürsten) von der göttlichen Allmacht ableitet; die andere ist weltlicher Art und gründet - scheinbar rational - auf dem „Willen des Volkes“ (das in der „Formel“ freilich zu einem mythischen Aktanten wird). 66 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Bd. III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1971, S. 572-573. 67 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 271-272. 68 Ibid., S. 272. 69 Ibid., S. 273. <?page no="288"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 272 Mosca zeigt, wie lange sich die Formel „Gottesgnadentum“ in Frankreich bewährte: „In Wirklichkeit leistete das Gottesgnadentum, das nach Saint- Simon seit einem Jahrhundert tot und begraben war, noch nach dem Tode Saint-Simons im Jahre 1830, unter Karl X. und unter Polignac, in Frankreich Widerstand.“ 70 Dem wäre hinzuzufügen, dass dem „Gottesgnadentum“ im Spanien des 20. Jahrhunderts ein noch viel längeres Leben beschieden war. Während des Franco-Regimes war auf allen Peseta-Münzen zu lesen: „Francisco Franco Caudillo de España por la Gracia de Dios“. Erst nach Franco hat sich die säkularisierte Formel der „Volkssouveränität“ durchgesetzt. Vom Legitimationsproblem ist das Problem der Rechtssicherheit ableitbar. Denn letztere ist nur dann gegeben, wenn im Rahmen einer bestimmten, allgemein anerkannten Legitimität Gesetze den Einzelnen und die Gruppe vor Willkür und Übergriffen schützen. Bei Burnham findet sich eine sehr brauchbare Definition des juristischen Schutzes (difesa giuridica) im Sinne von Mosca: „Der Begriff ‚juristischer Schutz‘ bedeutet also gesetzmäßige Regierung und rechtmäßiges Verfahren (…), er bedeutet eine Anzahl unpersönlicher Beschränkungen für die Machthaber und entsprechend eine Anzahl schützender Maßnahmen für die Einzelnen gegen Staat und Machthaber.“ 71 Albertoni konkretisiert die Begriffsbestimmung (durchaus im Sinne von Mosca), wenn er die Geltung des „juristischen Schutzes“ auf alle beteiligten Akteure ausdehnt: auch auf „Einzelpersonen und soziale Gruppen“ 72 - denn auch die Regierung braucht Rechtssicherheit, um planen und handeln zu können. Den „juristischen Schutz“ ergänzt bei Mosca das Gleichgewicht der sozialen und politischen Kräfte. Auf dieser Ebene lautet Moscas liberales Argument: Nur in einem Rechtsstaat, in dem verschiedene politische Kräfte einander die Waage halten, kann es individuelle und kollektive Freiheit (der Meinungsäußerung, des Handelns) geben. „Darum“, schließt Mosca, „sollte es immer eine Vielheit politischer Kräfte und eine Mehrzahl von Wegen zu Macht und Einfluß geben, und alle politischen Kräfte sollten an der Staatsleitung beteiligt sein.“ 73 Auf nahezu prophetische Art warnt er vor der Monopolisierung der Macht in Kollektivismus und Kommunismus. Seine Auseinandersetzungen mit Mussolini, die Albertoni in allen Einzelheiten schildert 74 , zeugen von seinem Engagement für das parlamentarische System, dessen Untergang er verhindern wollte. Insofern kann er auf keinen 70 Ibid., S. 275. 71 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 128. 72 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 385. 73 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 241. 74 Vgl. E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 195-196. <?page no="289"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 273 Fall als Ideologe des Totalitarismus (eines stato totalitario im Sinne des Faschismus) betrachtet werden: eher als Theoretiker der Rechtsstaatlichkeit. Seine Auffassung des Elitenkreislaufs erinnert zwar an die Paretos, gründet aber auf der Anwesenheit einer Vielfalt politischer Kräfte. Um ihre Energien zu erneuern und ihre Macht zu erhalten, ist die herrschende Elite gut beraten, sich den Unterschichten zu öffnen, statt sich abzuschotten, denn: „Eine herrschende Klasse verfällt desto leichter in solche Irrtümer, je mehr sie sich gegen aufsteigende Elemente aus der Unterklasse faktisch, wenn auch nicht immer gesetzlich, abschließt.“ 75 Mosca mag kein überzeugter Demokrat gewesen sein, aber er wusste, dass soziale Mobilität im Sinne einer Öffnung der Elite nach „unten“ hin für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich ist. Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang Michael Hartmann in seiner Elitesoziologie von der „wechselseitigen Durchdringung eines Teils der Unterschicht mit der Oberschicht“. 76 Moscas und Paretos Elitentheorien überschneiden sich in wesentlichen Punkten, vor allem, was die Dynamik der Eliten und ihre Erneuerung durch vertikale Mobilität angeht. Mosca geht als Jurist insofern über Pareto hinaus, als er viel stärker die Legitimationsprobleme und den juristischen Kontext der Machtausübung berücksichtigt. Denn der Zerfall einer Elite kann auch damit zusammenhängen, dass die politische Formel (z.B. das „Gottesgnadentum“ im Frankreich des 19. Jahrhunderts) ausgedient hat, oder damit, dass der juristische Schutz nicht mehr gegeben ist (wie in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Somit besteht Moscas Verdienst darin, nicht nur einen ersten Entwurf der Elitentheorie vorgelegt, sondern diese Theorie auch juristisch untermauert zu haben. 4. C. Wright Mills ʼ Antwort auf Mosca und Pareto: Eine Nuancierung der Elitentheorie Der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1916-1962) kannte sowohl Paretos als auch Moscas Elitentheorien, und sein Buch The Power Elite (1956, dt. Die amerikanische Elite, 1962) kann in mancher Hinsicht als eine Replik auf die beiden italienischen Soziologen gelesen werden. Es ist insofern eine gesellschaftskritische Replik, eine Replik von „links“, als Mills, der als „führender Vertreter einer kritischen Soziologie in Amerika“ 77 gilt, weder glaubt, dass Elitenherrschaft historisches Schicksal ist, noch (wie Pareto) zur Feder greift, um eine aufkommende Elite zu ermutigen oder zu stärken. Im Gegenteil, er warnt in den Fünfzigerjahren vor der Entstehung 75 G. Mosca, Die Herrschende Klasse, op. cit., S. 105. 76 M. Hartmann, Elitesoziologie. Eine Einführung, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 24. 77 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 571. <?page no="290"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 274 einer mehrschichtigen Machtelite (power elite), die in den USA sowohl das Gleichgewicht der Kräfte als auch die Demokratie gefährden könnte. Auch hier wird deutlich, dass ein Begriff wie „Elite“ verschiedene Bedeutungen annehmen kann und dass diese Bedeutungen von den ideologisch-theoretischen Diskursen abhängen, die sich seiner bemächtigen. Mills verwendet den Begriff zwar durchaus im Sinne von Mosca und Pareto 78 , setzt ihn aber in einer anderen Erzählung der Gesellschaft ein: in einer Erzählung, in der der negativ konnotierte Aktant „Elite“ dem positiv konnotierten Aktanten „Demokratie“ gegenübersteht und in der es um die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft (als Objekt-Aktant) geht. Die diskursive (aktantielle) Umfunktionierung des Elitebegriffs hindert Mills jedoch nicht daran, wesentliche Komponenten dieses Begriffs von Mosca zu übernehmen. In The Sociological Imagination bestätigt er die von Mosca diagnostizierte Tatsache, dass die Bildung einer organisierten Minderheit oder Elite, die über eine unorganisierte Mehrheit herrscht, nicht zu vermeiden ist. Zur Bedeutung des Wortes „organisiert“ bemerkt Mills: „I think Mosca means: capable of more or less continuous and coordinated policies and actions. If so, his thesis is right by definition.“ 79 Im Anschluss an diese Überlegungen und Paretos Elitentheorie unterscheidet Mills eine „regierende“ von einer „nichtregierenden“ Elite und versucht, in The Power Elite zu zeigen, wie es in der Nachkriegsgesellschaft der USA zur Entstehung einer „Machtelite“ kam. Der Kontext, in dem er diese Entstehung schildert, ist in einer Hinsicht mit dem sozialen Kontext vergleichbar, den Pareto und Mosca beschreiben: In beiden Fällen beobachten die Soziologen den Niedergang des freiberuflichen, liberalen Bürgertums und die seit 1900 sich beschleunigende Macht der international agierenden Großkonzerne, denen in Italien erstarkende Gewerkschaften entgegentreten, die allerdings mit den relativ schwachen und vom Staat gegängelten Gewerkschaften der USA kaum zu vergleichen sind. Zu den wichtigsten Beobachtungen Millsʼ gehört die nach dem Zweiten Weltkrieg und in der ersten Phase des „Kalten Krieges“ rasant zunehmende Macht der Großkonzerne und des Militärs. Im Anschluss an diese Beobachtung lautet seine These: Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es in den USA zur Bildung einer Machtelite, in der die Vertreter einer von Wirtschaftsballungen geprägten Konzernwirtschaft, die durch den „Kalten Krieg“ gestärkten Militärs und einflussreiche Politiker das Sagen haben. 78 Vgl. T. B. Bottomore, Elites and Society, Harmondsworth, Penguin-Pelican (1964), 1966, S. 33. 79 C. W. Mills, The Sociological Imagination, Harmondsworth, Penguin (1959), 1980, S. 224. <?page no="291"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 275 Hier ist Millsʼ eigene Definition im Original: „By the power elite, we refer to those political, economic, and military circles which as an intricate set of overlapping cliques share decisions having at least national consequences. Insofar as national events are decided, the power elite are those who decide them.“ 80 („Wir wollen deshalb […] die Macht-Elite ganz grob als diejenigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen umschreiben, die als kompliziertes Gebilde einander überschneidender Kreise an allen Entscheidungen von zumindest nationaler, wenn nicht internationaler Tragweite teilhaben. Wenn Entscheidungen von solcher Tragweite gefällt werden, ist also jedesmal die Macht-Elite im Spiel.“) 81 Mills geht in dreierlei Hinsicht über Pareto und Mosca hinaus: 1. Er zeigt auf soziologischer Ebene und mit Hilfe soziologischer Terminologie, wie diese Elite konkret entsteht, 2. wie sie zusammengesetzt ist und 3. welche Position sie im gesamtgesellschaftlichen Umfeld einnimmt. Wie entsteht die power elite? Zunächst durch enge Kontakte, durch „face-to-face milieux“ der Angehörigen der Oberschicht, sagt Mills 82 , deren wirtschaftliche, finanzielle und soziale Stellung es ihnen ermöglicht, die besten Schulen und Universitäten der USA zu besuchen. Dadurch kommt es zu einer gemeinsamen Sozialisation auch in Klubs und anderen Einrichtungen: „Diese Familien gehören Klubs und Vereinigungen an, zu denen nur sie und ihresgleichen Zutritt haben, und nehmen das gesellschaftliche Leben sehr Ernst.“ 83 Mills stützt seine Untersuchungen u.a. auch auf das amerikanische Social Register, in dem die wichtigsten und einflussreichsten Familien der USA eingetragen sind. Er kommt zu dem Schluss, dass in diesem Nachschlagewerk vor allem CEOs (Chief Executive Officers) großer Konzerne, hohe Militärs und erst an dritter Stelle Großstadtpolitiker prominente Positionen einnehmen. Mills spricht von einem „Eindringen der Großindustriellen in die politische Führung“ 84 : von einer Entwicklung also, die mittelfristig die Berufspolitiker im Kongress auf die mittlere Machtebene abgleiten lässt. In der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wirklichkeit interagieren die drei Gruppen der power elite regelmäßig und bilden aufgrund von Sozialisation und Interaktion eine homogene Gruppe, die als organisierte Einheit im Sinne von Mosca die eigentliche Macht in der Gesellschaft ausübt. 80 C. W. Mills, The Power Elite, Oxford, Univ. Press (1956), 2000 (Neuausgabe), S. 18. 81 C. W. Mills, Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg, Holstein-Verlag, 1962, S. 33. 82 C. W. Mills, The Power Elite, op. cit., S. 15. (Die amerikanische Elite, op. cit., S. 30. Hier fehlt der Ausdruck „face-to-face“.) 83 C. W. Mills, Die amerikanische Elite, op. cit., S. 76. 84 Ibid., S. 306. <?page no="292"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 276 Ihr gegenüber steht eine relativ heterogene und schwach organisierte Mittelklasse, die zwar auch aktiv am politischen Leben teilnimmt, es aber wegen ihrer Heterogenität nicht mit der power elite aufnehmen kann: „Die Spitze des amerikanischen Machtsystems ist viel geeinter und mächtiger, die unterste Ebene weit zersplitterter und in Wahrheit auch machtloser (…).“ 85 Die wichtigste Folge ist, dass die offizielle demokratische Politik, die sich in den Provinzparlamenten, im Washingtoner Kongress und im Senat abspielt, immer mehr zu einer Fassade verkommt, hinter der die eigentlichen Machtspiele stattfinden und die national und international bedeutenden Entscheidungen fallen. Einer der Gründe, warum Millsʼ The Power Elite in den 50er und 60er Jahren so einflussreich war, ist wohl in seiner - in den USA umstrittenen - Behauptung zu suchen, dass die reichen und einflussreichen Gruppierungen Amerikas die Gesetze ihres Landes nach Bedarf manipulieren, um ihre Macht zu erhalten und nach Möglichkeit auszudehnen: „Die Multimillionäre haben sich bestehender Gesetze bedient, haben andere Gesetze umgangen oder verletzt, andere Gesetze wiederum eigens für ihre Zwecke verabschieden lassen.” 86 Dies bedeutet nicht nur, dass die exekutive Gewalt der legislativen und der judikativen gegenüber nachhaltig gestärkt wird, sondern auch, dass das demokratische System zumindest tendenziell außer Kraft gesetzt wird, weil eine mächtige Gruppierung sich über die Tätigkeiten aller gesetzgebenden Versammlungen und die gesamte Rechtsprechung hinwegsetzen kann. Millsʼ Befund fasst Michael Hartmann als Erzählsequenz in zwei Sätzen zusammen: „Insgesamt, so Millsʼ Resümee, weise die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft eine klare Dreiteilung auf. An ihrer Spitze sei eine ‚echte Macht-Elite‘ entstanden, die mittlere Ebene bestehe ‚aus einem System hilflos treibender, sich gegenseitig aufhebender Kräfte‘, das die untere nicht mehr mit der höchsten Ebene verbinden könne, und die untere Ebene sei politisch zersplittert und versinke in ‚absoluter Machtlosigkeit‘.“ 87 Dieses Szenario ist das genaue Gegenteil von dem, was sich Mosca unter „Machtpluralismus“ oder „pluralità di forze“ 88 vorstellte: ein Gesellschaftssystem, in dem verschiedene Institutionen (exekutive, legislative, judikative Gewalt), Gruppierungen und Bewegungen einander die Waage halten und einander daran hindern, ein Machtmonopol aufzubauen. Die von Mills beschriebene und zugleich kritisierte power elite stellt ein solches Machtmonopol dar. 85 Ibid., S. 45. 86 Ibid., S. 122. 87 M. Hartmann, Elitesoziologie, op. cit., S. 83-84. 88 G. Mosca, in: E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 375. <?page no="293"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 277 Millsʼ Analyse enthält ein besonders zeitgemäßes Element: die Auswirkungen der Medien (damals vor allem Zeitungen) auf die Massengesellschaft. Im Anschluss an David Riesmans Buch The Lonely Crowd (1950) beschreibt Mills den Niedergang der liberalen Mittelschicht und ihres Individualismus sowie die damit einhergehende Isolierung und Schwächung des Einzelnen, der beginnt, sich an den anderen und der medial vermittelten Mode zu orientieren, statt autonom zu handeln. Die power elite macht sich diese Situation in ihrem Streben nach Machterhaltung und Machtausdehnung immer mehr zunutze. Zu der Entstehung einer medialen Massengesellschaft bemerkt Mills: „(…) In einer Massengesellschaft gibt es erstens viel weniger Personen, die einer Meinung Ausdruck geben, als Personen, die eine fertige Meinung beziehen. Das Gemeinwesen von Öffentlichkeiten wird zu einer abstrakten Summe von Einzelpersonen, die ihre Eindrücke nur von Massenkommunikationsmitteln empfangen (…).“ 89 Der folgende Satz ist hochaktuell: „Ganze Berufsgruppen sind in das Geschäft der ‚Meinungsmache‘ eingestiegen und manipulieren die Öffentlichkeit gegen Bezahlung nach dem Willen ihrer Geldgeber.“ 90 Die power elite versteht es, sich diese Berufe und Industrien gefügig zu machen, so dass die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Es mag deutlich geworden sein, dass Mills Paretos und Moscas Erzählperspektive umkehrt, indem er nicht die Elite, sondern die Demokratie zu seinem Fokalisator macht. Er betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung nicht aus der Sicht der (entstehenden, erstarkenden) Elite, sondern aus der Sicht einer im Zeitalter der Großkonzerne gefährdeten Demokratie. Hier wird deutlich, wie sehr das ideologisch-theoretische Engagement mit dem Standort des Erzählers-Beobachters und mit der Struktur der theoretischen Erzählung zusammenhängt. Zum Abschluss stellt sich die Frage, wie aktuell Millsʼ Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch sind. In seinem Nachwort zu Millsʼ Buch (2000) wendet Alan Wolfe zu Recht ein, dass Mills Hypothesen, denen zufolge die Macht des Militärs stetig wachsen würde, während die beiden großen Parteien - Demokraten und Republikaner - einander ideologisch immer ähnlicher würden, von den Ereignissen widerlegt wurden. Das Ende des „Kalten Krieges“, das Mills nicht voraussehen konnte, brachte eine Kürzung der Rüstungsausgaben und eine Schwächung der militärischen Lobby mit sich; zugleich kam es jedoch zu einer ideologischen Polarisierung der politischen Parteien - wie die letzten Präsidentschaftswahlen zeigen. 89 C. W. Mills, Die amerikanische Elite, op. cit., S. 342. 90 Ibid., S. 343. <?page no="294"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 278 In einem wesentlichen Punkt gibt Wolfe Mills jedoch Recht: „There can be little doubt that those who hold the highest positions in America’s corporate hierarchy remain, as they did in Mills’s day, the most powerful Americans.” 91 Dieses Fazit bestätigt die Vermutung, dass Eliten als power elites in der heutigen Zeit eher wirtschaftlich als politisch oder gar kulturell geprägt sind. 5. Michels und das „eherne Gesetz der Oligarchie“ Robert Michels wurde 1876 in Köln geboren und starb 1936 in Rom. Er war an verschiedenen Universitäten in Belgien, Frankreich, der Schweiz, den USA und schließlich in Italien tätig, wo er sich als Wahlitaliener (italienischer Staatsbürger seit 1913) niederließ. 1927 wurde ihm als Mitglied der faschistischen Partei ein Lehrstuhl an der Universität Perugia angeboten. Die ideologische Entwicklung des deutsch-italienischen Soziologen fasst Werner Conze im Zusammenhang mit dessen bekanntestem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens (1911, 1925) in aller Knappheit zusammen: „So steht die Parteisoziologie von 1911 und 1925 mitten auf dem Wege vom Wunsch nach der idealen, sozialistisch verstandenen Demokratie bis zur Absage an eben diese Demokratie mit Konsequenzen, die unmittelbar zum Faschismus führen oder diesen mindestens in der geschichtlichen Relativität der Verfassungslösungen als sinnvoll erscheinen lassen.“ 92 Anders ausgedrückt, Michels gehört zu jenen abtrünnigen bürgerlichen Intellektuellen, deren Werdegang Pareto und Mosca häufig beschreiben: Sie wenden sich von ihrer Herkunftsklasse, dem geschwächten Bürgertum, ab, um sich als Arbeiterführer für den Aufstieg einer neuen (sozialistischen) Elite einzusetzen. Michels machte jedoch die Erfahrung, dass die neue Elite um nichts demokratischer war als die alte, weil ihre Organisationen noch stärker als die der alten Elite zur Erstarrung in Oligarchien neigten. Er kehrte deshalb zu der faschistisch neuorganisierten italienischen Bourgeoisie zurück. Die soziologischen Prämissen und Prinzipien, von denen er ausgeht, stimmen weitgehend mit denen Paretos und Moscas überein: 1. In jeder Gesellschaft herrschen organisierte Minderheiten über nichtorganisierte Mehrheiten. 2. Organisation ist ohne effiziente Aufgabenteilung oder Differenzierung aufgrund von Bildung und Ausbildung nicht möglich. 3. Durch diese Differenzierung, die auch Machtdelegierung und Machtmissbrauch mit sich bringt, kommt es zur Bildung von Cliquen und Oligarchien, d.h. zu einer schwer zu beseitigenden Herrschaft der Gewählten (der politischen 91 A. Wolfe, „Afterword“, in: C. W. Mills, The Power Elite, op. cit., S. 370. 92 W. Conze, „Nachwort“, in: R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart, Kröner, 1925, S. 384. <?page no="295"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 279 Vertreter) über die Wählerschaft. 4. Dies bedeutet, dass das demokratische Ideal einer Selbstverwaltung der Mehrheit nicht erreichbar ist - es bleibt eine Illusion. In Wirklichkeit wechseln politische Eliten einander ab oder verschmelzen miteinander. Michels spricht auch von einer „Amalgamierung beider Elemente“. 93 Als ehemaliges Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei und der deutschen SPD, d.h. als Kenner sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen, erforscht Michels in seinem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens fast ausschließlich sozialistische Organisationsformen, um nachzuweisen, dass gerade die Sozialisten, die über die bürgerliche Demokratie hinausgehen wollten, um die volle - auch wirtschaftliche - Demokratie zu verwirklichen, an der oligarchischen Hürde scheitern. Freilich ist der Eifer, mit dem er die Oligarchiebildung in sozialistischen Organisationen untersucht, auch auf die Enttäuschungen des früheren Idealisten zurückzuführen, der sich viel, ja zu viel vom neu entstehenden Sozialismus versprach. Aus der Fragestellung, die am Ende des ersten Kapitels von Michelsʼ Buch formuliert wird, spricht dieser Eifer des enttäuschten Idealismus: „Da nun eben die sozialrevolutionären und demokratischen Parteien theoretisch gerade ihren wesentlichsten Lebenszweck in der Bekämpfung der Oligarchie in allen ihren Formen erblicken, so entsteht die Frage, wie es zu erklären sei, daß sie die gleichen, von ih[nen] befehdeten Tendenzen in sich selbst entwickeln.“ 94 Die erste Antwort auf diese Frage überschneidet sich weitgehend mit den Befunden Paretos und Moscas und bezieht sich auf den ersten Punkt der weiter oben eingefügten Zusammenfassung: Die Gesellschaft kann sich mehrheitlich nicht selbst verwalten und ist daher auf eine spezialisierte und intern differenzierte Minderheit angewiesen: „Die Menschheit kann der ‚politischen Klasse‘ nicht entraten. Diese kann aber nur einen Bruchteil der Gesellschaft ausmachen.“ 95 Die interne Differenzierung als Aufgabenteilung lässt eine Bürokratie entstehen, in deren Zusammensetzung Sozialisation, Bildung und Ausbildung eine entscheidende Rolle spielen. Michels unterstreicht die Distanz, die gerade in den sozialistischen Parteien die Führer von den Geführten, die Parteifunktionäre von den einfachen Parteimitgliedern trennt: „Auch der faktisch bestehende Bildungs- und Kompetenzunterschied innerhalb der Mitglieder der Partei macht sich bei der Aufgabenverteilung in ihr geltend. Die Führer pochen auf die Urteilslosigkeit der Menge (…).“ 96 Diese Distanz zwischen den Funktionären und der „Menge“ kann in sozialis- 93 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, op. cit., S. 194. 94 Ibid., S. 13. 95 Ibid., S. 20. 96 Ibid., S. 144. <?page no="296"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 280 tischen Parteien noch größer sein als in konservativen oder liberalen Parteien, weil in diesen Parteien das Bildungsniveau der Geführten meistens höher ist. Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb in sozialistischen Parteien und ihren Gewerkschaften die Bildung von Oligarchien prononcierter ist als in vergleichbaren bürgerlichen Organisationen, zumal die sozialistischen Intellektuellen häufig bürgerlicher Herkunft sind und dadurch - auch trotz ehrlicher Bemühungen um intensiven Kontakt - von der Partei- oder Gewerkschaftsbasis isoliert werden. Schließlich verliert diese Basis die Kontrolle über ihre Führer, wobei die Bildung der Führer und die Differenzierung der Aufgaben innerhalb der Elite (Punkt 2) eine entscheidende Rolle spielen: „Die Führer, die zuerst spontan entstehen und ihre Tätigkeit umsonst und nebenamtlich ausüben, werden berufsmäßig. Auf diesen ersten Schritt folgt dann der zweite, denn die Schaffung eines berufsmäßigen Führertums ist nur das Präludium zur Entstehung eines stabilen und inamoviblen Führertums.“ 97 Eine führende Clique, die nicht absetzbar ist, entzieht sich mit der Zeit jeglicher Kontrolle durch die geführte Mehrheit, und es entsteht eine unabsetzbare und unkontrollierte Oligarchie mit stark ausgeprägten bürokratischen Zügen. Dass Angehörige dieser Oligarchie ihre Macht mit der Zeit immer häufiger missbrauchen (Punkt 3), indem sie ihre Gehälter nach Belieben erhöhen und Partei- oder Gewerkschaftsgelder für private oder halbprivate Zwecke „abzweigen“, liegt auf der Hand. Über die amerikanischen Arbeiterführer schreibt Michels, ihre beruflich erworbenen Gewohnheiten seien „plutokratisch gefärbt“ 98 , und er fügt hinzu: „Das Gros der dortigen Gewerkschaftsführer wird sozialistischerseits beschrieben als stupid and cupid.“ 99 Es gibt auch im europäischen Gewerkschaftsbereich Beispiele für solches Verhalten. Dies kann allerdings nicht dahingehend gedeutet werden, dass die europäischen Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien nichts für die Sozialisierung, die Ausbildung und die Bildung der Arbeiter getan hätten. Es gibt zahlreiche Beispiele, die vom Gegenteil zeugen. 100 Jedoch hat die sozialistische Bewegung durch ihre anhaltenden Bemühungen um die Anhebung des Lebensstandards und die Bildung der Arbeiter paradoxerweise dazu beigetragen, dass 97 Ibid., S. 370. 98 Ibid., S. 297. 99 Ibid. 100 Vgl. dazu die Untersuchungen von P.-H. Kucher, „Zur Vorgeschichte des austromarxistischen Schul- und Bildungsprogramms: Bildungs- und Schulfrage in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung von 1848 bis 1909“, in: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (Hrsg. P. Heintel u.a.), Wien, Bundesverlag, 1983, S. 155-159. <?page no="297"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 281 diese schneller und nachhaltiger in das bürgerlich-kapitalistische System, das es zu überwinden galt, integriert werden konnten. Der vierte Punkt, der das demokratisch-sozialistische Ideal betrifft, wird auch von Burnham gestreift: „Die Theorie der Demokratie ist zu dem Versuch gezwungen, sich der Notwendigkeit des Führertums anzupassen.“ 101 Wenn dieses Führertum aber Oligarchiebildung, Machtmissbrauch und illegitime Selbstbereicherung beinhaltet, dann ist es dem demokratisch-sozialistischen Prinzip diametral entgegengesetzt. Es kann zudem nur als Auswuchs anhaltender Naturbeherrschung im Sinne der Kritischen Theorie gedeutet werden. Es klingt daher etwas zynisch, wenn Michels über das Verhältnis seiner Oligarchie-Theorie zum Historischen Materialismus schreibt: „Die Formel von der Notwendigkeit der Ablösung einer herrschenden Schicht durch eine andere und das von ihr abgeleitete Gesetz der Oligarchie als der vorbestimmten Form menschlichen Zusammenlebens in größeren Verbänden wirft die materialistische Geschichtsauffassung keineswegs über den Haufen, ersetzt sie nicht, sondern ergänzt sie nur.“ 102 Ja und nein: Ja, sie wirft die „materialistische Geschichtsauffassung“ sehr wohl „über den Haufen“, weil das Gesetz der Oligarchie zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann, das den Weg, auf dem das Proletariat zur Befreiung der Menschheit voranschreiten soll, versperrt. Denn wenn es zutrifft, dass „menschliches Zusammenleben in größeren Verbänden“ unweigerlich Oligarchien hervorbringt, dann sind Verzerrungen, wie sie alle bisherigen sozialistischen Experimente gezeitigt haben, nicht zu vermeiden. Nein, sie wirft sie nicht über den Haufen, solange jenseits des realen Sozialismus neue Formen der Demokratisierung ins Auge gefasst werden können (Bürgerinitiativen, Bewegungen, Arbeiterselbstverwaltung), die oligarchischen Tendenzen auf allen Ebenen entgegenwirken. (Vor allem im siebzehnten Kapitel, das Alain Touraines Handlungssoziologie zum Gegenstand hat, sollen diese Formen der Demokratisierung näher betrachtet werden.) In diesem Kapitel ging es primär darum, in mehreren Repliken auf Marx, die Kritische Theorie und den Feminismus die Hindernisse aufzuzeigen, die das Streben nach Demokratisierung, Gleichberechtigung und Emanzipation scheitern lassen können. Es galt, in Übereinstimmung mit Adorno „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“. Den Willen, sich nicht preiszugeben und am eigenen Standpunkt festzuhalten, kann man oft genug beobachten; vielen fällt es aber schwer, „gegen sich selbst zu denken“ und den Gegner zu Wort kommen zu lassen, der den eigenen, narzis- 101 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 156. 102 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, op. cit., S. 366. <?page no="298"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 282 stisch besetzten Diskurs in Frage stellt und dadurch möglicherweise narzisstische Kränkungen verursacht - ohne es zu beabsichtigen. Zusammenfassung und Ausblick: Paretos Soziologie kann als eine von Machiavelli und Nietzsche inspirierte Antwort auf den Marxismus und die Kritische Theorie gelesen werden: Anders als der moderne Marx und die auf Emanzipation hoffenden kritischen Gesellschaftstheorien geht sie im Bereich der Relevanzkriterien von einer ahistorischen Unterscheidung zwischen Residuen und Derivationen aus. Sie gründet auf der Annahme, dass bestimmte sozialpsychische Faktoren (Residuen) als anthropologische Konstanten menschliches Verhalten durch alle historischen Epochen hindurch bestimmen und von sich ändernden „Derivationen“ als „Rationalisierungen“ im Freudschen Sinne gerechtfertigt werden. Aus dieser Relevanzbestimmung geht eine von Machiavellis Realismus und Nietzsches Geschichtsphilosophie beeinflusste Auffassung der sozialen Entwicklung als „ewiger Widerkehr des Gleichen“ (Nietzsche) oder als zirkulärer Bewegung hervor, in der eine aufstrebende, vitale Elite eine verbrauchte, schwächelnde Elite von der Macht verdrängt. Innerhalb dieser zirkulären Dynamik muss jedes gesellschaftskritische Streben nach Emanzipation im Sinne des Marxismus, der Kritischen Theorie und des Feminismus als illusorisch erscheinen. Im Gegensatz zu Marx, der das revolutionäre „Proletariat“ zu seinem Subjekt-Aktanten und Fokalisator macht, betrachtet Pareto das soziale Geschehen aus der Sicht der herrschenden Elite, die zum Subjekt-Aktanten, Fokalisator und Motor seiner Erzählung wird. Im Anschluss an Pareto zeigen Mosca, dem Paretos Theorie wesentliche Impulse verdankt, C. Wright Mills und Robert Michels, wie Demokratisierungsprozesse durch Eliten- und Oligarchienbildung gebremst oder gar zunichte gemacht werden können. Dies ist der Grund, warum gesellschaftskritische Theorien, die sich für Emanzipation einsetzen, dialogisch auf die Soziologien Paretos, Moscas, Millsʼ und Michels bezogen werden sollten: Sie sollten die gegenläufigen Tendenzen, die ihre Bestrebungen scheitern lassen könnten, mitberücksichtigen. Paretos Skepsis den modernen Emanzipationsdiskursen gegenüber ist, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, für die gesamte Spätmoderne (Durkheims, Simmels, M. Webers) als Selbstkritik der Moderne charakteristisch. <?page no="299"?> 283 IX. Differenzierung und Individuum, Kollektivbewusstsein, Solidarität und Anomie: Emile Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencers Individualismus Inhaltsverzeichnis 1. Spencers organischer Evolutionismus: Liberalismus, Sozialdarwinismus, System 2. Spencers Erzählung als Aktantenmodell: Differenzierung und Individualisierung 3. Durkheim als Erbe Montesquieus und Rousseaus: Seine Kritik an Spencers Individualismus und an Comte 4. Kollektivbewusstsein und „soziale Tatsache“ („fait social“): Durkheim, Paul Fauconnet und Marcel Mauss 5. Soziale Differenzierung als Arbeitsteilung: Mechanische und organische Solidarität 6. Soziale Pathologien: Egoismus, Anomie, Selbstmord 7. Durkheims Aktantenmodell zwischen Kant und Hegel: Im Auftrag der Gesellschaft 8. Die Kritiken des Marxismus und der Kritischen Theorie: Durkheims Replik Der hier postulierte Übergang von der Moderne zur Spätmoderne (als Selbstkritik der Moderne) bringt es mit sich, dass dieses Kapitel auch einen Bruch im soziologischen Denken zum Gegenstand hat. Denn auf Herbert Spencers (1820-1903) moderne Vorstellung von einer sozialen Evolution, an deren Ende eine befriedete Industriegesellschaft freier Individuen steht, reagiert Emile Durkheim (1858-1917) mit einer spätmodernen Soziologie der Krise, in der soziale Pathologien wie Egoismus, Anomie und Selbstmord im Mittelpunkt stehen. Im Gegensatz zu Spencer glaubt Durkheim nicht mehr, dass die Entwicklung der Gesellschaft trotz aller Rückschläge gleichsam von selbst auf das doppelte Telos von Befriedung und Befreiung zustrebt. Vielmehr fragt er nach konkreten Möglichkeiten, den wirtschaftlich bedingten Egoismus der Individuen einzudämmen und die soziale Solidarität als gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt zu steigern. Ein weiterer Unterschied zwischen Spencer und Durkheim macht sich auf ideologischer Ebene bemerkbar: Während Spencer einen liberalen Individualismus vertritt und die Funktion des Staates auf ein Minimum beschränken möchte, steht Durkheim einem demokratischen (nichtmarxistischen) Sozialismus nahe, der die Bedeutung des sozialen Faktors, des Kollektivs und des staatlich-institutionellen Rahmens für die individuelle <?page no="300"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 284 Entwicklung betont. Anders als Spencer, der in der von Hobbes und Locke begründeten individualistischen Tradition steht, die das moderne britische Denken prägt, verarbeitet Durkheim in seiner Soziologie die Krisen der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: des Second Empire Napoleons III und der Dritten Republik, die aus Napoleons Niederlage im preußisch-französischen Krieg (1870/ 71) hervorging. Die Zerschlagung der Pariser Kommune (1871), in der sich Möglichkeiten und Grenzen einer Rätedemokratie abzeichneten, gehört sicherlich zu den schwersten Krisen, die der junge Durkheim erlebt hat. Der Umstand, dass Spencer im Rahmen der hier vorgeschlagenen Gliederung eher der Moderne im Sinne von Marx und Comte zuzurechnen ist, während Durkheim als spätmoderner Kritiker der Moderne erscheint, lässt die Frage aufkommen, warum er nicht unmittelbar im Anschluss an Comte (1798-1857), dessen Werk er kannte und kommentierte, besprochen wurde. Die Antwort geht aus dem dialogischen Ansatz hervor, der dieses Buch strukturiert: Stärker als die Comte-Rezeption Spencers dessen Denken prägt, prägt die Kritik an Spencer Durkheims gesamten Ansatz, vor allem seine bahnbrechende Studie über die Arbeitsteilung: De la division du travail social (1893, dt. Über soziale Arbeitsteilung, 1992). Mit etwas verdeutlichender Übertreibung ließe sich sagen, dass Durkheims gesamte auf das Kollektivbewusstsein ausgerichtete Soziologie als kritisch-polemische Antwort auf Spencers ideologischen und methodologischen Individualismus zu verstehen ist. Hier gilt uneingeschränkt, was Michail Bachtin über den Dialog der Sprachen und die Wechselbeziehung zwischen Eigenem und Fremdem schreibt: „Wir spüren, daß es ein Gespräch ist, obwohl nur einer spricht, und zwar ein sehr angespanntes Gespräch, denn jedes vorhandene Wort antwortet und reagiert mit allen seinen Fibern auf den unsichtbaren Gesprächspartner, weist über sich selbst hinaus auf das unausgesprochene fremde Wort.“ 1 Der soziologische Text ist keine Monade, sondern ein Intertext: ein Aufeinandertreffen von Texten, auf das der Soziologe mit Zustimmung, Kritik oder Ablehnung reagiert (oftmals auf alle drei Arten). Auch dort, wo Durkheim Spencer nicht erwähnt oder zitiert, reagiert er unterschwellig auf das „unausgesprochene fremde Wort“ seines Kontrahenten. In diesem Kontext ist die Tatsache zu erklären, dass Durkheim vieles von Spencer übernimmt, in wesentlichen Punkten jedoch vom britischen Philosophen und Soziologen abweicht. Es wird sich zeigen, dass an diesen Punkten, an denen sich Kritik und Polemik entzünden, die eigentliche Soziologie Durkheims entsteht. Indem sie über das Individuelle im Sinne von 1 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 220. <?page no="301"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 285 Spencer hinausgeht, lässt sie die soziale Tatsache (fait social) ins Blickfeld rücken und wird dadurch zur Soziologie schlechthin. Comte mag die Bezeichnung Soziologie (sociologie) geprägt haben; Durkheim hat die Soziologie als Wissenschaft vom spezifisch Sozialen begründet. Daher ist es müßig, nach seiner gegenwärtigen „Popularität“ 2 zu fragen: Unabhängig von allen marktbedingten Meinungen und Modeerscheinungen ist er als Denker des Überindividuellen, des Sozialen der spätmoderne Soziologe par excellence. Trotz aller Differenzen und Gegensätze verbinden wesentliche Gedanken Durkheim mit dem 38 Jahre älteren Spencer, der nicht nur das britischamerikanische, sondern auch das kontinentaleuropäische Denken beeinflusst hat. Die Werke beider Soziologen könnten als groß angelegte Antworten auf die Klassen- und Elitentheorien von Marx und Pareto (Mosca, Mills) aufgefasst werden. Abermals stellen sich die Fragen, die am Anfang dieses Buches stehen: Wer beobachtet Gesellschaft? Wer erzählt Gesellschaft? Ausgehend von anderen Relevanzkriterien, nehmen Spencer und Durkheim ganz andere Erscheinungen und Prozesse wahr als Marx und Pareto, die sich vor allem für Herrschaftsstrukturen, Machtverhältnisse und die aus ihnen ableitbaren Klassen- oder Elitenkämpfe interessieren. Sie beobachten zwar auch systemische Prozesse der Differenzierung und der (aus Marxʼ Sicht entfremdenden) Arbeitsteilung; sie ordnen diese Prozesse jedoch den Herrschafts- und Machtverhältnissen unter. Aus Spencers und Durkheims Sicht sind die funktionalen Differenzierungsprozesse (Spezialisierung, Arbeitsteilung) von primärer Bedeutung, und die Herrschaftsbedingungen (etwa die Differenzierung in Herrschende und Beherrschte) werden ihnen untergeordnet. Andere Relevanzkriterien, andere Erzählungen als Gesellschaftskonstruktionen: Während Marx und Pareto vor allem das Handeln kollektiver Aktanten (Klassen, Eliten) sichtbar machen, lassen Spencer und Durkheim Differenzierungsprozesse in den Vordergrund treten. Dabei erscheint Gesellschaft als Analogon des mehr oder weniger differenzierten biologischen (tierischen, menschlichen) Organismus. Spencer fasst seine Kernthese, der zufolge Gesellschaft als Analogon zum biologischen Organismus betrachtet werden kann, in seinem Buch The Study of Sociology (1872, dt. Einleitung in das Studium der Soziologie, 1875) zusammen: „Es ist dies eine Wahrheit in der Sociologie, vergleichbar der biologischen Wahrheit, dass der erste Schritt in der Erzeugung irgendeines lebenden Organismus, hoch oder niedrig, eine gewisse Differenzierung ist, 2 Vgl. R. Collins, „The Durkheimian Tradition in Conflict Sociology“, in: J. C. Alexander, Durkheimian Sociology: Cultural Studies, Cambridge, Univ. Press, 1990, S. 107-108. <?page no="302"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 286 durch welche ein peripherischer Theil von einem centralen Theil unterschieden wird.“ 3 Diese biologisch-soziologische Analogie, die aus den Relevanzkriterien hervorgeht, die darüber entscheiden, was zu welcher Klasse von Erscheinungen gehört und was womit vergleichbar ist, entscheidet auch über die Art des Diskurses, der in diesem Fall die individuelle und kollektive Handlung dem Prozess als Differenzierung unterordnet. Dies bedeutet keineswegs, dass Spencers oder Durkheims Diskurs als Erzählung kein Aktantenmodell zugrunde liegt. Es bedeutet lediglich, dass die individuelle oder kollektive Handlung in diesem Modell (ähnlich wie bei Comte) sekundär ist, weil sie dem Differenzierungsprozess untergeordnet wird. Dieses Modell ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie: nicht nur weil es sich als Alternative zu den kollektiven und individuellen Handlungsmodellen von Marx, Pareto und Max Weber präsentiert, sondern auch deshalb, weil es eine neue Art der soziologischen Theoriebildung begründet: Es geht in diesem Modell nicht mehr primär um Handlung, Machtausübung und Herrschaft, sondern um die Evolution des Gesellschaftssystems durch Differenzierung. An dieses Modell knüpft - wie sich zeigen wird - nicht nur Talcott Parsons an, der versucht, Handlung und Systemstruktur miteinander zu vermitteln, sondern auch Niklas Luhmann, der sich sowohl auf Parsons als auch auf Durkheim beruft. 4 Insofern haben Brock, Junge und Krähnke Recht, wenn sie zu dem Schluss kommen: „Mit dieser Betrachtungsweise führt Spencer das systemtheoretische Denken in die Soziologie ein.“ 5 Freilich hat Spencers Modell den Nachteil, dass es aufgrund seiner von Comte beeinflussten Ausrichtung auf die Naturwissenschaften, vor allem die Biologie, wesentliche Aspekte des Sozialen vernachlässigt, die bei Marx und Pareto im Vordergrund stehen: vor allem die Herrschafts- und Machtstrukturen in ihrem historischen Wandel. Die positivistische Anlehnung an die Naturwissenschaften, die Spencer und Durkheim als Erben Comtes (vgl. Kap. V) gemeinsam ist, hat einen Objektivismus zur Folge, der die beiden Soziologen daran hindert, in ihren Objekten und Darstellungen von Entwicklungen Objektkonstruktionen zu erkennen, die aus bestimmten kontingenten Diskursen als Erzählungen hervorgehen. In dieser Hinsicht ist J. D. Y. Peel Recht zu geben, der zu 3 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie. Erster Theil, Leipzig, Brockhaus (2. Aufl.), 1875, S. 75. 4 Vgl. N. Luhmann, „Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie“, in: E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2012 (6. Aufl.), S. 30. 5 D. Brock, M. Junge, U. Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, München, Oldenbourg, 2012 (3. Aufl.), S. 92. <?page no="303"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 287 Spencer bemerkt: „Er glaubte, dass er alle anderen Gesichtspunkte ausschließen konnte, indem er seinen eigenen Gesichtspunkt als objektiv, als in der Natur der Dinge selbst begründet (grounded in the nature of things) darstellte.“ 6 (Vgl. Abschn. 8.) Dieser Objektivismus, zu dem auch Durkheim neigt, sooft er versucht, subjektive Meinungen durch Faktenkenntnis zu ersetzen, ist ein Aspekt des ideologischen Diskurses als „Identitätsdenken“ im Sinne von Adorno und Horkheimer. Das Subjekt des ideologischen Diskurses „vergisst“, dass es keine objektive Darstellung der Wirklichkeit gibt, weil jede Rede über die Wirklichkeit eine kontingente, nur mögliche Konstruktion ist. Es identifiziert sich mit der Wirklichkeit und ihren Objekten. Im Folgenden geht es darum, Spencers und Durkheims theoretische Konstruktionen zu analysieren und im Dialog zu testen. 1. Spencers organischer Evolutionismus: Liberalismus, Sozialdarwinismus, System Spencer kannte das Werk Comtes und übernahm vom französischen Philosophen drei wesentliche Gedanken: 1. Die gesellschaftliche Evolution ist als Differenzierungsprozess zu denken, in dem individuelle und kollektive Handlungen eine eher untergeordnete Rolle spielen. 2. Diese Evolution kann als Selektionsprozess und als Analogon zur Evolution des biologischen Organismus aufgefasst werden. 3. Aus diesem Grunde ist die neu entstehende Soziologie in die bestehende „Enzyklopädie“ der Naturwissenschaften einzufügen. Zum dritten Punkt bemerkt Paul Kellermann: „Auf der Basis einer Vereinheitlichung der Wissenschaften mittels der Evolutionsthese bietet Spencer gleich Comte eine Wissenschaftshierarchie, deren Kulminationspunkt - wiederum wie bei Comte - die Soziologie ist.“ 7 Wie bei Comte weist bei Spencer die Soziologie aufgrund ihres heterogenen Gegenstandes (menschliches Leben, Sprache, Kultur) die größte Komplexität auf. Spencers Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung illustriert seine auf die gesamte Wirklichkeit angewandte Evolutionsthese, deren Kurzform lautet: von einfacher Homogenität zu komplexer Heterogenität. In First Principles (1897) wird diese These auf alle Bereiche angewandt: „(…) We think of Evolution as divided into astronomic, geologic, 6 J. D. Y. Peel, „Introduction“, in: H. Spencer, On Social Evolution. Selected Writings (Hrsg. J. D. Y. Peel), Chicago-London, Univ. of Chicago Press, 1972, S. XXIX. 7 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg, Rombach, 1967, S. 90. <?page no="304"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 288 biologic, psychologic, sociologic, &c.“ 8 Für alle diese Bereiche gilt das Gesetz der zunehmenden Komplexität: „Every increase in structural complexity involving a corresponding increase in functional complexity.“ 9 Damit wird die Grundlage für eine systematische Betrachtung nicht nur der Wissenschaften, sondern der Gesellschaft als ganzer geschaffen, wobei die Gesellschaft durch ihre Annäherung an Bereiche der Natur, vor allem an die Welt der Biologie, als Organismus erscheint (vgl. weiter unten). Durch die Klassifizierung und Standortbestimmung der Soziologie im Rahmen des naturwissenschaftlichen Systems wird ihre Anbindung an die biologische Evolutionslehre Charles Darwins ermöglicht. „Sag mir, wie du klassifizierst, und ich sage dir, wer du bist“ 10 , schreibt Roland Barthes und erinnert an die sprachlichen Grundlagen der Theorie: daran, dass das von bestimmten Relevanzkriterien gesteuerte Klassifizieren als semantischer Vorgang nicht nur vom Objekt bestimmt wird, das als solches auch eine besondere Gliederung erheischt (etwa die Einteilung Amerikas in Nord- und Südamerika in der Geographie), sondern auch vom theoretischen Subjekt ausgeht, das psychischen, wissenschaftlichen und ideologischen Impulsen gehorcht, die nicht immer sauber zu trennen sind. Bei Spencer - wie bei den meisten anderen Soziologen - greifen ideologische und wissenschaftliche Impulse ineinander 11 und bestimmen sowohl das Klassifizieren als auch die aus diesem Klassifizieren hervorgehende Erzählung der Gesellschaft. Sie können mit zwei Stichworten bezeichnet werden: Liberalismus und Darwinismus. Spencers Liberalismus ist bekannt und bildet die Grundlage seiner soziologischen Evolutionslehre, die in die utopische Vorstellung einer Gesellschaft freier Individuen ohne staatliche Bevormundung mündet. Spencer wuchs in seiner Geburtsstadt Derby in einem liberalen Umfeld auf („in der Stadt gehörten die Spencers zum radikalen Flügel der Liberalen“, schreibt J. D. Y. Peel) 12 und hielt bis an sein Lebensende an den liberalen Grundsätzen fest. Er war eine Zeit lang Mitarbeiter der liberalen Wochenzeitschrift The Economist, 13 die sich noch heute für freien Handel, individuelle Freiheit und die Begrenzung staatlicher Macht einsetzt. Alberto Mingardi fasst zusammen: „Grundsätzlich war der klassische Liberalismus die politische 8 H. Spencer, First Principles, New York, Adamant Media Corporation (Elibron Classics), 2005, S. 558. 9 Ibid., S. 557. 10 R. Barthes, Essais critiques, Paris, Seuil, 1964, S. 179. 11 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 12 J. D. Y. Peel, „Introduction“, in: H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. XII. 13 Vgl. A. Mingardi, Herbert Spencer, London-New York, Bloomsbury, 2013, S. 14. <?page no="305"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 289 Philosophie, die Spencer in seiner Jugend zu schätzen lernte - und er blieb ihr sein ganzes Leben lang treu.“ 14 Im Kontext der liberalen Ideologie las er die Schriften von John Locke (etwa Two Treatises of Government, 1690) und Adam Smith (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776) und gelangte zu der Überzeugung, dass die Freiheit und das Eigentum des Einzelnen gegen staatliche Übergriffe geschützt werden müssen und dass die Freiheit des Individuums dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit seines Nachbarn beginnt. In dieser Situation erschöpft sich die Residualfunktion des Staates darin, den Einzelnen vor Übergriffen zu schützen und die Gesellschaft als ganze gegen feindliche Mächte zu verteidigen. Dies ist eine für den Liberalismus charakteristische negative Auffassung der Freiheit als „Freiheit vom Zwang“. Ihr stellt Isaiah Berlin einen positiven Freiheitsbegriff gegenüber: die Freiheit, etwas tun zu können 15 , die für Marxisten und Sozialisten von besonderer Bedeutung ist. Sie weisen darauf hin, dass z.B. der Arbeitslose zwar formal frei ist (frei von Zwängen), mit dieser negativen Freiheit jedoch wenig anfangen kann. Damit ergreifen sie Partei für den sozial Schwächeren und die ihm vorenthaltene positive Freiheit. Die liberale Ideologie und Darwins Lehre von der „natürlichen Selektion“ („natural selection“) und vom „Kampf ums Dasein“ („struggle for life“) ergänzen einander insofern, als sie beide den Stärkeren, den autonom handelnden Einzelnen oder den Organismus beobachten, der es versteht, sich ohne fremde (z.B. staatliche) Hilfe durchzusetzen. Diese Affinität zwischen den beiden Denkrichtungen 16 begünstigte die Entstehung des Sozialdarwinismus, dessen Kernthese lautet, dass sich im sozialen Auslese- oder Selektionsprozess die Tüchtigen und Lebensfähigen (Individuen, Gruppen, Völker, Rassen) behaupten, während die Schwächeren untergehen. Diese These macht sich Spencer zu eigen, wenn er in seiner Einleitung in das Studium der Sociologie (The Study of Sociology) den individuellen und kollektiven „Kampf ums Dasein“ als Fortschritt erzählt: „Der Krieg unter den Menschen hat wie der Krieg unter den Thieren einen bedeutenden Antheil daran gehabt, ihre Organismen zu einer höheren Stufe zu erheben.“ 17 Der Fortschritt besteht darin, dass die lebensfähigeren Individuen und Gruppen überleben, während die schwächeren untergehen: „Ausser diesem Durchschnittfortschritt, hervorgerufen durch Vernichtung der min- 14 Ibid., S. 27. 15 Vgl. I. Berlin, Two Concepts of Liberty. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford on 31 October 1958, Oxford, Clarendon Press (1958), 1963, S. 7-19. 16 Vgl. S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880-1914, Cambridge, Univ. Press (1979), 1983, S. 187-188. 17 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 244. <?page no="306"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 290 destentwickelten Rassen und Individuen, hat ein Durchschnittfortschritt stattgefunden, hervorgerufen durch Vererbung jener höhern Entwicklungen, welche von der fortgesetzten Uebung bestimmter Functionen herrühren.“ 18 Bemerkenswert ist hier die Vermischung der soziologischen mit der biologischen Terminologie („Vererbung“). Im Hinblick auf die nordamerikanischen Indianer fügt Spencer hinzu, „dass der Kampf ums Dasein zwischen benachbarten Stämmen eine bedeutende Wirkung in Bezug auf Cultivirung von Fähigkeiten verschiedener Art ausgeübt hat“. 19 In diesem Kontext prägt er den berühmt gewordenen Ausdruck „survival of the fittest“. 20 Der diesen Überlegungen gemeinsame Kerngedanke könnte in einem Satz zusammengefasst werden: Im sozialen Evolutionsprozess als „Kampf ums Dasein“ verbessern Gesellschaften als Organismen ihre Funktionen durch Spezialisierung und bilden neue Funktionen aus. Als Beispiel führt Spencer den Stammeshäuptling an: „Der Häuptling, anfangs den Charakter eines Königs, Richters, Anführers und oft Priesters vereinigend, sieht seine Functionen mehr specialisirt, je nachdem die Entwicklung der Gesellschaft nach Grösse und Complicirtheit fortschreitet.“ 21 So fragwürdig sie auch sein mag, die Analogie von biologischem und sozialem Organismus zeitigt einen für die Systemsoziologie wichtigen Gedanken: dass ein Organ nicht die Funktion eines anderen erfüllen kann und dass Funktionen folglich nicht austauschbar sind. In Die Principien der Sociologie erklärt Spencer, „dass zugleich mit der zunehmenden Specialisirung der Functionen auch in jedem Theile das Unvermögen sich steigert, die Funktionen anderer Theile auszuüben“. 22 Dieser systemtheoretische Gedanke, der sowohl für Parsons als auch für Luhmann wichtig ist, wird in den First Principles anhand von Religion und Wissenschaft verdeutlicht. Spencer zeigt, dass „Religion und Wissenschaft eine langsame Differenzierung durchgemacht haben“ 23 und wagt die Prognose, dass dieser Prozess zu einer Entkoppelung der beiden Bereiche und zur Beilegung ihrer Konflikte führen wird. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben diese Prognose weitgehend bestätigt: Die Subsysteme „Religion“ und „Wissenschaft“ sind autonom und werden in säkularisierten Gesellschaften selten als antagonistisch erfahren. Anders als in den weniger differenzierten Gesellschaften des Mittelalters können Vertreter der 18 Ibid., S. 244-245. 19 Ibid., S. 245. 20 H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. 189. 21 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 76-77. 22 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 173. 23 H. Spencer, First Principles, op. cit., S. 108. <?page no="307"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 291 Religion nicht länger den Anspruch erheben, religiöse Antworten auf wissenschaftliche Fragen zu finden, und Wissenschaftler versuchen nur selten, religiöse Probleme wissenschaftlich zu lösen. Wie sieht aber der systembedingte Prozess der funktionalen Differenzierung konkret aus und wohin führt er? 2. Spencers Erzählung als Aktantenmodell: Differenzierung und Individualisierung Insgesamt unterscheidet Spencer zwei Prozessebenen: 1. die soziale Differenzierung, die eine wachsende Komplexität des Gesellschaftssystems mit sich bringt, und 2. eine Aufeinanderfolge von sozialen Stadien: von den militanten (kriegerischen) Gesellschaften zu Industriegesellschaften. Während die militanten Gesellschaften homogen und relativ einfach sind, sind die Industriegesellschaften eher heterogen und komplex. In diesem Modell wird Marxʼ zentrales Theorem des Klassengegensatzes dem Gedanken fortschreitender Differenzierung untergeordnet: „Tritt eine herrschende Classe auf, so wird sie dabei nicht allein unähnlich den übrigen, sondern sie erlangt auch einen regulirenden Zwang über alle andern, und wenn sich diese Classe wieder in die mehr und die weniger herrschende sondert, so beginnen auch diese wieder verschiedene Seiten der gesammten überwachenden Thätigkeit an sich zu reissen. Bei den Classen, deren Thätigkeit überwacht wird, finden wir dasselbe.“ 24 Dies bedeutet, dass bei Spencer nicht der Klassengegensatz als die den Diskurs strukturierende Instanz relevant ist, sondern das Differenzierungsprinzip, das den Klassenantagonismus tendenziell aufhebt, weil es - wie das Oligarchieprinzip bei Pareto, Mosca und Michels - Herrschende und Beherrschte zergliedert und in der zunehmenden Komplexität aufgehen lässt. (Im Gegensatz dazu ist Marx bestrebt, „Bürgertum“ und „Proletariat“ als homogene kollektive Aktanten auftreten zu lassen: vgl. Kap. IV. 3.) Die Komplexität des modernen Gesellschaftssystems, die aus der „zunehmenden Grösse der socialen Aggregate“ und der „zunehmende[n] Dichtigkeit der Bevölkerung“ 25 hervorgeht, beschreibt Spencer wie folgt: „Es ist ein verwickeltes Gewebe, welches überall Knotenpunkte hat und nach allen Seiten Fäden aussendet und alle Thätigkeitsäusserungen so zu einander in Beziehung bringt, dass irgend eine beträchtliche Änderung in der einen rückschlagende Wandlungen in allen übrigen hervorruft.“ 26 Dies ist nicht nur ein systemtheoretischer, sondern (allgemeiner) ein strukturalistischer Kerngedanke: Die wechselseitige Abhängigkeit der 24 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 7. 25 Ibid., Bd. I, S. 13. 26 Ibid., Bd. IV, S. 460. <?page no="308"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 292 Einheiten und ihrer Funktionen bildet die Grundlage eines Systems als strukturierter Totalität, und die Änderung oder der Ausfall einer Funktion wirkt sich auf das Funktionieren des Gesamtsystems aus. (Ein konkretes Beispiel ist der Stromausfall in einer Stadt oder Region - oder ein Bahnstreik.) Den Übergang vom militanten oder kriegerischen zum industriellen Gesellschaftstypus stellt Spencer nicht nur als einen Übergang von einfacher Homogenität zu komplexer Heterogenität dar, sondern zugleich auch als sozialen Emanzipationsprozess im Sinne des Liberalismus und Individualismus. Während in den kriegerischen Gesellschaften, die auf Solidarität, Disziplin und Kampfbereitschaft angewiesen sind, der Einzelne der Gesellschaft als organischer Totalität untergeordnet ist, erlangt er in der Industriegesellschaft eine noch nie gekannte Freiheit (im Sinne des oben erwähnten negativen Freiheitsbegriffs). Allerdings schließt Spencer Rückfälle in das kriegerische Stadium auch im Industriezeitalter nicht aus: „Von wesentlichem Interesse sind hier für uns die Umwandlungen des kriegerischen in den industriellen und des industriellen in den kriegerischen Typus. Und vor allem haben wir zu beobachten, wie der industrielle Typus, der überhaupt nur in wenigen Fällen zu theilweiser Ausbildung gelangt ist, abermals in den kriegerischen zurückfällt, sobald internationale Kämpfe wiederkehren.“ 27 Unverkennbar wirkt hier im britisch-liberalen Kontext Comtes Vorstellung von den aufeinanderfolgenden, aber zeitweise auch koexistierenden drei Stadien: dem theologischen, dem metaphysischen und dem wissenschaftlichen (industriellen). (Vgl. Kap. V.) Denn auch bei Comte erscheint das theologische Stadium zugleich als das kriegerische, das die Zurückstellung aller Einzelinteressen erfordert. Allerdings deutet Spencer Comtes Schema im Rahmen seiner liberalen Theorie um, indem er die Industriegesellschaft als demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft nicht primär mit Vernunft und Wissenschaftlichkeit, sondern mit individueller Freiheit assoziiert. Comte wirft er vor, die im Staatsgedanken verankerte hierarchische Auffassung der Gesellschaft nicht aufgegeben zu haben; „(…) Comte und seine Schüler verrathen, trotzdem sie an eine völlige Umwandlung der Gesellschaft glauben, dennoch eine nur unvollkommene Emancipation, denn die von ihnen erhoffte ideale Gesellschaft ist eine durch eine Hierarchie regulirte (…).“ 28 Tatsächlich legt Comte, wie sich im fünften Kapitel gezeigt hat, die politische Verantwortung in die Hände der Industriellen und der sie beratenden Wissenschaftler. Es kommt hinzu, dass der Einzelne sich in 27 Ibid., Bd. II, S. 156. 28 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 150. <?page no="309"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 293 seinem System einer säkularisierten Staatsreligion und zugleich der staatlichen Autorität zu unterwerfen hat. Im Gegensatz dazu schwebt dem liberalen Soziologen Spencer ein stark ideologisiertes Gesellschaftsideal vor, das den Einzelnen von allen staatlichen Fesseln befreit. In seinen Principien der Sociologie wird er nicht müde, dieses Ideal von Kapitel zu Kapitel zu variieren und betont an entscheidender Stelle (im 2. Teil, Kap. X: „Gesellschaftstypen und Verfassungen“), „dass der Wille der Bürger zu oberst stehe und die Regierungswerkzeuge nur dazu da seien, um ihren Willen auszuführen“. 29 Es fragt sich natürlich, wie und von wem der gemeinsame Wille der stets uneinigen, auf ihre individuellen Interessen bedachten Bürger festgestellt werden soll. Hier macht sich ein Problem bemerkbar, das in Durkheims Kritik an Spencer eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Abschn. 3): der methodologische Individualismus, der den britischen Sozialphilosophen daran hindert, das Überindividuelle, das eigentlich Soziale wahrzunehmen, das über das Individuum und sein Bewusstsein hinausgeht. Der ideologische, liberale Individualismus, den Spencer gegen Comte verteidigt, verstellt ihm den Weg, der zur Soziologie führt: zur sozialen Tatsache im Sinne von Durkheim. Trotz aller Gegensätze, die Spencer von Comte trennen, ist eine historisch und gesellschaftlich bedingte Gemeinsamkeit nicht zu übersehen: Beide leben (wie schon ihr Vorgänger Saint-Simon) im Zeitalter der Industrialisierung und versprechen sich von der Entwicklung, die sie beobachten, eine bessere - vernünftigere, freiere und friedlichere - Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind sie beide Denker einer aufgeklärten Moderne, die weder an der Rationalität noch an der Autonomie des vernunftbegabten Individuums zweifelt. Sie haben beide ein klares Ziel vor Augen, auf das sich ihre Gesellschaft zubewegt. Dieses Ziel kann im Rahmen eines Aktantenmodells als Objekt-Aktant aufgefasst werden, der im Falle von Spencer als „Gesellschaft freier Individuen“ definiert werden kann. Denn es wäre ein Fehler, Spencers Denken einseitig auf einen subjektlosen Differenzierungsprozess festzulegen und dabei das Zusammenwirken der Aktanten, die seinen Diskurs als Erzählung bewegen und seine liberale Ideologie erkennen lassen, zu übersehen. Was genau bewegt Spencers Diskurs, was verleiht ihm seine narrative Dynamik und sorgt dafür, dass der Differenzierungsprozess nicht als objektiv feststellbarer Ablauf (wie Spencer selbst meint) erfahren wird, sondern als ideologisch sinnvolle Entwicklung? Im Anschluss an diese Frage erscheint die im Sinne einer liberalen Ideologie definierte „menschliche Natur“ als Auftraggeberin des Diskurses. Sie 29 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 142. <?page no="310"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 294 beauftragt das mit den Modalitäten „Vernunft“ und „Freiheitswillen“ ausgestattete „Individuum“ als Subjekt-Aktanten, sich für eine „Gesellschaft freier Individuen“ (Objekt-Aktant) einzusetzen und dabei den „Staat“ und seine Helfer (Hierarchien, Institutionen, Bürokratien) in die Schranken zu weisen. Das „Individuum“ erfüllt hier nicht nur die Funktion des Subjekt- Aktanten, sondern auch die des Fokalisators, dessen Standpunkt Spencer als Theoretiker und Erzähler durchweg einnimmt. Der „Staat“ tritt in diesem Schema als Antisubjekt auf, das im Namen des Gegenauftraggebers „Kollektivismus“ handelt, der bisweilen auch die Gestalt des „Sozialismus“ annimmt. Er wird in Spencers Diskurssemantik zur Negation der menschlichen Natur. Von dieser Funktionsverteilung zeugt seine polemische Schrift: The Man Versus the State (1884), in welcher der Staat als das eigentliche Übel erscheint, weil er - wie das Kollektiv - die individuelle Freiheit bedroht und beschneidet. 30 Man meint Pareto zu lesen, wenn Spencer feststellt, dass die Liberalen vor den neuen Tories und den Sozialisten die Waffen strecken: „They [the Liberals] have lost sight that in past times Liberalism stood for individual freedom versus State coercion.“ 31 Alberto Mingardi erinnert an „Spencer’s aversion to collectivism“ 32 und daran, dass Spencer den „Tod des alten Liberalismus“ 33 bedauert und in der Massengesellschaft mit ihren Gewerkschaften und ihren Staatsinterventionen die eigentliche moderne Gefahr zu erkennen meint. An dieser Stelle werden Parallelen zum Denken Paretos und Moscas und zur italienischen gesellschaftlichen Situation der Jahrhundertwende erkennbar, die ebenfalls von einer Krise des Liberalismus geprägt war (vgl. Kap. VIII. 1). Immer wieder tritt die durchaus veränderliche „menschliche Natur“ als Auftraggeberin in Spencers Werk auf. So ist beispielsweise in den Principien der Sociologie von der „ursprünglichen Natur der Individuen“ 34 die Rede und davon, „dass sociale Erscheinungen theilweise von der Natur der Individuen abhängen und theilweise von den Kräften, welchen die Individuen unterworfen sind“. 35 In Spencers Diskurs geht es nun darum, sich gegen alle Kräfte aufzulehnen, die der individuellen Emanzipation den Weg verstellen: vor allem gegen das Antisubjekt „Staat“ und seine Helfer. 30 Vgl. H. Spencer, The Man versus the State. Six Essays on Government, Society and Freedom, London, Create Space Independent Publishing Platform, 1884 (Reprint). 31 Ibid., S. 5. Wie Pareto wirft Spencer den Liberalen seiner Zeit vor, dass sie den Sozialisten den Weg zur Macht ebnen: „(…) So called Liberals who are diligently preparing the way for them“ (S. 53). 32 A. Mingardi, Herbert Spencer, op. cit., S. 88. 33 Ibid., S. 89. 34 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. I, op. cit., S. 14. 35 Ibid., S. 17. <?page no="311"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 295 Dabei treten die Prozesskräfte „Differenzierung“ und „Industrialisierung“ als Helferinnen des Individuums in seinem Kampf gegen Militarisierung, Disziplinierung und staatliche Bevormundung auf. Hier wird deutlich, wie Prozess und Handlung ineinander greifen und im Rahmen eines Aktantenmodells in ihrer Wechselbeziehung als integrierter Erzählvorgang aufgefasst werden können. Sein narratives Programm fasst Spencer am Ende seiner Einleitung in das Studium der Sociologie zusammen: „Die Behauptung der Individualität ist also nachweisbar eine Pflicht.“ 36 Diesem programmatischen Satz, der zeigt, wie sehr das Individuum der Fokalisator ist, aus dessen Sicht Spencer die Evolution erzählt, entspricht seine Darstellung des angestrebten gesellschaftlichen Zustandes, der mit dem Objekt-Aktanten des Diskurses zusammenfällt: „(…) Der industrielle Typus ist deshalb der höher stehende, weil er, in jenem Zustande des dauernden Friedens, welchem die Civilisation entgegenstrebt, dem individuellen Wohlergehen besser dient als der kriegerische Typus.“ 37 Hier wird deutlich, dass Spencers Sozialdarwinismus nur in seiner Auffassung der militanten oder kriegerischen Gesellschaften zum Tragen kommt und mit seiner Auffassung der sozialen Emanzipation als Befreiung von Krieg und Unterdrückung unvereinbar ist. Sein liberaler Individualismus unterscheidet ihn radikal von Comte und allen sozialistischen Denkern, die den Einzelnen einer überindividuellen Instanz (Klasse, Bewegung, Staat) unterordnen. Insofern ist Paul Kellermann Recht zu geben, der zu dem Schluss kommt: „In Comtes Glauben an die Vernunft liegt ein sozialistisches Moment, das ihn von Spencer scharf unterscheidet, der eher an die ‚invisible Hand‘ des Adam Smith glaubt (…).“ 38 Spencers individualistisches Aktantenmodell, das auf liberalen Relevanzkriterien gründet (individuelle Freiheit vs. kollektive und staatliche Bevormundung), bestimmt auch den Stellenwert und die Funktion des „Sozialismus“ in seiner Erzählung. In ihr erscheint der „Sozialismus“, der als Gegenauftraggeber zu den Widersachern des Individuums zählt, als Anachronismus. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei das Original wiedergegeben: „Hence the socialist theory and practice are normal in the militant type of society, and cease to be normal as fast as the society becomes predominantly industrial in its type.“ 39 Es wird sich zeigen, dass Durkheim, der mit einem demokratischen Sozialismus sympathisiert, von Spencer Wesentliches übernimmt, jedoch von 36 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 234. 37 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 180-181. 38 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, op. cit., S. 97-98. 39 H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. 244. <?page no="312"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 296 anderen Relevanzkriterien ausgeht und die gesellschaftliche Entwicklung ganz anders erzählt. 3. Durkheim als Erbe Montesquieus und Rousseaus: Seine Kritik an Spencers Individualismus und an Comte Von Spencer übernimmt Durkheim vor allem die Differenzierungstheorie und entscheidet sich somit für eine prozessuale und funktionale Auffassung der Gesellschaft (vgl. Abschn. 5). Damit widerspricht er - wie Spencer - der Kernthese der Marxisten, der zufolge der Konflikt als Klassenkampf die treibende Kraft der Sozialgeschichte ist. Insofern ist im dialogischen Kontext nicht nur Spencer für seine Theoriebildung entscheidend, sondern auch Marx, dessen Bedeutung für sein Denken hier im letzten Abschnitt zur Sprache kommt. Inwiefern geht nun Durkheims zentraler Gedanke aus seiner Kritik an Spencers Sozialphilosophie hervor? Wie bei Spencer spielt auch bei Durkheim das Ineinander von Ideologie und Theorie eine wichtige und durchaus produktive Rolle. Durkheim (geb. 1858) wuchs im lothringischen Epinal in einer strenggläubigen jüdischen Familie auf und sollte Rabbiner werden. Die Tatsache, dass er dem Wunsch seiner Eltern nicht entsprach und sich zunächst für eine didaktische Laufbahn als Gymnasiallehrer, später für eine wissenschaftliche Laufbahn an den Universitäten von Bordeaux und Paris entschied, mag als Zeichen der Zeit und als soziales Phänomen gewertet werden: als ein Zeichen der von Comte erforschten fortschreitenden Säkularisierung, die eine Schwächung des religiösen Glaubens mit sich bringt. Diese Entwicklung führte jedoch nicht dazu, dass Durkheim jegliches Interesse an der Religion verlor: im Gegenteil, der Gedanke an das Religiöse und an die Solidarität, die es in der Gemeinschaft der Gläubigen bewirkt, ließ ihn nie los. Es war zugleich der Gedanke an die Rolle des Kollektivs und des Kollektivbewusstseins, der im religiösen Bereich entstand und in die Theorie Durkheims einging. Hier macht sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem britischen und dem französischen Soziologen bemerkbar: Während Spencer in einem liberalen Milieu aufwuchs und sich bis an sein Lebensende einem liberalen Individualismus verpflichtet fühlte, ließ sich Durkheim stets vom Gedanken an das religiöse Kollektiv, an die Gruppe leiten. „Es ist ein gewisses Vergnügen, wir statt ich zu sagen (…)“ 40 , bemerkt er in einer seiner Schriften. Vor diesem religiösen und ideologischen Hintergrund wird Durkheims Kritik an dem schon erwähnten (Abschn. 2) methodologischen Individualismus Spencers besser verstanden. Spencer vertritt die aus seinem Libe- 40 E. Durkheim, L’Education morale, Paris, PUF, 1963, S. 203. <?page no="313"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 297 ralismus ableitbare Ansicht, dass Gruppe und Gesellschaft nicht mehr sind und sein können als die Summe ihrer Individuen und deren Eigenschaften: „Und doch gilt von menschlichen Gesellschaften wie von anderen Dingen, dass die Eigenschaften der Einheiten die Eigenschaften des Ganzen, welches sie bilden, bestimmen.“ 41 Zur Verdeutlichung fügt Spencer an anderer Stelle als „allgemeinen Grundsatz“ hinzu, „dass die Eigenschaften der Einheiten die Eigenschaften des Aggregats bestimmen“. 42 Dies bedeutet, dass bei Spencer das „Aggregat“ (als Kollektiv, Gruppe oder Gesellschaft) keine spezifischen Eigenschaften aufweist, die über die Eigenschaften seiner individuellen Mitglieder hinausgehen. In dieser Hinsicht setzt Spencer die von Hobbes und Locke begründete individualistische Tradition fort, die Francesco Callegaro als „moderne individualistische Orthodoxie“ 43 bezeichnet. Zu Hobbes bemerkt Durkheim in einer zu wenig beachteten Schrift: „Denn auch er geht vom Individuum aus. Im Prinzip leitet sich die kollektive Wirklichkeit vom Individuum ab.“ 44 Auf dieses individualistische Prinzip konzentriert sich Durkheims Kritik, die er auch an Spencers Adresse richtet: nicht nur in Über soziale Arbeits teilung, sondern auch in den Regeln der soziologischen Methode. So heißt es beispielsweise in Über soziale Arbeitsteilung im Zusammenhang mit Spencer: „Die soziale Solidarität wäre also nichts anderes als die spontane Übereinstimmung der individuellen Interessen, eine Übereinstimmung, deren natürlicher Ausdruck die Verträge sind. (…) Die Gesellschaft wäre, mit einem Wort, nur die Zusammenfassung von Individuen (…).“ 45 Der Vertrag erscheint hier als ein Produkt der Marktgesellschaft, die Individuen aufgrund ihrer Interessen aneinander bindet. Aus Durkheims Sicht ist jedoch das Interesse das am wenigsten geeignete soziale Bindemittel: „Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt.“ 46 Schon hier wird deutlich, dass Durkheim nicht das geringste Vertrauen zum marktwirtschaftlichen Besitzindividualismus als gesellschaftlicher Grundlage hat und nach anderen Faktoren Ausschau hält, die zur Entstehung sozialer Solidarität beitragen könnten. Seine Alternative zu Spencer lautet: Die Gruppe ist etwas qualitativ an deres als das Individuum, weil sie soziale Eigenschaften entstehen lässt, die nicht aus der Beschaffenheit ihrer einzelnen Mitglieder abgeleitet werden können und auch nicht auf sie reduzierbar sind. Durkheim fasst seinen 41 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 62. 42 Ibid., S. 64. 43 F. Callegaro, La Science politique des modernes. Durkheim, la sociologie et le projet d’autonomie, Paris, Economica, 2015, S. 11. 44 E. Durkheim, Hobbes à l agrégation, Paris, Editions EHESS, 2011, S. 59. 45 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesell schaften, Frankfurt, Suhrkamp (1992), 2012 (6. Aufl.), S. 259. 46 Ibid., S. 260. <?page no="314"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 298 Kerngedanken knapp und klar zusammen, wenn er in den Regeln der soziologischen Methode bemerkt: „Ein Ganzes ist eben nicht mit der Summe seiner Teile identisch.“ 47 Man könnte hinzufügen: weil es über die Teile hinausgeht und etwas qualitativ Neues hervorbringt. Dieses Neue ist das Soziale als besonderes Charakteristikum eines Kollektivs, einer Gruppe oder Gesellschaft: „Wir müssen also die Erklärung des sozialen Lebens in der Natur der Gesellschaft selbst suchen. Da sie nun das Individuum in der Zeit wie im Raum grenzenlos überschreitet, muß sie auch begreiflicherweise imstande sein, ihm die Arten des Handelns und Denkens aufzuerlegen, die sie mit ihrer Autorität sanktioniert hat.“ 48 Das heißt, dass die Gesellschaft dem Einzelnen aufgrund seiner Sozialisierung zwar innewohnt, zugleich aber eine ihm äußerliche Macht ist, die weit über sein individuelles Denken, Wollen und Wirken hinausgeht. Sie ist, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, eine Wirklichkeit sui generis: eine soziale Tatsache oder wie es im Original heißt: ein fait social. Dies hat Spencer verkannt. Denn er „sieht in der Gesellschaft keine eigene Wirklichkeit, die aus sich selbst und dank spezifischer und notwendiger Ursachen existierte (…)“. 49 Dem Wort „spezifisch“ kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil es etwas bezeichnet, das allen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Kultur- und Sozialwissenschaften gemeinsam ist: das Spezifische einer Wissenschaft wie Soziologie, Linguistik oder Literaturwissenschaft, das sie von den philosophischen Spekulationen der Philosophen (Hobbes, Locke, Kant, Hegel) unterscheidet. Während Saussure das Spezifische der Sprache in der Interaktion von Phonetik, Semantik und Syntax sieht, bezeichnet auch der russische Formalist Boris Ejchenbaum die Formalisten als „Spezifizierer“: „Das Bestreben nach einer Spezifizierung der Literaturwissenschaft äußerte sich vor allem darin, daß man die ‚Form‘ als Grundproblem der Erforschung der Literatur betrachtete (…).“ 50 Er fügt hinzu: „Wir sind keine ‚Formalisten‘, sondern, wenn Sie so wollen, Spezifizierer.“ 51 Auch Durkheim tritt Spencer und Comte gegenüber als „Spezifizierer“ auf, wenn er auf der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der sozialen Tatsache besteht, die jenseits der Individuen ist und im Alltag das indi- 47 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (Hrsg. R. König), Frankfurt, Suhrkamp (1984), 2014 (8. Aufl.), S. 187. 48 Ibid., S. 186. 49 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 408. 50 B. M. Ejchenbaum, „Zur Frage der Formalisten“, in: Marxismus und Formalismus (Hrsg. H. Günther, K. Hielscher), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1973, S. 71. 51 Ibid., S. 72. <?page no="315"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 299 viduelle Handeln bestimmt. Durkheim kann als der eigentliche Begründer der Soziologie gelten, weil er dieses Spezifische der Soziologie als Wissenschaft entdeckt hat: Sie hat sich mit den Tatbeständen, Regelmäßigkeiten, Werten und Normen zu befassen, die über das Individuelle hinausgehen und nicht auf die Psyche des Einzelnen reduziert werden können. Immer wieder wehrt sich Durkheim gegen die Reduktion der Gesellschaftswissenschaft auf Psychologie oder philosophische Spekulation. In seinem Programm der Konkretisierung und Spezifizierung bricht er sowohl mit Spencer als auch mit Comte. Beiden Vorgängern, deren Differenzierungsgedanken er weiterentwickelt, wirft er vor, sich mit spekulativen Entwürfen zu begnügen, statt die von Comte so oft beschworenen Tatsachen zu berücksichtigen. Zu Comtes Theorie, deren antirevolutionäre und auf soziale Ordnung ausgerichtete Einstellung er übernimmt 52 , bemerkt er in den Regeln: „Kurz, Comte hat an Stelle der geschichtlichen Entwicklung den Begriff gesetzt, den er selbst davon hatte und der von dem Vulgärbegriff nicht sonderlich abweicht. (…) Mit einem derartigen Verfahren bleibt man aber nicht nur in der Ideologie stecken; man macht auch einen Begriff zum Gegenstande der Soziologie, der nichts spezifisch Soziologisches an sich hat.“ 53 Abermals kehrt das Wort „spezifisch“ wieder und deutet auf den Bruch der Soziologie als sich spezialisierender Wissenschaft mit der Philosophie, aus der sie hervorgeht. Auch Spencer wirft Durkheim vor, soziologische Forschung durch begriffliche Spekulation zu ersetzen. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, über die philosophischen Grundlagen der Soziologie nachzudenken: etwa über die Nähe seines eigenen Denkens zur französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Als seine eigentlichen Vorgänger im soziologischen Sinne betrachtet er Montesquieu - und bis zu einem gewissen Grad Rousseau. Der Grund hierfür ist: dass sie im Gegensatz zu Spencer das eigentlich Soziale, Überindividuelle - wenn auch nur in Ansätzen - erkannt haben. Im Gegensatz zu Comte und Spencer, die auch deshalb von der sozialen Wirklichkeit abstrahieren, weil sie der seit Platon dominierenden Frage nachgehen, wie eine Gesellschaft beschaffen sein sollte und nicht wie sie beschaffen ist, wendet sich vor allem Montesquieu vorwiegend dem Faktischen zu: dem, was der Fall ist. So heißt es beispielsweise von Montesquieu in Durkheims Buch über Montesquieu und Rousseau: „Daher sind es nicht nur die Gesetze, sondern 52 Vgl. A. Giddens, „Durkheim’s Political Sociology“, in: ders., Politics, Sociology and Social Theory, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell (1995), 2004, S. 107: „Both in political temper and in sociological conviction, Durkheim was an opponent of revolutionary thought.“ 53 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 119. <?page no="316"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 300 auch die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die er in seinem Buch erforscht (…).“ 54 Zugleich betrachtet Montesquieu in seinem Hauptwerk De l’esprit des lois (1748, dt. Vom Geist der Gesetze, 1961) die „sozialen Gegenstände“ (…) „als verschieden von den Gegenständen der anderen Wissenschaften“. 55 Dies bedeutet, dass er ihren spezifischen Charakter hervorhebt. Das Spezifische tritt bei Montesquieu auch dadurch in den Vordergrund, dass er sich einer vergleichenden Methode bedient, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen sozialen und politischen Systemen (Monarchien, Aristokratien, Demokratien oder Despotien) hervortreten lässt. Indem er die Gesetze vergleicht, „welche die verschiedensten Völker befolgen“ 56 , entwirft er das Programm einer „vergleichenden Rechtswissenschaft“ („droit comparé“). 57 Die vergleichende Methode gestattet es ihm, Typen von Gesellschaften, spezifische „soziale Arten“ 58 , wie Durkheim in den Regeln sagt, zu unterscheiden, wobei die Typologie auf konkreten Analysen sozialer Tatsachen und Zustände gründet. Obwohl Montesquieu immer wieder der idealistischen Abstraktion verfällt, indem er dem Gesetzgeber bei der Gründung einer gesellschaftlichen Ordnung eine privilegierte Position einräumt, versteht er es laut Durkheim, die Gesetzgebung vom Spezifischen und Konkreten einer Gesellschaft, von ihrem Typus, abhängig zu machen. Zu diesem Spezifischen gehören nach Durkheim auch und vor allem die Sitten und die Religion: „Er meint, dass sich die Sitten und die Religion der Macht des Gesetzgebers entziehen und dass sogar die Gesetze, die sich auf andere Gegenstände beziehen, mit den Sitten und der Religion übereinstimmen müssen.“ 59 Dies bedeutet, dass Montesquieus Gesetzgeber angehalten wird, bei seiner Tätigkeit die sozialen Tatsachen zu berücksichtigen. Obwohl Rousseau vor allem in seiner Darstellung des „Menschen im Naturzustand“ von der stets sozialen Beschaffenheit aller Individuen abstrahiert („le Sauvage vit en lui-même“) 60 , finden sich auch bei ihm (jedoch weniger ausgeprägt und durchdacht als bei Montesquieu) Ansätze zu einer Auffassung der Gesellschaft als Einheit sui generis, die nicht - wie bei Spencer - auf das Individuelle reduzierbar ist. Zur Verdeutlichung zitiert Durkheim Rousseau, der feststellt, dass die Gesellschaft „ein moralisches Wesen ist, das besondere Eigenschaften aufweist, die von denen der Indi- 54 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie, Paris, Marcel Rivière, 1966, S. 45. 55 Ibid., S. 48. 56 Ibid., S. 97. 57 Ibid. 58 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 166. 59 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 82. 60 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de lʼinégalité, Paris, Gallimard, 1965, S. 126. <?page no="317"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 301 viduen verschieden sind“. 61 Im Anschluss an diese Auffassung stellt er fest, dass Rousseau „sehr klar das Spezifische der sozialen Ordnung wahrnahm“ („avait un sentiment très vif de la spécificité du règne social“) und fügt hinzu: „Er fasst diese Ordnung sehr klar als eine Anordnung von Tatsachen auf, die sich von rein individuellen Tatsachen unterscheidet“. 62 Daraus folgt abermals, dass die Gesellschaft eine besondere Wirklichkeit ist, die nicht auf die Psyche ihrer Individuen reduziert werden kann. Bernard Valade fasst zusammen: „Dem Autor des Contrat social wird das Verdienst zugesprochen, die Verschiedenheit des Sozialen und des Individuellen hervorgehoben und dadurch das Gesellschaftliche begründet zu haben.“ 63 Doch wie stellt sich Durkheim das Gesellschaftliche als soziale Tatsache oder fait social konkret vor? 4. Kollektivbewusstsein und „soziale Tatsache“ („fait social“): Durkheim, Paul Fauconnet und Marcel Mauss Im Folgenden geht es vor allem um eine Verdeutlichung von Durkheims zentralem Begriff der sozialen Tatsache (fait social) anhand von Beispielen. In der Betonung des Tatsächlichen folgt Durkheim Comte, dessen positivistisches Programm er gegen Comtes Subjektivismus und Idealismus verwirklichen möchte. In den Regeln, in denen er, wie sich gezeigt hat, mit Comte auch hart ins Gericht geht, erklärt er sich zunächst mit dem Grundprinzip seines Vorläufers einverstanden: „Comte hat freilich den Grundsatz aufgestellt, daß die sozialen Erscheinungen Naturtatsachen und als solche den Naturgesetzen unterworfen sind. Damit hat er implizit ihren dinglichen Charakter erkannt.“ 64 Hier wird in zwei Sätzen das Credo des älteren soziologischen Positivismus zusammengefasst. Indem er die „sozialen Erscheinungen“ als „Naturtatsachen“ auffasst, übernimmt Durkheim Comtes Auffassung der Einheitswissenschaft, der „Enzyklopädie der Wissenschaften“, in der der Soziologie die Aufgabe zufällt, sich wie die Naturwissenschaften am Tatsächlichen zu orientieren. Comte wirft er allerdings vor, dass er diesen von ihm selbst vorgezeichneten Weg nicht einschlug und sich stattdessen von subjektiven Vorstellungen und Begriffen leiten ließ. Dieser Vorwurf trifft nur teilweise zu, denn Comte hat die Prozesse der Differenzierung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung recht genau beschrieben (vgl. Kap. V. 1). 61 J.-J. Rousseau in: E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 136. 62 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 136. 63 B. Valade, „Durkheim: les idées directrices d’une sociologie scientifique“, in: B. Valade (Hrsg.), Durkheim. L’institution de la sociologie, Paris, PUF, 2008, S. 68. 64 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 118. <?page no="318"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 302 Im Gegensatz dazu halten Durkheim und seine Mitstreiter - Marcel Mauss, Paul Fauconnet - an dem Gedanken fest, dass die Soziologie ihr Augenmerk auf das für sie Spezifische zu richten hat und dass dieses Spezifische das Überindividuelle, das Kollektive ist. Es ist zugleich die soziale Tatsache im Sinne von Durkheim. Dieser Gedanke kommt am deutlichsten in dem Enzyklopädie-Artikel „Sociologie“ (1901) von Paul Fauconnet und Marcel Mauss zum Ausdruck, in dem Robert L. Geiger zu Recht das „Programm der Durkheim-Schule“ 65 sieht. In diesem Artikel geht es primär um das fait social als objektiv gegebene Tatsache, die das Einzelsubjekt als Faktum, als „Ding“ vorfindet und nicht ändern kann. Dies ist der Grund, warum Durkheim dafür plädiert, die faits sociaux als „Dinge“ zu betrachten: „Soziale Tatsachen als Dinge anzusehen, das ist die erste Regel seiner Methode“ 66 , erklärt Paul Fauconnet. Nach Fauconnet und Mauss ist es die Aufgabe der Erziehung als Sozialisation, das individuelle Subjekt mit den sozialen Tatsachen vertraut zu machen, damit es sich ihnen durch Verinnerlichung von Werten und Normen unterwirft: „Die Erziehung ist nun genau die Art, wie das Soziale einem jeden von uns als Einzelwesen einverleibt wird: das Moralische dem Animalischen; auf diese Art wird das Kind schnell sozialisiert. Diese Bemerkungen bieten uns eine viel allgemeinere Charakteristik der sozialen Tatsache als das Vorhergehende: Sozial sind alle Arten zu handeln und zu denken, die das Individuum als vorgegebene vorfindet und deren Überlieferung vorwiegend durch die Erziehung erfolgt.“ 67 Kurzum, die soziale Tatsache ist das Überindividuelle, das über allen individuellen Varianten steht und von allen Beteiligten anerkannt werden muss: „Den verschiedenen Bewusstseinsformen wohnen kollektive Vorstellungen inne, die von den individuellen Vorstellungen verschieden sind.“ 68 Zur Veranschaulichung sei an das „Schlange Stehen“ vor einem Geschäft oder Amt erinnert: Es ist eine soziale Tatsache, welche eine kollektive Norm verkörpert, die besagt, dass sich Neuankömmlinge hinten anzustellen haben. Zugleich ist sie dem Einzelnen äußerlich und wird tatsächlich von den meisten Menschen als Hindernis und Ärgernis empfunden - dennoch aber als kollektive und im Laufe der Sozialisierung verinnerlichte Norm anerkannt. 65 R. L. Geiger, „Die Institutionalisierung soziologischer Paradigmen: Drei Beispiele aus der Frühzeit der französischen Soziologie“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 149. 66 P. Fauconnet, „Das pädagogische Werk Durkheims“, in: E. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 13. 67 P. Fauconnet, M. Mauss, „La sociologie: objet et méthode“, in: M. Mauss, Essais de sociologie, Paris, Minuit, 1968/ 69, S. 16. 68 Ibid., S. 26. <?page no="319"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 303 An dieser Stelle könnte Spencer mit Theodor Geiger einwenden, es sei müßig, „sich um eine Transzendierung des Individs in Richtung auf ein Kollektivsubjekt zu bemühen, da ‚Kollektivsubjekte‘ nachweislich kein Gehirn haben“. 69 Nun ist nicht alles, was nachgewiesen werden kann, von großer Bedeutung. Viel ergiebiger sind Georg Simmels Ausführungen zur Entstehung des Kollektivbewusstseins als Faktum durch die Interkation einer wachsenden Anzahl von Individuen. Seine Überlegungen zur „Quantitativen Bestimmtheit der Gruppe“, in der es auch um die Dialektik von Quantität und Bewusstseinsqualität geht, könnten als eine Replik auf Geiger und Spencer gelesen werden: „Der Charakter des Überpersönlichen und Objektiven, mit dem solche Verkörperungen der Gruppenkräfte dem Einzelnen gegenübertreten, entstammt gerade der Vielheit der irgendwie wirksamen individuellen Elemente. Denn nur durch ihre Vielheit paralysiert sich das Individuelle an ihnen und steigt das Allgemeine in solche Distanz von diesem empor, daß es als ein ganz für sich Existierendes, des Einzelnen nicht Bedürftiges, ja oft genug ihm Antagonistisches erscheint (…).“ 70 Simmel präzisiert hier die Eigenständigkeit des Kollektiven, indem er auf die Rolle der Zahl hinweist, und definiert zugleich Durkheims fait social auf quantitativer Ebene. Das Kollektiv ändert sich quantitativ-qualitativ, je nachdem, ob es sich aus fünf, zehn oder hundert Personen zusammensetzt: Die Interaktion und das Denken innerhalb der Gruppe nehmen jeweils andere Formen an (dies hat jeder erlebt, der gemeinsam mit einigen oder vielen anderen einen Text schreibt - oder einen Ausflug plant). Es sei die Aufgabe der Soziologie, meinen Durkheim und seine Mitarbeiter, ihr Augenmerk auf diese kollektiven Prozesse und Vorstellungen zu richten. Um welche kollektiven Vorstellungen als soziale Tatsachen handelt es sich genau? In ihrem Artikel nennen Fauconnet und Mauss u.a den Ritus, der durch seine „Äußerlichkeit“ Zwangscharakter annimmt. Wir können ihn nicht ändern, sondern müssen ihn, wenn wir an einer Zeremonie, einem Begräbnis oder einem Gottesdienst teilnehmen, als Tatsache anerkennen und befolgen. Zum kollektiven Charakter religiöser Riten bemerkt Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dass sie der „Gruppe“ gehören und „deren Einheit“ 71 bilden. 69 Th. Geiger, Arbeiten zur Soziologie. Methode, moderne Großgesellschaft, Rechtssoziologie, Ideologiekritik (Hrsg. P. Trappe), Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1962, S. 427. 70 G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. XI (Hrsg. O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp (1992), 2016 (8. Aufl.), S. 73. 71 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt, Suhrkamp (1981), 2014 (3. Aufl.), S. 71. <?page no="320"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 304 Die Religion als ganze erscheint ihm dort als kollektive, soziale Tatsache. Sie geht aus dem Kollektivbewusstsein hervor, weil „das kollektive Leben, wenn es einen bestimmten Intensitätsgrad erreicht hat, das religiöse Denken erweckt (…)“. 72 Im Totem eines Clans der australischen Ureinwohner kommen Kollektivbewusstsein und Solidarität des Clans zum Ausdruck. Im Stamm, der sich aus verschiedenen Clans zusammensetzt, ergänzen die Totems einander. „Es ist unmöglich“, meint Durkheim, „daß sich jeder Clan einen völlig unabhängigen Glauben geschaffen hat; notwendigerweise müssen die Kulte der verschiedenen Totems untereinander abgestimmt gewesen sein, da sie sich genau ergänzen.“ 73 Fauconnet und Mauss fügen hinzu: „Und das Totem und die Fahne symbolisieren die Gruppe.“ 74 Das ist sicherlich der Fall. Die Fahne symbolisiert ein „Wir“: vor allem dann, wenn dieses „Wir“ während der Olympischen Spiele oder in einem politischen Konflikt besonders intensiv als Einheit, als kollektiver Aktant erlebt wird. Die Fahne ist kein buntes Tuch, das beliebig oft geändert werden kann, sondern bringt ein Identitäts- und Solidaritätsgefühl zum Ausdruck. Eine neue Fahne erscheint nur dann gerechtfertigt und wird von der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert, wenn nach einer Revolution (in Frankreich nach 1789), nach einem Krieg (in Deutschland nach 1945) oder nach dem Zerfall eines Staates (in Russland nach 1991) ein Neubeginn unvermeidlich erscheint. Der neuen Fahne fällt in solchen Situationen die Funktion zu, ein sich erneuerndes „Wir“ zu symbolisieren. Eine Funktion ganz anderer Art erfüllt das Geschenk, mit dem sich Marcel Mauss in Essai sur le don (1950, dt. Die Gabe, 1990) ausführlich befasst. Das Geschenk schafft langfristige soziale Bindungen zwischen Individuen und Gruppen (Familien), indem es die Beschenkten verpflichtet, sie an die Geber bindet. Weil sie als sozialer Kitt fungiert und wesentlich zum Zusammenhalt einer Stammesgesellschaft beiträgt, wird sie von Mauss als fait social total, als totale soziale Tatsache aufgefasst. Dazu bemerkt Mauss: „Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern.“ 75 Bruno Karsenti fasst Maussʼ zentrale These zusammen, wenn er schreibt „dass das Geschenk als totale soziale Tatsache betrachtet werden kann, weil es den Punkt bezeichnet, an dem die Gesellschaft vermag, zwischen den Individuen und Gruppen, aus denen sie besteht, Bande zu 72 Ibid., S. 618. 73 Ibid., S. 232. 74 M. Mauss, Essais de sociologie, op. cit., S. 65. 75 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 2016 (11. Aufl.), S. 181. <?page no="321"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 305 knüpfen“. 76 Somit erscheint das Geschenk als eine besondere Verkörperung des Sozialen. Noch in hochentwickelten Gesellschaften erfüllt es eine vergleichbare Funktion: Es schafft soziale Bindungen, weil es in den meisten Fällen eine anhaltende Reziprozität begründet. Das Soziale wohnt auch der Klassifikation inne, wie Marcel Mauss in einem bedeutenden Aufsatz über das Klassifizieren in australischen Stammesgesellschaften zeigt. Seine wichtigste Erkenntnis fasst er in der Feststellung zusammen, dass ein Stamm die inneren Klassifikationen, die seiner Organisation zugrunde liegen, auf die Gegenstände seiner Umgebung überträgt: „Die Klassifikation der Dinge reproduziert die Klassifikation der Menschen.“ 77 Für die Durkheim-Schule ist diese Erkenntnis wichtig, weil sie den kollektiven Charakter des Klassifizierens erkennen lässt: Die Klassen von Gegenständen, die die Stammesangehörigen in ihrer Umwelt zu erkennen meinen, wohnen nicht den wahrgenommenen Objekten inne, sondern sind eine Projektion des Stammes als Kollektivsubjekt. Nicht nur das Klassifizieren als semantische Tätigkeit ist kollektiven Ursprungs; die Sprache als ganze ist es. Der von Durkheim beeinflusste Linguist Ferdinand de Saussure, der die synchrone Linguistik begründete, indem er die Sprache als System auffasste, spricht von einer „habitude collective“, einer „kollektiven Gewohnheit“. 78 Er meint damit, dass die Sprache eine soziale Tatsache mit Zwangscharakter ist: Wir können ihre Regeln nicht ändern, wir können sie nur zur Kenntnis nehmen und richtig anwenden. Kinder erfahren die Zwänge der Sprache, sooft sie beim Erlernen ihrer Muttersprache Fehler machen, die von den Erwachsenen im Rahmen der Sozialisation korrigiert werden. Wer eine Fremdsprache lernt, bekommt sie zu spüren, wenn er der fremden Kollektivgewohnheit nicht folgt und zu hören bekommt: „Das kann man nicht sagen“. Nur die Schriftsteller verletzen immer wieder die kollektiven Sprachnormen und entziehen sich kritisch dem sozialen Zwang. Aber die Durkheimianer haben für individuellen Dissens, für Gesellschafts- und Sprachkritik keinen Sinn (vgl. Abschn. 8). 5. Soziale Differenzierung als Arbeitsteilung: Mechanische und organische Solidarität Wie Spencer und Comte steht Durkheim auf dem Standpunkt, dass die gesellschaftliche Entwicklung als ein Prozess aufgefasst werden könnte, der vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen 76 B. Karsenti, Marcel Mauss. Le fait social total, Paris, PUF, 1994, S. 44. 77 E. Durkheim, M. Mauss, „De quelques formes primitives de classification“, in: M. Mauss, Essais de sociologie, op. cit., S. 169. 78 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 197. <?page no="322"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 306 verläuft. Die Gesellschaftsform, von der er ausgeht, ist mit der theologischen Gesellschaft Comtes und der militanten oder kriegerischen Gesellschaft Spencers vergleichbar: Es ist die traditionelle, „segmentale“ oder archaische Gesellschaft, in der alle Menschen einander ähnlich sind, weil sie ähnlichen Tätigkeiten - zumeist in der Landwirtschaft, der Jagd oder der Kriegskunst - nachgehen, wobei diese Tätigkeiten einander nicht ausschließen und nacheinander von einer und derselben Person ausgeübt werden können (wie die feudalen Gesellschaften Europas zeigen). Der gemeinsame Nenner, der allen diesen soziologischen Darstellungen zugrunde liegt und auch die Grundlage von Ferdinand Tönniesʼ Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Kap. X) bildet, könnte mit dem Ausdruck „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ zusammengefasst werden, der zugleich eine theoretische Erzählung evoziert. Diese Erzählung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte moderne und spätmoderne Soziologie und reicht bis in die Postmoderne Baudrillards und Maffesolis (vgl. Teil IV). Anthony Giddensʼ Schlüsselbegriff disembedding (Herauslösung aus der Tradition), der im neunzehnten Kapitel ausführlich zur Sprache kommt, gehört der neuesten Phase dieser Erzählung an und hätte ohne moderne Denker wie Comte oder Spencer, ohne den spätmodernen Durkheim kaum entstehen können. Wie sieht nun Durkheims traditionelle Gesellschaft aus? Sie wird nach Durkheim von der mechanischen Solidarität geprägt. Diese Solidarität ist als Solidarität im ursprünglichen, umgangssprachlichen Sinn aufzufassen. Sie wird im Duden wie folgt definiert: „völlige Übereinstimmung“; „unbedingtes Zusammenhalten auf Grund gleicher Anschauungen und Ziele“. Durkheims Auffassung der mechanischen Solidarität stimmt weitgehend mit dieser Definition überein. Zu ihren wesentlichen Aspekten gehören aus seiner Sicht: ein „gemeinsames Bewußtsein“ und „bestimmte kollektive Gefühle“. Dies bedeutet, dass die mechanische Solidarität eine soziale Tatsache (fait social) ist, die auf dem Kollektivbewusstsein einer Gesellschaft, eines Stammes oder eine Gruppe gründet. 79 In diesem Kontext wird sie von Durkheim allgemein als „Gesamtheit der sozialen Ähnlichkeiten“ 80 definiert. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten fühlt sich der Einzelne unmittelbar allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft oder Gruppe verbunden, denn er kann ihre Sitten, Bräuche und Handlungen nachvollziehen und ihre Gefühle nachempfinden. Dazu bemerkt Durkheim: „Daraus folgt eine Solidarität sui generis, die, aus Ähnlichkeiten erwachsend, das Individuum direkt an die Gesellschaft bindet.“ 81 Dies bedeutet zugleich, dass die traditionelle, 79 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 130. 80 Ibid. 81 Ibid., S. 156. <?page no="323"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 307 von der mechanischen Solidarität zusammengehaltene Gesellschaft eine homogene Gesellschaft ist, in der individuelle Abweichungen von herrschenden Wertsetzungen und Normen kaum vorkommen. Durkheim stimmt insofern mit Spencers Einschätzung der sozialen Entwicklung überein, als er die traditionelle (bei Spencer die „militante“) Gesellschaft mit einem schwach ausgeprägten Individualismus und einer bloß rudimentären individuellen Freiheit assoziiert. Die folgenden Überlegungen Durkheims zeigen, dass individuelle Freiheit in dem Maße zunimmt, wie die Solidarität und das Kollektivbewusstsein ihre Intensität einbüßen: „Die Solidarität, die aus den Ähnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewußtsein unser ganzes Bewußtsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. Sie kann nur entstehen, wenn die Gemeinschaft weniger Platz in uns einnimmt.“ 82 Durkheim, dem manchmal zu Unrecht Kollektivismus nachgesagt wird, sieht sehr wohl, dass sich individuelle Freiheit nur um den Preis einer Schwächung des Kollektivbewusstseins und der Solidarität entfalten kann. Als eine Art Barometer zeugt das Rechtssystem traditioneller Gesellschaften von deren Solidarität als Kohäsionskoeffizient. Das Recht dieser Gesellschaften hat repressiven Charakter und stimmt in vieler Hinsicht mit dem modernen Strafrecht überein. Es geht in diesem Recht vorrangig darum, Abweichungen von der Norm (etwa Verletzungen von Tabus) zu ahnden, um durch exemplarische Strafen die Solidarität des Kollektivs zu erhalten oder zu steigern. Zur Funktion der Strafe in mechanischer Solidarität heißt es in Über soziale Arbeitsteilung: „Ihre wirkliche Funktion ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewußtsein seine volle Lebensfähigkeit erhält.“ 83 Als Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung von der traditionellen zur modernen Gesellschaft stellt Durkheim fest, dass es zwei Typen des sozialen Zusammenhalts gibt: Solidarität aufgrund von Ähnlichkeiten und Solidarität, die auf wechselseitiger Abhängigkeit durch Arbeitsteilung gründet: „Das soziale Leben entspringt einer doppelten Quelle: der Ähnlichkeiten der Bewußtseinszustände und der Teilung der sozialen Arbeit.“ 84 Aus dieser geht die organische Solidarität hervor, die Durkheim so bezeichnet, weil sie die Interdependenz sozialer Funktionen meint, die der Interdependenz der Organe im biologischen Organismus vergleichbar ist. (Hier übernimmt Durkheim Spencers biologisch-soziologische Analogie.) In dem Maße, wie die Bevölkerung und die Bevölkerungsdichte zunehmen, nimmt auch die soziale Arbeitsteilung vor allem in den Städten zu und 82 Ibid., S. 181-182. 83 Ibid., S. 159. 84 Ibid., S. 283. <?page no="324"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 308 bewirkt, dass sich die organische Solidarität der mechanischen gegenüber allmählich durchsetzt. Die Arbeitsteilung wird nicht nur von demographischen Faktoren begünstigt, sondern auch vom Markt, der die effizienteste Produktionsweise belohnt. Marx weist darauf hin, dass der Markt als „Hang zum Austausch der Teilung der Arbeit ihren Ursprung gibt“. 85 Diesen Aspekt vernachlässigt Durkheim - möglicherweise, weil er Berührungspunkte mit Marxʼ Kapitalismus-Kritik, die er als Ökonomismus ablehnt (vgl. Abschn. 8), vermeiden möchte. Er stellt jedoch fest, dass das Rechtssystem in organischer Solidarität seinen repressiven Charakter verliert und einen restitutiven Charakter annimmt. Im Rahmen dieses Rechts, das als Erstattungsrecht eher dem Zivilrecht als dem Strafrecht ähnelt, zielt die Strafe „auf eine einfache Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands“. 86 Man könnte hinzufügen, dass dieses Prinzip einer restitutio ad integrum aus der Wirtschaft stammt. Dazu bemerken Steven Lukes und Devyani Prabhat: „(…) So verweise das repressive Recht auf den Grad der mechanischen Solidarität, und am restitutiven Recht lasse sich der Grad der organischen Solidarität ablesen.“ 87 Der sich beschleunigende Prozess der Arbeitsteilung, der in den industriellen und technologischen Gesellschaften seinen Höhepunkt erreicht, führt dazu, „daß alle sozialen Bande, die der Ähnlichkeit entstammen, allmählich ihre Kraft verlieren“. 88 An die Stelle der mechanischen Solidarität tritt vor allem in Städten die organische oder funktionale Solidarität, die auf der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander verschiedener, oft einander fremder Individuen und Gruppen gründet. Das Wort Solidarität büßt hier seine umgangssprachliche Bedeutung ein, weil es kein „Zusammenhalten“ aufgrund gemeinsamer Anschauungen und Gefühle bezeichnet, sondern eine funktionale Abhängigkeit. W. Watts Miller bezeichnet sie treffend als „cohesion without consensus“ 89 und evoziert den Widerspruch, welcher der organischen Solidarität innewohnt. An dieser Stelle tritt ein grundsätzliches Problem von Durkheims Soziologie auf, das Durkheim nie wirklich gelöst hat: Wie können auf der Grundlage einer funktionalen Interdependenz, deren Existenz vom Geldmedium als Tauschwert abhängt, ein kollektives Wertbewusstsein, eine gemeinsame Moral und eine Solidarität im ursprünglichen Sinne des Wor- 85 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 291. 86 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 162. 87 S. Lukes, D. Prabhat, „Durkheim über Recht und Moral: Die Desintegrationsthese“, in: T. Bogusz, H. Delitz (Hrsg.), Emile Durkheim. Soziologie - Ethnologie - Philosophie, Frankfurt-New York, Campus, 2013, S. 156. 88 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 228. 89 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, London, UCL Press, 1996, S. 248. <?page no="325"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 309 tes entstehen? Bei Durkheim ist von einer „anderen Solidarität“ 90 die Rede und davon, „daß die soziale Solidarität dazu neigt, rein organisch zu werden“. 91 Aber kann hier noch von Solidarität die Rede sein? Danilo Martuccelli spricht in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht von Durkheims „tragischer Auffassung der Gesellschaft“ und erklärt: „Wenn er im Laufe der Zeit der moralischen Pflicht eine immer größere Rolle in der sozialen Integration zuspricht, so kann er sich doch niemals von seiner Darstellung der Zerbrechlichkeit sozialer Bindungen lösen.“ 92 Worin besteht die Tragik? Darin, dass die Menschen als Spezialisten zwar aufeinander angewiesen sind, einander aber zunehmend als fremde Geldquellen wahrnehmen. Dies ist wohl der Grund, warum Durkheim alles Wirtschaftliche mit Misstrauen betrachtete. In einer Vorlesung über die Berufsmoral spricht er vom „amoralische[n] Charakter des Wirtschaftslebens“ 93 und fügt hinzu, „daß die Entfesselung der ökonomischen Interessen zu einem Niedergang der öffentlichen Moral geführt hat“. 94 Dieses Eindringen der Wirtschaft in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ist eines der Hauptthemen von Durkheims Soziologie und bildet den Hintergrund, vor dem er die Pathologien der modernen Gesellschaft - Egoismus, Anomie, Selbstmord - darstellt. Dieser Soziologie, die - ähnlich wie Comtes Theorie - den religiösen Faktor als soziales Bindemittel so hoch veranschlagt, stellt sich die Frage, wie das von der Arbeitsteilung geschwächte Kollektivbewusstsein moralisch gestärkt werden könnte. Durkheim meint, dass die Arbeitsteilung selbst zu einer Stärkung des Kollektivbewusstseins beitragen würde, wenn es gelänge, die mittelalterliche Institution der Zunft zu erneuern und Berufsgruppen oder Korporationen zu bilden. Am Ende seiner Selbstmord-Studie stellt er fest: „Es muß erreicht werden, daß der einzelne sich wieder solidarischer mit einem Kollektivwesen fühlt.“ 95 Als geeignetes Kollektivwesen erscheint ihm die Berufsgruppe als Korporation. Über sie schreibt er im „Vorwort zur zweiten Auflage“ seiner Studie Über soziale Arbeitsteilung, in der auch von der „Wiederbelebung der Korporation“ 96 die Rede ist: „Die einzige, die diese Bedingungen erfüllt, ist die Gruppe, die aus allen Trägern eines gleichen Gewerbes besteht und 90 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 228. 91 Ibid. 92 D. Martuccelli, „Emile Durkheim, problèmes et promesses de la différenciation sociale“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 65. 93 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt, Suhrkamp (1991), 1999, S. 24. 94 Ibid. 95 E. Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt, Suhrkamp (1983), 2014 (13. Aufl.), S. 443. 96 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 47. <?page no="326"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 310 die in einem einzigen Verband vereinigt und organisiert ist, das heißt in einer Korporation oder einer Berufsgruppe.“ 97 Von ihr verspricht er sich eine Stärkung des Kollektivbewusstseins und der Moral als Berufsmoral in einer arbeitsteiligen und von ökonomischen Faktoren dominierten Gesellschaft. Serge Paugam bringt Durkheims Reformprogramm auf eine Kurzformel: „moraliser l’économie“, „die Wirtschaft moralisieren“. 98 Es fragt sich allerdings, ob angesichts der ökonomisch motivierten Verteilungskämpfe, die in der modernen Gesellschaft alle Organisationen von den Eisenbahnen bis zu den Fluggesellschaften heimsuchen und sogar in Universitäten an der Tagesordnung sind, weil keine Wissenschaftlergruppe auf einen Teil ihres Budgets zugunsten einer Nachbarwissenschaft verzichten will, Durkheims Vorschlag nicht vorab zum Scheitern verurteilt sei. Es ist kaum vorstellbar, dass die Berufsverbände, für deren Schaffung er plädiert, in der zeitgenössischen Gesellschaft die sozialen Pathologien, die er untersucht, eindämmen oder gar zurückdrängen könnten: Auch die Verbände werden zumindest teilweise von gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zusammengehalten. 6. Soziale Pathologien: Egoismus, Anomie, Selbstmord Die spätmoderne arbeitsteilige Gesellschaft ist eine Welt der Ambivalenz: Durch funktionale (organische) Interdependenz werden Individuen und Gruppen zusammengeführt, die einander mit Gleichgültigkeit, Unverständnis oder gar Feindseligkeit betrachten. Sie sollen zusammenarbeiten, d.h. funktional solidarisch sein, verstehen einander aber nicht (aufgrund ihrer extremen Spezialisierung) oder lehnen einander sogar ab: etwa aus religiösen, ethnischen oder sprachlichen Gründen. Dies ist ein Aspekt, den der auf Solidarität und Konsens bedachte Durkheim kaum berücksichtigt. Tatsache ist jedoch, dass in dieser von der sozialen Arbeitsteilung geprägten Situation Wertsetzungen und Normen kollidieren, so dass Anomie entsteht: nicht „Normlosigkeit“, wie Durkheim und später Robert K. Merton 99 meinen, sondern Wert- und Normrelativismus, der darin besteht, dass es schwerfällt, sich für oder gegen einen Wert und die mit ihm einhergehende Norm zu entscheiden. Die zweite Ambivalenz besteht darin, dass das Individuum der spätmodernen Gesellschaft einerseits aus traditionellen Bindungen freigesetzt wird, andererseits aber vereinsamt. Dazu bemerkt Joseph Neyer: „Das 97 Ibid., S. 46. 98 S. Paugam, „Présentation. Faire société. Les Leçons de Durkheim“, in: E. Durkheim, Leçons de sociologie, Paris, PUF (1950), 2015 (6. Aufl.), S. 11. 99 Vgl. R. K. Merton, „Sozialstruktur und Anomie“, in: A. Fischer, Die Entfremdung des Menschen in einer heilen Gesellschaft. Materialien zur Adaptation und Denunziation eines Begriffs, München, Juventa, 1970, S. 126. <?page no="327"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 311 Individuum wird autonomer, selbst wenn es existenziell zunehmend auf soziale Beziehungen angewiesen ist.“ 100 Das heißt, dass diese Beziehungen im Rahmen der organischen Solidarität funktionalen oder gar „strategischen“ Charakter annehmen (im Sinne des networking) und nichts oder wenig mit der mechanischen (kulturellen, gefühlsmäßigen) Solidarität zu tun haben. Dabei wächst nicht nur die Autonomie des Einzelnen, sondern auch seine Vereinsamung. In solchen Verhältnissen der Bindungslosigkeit bei zunehmender funktionaler Verflechtung besteht die Gefahr, dass der Einzelne „im Egoismus und in der Regellosigkeit versinkt“. 101 Abermals greift Durkheim die Erzählung „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ auf und kommt am Ende seiner Selbstmordstudie zu dem Schluss: „Aber wenn man das Alte stürzt, ohne etwas anderes an seine Stelle zu setzen, hat man nur den Egoismus des Verbandes ersetzt durch den Egoismus des einzelnen, der noch viel zersetzender ist.“ 102 In dieser Studie greifen Egoismus und Anomie als soziale Pathologien ineinander und bilden zusammen ein Krisensyndrom, von dem die Zunahme der Selbstmordraten zeugt. 103 Durkheim spricht von einer krankhaften Entwicklung der Gesellschaft: „Egoistischer Selbstmord und anomischer sind also die einzigen, deren Entwicklung man als krankhaft bezeichnen könnte, und infolgedessen haben wir uns nur mit ihnen zu beschäftigen.“ 104 Hier wird deutlich, warum Durkheims Soziologie als eine spätmoderne Soziologie der Krise bezeichnet werden kann: Sie reflektiert kritisch die Fehlentwicklungen der Moderne, indem sie diese kontrastiv mit der traditionellen Gesellschaft der mechanischen Solidarität vergleicht. Als eine Theorie der Krise fasst auch Francesco Callegaro diese Soziologie auf: „Nach Durkheim stellt die Moderne nicht eine kritische Phase unter anderen dar, sondern ist die Krise des Sozialen schlechthin.“ 105 Die wachsende Zahl egoistischer und anomischer Selbstmorde ist ein Symptom dieser Krise. Im Rahmen seiner Theorie des Kollektivbewusstseins und der sozialen Tatsache untersucht Durkheim in seiner Selbstmordstudie, die als kritische Analyse der Moderne gelesen werden könnte, den Nexus von Kollektivbewusstsein und Selbstmordrate. Seine These, die aus den Regeln der soziologischen Methode und aus Über soziale Arbeitsteilung ableitbar ist, 100 J. Neyer, „Individualism and Socialism in Durkheim“, in: E. Durkheim, Essays on Sociology and Philosophy (Hrsg. K. H. Wolff), New York, Harper and Row, 1964, S. 47. 101 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 464. 102 Ibid., S. 454. 103 Ibid., S. 433. 104 Ibid., S. 442. 105 F. Callegaro, La Science politique des modernes, op. cit., S. 95. <?page no="328"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 312 lautet: Der Selbstmord ist keine rein individuelle Erscheinung, sondern hängt eng mit dem Kollektivbewusstsein der Gruppe zusammen, der ein Einzelner angehört, und die Selbstmordrate steigt in dem Maße, wie das Kollektivbewusstsein und die Solidarität der Gruppe abnehmen. Schon in seiner Studie über die Arbeitsteilung stellt Durkheim eine Beziehung zwischen der arbeitsteiligen Zivilisation und der steigenden Selbstmordrate her. Von der „ökonomischen Tätigkeit, die jede Zivilisation begleitet“, heißt es gleich im ersten Kapitel: „Sie dient dem Fortschritt der Moral durchaus nicht; vielmehr sind die Verbrechen und die Selbstmorde gerade in den großen Industriezentren am häufigsten.“ 106 In seinen Analysen des Selbstmordes als sozialer Tatsache 107 weist Durkheim überzeugend nach, dass die Selbstmordrate vom sozialen Zusammenhalt und konkret vom Solidaritätsgrad bestimmter - vor allem religiöser - Gruppen abhängt. Zunächst stellt er ganz allgemein fest, dass der Selbstmord in Großstädten viel häufiger vorkommt als auf dem Land. Eines seiner Beispiele ist Wien (damals noch Hauptstadt von Österreich-Ungarn), das für die außergewöhnlich hohe Selbstmordrate im damaligen Niederösterreich (im Vergleich zu Oberösterreich oder Tirol) verantwortlich ist: „Die Erklärung für diese hohe Zahl [der Selbstmorde] ist darin zu finden, daß in Niederösterreich Wien liegt, das, wie alle Großstädte, Jahr für Jahr eine enorme Zahl von Selbstmorden aufweist: 1876 waren es 320 pro Million Einwohner.“ 108 Die Großstadtgesellschaft vereinigt die beiden Faktoren, die die Neigung zum Selbstmord verstärken: Egoismus und Anomie. In einer säkularisierten Welt kann die Vereinsamung des Individuums dazu führen, dass es - wie Antoine Roquentin in Sartres Roman Der Ekel - keinen Sinnzusammenhang mehr wahrnimmt und auf den Gedanken verfällt, aus dem Leben zu scheiden. Durkheim bezeichnet diese Art von Selbsttötung als egoistischen Selbstmord. Er ist für eine arbeitsteilige, urbane Gesellschaft charakteristisch, die den Einzelnen isoliert und der Anonymität preisgibt. Zugleich ist diese Gesellschaft von der Anomie geprägt: der Schwächung sozialer Normen, die auf die Koexistenz widersprüchlicher und konkurrierender Wertsetzungen und Normvorstellungen zurückzuführen ist. Dieser Zustand hat eine Orientierungslosigkeit des Einzelnen zur Folge. „Anomie entsteht“, erklären Baudelot und Establet, „wenn individuelle und von der Gesellschaft vorgegebene Ziele stark divergieren (…).“ 109 106 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 97. 107 Zum Selbstmord als soziale Tatsache vgl. Ch. Baudelot, R. Establet, Durkheim et le suicide, Paris, PUF (1984), 1990 (3. Aufl.), S. 15-45. 108 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 79. 109 Ch. Baudelot, R. Establet, Durkheim et le suicide, op. cit., S. 40. <?page no="329"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 313 Durkheim selbst führt die Zunahme anomischer Selbstmorde auf den wachsenden Einfluss der Wirtschaft zurück. Vom „Zustand der Anomie“ heißt es in der Selbstmordstudie: „Es gibt aber eine Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, wo er tatsächlich eine Art Dauerzustand ist, nämlich in der Welt des Handels und der Industrie.“ 110 Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur steigen Selbstmordraten, weil sich viele Menschen unrealistische, anomische Ziele setzen, die sie nicht erreichen können. Zu dem nach der Gründung des deutschen Reiches (1871) einsetzenden Wirtschaftswachstum bemerkt Durkheim: „Handel und Industrie gedeihen. Und niemals stiegen die Selbstmordzahlen so rapide.“ 111 Das zentrale Argument von Durkheims Le Suicide, das man als spezifisch soziologisch bezeichnen könnte, weil es den Selbstmord als soziale Tatsache bestimmt, betrifft den Nexus von Selbstmordrate und religiöser Gruppe. Gleich in der „Einführung“ stellt Durkheim fest, dass in jeder sozialen Gruppe eine spezifische Neigung zum Selbstmord nachweisbar ist. 112 Anders gesagt, der Selbstmord ist keine rein individuelle, psychische, sondern eine kollektive Erscheinung, und zwar in dem Sinn, dass er in protestantischen Gruppen wesentlich häufiger vorkommt als in katholischen oder jüdischen: „So stellen also überall ohne jede Ausnahme die Protestanten viel mehr Selbstmörder als die Gläubigen anderer Religionen.“ 113 Besonders gering ist die Neigung zum Selbstmord bei den Juden, nicht nur wegen des Gemeinschaftsgefühls, das ihnen ihre Religion vermittelt, sondern auch aufgrund der Gruppensolidarität, die sie als - oft marginalisierte - Minderheit entwickeln: „Bei den Juden ist die Neigung zum Selbstmord immer geringer als bei den Protestanten.“ 114 Die Selbstmordanfälligkeit der Protestanten erklärt Durkheim aus dem vom protestantischen Glauben geförderten „religiösen Individualismus“. Anders als etwa die Katholiken, die eine universelle Kirchengemeinde bilden und sich an den Dogmen ihrer Kirche orientieren, „ist der Protestant Schöpfer seines eigenen Glaubens“. 115 Diese Freiheit kann aber auch Isolierung, Orientierungslosigkeit und Anomie zur Folge haben, so dass es unter Protestanten häufiger als unter Katholiken und Juden zu egoistischen und anomischen Selbstmorden kommt. Allerdings sinkt die Selbstmordrate auch unter Protestanten, wenn sie in einem Land oder einer Region eine Minderheit bilden: Wie bei den Juden steigert der Druck, der auf sie von der (katholischen) Mehrheit ausgeübt 110 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 290. 111 Ibid., S. 277. 112 Ibid., S. 34. 113 Ibid., S. 165. 114 Ibid., S. 166. 115 Ibid., S. 169. <?page no="330"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 314 wird, die Solidarität. (Hier zeigt sich, wie wichtig es in der Soziologie ist, das Ineinandergreifen verschiedener Faktoren zu berücksichtigen und monokausale Erklärungen mit Skepsis zu betrachten.) Eine besondere Kategorie in Durkheims Selbstmordstudie bildet der altruistische Selbstmord, der als das Gegenstück zum egoistischen und anomischen betrachtet werden könnte: Er kommt dadurch zustande, dass das Individuum so stark in eine Gruppe integriert ist, dass es jederzeit bereit ist, sich für die Belange dieser Gruppe zu opfern. Als Beispiel führt Durkheim die Selbstmordepidemien im Mittelalter an, „die durch ein Übermaß religiösen Eiferertums ausgelöst“ 116 wurden. Ein Beispiel aus heutiger Zeit wären die Selbstmordattentate religiöser Fundamentalisten, die so sehr im Glauben ihrer Gruppe oder Bezugsgruppe aufgehen, dass sie nicht zögern, ihr Leben zu opfern Allerdings weist Durkheim unmissverständlich darauf hin, dass nicht der altruistische, sondern der egoistische oder anomische Selbstmord für die spätmoderne Gesellschaft kennzeichnend ist. Dem altruistischen fällt eher die Funktion einer Kontrastfolie zu, die erkennen lässt, wie schwach die Bande zwischen Individuum und Kollektiv in der hochentwickelten Gesellschaft geworden sind. In diesem Kontext wirkt der fundamentalistische Selbstmordattentäter als exotischer Fremdkörper. Durkheim nimmt sich vor, die Bande zu stärken: nicht durch eine Rückkehr zur mechanischen Solidarität, sondern durch eine moralische Festigung der modernen organischen Solidarität. Er möchte das isolierte, egoistische und selbstmordgefährdete Individuum in die - im vorigen Abschnitt erwähnte - Berufsgruppe integrieren. Die Schaffung dieser Gruppe fasst er nicht nur als Beitrag zur Integration arbeitsteiliger Gesellschaften auf, sondern auch als Antwort auf die Pathologien des spätmodernen Alltags. Sowohl Durkheims Schrift über die Arbeitsteilung als auch seine Selbstmordstudie schließen mit Überlegungen zur integrierenden moralischen Funktion der Berufsgruppe oder Korporation. Im letzten Kapitel von Der Selbstmord („Praktische Folgerungen“) heißt es: „Wir haben aber bewiesen, daß (…) Religion, Familie, Vaterland vor dem egoistischen Selbstmord schützen (…). Eine ganz andere Gruppe kann also dieselbe Wirkung haben, vorausgesetzt, daß sie den gleichen inneren Zusammenhalt hat (…). Es ist die Berufsgruppe oder der Fachverband.“ 117 Somit erscheint die „Einbettung des Individuums in die Gesellschaft“ als oberstes Ziel, als telos von Durkheims soziologischer Erzählung, die im Folgenden als Aktantenmodell dargestellt wird. 116 Ibid., S. 255. 117 Ibid., S. 449. <?page no="331"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 315 7. Durkheims Aktantenmodell zwischen Kant und Hegel: Im Auftrag der Gesellschaft Nach dem bisher Gesagten ist es nicht weiter erstaunlich, dass Durkheim der Gegensatz zwischen den gesellschaftlich-moralischen und den wirtschaftlich-anomischen Kräften als relevant erscheint. Er spricht in seiner Selbstmordstudie von „ökonomische[r] Anomie“ 118 und macht dort die Wirtschaft für die Pathologien der Gesellschaft verantwortlich: „Und weil dieses Durcheinander gerade in der Welt der Wirtschaft seinen Höhepunkt erreicht hat, findet es dort auch die meisten Opfer.“ 119 Die Kurzformel, der Durkheim implizit alle seine Gegensätze subsumiert, kommt letztlich in der Gegenüberstellung von Gesellschaft und Wirtschaft zum Ausdruck. Während auf Seiten der Gesellschaft die Faktoren der sozialen Integration stehen: die moralische Wertsetzung, die Regel, die Norm, die Solidarität und die soziale Gesundheit, werden auf Seiten der Wirtschaft die Faktoren der Desintegration gruppiert: Utilitarismus, Regellosigkeit, Anomie, Egoismus und soziale Pathologie. Aus diesem als relevant postulierten semantischen Gegensatz Gesellschaft / Wirtschaft geht ein Aktantenmodell hervor, in dem „Gesellschaft“ und „Wirtschaft“ als Auftraggeberin bzw. Gegenauftraggeberin eines Subjekt-Aktanten auftreten. Der „Heilsauftrag“ (Greimas) der Auftraggeberin „Gesellschaft“ läuft freilich nicht auf eine Zerstörung der „Wirtschaft“ hinaus (was im sozialwissenschaftlichen Kontext eine Absurdität wäre), sondern auf deren Unterordnung unter die Gesellschaft und ihre Helfer (z.B. den Staat). (Hier tritt der Gegensatz zu Spencer besonders klar in Erscheinung.) Dem „Individuum“ als Subjekt-Aktanten fällt in diesem Modell die Aufgabe zu, gegen alle Kräfte sozialer Desintegration die soziale Integration durchzusetzen - an erster Stelle seine eigene. Damit ist auch der Objekt- Aktant von Durkheims Diskurs bezeichnet: „Es ist also ein würdiges Ziel, die Gesellschaft diesem Grad der Vollendung so nahe wie möglich zu bringen.“ 120 Mit „Vollendung“ ist hier „soziale Gesundheit durch Integration“ im moralischen Bereich der Werte und Normen gemeint. In regelmäßigen Abständen tritt in Durkheims Diskurs als Erzählung die Gesellschaft als Auftraggeberin und oberste Autorität auf: „Die Gesellschaft allein vermag, ein Gesamturteil darüber zu fällen, was das menschliche Leben wert ist, ein Urteil, für das der einzelne nicht kompetent ist.“ 121 An die Adresse des Subjekt-Aktanten oder „Helden“, der als Fokalisator der Er- 118 Ibid., S. 296. 119 Ibid., S. 294. 120 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 405. 121 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 238. <?page no="332"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 316 zählung nicht zum „Antihelden“ werden, nicht dem wirtschaftlichen Egoismus nachgeben soll, richtet der Erzähler Durkheim (wie im Bildungsroman) die unmissverständliche Warnung, „daß unser Handeln sein Ziel verliert, wenn wir uns ihr [der Gesellschaft] entfremden“. 122 Die religiösen Konnotationen sind in diesen Passagen kaum zu überhören. In der säkularisierten Welt, in der Nietzsche als älterer (1844-1900) Zeitgenosse Durkheims den „Tod Gottes“ verkündet, mag jemand durchaus auf den Gedanken kommen, dass die Gesellschaft an die Stelle des Toten tritt. Hier wird deutlich, dass sich Durkheims Aktantemodell nahtlos in die allgemeine Erzählung „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ einfügt: Denn es gilt, die zentrifugalen Kräfte der Moderne durch integrative Maßnahmen zu bändigen. Im Zusammenhang mit Durkheim spricht W. Watts Miller von „God as society thought of symbolically“. 123 Tatsächlich bestätigt Durkheim in seinem Buch über Die elementaren Formen des religiösen Lebens die auch von anderen Kommentatoren vorgebrachte Hypothese 124 , dass die Gesellschaft die neue, säkularisierte Auftraggeberin oder Gottheit ist. Von ihr als „Wirklichkeit“ heißt es dort, „daß diese Wirklichkeit, die sich die Mythologien unter so vielen verschiedenen Formen vorgestellt haben, die aber die objektive, universale und ewige Ursache dieser Empfindungen sui generis ist, aus denen die religiöse Erfahrung besteht, die Gesellschaft ist“. 125 Sie beauftragt den Einzelnen - und zusammen mit ihm alle Individuen -, für kollektive Gesundheit als soziale Integration zu kämpfen. Es kann hier von einem „Heilsauftrag“ („mission de salut“, Greimas) in fast wörtlichem Sinne die Rede sein. Worin besteht der narrative „Heilsauftrag“ genau? Es ist die Aufgabe des Individuums und aller vom Soziologen-Erzähler angesprochenen Individuen, dafür zu sorgen, dass die „Wirtschaft“ als destruktive Gegenauftraggeberin der „Gesellschaft“ untergeordnet wird. Durkheim spricht vom „amoralischen Charakter des Wirtschaftslebens“ 126 , und Raymond Boudon stellt in diesem Zusammenhang eine „Disqualifizierung der Wirtschaft“ 127 fest. Dieser Teil von Durkheims narrativem Programm (Greimas) nimmt vor allem in seiner Selbstmordstudie klare Konturen an. Der mit einem moderaten, reformistischen Sozialismus sympathisierende Durkheim plädiert dort indirekt für eine Unterordnung der Wirtschaft unter staatliche Ins- 122 Ibid. 123 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, op. cit., S. 230. 124 Vgl. H. Alpert, Emile Durkheim and his Sociology (1939), Aldershot, Gregg Revivals, 1993, S. 207: „Moreover it is society that has created the dignity of man (…).“ 125 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, op. cit., S. 612. 126 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 24. 127 R. Boudon, „D’un Durkheim à l’autre“, in: B. Valade, Durkheim, op. cit., S. 163. <?page no="333"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 317 titutionen: „Die Regierung ist von einer Regelinstanz des wirtschaftlichen Lebens zu dessen Instrument und Diener geworden.“ 128 Die „Industrie“ als Metonymie für die Wirtschaft hat im Aktantemodell die Stelle der „Gesellschaft“ usurpiert: „(…) So ist die Industrie das erhabenste Ziel des einzelnen und der Gesellschaften geworden, statt weiter lediglich als Mittel zu einem höheren Zweck betrachtet zu werden.“ 129 Der „höhere Zweck“ ist die Gesellschaft und ihre Integration. Dieser Integration sollen in Durkheims Erzählprogramm die „Berufsgruppen“ als Helferinnen der „Gesellschaft“ und des Subjekt-Aktanten „Individuum“ dienen. Als vermittelnde Instanzen sollen sie helfen, die Kluft zwischen Staat und Individuum zu überbrücken, weil sie Teil des gesellschaftlichen Alltags sind und durch ihre Nähe zu Einzelpersonen unmittelbar integrierend wirken können. 130 Zugleich sollen sie eine neue mechanische Solidarität in der von der organisch-funktionalen Solidarität dominierten arbeitsteiligen Gesellschaft begründen und so dem von der Vereinzelung bedrohten Individuum den Rücken stärken. Insofern hat Serge Paugam gar nicht so Unrecht, wenn er Durkheim gegen den Kollektivismus-Vorwurf verteidigt und feststellt, „dass Durkheims Auffassung des Staates von Grund auf individualistisch ist“. 131 Denn der Staat, der durch die Berufsgruppen für individuelle Anliegen sensibilisiert wird, hat als Helfer des Individuums und der Gesellschaft bei Durkheim die Aufgabe, individuelle Freiheit zu gewährleisten und individuelle Belange zu fördern. Wie ist es nun um das Individuum selbst bestellt, den Subjekt- Aktanten und Fokalisator des Diskurses? Ist Durkheims Soziologie, wie Melvin Richter meint, ein „restatement of individualism“ 132 , d.h. eine sozialindividualistische Alternative zu Spencers Liberalismus? Im Rahmen des hier konstruierten Aktantenmodells kann man Richter durchaus zustimmen: Von der Gesellschaft als Auftraggeberin erhält das Individuum als Subjekt „alles, was es benötigt, und für ebendiese Gesellschaft setzt es sich ein“. 133 Wie in allen Aktantenmodellen (vom Märchen bis zum James-Bond-Roman) wird der Subjekt-Aktant vom Auftraggeber mit allen Modalitäten ausgestattet, die er braucht, um den „Heilsauftrag“ zu erfüllen. Zu diesen Modalitäten gehören Sprache und Vernunft als soziale Tatsachen, die den Einzelnen befähigen, in Begriffen abstrakt zu denken und 128 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 291. 129 Ibid., S. 292. 130 Vgl. E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 154-155. 131 S. Paugam, „Présentation“, in: E. Durkheim, Leçons de sociologie, op. cit., S. 27. 132 M. Richter, „Durkheim’s Politics and Political Theory“, in: E. Durkheim, Essays on Sociology and Philosophy, op. cit., S. 181. 133 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 285. <?page no="334"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 318 allgemein gültige Wahrheiten zu erkennen. 134 Zu ihnen gehört auch der neue kategorische Imperativ, dem Durkheim in seiner Kritik an Kants abstraktem, rein individuellem Imperativ einen gesellschaftlichen Gehalt gibt: „In spezifischer Hinsicht nimmt der kategorische Imperativ des moralischen Bewußtseins allmählich folgende Form an: Bereite dich vor, eine bestimmte Funktion nützlich auszufüllen.“ 135 Zu Durkheims Absicht, Kants kategorischen Imperativ in den sozialen, arbeitsteiligen Kontext zu projizieren, bemerkt Wolfgang Schluchter, der dem Verhältnis zwischen Kant und Durkheim einen ausführlichen Kommentar widmet: „Es gilt, die Einsichten von Kant in der Ethik in die positive Wissenschaft zu übernehmen, seine Metaphysik der Sitten in eine soziale Physik der Sitten zu überführen.“ 136 Es ist hier nicht der Ort, einen Dialog zwischen Kant und Durkheim über Fragen der Ethik zu inszenieren. Als Kantianer könnte man jedoch einwenden, dass die Vergesellschaftung des kategorischen Imperativs, die Durkheim sagen lässt, der Mensch habe „Organ der Gesellschaft zu sein“ 137 , auf eine unzulässige Partikularisierung hinausläuft. Denn in einer totalitären Gesellschaft wirkt sich eine Befolgung von Durkheims Imperativ fatal aus: Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus haben gezeigt, dass diejenigen, die in einer solchen Gesellschaft „eine bestimmte Funktion nützlich ausfüllen“ zu Mittätern werden. Aus Kantischer Sicht scheint es sinnvoller zu sein, dem Individuum jenseits aller Auftraggeber die volle Verantwortung zu überlassen, so dass es sich im Extremfall auch gegen eine falsche Gesellschaft wenden kann: nach Adornos Maxime aus den Minima Moralia: „Das Ganze ist das Unwahre.“ 138 Diese Überlegungen sind nicht als „Randbemerkungen zu Kant und Durkheim“ zu lesen, weil sie auf ein grundsätzliches Problem von Durkheims Soziologie zielen: auf deren Hegelianismus, der darin besteht, dass eine Theorie, die im Auftrag der Gesellschaft argumentiert, nolens volens zu einer Apologie des Bestehenden gerät. Zwar kritisiert Durkheim explizit Hegels „Kult des Staates“ 139 und seinen Gedanken, dass „die Gesellschaft einen 134 Vgl. R. A. Nisbet, The Sociology of Emile Durkheim, London, Heinemann, 1975, S. 94-95. Über Durkheims und Mauss’ Aufsatz „De quelques formes primitives de classification“ schreibt Nisbet : „In Primitive Classification, on the other hand, the intent is nothing less than a declaration that the very structure of the human mind - that is, the logical structure, the capacity to reason in terms of concepts and classes of concepts - is an emergent of social structure.” 135 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 87. 136 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2015 (2. Aufl.), S. 116. 137 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 473. 138 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 57. 139 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 81. <?page no="335"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 319 den Zwecken des einzelnen übergeordneten und davon unabhängigen Zweck“ 140 besitzt, aber er fasst nirgends die Möglichkeit ins Auge, dass der Einzelne sich kritisch von der Gesellschaft distanziert. Als Auftraggeberin ist sie über alle Kritik erhaben: wie die Gottheit im Mythos, wie der Auftraggeber im Märchen. Hier tritt eine grundsätzliche Ambivalenz in Durkheims Aktantenmodell in zutage. Der Subjekt-Aktant „Individuum“, der seiner Auftraggeberin alles verdankt, läuft Gefahr, von ihr überwältigt zu werden, mit ihr als sozialer Wirklichkeit zu verschmelzen und seine Autonomie zu verlieren (Dissens ist nicht vorgesehen). P. Q. Hirst fasst das Problem in wenigen Worten zusammen, die nicht nur für Durkheim, sondern auch für Hegels Geschichts- und Staatsphilosophie gelten: „The real becomes the rational.“ 141 W. Watts Miller meint das Gleiche, wenn er Durkheims ethisches Prinzip in der Maxime zusammenfasst: „The real and its rationale are the good.“ 142 Damit kehrt die Reise durch die Soziologie zu ihrem Ausganspunkt zurück: zu Marxʼ Kritik an Hegels Rechtfertigung des kapitalistischen Staates. Diese Kritik wird hier im neuen Kontext zu einer radikalen Kritik an Durkheim und seinem Gesellschaftsbegriff. 8. Die Kritiken des Marxismus und der Kritischen Theorie: Durkheims Replik Wie Hegel und Comte vor ihm gibt sich Durkheim der ideologischen Illusion hin, die Wirklichkeit als solche objektiv wiedergeben zu können (vgl. die Einleitung zu diesem Kapitel). So heißt es etwa in den Regeln der soziologischen Methode: „Ferner ist unsere Methode objektiv.“ 143 Der Versuch, Gesellschaft „an sich“ zu erfassen, wird in den Schriften zur Soziologie der Erkenntnis bekräftigt: „Vor allem die Sozialwissenschaft bringt zum Ausdruck, was die Gesellschaft an sich ist, und nicht, was sie in den Augen des Subjekts, das sie denkt, ist.“ 144 Der stets subjektive Konstruktionsvorgang, der dem Objekt „Gesellschaft“ als wissenschaftlicher Konstruktion vorausgeht, wird hier ausgeblendet. Überdies steht Durkheims Plädoyer für Objektivität in einem sonderbaren Kontrast zu seiner Weigerung im Vorwort zu seinem Werk über die Arbeitsteilung, „auf ihre [der Gesellschaft] Verbesserung [zu] verzich- 140 Ibid., S. 80. 141 P. Q. Hirst, Durkheim, Bernard and Epistemology, London-Boston, Routledge and Kegan Paul, 1975, S. 101. 142 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, op. cit., S. 256. 143 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 220. 144 E. Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1987), 1993, S. 144. <?page no="336"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 320 ten“. 145 Denn wenn jemand sich vornimmt, etwas zu verbessern, muss er es zuvor kritisch-normativ beurteilt haben. Durch sein kritisches Werturteil stellt er jedoch die Objektivität seiner Darstellung in Frage, weil er zur Kenntnis nehmen muss, dass andere die Wirklichkeit anders sehen, konstruieren und bewerten (im Rahmen anderer Relevanzkriterien und narrativer Strukturen). Er hat nun zwei Möglichkeiten: konkurrierende Konstruktionen der Wirklichkeit zu akzeptieren und auf „Objektivität“ zu verzichten oder Hegel zu folgen und alle Alternativen zu seinem Entwurf für falsch oder unzureichend zu halten. Durkheim scheint Hegel zu folgen. Damit setzt er sich über eine fundamentale Einsicht hinweg, die Semiotik und Kritische Theorie verbindet: die Einsicht, dass die Sozialwissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht allgemein gültige, interkulturell konsensfähige Konstruktionen hervorbringen, sondern Konstruktionen, die ideologisch oder kulturell geprägt und folglich partikular sind. Zum „Projekt“ der Sozialwissenschaften bemerkt Greimas: „Dieses kann, wie jedes menschliche Projekt, nur ideologisch sein: Wir haben diese Tatsache ausdrücklich akzeptiert, indem wir vorschlugen, der Stellung des Subjekts der wissenschaftlichen Rede eine aktantielle Struktur zu geben.“ 146 Kurzum, als partikulares und kontingentes (nur mögliches) Projekt kann keine sozialwissenschaftliche Theorie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Objektivität erheben. Ihre Aktantenmodelle sind nicht nur theoretische, sondern auch ideologische Konstruktionen. Selbstverständlich gilt dies auch für alle Varianten des Marxismus und der Kritischen Theorie. In den Sozialwissenschaften bietet sich daher der theoretische, interdiskursive Dialog als konkrete Möglichkeit an, die Schwächen und Stärken von Theorien zu testen. So erscheint aus marxistischer Sicht die Tatsache, dass Durkheim von „Gesellschaft“ allgemein spricht und sie in Anlehnung an die homogene Stammesgesellschaft 147 als integrierte und in jeder Hinsicht erhaltenswerte Einheit (als Auftraggeberin im Aktantemodell) auffasst, als zentrales Ideologem seiner Theorie. Dadurch macht er sich die herrschende Auffassung der Gesellschaft zu eigen, die zugleich die Auffassung der Herrschenden ist. „Die Gesellschaft wird bestimmt durch die Idee, die sie sich von sich selber macht“ 148 , erläutert Inge Hofmann diesen Sachverhalt. In seinen Kritiken an Hegel hat Marx diese Idee radikal in Frage gestellt, indem er den modernen Staat des 145 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 77. 146 A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976, S. 38. 147 Vgl. Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1976, S. 13. 148 I. Hofmann, Bürgerliches Denken. Zur Soziologie Emile Durkheims, Frankfurt, Athenäum, 1973, S. 58. <?page no="337"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 321 Industriezeitalters als Klassenstaat und Ausdruck des Klassenkonflikts dargestellt hat. Durkheim macht diese Kritik rückgängig, indem er die (kapitalistische) Wirtschaft zwar als Quelle sozialer Pathologien auffasst, nicht aber als Basis des Klassenantagonismus, der dadurch zustande kommt, dass die Bourgeoisie die Produktionsmittel besitzt, während das Proletariat als besitzlose Klasse gezwungen ist, seine Arbeit zu vermarkten. Zu Recht bemerkt Inge Hofmann: „Der gesellschaftliche Arbeitsprozeß fällt aus der Gesellschaft heraus. Die so von der Ökonomie losgelöste Gesellschaft erzeugt den Schein, als seien die Moral und deren genetischer Kern, die Religion, das Substrat der Gesellschaft.“ 149 Nicht nur der Arbeitsprozess wird ausgeblendet, sondern auch die eigentliche Ursache sozialer Pathologien (vor allem der Anomie): die Vermittlung durch den Tauschwert. Sie bewirkt, dass durch die marktbedingte Arbeitsteilung der Arbeiter von seiner Tätigkeit entfremdet und sein Arbeitsprodukt als Ware auf dem Markt verdinglicht wird. Der Arbeiter wird als Arbeitskraft selbst zur Ware, zum Tauschobjekt, das der Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage preisgegeben ist. Wenn diese Einschätzung der kapitalistischen Verhältnisse zutrifft, dann erscheint Durkheims Vorschlag, Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Übereinstimmung mit Comte in „Berufsgruppen“ oder „Korporationen“ zu solidarisieren, bestenfalls als ideologischer Versuch, den Klassenkonflikt zugunsten des Status quo zu entschärfen. Tatsächlich heißt es in einer von Durkheims Vorlesungen über die „Berufsmoral“ zum Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: „Selbstverständlich müssen beide in der Versammlung vertreten sein, die über das allgemeine Leben der Berufsorganisation zu befinden hat.“ 150 Hier wird im Rahmen einer Solidaritäts- und Konsensideologie versucht, die „Gesellschaft“ als Auftraggeberin und oberste Autorität in ihrer bürgerlichen Form zu rechtfertigen. Dieser Rechtfertigungswille ist es, der zumindest teilweise Adornos kritisch-polemischen (leider auch stark verzerrenden) 151 Kommentar zu Durkheims Schrift Soziologie und Philosophie erklärt. Beanstandet wird in diesem Kommentar vor allem die Dominanz des Kollektivs: „Willentlich läßt er sich von der einen Seite des Sozialen, der kollektiven, so sehr 149 Ibid., S. 61. 150 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., 61. 151 Adorno scheint in seiner „Einleitung“ zu Durkheims Soziologie und Philosophie, op. cit., S. 15 die „mechanische“ mit der „organischen Solidarität“ zu verwechseln: „Nachdem er [Durkheim] der Unmöglichkeit der von ihm so genannten „organischen Solidarität“ in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Epoche innegeworden war (…).“ (In dieser Passage müsste „organische Solidarität“ durch „mechanische Solidarität“ ersetzt werden.) <?page no="338"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 322 imponieren, daß er die andere, individuelle, als ihrerseits soziale aus dem Blickfeld verliert (…).“ 152 Diese Kritik an der Vorherrschaft des Kollektiven in Durkheims Diskurs geht folgerichtig in eine Kritik an dem in seinem Werk impliziten Konformismus über: „Suspekt ist ihm, nach einem dann in Amerika allgegenwärtigen Schema, das nicht hinlänglich Angepaßte, nie Anpassung selber.“ 153 Wo die Gesellschaft als real existierende soziale Ordnung zur Auftraggeberin des Diskurses wird, ist Konformismus kaum zu vermeiden, weil er in der Struktur des Diskurses als Erzählung angelegt ist. An der folgenden Passage über die Rolle der „öffentlichen Meinung“ in Soziologie und Philosophie mag sich Adornos Polemik entzündet haben: „Denn die öffentliche Meinung besitzt dank ihren Ursprüngen eine moralische Autorität, kraft derer sie sich den Einzelnen aufzwingt. Sie leistet den Bemühungen Widerstand, die ihr Gewalt antun möchten; sie reagiert auf die Dissidenten, so wie die Außenwelt empfindlich auf jene reagiert, die sich gegen sie aufzulehnen suchen. Sie tadelt jene, die über moralische Dinge anders als nach den von ihr vorgeschriebenen Prinzipien urteilen; sie macht jene lächerlich, die sich von einer anderen Ästhetik leiten lassen als der ihren.“ 154 Was hätten wohl die Dissidenten Mallarmé und Valéry als unversöhnliche Kritiker der Öffentlichkeit und ihrer „Meinung“ zu dieser Passage gesagt? Die Dissidenten in der DDR und der Sowjetunion hätten diese Zeilen wahrscheinlich an die Invektiven ihrer Regierungen erinnert, die immer wieder die (freilich manipulierte) „öffentliche Meinung“ gegen den kritischen Geist mobilisierten, wenn jemand es wagte, genuin kritische Literatur oder Wissenschaft zu veröffentlichen. Die „moralische Autorität“ muss nicht in der Gesellschaft verwurzelt sein; sie kann auch vom isolierten Einzelnen ausgehen, der sich als vernunftbegabtes Wesen gegen eine falsche Ordnung auflehnt - oder gegen kommerzialisierte Medien (z.B. die „Murdoch press“ in Großbritannien), die versuchen, mit nationalistischen Slogans oder Sensationsnachrichten ihre Absatzzahlen zu steigern. Durkheim, der Individualist, der Kritiker der öffentlichen Meinung, der während der Dreyfus-Affäre, in der es um die ungerechte Verurteilung des unschuldigen jüdischen Offiziers Dreyfus ging, unerschrocken Partei für Dreyfus ergriff (zugleich mit Zola), hätte auch etwas anderes zur „öffentlichen Meinung“ schreiben können. Denn das Aktantenmodell seines Diskurses zeigt, dass es ihm primär darum ging, das Individuum durch Einbettung in den sozialen Kontext zu stärken. Außerdem könnte er geltend 152 Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, op., cit., S. 18. 153 Ibid., S. 26. 154 E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, op. cit., S. 141-142. <?page no="339"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 323 machen, dass er, der immer wieder die Pathologien moderner Gesellschaften kritisiert, auf individuelle Kritik keineswegs verzichten will. In diesem Sinne verteidigt Lothar Peter Durkheim gegen Adornos „teilweise obsessive Polemik“ 155 , wenn er völlig richtig Durkheims Kernfrage zusammenfasst: „(…) wie eine moderne Gesellschaft beschaffen sein muss, um der Entwicklung des Individuums und seinen Ansprüchen auf Menschenwürde, Vernunft und Autonomie eine angemessene soziale Form zu geben“. 156 Durkheims konformistische Bemerkungen zur „öffentlichen Meinung“ lassen indessen Zweifel an der Möglichkeit einer adäquaten Beantwortung dieser Frage im Rahmen seines Werks aufkommen, das zwischen Kollektivismus und Individualismus oszilliert und nicht umstandslos auf einen der beiden Pole festgelegt werden kann. Seine Replik auf die marxistische Kritik, die von einer antirevolutionären, von Comte geerbten Gesinnung zeugt, kann in einem Satz zusammengefasst werden: Die Wirtschaft wirkt sich zweifellos zerstörerisch aus, aber man muss die aus ihr hervorgehenden Antagonismen zwischen den Klassen nicht zum Anlass nehmen, um das Bestehende pauschal zu negieren, sondern kann dieses Bestehende mit sozialen und moralischen Mitteln verbessern. Hier nimmt der Gegensatz zwischen Marxʼ revolutionärem Sozialismus und dem reformistisch-revisionistischen Sozialismus eines Jean Jaurès, mit dem Durkheim befreundet war und den er nachhaltig beeinflusst hat, klare Konturen an. In einer Rede stellt Jaurès fest, dass seine Anhänger den Mut hatten zu proklamieren, „dass es zwischen den Klassen trotz ihres Antagonismus eine bestimmte Solidarität gibt“. 157 Abermals tritt hier die Bedeutung der Relevanzkriterien in den Vordergrund: Was ist entscheidend, der Antagonismus oder die Solidarität? Die Entscheidung im Bereich der Relevanz legt die Richtung des Diskurses als Erzählung fest. In Le Socialisme, einem Buch, in dem sich Durkheim vorwiegend mit dem Sozialismus-Gedanken bei Saint-Simon befasst, heißt es von der Gesellschaft: „Was sie beherrscht, ist nicht der Zustand unserer Wirtschaft, sondern der Zustand unserer Moralität.“ 158 Auch hier wird das Relevanzproblem angesprochen und ganz anders gelöst als bei Marx. Ergänzend dazu könnte der folgende Satz als versteckte Polemik gegen Marx und die Marxisten gelesen werden: „Es geht nicht darum, die bestehende Gesellschaft durch eine ganz neue zu ersetzen, sondern die bestehende den 155 L. Peter, „Dialektik der Gesellschaft versus ‚Conscience collective‘? Zur Kritik Theodor W. Adornos an Emile Durkheim“, in: T. Bogusz, H. Deliz (Hrsg.), Emile Durkheim, op. cit., S. 73. 156 Ibid., S. 80. 157 J. Jaurès, L’Esprit du socialisme, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 86. 158 E. Durkheim, Le Socialisme, Paris, PUF (1928), 2011 (2. Aufl.), S. 230. <?page no="340"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 324 neuen Bedingungen des sozialen Daseins anzupassen.“ 159 Gegen die Kollektivierung der Produktionsmittel in einer neuen Gesellschaft wendet Durkheim ein: „Es gäbe immer noch einen ökonomischen Apparat und die verschiedenen Akteure, die zu seinem Funktionieren beitragen. So müsste man denn auch die Rechte und Pflichten dieser verschiedenen Akteure festlegen (…).“ 160 Damit ist die Problemlösung wieder an die moralische Instanz verwiesen. Die Erfahrungen des „realen Sozialismus“ - etwa in Jugoslawien - haben gezeigt, dass Durkheim mit seinen Einwänden gar nicht so Unrecht hat, weil die Kollektivierung der Produktionsmittel weder Korruption noch Verschwendung verhindert hat. Davon zeugt unter anderem die verheerende Pleite des bosnischen Großunternehmens Agrokomerc kurz vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens (weitere Beispiele aus der Sowjetunion und anderen Ländern des ehemaligen COMECON könnten hinzugefügt werden). Es soll hier nicht entschieden werden, ob sich der Kapitalismus auf eine wirtschaftliche, soziale oder ökologische Katastrophe zubewegt oder ob er reformierbar ist. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass „Berufsgruppen“ im Sinne von Durkheim oder moralische Reformversuche anderer Art ihn qualitativ verändern würden. Hier ging es vor allem darum, in großen Zügen zu zeigen, dass die Auseinandersetzung zwischen Marx und Durkheim fruchtbar ist und dass beide Denker noch aktuell sind: der eine als Gesellschaftskritiker, der andere als Entdecker der sozialen Tatsache und als Begründer der Soziologie mit ihrem Sinn für das spezifisch Soziale. Zusammenfassung und Ausblick: Durkheims Soziologie geht aus einem teils affirmativen, teils kritischen Dialog mit Herbert Spencer hervor. Durkheim fasst wie Spencer die gesellschaftliche Entwicklung als Differenzierungsprozess auf, lehnt aber Spencers liberal-individualistisches (ideologisches) Engagement ab. Dieses Engagement bewirkt, dass in Spencers Soziologie das Individuum als Grundeinheit der Gesellschaft aufgefasst und alles als schimärenhaft verabschiedet wird, was über diese Minimaleinheit hinausweist. Im Gegensatz dazu meint Durkheim, dass die Interaktion von Individuen in Gruppen und Institutionen ein Kollektivbewusstsein als soziales Faktum (fait social) entstehen lässt, das nicht auf das Bewusstsein des Einzelnen (seine Psyche) reduziert werden kann. Es stellt eine Tatsache sui generis dar. Soziale Werte, Normen, Riten und Klassifikationen, die auch Durkheims Mitarbeiter Paul Fauconnet und Marcel Mauss untersuchen, gehen aus dem Kollektiv- oder Gruppenbewusstsein hervor. Durkheim zeigt zwar, 159 Ibid. 160 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 49. <?page no="341"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 325 wie moderne individuelle Freiheit aus dem Zerfall der mechanischen Solidarität archaischer Stämme und mittelalterlicher Gemeinschaften hervorgeht, versucht aber zugleich, diese Freiheit in die Solidarität des Einzelnen mit dem Kollektiv und der Gesellschaft einzubetten. Diese Einbettung erscheint ihm umso dringlicher, als die organische oder funktionale Solidarität, die aus der demographisch und wirtschaftlich bedingten Arbeitsteilung hervorgeht, soziale Solidarität im eigentlichen Sinne schwächt und wesentlich zum Anwachsen sozialer Pathologien wie Egoismus, Anomie und Selbstmord beiträgt. Um den sozialen Zusammenhalt zu konsolidieren, plädiert Durkheim für die Stärkung von Berufsgruppen (Korporationen). In seinem Aktantenmodell stellt er schließlich die „Gesellschaft“ als Auftraggeberin des Individuums (des Subjekt-Aktanten) der Gegenauftraggeberin „Wirtschaft“ gegenüber, die soziale Pathologien zeitigt. Diese Konstruktion hat eine Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv zur Folge und bedeutet, dass Autonomie und Kritik des Einzelnen zumindest tendenziell dem konformistischen Einverständnis mit der herrschenden Norm geopfert werden. Dieses Streben nach Konsens und sozialer Solidarität bewirkt zugleich, dass der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit nicht wahrgenommen oder bagatellisiert wird. Dagegen richtet sich marxistische Kritik. Im nächsten Kapitel wird die Soziologie von Ferdinand Tönnies kommentiert, weil Tönnies wie Durkheim den Zerfall gemeinschaftlicher Solidarität und die Entstehung einer arbeitsteiligen Gesellschaft beschreibt, in der Marktgesetz, Konkurrenz und Egoismus herrschen. <?page no="343"?> 327 X. Gemeinschaft und Gesellschaft, Wesenwille und Kürwille: Ferdinand Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne als Replik auf Spencer, Durkheim und Marx Inhaltsverzeichnis 1. Tönnies Antworten auf Spencer und Durkheim 2. Gemeinschaft und Gesellschaft - Ideologie und Theorie 3. Verfall und Aufbruch: Ambivalenz 4. Wesenwille und Kürwille: Tönnies Erzählung als Aktantenmodell 5. Naturzustand, Gesellschaft und Staat: Tönnies zwischen Hobbes und Marx 6. Kommunitarismus: Von Tönnies zu Amitai Etzioni (Epilog) Wie Durkheim und seine Mitarbeiter gehört auch Ferdinand Tönnies (1855-1936) der spätmodernen Problematik 1 an, aus der die Soziologie als Wissenschaft hervorging, indem sie begann, sich gegen die Philosophie abzugrenzen, ohne jedoch die philosophische Reflexion aufzugeben. Wie Durkheims Werk zeugen Tönnies Schriften von der Krise der Spätmo derne, einer Ära, die in ganz Europa von Revolutionen (1848, 1917, 1918), Wirtschaftskrisen (der 1880er Jahre) und politischen Unruhen aller Art geprägt war. Tönnies selbst spricht von der „sozialen Frage“ und der „großen Kulturkrise“. 2 Beide Probleme haben ihn bewogen, sich um 1878 mit dem „bewunderungswürdigen Karl Marx’schen Werk“ 3 auseinanderzusetzen. Mit Durkheim und Pareto verbindet ihn eine tiefe Skepsis den modernen „Metaerzählungen“ von Marx, Comte und Spencer gegenüber. Auch seine Werke zeigen, dass diese Skepsis nicht erst (wie Lyotard meint: vgl. Einleitung zu Teil II) in der Postmoderne aufkommt, sondern sich schon bei spätmodernen Soziologen, Philosophen und Schriftstellern (etwa bei Nietzsche, Musil und Camus) bemerkbar macht. Denn auch Tönnies verzichtet auf utopische Entwürfe, die das Denken von Marx, Comte und Spencer prägen. Obwohl seine Soziologie nachhaltig von Marx beeinflusst 1 Auch in diesem Fall wird davon ausgegangen, dass Frühmoderne, Moderne und Spätmoderne nicht einfach Epochen, Ideologien oder Weltanschauungen sind, sondern Problematiken: Konstellationen von Problemen, auf die verschiedene individuelle oder kollektive Sprachen unterschiedlich reagieren, indem sie - oft unvereinbare - Lösungen vorschlagen. Vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Lite ratur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), Kap. I. 2 F. Tönnies in: E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Stuttgart, Enke, 1971, S. 89. 3 Ibid. <?page no="344"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 328 wurde (vgl. Abschn. 2 und 5), ist der Autor von Gemeinschaft und Gesellschaft weit davon entfernt, seinen Diskurs auf das Telos einer „klassenlosen Gesellschaft“ auszurichten. Die spätmoderne Skepsis, die aus einer kritischen Selbstreflexion der Moderne durch die Soziologen der Jahrhundertwende hervorgeht, ist auch für das Misstrauen verantwortlich, mit dem Autoren wie Tönnies oder Simmel (vgl. Kap. XI) den von Comte so euphorisch kommentierten Fortschritt betrachten. Heinz-Jürgen Dahme spricht in einem Kommentar zu den Soziologien von Simmel, Tönnies und Max Weber vom „Fortschritt als der Leitidee des 19. Jahrhunderts“ 4 und davon, dass der Fortschrittsglaube „die Soziologie als Fortschrittswissenschaft par excellence entstehen“ 5 ließ. Zugleich zeigt er, „wie der Fortschrittsbegriff der ‚älteren‘ Soziologie bei den modernen Klassikern in Mißkredit gekommen ist und wie man den neuzeitlichen Geschichtsprozeß soziologisch neu zu deuten versuchte“. 6 Er fügt hinzu: „Mit der neu-soziologischen Sichtweise der gesellschaftlichen Realität wurde auch endgültig der Fortschrittsbegriff von der Soziologie abgekoppelt.“ 7 Die Tatsache, dass hier von einer neuen Sichtweise die Rede ist und dass die „neuen Soziologen“ (etwa Tönnies und Simmel) mittlerweile zu „Klassikern“ avanciert sind, bedeutet nicht, dass sie als Kritiker der Fortschrittsideologie selbst nichts erzählen oder gar „objektive“, werturteilsfreie Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung vorlegen. Weit davon entfernt, objektiv zu sein, beinhaltet die Kritik des Fortschrittsgedankens - teils fundierte - Werturteile. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass sich jemand weiterhin oder von neuem für diesen Gedanken stark macht, indem er beispielsweise zu zeigen versucht, dass fortschreitende Technik die Lösung aller Probleme (etwa der ökologischen oder gesundheitlichen) ermöglichen wird. Selbst wenn man solche Visionen für naiv hält, muss man zugeben, dass sie mitsamt ihren Werturteilen möglich sind und als Gegenentwürfe zu den spätmodernen Soziologien in Frage kommen, sofern sie wissenschaftlich gestützt werden. Selbst wenn man Tönniesʼ und Simmels Fortschrittsskepsis teilt (und das ist hier der Fall), wird man sie nicht für „objektiv“ halten: denn auch sie ist nur eine mögliche Konstruktion, die stets mit Gegenentwürfen konfrontiert werden sollte. 4 H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 222. 5 Ibid., S. 223. 6 Ibid., S. 249. 7 Ibid., S. 249. <?page no="345"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 329 Sowohl bei Tönnies als auch bei Simmel nimmt diese Konstruktion die Form einer Erzählung an, die mit anderen möglichen Erzählungen kritischwertend konkurriert. In Geist der Neuzeit fasst Tönnies wesentliche Aspekte seiner Erzählung zusammen: „Dies ist der große in jeder einzelnen Kulturentwicklung fortwährend, wenn auch gegen starke Widerstände und nicht ohne rückläufige Bewegungen sich steigernde Vorgang ‚von Gemeinschaft zu Gesellschaft‘, der am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt.“ 8 Dieser Diskurs über die gesellschaftliche Entwicklung, dessen narrative Kernsequenz mit dem Ausdruck von der Gemeinschaft zur Gesellschaft zusammengefasst werden könnte, konkurriert dialogisch-polemisch (im Sinne von Bachtin) mit anderen Diskursen, die er teils aufnimmt, teils ablehnt. Er überschneidet sich u.a. mit der von Tönnies immer wieder zitierten Marxschen Erzählung, die er jedoch durch die Setzung neuer Relevanzkriterien relativiert und umgestaltet. Nicht der Gegensatz Arbeit / Kapital erscheint dem Beobachter Tönnies als Grundstruktur, sondern der Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft, in dem sich der Begriff „Gemeinschaft“ durchaus mit Marxʼ Begriff „Arbeit“ überschneidet - wie sich zeigen wird. Weder Marxʼ noch Tönniesʼ Diskurs kann als „objektiv“ bezeichnet werden, weil beide Diskurse nur mögliche und keineswegs „ideologie“- oder „wertungsfreie“ Konstruktionen der Wirklichkeit sind. Trotz seiner oft impliziten Bewertungen der Gesellschaftsentwicklung ist Tönnies - ähnlich wie Durkheim - bemüht, durch einen Verzicht auf Werturteile eine „objektive“ Darstellung der sozialen Welt zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ plädiert er dafür, „das Gebiet der Soziologie außerhalb solcher Streitfragen zu setzen und abzugrenzen, es auf die so viel leichter lösbaren Aufgaben objektiver Erkenntnis der Tatsachen einzuschränken“. 9 Aber was kann in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation als „objektiv“ bezeichnet werden, in der die Objekte „Differenzierung“ und „Arbeitsteilung“ von Marx, Spencer, Durkheim und Tönnies auf ganz verschiedene Arten konstruiert und bewertet werden? Mehr noch: Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Soziologen erzählend konstruieren, weichen aus ideologischen Gründen stark voneinander ab, weil sie von z.T. unvereinbaren Relevanzkriterien (semantischen Gegensätzen) ausgehen, die die Diskurse verschiedene Richtungen einschlagen lassen. 8 F. Tönnies, Geist der Neuzeit (Hrsg. R. Fechner), Materialien der Ferdinand-Tönnies Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2010, S. 32-33. 9 F. Tönnies, „Wege und Ziele der Soziologie“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft (Hrsg. K. Lichtblau), Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 190. <?page no="346"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 330 Im theoretischen Dialog werden jedoch Übereinstimmungen sichtbar, die in allen Kapiteln dieses Buches und in der „Schlussbetrachtung“ kommentiert werden. Sie zeigen, dass der Dissens nicht der Weisheit letzter Schluss ist, weil sich in ihm selbst auch Konsens herauskristallisiert, der sogar in fortschrittsskeptischer Zeit von Erkenntnisfortschritt zeugt. Tönniesʼ Kritik an Spencer und Durkheim verdeutlicht, was gemeint ist: Wie Durkheims Diskurs, der aus der Kritik an Spencer hervorgeht (vgl. Kap. IX), geht auch Tönniesʼ Diskurs aus Dialog und Kritik hervor - und was durch Kritik entsteht, kann nicht objektiv oder frei von Werturteilen sein: denn Kritik enthält stets Wertung. 1. Tönnies ʼ Antworten auf Spencer und Durkheim Es ist, als wollte Tönnies an die hier vorgebrachten Argumente anschließen, wenn er in seiner kurzen Schrift „Mein Verhältnis zur Soziologie“ bemerkt: „Die wissenschaftliche Erörterung ist immer Disputation gewesen, und immer ist der Streit und Widerspruch auch hier der Vater des Fortschritts gewesen.“ 10 An diese Art von Fortschritt mag Tönnies gedacht haben, wenn er in einem längeren Kommentar zu Herbert Spencer programmatisch feststellt: „Wir müssen ihn anerkennen, festhalten, und wenn wir können, verbessern.“ 11 Worin bestehen nun Tönniesʼ Verbesserungsvorschläge, in welche Richtung gehen sie? Man versteht sie besser, wenn man einen Blick auf seinen Lebenslauf wirft. Als eines von sieben Kindern wuchs Tönnies in einer schleswig-holsteinischen Landgemeinde (Riep bei Oldenswort) auf und zog erst als zehnjähriger mit seiner Familie in die Kleinstadt Husum, wo er mit sechzehn Jahren die Reifeprüfung bestand. Seine Sozialisation in einer Großfamilie, in einer Dorfgemeinde und in einem kleinstädtischen Milieu ließ ihn die Vorzüge der Gemeinschaft erleben und prägte schließlich sein wissenschaftliches Denken, in dem die Gemeinschaft mit unverkennbar positiven Konnotationen ausgestattet wird, während die großstädtische Gesellschaft häufig, aber nicht immer als Gefahr erscheint. (Gemeinschaft wird hier provisorisch im Hinblick auf die von Tönnies genannten drei Aspekte definiert, deren gemeinsamer Nenner „Ähnlichkeit“ ist: „Gemeinschaft des Blutes“ - in der Familie - „Gemeinschaft des Ortes“ - etwa in der Dorfgemeinschaft - und 10 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: F. Tönnies, Gesamtausgabe, Bd. XXII, 1932-1936. Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen (Hrsg. L. Clausen), Berlin-New York, de Gruyter, 1998, S. 345. (Die beiden Gesamtausgaben - von de Gruyter in Berlin und von Profil in Wien - sind leider noch nicht vollständig.) 11 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: F. Tönnies, Soziologische Schriften, Bd. XIII (1889-1905) (Hrsg. R. Fechner), Materialien der Ferdinand-Tönnies Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2008, S. 8. <?page no="347"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 331 „Gemeinschaft des Geistes“ - etwa unter Freunden. Komplementär dazu erscheint Gesellschaft bei Tönnies als ein von Marktgesetz und Eigennutz geprägtes Gegeneinander konkurrierender Individuen, deren Verbindungen vertragsrechtlich geregelt werden.) 12 Vor diesem Hintergrund nimmt seine Kritik an Spencers liberalem Individualismus konkrete Konturen an. Dem liberalen Spencer, der jede Art von politischer, religiöser oder patriotischer Parteilichkeit als bias ablehnt, wirft Tönnies vor, dass er sich des eigenen ideologischen bias, d.h. der Auswirkungen seines Liberalismus auf seine Theorie, nicht bewusst war: „Man könnte wohl sagen, dass er von dem patriotischen Vorurtheile nicht frei geblieben, dem free-trade-bias unterlegen sei.“ 13 Hier zeigt sich abermals, dass häufig die Ideologie der Anderen wahrgenommen wird, nicht jedoch die eigene. Wie wirkt sich diese Ideologie auf die Theorie aus? Es ist erstaunlich, wie sehr sich Tönniesʼ Kritik an Spencers Theoriebildung mit der Durkheims überschneidet. 14 Wie Durkheim vertritt Tönnies als Soziologe der festgefügten Gemeinschaft die Ansicht, dass sich soziale Gebilde wie Gruppen, Organisationen oder Institutionen zwar aus Individuen zusammensetzen, aber wesentlich mehr sind als die Summe der sie konstituierenden Teile. Er zitiert Spencers Bemerkung, „man könnte sagen, Gesellschaft sei nur ein Collectiv-Name für eine Anzahl von Individuen“ 15 , und antwortet: „Hingegen ein lebendiges Ganze bedingt das Leben seiner Theile.“ 16 Diese Auffassung entspricht weitgehend der Durkheims und seiner Weggefährten, die in allen ihren Werken die Eigengesetzlichkeiten des kollektiven Denkens und Handelns hervorheben, die dem Agieren von Einzelpersonen (häufig als Zwänge) vorgegeben sind. Diese Eigengesetzlichkeiten, die in verschiedenen kollektiven Gebilden - Stämmen, Dorfgemeinden, Städten - vorherrschen, übersieht Spencer und zusammen mit ihnen das Spezifische dieser Gebilde. Für dieses Spezifische, das die vergleichende Methode (von Montesquieu bis Durkheim: vgl. Kap. IX. 3) kontrastiv zutage treten lässt, sollte sich aber der Soziologe, dem Anthropologen oder Ethnologen folgend, besonders interessieren. 12 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2017, S. 32. 13 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 35. 14 Vgl. F. Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken (Dritte Sammlung), Jena, Verlag Gustav Fischer, 1929, S. 216-217: „Die ganze Soziologie Durkheims ist eine Modifikation der Spencerschen; in der Art, wie diese kritisiert wird, wie auch in mehreren anderen Ausführungen, finde ich manche Gedanken, mit denen ich übereinstimme.“ 15 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 26. 16 Ibid. <?page no="348"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 332 Daher kommt Tönnies zu dem Schluss: „Eigentliche ethnologische Forschung ist seinem [Spencers] Werke trotz des überreichen ethnographischen Materials darin fremd geblieben (…).“ 17 In diesem Kontext, in dem es vor allem um das Überindividuelle, das spe zifisch Soziale geht, beanstandet Tönnies auch Spencers liberal-individualistische Auffassung des Staates, dessen Rolle Spencer auf eine Minimalfunktion (Außenpolitik, Verteidigung, Rechtssicherheit) reduzieren möchte. Tönnies wendet sich vor allem gegen einen Freiheitsbegriff im individualistischen Sinne sowie gegen die auf dem Markt herrschende negative Freiheit von Zwängen, die die positive Freiheit im Sinne einer sozialen Selbstverwirklichung vergessen lässt: „(…) In einer besonderen Schrift ‚The man versus the state‘ ist Sp. mit Leidenschaft für unbedingte Freiheit und Handelsfreiheit gegen die auch in England zunehmenden Tendenzen des sog. Staats-Socialismus aufgetreten, oder wie er nicht selten sich ausdrückt, für das Princip des Contracts wider das Princip des Status, für Naturrecht wider positives Recht.“ 18 Es wird sich zeigen, dass Tönnies im Gegensatz zu Spencer eine Marktgesellschaft kritisch betrachtet, deren Konkurrenzprinzip jederzeit in Egoismus und Feindseligkeit ausarten kann. Auch das Vertragsrecht („Princip des Contracts“), das die Konkurrenz ermöglicht, betrachtet er mit Misstrauen. Ausgehend von der Gemeinschaft und den in ihr vorherrschenden Beziehungen, fasst er eine soziale und demokratische Rolle des Staates ins Auge, die er allerdings nicht eindeutig definiert (vgl. Abschn. 3 und 5). Wie Comte und Durkheim lehnt er jedoch einen Staat ab, der Wirtschaft und Gesellschaft sich selbst überlässt und lediglich für innere und äußere Si cherheit sorgt. Angesichts der frappierenden Übereinstimmungen mit Durkheim stellt sich nun die Frage, in welcher Hinsicht er von dem französischen Soziologen abweicht. Zwischen Durkheim und Tönnies hat eine Art Dialog stattgefunden, in dem sich ein weitreichender Konsens herauskristallisiert, was Tönnies Begriff der Gemeinschaft angeht. 19 Zu diesem Begriff bemerkt Durkheim, der auch davon ausgeht, dass die Familie als Blutsverwandtschaft die ur- 17 Ibid., S. 20-21. 18 Ibid., S. 34. 19 Vgl. F. Farrugia, Sociologies. Histoires et théories, Paris, CNRS Editions, 2012, S. 68-75 : „Point de vue de Durkheim ; réponse de Tönnies“. Farrugias Kommentar zeigt, dass in dieser rudimentären Debatte wesentliche Aspekte der beiden Theorien (Arbeitsteilung, Pathologien, Abhilfen) ausgespart wurden. Vgl. auch: C. Bickel, „Tönnies und Durkheim. Nähe und Distanz“, in: Tönnies Forum. Rundbrief der Ferdinand Tönnies Ge sellschaft 1, 2011, S. 35: „Durkheim äußert sich kritisch, aber durchaus wohlwollend über Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft. Tönnies reagiert darauf etwas missmutig und weist die ihm unterstellte Hypostasierung der Rolle des Staates für die Gesellschaft zurück.“ <?page no="349"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 333 sprüngliche Form der Gemeinschaft ist: „Wie er [Tönnies] gehe ich davon aus, dass die Gemeinschaft die Grundvoraussetzung ist und Gesellschaft der abgeleitete Zweck. Insgesamt akzeptiere ich in großen Zügen die von ihm durchgeführte Analyse und Beschreibung der Gemeinschaft.“ 20 (Kursivsetzung der dt. Wörter im frz. Original.) Allerding vermag Durkheim nicht zu verstehen, wie Tönnies annehmen kann, dass die Reste der Gemeinschaft in der Gesellschaft nicht aus einem spontanen Überleben gemeinschaftlicher Beziehungen, sondern aus rein „äußeren“ Interventionen des Staates 21 erklärt werden. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Missverständnis, denn Tönnies antwortet: „Dies ist sogar ein starkes Mißverständnis: das Dasein des Staates ist für mich nur eine Folge der spontanen Bewegung der Gesellschaft (…).“ 22 Dies bedeutet zugleich, dass die gemeinschaftlichen Komponenten der Gesellschaft sich als Traditionen spontan erhalten - und, wie Tönnies meint, auf verschiedene Arten gestärkt werden können (vgl. Abschn. 2, 3 und 5). Das Problem, das eine jede Diskussion zwischen Durkheim und Tönnies in Gefahr bringt, ist die eigenwillige Terminologie beider Autoren. Während Durkheim, wie sich gezeigt hat, gemeinschaftliche, auf Ähnlichkeit gründende Beziehungen als „mechanisch“ im Sinne der mechanischen Solidarität bezeichnet, funktionale, durch Arbeitsteilung bedingte Abhängigkeiten hingegen als „organisch“ (vgl. Kap. IX. 5), betrachtet Tönnies gerade die Gemeinschaft, die auf Ähnlichkeiten gründet, als „organisch“, die von Marktgesetzen dominierte Gesellschaft dagegen als „mechanisch“: „Das Verhältnis selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bindung - dies ist der Begriff der Gesellschaft.“ 23 In Diskussionen über Tönnies und Durkheim kommt es wegen dieser lexikalisch ähnlichen, aber begrifflich heterogenen Terminologien zu Verwechslungen und Missverständnissen. 24 20 E. Durkheim, „Communauté et société selon Tönnies“ (1889), in: ders., Eléments d’une théorie sociale (Textes), Paris, Minuit, 1975, S. 389. 21 Tönniesʼ Ausführungen über die Demokratie zeigen, dass er den Staat aus der (demokratischen) Gesellschaft hervorgehen lässt - und nicht umgekehrt: „Es ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie, die Entwicklung des modernen Staates zu vollenden.“ (F. Tönnies, „Über die Demokratie“, in: Schriften zur Staatswissenschaft [Hrsg. R. Fechner], Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2010, S. 429.) 22 F. Tönnies, zitiert nach: E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 174-175. 23 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 19. 24 Zur Klärung der beiden Begriffe tragen auch die folgenden Sätze aus einem Artikel von Norbert Zander und Hermann Strasser bei: „Richtig ist nun, daß beide Autoren zwei Arten der Assoziation von Personen unterscheiden. Tönnies nennt sie Gemeinschaft <?page no="350"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 334 In der reichlich flüchtigen Diskussion zwischen den beiden Soziologen (Jacoby schreibt über Tönnies: „Seine Antwort besteht bloß aus ein paar hingeworfenen Bemerkungen“) 25 wurde allerdings das Wesentliche ausgespart: die Tatsache, dass Durkheim, wie sich gezeigt hat, Gesellschaft und Wirtschaft einander gegenüberstellt, während Tönnies, wie sich noch zeigen wird, Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander konfrontiert. Dabei fällt der „Gesellschaft“ die Rolle der Gegenauftraggeberin zu (vgl. Abschn. 3), und die Zielrichtung des Diskurses ändert sich radikal: Im Gegensatz zu Durkheim, der „Gesellschaft“ durchweg positiv konnotiert und ihre Pathologien auf die ökonomischen Interferenzen zurückführt, fasst Tönnies „Gesellschaft“ primär als ökonomisch-kapitalistisches Gebilde auf. Dabei stützt er sich auf Marx, ohne jedoch alle seine Thesen zu übernehmen. In Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht er sich auf die „meisterhafte Analyse von K. Marx“. 26 Am Ende des ersten Buches dieser Schrift heißt es vom „Marxschen System“, es habe „mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt“. 27 In Durkheims Werk wären solche Hinweise auf Marx undenkbar. Für Tönniesʼ Abweichung von Durkheim bedeutet dies, dass bei Tönnies die ökonomische Sinnebene wesentlich stärker ausgeprägt ist als beim französischen Soziologen und dass der für Marx relevante Grundgegensatz Arbeit / Kapital in Tönniesʼ Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft als untergeordneter oder abgeleiteter Gegensatz eingeht, wobei Marxʼ Diskurs - gleichsam metasprachlich - von Tönniesʼ Diskurs eingefasst und umgedeutet wird. Die Richtung des Diskurses als Erzählung ändert sich dadurch insofern, als nun nicht mehr wie bei Durkheim eine Konsolidierung oder Verbesserung der Gesellschaft anvisiert wird, sondern (auch) ihre Überwindung im Sinne der Gemeinschaft als vorherrschender Form. Anders als Tönnies hält Durkheim als Marx-Kritiker den Antagonismus von Arbeit und Kapital nicht für zentral, obwohl er ihn wie der Reformsozialist Jaurès (vgl. Kap. IX. 8) durchaus wahrnimmt. Hier wird deutlich, warum die beiden verwandten Diskurse und ihre Objektkonstruktionen voneinander abweichen: Aufgrund von unterschiedlichen Beobachtungen und Einschätzungen gehen sie von z.T. unvereinbaren Relevanzkriterien aus und peilen daher ähnliche, aber letztlich heterogene Ziele an (vgl. Abschn. 5). und Gesellschaft, Durkheim mechanische und organische Solidarität. Außerdem stimmt es, daß beide das erste Konzept als Urform ansehen und das zweite als sich formierend darstellen.“ (N. Zander, H. Strasser, „Formale Anmerkungen zu einem Vergleich von Durkheim und Tönnies“, in: L. Clausen et al. [Hrsg.], Tönnies heute. Zur Aktualität von Ferdinand Tönnies, Kiel, Mühlau Verlag, 1985, S. 171.) 25 E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 174. 26 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 98. 27 Ibid., S. 116. <?page no="351"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 335 2. Gemeinschaft und Gesellschaft - Ideologie und Theorie Die beiden von Tönnies eingeführten Schlüsselbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, die hier eingangs provisorisch und in aller Knappheit definiert wurden, sollen nun näher betrachtet werden. Vor allem der Begriff Gemeinschaft ist für ideologische Zwecke einsetzbar und wurde von der Neuromantik bis zum Nationalsozialismus - u.a. als „Volksgemeinschaft“ - instrumentalisiert. Tönnies hat sich stets gegen diese Art von Ideologisierung gewehrt. Zwei Jahre nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten - im Jahre 1935 - schreibt er im Vorwort zur achten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft, „daß ich schon in meiner ersten Vorrede nachdrücklich vor mißverständlichen Auslegungen und sich klug dünkenden Nutzanwendungen gewarnt habe“. 28 Es versteht sich fast von selbst, dass Tönnies, der nach 1933 nur Probleme mit den Nationalsozialisten hatte (er wurde gezwungen, seine Lehrtätigkeit an der Kieler Universität abzubrechen), kein Interesse an einer „völkischen“ Deutung seines Gemeinschaftsbegriffs haben konnte. Dieser Begriff lässt im Kontext von Tönniesʼ Werk eine Deutung dieser Art nicht zu. Dennoch hat Isabel Wenzler-Stöckel grundsätzlich Recht, wenn sie zu dem sich als „objektiv“ gebärdenden Diskurs von Tönnies bemerkt: „Unter dem Deckmantel vermeintlich objektiver Begrifflichkeit wird hier eine heimliche Wertung mittransportiert.“ 29 Worin besteht diese Wertung? Sie besteht zunächst darin, dass Tönniesʼ Diskurs - entgegen seinem Objektivitätsanspruch - die Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüber durch dualistisch geordnete positive und negative Konnotationen aufwertet. Sie besteht aus feministischer Sicht auch darin, dass dieser Diskurs die patriarchalen Strukturen der Gemeinschaft als natürlich darstellt (es gehört zu den Charakteristika aller ideologischen Diskurse, historisch veränderliche Erscheinungen, etwa den „Vater als Familienoberhaupt“, als natürlich aufzufassen): „Gemeinschaftliche Verhältnisse bleiben ihrer Struktur nach hierarchisch, emotional-abhängig und kriegerisch geordnet.“ 30 Die Autorin fügt hinzu: „Die Stärke der Väter und Söhne sichert die Gemeinschaft gegen Feindliches. Dem Vater wird gleichzeitig auch der Besitz des anderen Geschlechts (…) zugesprochen.“ 31 Während der Mann mit dem Rationalen der Gesellschaft, die Frau hingegen mit dem Affektiven der Gemeinschaft assoziiert wird, wird „das Weibliche als das Andere konzi- 28 Ibid., S. 10. 29 I. Wenzler-Stöckel, Spalten und Abwehren - Grundmuster der Gemeinschaftsentwürfe bei Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner, Frankfurt, Verlag Neue Wissenschaft, 1998, S. 34. 30 Ibid., S. 54. 31 Ibid. <?page no="352"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 336 piert“ 32 und, wie sich im siebenten Kapitel gezeigt hat, entsprechend abgewertet. Gegen diese ideologiekritische Lesart ist nichts einzuwenden; sie lässt allerdings nicht den Schluss zu, „Gemeinschaft“ sei „ein fragwürdiger Begriff“ 33 und bringe, wie der von der Autorin zitierte René König meint, „keinen soziologischen Erkenntnisgewinn“. 34 Das Gegenargument lautet: „Gemeinschaft“ als theoretischer Begriff ist nicht auf Gedeih und Verderb mit den von Tönnies in ihn projizierten positiven Konnotationen verbunden und bleibt auch jenseits der patriarchalen Ideologie erhalten. Im Folgenden sollen seine wesentlichen Aspekte analysiert werden. Als Fortsetzung der provisorischen Definition soll die Analyse zeigen, dass Distanzierung im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I. 6) möglich ist und dass sie einer Annäherung an Max Webers Wertfreiheitspostulat gleichkommt. Dies ändert allerdings nichts an der positiven Bewertung der „Gemeinschaft“ in Tönniesʼ Diskurs als semantisch-narrativer Einheit. Es wird sich schließlich zeigen, dass dieser Einheit eine Ambivalenz zugrunde liegt, die oft übersehen wird. Der Diskurs als ganzer ist nie wertfrei, obwohl der Untertitel von Tönniesʼ Buch Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1935: achte, stark geänderte Fassung der Erstauflage: 1887) 35 Neutralität suggeriert. Diese Neutralität wird spätestens dann in Frage gestellt, wenn die „reine Soziologie“, die sich darauf beschränkt „die sozialen Wesenheiten statisch, also im Zustande der Ruhe zu denken und zu beschreiben“ 36 in die „angewandte Soziologie“ übergeleitet wird, die „mit der Dynamik oder der Bewegung solcher Wesenheiten“ 37 zu tun hat und „immer Fühlung haben [wird] mit dem, was unter dem Namen Philosophie der Geschichte eine gewisse Geltung gewonnen hat“. 38 Aufgrund ihrer Normativität, die vor allem in der narrativen Anordnung zum Ausdruck kommt, kann diese Art von Philosophie, wie Hegels historisches System zeigt (vgl. Kap. IV. 1), nie Objektivität oder Wertfreiheit beanspruchen. Schon in Gemeinschaft und Gesellschaft werden die beiden Schlüsselbegriffe auf die gesellschaftliche Entwicklung angewandt und als Aktanten in eine kritisch-polemische (wertende) Erzählung eingefügt. Tönnies, der im letzten Kapitel seiner Einführung in die Soziologie die reine Soziologie von 32 Ibid., S. 69. 33 Ibid., S. 96. 34 R. König in: I. Wenzler-Stöckel, Spalten und Abwehren, op. cit., S. 62. 35 Die erste Auflage von Tönniesʼ Gemeinschaft und Gesellschaft erschien im Jahre 1887 mit dem Untertitel: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen (Leipzig, Fues’s Verlag). 36 F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, Stuttgart, Enke, 1965, S. 316. 37 Ibid. 38 Ibid., S. 317. <?page no="353"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 337 der angewandten und der empirischen unterscheidet, neigt dazu, diese drei Erkenntnisbereiche zu trennen, statt ihr Ineinandergreifen zu untersuchen. 39 Indessen zeigt eine Analyse des Schlüsselbegriffs Gemeinschaft, der bei ihm einen Idealtypus oder „ideellen Typus“ (Tönnies) im Sinne von Max Weber bezeichnet 40 , dass dieser Begriff sehr wohl einen „Erkenntnisgewinn“ ermöglicht, sofern seine wesentlichen Aspekte untersucht und auf neuere Forschungen bezogen werden. Wie bereits in der provisorischen Definition angedeutet, weist Tönniesʼ Auffassung der Gemeinschaft drei komplementäre Aspekte auf: Gemeinschaft des Blutes in der Familie, Gemeinschaft des Ortes (etwa in einem Dorf) und Gemeinschaft des Geistes (etwa als Freundschaft). Dazu heißt es gleich am Anfang von Gemeinschaft und Gesellschaft: „Denn die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne.“ 41 Somit unterscheidet Tönnies drei Arten der Gemeinschaft: Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft. Beispielhaft für die Verwandtschaft als Gemeinschaft des Blutes ist die Familie, die auch Durkheim für die Urgemeinschaft hält. Sie wird nicht nur biologisch, sondern auch räumlich definiert: „Verwandtschaft hat das Haus als ihre Stätte und gleichsam als ihren Leib (…).“ 42 Nachbarschaft wird am anschaulichsten durch die Dorfgemeinde versinnbildlicht: „Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch bloße Begrenzung der Äcker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung aneinander und vertraute Kenntnis von einander verursacht (…).“ 43 Hingegen kann Freundschaft unabhängig von räumlicher Nähe bestehen: „Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmütiger Arbeit und Denkungsart; daher durch Ähnlichkeit des Berufes und der Kunst am ehesten gegeben.“ 44 Sie kann sich auch in der Stadt entfalten, sofern regelmäßige Kontakte möglich sind. Es ist keineswegs so, dass Tönnies „Gemeinschaft“ mit dem Land (dem Dorf), „Gesellschaft“ hingegen mit der Stadt identifiziert. Denn auch das 39 Vgl. ibid., S. 315. 40 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 337. 41 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 32. 42 Ibid., S. 33. 43 Ibid. 44 Ibid., S. 34. <?page no="354"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 338 Stadtleben kann Gemeinschaften hervorbringen: „Innerhalb der Stadt aber treten, als ihre eigentümlichen Erzeugnisse oder Früchte, wiederum hervor: die Arbeits-Genossenschaft, Gilde oder Zunft; und die Kultgenossenschaft, Brüderschaft, die religiöse Gemeinde: diese zugleich der letzte und höchste Ausdruck, dessen die Idee der Gemeinschaft fähig ist.“ 45 Wie bei Durkheim spielt auch bei Tönnies die Religion eine entscheidende Rolle, weil sie für die Gemeinschaftsbildung und für die mit ihr einhergehende (mechanische) Solidarität wesentlich ist. Welche sind nun die wichtigsten Aspekte der Gemeinschaft im Sinne von Tönnies? Die weiter oben zitierten Passagen aus Gemeinschaft und Gesellschaft lassen erkennen, dass die in Durkheims mechanischer Solidarität vorherrschende Ähnlichkeit auch der gemeinsame Nenner aller Gemeinschaftsformen ist. Verwandte sind einander nicht nur aus biologischen Gründen (als Blutsverwandte) ähnlich, sondern auch aufgrund von gemeinsamen Erfahrungen, die eine gemeinsame Vergangenheit entstehen lassen. Auch Nachbarschaft ermöglicht gemeinsame Erfahrungen, Einstellungen und Handlungen. Freundschaft wird von Tönnies explizit durch Einmütigkeit und Ähnlichkeit gekennzeichnet. Die Nachbarschaft zeigt, dass Ähnlichkeit und Nähe einander bedingen, weil Nähe oft (nicht immer) gemeinsame Interessen, Ansichten und Vorgehensweisen entstehen lässt. Auch für Familie und Freundschaft ist Nähe wesentlich, weil es ohne sie zur Entfremdung in allzu heterogenen sozialen Umgebungen kommen kann. Viele Gemeinschaften im Sinne von Tönnies - etwa die Dorf- oder Glaubensgemeinschaft - werden durch face-to-face relations gekennzeichnet: durch regelmäßigen persönlichen Kontakt, der affektiver Entfernung und Entfremdung entgegenwirkt. Dieser Kontakt lässt ein Solidaritätsgefühl im Sinne von Durkheims mechanischer Solidarität entstehen: Man schätzt und unterstützt einander, weil man die gleichen sozialen Werte und Normen vertritt und einander affektiv nahe steht. Dieses Solidaritätsgefühl, das auf Bekanntschaft und Freundschaft gründet, führt dazu, dass der Einzelne um seiner selbst willen beurteilt und geschätzt wird und nicht im Hinblick auf seine Leistungen, die in der Gesellschaft als Markt- und Konsumgesellschaft entscheidend sind. Im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Ralph Linton könnte man in diesem Zusammenhang einen ascribed status (zugeschriebenen Status) von einem achieved status (erworbenen Status) unterscheiden und den ascribed status als für die Gemeinschaft, den achieved status als für die Gesellschaft charakteristisch bezeichnen. Während der ascribed status dem Individuum als Familien- oder Gemeinschaftsmitglied bei seiner Geburt zufällt, muss der achieved status durch Leistung erworben werden. Zu 45 Ibid., S. 43. <?page no="355"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 339 den achieved statuses bemerkt Linton: „They are not assigned to individuals from birth but are left open to be filled through competition and individual effort.” 46 Im Anschluss an Henry Sumner Maine spricht Tönnies im Zusammenhang mit der Gemeinschaft von Status, im Zusammenhang mit der Gesellschaft von Kontrakt (contractus). 47 Letzterem liegen die Begriffe „Leistung“ und „Gegenleistung“ zugrunde. Hier wird deutlich, dass der von Tönnies eingeführte Begriff Gemeinschaft durchaus einen „Erkenntnisgewinn“ mit sich bringt, weil er Aspekte aufweist - Ähnlichkeit, Nähe, Solidarität und ascribed status, - die ihn auf sehr verschiedene gesellschaftliche Erscheinungen von der Familie bis zur religiösen Gemeinde anwendbar machen. Als Beispiel kann eine Gruppierung an der Grenze von Gemeinschaft und Gesellschaft dienen: das Universitätsseminar. In ihm herrschen meistens gemeinschaftliche Verhältnisse, weil sich Studierende aufgrund ihrer sozialen Positionen und Probleme ähnlich sind, sich für einander auf affektiver Ebene interessieren (es entstehen Freundschaften und Beziehungen) und einander - trotz der aus der Gesellschaft ins Seminar eindringenden Konkurrenzverhältnisse - im Studium oft behilflich sind. Eine Vermittlerrolle zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft fällt dabei den Lehrenden zu: Einerseits müssen sie die Studierenden auf Prüfungen vorbereiten und zu Leistungen im Sinne des achieved status anspornen; andererseits haben sie auch die Pflicht, den Studierenden im Sinne des ascribed status Mut zu machen - etwa anhand eigener Erfahrungen aus der Studienzeit: „Ja, kann ich gut verstehen, auch ich hatte seinerzeit Probleme mit der Unterscheidung von ‚mechanisch‘ und ‚organisch‘ bei Durkheim und Tönnies…“. In einer solchen Bemerkung setzt sich gemeinschaftliche Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Leistungsanforderung gegenüber durch. Dass die Anwendbarkeit des Begriffs bis in die zeitgenössische Mediengesellschaft hineinreicht, weist Julia Harrer nach. In ihrer anregenden Seminararbeit versucht sie zu zeigen, dass Tönniesʼ Begriff vor allem mit dem Aspekt Ähnlichkeit als „Gemeinschaft des Geistes“ 48 auf verschiedene „Internet-Comunities“ oder „Cybercommunities“ anwendbar ist. Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass die Community eine neue Möglichkeit der Gemeinschaft darstellt“. 49 46 R. Linton, „Status and Role“, in: L. A. Coser, B. Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New York, Macmillan (1957), 1964, S. 360. 47 Vgl. F. Tönnies, „Status und Contractus. Eine sozialpolitische Betrachtung“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 71. 48 J. Harrer, Ferdinand Tönniesʼ Konzeption der Gemeinschaft und ihre Konstruktion in die Gegenwart am Beispiel von Internet-Communitys, München, Grin-Verlag, 2009, S. 6. 49 Ibid., S. 17. <?page no="356"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 340 Eine Einschränkung lässt sich nicht vermeiden: „Die Community stellt eine virtuelle Welt dar und ist dadurch realitätsfern.“ 50 Zu Recht weist auch der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman (vgl. Kap. XX) darauf hin, dass die Internet-Gemeinschaft vom individuellen Engagement abhängt und im Gegensatz zu realen (face-to-face) Gemeinschaften von den Beteiligten von einem Tag auf den anderen aufgekündigt werden kann. 51 Dies bedeutet, dass sie nicht alle Aspekte des Idealtypus „Gemeinschaft“ verwirklicht (etwa die räumliche Nähe). Harrer zeigt jedoch, ohne es expressis verbis festzustellen, dass nicht nur Tönniesʼ Begriff weiterhin aktuell ist 52 , sondern dass die Suche nach Gemeinschaften in einer anonymer werdenden Gesellschaft neue Formen annimmt. Es ist, als wollte Karl-Heinz Kohl an Harrers Gedankengang anknüpfen, wenn er in einem Artikel über Heimat und Migration abschließend feststellt: „Wie ausgeprägt die Sehnsucht nach face-to-face Gemeinschaften heute ist, tritt vielleicht nirgends deutlicher zutage als in dem Bestreben, sie in der Facebook-Gesellschaft zumindest virtuell zu erzeugen.“ 53 Hier wird deutlich, dass die Suche nach der verlorenen Gemeinschaft weit über Tönniesʼ Werk hinaus bis ins 21. Jahrhundert hineinreicht - und der „Klassiker“ Tönnies erscheint als zeitgenössischer Autor. 54 Der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft beherrscht seinen gesamten Diskurs - nicht nur in seinem Hauptwerk, sondern auch in seiner Einführung in die Soziologie und in seinem Buch über den Geist der Neuzeit. Er selbst beschreibt ihn narrativ als einen „Entwicklungsgang von Gemeinschaft zu Gesellschaft“ 55 , wehrt sich aber gegen den Vorwurf, er habe eine Geschichte des Verfalls erzählen wollen. Dennoch stellt er fest: „Der Begriff ‚Gesellschaft‘ bezeichnet also den gesetzmässig-normalen 50 Ibid. 51 Vgl. Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (4. Aufl.), S. 55: „Eine Gemeinschaft ist weitaus sicherer und verläßlicher als ein Netzwerk - allerdings ist die Mitgliedschaft in ihr auch mit mehr Einschränkungen und Pflichten verbunden.“ 52 Vgl. auch: A. Bammé, „Transhumane Kommunikation. Zum Implikationsverhältnis von Sozialbiologie und Neurosoziologie“, in: Soziologie 3, 2017, S. 260-261. 53 K.-H. Kohl, „Alte Heimat, neue Heimat? Die Rückbesinnung auf das Eigene in einer globalisierten Welt“, in: Forschung und Lehre 4, 2017, S. 305. 54 Mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft befasst sich auch Richard Münch in einer vergleichenden und historischen Perspektive, indem er die Suche nach Gemeinschaft in Deutschland und Nordamerika seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschreibt. Vgl. R. Münch, „Vereinigungsfreiheit: Auf der Suche nach Gemeinschaft in der Gesellschaft“, in: ders., Die Kultur der Moderne, Bd. II: Ihre Entwicklung in Frankreich und Deutschland, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1993, S. 804-815. 55 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 159. <?page no="357"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 341 Prozess des Verfalles aller ‚Gemeinschaft‘.“ 56 Wie sieht dieser Verfallsprozess aus? Damit nicht der Eindruck entsteht, soziologische Theorien seien disparate Konstruktionen oder Erzählungen, die einander kaum berühren, soll gleich im Vorfeld betont werden, dass Tönnies wie Durkheim von den Auswirkungen des Bevölkerungswachstums und einer fortschreitenden Differenzierung als Arbeitsteilung ausgeht und wie Marx zeigt, dass die soziale Entwicklung auch durch Ökonomisierung vorangetrieben wird: durch den Ausbau urbaner Zentren zu Knotenpunkten des Handels und internationalen Märkten. In Übereinstimmung mit Durkheim stellt er fest: „Der große Faktor der Veränderung ist die Bevölkerung: ihr Wachstum und das Knappwerden des Raumes.“ 57 Wie bei Durkheim bewirkt das sich beschleunigende Bevölkerungswachstum eine zunehmende Differenzierung der Aufgaben und Funktionen: „Denn Differenzierung, Scheidung, Arbeitsteilung ist ja das große Gesetz der Entwicklung.“ 58 Alfred Bellebaum fasst zusammen: „Kennzeichnend für die von Tönnies behauptete Entwicklung von Gemeinschaft zur Gesellschaft ist unter anderem eine zunehmende Differenzierung und Individualisierung.“ 59 Bevölkerungswachstum und Differenzierung sind allerdings nur zwei Aspekte der Erzählung; der dritte Aspekt - Industrialisierung - ist genauso wichtig. Im Gegensatz zu Durkheim, aber in Übereinstimmung mit Marx führt Tönnies die Industrialisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft als das dritte (aber nicht weniger wichtige) „große Gesetz“ von deren Entwicklung ein: „Wenn wir daher den Prozeß der Gesellschaft, welcher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten, so stellt er sich dar als Übergang von allgemeiner Hauswirtschaft zu allgemeiner Handelswirtschaft, und im engsten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau zu vorherrschender Industrie.“ 60 Zu Recht fasst daher Rolf Fechner diesen Prozess als Ökonomisierung zusammen: „Die ‚Urbedingung‘ des Geistes der Neuzeit ist für Tönnies die ökonomische Lebensweise.“ 61 56 F. Tönnies, „Zur Einleitung in die Soziologie“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 193. 57 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 185. 58 F. Tönnies, „Wege und Ziele der Soziologie“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 186. 59 A. Bellebaum, Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen, Maisenheim/ Glan, Hain, 1966, S. 136-137. 60 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 83. 61 R. Fechner, „Editorische Nachlese“, in: F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 243. <?page no="358"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 342 Auf dieser Ebene überschneidet sich Tönniesʼ Diskurs auch mit den Diskursen Saint-Simons und Comtes. Wie die beiden französischen Denker beschreibt er die Entwicklung von der mittelalterlichen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft. In schroffem Gegensatz zu ihnen und in häufiger Anlehnung an Marx versieht er jedoch die kapitalistische Industriegesellschaft (die „Industriellen“) mit vorwiegend negativen Konnotationen. Das mit dem Titel „Theorie der Gesellschaft“ überschriebene Kapitel in Gemeinschaft und Gesellschaft beginnt mit einer kontrastiven Definition: „Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.“ 62 Hier klingt wieder Durkheims Auffassung der „organischen Solidarität“ an: als einer rein funktionalen Verbundenheit bei affektiver und geistiger Trennung. Diese Trennung kann jederzeit in blanke Feindseligkeit umschlagen, weil Tönniesʼ Gesellschaft ein Gegeneinander von Egoisten ist, von denen ein jeder nur auf seinen eigenen Vorteil (oft als Marktanteil) bedacht ist. In Anlehnung an Hobbesʼ Auffassung des Naturzustandes als „Krieg aller gegen alle“, von dem im fünften Abschnitt ausführlicher die Rede sein wird, meint Tönnies, im modernen Kapitalismus einen latenten Kriegszustand zu erkennen, denn „so kann das Verhältnis aller zu allen (…) als potentielle Feindseligkeit oder als ein latenter Krieg begriffen werden (…)“. 63 Im Gegensatz zur Gemeinschaft, deren Bindungen durch Brauchtum, Sitte, Solidarität und ein gemeinsames Gedächtnis geprägt sind, gründet die Gesellschaft auf vertraglichen Beziehungen: „Der einige Wille bei jedem Tausche, sofern der Tausch als gesellschaftlicher Akt gedacht wird, heißt Kontrakt.“ 64 Dieser Wille „dauert bis zur Vollendung des Tausches“. 65 Das heißt, dass er im Gegensatz zum andauernden „einigen Willen“ der Gemeinschaft an einen Zweck (Vorteil) gebunden ist und erlischt, sobald dieser Zweck erreicht wurde. Zum philosophischen Ursprung der Auffassung der Gesellschaft als Vertragsgebilde bemerkt Cornelius Bickel: „Der Gesellschaftsbegriff hat in sich den Topos des Gesellschaftsvertrages aus der Aufklärungsphilosophie 62 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 64. 63 Ibid., S. 81. 64 Ibid., S. 72. 65 Ibid. <?page no="359"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 343 aufgenommen (…).“ 66 Wie dies im Zusammenhang mit Tönniesʼ Hobbes- Deutung aussieht, wird hier im fünften Abschnitt erläutert. Wie in Hobbesʼ „Naturzustand“ dominiert in der Gesellschaft nicht die gemeinschaftliche Eintracht, sondern das individuelle Interesse, das im Handel auf prägnanteste Art zum Ausdruck kommt. Vom gemeinschaftlichen „Schaffen, Bilden und Wirken“ 67 als „Kunst“ hebt sich der Handel schroff ab: „Der Handel, als die Geschicklichkeit Profit zu machen, ist das Gegenteil aller solcher Kunst. Profit ist kein Wert, er ist nur eine Veränderung in den Relationen der Vermögen: das Plus des einen ist das Minus des anderen (…). Die Aneignung ist eine bloß okkupatorische, also sofern andere beeinträchtigt werden, eine räuberische Tätigkeit; nicht Arbeit, welche zum Gute (oder Gegenstande des Gebrauches) verändert, was vorher nicht da war (…).“ 68 In dieser Passage ist der implizite Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert von besonderer Bedeutung, weil die Gemeinschaft mit der Schaffung von Gebrauchswerten, die Gesellschaft hingegen mit den vertraglich geregelten Tauschwertbeziehungen verknüpft wird. Angesichts dieser Zweiteilung, die von einem ideologischen Dualismus (vgl. Kap. II. 3) geprägt ist, der durch negative Konnotationen wie „räuberische Tätigkeit“ noch verstärkt wird 69 , nimmt es nicht wunder, dass Tönnies im Rahmen seines alles übergreifenden Gegensatzes zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auch Marxʼ strukturierenden Gegensatz von Arbeit und Kapital aufgreift: „Auf dem (eigentlichen oder Waren-)Markte erscheinen Arbeitskräfte nur in dieser, durch ihre Vereinigung und ihre Anwendung auf Stoffe und Arbeitsmittel, verwandelten Gestalt, folglich nicht als Eigentum der Arbeiter, sondern der Kapitalisten.“ 70 In diesem semantischen Kontext bietet sich die folgende Schlussfolgerung geradezu an: „Die Kaufleute oder Kapitalisten (Inhaber von Geld, das durch doppelten Tausch vermehrbar ist), sind die natürlichen Herren und Gebieter der Gesellschaft. Die Gesellschaft existiert um ihretwillen.“ 71 Zwei wesentliche Abweichungen von Marx fallen hier auf: Die Kapitalisten sind nicht primär die Besitzer von Produktionsmitteln, sondern von Geld: Sie sind bei Tönnies vorwiegend Kaufleute oder Händler. Die zweite Abweichung wurde schon angedeutet: Der den Diskurs strukturierende 66 C. Bickel, „Ferdinand Tönniesʼ Weg in die Soziologie“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 116. 67 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 85. 68 Ibid., S. 86. 69 Zur Funktion negativer Konnotationen in ideologischen Diskursen vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII. 2. b: „Isotopien als Konnotationsketten: ‚over-lexicalisation‘“. 70 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 111. 71 Ibid., S. 90. <?page no="360"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 344 semantische Gegensatz ist nicht der zwischen Arbeit und Kapital, sondern der zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Dies hat, wie sich im fünften Abschnitt zeigen wird, Folgen für den narrativen Ablauf des Diskurses: Er ist nicht (wie bei Marx) auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel (die Enteignung der Kapitalisten als Besitzer der Produktionsmittel) und die klassenlose Gesellschaft ausgerichtet, sondern auf eine Wiederherstellung oder Stärkung der Gemeinschaft. Da die Entwicklung dieser Gemeinschaft von Tönnies selbst als Verfall erzählt wird, ist eine düstere Prognose kaum zu vermeiden. In Tönniesʼ kurzer Schrift „Mein Verhältnis zur Soziologie“ nimmt sie folgende - etwas bekenntnishafte - Form an: „Es ist allerdings mein Gedanke, daß selbst in dem Falle, den ich als den günstigsten für die gegenwärtige Zivilisation schätze: daß es nämlich gelingen werde, sie in allmählichem Fortschritt durch sozialistische Organisation abzulösen, das Ende unabwendbar wäre, nicht das Ende der Menschheit, auch nicht das der Zivilisation oder Kultur, wohl aber das Ende dieser Kultur, deren Merkmale durch das Erbe Roms bezeichnet werden.“ 72 3. Verfall und Aufbruch: Ambivalenz Angesichts solcher Aussagen hat man Tönnies oft „Pessimismus“ vorgeworfen, gegen den er sich sporadisch gewehrt hat. 73 Vielleicht zu Recht, denn sein Diskurs ist von einer Ambivalenz geprägt, die sowohl Untergangsals auch Aufbruchsstimmung verbreiten kann. Jedenfalls kann man trotz aller negativen Konnotationen nicht ohne weiteres Matthias Heises Bemerkung gelten lassen, „daß Ferdinand Tönnies an der Gesellschaft kein gutes Haar läßt“. 74 Mit etwas Sinn für Dekonstruktion kann man auch den Gegenbeweis antreten. Liest man das unvollendete Werk Geist der Neuzeit parallel zu Gemeinschaft und Gesellschaft, setzt sich der Eindruck der Ambivalenz allmählich durch. Zu dem von ihm postulierten Übergang „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ bemerkt Tönnies am Ende des ersten Abschnitts von Geist der Neuzeit, dass dieser Übergang „am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt“. 75 Dieser Individualismus als Komponente der Gesellschaft und als Prozess besteht darin, „daß der einzelne Mensch seiner Persönlichkeit, 72 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 336. 73 Vgl. C. Bickel. „Tönnies und Durkheim. Nähe und Distanz“, in: Tönnies-Forum, op. cit., S. 28. 74 M. Heise, Ferdinand Tönniesʼ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ - Sozialismuserwartung und Kapitalismuskritik, München, Grin-Verlag, 2004, S. 6. 75 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 33. <?page no="361"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 345 seines Wertes und seiner persönlichen Zwecke, also seiner Angelegenheiten oder Interessen bewußter wird; folglich selbständiger und freier zu werden strebt, allem gegenüber, was ihn sonst bindet, verbindet und beschränkt, und das ist, sofern es seinen Willen gebunden und verbunden hat: Gemeinschaft“. 76 Freilich wird auch hier das zentrale Ereignis aus Gemeinschaft und Gesellschaft - die Lockerung und Auflösung der Gemeinschaft - erzählt, aber die positiven Konnotationen der gesellschaftlich bedingten Individualisierung, etwa der Wille, „freier zu werden“ und aufzulösen, was einen „bindet, verbindet und beschränkt“, sind kaum zu übersehen. Wird hier nicht unterschwellig - wie bei Durkheim - ein Emanzipationsprozess dargestellt: eine Befreiung des Individuums aus gemeinschaftlicher Fesselung und Bevormundung? Komplementär dazu und stärker als in Gemeinschaft und Gesellschaft werden die Herrschaftsverhältnisse in der Gemeinschaft beleuchtet: „Seinem Wesen nach ist das Herrentum eine fundamentale Erscheinung des gemeinschaftlichen Lebens. Der Individualismus des Herrn innerhalb solcher Verbundenheiten macht am leichtesten sich geltend durch den Gebrauch der Macht als Zwang und Gewalt (…).“ 77 Dazu gehören auch „Mißhandlung, Bedrückung, Ausbeutung“ sowie „die Unterwerfung des Weibes unter die Gelüste des Mannes“. 78 Ergänzend heißt es in Tönniesʼ Aufsatz „Der Begriff der Gemeinschaft“, „daß auch keine Art der inneren Gemeinschaft feindselige Gefühle und feindseliges Verhalten der in ihr Verbundenen als tatsächliche Erscheinungen ausschließt“. 79 Tönnies widerspricht sich nicht durch das Aufstellen unvereinbarer Thesen. Auch in Geist der Neuzeit beschreibt er die Entwicklung zur Gesellschaft hin als einen Verfallsprozess. Es ist dort sogar von „Entfremdung“ die Rede: „Dies bedeutet zunehmende Entfremdung zwischen den aufeinander angewiesenen, insbesondere den zusammenarbeitenden Schichten des Volkes, also den Klassen oder Ständen (…).“ 80 Somit erscheint auch in Geist der Neuzeit die „Gesellschaft“ als eine von Warentausch und Klassenantagonismus geprägte, entfremdete Welt. Die Ambivalenz als latenter Widerspruch hängt nicht vorrangig mit den abwechselnd positiven und negativen Konnotationen zusammen, mit denen der Autor die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ versieht; auch nicht damit, dass in Geist der Neuzeit der Prozess der Individualisierung 76 Ibid., S. 36. 77 Ibid., S. 43. 78 Ibid. 79 F. Tönnies, „Der Begriff der Gemeinschaft“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 226. 80 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 135. <?page no="362"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 346 positiver dargestellt wird als in Gemeinschaft und Gesellschaft. Sie manifestiert sich vor allem - wie die meisten Ideologeme - auf narrativer Ebene, wo der Autor-Erzähler einerseits den Verlust der Gemeinschaft beklagt und die Gesellschaft mit dem „Verderben“ assoziiert, andererseits Begrifflichkeit, abstraktes Denken und Wissenschaft aus eben dieser Gesellschaft hervorgehen lässt. So heißt es beispielsweise im romantischen (F. Schlegelschen) Sprachduktus in Gemeinschaft und Gesellschaft: „Wir ahnen zuweilen, was wir verloren haben, wenn wir kalt und berechnend, flach und aufgeklärt geworden sind.“ 81 Als Ergänzung zu diesem Satz wäre eine Passage am Ende des Buches zu lesen: „So ist Großstadt und gesellschaftlicher Zustand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes (…).“ 82 Aus der großstädtischen Gesellschaft und ihrem kritisch-selbstkritischen Individualismus geht aber ein begriffliches Denken hervor, das Wissenschaft (auch Tönnies‘ Sozialwissenschaft) ermöglicht. „Denn Gesellschaft ist nichts als die abstrakte Vernunft (…). Die abstrakte Vernunft in einer speziellen Betrachtung ist die wissenschaftliche Vernunft (…).“ 83 Lange vor Alfred Sohn-Rethel, der den „Entwicklungszusammenhang von Ökonomie und Wissenschaft“ 84 , von „Tauschabstraktion“ und begrifflicher Abstraktion untersucht 85 , weist Tönnies - und dies ist ein großes Verdienst - auf den Nexus von begrifflicher Abstraktion und Geldwirtschaft hin: „Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem enthält, ist gleich dem Gelde. Z. B. der Begriff Atom oder der Begriff Energie.“ 86 Kurzum, Tönniesʼ Ambivalenz besteht darin, dass er den Niedergang der Gemeinschaft als Verlust bedauert, den ihn begleitenden Aufstieg der Gesellschaft für verderblich hält („Verderben und Tod des Volkes“), zugleich aber die Gesellschaft als Geburtsstätte der (seiner) Wissenschaft erkennt und anerkennt. Diese ambivalente Haltung, die immer wieder Kontroversen hervorruft, geht aus der eingangs erwähnten Fortschrittsskepsis der spätmodernen Soziologen hervor, die im Gegensatz zu Comte und Spencer beginnen, die Unwägbarkeiten der Ökonomisierung, Differenzierung und Individualisierung wahrzunehmen. Sie verstehen auch, dass es unmöglich ist, den gesellschaftlichen Fortschritt, der stets ein zwei- 81 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 200. 82 Ibid., S. 323. 83 Ibid., S. 71. 84 A. Sohn-Rethel, Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin, Wagenbach, 1990, S. 69. 85 A. Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 122. 86 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 72. <?page no="363"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 347 schneidiges Schwert ist 87 , aufzuhalten, um die von ihm ausgehenden Gefahren zu bannen. Teils skeptisch, teils zuversichtlich klingen die letzten Sätze von Tönniesʼ Geist der Neuzeit, weil sie von der ambivalenten Einstellung des Soziologen zu „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“ und der von ihm beschriebenen Entwicklung zeugen. Die Wissenschaft sieht er dort weiterhin als gesellschaftliche Kraft und besteht darauf, „daß die Macht der Wissenschaft vorzugsweise dem absteigenden Ast einer sozialen Gesamtentwicklung angehöre, denn auch der Abstieg ist naturnotwendig, also gesetzlich bedingt, und es ist noch kein Grund, die Vermutung aufzugeben, daß er immer die unerläßliche Bedingung eines neuen Aufstiegs und Fortschrittes, also unter Umständen einer neuen großen Kulturepoche sei“. 88 Als Schlusswort ist diese Passage deshalb wichtig, weil sie zeigt, wie unverantwortlich es ist, Tönniesʼ Denken auf das Schlagwort „Pessimismus“ festzulegen. Der Theorie fällt die Aufgabe zu, wissenschaftliche Texte von Ideologemen und Schlagwort-Schlacken zu befreien und zugleich ihre Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten sichtbar machen. 4. Wesenwille und Kürwille: Tönnies’ Erzählung als Aktantenmodell Tönnies unterscheidet zwei Arten des Wollens, von denen die eine für die Gemeinschaft, die andere für die Gesellschaft kennzeichnend ist. Während der Wesenwille als Ausdruck der Solidarität (im umgangssprachlichen Sinn) von Affekt, Gewohnheit und überlieferter Sitte motiviert wird, wird der Kürwille als Zweck-Mittel-Denken von Zielstrebigkeit, Utilitarismus und der Aussicht auf Erfolg angetrieben. An verschiedenen Stellen seines Hauptwerks Gemeinschaft und Gesellschaft zeigt Tönnies, „wie Gemeinschaft den Wesenwillen entwickelt und bildet, Kürwillen bindet und hemmt“ und wie „Gesellschaft diesen nicht allein entfesselt, sondern auch fordert und fördert“. 89 Wie die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sind auch die sie ergänzenden Begriffe „Wesenwille“ und „Kürwille“ als Idealtypen im Sinne von Max Weber (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII. 3) oder als „ideelle Typen“ (Tönnies) konzipiert. So ist es zu erklären, dass Tönnies feststellen kann: „Die Begriffe der Willensformen und Gestaltungen sind selber, an und für sich, nichts als Artefakte des Denkens (…).“ 90 Als theoretische Konstruktionen abstrahieren sie von der Wirklichkeit, in der sie uns aber als klar umrissene 87 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, „Einleitung: Was ist Entfremdung? - Entfremdung und Fortschritt“. 88 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 237. 89 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 222. 90 Ibid. S. 178. <?page no="364"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 348 Schemata die Orientierung erleichtern. Als abstrakte Schemata sollen sie uns helfen zu unterscheiden: „In den Formen des Wesenwillens soll nichts von Kürwillen, in den Formen des Kürwillens nichts von Wesenwillen mitgedacht werden.“ 91 In der empirischen Wirklichkeit verhält es sich freilich umgekehrt: Dort sind Wesenwille und Kürwille oft schwer auseinanderzuhalten, weil auch in einer solidarischen Dorfgemeinde ein Bauer versuchen kann, seinem Nachbarn zu beweisen, dass er das Saatgut besser einzuschätzen weiß als alle anderen und dass seine erfolgreichere Weizenernte dafür den besten Beweis liefert. Umgekehrt kann ein Seminarteilnehmer trotz aller Konkurrenzverhältnisse im Wissenschaftsbereich seinem Nachbarn freundschaftlich helfen, im Internet oder über die Fernleihe einen „unauffindbaren“ Text ausfindig zu machen. Nicht zufällig verweist das Wort „Wille“ auf Arthur Schopenhauers bekanntes Werk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819). Tönnies selbst erinnert an die Herkunft der von ihm konstruierten Willensformen aus Schopenhauers Philosophie: „Im Willen den Kern des menschlichen Wesens zu begreifen, war ich schon in früher Jugend durch Schopenhauer angeleitet worden.“ 92 Peter-Ulrich Merz-Benz dehnt den Willensbereich auf den Wissens- oder Erkenntnisbereich aus, wenn er bemerkt: „Gleich wie Schopenhauer sieht auch Tönnies den Intellekt als ein Produkt des Willens (…).“ 93 Diese Erläuterung führt mitten in die Modalitätentheorie der Strukturalen Semiotik, die auf narrativer Ebene Modalitäten wie sein, wollen, wissen, können und müssen unterscheidet, die das Handeln ermöglichen und über den Handlungsablauf entscheiden. Als Angehöriger einer Gemeinschaft - etwa einer Familie - gehe ich von diesem besonderen sozialen Sein aus und will, weil ich weiß, dass ich als einziger über das nötige Wissen und Können verfüge, den Eltern oder Geschwistern helfen. Der Erfolg, den ich mir von meiner Vorgehensweise verspreche, geht weder mit persönlichem Vorteil noch mit Gewinn einher. In diesem Fall ist mein Handeln vom gemeinschaftlichen Wesenwillen motiviert. Diese Motivation ändert sich radikal, wenn ich als Vertreter eines großen internationalen Konzerns weiß, dass ich als Einziger über das nötige knowhow verfüge, die feindliche Übernahme eines konkurrierenden Konzerns in die Wege zu leiten, und entsprechend handeln will, weil ich mir davon einen Karrierevorteil verspreche, der mit einem beachtlichen materiellen Gewinn einhergeht. In dieser Situation ist mein Handeln vom ge- 91 Ibid. 92 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 330. 93 P.-U. Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönniesʼ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt, Suhrkamp, 1995, S. 63. <?page no="365"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 349 sellschaftlichen Kürwillen motiviert. Zu einer Synthese beider Willensarten kommt es, wenn ich so handle, um meine Familie mit Reichtum zu beglücken. Ausgehend von den beiden Modalitäten Wesenwille und Kürwille, die den antagonistischen Seinsmodi „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ angehören, konstruiert Tönnies - ansatzweise - sein Aktantenmodell, in dem der „Gemeinschaft“ die Funktion der Auftraggeberin, der „Gesellschaft“ die Funktion der Gegenauftraggeberin zufällt. Dadurch kommt ein „Handlungssystem“ zustande, „in dem Individuen oder Gruppen als Akteure aufeinander relationiert sind“, wie Heinz-Jürgen Dahme es im Zusammenhang mit der „deutschen Soziologengeneration um die Jahrhundertwende“ 94 ausdrückt. Dass Tönnies im Gegensatz zu anderen Soziologen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ durchaus als agierende Subjekte oder Aktanten auffasst, lässt der folgende Satz erkennen: „So ist, in allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subjekt verbundener Wesenwillen, Gesellschaft das Subjekt verbundener Kürwillen.“ 95 Der Ausdruck „verbundener Wesenwillen / Kürwillen“ deutet darauf hin, dass diese beiden gegensätzlichen Modalitäten keineswegs freischwebend sind, sondern mit individuellen und kollektiven Aktanten verknüpft werden. Insofern ist Cornelius Bickels Ausdrucksweise verwirrend, wenn er von „zweckrational verfahrenden Kürwillen“ spricht und hinzufügt, dass Tönnies „die soziale Wirklichkeit in ein Geflecht hin und her fluktuierender Willensprozesse auflöst“. 96 So vage ist Tönniesʼ Diskurs keineswegs, weil er die Modalitäten „Wesenwille“ und „Kürwille“ mit konkreten Aktanten assoziiert: den „Wesenwillen“ mit den noch verbleibenden „Gemeinschaften“ und der „Arbeiterklasse“ sowie mit den „Frauen“, die als Vertreterinnen der Gemeinschaft mit dem „Proletariat“ verbündet werden: „Längst ist die Analogie des Loses der Frauen mit dem Lose des Proletariats erkannt und behauptet worden.“ 97 Diesen kollektiven Aktanten oder Subjekten, die im Namen der Gemeinschaft agieren, stehen im gesellschaftlichen Bereich die kollektiven Aktanten oder Antisubjekte „Bürgertum“ und „Kapital“ gegenüber, die in Tönniesʼ Diskurs häufig als kollektive („Aktiengesellschaften“) oder individuelle 94 H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 250. 95 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 236. 96 C. Bickel, „Ferdinand Tönniesʼ Weg in die Soziologie“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 100. 97 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 217. <?page no="366"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 350 Akteure 98 , etwa „Händler“ oder „Kaufmann“, auftreten: „Seiner ganzen Beschaffenheit nach und mit voller Bewußtheit ist solches Subjekt, wie früher betrachtet wurde, der Händler oder Kaufmann.“ 99 Als anachronistisches Ideologem wirkt in heutiger Zeit Tönniesʼ Vermutung, „wie sehr der Handel dem weiblichen Gemüte zuwider sein muß“. 100 Hier soll die Feststellung genügen, dass „Frauen“ bei Tönnies vom Affekt beherrscht werden und als kollektiver Aktant im Namen der Auftraggeberin „Gemeinschaft“ handeln: im Gegensatz zu den „klugen“, ihrem Verstand gehorchenden „Männern“, die sich vom zweckrationalen Kürwillen leiten lassen und (zumindest tendenziell) die „Gesellschaft“ als Gegenauftraggeberin vertreten. Unreflektiert bleibt bei Tönnies die Wahrscheinlichkeit, dass Arbeiter im Rahmen seines Modells eher dem Wesenwillen, bürgerliche Frauen hingegen dem Kürwillen folgen. Im Vergleich zu Marx ist entscheidend, dass die Auftraggeberin der „Arbeiter“ und „Frauen“ nicht die „Geschichte“ ist, sondern die „Gemeinschaft“, die Auftraggeberin des „Bürgertums“ und des „Kapitals“ nicht die „Gegengeschichte“ als Reaktion ist, sondern die „Gesellschaft“. Infolge dieser semantischen Umschichtung ändert sich die Richtung der Erzählung radikal: In Tönnies‘ narrativem Programm ist der Objekt-Aktant nicht die „klassenlose Gesellschaft“, sondern eine „Aneignung der sozialen Welt durch die Gemeinschaft“ - und zwar mit Hilfe der hier genannten Aktanten. Dieses Programm wird von einem „Willen zur Gemeinschaft“ 101 getragen, den Günther Rudolph in seinem Nachwort zu Tönniesʼ Buch Der Nietzsche-Kultus Nietzsches „Willen zur Macht“ gegenüberstellt. Von diesem „Willen zur Gemeinschaft“ zeugt in diesem Buch auch Tönniesʼ Hinweis auf den „synthetischen, den gemeinschaftlichen Zug, der durch das echte sozialwissenschaftliche Denken hindurchgeht“. 102 Dass diese Art von Denken nicht frei von Werturteilen sein kann, liegt auf der Hand. Ein „gemeinschaftliches“ Werturteil liegt auch Tönniesʼ Vorschlag zugrunde, in sein Handlungsmodell „Genossenschaften“ als Helferinnen oder Verbündete der anderen Kollektivaktanten (Arbeiter, Frauen, Gemeinden) aufzunehmen. In seinem Nietzsche-Buch spricht er im Zusam- 98 Zum Verhältnis von Akteuren und Aktanten vgl. J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95: « Actants et acteurs ». 99 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 215. 100 Ibid. 101 G. Rudolph, „Friedrich Nietzsche und Ferdinand Tönnies. Der ‚Wille zur Macht‘ widerlegt von den Positionen eines ‚Willens zur Gemeinschaft‘“, in: F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, Berlin, Akademie-Verlag, 1990, S. 107. 102 F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, op. cit., S. 21. <?page no="367"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 351 menhang mit dem mittelalterlichen Wertsystem vom „genossenschaftlichvolkstümlichen Ideal“. 103 Er knüpft an dieses Ideal an, wenn er analog zu Durkheim, der für die Stärkung von Berufsverbänden plädiert, vorschlägt, dass in der modernen Gesellschaft Genossenschaften als Beauftragte der Gemeinschaft auftreten sollten, um dem gesellschaftlichen Zersetzungsprozess entgegenzuwirken. Auf das Zusammenwirken von Arbeitergewerkschaften und Genossenschaften im Interesse einer neuen Gemeinschaft, die sich innerhalb der Gesellschaft bildet, um sie schließlich zu überwinden, geht Tönnies in der dritten Vorrede zu seinem Hauptwerk ein. Dort zeigt er, wie die „Arbeit“ dem gesellschaftlichen „Kapital“ gegenüber gestärkt werden könnte, und zwar durch „die Selbstorganisation der Arbeiter in Gewerkschaften, deren wachsender Einfluß die konstitutionelle Fabrik schaffen wird, und vollends in Genossenschaften, die für ihren eigenen Bedarf als Verbraucher selbst Fabriken und andere Betriebe ins Leben zu rufen vermögen“. 104 Der Frage, wie in einem Netzwerk global agierender Konzerne die „Selbstorganisation der Arbeiter“ in Gewerkschaften und Genossenschaften überleben soll, geht Tönnies nicht nach. Tatsache ist, dass noch in heutiger Zeit Pierre Bourdieu vergeblich für die Schaffung einer europäischen Gewerkschaftsorganisation plädiert. 105 Ein ambivalenter Aktant, dessen Ambivalenz mit Tönniesʼ ambivalenter Einstellung zum Gesellschaftsprozess zusammenhängt, ist der „Staat“. Die für Tönnies entscheidende Frage lautet: Wird er als Produkt der „Gesellschaft“ deren Instrument oder Helfer bleiben, oder kann er in einen Helfer der „Gemeinschaft“ umgewandelt werden? Im Spionageroman ginge es analog dazu um die Frage, ob es gelingt, einen Agenten der Gegenseite für die eigene Sache zu gewinnen. Da die Geschichte der Gesellschaft noch nicht zu Ende ist und wir nicht wissen können, in welchem ihrer Kapitel wir uns gerade befinden, muss diese Frage offen bleiben - auch bei dem schon 1936 verstorbenen Tönnies, der sich fragt: „ob das soziale Wollen und Denken in unserer Zeit sich stark genug erweisen wird, den modernen Staat in eine wirkliche, auch das Eigentum umfassende und beherrschende Gemeinschaft auszubilden - vielleicht muß es heißen: umzugestalten -, oder ob die Tendenzen der 103 Ibid., S. 83. 104 F. Tönnies, „Gemeinschaft und Gesellschaft. Vorrede der dritten Auflage“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 216. 105 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un nouvel internationalisme“, in: ders., Contre-feux, Paris, Raisons d’agir, 1998, S. 70. <?page no="368"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 352 Gesellschaft in diesem sozialen Wollen und Denken das Übergewicht behalten werden“. 106 Im Rahmen des Aktantemodells lautet die Frage, ob sich die Gegenauftraggeberin „Gesellschaft“ mit ihren vom Kürwillen motivierten Aktanten (Konzernen, Aktiengesellschaften, Handelskammern) auf Dauer durchsetzt oder ob die Auftraggeberin „Gemeinschaft“ mit Hilfe ihrer vom Wesenwillen beseelten Aktanten (Arbeitern, Frauen, Genossenschaften) schließlich die Oberhand gewinnt und den Staat als Helfer für ihre Zwecke einsetzen kann. Am Ende von Gemeinschaft und Gesellschaft macht sich zusammen mit der Ambivalenz eine Art Verzweiflung bemerkbar, die von Tönniesʼ starker Abneigung gegen die kommerzialisierte Gesellschaft zeugt: „Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten, oder doch umgestaltend zu erneuern. Das Gelingen solcher Versuche ist außerordentlich unwahrscheinlich.“ 107 Verflogen ist Hegels Harmonie von Staat und Gesellschaft, verflogen auch Marxʼ moderne Vorstellung vom Staat als Form proletarischer Übergangsherrschaft. Die Hoffnung auf eine qualitative Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse weicht einer spätmodernen Skepsis. 5. Naturzustand, Gesellschaft und Staat: Tönnies zwischen Hobbes und Marx Von der Übereinstimmung zwischen Tönniesʼ „Gesellschaft“ und Thomas Hobbesʼ „Menschheit im Naturzustand“ war ansatzweise schon die Rede. Im Gegensatz zu Rousseau, der sich vorstellt, dass Menschen von Natur aus nach Geselligkeit und Gemeinsamkeit streben und dass ihre Darstellung als egozentrische und egoistische Wesen eine nicht zu rechtfertigende Identifizierung des sozialisierten Stadtmenschen mit dem Menschen schlechthin ist 108 , behauptet Hobbes, dass der Mensch von Natur aus ein nach Macht und Vorteil strebender Egoist ist. Solange eine staatliche Macht fehlt, die ihn zwingt, mit seinen Mitmenschen Frieden zu schließen und Gesetzen zu gehorchen, wird er vorwiegend seinem eigenen Machtinstinkt und Interesse folgen. So lauten wörtlich die einschlägigen Sätze in Hobbesʼ Leviathan: „So that in the nature of man, we find three principall causes of quarrell. First, Competition; Secondly, Diffidence; Thirdly, Glory.“ Daraus folgt, dass sich Men- 106 F. Tönnies, „Das Wesen der Soziologie“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 127. 107 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 321. 108 Vgl. J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité, Paris, Gallimard, 1965, S. 44-45. <?page no="369"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 353 schen von Natur aus in einem permanenten Kriegszustand befinden: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man, against every man.“ 109 Wie Tönnies ist auch der kanadische Philosoph C. B. Macpherson der Meinung, dass Hobbes in Wirklichkeit nicht einfach Individuen in einem fantasierten „Naturzustand“ beschreibt, sondern in der vor seinen Augen entstehenden frühmodernen Marktgesellschaft. Der von ihm so ausführlich beschriebene state of nature sollte folglich als eine mythische Darstellung der frühmodernen bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse aufgefasst werden. 110 Tönnies nimmt den Gedankengang von Macphersons Buch (in dem sein Name nirgends vorkommt) vorweg, wenn er die komplementäre These aufstellt: dass die zeitgenössische „Gesellschaft“ (um 1900) weitgehend dem von Hobbes beschriebenen „Naturzustand“ entspricht. Dies würde freilich bedeuten, wenn man Macphersons und Tönniesʼ Hobbes-Kommentare als komplementäre Deutungen auffasst, dass sich im langen Übergang von der Frühmoderne zur Spätmoderne und Postmoderne (Macpherson: 1962) nichts Grundsätzliches geändert hat. Tönnies geht tatsächlich davon aus, dass Hobbesʼ Beschreibung des „Naturzustandes“ wesentlich zum Verständnis der von ihm konstruierten spätmodernen „Gesellschaft“ beitragen kann: „Der Gedanke aber, dass der Krieg aller gegen alle nicht sowohl oder nicht allein als der vorstaatliche Zustand, sondern auch oder sogar wesentlich als ein Zustand innerhalb des bürgerlichen, geordneten, friedlichen Zustandes gedacht werden müsse, klingt schon in De cive an (…).“ 111 (Die Elementa philosophica de cive - 1642 - gehören zu Hobbesʼ wichtigsten Werken.) Tönnies antizipiert Macphersons Hobbes-Deutung und deren Kernargumente, wenn er von dem Gedanken ausgeht, dass Hobbes, ohne sich dessen bewusst zu sein, die moderne Marktgesellschaft beschreibt, die er allerdings in einen mythischen „Naturzustand“ projiziert: „Keine Spur findet sich bei Hobbes des Gedankens, der uns heute näher liegt als seine Ansicht vom Ur- oder von dem in aller Kultur verborgenen Naturzustande: des Gedankens nämlich, dass gerade die moderne grossstädtische, gesellschaftliche Zivilisation, von der er freilich nur die Anfänge kannte, einen ver- 109 Th. Hobbes, Leviathan, Harmondsworth, Penguin (1951), 1985, S. 185. 110 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford, Clarendon Press, 1962, S. 61-68. 111 F. Tönnies, „Hobbes und das Zoon Politikon“, in: Schriften zu Thomas Hobbes (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2015, S. 318. <?page no="370"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 354 hüllten Krieg aller gegen alle darstellt. Und doch ist dies allerdings die Wahrheit seines Themas (…).“ 112 Komplementär dazu heißt es in Tönniesʼ Buch über Hobbes, „dass dieser Denker ein Auge gehabt hat für die Anfänge und zugleich für das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise“. 113 In Gemeinschaft und Gesellschaft ist von den „Menschen des Hobbes und [den] von ihnen abstammenden Individuen meiner ‚Gesellschaft‘“ 114 die Rede. Von Tönniesʼ Gesellschaftsbild sagt Günther Rudolph, es sei „weitgehend in Hobbesschen Farben gemalt“. 115 Dies bedeutet, dass Tönniesʼ „Gesellschaft“ von den verschiedenen Komponenten der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer: vgl. Kap. VI) beherrscht wird: von „Kürwillen“, „Besitzindividualismus“ (Macpherson), Utilitarismus und Machtanspruch. Zu diesen Komponenten gehört auch der Vertrag, den die Individuen im „Naturzustand“, also auf der Ebene des Naturrechts, schließen, um dem „Krieg aller gegen alle“ ein Ende zu bereiten. Die ihnen allen gemeinsame Motivation ist die Furcht vor Gewalt und Tod, „the fear of violent death“, wie Hobbes selbst sagt. Indem sich die einander bekämpfenden und zugleich fürchtenden Individuen auf einen Vertrag einigen, durch den sie alle Macht dem Souverän übertragen, einem Staat, den ein Einzelner oder eine Versammlung vertritt, unterwerfen sie sich einer Autorität, die den Kriegszustand beendet. Aus diesem ursprünglichen Vertrag gehen alle Verträge und das gesamte Vertragsrecht der so begründeten zivilen Gesellschaft hervor, die mit Tönniesʼ „Gesellschaft“ übereinstimmt. „Dabei wird im Begriffe der Menschen von allem abgesehen, was sie auf natürliche und ursprüngliche Weise verbinden mag, also von Banden der Familie, der Freundschaft u.s.w., von allen sozialen Instinkten.“ 116 An dieser Stelle könnte Tönnies auch sagen: „von allen gemeinschaftlichen Banden“. Als Alternative zur Vernunft des Vertrags erscheinen hier die gemeinschaftliche Überlieferung und das auf ihr gründende „Gewohnheitsrecht als Ausdruck der historischen, gemeinschaftlichen Sozialformen“ 117 , wie es Peter-Ulrich Merz-Benz ausdrückt. Er fügt hinzu: „Nicht der Vernunft 112 Ibid., S. 327-328. 113 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2014, S. 375. 114 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 167. Vgl. auch: R. Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart, Kröner, 1953, S. 16: „Die Menschen der Tönniesschen ‚Gesellschaft‘ sind die gleichen, die Hobbes in seinem Leviathan beschrieben hat.“ 115 G. Rudolph, „Friedrich Nietzsche und Ferdinand Tönnies“, in: F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, op. cit., S. 124. 116 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre, op. cit., S. 369. 117 P.-U. Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn, op. cit., S. 296. <?page no="371"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 355 entstammend, sondern dem Instinkt, dem Gefühl und dem Gewissen, bestimmen [die] genossenschaftlichen Rechtsverhältnisse das Zusammenleben im gemeinschaftlichen Haushalt des Dorfes, der Gemeinde und der Stadt (…).“ 118 Als Rationalist blendet Hobbes die historisch („organisch“, würde Tönnies sagen) gewachsenen Rechtsnormen aus. Sein Staat begründet zwar Gemeinsamkeit, bleibt aber Verwalter kapitalistischer oder „besitzindividualistischer“ (Macpherson) Verhältnisse. In diesem entscheidenden Punkt versucht Tönnies, in Anlehnung an Marx eine gemeinschaftlich-sozialistische Wende herbeizuführen, indem er Hobbes entsprechend umdeutet. Der Staat, den Hobbes als unabhängige Macht über der Gesellschaft wähnt, ohne zu bedenken, wie Macpherson betont, dass dieser Staat seine Stabilität dem erstarkenden Bürgertum verdankt 119 , könnte in einen sozialistischen Staat umgewandelt werden: „Der Idee gemäss, die Hobbes in so grosser Schärfe ausprägt, soll die Verfassung und die Regierung des Staates unabhängig von der Gesellschaft sein: das ‚soziale‘ Königtum oder der Staats-Sozialismus ist nur eine neue Gestaltung seines Gedankens.“ 120 Es ist hier nicht der Ort, nach der sicherlich nicht gegebenen Konsensfähigkeit dieser praxisorientierten Hobbes-Deutung zu fragen. Wichtiger ist Tönniesʼ Versuch, den Staat, den er zumeist als Produkt der „Gesellschaft“ darstellt, in einen Helfer der „Arbeiterklasse“ und einen Aktanten der „Gemeinschaft“ umzuwandeln. In der Vorrede zur dritten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft erklärt er, „daß die Idee der Arbeiterbewegung auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaft abzielt, nämlich die Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit (…)“. 121 Diesem Programm entspricht der „Entwurf einer demokratischen Staatsverfassung“, in dem ergänzend zu den Bestrebungen der Arbeiterbewegung „sein Begriff der sozialen Demokratie“ 122 , wie Jacoby sagt, zum Ausdruck kommt. Charakteristisch für diesen Begriff ist der zweite Punkt der Verfassung: „finanzielle Unabhängigkeit im Vergleich zum ‚Steuerstaat‘, auf Grund einer staatssozialistischen Eigentumsordnung, namentlich des Eigentums an Grund und Boden“. 123 Dieser Gedanke ist nicht eben neu; er erinnert an die verschiedenen Formen der Verstaatlichung, die Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei für die Phase der 118 Ibid., S. 297. 119 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, op. cit., S. 99. 120 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre, op. cit., S. 374-375. 121 F. Tönnies, „Das Wesen der Soziologie“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 215. 122 E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 191. 123 Ibid., S. 192. <?page no="372"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 356 „Diktatur des Proletariats“ vorschreiben. 124 Dennoch ist Tönnies recht weit von Marx entfernt. Der wesentliche Unterschied tritt - wie so oft - auf narrativer Ebene zutage. Während Marxʼ Erzählung von dem als relevant postulierten Gegensatz Arbeit / Kapital ausgeht und sich auf das Telos „klassenlose Gesellschaft“ (als Objekt-Aktant) zubewegt, geht Tönnies vom Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft aus und fasst sein Erzählprogramm mit dem Ausdruck „Wiederherstellung der Gemeinschaft durch die Arbeiterbewegung“ zusammen. Dadurch kommt eine neue theoretische Erzählung zustande, weil Marxʼ Diskurs auf Metaebene von einem neuen Diskurs eingefasst, den Relevanzkriterien dieses Diskurses unterworfen und entsprechend umfunktioniert wird. Das wichtigste Ergebnis dieser diskursiven (narrativen) Umstrukturierung besteht darin, dass der Objekt-Aktant „klassenlose Gesellschaft“ durch den Objekt-Aktanten „Wiederherstellung der Gemeinschaft“ (durch die Arbeiterbewegung) ersetzt wird. Die neue Erzählung nimmt eine paradoxe Form an, die verkürzt mit dem Ausdruck „vorwärts in die Vergangenheit“ wiedergegeben werden könnte. Von Tönniesʼ Versuch, die Marxsche Großerzählung im Rahmen seiner eigenen Erzählung gleichsam metadiskursiv umzugestalten, zeugen die folgenden beiden Sätze aus seinem Buch über Marx: „Die Klassenkämpfe, die Revolutionen, sind, wie Marx sie deutet, subjektive Ausdrücke solcher objektiven Widersprüche. Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten, daß sie im letzten Grunde unlösbar und unheilbar sind.“ 125 Dennoch versucht Tönnies, eine Art Lösung herbeizuführen, indem er die Arbeiterbewegung als Subjekt mit einer Wiederherstellung oder Erneuerung der Gemeinschaft beauftragt. In seiner Erzählung fällt, wie bereits angedeutet, den Genossenschaften als Helferinnen der Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle zu. Als Teil der Erzählung ist die folgende Bemerkung Tönniesʼ in seiner Einführung in die Soziologie zu lesen: „Dieser genossenschaftliche Geist ist vielleicht die aussichtsreichste Gegenströmung gemeinschaftlichen Inhaltes gegen die gesellschaftliche Entwicklung (…).“ 126 Obwohl er häufig zweifelt und auch Zweideutigkeiten, ja Widersprüche nicht scheut, gibt Tönnies Marxʼ moderne Hoffnung auf eine Überwindung 124 Vgl. K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 547. 125 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria- Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2013, S. 180. 126 F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, op. cit., S. 55. <?page no="373"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 357 der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Er sieht in ihr „eine utopistische Zuversicht, die mehr den Charakter eines religiösen Glaubens als eines wissenschaftlichen Gedankens hat“. 127 Wie der spätmoderne Durkheim, der versucht, den ökonomisch bedingten Pathologien durch eine Stärkung der Berufsverbände zu begegnen, versucht auch Tönnies, auf die „soziale Frage“ mit einer Wiederbelebung des „genossenschaftlichen oder gemeinschaftlichen Geistes“ eine adäquate Antwort zu finden. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen, die von globalisierten Marktgesetzen und den Kräften eines entfesselten Weltkapitalismus geprägt sind, kann keine der beiden Antworten überzeugen. Durkheims Berufsverbände, die es freilich gibt, sind nicht dazu angetan, den arbeitsteiligen Kapitalismus zu zähmen, und Tönniesʼ „genossenschaftlicher oder gemeinschaftlicher Geist“, den es auch geben mag, kann kaum als wirksame „Gegenströmung“ bezeichnet werden. 6. Kommunitarismus: Von Tönnies zu Amitai Etzioni (Epilog) Von der Anwendbarkeit und Aktualität des Begriffs „Gemeinschaft“ war bereits die Rede. Der Begriff ist anwendbar, weil er familiäre, nachbarschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen bezeichnet, die sich auch heute noch qualitativ von „gesellschaftlichen“ (Tönnies) Beziehungen unterscheiden. Er ist auch deshalb aktuell, weil er an verwandte Begriffe der zeitgenössischen Soziologie wie ascribed status (Linton) anschließbar ist. Der Gegensatz von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ kann überdies für die Gruppensoziologie fruchtbar gemacht werden, die primary und secondary groups unterscheidet, indem sie die familiären, affektiven Beziehungen in Primärgruppen den unpersönlichen Beziehungen in Sekundärgruppen gegenüberstellt. 128 Die Anschließbarkeit von Tönniesʼ Begriffen an eine später entwickelte (vor allem mikrosoziologische) Terminologie wird durch seinen Einfluss in den USA veranschaulicht. Dort hat er, wie Werner J. Cahnman zeigt, vor allem auf „ländliche Gemeindestudien“ und auf das Werk von Robert E. Park eingewirkt, der in Anlehnung an Tönnies „sakrale“ und „säkulare“ Gesellschaften unterscheidet: „Die ‚sakrale‘ Gesellschaft wurde als isoliert und auf die Familie orientiert gedacht und sollte eine Gesellschaft sein, in der Verpflichtungen personeller Natur waren. Die ‚säkulare‘ Gesellschaft dachte er sich als auf temporären Interessen und der Erkenntnis auf- 127 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre, op. cit., S. 182. 128 Vgl. z.B. M. S. Olmsted, The Small Group, New York, Random House (1959), 1966, S. 17- 18. Von der primary group heißt es dort: „In the primary group, members have warm, intimate, and ‚personal‘ ties with one another (…).“ Im Gegensatz dazu steht die secondary group: „Relations among members are ‚cool‘, impersonal, rational, contractual, and formal.“ <?page no="374"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 358 ruhend, daß eine Vereinigung von wechselseitigem Nutzen für die Beteiligten ist. Hinzu kommt, daß die ‚säkulare‘ Gesellschaft ihr Zentrum im Markt findet (…).“ 129 Die Analogien zu Tönniesʼ Begriffspaar „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sind kaum zu übersehen. Parks Unterscheidung bestätigt außerdem die Bedeutung der schon von Comte untersuchten Säkularisierung für die Soziologie. Zu den amerikanischen Soziologen, die Tönnies beeinflusst hat, gehört auch der Organisationssoziologe und wichtigste Vertreter des Kommunitarismus: Amitai Etzioni (geb. 1929). Sein in jeder Hinsicht zeitgenössisches Werk soll hier - im spätmodernen Kontext - nicht ausführlich kommentiert werden. In diesem Epilog geht es lediglich darum, eine mögliche Weiterentwicklung des Gemeinschaftsgedankens in großen Zügen darzustellen und dabei die Aktualität von Tönniesʼ Ansatz noch einmal hervorzuheben. Schon die Titel der zwei hier ausgewählten Werke - The Moral Dimension (1988) und The Spirit of Community (1993) - verweisen auf Tönniesʼ Problematik, zumal die deutsche Übersetzung des ersten Titels - Jenseits des Egoismus-Prinzips (1994) - als prägnante Zusammenfassung von Tönniesʼ Kritik an der „Gesellschaft“ gelesen werden könnte. Etzionis Kernargument lautet: In der zeitgenössischen individualistischen Gesellschaft überwiegt die Orientierung an individuellen Rechten. Sie bewirkt, dass die Pflichten der Öffentlichkeit gegenüber, die mit diesen Rechten einhergehen, übersehen und vernachlässigt werden. Diese Einstellung lässt einen ungezügelten Egoismus entstehen, der die Gemeinschaft als solidarischen Verband vergessen lässt und den Mitmenschen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel-zum-Zweck betrachtet. In seinem Buch The Active Society (1968) definiert Etzioni die von ihm als Ideal angestrebte Gesellschaft als eine „Assoziation von Mitgliedern, die einander als Zwecke behandeln und Nichtmitglieder so, als wären sie Mitglieder“. 130 Kants Forderung, man solle seinen Nächsten nie als Mittel behandeln, wird so ins Soziale projiziert. Etzioni argumentiert ähnlich wie Tönnies, wenn er das Gewinn-Verlust- Kalkül in Frage stellt und im Anschluss daran eine stärkere Orientierung an der Allgemeinheit fordert: „Tatsächlich wird die Unterscheidung zwischen Gewinn und Verlust entbehrlich: denn des einen Verlust ist des anderen Gewinn. Will man daher ein arbeitsfähiges Konzept entwickeln, so scheint es, daß es das Beste ist, das Streben nach Selbstbefriedigung streng vom Wunsch zu trennen, anderen (inklusive der Allgemeinheit) aus einem 129 W. J. Cahnmann, „Tönnies in Amerika“, in: W. Lepenies, Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 94. 130 A. Etzioni, The Active Society. A Theory of Societal and Political Processes, London, Collier-Macmillan, New York, The Free Press, 1968, S. 14. <?page no="375"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 359 Gefühl moralischer Verpflichtung heraus zu dienen.“ 131 Im Sinne von Tönnies und im Gegenzug zur gesamten utilitaristischen und rationalistischen Tradition bezeichnet Etzioni den Begriff des „Nutzens“ als „eine leere Hülle“. 132 Explizit beruft er sich auf Tönnies in seinem Buch The Spirit of Community, dessen viertes Kapitel mit seinem Titel „Back to We“ sowohl an Durkheim als auch an Tönnies erinnert. Der erste Untertitel dieses Kapitels könnte auch in einem Text von Tönnies vorkommen: „The Loss of Traditional Community“. Gleich am Anfang des Kapitels werden Tönniesʼ Schlüsselbegriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ erwähnt. Wichtiger als direkte Hinweise dieser Art ist der Gebrauch der Wörter „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, die im englischen Original (klein geschrieben) vorkommen, in ihrer Bedeutung jedoch von Tönniesʼ Termini abweichen (daher wird hier das Original zitiert). Zunächst stellt Etzioni fest, dass die nordamerikanische Gesellschaft ein Gemisch aus „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ ist und dass eine Rückkehr zur „Gemeinschaft“ in den USA (u.a. aus wirtschaftlichen Gründen) nicht in Frage kommt: „In short, our society is neither without community nor sufficiently Communitarian; it is neither gemeinschaft nor gesellschaft, but a mixture of the two sociological conditions. America does not need a simple return to gemeinschaft, to the traditional community. Modern economic prerequisites preclude such a shift (…).“ 133 Es fällt auf, dass „Gemeinschaft“ hier (anders als bei Tönnies) dem gesamten wirtschaftlichen Bereich entgegengesetzt wird und dass gemeinschaftliche Formen in diesem Bereich - etwa Tönniesʼ Genossenschaften - nicht mehr als Alternativen zur kapitalistischen Organisation ins Auge gefasst werden. Worin besteht nun Etzionis kommunitaristisches Programm? Er plädiert für eine Stärkung der gemeinschaftlichen Elemente in Städten und Vorstädten: „Thus, we need to strengthen the communitarian elements in the urban and suburban centers (…).“ 134 Konkret stellt sich Etzioni in „The Responsive Communitarian Platform: Rights and Responsibilities“, die im Anhang zu seinem Buch gleichsam als Manifest veröffentlicht wurde, die Stärkung der Familie, der Schule als Gemeinschaft sowie der communities in Städten und Vorstädten vor. Allerdings benennt er nicht konkrete Instanzen, die sich für diese Vergemeinschaftung der Gesellschaft einsetzen könnten. Er muss zugeben, dass die Familie von 131 A. Etzioni, Jenseits des Egoismus-Prinzips. Ein neues Bild von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Stuttgart, Schäffer-Poeschel, 1994, S. 68-69. 132 Ibid., S. 69. 133 A. Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, London, Fontana-Harper-Collins, 1995, S. 122. 134 Ibid. <?page no="376"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 360 Jahrzehnt zu Jahrzehnt schwächer wird und fordert deshalb „moralische Erziehung“ („moral education“) 135 vom Kindergarten bis zur Universität. Wer die Anonymität nordamerikanischer Städte von New York bis Los Angeles erfahren hat und in regelmäßigen Abständen Zeitungsberichte über Gewaltausbrüche an amerikanischen Schulen und Universitäten liest, wird Etzionis „Communitarian Agenda“ mit Skepsis zur Kenntnis nehmen. Anders als Durkheim und Tönnies kann Etzioni keine treibenden Kräfte - Berufsverbände, Genossenschaften, Gewerkschaften oder die Arbeiterklasse - einer Veränderung zum Besseren benennen. Seine Beiträge zum Kommunitarismus sind eher moralische Aufrufe zur Besinnung auf Pflichten und Aufgaben. Die Akteure, die eine solche Besinnung oder Besserung herbeiführen könnten und die noch in der spätmodernen Soziologie der „Klassiker“ die Erzählungen bewegten, sind in Etzionis Postmoderne verschwunden. Zusammenfassung und Ausblick: Die rudimentäre Diskussion zwischen den Zeitgenossen Durkheim und Tönnies ließ ein partielles Einverständnis zutage treten, das für die Soziologie als ganze wichtig ist: Das menschliche Zusammenleben entwickelt sich von der Gemeinschaft im Sinne von Tönnies (als Familie, Dorfgemeinschaft oder Freundschaft) und von Durkheims mechanischer Solidarität zur Gesellschaft, die von Arbeitsteilung, Vereinzelung (Durkheim), Geldwirtschaft, Konkurrenz und Egoismus (Tönnies) geprägt ist. Stärker noch als bei Durkheim ist diese Entwicklung bei Tönnies mit negativen Konnotationen befrachtet. Trotz der Ambivalenz, die seine Argumentation prägt, in der auch die befreiende Wirkung von Traditionszerfall und Individualisierung zur Sprache kommt, erzählt Tönnies einen Zerfallsprozess, in dessen Verlauf die „Gemeinschaft“ als Auftraggeberin des Individuums und der Gruppe allmählich der Gegenauftraggeberin „Gesellschaft“ unterliegt. Insofern ist auch die Aneignung des Objekt-Aktanten, der „sozialen Welt durch die Gemeinschaft“, unwahrscheinlich, zumal die „Gesellschaft“ und ihre Helfer - „Bürgertum“ und „Kapital“ mit ihrer wirtschaftlich-rationalen Modalität des „Kürwillens“ - dem affektiv-sozialen „Wesenwillen“ der „Gemeinschaft“ und ihren Helfern (der „Arbeiterklasse“, den „Frauen“, den „Genossenschaften“) überlegen sind. Dennoch ist auch in der zeitgenössischen Gesellschaft ein Streben nach Gemeinschaft zu beobachten: unter anderem im Internet. Mit seinem Plädoyer für den Gemeinschaftsgeist (spirit of community) versucht Amitai Etzioni in den USA, Tönnies Gemeinschaftsbegriff zu aktualisieren. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, das Georg Simmel Tönniesʼ spätmoderne Skepsis durchaus teilt, obwohl er anders argumentiert. 135 Ibid., S. 258. <?page no="377"?> 361 XI. Vergesellschaftung als Wechselwirkung, subjektive und objektive Kultur: Georg Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz und seine Antworten auf Durkheim und Tönnies Inhaltsverzeichnis 1. Gesetz oder Erzählung? Simmels Individualismus und seine konstruktivistische Antwort auf Hegel, Marx und Comte 2. Formen der Vergesellschaftung: Kant empirisch 3. Geldwirtschaft und Kultur: Simmels ambivalentes Aktantenmodell und die „Tragödie der Kultur“ 4. Entfremdung: Subjektivität als Sackgasse 5. Ambivalenz und Kritik der Moderne: Simmels Antworten auf Durkheim und Tönnies 6. Kulturindustrie als Komödie der Kultur: Adornos und Horkheimers Antwort auf Simmel Wie Durkheim und Tönnies ist Georg Simmel (1858-1918) ein Philosoph und Soziologe der Spätmoderne, der den Fortschrittsglauben moderner Denker wie Marx, Comte und Spencer mit Skepsis betrachtet. Auch er beobachtet zwar die sich beschleunigende Entwicklung der Gesellschaft im demographischen, wirtschaftlichen und technischen Bereich. Er teilt aber nicht die Zuversicht der Modernen, die trotz aller Divergenzen in der Ansicht übereinstimmen, dass diese Entwicklung zu immer höheren Stadien führt und eine Befreiung des Menschen in der klassenlosen Gesellschaft (Marx), im positiv-wissenschaftlichen Stadium (Comte) oder in einer individualistischen Industriegesellschaft (Spencer) mit sich bringt. Anders als diese Denker, von denen er wesentliche Gedanken und Begriffe übernimmt, nimmt er die Ambivalenzen der gesellschaftlichen Entwicklung wahr, die darin bestehen, dass das, was gemeinhin als Fortschritt bezeichnet wird, ein zweischneidiges Schwert ist, das dem Menschen einerseits dient, ihm andererseits auch gefährlich werden kann. Das Geld etwa befreit den Einzelnen zwar von feudalen Fesseln und blind befolgten Traditionen, macht ihn aber durch seine Reduktion aller Dinge auf ihre quantitativen Aspekte unempfindlich für qualitative Unterschiede und Nuancen. Der Fortschritt in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Gesundheitswesen hat ein Anwachsen der sozialen Komplexität zur Folge, die als unbeabsichtigte Nebenwirkung den Einzelnen und die Gruppe zur Ohnmacht verurteilen kann. Es ist vor allem die sich rasch entfaltende und immer mehr Bereiche erfassende Geldwirtschaft, mit der sich Simmel ausführlich befasst: haupt- <?page no="378"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 362 sächlich in seiner Philosophie des Geldes (1900), die eine für das spätmoderne Denken charakteristische Ambivalenz erkennen lässt. Sie kommt dadurch zustande, dass das Geld immer wieder unvereinbare Werte zusammenführt und so den scheinbar unaufhebbaren Gegensatz grundsätzlich in Frage stellt. In einem Essay über „Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens“ stellt Simmel beispielsweise fest: „Als Werth-Ausgleicher und Tauschmittel von unbedingter Allgemeinheit hat das Geld die Kraft, Alles mit Allem in Verbindung zu setzen (…).“ 1 Solche Bemerkungen erinnern an die Betrachtungen des jungen Marx, dem das Geld als die „verkehrende Macht“ erscheint: „als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes“, der „alle Dinge verwechselt, vertauscht“. 2 In dieser gesellschaftlichen und sprachlichen Situation kommt es bei Nietzsche zur „Umwertung aller Werte“ und zu der Überlegung, „daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein“. 3 Als eigentlicher Entdecker der spätmodernen Ambivalenz hat Nietzsche nicht nur Schriftsteller wie Robert Musil, Thomas Mann und Marcel Proust beeinflusst, in deren Werken Ambivalenz sowohl Kritik als auch Ironie zeitigt, sondern auch Soziologen der Spätmoderne wie Pareto, Simmel und Max Weber. Simmel, dessen Denken sich zwischen Kant und Nietzsche bewegt, kann Gegensätze wie Arbeit / Kapital (Marx), Wissenschaft / Glaube (Comte) oder militante Gesellschaft / Industriegesellschaft (Spencer), die den teleologisch strukturierten und auf Fortschritt ausgerichteten modernen Erzählungen zugrunde liegen, nicht mehr ernst nehmen. 4 Er nimmt wie Pareto die Komplizenschaft von Arbeit und Kapital wahr, durchschaut die Mythen der Wissenschaft und beobachtet den militanten Charakter der imperialistischen Industriegesellschaften um 1900. In diesem Kontext beschreibt er die Ambivalenz des Geldes, des Fortschritts, der Vergesellschaftung und der Kultur. Als Ganzes betrachtet zeigt 1 G. Simmel, „Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, Georg Simmel Gesamtausgabe, fortan: GSG, Bd. V, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 224. 2 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 301. 3 F. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 568. 4 Vgl. W. Dreyer, „Gesellschaft, Kultur und Individuum. Zur Grundlegung der Soziologie bei Georg Simmel“, in: F. Dörr-Backes, L. Nieder (Hrsg.), George Simmel between Mo dernity and Postmodernity / Georg Simmel zwischen Moderne und Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1995, S. 87. <?page no="379"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 363 sein Werk, das vom Grundgedanken der Vergesellschaftung als Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen ausgeht, wie schließlich der Vergesellschaftungsprozess eine materielle und geistige Kultur hervorbringt, die dem Einzelnen und der Gruppe wie eine fremde Welt begegnet. Was in der Aufklärung als moderne Befreiung durch Geld, Wissenschaft und Technik begann, schlägt in neue Unterwerfung und Unmündigkeit um. Wie in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (vgl. Kap. VI) wird das sich scheinbar emanzipierende Subjekt zum Unterworfenen (sub-iectum) seiner eigenen Schöpfung. Vergesellschaftung, Geldwirtschaft und Kultur erscheinen aus dieser Sicht als ambivalente Prozesse, in denen Befreiung, Subjektwerdung und Unterwerfung unentwirrbar ineinander greifen. In Übereinstimmung mit der Dialektik Adornos und Horkheimers, aber im Gegensatz zu der Dialektik Hegels wird in