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Soziologische Theoriebildung

Ein Handbuch auf dialogischer Basis

0914
2020
978-3-8385-5370-2
978-3-8252-5370-7
UTB 
Peter V. Zima

Dieses Handbuch bietet eine Übersicht über die soziologische Theoriebildung der letzten 200 Jahre. Beginnend mit Hegel, Marx und Comte, werden zusammen mit den Klassikern (Durkheim, M. Weber, Parsons) und der Spätmoderne (Luhmann, Habermas, Touraine) die wichtigsten soziologischen Theorien bis hin zur Postmoderne (Baudrillard, Sennett, Foucault) behandelt. Dabei wird jeweils auch der historischphilosophische Kontext rekonstruiert. Anders als die meisten Einführungen in die soziologische Theorie hat dieser Band eine dialogische Struktur: Der Bezug der Theorien aufeinander lässt ihre Stärken, Schwächen und Besonderheiten hervortreten. Im metatheoretischen Dialog werden die kommentierten Theorien getestet. Sie werden konstruktivistisch als Erzählstrukturen aufgefasst, die aus besonderen, kontingenten Perspektiven hervorgehen. Die Kapitel verknüpfen jeweils vier Ebenen miteinander: Dialogizität, Narrativität, Terminologie und Historizität. Der Band wendet sich an fortgeschrittene Studierende und eignet sich hervorragend als Begleiter für das ganze Studium der Soziologie.

<?page no="0"?> Peter V. Zima Soziologische Theoriebildung Ein Handbuch auf dialogischer Basis <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5370 <?page no="2"?> Prof. emeritus Dr. Peter V. Zima lehrte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist seit 1998 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London und seit 2014 Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai. <?page no="3"?> Peter V. Zima Soziologische Theoriebildung Ein Handbuch auf dialogischer Basis Narr Francke Attempto Verlag Tübingen <?page no="4"?> www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: georgeclerk (495692241) © istockphotos.com 2020 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5370 ISBN 978-3-8252-5370-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5370-2 (ePDF) <?page no="5"?> Das Wort verwandelt sich zur Kampfarena zweier Stimmen Michail M. Bachtin <?page no="7"?> VII Inhalt sverzeichnis Vorwort ........................................................................................................................... XI Einleitung .........................................................................................................................1 Theoretische Prolegomena................................................................................. 17 I. Wer beobachtet Gesellschaft? Standorte der Theorie zwischen Engagement, Wertfreiheit und Distanzierung...........................................21 II. Wer erzählt Gesellschaft und wie? Prozess oder Handlung? Theorie als Erzählung, Konstrukt und Dialog............................................47 III. Subjekt- und Handlungstheorie semiotisch und soziologisch: Von Algirdas Julien Greimas zu George Herbert Mead und Erving Goffman ........................................................................................................75 Erster Teil: Moderne soziologische Theorien als Erzählungen und ihre Kritik in der Spätmoderne ........................................................... 103 IV. Kapital und Tauschwert, Arbeit und Klassenkampf: Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx .......... 107 V. Säkularisierung und Rationalisierung: Auguste Comtes Erzählung als Antwort auf das Marxsche Geschichtsverständnis - und die marxistische Replik..................................................................................... 143 VI. Naturbeherrschung und Subjektivität: Adornos und Horkheimers Kritische Theorie als Antwort auf Positivismus, Hegelianismus und Marxismus ..................................................................... 177 VII. Subjektivität und Subjektkritik, Bewegung und Emanzipation: Feministische Gesellschaftstheorien als Antworten auf den Marxismus und die Kritische Theorie ........................................................ 215 Zweiter Teil: Die soziologischen Theorien der Spätmoderne ..... 245 VIII. Die „Zirkulation der Eliten“ und die „ewige Wiederkehr des Gleichen“: Von Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca zu C. Wright Mills und Robert Michels (Paretos machiavellistische und nietzscheanische Antwort auf Marx).......................................................... 249 <?page no="8"?> Inhalt VIII IX. Differenzierung und Individuum, Kollektivbewusstsein, Solidarität und Anomie: Emile Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencers Individualismus ............................................................ 283 X. Gemeinschaft und Gesellschaft, Wesenwille und Kürwille: Ferdinand Tönniesʼ Soziologie der Spätmoderne als Replik auf Spencer, Durkheim und Marx ...................................................................... 327 XI. Vergesellschaftung als Wechselwirkung, subjektive und objektive Kultur: Georg Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz und seine Antworten auf Durkheim und Tönnies ...... 361 XII. Wertfreiheit und Idealtypus, Rationalisierungsprozess, Bürokratie und Charisma: Die verstehende Soziologie Max Webers als Antwort auf den Marxismus .................................................................. 395 XIII. Figuration und Zivilisationsprozess, Engagement und Distanzierung: Norbert Eliasʼ Prozesssoziologie als Ergänzung zu Max Webers Rationalisierungstheorie - und Alfred Webers Replik...... 443 Dritter Teil: Spätmoderne soziologische Theorien in der Postmoderne ..........................................................................................................489 XIV. Handlung und Struktur, funktionale Differenzierung und System: Talcott Parsonsʼ historisch-systematische Grundlegung der Soziologie ..................................................................................................... 493 XV. Differenzierung und Systembildung, Kommunikation und Autopoiesis: Niklas Luhmanns Parsons-Kritik und seine Umformulierung der Systemtheorie ......................................................... 547 XVI. Systeme und Lebenswelt, instrumentelle und kommunikative Vernunft: Jürgen Habermasʼ Alternative zur Systemtheorie .......... 611 XVII. Subjekt, Handlung und Bewegung, postindustrielle Gesellschaft und das „Ende der Gesellschaften“: Alain Touraines Handlungssoziologie als Antwort auf Marxismus, Habermas und die Systemtheorie..................................................................................................... 671 XVIII. Kapital und Klasse, Habitus und Feld: Pierre Bourdieus Soziologie als Gegenentwurf zu Touraine und Luhmann ............................ 707 XIX. Doppelte Hermeneutik und Strukturierung, Risikogesellschaft und reflexive Moderne: Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck (Giddens antwortet Habermas und Bourdieu) ..................................... 773 Vierter Teil: Postmoderne Soziologien ....................................................827 XX. Moderne und Ambivalenz, Postmoderne, flüchtige Moderne und Individualisierung: Zygmunt Baumans kritische Soziologie als Antwort auf Giddens und Beck .................................................................... 833 <?page no="9"?> Inhalt IX XXI. Tauschwert, Simulacrum und Simulation in der Mediengesellschaft: Jean Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz und der Sieg des Antisubjekts (Baudrillard antwortet Giddens, Beck und Bauman)............................................................................................ 869 XXII. Öffentlichkeit, Urbanität und Intimität, das flexible Subjekt und der Narzissmus: Richard Sennett antwortet Habermas und wird von Christopher Lasch und David Le Breton ergänzt.............. 905 XXIII. Macht, Vernunft und Subjektivität, postmodernes „Stammesbewusstsein“ und der Niedergang des Individualismus: Michel Foucaults und Michel Maffesolis Antworten auf die Moderne ....... 941 Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick ...................................981 Bibliografie .............................................................................................................999 Sachregister ......................................................................................................... 1038 Personenregister .............................................................................................. 1058 <?page no="11"?> XI Vorwort Anders als die meisten Gesamtdarstellungen soziologischer Theorien, die vorwiegend chronologisch aufgebaut sind, verknüpft das vorliegende Buch vier Ebenen miteinander: Dialogizität, Narrativität, Terminologie und Historizität. Die kommentierten Theorien werden als Diskurse oder Erzählungen dialogisch aufeinander bezogen, und ihre Terminologien werden in den philosophisch-historischen Kontexten, in denen sie entstanden sind, gedeutet. Der Dialog ist seit der Antike ein bewährtes Mittel der Erklärung und Erläuterung. Schon Sokrates war bestrebt, durch kritisches, ja provozierendes Fragen seinen Gesprächspartnern mehr oder weniger problematische Argumente oder Gegenfragen zu entlocken, um den Denkprozess zu beleben, Verwirrungen aufzulösen und Begriffe zu klären. Im vorliegenden Fall soll das beziehungslose Nebeneinander soziologischer Theorien in ein sinnstiftendes Für- und Gegeneinander überführt werden, in dem jede der kommentierten Theorien ein schärferes Profil in der Auseinandersetzung mit ihren Rivalinnen gewinnt: Im Dialog sollen ihre Stärken, Schwächen und Lücken besser sichtbar werden. Nicht nur bekannte Diskussionen, die tatsächlich stattgefunden haben, wie der Streit um die Wissenssoziologie, der Positivismusstreit, die Habermas-Luhmann-Debatte und das Gespräch zwischen Giddens und Beck werden kommentiert 1 ; auch Marx und Pareto stoßen hier im Dialog als „Geistergespräch“ aufeinander und indirekt auch ihre Mentoren Hegel und Nietzsche, die seit über hundert Jahren zu den wichtigsten Kontrahenten der Philosophiegeschichte gehören. Die zu klärende Frage hört sich in diesem Fall recht einfach an: Bewegt sich die Geschichte als sinnvoller Prozess auf eine Befreiung der Menschheit von Ausbeutung, Gewalt und Entfremdung zu (Marx) - oder ist sie eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche), weil, wie Pareto meint, eine alte Elite oder Oligarchie stets von einer neuen, noch unverbrauchten abgelöst wird? In dem hier konstruierten Dialog (und es handelt sich in den meisten Fällen um eine Konstruktion) geht es nicht darum, einer Seite Recht zu geben und die andere zu verdammen, sondern es geht um die Frage, ob die Zusammenführung scheinbar gegensätzlicher Positionen nicht zu einer 1 Vgl. dazu: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt, Suhrkamp, 2010. <?page no="12"?> Vorwort XII Korrektur beider führen könnte. In dem hier erwähnten Fall erscheint es sinnvoll, allen Emanzipationsbewegungen eine Parallellektüre von Marx und Pareto zu empfehlen, die zeigt, dass ein Streben nach Emanzipation nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich die Akteure mit den von Pareto, Mosca und Robert Michels (vgl. Kap. VIII) beschriebenen Mechanismen der Oligarchiebildung eingehend befasst haben. Zu vergleichbaren Einsichten führt der hier inszenierte Dialog zwischen Anthony Giddens und Ulrich Beck auf der einen und Zygmunt Bauman oder Michel Foucault auf der anderen Seite. Während Giddens und Beck das (durchaus risikoreiche) Emanzipationspotenzial beschreiben, das die Freisetzung moderner Menschen aus Traditionen, überlieferten Rollenmustern und anderen Zwangslagen mit sich bringt, machen Bauman und Michel Foucault auf die neuen Überwachungs- und Disziplinierungsmechanismen aufmerksam, denen die modernen Freiheiten zum Opfer fallen könnten. Auch hier lohnen sich Parallellektüren, die Tendenzen und Gegentendenzen aufeinander beziehen. Vor diesem Hintergrund ist das zugleich essayistische und dialektische Leitmotiv aus Theodor W. Adornos Negativer Dialektik zu verstehen, das hier - wie in einer Symphonie - in verschiedenen Kontexten und in abgewandelter Form immer wieder zu hören sein wird: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 2 Der Ausdruck „gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben“, schließt Relativismus aus: Die Gegenstimmen sollen alle gehört und diskutiert werden - aber ohne dass das Subjekt der Theorie (hier der Dialogischen Theorie als Metatheorie: vgl. Kap. II) in der Polyphonie aufgeht. Dialektik und der hier konzipierte Dialog hängen insofern zusammen, als sie beide die Ambivalenz der sozialen Erscheinungen wahrnehmen und die Gegensätze (weiter oben: Tendenz und Gegentendenz) zusammenführen, ohne sie im Höheren - etwa in einer hegelianischen Synthese - aufzuheben. Die Zusammenführung der Gegensätze - hier der einander widersprechenden Theorien - soll nicht in Systembildung als „Supertheorie“ münden, sondern kritisches Nachdenken in einem offenen, unabschließbaren Dialog ermöglichen und neue Einsichten fördern (vgl. Kap. II. 5). 3 Wo ideologisch, sprachlich und wissenschaftlich heterogene Theorien aufeinander bezogen werden, drängt sich die Frage auf, was denn eine Theorie sei. Damit ist der zweite, eingangs erwähnte Aspekt des Buches 2 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 3 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur und So zialwissenschaften, Tübingen, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), „Dritter Teil. Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung“. <?page no="13"?> Vorwort XIII angesprochen: Narrativität. Theorien werden hier als Diskurse oder semantisch-narrative Strukturen 4 aufgefasst, deren Subjekte (als „Erzähler“) versuchen, gesellschaftliche Entwicklungen („von der Stammesgesellschaft zur Industriegesellschaft“, „vom Feudalismus zum Kapitalismus“) zu erzählen. So ist auch die Selektion der hier kommentierten Theorien zu verstehen: Es wurden vorzugsweise Theorien der sozialen Entwicklung ausgewählt. In ihnen bietet die Form der Erzählung, wie sich im zweiten Kapitel zeigen wird, eine Erklärung an: So wird beispielsweise das Erstarken des Individualismus mit der Verstädterung und der tendenziellen Auflösung der Dorfgemeinschaft samt ihren Traditionen erzählt und erklärt. Hier zeigt sich, dass Erzählungen in den verschiedensten kulturellen Bereichen vorkommen und keineswegs eine rein literarische Erscheinung sind. Ihre Untersuchung im soziologischen Bereich hat nichts mit einer Reduktion der Soziologie auf Literatur zu tun. Erzähltheorien haben in Semiotik, Textlinguistik und Literaturwissenschaft eine facettenreiche Vergangenheit, und sie sind schon früh, wenn auch auf eher intuitive Art, in die Geschichtswissenschaft eingeführt worden: in Deutschland unter anderem von Werner Schiffer 5 , der im zweiten Kapitel zu Wort kommt, in den Niederlanden von Frank R. Ankersmit. 6 In der Soziologie geht Dirk Kaesler auf die narrativen Aspekte von Theorien ein. 7 Es fehlt jedoch im sozialwissenschaftlichen Bereich eine Erzähltheorie, mit deren Hilfe die narrativen Verfahren soziologischer Theorien untersucht werden könnten. Auf die Rolle des Erzählens in der „Wissenschaft“ geht zwar Christina Brandt in ihrem Beitrag zu dem von Matías Martínez herausgegebenen Band Erzählen ein, befasst sich aber fast ausschließlich mit den Naturwissenschaften: mit „Formen und Funktionen (…) im naturwissenschaftlichen Text“. 8 Die Sozialwissenschaften gehen leer aus. 4 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, „Dritter Teil. Der Diskurs der Theorie“. 5 Vgl. W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980. 6 Vgl. F. R. Ankersmit, Narrative Logic. A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Den Haag, Nijhoff, 1983. 7 Vgl. D. Kaesler, „Große Erzählungen sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? , Münster, Lit-Verlag, 2005. Vgl. auch D. Kaesler, „Wozu braucht es eine Geschichte der Klassiker der Soziologie? “, in: Ch. Dayé, S. Moebius (Hrsg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Frankfurt, Suhrkamp, 2015, S. 203: „Jede Sammlung der Klassiker der Soziologie muss als ein Unternehmen verstanden werden, das im Überschneidungsbereich von Soziologie und Geschichtswissenschaft angesiedelt ist.“ 8 Ch. Brandt, „Wissenschaft“, in: M. Martínez (Hrsg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Metzler, 2017, S. 212. <?page no="14"?> Vorwort XIV Im vorliegenden Buch wurde daher auf die Erzähltheorien des französisch-litauischen Semiotikers Algirdas Julien Greimas und des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette zurückgegriffen. Vor allem Greimas hat sich schon in den 1970er Jahren systematisch mit den Erzählstrukturen politischer, juristischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse befasst und war stets darauf bedacht, mit Hilfe seiner Aktantenmodelle, die im zweiten Kapitel (II. 2) ausführlich kommentiert werden, die semantische Basis (als Ensemble von Gegensätzen und Klassifikationen) mit dem narrativen Ablauf zu verknüpfen. 9 Im narrativen Ablauf (in der Erzählung als Aussagevorgang) spielt der von Gérard Genette eingeführte Begriff des Fokalisators eine entscheidende Rolle: Er bezeichnet die Person oder Instanz, von deren Standpunkt aus beobachtet und erzählt wird. Es wird sich beispielsweise zeigen, dass Marx die gesellschaftliche Entwicklung vom Standpunkt des „Proletariats“ aus beobachtet und erzählt, während der postmoderne Michel Maffesoli sie aus der Sicht der zeitgenössischen Jugendgruppen, der „Neo-Stämme“, betrachtet. In allen Fällen geht es um die Frage, wie soziologische Theorien als semantisch-narrative Strukturen in den Prozessen der Beobachtung und Erzählung zustande kommen, wie sie „gemacht“ sind. So sind die Titel der beiden ersten Kapitel aufzufassen: „Wer beobachtet Gesellschaft? “ und „Wer erzählt Gesellschaft? “. In diesem Kontext ist auch das Wort „Theoriebildung“ im Haupttitel zu verstehen: Wie werden Theorien als semantischnarrative Strukturen oder Erzählungen gebildet - und in welchen Kontexten? Die dialogische Konfrontation soziologischer Theorien erfolgt somit auf erzähltheoretischer Ebene. Auf dieser Ebene erscheinen sie als mögliche Konstruktionen der Wirklichkeit (nicht als „richtige“ oder „falsche“ Abbildungen). Die Frage lautet nicht: Welche Theorie kommt der Wirklichkeit am nächsten, welche ist richtig? - sondern: Welche Aspekte der sozialen Wirklichkeit macht eine Theorie sichtbar und welche verdeckt sie? Hier spielen die Erkenntnisinteressen von Beobachterinnen und Beobachtern, Leserinnen und Lesern eine entscheidende Rolle: Wer erfahren möchte, wie das politische System oder das Rechtssystem funktioniert, wird möglicherweise eher mit Luhmann das soziale Geschehen beobachten wollen als mit der hier vertretenen dialogischen Variante der Kritischen Theorie (Adornos und Horkheimers). Wer in beiden Systemen wirtschaftliche Interferenzen feststellt und beginnt, an Luhmanns Auffassung systemischer Autonomie zu zweifeln, wird sich vielleicht wieder einer Theorie der dialektischen Vermittlung - oder Bourdieus Theorie der Felder, 9 Vgl. A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976. <?page no="15"?> Vorwort XV die verschiedene Autonomiegrade unterscheidet, zuwenden. Stets lautet die Frage: Was erklärt diese Theorie, wie weit reicht sie - und wo lässt ihre Terminologie uns im Stich? Diese Terminologie als dritter Aspekt des Buches wird zwar in allen Titeln mit bestimmten Namen wie Durkheim, Max Weber, Parsons oder Giddens verknüpft; sie steht aber überall an erster Stelle. Ihre Darstellung entspricht dem historisch-philosophischen Aufbau des Buches (vierter Aspekt), der im „Ersten Teil“ durch dialogische Einschübe unterbrochen wird: Dort kommt es aus Kohärenzgründen primär darauf an, die kritisch-theoretischen und feministischen Reaktionen auf Hegelianismus, Marxismus und Positivismus als unmittelbare, nachvollziehbare Repliken zu inszenieren - und nicht erst im „Dritten“ oder „Vierten Teil“. Diese Anordnung rechtfertigt auch die Überlegung, dass die Terminologie der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers aus den Philosophien von Hegel und Marx ableitbar ist und zugleich als Alternative zu Comtes Positivismus konzipiert wurde. Zu diesem im „Ersten Teil“ konstruierten Komplex gehört auch der Feminismus, der, wie sich zeigen wird, die Frage aufkommen lässt: „Wie kritisch ist Kritische Theorie? “ Sie gehört zu dem von Adorno skizzierten „Gegen-sich-selbst-Denken“ - und zum offenen Dialog. Im achten Kapitel, in dem Pareto, Mosca, Michels und C. Wright Mills den Dialektikern Hegel und Marx antworten, wird die historische Reihenfolge fortgesetzt. Es wird u.a. gezeigt, dass spätmoderne Denker wie Pareto nicht länger an die linearen und zum Teil utopischen Erzählungen der Moderne (Hegel, Marx, Comte) glauben können und daher mit Kritiken und Gegenentwürfen reagieren. Ihre Skepsis nimmt im Laufe der Spätmoderne (als Kritik der Moderne) zu und erreicht in der Postmoderne ihren Höhepunkt. Freilich ist diese Darstellung, die dem gesamten Buch zugrunde liegt, selbst eine narrative Konstruktion des Autors, die als solche zu verstehen und zu handhaben ist: als Hypothese über die Entwicklung von Soziologie und Gesellschaft, die mit anderen Hypothesen zu konkurrieren hat. Wer mit dem Postmoderne-Begriff nichts anfangen kann, wird möglicherweise Widerspruch anmelden. Allerdings muss er sich dann die Frage gefallen lassen, wo er Soziologen wie Zygmunt Bauman oder Michel Maffesoli unterbringen will, die sich selbst als „postmodern“ bezeichnen - oder einen seinem Selbstverständnis nach postmodernen Theoretiker und Schriftsteller wie Umberto Eco. Der Autor hofft, dass es möglich sein wird, dieses Buch mit Hilfe des terminologischen Aufbaus auch als Nachschlagewerk zu verwenden, um etwa im zehnten Kapitel (Abschnitt 4 oder 6) ohne allzu großen Zeitaufwand zu erfahren, was Ferdinand Tönnies unter „Wesenwille“ und „Kürwille“ versteht oder was „Kommunitarismus“ im Sinne von Amitai Etzioni bedeutet. <?page no="16"?> Vorwort XVI Ob diese Hoffnung realistisch ist, können die im 21. Jahrhundert hoffentlich immer noch geneigten Leserinnen und Leser eher beurteilen als er selbst. Das Problem besteht darin, dass in richtigen Nachschlagewerken manche Artikel, in denen Begriffe erläutert werden, zu kurz und daher zu abstrakt geraten sind. Hier sind die mit Begriffen überschriebenen Abschnitte zwar wesentlich ausführlicher - aber vielleicht wieder zu lang, um der Schnellinformation zu dienen. In dieser Hinsicht hat sich der Autor an seinem eigenen langen Soziologie-Studium orientiert, als rasche Informationen stets heiß begehrt waren. Lang war dieses Studium, weil es zwar bald abgeschlossen, aber später immer wieder fortgeführt wurde, bis es schließlich in dieses ausufernde Buch mündete, das einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten zum Gegenstand hat und die Arbeiten des Autors über den Theoriebegriff - Ideologie und Theo rie (1989), Was ist Theorie? (2004, 2017) - abschließt. Das Studium begann in den 1960er Jahren in Edinburg, wo damals Tom Burns für das Fach Soziologie zuständig war, dessen Buch über Erving Goffman hier im dritten Kapitel verwendet wird. Es wurde in den 70er Jahren in Paris fortgesetzt, wo der Autor bei Roland Barthes, Jean Cassou, Lucien Goldmann und Algirdas Julien Greimas seine erste literatursoziologische Dissertation vorbereitete. Es folgte schließlich eine dritte Phase an der Universität Bielefeld, wo er als Gastdozent an der Soziologischen Fakultät Literatursoziologie lehrte und Gelegenheit hatte, außer Niklas Luhmann, dessen Werk hier ausführlich im fünfzehnten Kapitel kommentiert wird, auch Otthein Rammstedt kennen zu lernen. Dessen Theorie der sozialen Bewegung kommt im Schlussteil des siebzehnten Kapitels (über Alain Touraines Handlungssoziologie) zur Sprache. Der Autor kann nur hoffen, dass sich seine Faszination für das Fach Soziologie auf seine Leserinnen und Leser überträgt, denen die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien helfen sollte, sich in anderen Bereichen der Soziologie, die stets theoretisch vorkonstruiert sind, besser zu orientieren. In mancher Hinsicht ähnelt diese Art von Wissenschaft dem Bergsteigen: Wer von einem Gipfel fasziniert ist, vergisst schnell, dass er noch ein zweites und drittes Vorgebirge zu bewältigen hat, bevor er am Ziel ist. Und der Orientierungssinn bessert sich mit jedem Höhenmeter. Der Autor dankt Arno Bammé (Klagenfurt), Rainer Greshoff (Bremen) und Joseph Jurt (Basel / Freiburg) für ihre Hilfe bei der Materialbeschaffung und ihre wertvollen Ratschläge zu den Kapiteln X (Bammé), XV (Greshoff) und XVIII (Jurt). Er ist auch seiner Frau Veronica Smith zu Dank verpflichtet: Sie hat nicht nur an der Textkorrektur mitgewirkt, sondern auch wesentlich zur Lösung unzähliger technischer Probleme beigetragen. <?page no="17"?> 1 Einleitung Inhaltsverzeichnis 1. Dialog und Metasprache 2. Standort des Beobachters 3. Soziologische Theorie als Erzählung 4. Soziologische Theorie zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne Da der dialogische Aufbau dieses Buches auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag, sollen hier in aller Knappheit die im Vorwort kurz erwähnten Kerngedanken anhand von Beispielen erläutert werden. Dabei geht es vor allem um Schlüsselbegriffe wie „Dialog“, „Standort des Beobachters“ und „Theorie als Erzählung“ sowie um die soziologische Theorie im Übergang von der Moderne zur Postmoderne. Die hier skizzierten Gedanken werden anschließend in den ersten drei Kapiteln konkretisiert und kommen in allen vier Teilen des Buches zur Anwendung. 1. Dialog und Metasprache Während die meisten Einführungen in die soziologische Theorie einen vorwiegend additiven Charakter haben und die wichtigsten theoretischen Ansätze zumeist in chronologischer oder thematischer Reihenfolge kommentieren 1 , hat diese Einführung nicht nur eine chronologisch-thematische, sondern auch - und vor allem - eine dialogische Struktur. Dies bedeutet, dass einerseits Diskussionen - etwa die zwischen Durkheim und Tönnies oder Habermas und Luhmann -, andererseits kritische Reaktionen und Repliken zum Anlass werden, soziologische Theorien vergleichend aufeinander zu beziehen und zu bewerten. Der Theorienvergleich 2 und das 1 Vgl. z.B. M. Dillon, Introduction to Sociological Theory. Theorists, Concepts and their Applicability to the Twenty-First Century, Madden-Oxford-Chichester, John Wiley and Sons, 2014 (2. Aufl.) sowie J. Ritzen, J. Stepnisky, Sociological Theory, London, Sage, 2018. In diesem Band wechseln theoretische und thematische Perspektiven ab: z.B. „Varieties of Neomarxian Theory“ (Kap. VIII) und „Globalization Theory“ (Kap. XVI). 2 Zum Theorienvergleich siehe: R. Greshoff, „Die Theorievergleichsdebatte in der deutschsprachigen Soziologie“, in: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt, Suhrkamp, 2010, S. 184, wo der herrschende „Theorienpluralismus“ als unbefriedigend dargestellt wird: „Nach und nach entsteht so ein Theorienpluralismus, der bis <?page no="18"?> Einleitung 2 „Geistergespräch“ sind weitere Aspekte des dialogischen Verfahrens, das auf der Überlegung gründet, dass erst in der Auseinandersetzung mit anderen, konkurrierenden Betrachtungsweisen die Vorzüge und Nachteile, die Stärken und Schwächen einer Theorie zutage treten. 3 Es geht jedoch nicht nur um die Bewertung oder kritische Überprüfung von Theorien in einer dialogischen Konfrontation, sondern auch und vielleicht vor allem um ihr besseres Verständnis. Denn erst im Vergleich zeigt sich die Besonderheit oder Eigenart einer Erscheinung: eines Gesellschaftssystems, eines politischen Systems oder einer Sprache. Den europäischen Feudalismus versteht man besser, wenn man ihn in seinen verschiedenen Ausprägungen mit den feudalen Verhältnissen im mittelalterlichen Japan der Samurai vergleicht, zu einer konkreteren Bestimmung des französischen Präsidialsystems kann entscheidend ein kontrastiver Vergleich mit dem der USA beitragen 4 , und die kontrastive Linguistik lässt nicht nur die Gegensätze und Unterschiede zwischen Sprachen hervortreten, sondern lässt auch ihre Möglichkeiten und Grenzen erkennen. Seine eigene Sprache versteht man besser, wenn man sie mit anderen Sprachen vergleicht. Dazu bemerkt Goethe: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ 5 Analog dazu ließe sich behaupten: „Wer andere Theorien nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass die Konstruktion der eigenen Theorie nur in ständiger Auseinandersetzung mit anderen, „fremden“ Theorien möglich ist, die den Annahmen der eigenen Theorie widersprechen. Auch hier ist ein Vergleich mit der Sprache und dem Spracherwerb hilfreich: Unsere Muttersprache erwerben wir im Laufe der primären und sekundären Sozialisation in einem permanenten Dialog mit dem „fremden Wort“, wie Bachtin, der Theoretiker des Dialogs 6 , sagt: mit Eltern, Geschwistern, Freunden, Bekannten und Lehrern. Erst durch ihren Dissens, ihren abweichenden Sprachgebrauch und ihre Korrekturen lernen wir richtig sprechen. Dies gilt in noch stärkerem Ausmaß für die Fremdsprache: Erst die Auseinandersetzung mit dem fremden Wort und der Andersheit der native speaker oder der heute als charakteristisch für die Theorieszene in der Soziologie gilt.“ Theorienvergleich und Dialog können als Antworten auf das beziehungslose Nebeneinander von Theorien aufgefasst werden. 3 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Teil III: „Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung“. 4 M. Duverger (Hrsg.), Les Régimes sémi-présidentiels, Paris, PUF, 1986. 5 W. J. Goethe, Maximen und Reflexionen. Gesamtausgabe, Bd. XXI, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S. 13. 6 Vgl. M. Holquist, Dialogism. Bakhtin and his World, London-New York, Routledge, 1990, darin vor allem: „Existence as Dialogue“ und „Language as Dialogue“. <?page no="19"?> Einleitung 3 Texte einer anderen Kultur bringt uns die andere Sprache näher und lehrt uns, richtig zu sprechen, anders zu denken (z.B. ohne die Infinitivform im Neugriechischen) und die eigene Sprache oder Kultur gleichsam von außen zu betrachten und dadurch besser, konkreter zu verstehen. Für die Subjektivität eines jeden Menschen bedeutet dies, dass sie sich in einem permanenten Dialog mit anderen Individuen oder Gruppen bildet, die im Laufe der Sozialisierung dazu beitragen, dass der Einzelne kein sprachloses Infans bleibt, sondern sprachliche und andere Fähigkeiten erwirbt: gesellschaftliche Umgangsformen, berufliche Kompetenzen und - wissenschaftliches Arbeiten. In diesem Buch steht der dialogische Charakter des wissenschaftlichen Arbeitens und vor allem der Theoriebildung im Vordergrund. Es soll gezeigt werden, dass jede soziologische Theorie die Gesellschaft und ihre Entwicklung von einem bestimmten, stets partikularen Standort aus beobachtet und darstellt oder „erzählt“ und dass ihr dadurch bestimmte Tatsachen, Ereignisse oder Prozesse entgehen, die in anderen Theorien zentral sind und dort genau untersucht werden. Im Dialog werden die blinden Flecken oder Lücken der verschiedenen Theorien erkennbar, und es zeichnen sich Alternativen zu ihren Beobachtungen und Darstellungen ab. Dieser produktive Aspekt der theoretischen Konfrontation entgeht Max Haller, der sich kritisch mit Anthony Giddensʼ Behauptung auseinandersetzt, „daß soziologische Theorien in gewisser Hinsicht ‚eindeutig miteinander kollidieren‘ und es einige grundlegende (unlösbare? ) theoretische Dilemmas gebe (…). Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Dilemmas allerdings nicht als wirkliche Probleme einer modernen soziologischen Theorie, sondern als recht abstrakte philosophisch-metaphysische Grundfragen, von denen ich annehme, daß sie überhaupt unbeantwortbar sind“. 7 Statt die theoretischen Widersprüche im Metaphysischen verpuffen zu lassen, sollen sie hier im Rahmen des dialogischen Ansatzes für den soziologischen Erkenntnisprozess fruchtbar gemacht werden. Wenn Pareto und Mosca beispielsweise geltend machen, dass eine soziale Klasse wie das Proletariat aus quantitativen und organisatorischen Gründen nicht regieren, keine „Diktatur“ ausüben kann, so dass eine Usurpation ihrer Macht durch eine gut organisierte Elite unvermeidlich wird (vgl. Kap. VIII), so relativiert dieses Argument die Marxsche Klassentheorie und bringt die Erkenntnis weiter - ohne die Klassentheorie umstandslos durch die Elitentheorie zu ersetzen. Das dialogische Verfahren führt nicht zum Relativismus, sondern soll - wie der Erwerb von Fremdsprachen - zu einem konkreteren Verständnis 7 M. Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen, Leske- Budrich, 1999, S. 37. <?page no="20"?> Einleitung 4 der eigenen Position (der eignen theoretischen Sprache) beitragen und in der Auseinandersetzung mit dem Anderen und seiner Andersheit Korrekturen dieser Position ermöglichen. Es bewegt sich auf metasprachlicher, metatheoretischer Ebene und soll allen Beteiligten eine „Außenansicht“ ihrer Standorte oder Prämissen und der auf ihnen gründenden Theorien bieten. Es geht - mit Bachtin ausgedrückt - um „das Verhältnis zum Anderen“ („otnošenie k drugomu“) 8 und um den reflexiven Versuch, „sich selbst als einen Anderen vorzustellen“. 9 Dazu bemerkt Tzvetan Todorov: „Bachtin geht vom Einfachsten aus: Wir können uns niemals in unserer Gesamtheit wahrnehmen; zur Selbstwahrnehmung brauchen wir (…) den Anderen (…).“ 10 In diesem Kontext erscheint die Dialogische Theorie, die diesem Buch zugrunde liegt, als Metatheorie, die eine kritische Selbstwahrnehmung einzelner Theorien ermöglichen soll, indem sie sie gleichsam von außen - mit den Augen der Anderen - betrachtet und verfremdet. Dadurch kann sie das Selbstverständnis der beteiligten Theorien erneuern, stärken und zugleich zu ihrem besseren Verständnis bei ihren Kritikern beitragen. Sie visiert nicht den Konsens an, sondern die Wechselwirkung zwischen Konsens und Dissens. Ihren Gegenstand bilden die Beziehungen zwischen alten und neuen, einander widersprechenden soziologischen Theorien sowie deren Strukturen. Auf sprachlicher Ebene ist die Metatheorie als eine Metasprache darstellbar, die sich auf Objektsprachen bezieht, welche die soziale Wirklichkeit zum Gegenstand haben: das Individuum, die Familie, den Beruf, die soziale Rolle, die Klasse oder Schicht. Die Linguistik beispielsweise ist auch eine Metasprache, weil sie natürliche Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) als Objektsprachen untersucht. Es gilt aus sprachphilosophischer und semiotischer Sicht, „klar zwischen der Sprache, von der wir sprechen, und der Sprache, die wir sprechen, zu unterscheiden“. 11 Soziologische Theorien sind Objektsprachen (konkreter: Diskurse als semantisch-narrative Konstruktionen), die auf metasprachlicher Ebene von einer Metatheorie aufeinander bezogen werden können. Dem theoretischen Dialog wohnt der Begriff der Metatheorie inne, weil jemand, der den Dialog beobachtet, dies von einer Metaebene aus tut: ähnlich wie jemand, der ein Fußballspiel beobachtet und dabei die Techniken und Taktiken der beiden Mannschaften (stets kritisch) vergleicht. Philosophen und Soziologen beziehen sich oft implizit oder explizit, affirmativ oder kritisch 8 M. M. Bachtin, „Problema avtora“, in: Voprosy filosofii 30/ 7, 1977, S. 150. 9 Ibid., S. 156. 10 T. Todorov, „Bakhtine et l’altérité“, in: Poétique 40, 1979, S. 503. 11 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 224. <?page no="21"?> Einleitung 5 aufeinander und verfolgen dabei bestimmte Absichten, wenden spezifische Taktiken an. Sie können einander ignorieren (etwa Emile Durkheim und Max Weber), ergänzen (etwa Durkheim und Ferdinand Tönnies) oder teilweise widersprechen (etwa Max Weber und Karl Marx). Es gilt, diese Absichten und Taktiken auf sprachlich-diskursiver Ebene zu untersuchen, um den spezifischen Charakter einer jeden Theorie näher bestimmen zu können. In gewisser Hinsicht ergänzt Auguste Comtes Theorie der Rationalisierung und der Säkularisierung die Marxsche Theorie des Kapitalismus und der Klassenkämpfe; aber sie widerspricht ihr auch, weil sie alternative Erklärungen für die Entwicklung der modernen Gesellschaft anbietet. Durch ihre Hervorhebung von Prozessen wie „Verweltlichung“ und „Verwissenschaftlichung“ wirft sie die Frage auf, ob das Handeln von Klassen als Kollektivsubjekten der entscheidende Faktor ist, der sozialen Wandel bewirkt. Handlung oder Prozess? Und: Sind Prozesse ohne Handlungen von Individuen oder Gruppen, ohne Subjekte möglich? Wie hängen Handlung, Subjekt, Kollektivsubjekt und Prozess zusammen? Diese und verwandte Fragen lässt eine Konfrontation von Marx, Saint-Simon und Comte im „Ersten Teil“ des Buches aufkommen. Vergleichbare Fragen drängen sich in allen Dialogen auf, in denen heterogene soziologische Positionen kollidieren. Der Dialog soll die teilnehmenden Individuen und Gruppen ermutigen, „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“ 12 , wie es Adorno in der Negativen Dialektik ausdrückt. Adornos Verfahren liegt ein dialogisches Moment zugrunde, das in den Kommentaren zu seinem Werk bisher nicht beachtet wurde. 13 Das vorliegende Buch geht von der Annahme aus, dass Dialektik und Dialog untrennbar zusammenhängen. Sie sind mit dem Monolog der Ideologie unvereinbar, wie sich im zweiten Kapitel zeigen wird. Während sich der dualistisch strukturierte Diskurs der Ideologie, der manichäisch Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheidet, mit der Wirklichkeit identifiziert (d.h. seine Definition der Wirklichkeit für die einzig mögliche hält) und dadurch den Dialog mit dem Anderen und Andersartigen ausschließt, stellt das Subjekt der Theorie seinen Diskurs als eine nur mögliche, kontingente Konstruktion dar und räumt anderen Diskursen das Recht ein, die Wirklichkeit ganz anders zu konstruieren. Während der Ideologe - als Politiker, religiöser Eiferer oder Moralist - Montaignes Frage „Was weiß ich“? , Kants Frage „Was kann ich wissen? “ und die kritische Frage „Ist das wahr? “ mit Pseudowissen, vorschnellen Annahmen oder Vorurteilen unterdrückt, wirft der Theoretiker diese drei Fragen in jedem Zusammenhang von neuem auf, um seinen Diskurs zu 12 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. 13 Vgl. Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. VI. 5. <?page no="22"?> Einleitung 6 öffnen und den dialogischen Prozess in Gang zu halten. Er weiß um die Kontingenz seines Standortes; er weiß auch, dass andere Standorte andere, für ihn neue Perspektiven eröffnen können. 2. Standort des Beobachters Im ersten Kapitel wird sich zeigen, dass der Standort, den ein Theoretiker einnimmt, darüber entscheidet, wie er Natur oder Gesellschaft wahrnimmt und was er aus der Fülle der beobachteten Tatsachen und Ereignisse im Rahmen seiner Theorie als besonders wichtig oder relevant auswählt. Seine Auswahl oder Selektion hängt stets von bestimmten impliziten oder expliziten Relevanzkriterien ab, die wiederum auf ideologischen Wertsetzungen gründen, die nicht immer - in Wirklichkeit nur selten - explizit dargestellt und erläutert werden. Dies bedeutet, dass es kaum eine von Ideologien oder Theorien unabhängige Beobachtung gibt: Was relevant, weniger relevant oder irrelevant ist, darüber entscheidet explizit oder implizit die vom Beobachter oder einer Gruppe von Beobachtern bewusst oder unbewusst vertretene Ideologie oder Theorie. Der Beobachter des gesellschaftlichen Lebens, ob er nun Politiker, Journalist oder Wissenschaftler ist, ähnelt einem Fotografen oder Maler, der mitten in einer bunten Landschaft entscheiden muss, worauf er sein Objektiv richten, welchem Eindruck er auf seiner Leinwand den Vorzug geben soll. Stets beherrscht das, was im Mittelpunkt steht, das Gesamtbild, während alles, was an die Ränder verbannt wurde, nebensächlich wirkt oder gar unscharf, verschwommen ist. Während aber die Landschaft, vor allem, wenn es sich um eine Wildnis handelt, keine menschlichen Wertungen erkennen lässt, ist Gesellschaft voller Interessen, Werte, Normen und Konflikte, die den Beobachter oft unmittelbar betreffen und ihn daran hindern, sie mit ähnlicher Distanz zu betrachten wie eine Pappel, einen leeren Strand oder die Weite des Meeres. Er mag zwar Wertsetzungen und Normen beschreiben, ohne sie zu bewerten, aber seiner Selektion und seiner Fokussierung (auf diese und nicht jene Wertsetzung oder Norm) wird stets ideologisch-theoretische Wertung innewohnen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Begründer der Soziologie - Marx, Saint-Simon und Comte - keine neutralen Beobachter waren, die die gesellschaftlichen Zustände sine ira et studio betrachteten, sondern engagierte Denker, die sich bewusst für bestimmte Entwicklungen einsetzten. Vor allem Marx wandte sich als Weggefährte der gesellschaftskritischen und polemisierenden Junghegelianer (Arnold Ruge, Max Stirner, Bruno Bauer u.a.) gegen den staatstragenden Idealismus Hegels und ergriff Partei für das ausgebeutete Proletariat, das mitten im neunzehnten Jahrhundert von der Verelendung bedroht war. <?page no="23"?> Einleitung 7 Im Gegensatz dazu plädierte Saint-Simon, der Marx beeinflusst hat, in Briefen an die französische Regierung für eine Verwaltung der Gesellschaft durch die „Industriellen“ (chefs des travaux industriels) 14 , zu denen Fabrikanten, Ingenieure und Wissenschaftler gehörten. Ihm schwebte als Endziel der gesellschaftlichen Entwicklung ein Sozialismus vor, den Marx als „utopisch“ bezeichnete und verwarf. Saint-Simons Schüler und Freund Auguste Comte, der den sich beschleunigenden Säkularisierungsprozess untersuchte (vgl. Kap. V), setzte sich ebenfalls für die aufgeklärte Herrschaft von Unternehmern, Wirtschaftsexperten und Wissenschaftlern ein. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze verbindet diese drei Denker ein soziales Engagement: für bestimmte Formen des Sozialismus oder eine wissenschaftlich aufgeklärte, humane Gesellschaft. Ein solches Engagement kann blenden und die Theorie, deren Prämissen als Relevanzkriterien und Selektionen stets auf Wertungen gründen, letztlich auf eine Ideologie (als Wertsystem) reduzieren (vgl. Kap. II). Die Industriellen, auf die Saint-Simon alle seine Hoffnungen setzte, verfolgten durchaus partikulare Gruppeninteressen, und Saint-Simons Annahme, dass sie sich im Geiste der Aufklärung spontan für das Gemeinwohl einsetzen würden, wurde enttäuscht, weil sie auf einer ideologischen Blendung gründete. Als noch fragwürdiger erwies sich Marx᾽ Plädoyer für eine „Diktatur des Proletariats“, die aus organisatorischen Gründen nicht verwirklicht werden konnte und später in der Sowjetunion und ihrem Einflussbereich durch die Diktatur einer Partei ersetzt wurde, die Lenin in seinem Buch Staat und Revolution (1918) 15 rechtfertigte. Max Weber, der nicht nur Soziologe, sondern auch Wirtschaftswissenschaftler, Jurist und Politiker war, betrachtete diese Art von Engagement stets mit Sorge und Skepsis. Im ersten und zwölften Kapitel soll erläutert werden, was er sich unter einer wertungs- oder werturteilsfreien Beobachtung der Gesellschaft vorstellte. Das Kernargument seiner „verstehenden Soziologie“ lautet, dass es möglich sein muss, gesellschaftliches Handeln zu verstehen und zu erklären, ohne es zu bewerten. Im ersten und zweiten Kapitel wird sich jedoch zeigen, dass Weber seine Konstruktion der gesellschaftlichen Entwicklung als Rationalisierungsprozess (Kap. XII) u.a. gegen Hegels und Marx᾽ Konstruktionen kritisch-polemisch abgrenzt, so dass von einer „wertungsfreien“ Theorie (sofern diese in ihrer Gesamtheit als Diskurs betrachtet wird) nicht im Ernst die Rede sein kann, zumal diese Theorie auch als - durchaus wertende - Alternative zu den Entwürfen anderer Soziologen (etwa Durkheims) aufgefasst werden kann. 14 Cl.-H. de Saint-Simon, 1 ère opinion politique des industriels. 1 er chant des industriels (Ed. 1821), Paris, Hachette, 1821 (Reprint), S. 199. 15 Vgl. V. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin, Dietz Verlag, 1976, S. 90-93. <?page no="24"?> Einleitung 8 Die von Norbert Elias (Kap. I. 6 und Kap. XIII)) geforderte kritische Distanz zu den Werten, die der eigenen Theorie zugrunde liegen, kann noch am ehesten in einem offenen Dialog mit anderen Ansätzen gewährleistet werden. In diesem Dialog wird der Beobachter der Gesellschaft mitsamt seiner Theorie selbst der kritischen Beobachtung durch andere (konkurrierende) Theoretiker ausgesetzt, so dass es zu einer „Beobachtung zweiter Ordnung“ im Sinne von Niklas Luhmann (Kap. I. 6 und Kap. XV) kommt. Luhmann verknüpft das Beobachten mit dem Erzählvorgang, wenn er bemerkt: „Der Erzähler kommt in dem, was er erzählt, selber vor. Er ist als Beobachter beobachtbar. Er konstituiert sich selbst in seinem eigenen Feld - und daher zwangsläufig im Modus der Kontingenz, also mit Seitenblick auf andere Möglichkeiten.“ 16 Hier wird in drei Sätzen das Programm des theoretischen Dialogs zusammengefasst: In ihm soll zunächst das wertende, ideologische Engagement des Theoretikers auf Metaebene zutage treten. In der Diskussion, im Vergleich oder im „Geistergespräch“ wird er sodann - ebenfalls auf Metaebene - von anderen Theoretikern kritisch beobachtet, so dass die Art seines Beobachtens (seine Relevanzkriterien, Selektionen und Definitionen) besser verstanden wird. Schließlich zeichnen sich Alternativen zu seiner Beobachtung und Erzählung der Gesellschaft ab. 3. Soziologische Theorie als Erzählung Zwischen dem Beobachten und dem Erzählen, dem Verstehen und dem Erklären besteht ein enger Zusammenhang, der im zweiten Kapitel genauer untersucht wird. Vorerst mag es genügen, einige wesentliche Aspekte dieses Zusammenhangs zu beleuchten. Eine grundsätzliche Überlegung zum Verhältnis von Erzählung, Verständnis und Erklärung findet sich in Werner Schiffers Buch Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz, wo es im Anschluss an den britischen Historiker A. C. Danto heißt: „Vor allem Dantos nicht nur geschichts-, sondern auch erzähltheoretisch provozierende Kernthese - die Form der Erzählung sei bereits als solche eine Form der Erklärung - ist bisher nicht genauer auf ihre Tragfähigkeit und Konsequenzen überprüft worden.“ 17 Da die meisten soziologischen Theorien implizit oder explizit Gesellschaft erzählen, ist diese These auch auf sie anwendbar und kann im soziologischen Bereich überprüft und gegebenenfalls konkretisiert werden. Historische, politische und gesellschaftliche Ereignisse oder Entwicklungen können auf sehr verschiedene Arten erzählt werden, und bei 16 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 74. 17 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. <?page no="25"?> Einleitung 9 näherer Betrachtung wird deutlich, dass die „Form der Erzählung“ nicht nur eine „Form der Erklärung“ ist, sondern zugleich auch eine Bewertung der Ereignisse und Ereignisabfolgen beinhaltet. Der Streit um Geschichtsbücher, in denen die Untaten des eigenen Volkes (seiner Regierungen) im Rahmen einer nationalistischen Ideologie beschönigt werden, während die Untaten der Nachbarvölker (ihrer Regierungen) als besonders irrational und grausam erscheinen, veranschaulicht, was gemeint ist. Noch konkreter lassen historische und zeitgeschichtliche Ereignisse erkennen, wie sehr in einer Erzählung Erklärung und Bewertung ineinander greifen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist sicherlich ein äußerst komplexes Ereignis, das auf zahlreiche Faktoren zurückzuführen ist und nicht einfach aus dem Attentat von Sarajewo und aus der darauf folgenden österreichischen Kriegserklärung an Serbien abgeleitet werden kann. Die Tatsache, dass im Vertrag von Versailles (1919) die Kriegsschuld einseitig den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn angelastet wurde, lässt - aus europäischer Sicht - eine ideologische Erzählung erkennen, in der die politisch-militärische Ereigniskausalität monologisch vereinfacht, „erklärt“ wird, um den Siegermächten politische, wirtschaftliche und geostrategische Vorteile zu sichern. So bilden schließlich Erklärung und Bewertung des Kriegsausbruchs ein unentwirrbares Ganzes von Werturteilen, Behauptungen und Teilerzählungen. Nur ein theoretischer Dialog, an dem kompetente Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen teilnehmen, vermag diese Art von Monolog aufzubrechen und sich dem wirklichen Zusammenhang - stets asymptotisch - zu nähern. Hier wird der Unterschied zwischen der von Machtansprüchen motivierten Ideologie und der erkenntnisorientierten Theorie deutlich, der zu den wichtigsten Themen des zweiten und dritten Kapitels gehört. Dass ideologische Erzählungen aus Erzählstrukturen der Theorie hervorgehen können, zeigen die Versuche sowjetischer Regierungen, die militärischen Interventionen in der Tschechoslowakei (1968) und in Afghanistan (1979) zu rechtfertigen. In beiden Fällen lautete das Argument (in Erzählform): Es gelte, die reaktionären Kräfte zu besiegen, um eine sozialistische und demokratische Entwicklung dieser Länder zu ermöglichen. Um der ideologischen Rechtfertigung eine affektive Komponente zu verleihen, wurde der Ausdruck „brüderliche Hilfe“ geprägt. Die Hypothesen, dass es der Sowjetführung im ersten Fall darum ging, eine perestrojka avant la lettre und den Zerfall des Warschauer Paktes zu verhindern, und im zweiten Fall den Einfluss des Islam in den südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion (Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan usw.) einzudämmen, wurden monologisch ausgeblendet. Diese ideologische Erzählung der sowjetischen Regierung ist insofern aus der Theorie ableitbar, als der Marxismus, später der Marxismus- <?page no="26"?> Einleitung 10 Leninismus, die gesellschaftliche Entwicklung als einen emanzipatorischen Klassenkampf gegen die reaktionären Kräfte der Bourgeoisie, des Absolutismus und des Feudalismus erzählten. Diese Erzählung, die bei Marx und Engels noch von kritischen, theoretischen Impulsen angetrieben wurde, erstarrte später zu einem ideologischen Monolog, als der Marxismus-Leninismus zur Staatsideologie und zu einem Machtinstrument verkam. Es gehört zu den Hauptaufgaben des Dialogs, das Denken von den Machtansprüchen der Ideologie zu befreien und einer Ideologisierung der Theorie, die, wie dieses Beispiel zeigt, stets möglich ist, entgegenzuwirken (vgl. Kap. II). Eines der Grundprobleme der soziologischen (historischen, politikwissenschaftlichen) Erzählung sind die Relevanzkriterien der Beobachter. Davon zeugen die Auseinandersetzungen um „Moderne“, „Zweite Moderne“ und „Postmoderne“ im sozialwissenschaftlichen Bereich, die vor allem im „Dritten“ und „Vierten Teil“ dieses Buches zur Sprache kommen. Ist die Tatsache, dass moderne Entwicklungen wie Industrialisierung, technischer Fortschritt und Rationalisierung in zunehmendem Maße kritisch reflektiert werden, relevant? Und rechtfertigt sie - wie Ulrich Beck meint (vgl. Kap. XIX) - die Bezeichnung „Zweite Moderne“? Oder ist die zurzeit häufige Verabschiedung des Universalismus (Universalvernunft, Staat, Recht) so wichtig, dass sie, wie Jean-François Lyotard und der britische Soziologe Zygmunt Bauman meinen (vgl. Kap. XX), eher die Bezeichnung „Postmoderne“ für unsere Gesellschaft plausibel erscheinen lässt? Wie wird die heutige Gesellschaft erzählt, und von welchen philosophischen und ideologischen Erkenntnisinteressen werden die einzelnen Erzählungen geleitet? Der von unzähligen Historikern kontrovers konstruierte Erste Weltkrieg, den das Zusammenwirken bekannter und unbekannter Faktoren ausbrechen ließ, und der - stets konstruierte - Übergang von der Moderne zu einer „Zweiten Moderne“ oder zur „Postmoderne“ lassen abermals das schon im ersten Abschnitt angesprochene Problem hervortreten, das mit dem Erzählen zusammenhängt: Soll die Gesellschaft als eine Verkettung individueller oder kollektiver Handlungen oder als Prozess erzählt werden? Schon Saint-Simon war - wohl zu Recht - der Meinung, man sollte die Geschichte der Menschheit nicht als Geschichte von Dynastien auffassen. Für ihn waren - wie später für Marx - die Handlungen von Klassen relevant. Ist aber, wie Marx meint, die menschliche Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen adäquat zu verstehen? Zeigt Emile Durkheim nicht, dass die differenzierende Arbeitsteilung ab einem bestimmten historischen Stadium zur Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklung wird? Auch Luhmann hält Differenzierung als Ausdifferenzierung einzelner sozialer Systeme für den eigentlichen Motor der menschlichen Geschichte. Prozess <?page no="27"?> Einleitung 11 oder Handlung? Das zweite Kapitel wird sich ausführlicher mit dieser Frage befassen. Anders als literarische Gattungen wie Epos, Roman oder Drama, in denen die Handlung auf ein glückliches oder tragisches Ende zustrebt, bieten Philosophie und Soziologie dem Erzähler die Möglichkeit, einen groß angelegten Kreis zu entwerfen und alles von neuem beginnen zu lassen. Während Hegel die Idee des modernen Staates und seiner Sittlichkeit (konkret: des preußischen Staates) für das Ziel der Geschichte hält, meint Nietzsche, in der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ den wahren Kern der auf den ersten Blick undurchschaubaren historischen Dynamik erkannt zu haben. In Übereinstimmung mit Nietzsche entwirft der italienische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Vilfredo Pareto ein zirkuläres Modell der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn er im Gegensatz zu Saint-Simon, Comte und Marx zu zeigen versucht, dass sich diese Entwicklung nicht auf ein rational definierbares Ziel zubewegt (vernünftige, menschliche, klassenlose Gesellschaft), sondern einer Kreisbewegung folgt: Eine Elite, deren soziale und politische Energie erschöpft ist, wird von einer aufstrebenden Elite von der Macht verdrängt. Ist dieser Fall nicht in der Sowjetunion nach 1917 eingetreten? Was würden Marx und die Marxisten zu dieser „nietzscheanischen“ Erzählung sagen? Mit diesen Fragen befasst sich das achte Kapitel. 4. Soziologische Theorie zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne Auch im vorliegenden Buch wird die Entwicklung der Soziologie auf eine bestimmte - durchaus kontingente - Art erzählt oder konstruiert. Ihre Konstruktion, der die Differenzierung von Moderne, Spätmoderne und Postmoderne als relevante Unterscheidung zugrunde liegt, ist alles andere als objektiv, sondern hat heuristisch-hypothetischen Charakter. 18 Ihre erste Erzählsequenz kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Die Zuversicht moderner Soziologen wie Saint-Simon, Comte, Marx und Spencer, dass sich die Gesellschaft von Stadium zu Stadium auf ein historisches Ziel zubewegt, das mit einer aufgeklärten, menschlicheren oder einer von der Klassenherrschaft befreiten Gesellschaft zusammenfällt, geht schon in der Spätmoderne (zwischen 1860 und 1950) verloren. Im Laufe dieser Epoche löst sich die Soziologie, die Comte als erster so bezeichnete, allmählich von der Philosophie ab und wird von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel und Vilfredo Pareto 18 Vgl. Vf., „Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne“, in: S. Moebius, F. Nungesser, K. Scherke (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Bd. II: Theorien - Methoden - Felder, Wiesbaden, Springer VS, 2019, S. 171. <?page no="28"?> Einleitung 12 als eigenständige Wissenschaft etabliert. In Durkheims Dissertation De la division du travail social (1893, dt. Über soziale Arbeitsteilung, 1977) und in seiner empirischen Studie über den Selbstmord (Le Suicide, 1897, dt. Der Selbstmord, 1973) nimmt die Soziologie als Fachwissenschaft klare Konturen an. Es ist eine Wissenschaft der Krise, die bei Durkheim eine Schwächung der gesellschaftlichen Solidarität diagnostiziert und bei Max Weber einen für Europa und Nordamerika charakteristischen Rationalisierungsprozess nachzeichnet, der in eine lähmende Bürokratisierung der Gesellschaft münden könnte. Simmel hebt zwar die Freisetzung des Individuums durch die Geldwirtschaft und das Großstadtleben hervor, beobachtet aber - zugleich mit Alfred Weber - die „Tragödie der Kultur“, die darin besteht, dass der Einzelne mit einer stetig wachsenden Kultur konfrontiert wird, die er sich als endliches Individuum nicht aneignen kann, so dass er letztendlich die Übersicht über die Wissensvorräte seiner Zeit verliert. Schließlich hält Alfred Weber in einer Erzählung „gegen den Strich“ sogar eine „Rebarbarisierung der Kultur“ für möglich, die durch die Unterordnung aller kulturellen Werte und des Menschen selbst unter die zivilisatorischen Imperative des Nutzens und des technischen Fortschritts herbeigeführt wird (vgl. Kap. XIII. 6). Hier ist von Marxʼ und Engelsʼ Zuversicht, dass sich der Kapitalismus als Klassengesellschaft im Interesse aller Menschen überwinden lässt, nichts mehr zu spüren. Auch Comtes von der Aufklärung geerbter Fortschrittsglaube wird desavouiert. Auf formaler oder erzähltheoretischer Ebene ist die Kreisförmigkeit von Paretos Erzählung für die Verfassung der Spätmoderne besonders kennzeichnend. Anders als Durkheim, Simmel, Max Weber und Alfred Weber betrachtet Pareto die gesellschaftliche Entwicklung nicht mit einer Mischung aus Hoffnung und Skepsis, sondern mit den Augen eines pessimistischen Realisten, der jede Art von Glauben an soziale Emanzipation für illusorisch hält. Der Kampf zwischen sozialen Gruppen oder Klassen führt nicht zur Befreiung, denn: „Die Geschichte ist ein Friedhof von Aristokratien.“ 19 Dass auf diesem Friedhof keine Wiedergeburt der Menschheit zu erwarten ist, versteht sich von selbst (vgl. Kap. VIII). Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die auf Emanzipation ausgerichtet ist und in jeder Hinsicht als Negation von Paretos Soziologie betrachtet werden kann, ist dennoch für die Spätmoderne symptomatisch, weil sie die Hoffnung auf eine geschichtsimmanente Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse aufgegeben hat. Insofern kann sie als eine radikale Kritik an Marx und am Marxismus aufgefasst werden. Es kam nicht zur Verwirklichung der Philosophie durch das Proletariat, wie der junge Marx 19 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, München, Finanz-Buch Verlag, 2006, S. 255. <?page no="29"?> Einleitung 13 gehofft hatte, und dieses Scheitern der Revolution kommentiert lapidar der erste Satz von Adornos Negativer Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 20 Die Entwicklung, die zu einer Überwindung der Verhältnisse führen könnte, ist blockiert, und Adorno betraut die kritische Kunst mit der Aufgabe, die bei Marx das revolutionäre Proletariat bewältigen sollte: Sie soll Statthalterin des menschlichen Gesamtsubjekts sein und zusammen mit dem kritisch denkenden Einzelnen das Schlimmste verhüten. Als Erzählung gleicht Adornos Philosophie einer „Dialektik im Stillstand“. Auch Habermasʼ Gesellschaftstheorie ist eher als defensiv zu bezeichnen, wie sich im sechzehnten Kapitel zeigen wird. Habermas lehnt Adornos Ausrichtung der Theorie auf die Negativität der Kunst ab und plädiert stattdessen für einen intersubjektiven, kommunikativen Ansatz, der dazu beitragen soll, die Lebenswelt (E. Husserl, A. Schütz), in der zwischenmenschlichen Verständigung stattfindet, gegen die „sprachlosen“ Systeme Macht und Geld, die die Lebenswelt zunehmend „kolonisieren“, zu verteidigen. In der folgenden Passage, in der Habermas eine „alternative Praxis“ skizziert, die den Systemen „Macht“ und „Geld“ Widerstand leisten soll, ist der defensive Ton der spätmodernen Gesellschaftserzählung kaum zu überhören, zumal das Wort „gegen“ fünfmal wiederholt wird: „Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.“ 21 Die moderne Vorstellung von einer bevorstehenden Befreiung der Gesellschaft von verfestigten Traditionen, Herrschaft, Willkür und Kapitalwirtschaft wird auch hier verabschiedet. Bei Alain Touraine, dem Soziologen des sozialen Handelns (Sociologie de l’action, 1965), gesellt sich zum defensiven Ton eine Erzählung der modernen Gesellschaft als Zerfallsprozess. Seiner Diagnose zufolge zerfällt die Moderne, die bisher vom Staat als Nation zusammengehalten wurde, in vier konkurrierende Sphären: Eros (Sexualität), Konsum, Nationalismus und Wirtschaftsunternehmen. Im Nexus von Wirtschaft und Konsum tritt hier wie bei Habermas die Vorherrschaft des Geldmediums als Tauschwert zutage, die für die gesamte Postmoderne prägend ist. Gegen diese Vorherrschaft, die den Zerfall der Gesellschaft beschleunigt, begehrt das Subjekt auf: „Was man Postmoderne nennt und was ich als extreme Zerfallsform 20 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 13. 21 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 581. <?page no="30"?> Einleitung 14 des rationalisierten Modells der Moderne bezeichnet habe, ist das, wogegen das Subjekt aufbegehrt.“ 22 Mit „Subjekt“ ist hier nicht nur der Einzelne gemeint, sondern auch und vor allem die soziale Bewegung, von der sich Touraine eine Motivierung und Stärkung der Einzelsubjekte erhofft. Frauenbewegungen, Friedensbewegungen und ökologische Bewegungen sollen den isolierten Individuen in ihrem Kampf gegen die Staatsbürokratie und die Wirtschaftskonzerne den Rücken stärken. Touraines Ansatz überschneidet sich insofern mit dem von Habermas, als der französische Soziologe von den Bewegungen, die eindeutig dem Bereich der Lebenswelt zuzurechnen sind, erwartet, dass sie die lebensweltlichen Anliegen gegen die Systeme „Macht“ und „Geld“ verteidigen. Die Geschichte, die hier erzählt wird, wird somit vom Konflikt zwischen dem Staat und der Wirtschaft einerseits und den von den Bewegungen unterstützten Einzelsubjekten andererseits beherrscht. Es wird sich zeigen (Kap. XVII), dass es ein Konflikt mit ungewissem Ausgang ist. Im Gegensatz zu Touraine betrachtet Zygmunt Bauman die Postmoderne nicht als Zerfallserscheinung, sondern als soziale Pluralisierung und Partikularisierung, die er gegen die universalistischen Ansprüche der Moderne verteidigt und vorwiegend mit positiven Konnotationen versieht. Er spricht von der „postmodernen Akzeptanz nicht reduzierbarer Pluralität“ 23 („the postmodern acceptance of irreducible plurality“) 24 und erklärt: „Ohne universelle Maßstäbe besteht das Problem der postmodernen Welt nicht darin, eine überlegene Kultur zu globalisieren, sondern darin, die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis zwischen den Kulturen zu sichern.“ 25 Der Kern von Baumans Erzählung, der „Übergang vom modernen Universalismus zum postmodernen Partikularismus-Pluralismus“, bringt eine Abkehr von den universalistisch konzipierten modernen Soziologien und den ihnen zugrunde liegenden philosophischen Theorien mit sich: von Rationalismus, Positivismus, Hegelianismus und Marxismus. Bauman radikalisiert Adornos und Horkheimers Kritik an diesen Theorien, indem er sie als Machtinstrumente und Anleitungen zur Disziplinierung für die verschiedenen Varianten des Totalitarismus, für Konzentrationslager und Gulags verantwortlich macht. Bei ihm ist die Moderne als ganze negativ konnotiert: Ihre emanzipatorischen Komponenten, die Habermas betont, werden übergangen. 22 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 292. 23 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Argument Verlag, 1995, S. 95. 24 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York (1992), 1993, S. 64. 25 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, op. cit., S. 133. <?page no="31"?> Einleitung 15 In gewisser Hinsicht kommt es bei dem postmodernen Soziologen Jean Baudrillard zu einer Umkehrung der von Bauman konstruierten Verhältnisse. Denn anders als Bauman, der den Markt vorwiegend mit Pluralismus und kultureller Vielfalt assoziiert, meint Baudrillard, im Markt einen Mechanismus zu erkennen, der alle kulturellen Werte - zusammen mit politischen Ideologien und Gesellschaftskritiken - im Tauschwert auflöst (vgl. Kap. XXI). Das Politische als solches löst sich in einer durch den Tauschwert vermittelten Medienwirklichkeit auf, und Baudrillard spricht von einer „Resorption des Politischen“ 26 , die jede Art von Revolte oder Revolution unmöglich macht. So kommt es, dass in seiner Erzählung in apokalyptischem Ton vom „Schluss mit dem großen marxistischen Versprechen“ 27 die Rede ist und schließlich sogar vom „Ende der Geschichte“. 28 Wir sind, wenn man Baudrillard glauben darf, in der (schon von Arnold Gehlen angekündigten) 29 Posthistoire angekommen, in der nichts Neues mehr zu erwarten ist. Obwohl in einem ganz anderen Kontext und aus anderen Gründen als Pareto, nähert auch Baudrillard seine Erzählung Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ an. Als radikale Kritiker der Moderne und der Herrschaftsansprüche ihres Universalismus erscheinen im „Vierten Teil“ dieses Buches Michel Foucault und Michel Maffesoli eher als Geistesverwandte Baumans und nicht als Weggefährten Baudrillards. Vor allem Maffesoli kehrt sich gegen den Fortschrittsglauben der Moderne, den er mit dem Prometheus-Mythos assoziiert (vgl. Kap. XXIII), und sieht eine postmoderne Ära dionysischer Lebenslust heraufziehen, die seiner Meinung nach von Jugendgruppen (Hippies, Rock-Gruppen, Techno-Gruppen) angekündigt wird, an denen sich seine Soziologie orientiert. Auch sie beschreibt gesellschaftliche Entwicklung nietzscheanisch als kreisförmige Bewegung, nicht als linearen Emanzipationsprozess. Insgesamt wird deutlich, dass die linearen, auf ein klar vorgegebenes Ziel gerichteten Erzählungen, die in der Moderne die Gründungsphase der Soziologie prägten, in der Spätmoderne und Postmoderne von skeptischen Erzählungen abgelöst werden, die entweder einen defensiven Charakter annehmen (Habermas, Touraine) oder eine stagnierende Gesellschaft 26 J. Baudrillard, Die göttliche Linke, München, Matthes und Seitz, 1986, S. 19. 27 Ibid., S. 18. 28 Ibid., S. 77. 29 Vgl. A. Gehlen, „Über kulturelle Kristallisation“, in : W. Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, VCH-Verlag, 1988, S. 141: „Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind (…).“ <?page no="32"?> Einleitung 16 beschreiben, deren Zukunft „verbaut ist“ (Adorno / Horkheimer, Bauman, Baudrillard). Zugleich wird deutlich, dass die Frage, „wie Gesellschaft erzählt wird“, in eine Soziologie der Soziologie mündet, wie sie Pierre Bourdieu in seiner Inaugural-Vorlesung am Collège de France 30 fordert. Der Entwicklung der soziologischen Theorien vom emanzipatorischen Versprechen zu Besorgtheit, Skepsis und Verzweiflung kann ein symptomatischer Wert nicht abgesprochen werden, wie sich in verschieden Kapiteln dieses Buches zeigen wird. Es genügt nicht, soziologische Theorien darzustellen und im Dialog aufeinander zu beziehen. Sie sollen auch - zumindest ansatzweise - im historisch-philosophischen und gesellschaftlichen Kontext erklärt werden. Ihre Erklärung kann nur die Form einer soziologischen Metaerzählung annehmen. Dass diese Erzählung „Von der Moderne zur Spätmoderne, zur Postmoderne“ ihre Kontingenz als nur mögliche Konstruktion oder Hypothese zu reflektieren hat, versteht sich in dem hier entworfenen Zusammenhang von selbst. Sie ist jedoch alles andere als willkürlich, zumal das postmoderne Selbstverständnis von Autoren wie Lyotard, Eco, Baudrillard, Bauman und Maffesoli von der Realität einer postmodernen Problematik zeugt. 30 P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, Paris, Minuit, 1982, S. 54-55. <?page no="33"?> 17 Theoretische Prolegomena Die drei unter dem Titel „Theoretische Prolegomena“ zusammengefassten Kapitel sollen drei komplementäre Fragen beantworten: Wer beobachtet Gesellschaft, und wie wirken sich seine Beobachtungen auf seine Theoriebildung aus? Wer erzählt Gesellschaft, und wie können verschiedene soziologische Erzählungen mit Erkenntnisgewinn aufeinander bezogen werden? Und schließlich: Inwiefern ergänzen Semiotik und Soziologie einander, wenn es gilt, die Konstitution individueller oder kollektiver Subjekte zu beschreiben und ihre Interaktion in Erzählungen besser zu verstehen? Da in der „Einleitung“ schon einiges zu den Schlüsselbegriffen „Beobachtung“, „Theorie als Erzählung“ und „Dialogizität“ gesagt wurde, sollen im Folgenden lediglich die Grundgedanken der drei Kapitel zusammengefasst werden. Beobachtung ist nie ein neutraler, objektiver oder werturteilsfreier Vorgang, sondern hängt immer mit Neigungen und Interessen zusammen. Diese sind nicht nur individuellen (psychischen), sondern auch kollektiven (sozialen, kulturellen, ideologischen) Ursprungs. Sie bewirken, dass eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler nicht alles unterschiedslos beobachtet, sondern bestimmte Selektionen durchführt, die sich auf die ins Auge gefasste Objektkonstruktion („Gesellschaft“, „Schichtung“, „Wissenschaft“ oder „Kunst“) auswirkt. Stets steuern auch kollektive Relevanzkriterien diese Selektionen: Sie entscheiden darüber, was als relevant, weniger relevant oder irrelevant gelten soll. Im Falle von Zeitungen und Zeitschriften, für deren Inhalte Redaktionen zuständig sind, ist der kollektive Charakter von Relevanzkriterien und Selektionen kaum zu übersehen. Aber auch in scheinbar rein individuellen journalistischen oder sozialwissenschaftlichen Abhandlungen machen sich kollektive Wertsetzungen, Normen und Argumentationsmuster bemerkbar. Nicht zufällig schrieb der liberale und individualistisch denkende Herbert Spencer lange Jahre für die britische Wochenzeitschrift The Economist, die bis heute liberales Gedankengut verbreitet (vgl. Kap. IX. 1). Auch kultur- und sozialwissenschaftliche Zeitschriften neigen dazu, Beiträge aufzunehmen, die den ideologischen Denkmustern der Redaktionen entsprechen. Diese Denkmuster, die als Relevanzen und Selektionen sozialwissenschaftlichen Diskursen zugrunde liegen, entscheiden über die Ausrichtung des Diskurses als Erzählung. Diese kann niemals frei von Werturteilen sein, weil sie mit einer besonderen (partikularen und nicht verallgemeinerungsfähigen) Perspektive zusammenfällt. <?page no="34"?> Theoretische Prolegomena 18 Dennoch ist Max Webers Plädoyer für Werturteilsfreiheit in den Sozialwissenschaften (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII. 1) nicht umstandslos von der Hand zu weisen. Will soziologische Theorie nicht in ideologischem Engagement oder gar in platter Propaganda aufgehen und die Fallstricke des Marxismus-Leninismus meiden, muss sie Wege suchen, die zu einer Distanzierung von den eigenen Wertsetzungen und den aus ihnen hervorgehenden Objektkonstruktionen führen. In diesem Sinn wird am Ende des ersten Kapitels nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen sozialem (ideologischem) Engagement und theoretischer Distanzierung als selbstkritischer Reflexion im Sinne von Norbert Elias’ Schrift Engagement und Distanzierung 1 gefragt. Eine solche Distanzierung, so lautet dort die Schlussfolgerung, ist noch am ehesten in einem Dialog heterogener wissenschaftlicher Standpunkte vorstellbar, in dessen Verlauf einander widersprechende Theorien als Erzählungen der Gesellschaft aufeinander bezogen werden. Durch ihre dialogische Zusammenführung als produktive Kollision werden einige ihrer oft unreflektierten Grundannahmen erschüttert und ihre Vertreter zu einer reflektierenden, selbstkritischen Distanzierung angehalten. Diese kann, wie sich im zweiten Kapitel zeigt, zu einer korrigierenden Ergänzung oder Erneuerung, im Extremfall zu einer Aufgabe der Theorie führen. Durch diese dialogische Offenheit für andere Theorien und ihre Gegenargumente unterscheidet sich sozialwissenschaftliche Theorie von der Ideologie. Diese gründet zwar wie die Theorie auf einem Wertsystem und erzählt, ausgehend von diesem Wertsystem, die Wirklichkeit, sie weist aber als Diskurs eine dualistische Struktur auf (hier richtig, dort falsch, hier gut, dort böse), die bewirkt, dass sie sich als Monolog mit der Wirklichkeit gleichsetzt und dadurch Kritik als Gegenargument ausschließt. Im Gegensatz dazu wird Theorie von ihrem eigenen Subjekt als heuristische, nur mögliche Konstruktion aufgefasst, nicht als Abbild der Wirklichkeit. Vom Dialog mit konkurrierenden theoretischen Konstruktionen verspricht sich dieses Subjekt eine reflektierende Erneuerung und Weiterentwicklung seiner Theorie. Es ist der Möglichkeit gewahr, dass eine „Umerzählung“ stets möglich ist und dass das von Adorno favorisierte und vom Dialog begünstigte „Gegen-sich-selbst-Denken“ mit Kreativität einhergeht. Ideologie als monologische Erzählung und Macht- oder Herrschaftsinstrument kommt auch im dritten Kapitel zur Sprache, an dessen Ende das erzähltheoretische Potenzial von Erving Goffmans Handlungssoziologie kommentiert wird. Ohne Erzähltheorien welcher Art auch immer zu erwähnen, zeigt Goffman, wie in psychiatrischen Kliniken und anderen „totalen Institutionen“ die autobiografischen Erzählungen der Insassen in die 1 Vgl. N. Elias, Engagement und Distanzierung, Frankfurt, Suhrkamp, 1983. <?page no="35"?> Theoretische Prolegomena 19 dominierende Erzählung der Institution integriert und dadurch „umerzählt“ werden. Durch diese „Umerzählung“ wird dem Selbstverständnis der Insassen (ihrer „Ich-Identität“) ein institutionalisiertes Fremdverständnis gleichsam überstülpt. Das dritte Kapitel in seiner Gesamtheit soll zeigen, dass das Interesse für das alltägliche Erzählen und die Struktur der Erzählung Semiotik und Soziologie miteinander verbindet und dass die Projektion semiotischer Termini wie Aktant, narratives Programm oder Fokalisator in den soziologischen Bereich das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie - vor allem der Handlungssoziologie - sichtbar macht. Auf einer anderen Ebene als Goffman erzählt Mead, dessen Ansatz im ersten Abschnitt des dritten Kapitels kommentiert wird, wie das Individuum als handlungsfähige Instanz im Prozess der Sozialisation durch die Interaktion infraindividueller Instanzen (der Aktanten „I“, „Me“ und „Self“: vgl. Kap. III. 1) zustande kommt und wie es als sozialisierter Erwachsener mit anderen Individuen interagiert. An Mead knüpft Goffman an, wenn er die Interaktion als Sozialisation auf kollektive Aktanten im Sinne von Greimas’ Semiotik ausdehnt. Er zeigt, wie Teams oder Ensembles vom Theater bis zum Hotelpersonal eine Fas sade (front) aufbauen, die es ihnen gestattet, eine dramatisierte Handlungsabfolge zu bewältigen, die stets eine Erzählung im Sinne der Strukturalen Semiotik ist. In Asyle bringt er schließlich die Herrschaftsmechanismen des Erzählens zur Sprache, die im letzten Abschnitt des dritten Kapitels im dialogischen Kontext analysiert werden. <?page no="37"?> 21 I. Wer beobachtet Gesellschaft? Standorte der Theorie zwischen Engagement, Wertfreiheit und Distanzierung Inhaltsverzeichnis 1. Engagement: Marx, die Marxisten und Hegels Erbe 2. Wertfreiheit als Replik auf den Marxismus: Von Max Weber zum Kriti schen Rationalismus 3. Die „freischwebenden Intellektuellen“ Karl Mannheims und die Wertfrei heit: „Der Streit um die Wissenssoziologie“ 4. Die Kritische Theorie als Antwort auf Marx, M. Weber und Mannheim: Engagement, Nichtidentität und Emanzipation 5. Positivismus vs. Konstruktivismus: Von Auguste Comte zum Behavioris mus 6. Engagement, Distanzierung, Beobachtung: Von Norbert Elias zu Niklas Luhmann Schon die Titelfrage enthält ein grundsätzliches Problem, das im Folgenden an entscheidenden Stellen angeschnitten wird. Denn der Beobachter einer Gesellschaft unterscheidet sich vom Beobachter einer Landschaft oder einer Pflanzenwelt dadurch, dass er selbst von seinem „Objekt“ auch beobachtet, interpretiert und bewertet wird: zumal wenn er sich an eine politisch interessierte Öffentlichkeit wendet, die über sein Fach oder über die Wissenschaft als ganze hinausreicht. Dieses Problem, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler es mit Objekten zu tun haben, die zugleich Subjekte sind, die sich selbst, die Wissenschaftler und die Wissenschaft als ganze beobachten, deuten und bewerten, beschäftigt die Soziologie seit ihrer Entstehung. Seit ihrer Entstehung drängen sich dem Soziologen folgende Fragen auf: Soll er versuchen - wie der Geologe, der Astronom oder der Biologe -, möglichst unvoreingenommen zu beobachten und zu registrieren? Soll er sich vornehmen, anhand seiner Beobachtungen Gesetze aus der sozialen Entwicklung oder aus dem Handeln der Akteure herauszulesen? Soll er sich Wertungen oder Werturteile individueller oder kollektiver Akteure zu eigen machen und sich auf ihrer Seite für bestimmte Ziele engagieren? Oder soll er - im Gegenteil - danach streben, sich von allen Wertsetzungen und Wertungen, die er beobachtet und zu verstehen sucht, verstehend zu distanzieren und für einen wertungsfreien oder wertfreien wissenschaftlichen Diskurs sorgen? Wird die letzte Frage bejaht, drängt sich sogleich die Frage nach der Rolle der Kritik auf, die von so verschiedenen Philosophen und Soziologen <?page no="38"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 22 wie Karl R. Popper, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu für den Motor der wissenschaftlichen Entwicklung gehalten wird. Sind eine gesellschaftskritische Einstellung und ein Verzicht auf Wertung nicht unvereinbar? Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird deutlich, dass Engagement und Distanzierung (im Hinblick auf Wertungen) einander möglicherweise nicht ausschließen, weil beide für die wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich sind. Dem Verb beobachten wohnt nicht nur das Problem der Parteinahme bzw. der Neutralität (als Werturteilsfreiheit oder Wertfreiheit) inne, sondern auch das Problem der theoretischen Perspektive, dem die Überlegung zugrunde liegt, dass von jeder Theorie andere Tatsachen wahrgenommen und auf spezifische Art konstruiert werden. Von den zahlreichen Theorien, die in verschiedenen Wissenschaften miteinander konkurrieren, behauptet jede implizit oder explizit, den richtigen Standpunkt oder die wahre Perspektive zu vertreten. Aber schon dem Ausdruck „wahre“ oder gar „objektive Perspektive“ haftet Widersinn an, weil jede Perspektive nur eine Teilansicht ist: „Betrachtungsweise oder -möglichkeit von einem bestimmten Standpunkt aus“ (Duden). Entscheidend ist der nur mögliche oder kontingente Charakter der Perspektive, den Nietzsche hervorhob, als er schrieb „daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (…), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind (…).“ 1 An diesen Gedankengang knüpft Simon Jander an, wenn er bemerkt: „Jede Erkenntnis, jede Theorie, jede ‚Wahrheit‘ ist eine spezifische Auslegung, eine perspektivische Interpretation der Welt und somit von vornherein fragwürdig und relativ.“ 2 Im Rahmen des dialogischen Ansatzes, der hier vertreten wird, nimmt das Wort „fragwürdig“ außer einer negativen auch eine positive Bedeutung an: Die Theorien, die im Folgenden eine Rolle spielen, sind würdig, sind es wert, auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt zu werden. Die Auseinandersetzung mit ihnen soll zwar nicht zu einer statischen, objektiven Wahrheit im metaphysischen Sinne führen, sie soll aber neue Erkenntnisse und Wahrheitsmomente zeitigen, an denen man vorläufig, heuristisch festhalten kann - bis sie von der wissenschaftlichen Entwicklung überholt werden. Die folgenden Kommentare zu den Begriffen „Engagement“, „Wertfreiheit“ und „Distanzierung“ werden in den Kapiteln IV (Hegel, Marx), XII (M. Weber) und XIII (N. Elias) in anderen Kontexten wieder aufgegriffen und 1 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 497. 2 S. Jander, „Zwischen Auflösung und Setzung: Nietzsches Perspektivismus und die Reflexionsbewegungen in der Essayistik der Moderne“, in: W. Braungart, K. Kaufmann (Hrsg.), Essayismus um 1900, Heidelberg, Winter, 2006, S. 145. <?page no="39"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 23 konkretisiert. Möge die dadurch entstehende Redundanz zu ihrem besseren Verständnis beitragen. Im Zusammenhang mit dem Stichwort „Engagement“ können zwei grundsätzliche Einstellungen von Beobachtern unterschieden werden: Engagement für die Bewahrung des Bestehenden (Hegel) und Engagement für dessen Umgestaltung (Marx, Touraine, feministische Theorien). 1. Engagement: Marx, die Marxisten und Hegels Erbe Hegel und Marx als Hegelianer unterscheiden sich vom spätmodernen Skeptiker Nietzsche wesentlich dadurch, dass sie nicht „perspektivisch“ denken, sondern an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis festhalten. Gegen Kant, der Erkenntnis für einen subjektiven Prozess hält, der an die menschliche (subjektive) Wahrnehmung von Raum und Zeit gebunden ist, so dass wir die Dinge nicht „an sich“ - d.h. objektiv - sondern nur als „für uns seiend“ erkennen können 3 , verteidigt Hegel die Möglichkeit objektiver Erkenntnis: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ 4 Dies bedeutet: Wenn wir den historischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang verstehen, können wir die Wirklichkeit als sinnvolle Totalität objektiv erkennen. Kant wirft er vor, dass er Subjekt und Objekt trennt und die objektive Wirklichkeit als „Ding an sich“ der subjektiven Erkenntnis entzieht: „Die ganze Erkenntnis bleibt [bei Kant] innerhalb der Subjektivität stehen, und drüben ist als Äußeres das Ding an sich.“ 5 Hegels Anspruch, Erkenntnis und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt identifizieren zu können, hat weitreichende politische Folgen. Indem Hegel behauptet, in seinem philosophischen System die Weltvernunft und ihren Gang durch die Geschichte wiederzugeben, identifiziert er seinen Diskurs als Erzählung mit der gesellschaftlichen Entwicklung und postuliert deren vernünftigen Charakter. Dadurch kommt eine Konstruktion der „Vernunft als vorhandener Wirklichkeit“ 6 zustande, die auf eine Apologie der herrschenden Verhältnisse hinausläuft. Wer vernünftig ist, akzeptiert diese Verhältnisse als rational und notwendig und versöhnt sich mit ihnen: „(…) Diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, 3 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1998, S. 120: „ (…) Das transzendentale Objekt aber bleibt uns unbekannt.“ 4 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Werke, Bd. XX, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 350. 6 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 26. <?page no="40"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 24 an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen (…).“ 7 Das heißt: Wer die soziale Wirklichkeit als unvernünftig, ungerecht oder unvollkommen kritisiert, hat sie nicht begriffen. Semiotisch ausgedrückt: Wer die von Hegels Diskurs konstruierte Wirklichkeit nicht akzeptiert, ist irrational und verdient nicht die Bezeichnung „Philosoph“. Das Hegelsche Denken ist weit von Nietzsches Perspektivismus und von jeder Art des konstruktivistischen Bewusstseins entfernt. Fazit: Hegel engagiert sich politisch auf Seiten der Herrschenden, konkret auf Seiten des preußischen Staates, dem er als Beamter und Hochschullehrer diente und dessen Sittlichkeit er für die ultima ratio historischer Entwicklung hielt. Dies durchschaute der junge Marx, als er für eine Umkehrung der Perspektiven und eine Revolutionierung der „unvernünftigen Wirklichkeit“ 8 plädierte. Über den vernünftigen oder unvernünftigen Charakter der Wirklichkeit entscheidet freilich der Standpunkt des Beobachters sowie sein Diskurs, der als Erzählung der Wirklichkeit von diesem Standpunkt aus - zumeist teleologisch auf ein Ziel (telos) hin - gesteuert wird. Anders als Hegel beruft sich Marx nicht auf die Staatsräson als Verkörperung des „Weltgeistes“ und der dem historischen Prozess innewohnenden Vernunft, sondern auf das Bewusstsein der sozialen Klasse, die unter der Ausbeutung menschlicher Arbeit im Kapitalismus am meisten leidet: auf das Proletariat. Von ihm erwartet er die Überwindung der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse in der klassenlosen Gesellschaft, die in seinem Diskurs gleichsam als Endziel der historischen Entwicklung (d.h. seiner Erzählung) an die Stelle von Hegels bürgerlichem Staat tritt. Marx᾽ theoretisches Engagement besteht darin, dass er sein Denken, seine materialistische Dialektik auf das Kollektivbewusstsein des revolutionären Proletariats gründet, das ihm zum neunen historischen Subjekt wird, welches Hegels idealistische Konstruktion eines „Weltgeistes“ als Subjekt der Geschichte ersetzt. Die folgende Passage lässt ein Engagement erkennen, welches das Schicksal der materialistischen Philosophie mit dem der revolutionären Klasse verknüpft: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen (…).“ 9 Diese Formulierung deutet an, dass es sich bei Marx keineswegs um eine einfache materielle Überdeterminierung des Geistigen durch das Materielle, des „Überbaus“ durch die „Basis“ handelt, sondern um eine Wechselbeziehung im Rahmen einer Art von „Wahlverwandtschaft“. (Vgl. weiter unten Max Webers Kritik an Marx.) 7 Ibid., S. 27. 8 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 74. 9 Ibid., S. 223. <?page no="41"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 25 Diese Bindung des Denkens an die materiellen Interessen einer revolutionären Klasse hat Marx veranlasst, im Vorwort zum ersten Band von Das Kapital, seine Vorgehensweise als eine Umkehrung der Hegelschen Philosophie darzustellen: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil.“ 10 Diese Einschätzung, die durchaus ihre Berechtigung hat, wird in den meisten Kommentaren zu Marxʼ Werk wiederholt, erläutert und konkretisiert. Dabei wird übersehen, dass sich Marx auf diskursiver Ebene keineswegs von Hegel gelöst hat, im Gegenteil: Wie Hegel identifiziert er seinen Diskurs mit der historischen Wirklichkeit, indem er ihn mit dem avanciertesten historischen Bewusstsein, dem des Proletariats, verbindet. Freilich hat er dieses Bewusstsein anhand wirklicher Ereignisse selbst konstruiert. Weit davon entfernt, sich Nietzsches Perspektivismus zu eigen zu machen und seine Theorie als ein Ensemble von möglichen Hypothesen aufzufassen, behauptet er, die historische Wahrheit zu besitzen. Dadurch verwandelt er seinen Diskurs in einen Monolog, der die dialogische Auseinandersetzung mit theoretischen Gegenentwürfen vorab ausschließt (vgl. Kap. II). Dieser Wille, Denken und Sein, Diskurs und Wirklichkeit, Theorie und Praxis monologisch zu identifizieren, tritt in Georg Lukácsʼ von Hegels und Marxʼ Dialektik geprägtem Frühwerk Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) besonders krass in Erscheinung. Aufgrund seiner historischen Stellung als revolutionäres Subjekt der Geschichte erscheint das Proletariat dem Hegelianer und Marxisten Lukács als dem Bürgertum kognitiv weit überlegen: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere (…).“ 11 Selbst wenn man diese Behauptung akzeptiert, wird man wissen wollen, wer die „Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt“ (jedoch keinesfalls von selbst), definiert oder (re-)konstruiert. Lukács kennt in dieser Hinsicht keine Zweifel; ihm erscheint „der Marxismus als wissenschaftlicher Standpunkt des Proletariats“. 12 Im Laufe der Jahrzehnte haben allerdings so viele verschiedene, miteinander verfeindete „Marxismen“ diesen Standpunkt gedeutet und revidiert 13 , dass sich Nietzsches Perspektivismus gleichsam von selbst durchgesetzt hat. 10 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S. 12. 11 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1970, S. 288. 12 Ibid., S. 308. 13 Vgl. R. Aron, Marxismes imaginaires. D’une sainte famille à l’autre, Paris, Gallimard, 1970. <?page no="42"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 26 Nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem das revolutionäre Proletariat in die kapitalistische Gesellschaftsordnung größtenteils integriert worden war, sahen sich Marxisten wie Lucien Goldmann, André Gorz und Serge Mallet gezwungen, das marxistische Engagement neu zu definieren, und zwar im Hinblick auf die Entstehung einer neuen Arbeiterklasse, einer nouvelle classe ouvrière, der sie eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse durch das Erzwingen radikaler Sozialreformen (etwa der Arbeiterselbstverwaltung) zutrauten. „Ich glaube“, bemerkt Goldmann, „dass wir uns an dieser neuen Mittelschicht von Angestellten (nouvelle couche moyenne salariée), an dieser neuen Arbeiterklasse, orientieren sollten.“ 14 Die Ausrichtung des marxistischen Diskurses mag sich - aus gesellschaftlichen Gründen - geändert haben, nicht jedoch seine monologische Strukturierung, die damit zusammenhängt, dass sich dieser Diskurs die Interessen bestimmter sozialer Akteure zu eigen macht und behauptet, in deren Perspektive die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit (als sinnvolle Totalität) 15 richtig begreifen zu können. Die Frage, was geschieht, wenn sich herausstellt, dass es diese „neue Arbeiterklasse“ als selbstbewusst handelnde Instanz nicht gibt, darf in einem derart strukturierten Diskurs nicht aufkommen. Engagement als theoretischer Standpunkt ist auch außerhalb des Marxismus anzutreffen. So versucht beispielsweise der französische Soziologe Alain Touraine, der meint, dass die soziale Bewegung die Klasse als Agens der Geschichte abgelöst hat 16 , den Standpunkt fortschrittlicher sozialer Bewegungen einzunehmen. Es sei die Aufgabe der Intellektuellen, bemerkt er in Critique de la modernité, „ein Bündnis zwischen dem Subjekt [als Bewegung] und der Vernunft“ 17 zu ermöglichen. Sollen sich aber Sozialwissenschaftler als kritische Intellektuelle auf Seiten von sozialen Bewegungen engagieren? Diese Frage wird im siebzehnten Kapitel noch einmal aufgeworfen. Feministische Sozialwissenschaftlerinnen wie Françoise Gaspard, die bisweilen aus den von Touraine aufgewerteten Bewegungen hervorgehen 18 , wären nicht abgeneigt, diese Frage zu bejahen. Politisches Engagement und wissenschaftliche Erkenntnis, würden sie sagen, schließen einander nicht aus. Sind aus feministischer Sicht Diskriminierung von Frauen, asymmetrische Machtverteilung und die Anwendung von symbo- 14 L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 170. 15 Vgl. M. Jay, Marxism and Totality. The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley-Los Angeles, Univ. of California Press,1984, S. 102-127. 16 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 282. 17 Ibid., S. 420. 18 Vgl. F. Gaspard, „Le sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le sujet. Autour d’Alain Touraine, Paris, Fayard, 1995, S. 144-148. <?page no="43"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 27 lischer Gewalt nicht eher erkennbar als im Rahmen von etablierten soziologischen Theorien, deren Struktur möglicherweise einen männlichen bias aufweist? Staatsräson, Klasse, Bewegung, Ideologie: Gibt eine Theorie der Gesellschaft, die wertend Partei ergreift, nicht vorab die Möglichkeit preis, soziale Zusammenhänge verstehend zu erklären? Verurteilt sie sich nicht selbst dazu, anachronistisch zu werden, sobald die Staatsräson als Illusion durchschaut wird, der Klassenkampf erlahmt, die Bewegung sich auflöst und die diskreditierte Ideologie ihre Anziehungskraft verliert? 2. Wertfreiheit als Replik auf den Marxismus: Von Max Weber zum Kritischen Rationalismus Max Weber, der mit Marxʼ Werk gut vertraut war, hat eine verstehende Soziologie entworfen (vgl. Kap. XII), die versucht, gesellschaftliche Erscheinungen verstehend zu erklären, ohne sie zu bewerten. Obwohl sein Ansatz so breit angelegt und so vielseitig ist, dass er als bloße „Replik auf Marx“ grob vereinfacht und dadurch missverstanden werden müsste, kann sein Plädoyer für Wertfreiheit oder Werturteilsfreiheit durchaus als Alternative zum hegelianischen Marxismus aufgefasst werden, der sich, wie sich gezeigt hat, mit der historischen Immanenz, d.h. mit dem sich in der Geschichte entfaltenden Sinn und den ihn verwirklichenden Kräften, identifiziert. Webers Ansatz kann auch als Alternative zu allen soziologischen Theorien aufgefasst werden, die sich vom politisch-ideologischen Engagement leiten lassen und auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit Kritik und Veränderungswillen reagieren (z.B. Touraines Handlungssoziologie, feministische Soziologie, Kritische Theorie). Im Anschluss an Max Weber wird Wertfreiheit allgemein definiert als „die Forderung nach Objektivität, nach interesseloser, reiner Wirklichkeitsaussage, nach sauberer Trennung von Seins- und Sollens-Aussagen in der sozialwissenschaftl. Forschung und Theoriearbeit“. 19 Weber selbst unterscheidet in seinem richtungweisenden Aufsatz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“ Wertung und Wertbeziehung: „Es sei nur daran erinnert, daß der Ausdruck ‚Wertbeziehung‘ lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ‚Interesses‘ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.“ 20 19 K-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 965. 20 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973, S. 277. <?page no="44"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 28 Diese Unterscheidung veranschaulicht Leo Strauss, wenn er schreibt: „Weber bestand aber nicht weniger nachdrücklich auf dem grundlegenden Unterschied zwischen ‚Wertbeziehungen‘ und ‚Werturteilen‘: wenn man z.B. sagt, etwas sei im Hinblick auf die politische Freiheit bedeutsam, dann nimmt man weder für noch gegen die politische Freiheit Stellung.“ 21 Schon an dieser Stelle drängt sich im Zusammenhang mit dem unscheinbaren Wörtchen „etwas“ die Frage auf, ob die Feststellung „Privateigentum ist für die politische Freiheit bedeutsam“ als wertfrei gelten kann. Und: Wer definiert „politische Freiheit“? Anders gesagt: Den Wertbeziehungen als Einstellungen zu bestimmten Werten und als Selektionen von Werten, die zum Gegenstand einer soziologischen Analyse gemacht werden, liegen Bewertungen zugrunde. Folgende Fragen kommen auf: Warum werden diese Wertsetzungen und diese besonderen Aspekte der Wertsetzungen untersucht und nicht andere? Gibt es eine wertfreie Selektion? Weber selbst verdeutlicht seinen Wertfreiheitsbegriff im Zusammenhang mit dem Charisma und der charismatischen Herrschaftsform (vgl. Kap. XII. 4), die auf außergewöhnlichen oder gar „übernatürlichen“ Eigenschaften und Vorzügen eines Menschen gründet. Die Tatsache, dass das Auftreten eines solchen Menschen, etwa eines Schamanen, eines Propheten oder eines Politikers, „vom Standpunkt der Wertung“, wie Weber es ausdrückt, „als plumper ‚Schwindel‘“ 22 erscheinen mag, ist unerheblich: „Allein darnach fragt die Soziologie nicht: der Mormonenchef ebenso wie jene ‚Helden‘ und ‚Zauberer‘ bewährten sich in dem Glauben ihrer Anhänger als charismatisch Begabte.“ 23 Es geht folglich um die Rekonstruktion des sozialen Verstehens der beteiligten Akteure sowie um den Nachvollzug ihres Selbstverständnisses. Wenn nun Weber drei Grundtypen der Herrschaft unterscheidet, nämlich die legale Herrschaft, deren reinster Typus die Bürokratie ist, die traditionale Herrschaft im Sinne des Patriarchats sowie die charismatische Herrschaft, so stellt er sich drei „reine Typen der legitimen Herrschaft“ 24 vor, die zugleich Idealtypen oder aus der empirischen Wirklichkeit 21 L. Strauss, „Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten (1953)“, in: H. Albert, E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1979, S. 74. Vgl. auch: G. Oakes, „Rickerts Wert/ Wertungs-Dichtomie und die Grenzen von Webers Wertbeziehungslehre“, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 155, wo Oakes feststellt, dass Weber „eine Sphäre rein theoretischer Wertbeziehungen ausweist, die unabhängig von jedweder Wertung besteht“. 22 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/ 22-4 (Hrsg. E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 132. 23 Ibid. 24 M. Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 151. <?page no="45"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 29 gleichsam extrapolierte und herausgehobene Konstruktionen sind. „Er zeigte den Idealtypus als heuristische Konstruktion“ 25 , erläutert Ute Gerhardt den Sachverhalt. Eine solche Konstruktion kommt als wissenschaftliches Modell in der sozialen Wirklichkeit zwar nicht vor, soll aber (im vorliegenden Fall) das Verständnis tatsächlich vorhandener Formen „legitimer Herrschaft“ erleichtern. Die Bezeichnung „legitim“ ist kein Werturteil, sondern bezieht sich auf den Umstand, dass eine bestimmte Herrschaftsform von den Beherrschten als legitim im Sinne der charismatischen Autorität, der Tradition oder der Rechtsstaatlichkeit aufgefasst und anerkannt wird. Auch in diesem Fall geht es also darum, das Selbstverständnis und das sinnvolle Handeln der Akteure verstehend nachzuvollziehen - ohne es zu bewerten. Dies gilt auch für Webers Studien, die unter dem Titel Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus erschienen sind. In ihnen soll gezeigt werden, wie die protestantische - vor allem calvinistische - Prädestinationslehre eine „innerweltliche (also nicht auf das Jenseits ausgerichtete) Askese“ zeitigt, die eine zugleich asketische und im wirtschaftlichen Sinne rationale Lebensführung entstehen lässt, die auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass der Protestant seinen wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen für „Gottes Gnade“ oder die „certitudo salutis“ 26 deutet. Dazu heißt es bei Weber: „Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung. Dieser asketische Lebensstil aber bedeutet eben (…) eine an Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.“ 27 Diese rationale Lebensgestaltung, die sich vor allem im Nordwesten Europas und in Nordamerika durchsetzt, erklärt die rasche Entfaltung und den Erfolg des Kapitalismus in diesen Weltregionen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Webers Aufsätze zur „protestantischen Ethik“ dialogisch (im Sinne von Bachtin: vgl. Einleitung) als Replik auf Marxʼ Kapitalismuskritik aufzufassen sind, die Weber als unzulässige Vereinfachung erscheint. Daher reagiert er (wieder vereinfachend: s.o.) „auf die Vorstellung des naiven Geschichtsmaterialismus, daß derartige ‚Ideen‘ als ‚Widerspiegelung‘ oder ‚Ueberbau‘ ökonomischer Situationen ins Leben treten (…).“ 28 Er wirft „die Frage nach der Wirkung von Ideen in der Geschichte“ 29 auf, wie Wolfgang Schluchter es ausdrückt, und beantwortet 25 U. Gerhardt, Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 231. 26 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013, S. 171. 27 Ibid., S. 181. 28 Ibid., S. 79. 29 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 230. <?page no="46"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 30 sie, indem er die aktive Rolle der Idee hervorhebt. Zugleich versucht er, diese Rolle als Selbstverständnis der Akteure verstehend-wertfrei zu rekonstruieren. Gegen eine solche Rekonstruktion ist nichts einzuwenden, zumal auch hier versucht wird, Webers Selbstverständnis - zumindest teilweise (vgl. Kap. XII) - zu rekonstruieren, ohne es gleich zu bewerten. Zum Abschluss soll jedoch gezeigt werden, dass der Werturteilsfreiheit enge Grenzen gesetzt sind: 1. weil in den Sozialwissenschaften das Selbstverständnis der Akteure und das Fremdverstehen durch den Wissenschaftler oft auseinanderklaffen, so dass engagierte Kritik (Wertung) unvermeidlich wird; 2. weil das Vokabular und die Semantik der Sozialwissenschaften nie ideologiefrei, sondern stets mit ideologischen Werturteilen befrachtet sind; 3. weil der sozialwissenschaftliche Diskurs als „Erzählung“ (d.h. als semantische, syntaktische und narrative Struktur: vgl. Kap. II) eine zumeist nichtreflektierte Ideologie artikuliert, die auf Werturteilen gründet. Es ist zwar stets möglich, das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen (etwa in der Psychoanalyse, der Anthropologie oder der Soziologie) wertfrei zu rekonstruieren, so dass die Betroffenen selbst sich mit dieser Rekonstruktion einverstanden erklären könnten, aber der Sozialwissenschaftler oder Psychologe kann es sich nicht auf naive Art zu eigen machen. Wenn sich beispielsweise eine politische Partei (etwa die österreichische FPÖ) selbst als „freiheitlich“ bezeichnet, in Wirklichkeit aber nationalistisches, antieuropäisches und rechtsradikales Gedankengut propagiert, so kann der Sozialwissenschaftler diese Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und politischem Handeln nicht einfach übergehen oder sich das ideologische Selbstverständnis dieser Partei gar aneignen. Diese Spannung zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen hat auch Weber Probleme bereitet, und Jürgen Kaube ist wohl zuzustimmen, wenn er zu Weber bemerkt: „Auch den Soziologen schärft er dabei noch einmal ein, ihre eigenen Werte aus der wissenschaftlichen Forschung herauszuhalten. Er hält sich freilich selbst nicht an diese Maßgabe und lässt seine Wertungen auf eine fast raffinierte Art in seine Untersuchungen einfließen.“ 30 Es geht wohl nicht anders 31 , denn das Vokabular, das Weber verwendet, ist eher der Aufklärung sowie Kants Philosophie und Heinrich Rickerts 30 J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin, Rowohlt, 2014 (3. Aufl.), S. 338. 31 Vgl. W. J. Mommsen in: „Max Weber und die Welt von heute. Eine Diskussion mit Wilhelm Hennis, Wolfgang J. Mommsen und Pietro Rossi“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, München, DTV, 1988, S. 204-205. <?page no="47"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 31 neukantianischem Idealismus 32 verpflichtet als Hegels Dialektik oder dem Marxschen Materialismus, gegen den Weber polemisiert. Kann man wertfrei polemisieren? Allgemein ist festzustellen, dass das Vokabular der Sozialwissenschaften nie ideologiefrei ist. Daher wird ein Begriff wie Pierre Bourdieus wissenschaftliches Feld (champ scientifique) 33 längst nicht von allen Soziologen anerkannt und verwendet - im Gegensatz zu der linguistisch verwandten Metapher magnetisches Feld, die von keinem Physiker auf der Welt beanstandet wird. Dieses Argument ist auch auf die Konstruktion von Idealtypen (traditionale Herrschaft, legale Herrschaft, charismatische Herrschaft oder Kapitalismus) anwendbar. Zum letzteren als Idealtypus bemerkt Andrew M. Koch: „For example, does the ideal-type of capitalism contain ‚market pricing‘ and ‚double entry bookkeeping‘ or does it contain ‚the creation of surplus value‘ and the ‚appropriation of labor-time from the work force by the owning class‘? Both indicators can be empirically verified in study. The place for ‚warring gods’ is secured.“ 34 Koch zeigt hier, dass konkurrierenden Definitionen des „Kapitalismus“ Wertungen eingeschrieben sind, die auch dem Vokabular innewohnen (dies gilt auch für Definitionen von Begriffen wie „Sozialismus“, „Demokratie“ oder „Kunst“). Kurzum, ideologisches Vokabular und ideologische Interessen dringen nicht nur in den theoretischen Diskurs ein, sondern auch in dessen Definitionen und Objektkonstruktionen als „Idealtypen“. Der kritische Rationalist Hans Albert versucht auf sehr fragwürdige Art, das Wertfreiheitspostulat im sozialwissenschaftlichen Bereich zu legitimieren, wenn er über die These, „daß eine Neutralisierung der sozialwissenschaftlichen Sprache nicht möglich sei“, schreibt: „Diese These kann heute eigentlich nur noch eine gewisse Plausibilität für diejenigen haben, die bereit sind, mehr als die Hälfte der modernen sozialwissenschaftlichen Literatur zu übersehen. Sie kommt dem alltäglichen Wertplatonismus des Alltagsdenkens entgegen, nimmt aber keine Rücksicht auf die Tatsache, daß im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften eine Disziplin nach der anderen - beginnend mit den physikalischen und den mathematischen Disziplinen - aus dem Bereich der wertenden Betrachtung in den der wertfreien Analyse übergegangen ist.“ 35 32 Vgl. R. Münch, „Verstehende Soziologie: Max Weber“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2008, S. 143-144. 33 Vgl. P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, Kap. II: „Un monde à part“. 34 A. M. Koch, Romance and Reason. Ontological and Social Sources of Alienation in the Writings of Max Weber, Lanham-Oxford-New York, Rowman and Littlefield-Lexington Books, 2006, S. 87. 35 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1980, S. 64. <?page no="48"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 32 Diese Passage ist aufschlussreich, weil sie erkennen lässt, wie in den Sozialwissenschaften auf rhetorischem Wege Probleme umgangen werden können: Erst ist von den Sozialwissenschaften die Rede („mehr als die Hälfte…“); dann wechselt der Diskurs unvermittelt und (vielleicht) unbemerkt in den „physikalisch-mathematischen“ Bereich über. Damit ist das Problem der Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften natürlich nicht gelöst. 36 Webers Art, Gesellschaft zu erzählen, zeigt indessen, dass der soziologische Diskurs als Erzählstruktur alles andere als neutral oder wertfrei ist. Vom traditionssprengenden Charisma heißt es etwa in Wirtschaft und Gesellschaft: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ 37 Was ist an diesem Satz wertfrei? Implizit wird hier - mit einem polemischen Seitenblick auf Hegel, Marx und möglicherweise Pareto - behauptet, dass nicht Kollektive als Nationen, Klassen oder Eliten für soziale Umwälzungen verantwortlich sind, sondern „charismatische“ Individuen. Webers Erzählung gründet auf einer spätliberalen, individualistischen und von Nietzsches Vorstellung des Übermenschen beeinflussten 38 Ideologie, die das individuelle Handeln in den Vordergrund treten lässt und die kollektiven Akteure von der Weltbühne verdrängt. Deren Marginalisierung ist keineswegs wertfrei - ebenso wenig wie die Aufwertung individuellen Handelns im Charisma (vgl. Kap. XII). 3. Die „freischwebenden Intellektuellen“ Karl Mannheims und die Wertfreiheit: „Der Streit um die Wissenssoziologie“ Karl Mannheims Wissenssoziologie könnte insofern als eine Konkretisierung von Webers Wertfreiheitspostulat aufgefasst werden, als Mannheim die Frage nach dem Standort, von dem aus Gesellschaft beobachtet wird, neu stellt. Dabei knüpft er an Nietzsches Perspektivenproblematik an, die er soziologisch umdeutet. Er geht von dem Gedanken aus, dass alle Perspektiven, die Menschen (auch als Wissenschaftler) einnehmen, ideologisch sind und spricht von einem totalen Ideologiebegriff, der kein „falsches 36 Den entgegengesetzten Standpunkt nimmt Johann August Schülein ein, wenn er zur Differenz zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften bemerkt: „Während beispielswiese Schrödingers Gleichungen von allen Physikern gleich verstanden werden, bleibt es offen, wie Luhmanns Theorie ‚ökologischer Kommunikation‘ genau zu verstehen ist (…) und wie sie zu bewerten ist (…).“ J. A. Schülein, Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlichen Erkennens, Weilerswist, Velbrück, 2002, S. 23. 37 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 139. 38 Vgl. G. A. Di Marco, Marx, Nietzsche, Weber. Gli ideali ascetici tra critica, genealogia, comprensione, Neapel, Guida, 1984, S. 184-215. <?page no="49"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 33 Bewusstsein“ bezeichnet - wie im Marxismus -, sondern die „Seinsgebundenheit des menschlichen Denkens“ 39 : die Tatsache, dass jeder aufgrund seiner besonderen Position in der Gesellschaft nur einen partikularen Standpunkt einnehmen kann. 40 Wie Max Weber liegt auch Mannheim viel daran, die miteinander konkurrierenden und kollidierenden Wertungen und ideologischen Perspektiven oder Aspektstrukturen in den Sozialwissenschaften zu überwinden und einen neutralen Standpunkt jenseits aller Wertungen, Aspektstrukturen oder Ideologien im allgemeinen Sinn einzunehmen. In seinem bekannten Werk Ideologie und Utopie (1929) spricht er auch von einem „wertfreien Ideologiebegriff“ 41 , um anzudeuten, dass alle Perspektiven, auch die eigene, ideologisch sind. Er versucht, zwischen den divergierenden ideologischen Aspektstrukturen zu vermitteln, um eine objektive Gesamtansicht zu ermöglichen, einen wertfreien Standpunkt jenseits der „Perspektiven“: „Die meisten unserer Darlegungen bewegen sich ganz spontan in der Richtung einer Neutralisierung der Seinsgebundenheit im Sinne des sich darüber Erhebens.“ 42 Diese „Neutralisierung“ ist ein Versuch, Webers Wertfreiheitspostulat in den Sozialwissenschaften mit neuem Leben zu erfüllen. Dazu bemerkt Mannheim selbst: „Ich trachte also - um es kurz zu sagen - den Grundwillen zur Wertfreiheit noch einmal zu verlebendigen.“ 43 In ihrer Einleitung zu Mannheims Konservatismus-Buch kommentieren David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr: „Seine eigentliche Vorliebe, zu der er sich stolz bekannte, galt der für das wissenschaftliche Arbeiten unabläßlichen Werturteilsfreiheit.“ 44 Worin besteht nun Mannheims Erneuerungsversuch? Er besteht darin, dass er eine soziale Gruppierung entdeckt (konstruiert), deren Mitglieder so kritisch und selbstkritisch sind und in so allgemeinen Kategorien denken, dass sie in der Lage sind, gleichsam über ihren Schatten zu springen, über die Grenzen ihrer Ideologie oder „Aspektstruktur“ hinauszugehen und zwischen den partikularen „Aspektstrukturen“ zu vermitteln. Diese Gruppierung bezeichnet er im Anschluss an Alfred 39 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke, 1978 (6. Aufl.), S. 237. 40 In ihrem Buch über Mannheim sprechen David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr von „einer mit kollektiven Lebensformen verbundenen Denkweise“. Vgl. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 74. 41 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 75. 42 Ibid., S. 259. 43 V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), „Diskussion über ‚Die Konkurrenz‘“, in: Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. I: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 401 („Schlußwort von Dr. Mannheim“). 44 D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, „Mannheim und der Konservatismus. Über die Ursprünge des Historismus“, in: K. Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (Hrsg. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr), Frankfurt, Suhrkamp,1984, S. 34. <?page no="50"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 34 Weber, den Bruder Max Webers, als die freischwebende Intelligenz: „Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose Schicht ist (in Alfred Webers Terminologie gesprochen) die sozial freischwebende Intelligenz.“ 45 Diese Intelligenz besetzt bei Mannheim die Stellung, die Georg Lukács dem revolutionären Proletariat vorbehielt, wie Lucien Goldmann 46 richtig bemerkt. Von der Anziehungskraft, die Lukácsʼ Werk auf Mannheim ausübte, berichten Kettler, Meja und Stehr. 47 In dem hier konstruierten Zusammenhang ist die Komplementarität zu Max Webers Argumentation wesentlich: Auch Mannheim sucht einen Standpunkt jenseits der ideologischen Konflikte und Werturteile, von dem aus Sozialwissenschaftler die gesellschaftlichen Verhältnisse als solche - ohne Verzerrung durch Engagement, Ideologie und Wertung - erkennen könnten. Er meint, dass die „freischwebenden Intellektuellen“ diesen Standpunkt einnehmen, weil sie nicht wie das Bürgertum oder die Arbeiterklasse durch eine gemeinsame Stellung und gemeinsame Interessen im Produktionsprozess, sondern durch das Band der Bildung zusammengehalten werden. Wie Alfred Weber erwartet er vom „Kulturmenschen“ eine besondere Fähigkeit zur Synthese; wie der Kulturphilosoph Max Scheler, der „Bildungswissen“ und „Erlösungswissen“ dem „Herrschaftswissen“ entgegensetzt 48 , meint er, im Bereich der Bildung Erkenntnisinteressen finden zu können, die über rein technisches und ideologisches Wissen hinausgehen. 49 Abgesehen davon, dass der Intellektuelle im bildungsbürgerlichen Sinn immer mehr zum Anachronismus wird, weil die Differenzierung des Wissens und der Wissenschaft den Einzelnen immer häufiger zwingt, sich zu „spezialisieren“ (d.h. auf Allgemeinbildung zu verzichten), treten in Mannheims Versuch, Wertfreiheit neu zu begründen, Probleme auf, die auch auf Max Webers Soziologie lasten. Hier sollen zum Abschluss nur drei hervorgehoben werden: 1. Die theoretischen Diskurse der „freischwebenden Intellektuellen“ können nicht „neutralisiert“ werden, weil sie besondere ideologische Interessen und Wertungen artikulieren. 2. Da ihre Neutralisierung nicht möglich ist, ist die 45 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 135. 46 L. Goldmann, Sciences humaines et philosophie, Paris, Gonthier, 1966, S. 52. 47 Zu Mannheims Einschätzung von Lukácsʼ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) bemerken D. Kettler, V. Meja und N. Stehr in Karl Mannheim, Chichester-London-New York, Horwood-Tavistock, 1984, S. 38: „Mannheim was fascinated by that work, but never accepted its revolutionary teachings.“ 48 Vgl. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern-München, Francke, 1980 (3. Aufl.). 49 Ein Vergleich der Positionen von Marx, Alfred Weber, Max Scheler mit Mannheims Wissenssoziologie findet sich in: K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie, Lüneburg, Dietrich zu Klampen, 1986, S. 66-67. <?page no="51"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 35 „sozial freischwebende Intelligenz“ keine homogene, sondern eine ideologisch extrem heterogene Gruppe. 3. Da sie ideologisch heterogen und von Konflikten zerrissen ist, kann sie keine einheitliche und „überparteiliche“ Perspektive einnehmen. Zu diesen drei Punkten kann angemerkt werden, dass es häufig gerade die Intellektuellen sind, die in den modernen, postfeudalen Gesellschaften Ideologien als Wertsysteme konstruieren. Man denke an die Enzyklopädisten und an Rousseau als Vorläufer der Revolution von 1789, man denke an Lenin und Trotzki im Marxismus-Leninismus und an Alfred Rosenberg im Nationalsozialismus. Bekannte soziologische, philosophische und literaturwissenschaftliche Debatten zeigen, dass theoretische Argumente stets auch ideologisch motiviert sind, so dass es in den Gesprächen zwischen Habermas und Luhmann 50 , im sog. Positivismusstreit 51 und in den Diskussionen zwischen Formalisten und Marxisten 52 nie zu einem globalen Konsens kam. Dieser kam auch innerhalb des Marxismus nicht zustande, als Bertolt Brecht, Anna Seghers, Ernst Bloch und Georg Lukács über Fragen des Realismus diskutierten. 53 Den Grund für den permanenten Dissens zwischen Intellektuellen nennt Alexander von Schelting im Streit um die Wissenssoziologie: „Wie soll diese Abschätzung (bzw. jene Einigung) möglich sein, wenn es keinen außerhalb der partikularen ‚Aspektstrukturen‘ liegenden Standpunkt mit eigenen überpartikularen Geltungskriterien geben kann? “ 54 Solange es diesen Standpunkt jenseits der partikularen „Perspektiven“ oder „Aspektstrukturen“ in den Sozialwissenschaften nicht gibt, bleibt auch das Wertfreiheitspostulat als Beobachtungskriterium problematisch - ohne deshalb unbrauchbar zu sein, weil es zu Recht eine unvoreingenommene Rekonstruktion des Selbstverständnisses von Akteuren fordert (s.o.). Den soziologischen Grund, warum es keinen allumfassenden und von allen anerkannten Gesichtspunkt geben kann, gibt in einem frühen Stadium des Streits Hans Speier an: „Es gibt Intellektuelle, die Arbeiter, und 50 Vgl. J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt, Suhrkamp, 1971. 51 Vgl. Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt- Neuwied, Luchterhand (1969), 1972. 52 Vgl. H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976. 53 Vgl. H.-J. Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismusdebatte. Materialen zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt, Suhrkamp, 1973. 54 A. von Schelting, „Die Grenzen der Soziologie des Wissens“, in: V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, Bd. II: Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 843. <?page no="52"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 36 Intellektuelle, die Junker sind.“ 55 Diese Gruppen folgen divergierenden Interessen, die sich in divergierenden Denkrichtungen artikulieren. Horkheimer wendet zu Recht ein, dass sich Mannheim über den Nexus von Interesse und Ideologie oder „Weltanschauung“ hinwegsetzt und die Beziehungen zwischen Weltanschauungen idealistisch sublimiert: „Für ihn gibt es die gemeinen Kämpfe des geschichtlichen Alltags und daneben auch die Gegensätze der ‚Weltanschauungssysteme‘.“ 56 Diese können nicht zu einem verallgemeinerungsfähigen Standpunkt synthetisiert werden, weil partikulare (konservative, liberale, sozialistische) Gruppeninteressen eine solche Synthese verhindern. Die Tatsache, dass es deshalb keinen „Archimedischen Punkt“ jenseits der partikularen Standpunkte gibt, bedeutet jedoch nicht, dass ein Dialog zwischen heterogenen Theorien nicht sinnvoll ist: Denn gerade im Spannungsverhältnis zwischen Dissens und Konsens, das zwischen heterogenen Standpunkten herrscht, können sich Wahrheitsmomente herauskristallisieren, die eine kritische Metatheorie des Dialogs festhalten kann (vgl. Kap. II). 4. Die Kritische Theorie als Antwort auf Marx, M. Weber und Mannheim: Engagement, Nichtidentität und Emanzipation Da die Kritische Theorie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers, aus der die Dialogische Theorie hervorgeht, die diesem Buch zugrunde liegt, im sechsten und sechzehnten Kapitel ausführlicher zur Sprache kommt, soll im Folgenden vor allem ihre Differenz von Hegel, Marx, M. Weber und Mannheim hervorgehoben werden. Aus Max Horkheimers für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule programmatischem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) ist eine Ablehnung aller hier kommentierten Positionen herauszulesen: des Hegelschen Herrschaftsdenkens, das sich mit der Wirklichkeit identisch wähnt, des hegelianischen Marxismus, der sich selbst als Philosophie des Proletariats (miss-)versteht, sowie des Wertfreiheitspostulats M. Webers und Mannheims, das kritisches Engagement des Sozialwissenschaftlers vorab ausschließt. Den Kerngedanken seines Aufsatzes fasst Horkheimer in wenigen Worten zusammen: „Zur Entwicklung der Gesellschaft gehört aber das bewußt kritische Verhalten.“ 57 Aus diesem Satz sind Horkheimers Kritiken an 55 H. Speier, „Soziologie oder Ideologie? Bemerkungen zur Soziologie der Intelligenz“, in: ibid., S. 533. 56 M. Horkheimer, „Ein neuer Ideologiebegriff? “, in: ibid., S. 490. 57 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt, Fischer, 1970, S. 45. <?page no="53"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 37 Hegel, am Marxismus und an den soziologischen Theorien M. Webers und Mannheims ableitbar. Horkheimer verteidigt die kritische Einstellung, die stets Hegels Missfallen erregte, sooft sie sich bei den Romantikern (etwa bei Friedrich Schlegel, später bei den Junghegelianern) 58 bemerkbar machte. Zu Hegels These über den vernünftigen Charakter der Wirklichkeit bemerkt Horkheimer, die Vernunft sei „bei Hegel affirmativ geworden, bevor noch die Wirklichkeit als vernünftig zu bejahen ist“. 59 Nach dem bisher Gesagten liegt Hegels Replik auf der Hand: Horkheimer ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Gesellschaft und ihre Entwicklung als sinnvolle Totalität zu verstehen. In dieser Diskussion ergreift Horkheimer Partei für Marx und die Marxisten: Auch als Totalität erscheint ihm Gesellschaft nicht als vernünftige, von Menschen gewollte Wirklichkeit, sondern als ein irrationales Zusammenspiel von Kräften, das vor allem im Spätkapitalismus seine Dynamik der Ausbeutung von Natur und Mensch verdankt. Dennoch lehnt er es im Jahre 1937 - auch angesichts der Erfolge des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus - ab, seine Hoffnungen auf die revolutionäre Gesinnung des Proletariats zu setzen. Gegen die Positionen von Marx und Lukács wendet er ein: „Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis.“ 60 Obwohl Horkheimer Anfang der 1930er Jahre noch hoffte, die Arbeiterklasse würde gegen die nationalsozialistische Diktatur aufbegehren 61 , gewann er - wie Adorno - immer mehr den Eindruck, dass der kritische Intellektuelle isoliert war. 62 Dies bedeutet nicht, dass er Mannheims These über die „freischwebenden“ und wertfrei denkenden Intellektuellen übernahm (s.o.). Der kritische Intellektuelle ist zwar isoliert, er engagiert sich aber politisch auf Seiten der Unterdrückten gegen Herrschaft, Bevormundung und Ausbeutung: „Der Geist ist liberal. Er verträgt keinen äußeren Zwang, keine Anpassung seiner Ergebnisse an den Willen irgendeiner Macht. Von dem Leben der Gesellschaft ist er jedoch nicht losgelöst; er schwebt nicht über ihr.“ 63 58 Vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München, Fink, 1992 (2. Aufl.), S. 254. 59 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 25. 60 Ibid., S. 33. 61 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Die Arche, 1970, S. 26. 62 Zur Bindung der Kritischen Theorie der Nachkriegszeit an eine Gruppe von isolierten Intellektuellen vgl. A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S. 38: „Intellektuellengruppen, ihre Diskurse und Praktiken, sind der wesentliche Kontext für die Wahrheitspolitik Horkheimers und Adornos.“ 63 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, op. cit., S. 40. <?page no="54"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 38 An diese Maxime halten sich Horkheimer und Adorno auch noch in ihrer im Exil entstandenen und nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Dialektik der Aufklärung (1947), in der sie sich noch weiter von den marxistischen Positionen entfernen. Im sechsten Kapitel wird sich zeigen, dass sie versuchen, weiter auszuholen als Marx und die Marxisten, indem sie die Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus aus einem allgemeineren Prinzip ableiten: aus der Herrschaft des Menschen über die Natur, des Subjekts als Geist über das Objekt. Adorno erscheint der gesamte europäische Idealismus als ein Symptom dieser Naturbeherrschung. Vor allem den Anspruch der Hegelschen Philosophie, Ausdruck einer vernünftigen Weltgeschichte und mit dieser identisch zu sein, betrachtet er als den Höhepunkt eines Herrschaftsdenkens, das seinen Ursprung in der Herrschaft des Subjekts über das Objekt nicht reflektiert. Seine auf das Partikulare 64 ausgerichtete negative Dialektik fasst er als einen Gegenentwurf zu Hegels systematischer und affirmativer Dialektik auf, die sich als Apologie der Staatsräson und ihrer Herrschaft über alles Natürliche, Partikulare und Individuelle idealistisch hinwegsetzt: „Solche Dialektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel. Bei diesem koinzidierten Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten.“ 65 Schon Marx merkte kritisch an, dass diese Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Gesellschaft bei Hegel nur im abstrakten Denken zustande kam, nicht jedoch in der gesellschaftlichen Praxis, in der weiterhin Ausbeutung und Entfremdung herrschten. Die Versöhnung konnte nur durch die Umwälzung der realen Verhältnisse in der proletarischen Revolution herbeigeführt werden. Diese Erzählung der Gesellschaft, die von der historischen Immanenz geprägt und von der Hoffnung getragen wird, dass die Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt in der Geschichte zustande kommt, wird von Adorno - wie von Horkheimer - nicht mehr akzeptiert. Die von Marx und Lukács geforderte Einheit von kritischer Philosophie und revolutionärem Proletariat als Einheit von Theorie und Praxis führt letztlich nur zur Blendung der Theorie: „Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen.“ 66 Anders ausgedrückt: Die politische Taktik, zu der sich die Marxisten und nach ihnen die Marxisten-Leninisten gezwungen sahen, hat im Laufe der Jahre die ursprünglich kritische 64 Vgl. Vf., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), darin vor allem: „Theodor Adorno: Dialectique en suspens“. 65 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 143. 66 Ibid., S. 144. <?page no="55"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 39 Theorie von Marx und Engels in eine Staatsideologie verwandelt - und gezeigt, wie jede sozialwissenschaftliche Theorie von der ihr innewohnenden Ideologie (als Wertsystem) zugrunde gerichtet werden kann. In dieser Situation, in der das Proletariat in Westeuropa und Nordamerika in die spätkapitalistischen Verhältnisse integriert wird, während in Osteuropa die kommunistischen Parteien ein totalitäres System gegen die Interessen der Arbeiterklasse durchsetzen, leitet Adorno seine Negative Dialektik mit einem Verzicht auf Praxis und einem Plädoyer für Philosophie ein. 67 Marx konnte noch glauben, dass die revolutionäre Verwirklichung seiner Philosophie, in der die Versprechen des deutschen Idealismus und der Aufklärung aufgehoben waren, Philosophie als solche überflüssig machen würde. Das Scheitern der Revolution in Ost und West lässt Philosophie wieder aktuell werden. Für Adorno kommt aber nur eine Philosophie in Frage, die entschlossen mit jeder Form des Herrschaftsdenkens, also auch mit dem marxistischen Revolutionsprojekt, bricht, ohne den kritischen und emanzipatorischen Anspruch aufzugeben. Diese Philosophie orientiert sich an den Emanzipationsversprechen der Kunst, deren begriffslose, mimetische Sprache nach einer Versöhnung des Subjekts mit der Natur als Objekt strebt und sich jenseits des durchrationalisierten Herrschaftsdenkens artikuliert. Über die Kunst schreibt Adorno in seiner postum erschienenen Ästhetischen Theorie (1970): „Daß sie, ein Mimetisches, inmitten von Rationalität möglich ist und ihrer Mittel sich bedient, reagiert auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten.“ 68 Kunst wird ihm zur obersten kritischen Instanz, von deren Standort aus der soziale Gesamtzusammenhang zu betrachten und zu verstehen ist: „Eben diese Irrationalität versteckt und verleugnet die kapitalistische Gesellschaft, und dagegen repräsentiert Kunst Wahrheit im doppelten Verstande; in dem, daß sie das von Rationalität verschüttete Bild ihres Zwecks festhält, und indem sie das Bestehende seiner Irrationalität: ihres Widersinns überführt.“ 69 Kritische Kunst nimmt hier die Stellung ein, die bei Hegel der Weltgeist, bei Marx das Proletariat einnahmen (vgl. Kap. VI). Abermals stellt sich die Frage, von welcher Warte aus Gesellschaft beobachtet, erzählt und kritisiert werden soll. Ist ihre Entwicklung rational, wie Hegel meint, so dass der Beobachter nur die ihr innewohnenden Gesetze der Vernunft nachzuvollziehen braucht? Muss sie zur Vernunft durch die von Marx und Lukács geforderte revolutionäre Umwälzung gezwungen werden? Ist Webers Versuch, sie als historischen Rationalisierungsprozess 67 Vgl. ibid., S. 13 und „Einleitung“. 68 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 86. 69 Ibid. <?page no="56"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 40 (vgl. Kap. XII) verstehend zu erklären, nicht sinnvoller als alle Plädoyers für Umgestaltung? Was ist von Adornos ästhetischer Umorientierung des kritischen Denkens zu halten, der die Erzählung einer immer intensiver werdenden Rationalisierung und Naturbeherrschung zugrunde liegt? Im zweiten Kapitel wird eine kritische Theorie der Gesellschaft im dialogischen Sinne (im Sinne von Bachtin) entworfen, die einerseits an Adornos und Horkheimers Postulat der Nichtidentität mit konkreten sozialen Kräften (Proletariat, neue Arbeiterklasse, Bewegung) anknüpft, andererseits Adornos Ausrichtung auf die Mimesis der Kunst ablehnt. Statt dieser Ausrichtung sollen die dialogischen Ansätze in Adornos negativer Dialektik und in seiner Theorie des Essays in Anlehnung an Bachtins Dialogizität weiterentwickelt werden und in allen Kapiteln dieses Buches zur Anwendung kommen. 5. Positivismus vs. Konstruktivismus: Von Auguste Comte zum Behaviorismus Der ältere und neuere Positivismus, der seit Auguste Comte (1798-1857) in der Philosophie, den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle spielte, soll hier - trotz aller z.T. berechtigter Kritiken in Hermeneutik, Dialektik und Konstruktivismus - als mögliche Gegenposition zum Marxismus und zur Kritischen Theorie kommentiert werden. Er ist seit Comte vom Szientismus geprägt, d.h. von einer etwas naiven Orientierung an den Naturwissenschaften, die eine scharfe Trennung von Subjekt und Objekt zur Folge hat, sowie von dem Versuch, gesellschaftliche Objekte (Gruppen und Individuen) unvoreingenommen und ohne ideologisches oder politisches Engagement zu beobachten. Im Wörterbuch der Soziologie wird der Positivismus wie folgt definiert: „Lehre vom ‚Tatsächlichen‘, ‚Gegebenen‘, eine erkenntnistheoretische und methodologische Grundhaltung, die wissenschaftliches Arbeiten auf die Erfassung und Erklärung beobachtbarer, erfahrbarer ‚Tatsachen‘ begrenzt wissen will. Dementsprechend werden jegliche Informationen, Überlegungen und Spekulationen, die mit den jeweils zur Verfügung stehenden erfahrungswissenschaftlichen Möglichkeiten nicht bestätigt oder zurückgewiesen werden können, als außerwissenschaftlich erklärt.“ 70 Diese Definition stimmt - trotz der historischen Distanz - mit den Definitionen Comtes in Discours sur l’esprit positif (1844, dt. Rede über den Geist des Positivismus, 1994) überein, einem programmatischen Entwurf, in dem ausschließlich Faktenaussagen („einfache Aussage einer besonderen oder 70 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 692. <?page no="57"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 41 allgemeinen Tatsache“) 71 als wissenschaftliche Behauptungen akzeptiert werden. In Übereinstimmung mit Comtes radikal weltlicher und rationalistischer Einstellung (vgl. Kap. V) bilden dort wissenschaftliche („positive“) Erkenntnis einerseits und Religion und Metaphysik andererseits einen schroffen Gegensatz. Am Ende des Zweiten Teils des Werks wird scheinbar objektiv die „notwendige Überlegenheit des positiven Geistes über den alten theologisch-metaphysischen“ 72 festgestellt. (Im fünften Kapitel wird sich zeigen, dass es sich in diesem Fall um eine mögliche Erzählung der Gesellschaft unter vielen handelt.) Aus folgenden Gründen ist man heute weniger zuversichtlich als Comte, in den Sozialwissenschaften unumstrittene, wertfreie Tatsachenaussagen machen zu können: 1. Tatsachen sind, wie u.a. die radikalen Konstruktivisten richtig erkannt haben 73 , stets konstruiert, und ihre Konstruktionen kommen in Diskursen zustande, die nie frei von ideologischem Engagement sind. Der schon erwähnte Begriff wissenschaftliches Feld (Bourdieu) bezeichnet keine von allen akzeptierte Tatsache, sondern ist eine mögliche Konstruktion, die von vielen Soziologen abgelehnt wird, die Bourdieus gesellschaftskritische Soziologie (als Ideologie) mit Misstrauen betrachten. Sie mögen Luhmanns (keineswegs neutrale) Konstruktion eines „Wissenschaftssystems“ vorziehen. 2. Dies ist der Grund, warum die „kausalen Beziehungen“ zwischen Tatsachen, die Positivisten seit Comte bevorzugen, auch problematisch sind. Anders als die biologisch unumstrittene Aussage über das kausale Verhältnis von Feuchtigkeit und Schimmelbildung ist die im Rahmen von Max Webers Soziologie mögliche Aussage über „charismatische Individuen“ als Verursacher sozialer Veränderungen in Geschichts- und Sozialwissenschaft nicht unumstritten, weil im Marxismus die Klassen, bei Comte die Wissenschaft und bei Pareto die Eliten für solche Veränderungen verantwortlich gemacht werden. Auch Webers Charisma ist also kein Faktum, sondern eine durchaus brauchbare ideologisch-theoretische Fiktion. 74 3. Schließlich setzt sich der Positivismus über die schon kommentierte Tatsache hinweg, dass in den Sozialwissenschaften Objekte zugleich Subjekte sind, so dass das Engagement der erforschten Individuen und Gruppen mit dem der Wissenschaftler kollidieren kann. Der Begriff „Positivismus“ wird häufig überdehnt und bisweilen verwendet, um einen unliebsamen Soziologen oder Philosophen zu diskre- 71 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (Hrsg. I. Fetscher), Hamburg, Meiner, 1994, S. 16. 72 Ibid., S. 81. 73 Vgl. E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 188: Glasersfeld zeigt, dass das Wort „Faktum“ von lat. facere (= machen) kommt und folglich als Konstruktion aufzufassen ist. 74 Vgl. R. Haller, Facta und Ficta, Stuttgart, Reclam, 1986. <?page no="58"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 42 ditieren. Zu Unrecht kritisiert beispielsweise Adorno den - stark von Comte beeinflussten - Emile Durkheim als „Positivisten“. 75 Denn bei Durkheim fehlt der für alle Varianten des Positivismus charakteristische Szientismus (vgl. Kap. IX). In Les Règles de la méthode sociologique (1895, dt. Die Regeln der soziologischen Methode, 1961) stellt Durkheim unmissverständlich fest, dass die Objekte der Soziologie ganz anders beschaffen sind als die Objekte der Biologie („organische Erscheinungen“) 76 oder der Psychologie. Auch die Bezeichnung des Kritischen Rationalismus (Karl R. Poppers, Hans Alberts: s.o.) als „Positivismus“ oder „Neupositivismus“ 77 ist irreführend, weil sich vor allem Popper vom neupositivistischen Wiener Kreis (Schlicks, Carnaps, Reichenbachs) kritisch distanziert hat und weil sein Kritischer Rationalismus nur als Replik auf den Positivismus adäquat zu verstehen ist. Als positivistisch oder neupositivistisch kann der von den Amerikanern John B. Watson und B. F. Skinner entwickelte Behaviorismus in Psychologie und Soziologie bezeichnet werden (vgl. Kap. III. 1). Er orientiert sich an den Naturwissenschaften und beobachtet im Rahmen eines „Reiz-Reaktions- Schemas“ („stimulus-reponse“) menschliches Verhalten - ohne wie Max Weber die subjektiven Absichten der Handelnden rekonstruieren zu wollen. Auf diese Art werden Individuen und Gruppen zu reinen Objekten ohne Subjektivität, die mit wissenschaftlicher Distanz beobachtet werden. 6. Engagement, Distanzierung, Beobachtung: Von Norbert Elias zu Niklas Luhmann Auf diese szientistische Einstellung reagiert Norbert Elias, dessen Theorie des Zivilisationsprozesses im dreizehnten Kapitel kommentiert wird, in seinem Aufsatz „Engagement und Distanzierung“ mit einem kritischen Kommentar zu allen Versuchen, sich positivistisch vom Menschen als Objekt zu distanzieren. Zur Methode der „Objektivierung“ bemerkt er: „Sie dient oft als ein Mittel, um Schwierigkeiten, die aus dem spezifischen Dilemma der Menschenwissenschaftler erwachsen, zu umgehen, ohne sich ihm zu stellen; in vielen Fällen schafft sie eine Fassade von Distanzierung, hinter der sich eine höchst engagierte Einstellung verbirgt.“ 78 So zeigt beispielsweise Robert C. Bannister, wie sehr Protestantismus und Sozialdarwinismus als 75 Vgl. Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1976, S. 11. 76 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (Hrsg. R. König), Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (8. Aufl.), S. 107. 77 Vgl. Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, op. cit. 78 N. Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 35. <?page no="59"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 43 unreflektierte latente Einstellungen die frühe amerikanische Soziologie, die sich an den „hard sciences“ orientierte, beherrscht haben. 79 Daher versucht Norbert Elias, zwischen Engagement und Distanzierung dialektisch zu vermitteln und ihr Verhältnis zu reflektieren. Er skizziert ihr Spannungsverhältnis, das hier zentral ist, als eine Art Gratwanderung zwischen der Scylla ideologischer Parteilichkeit und der Charybdis unverbindlicher Gedankenspiele ohne gesellschaftlichen Bezug. „Wertfreiheit“ im Sinne von M. Weber erscheint ihm nicht als Option, weil das soziale Engagement aus den Sozialwissenschaften nicht wegzudenken ist. Wie in diesem Kapitel wird in Eliasʼ Aufsatz „Engagement und Distanzierung“ grundsätzlich zwischen der Position des Naturwissenschaftlers, der „durch fest etablierte Berufsstandards und andere institutionelle Sicherungen in relativ hohem Maße gegen die Durchdringung mit heteronomen Wertungen geschützt“ 80 ist, und der des Sozialwissenschaftlers unterschieden, dessen Theorie nicht von seinem sozialen Engagement zu trennen ist. Im Gegensatz zum Neukantianer Max Weber, der immer wieder versucht, Wissenschaft und Politik, Verstehen und Werten sauber zu trennen, denkt Elias eher in Kategorien der dialektischen Vermittlung. Davon zeugt die folgende Passage aus „Engagement und Distanzierung“: „Das Problem, vor dem die Menschenwissenschaftler stehen, läßt sich also nicht einfach dadurch lösen, daß sie ihre Funktion als Gruppenmitglieder zugunsten ihrer Forscherfunktion aufgeben. Sie können nicht aufhören, an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppen und ihrer Zeit teilzunehmen, können nicht vermeiden, von ihnen betroffen zu werden. Ihre eigene Teilnahme, ihr Engagement ist überdies eine der Voraussetzungen für ihr Verständnis der Probleme, die sie als Wissenschaftler zu lösen haben.“ 81 (Vgl. Kap. XIII. 1.) Eines der besten Beispiele ist wohl das zeitgenössische feministische Engagement in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Indem Soziologinnen wie Annette Treibel Themen und Probleme zur Sprache bringen, die bisher entweder vernachlässigt oder nur indirekt behandelt wurden - „Geschlecht als soziale Konstruktion und Dekonstruktion“ oder „Konstituierung, Kontinuität und Wandel des Geschlechterverhältnisses“ 82 -, erschließen sie der Soziologie neue Bereiche, deren (durchaus kritische) Erforschung sich auf das Selbstverständnis des Fachs auswirkt. Dabei folgen sie nicht nur wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, sondern auch 79 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity 1880- 1940, Chapel Hill-London, The University of North Carolina Press, 1987, S. 65-66. 80 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 14. 81 Ibid., S. 30. 82 Vgl. A. Treibel, Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (7. Aufl.), Kap. V und XI. <?page no="60"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 44 ihrem ideologischen, wertenden Engagement für Emanzipation. (Zur Affinität von Kritischer Theorie und feministischer Wissenschaft vgl. Kap. VII.) Jedoch ist dieses Engagement nur dann wissenschaftlich fruchtbar, wenn es von einer selbstkritischen Distanzierung begleitet wird, die stets auch Abstand zur Ideologie wahrt. Aus Eliasʼ Betrachtungen geht hervor, dass es die Aufgabe einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, für selbstkritische Autonomie und Distanz zum eigenen Engagement zu sorgen: „Wieweit es unter gegenwärtigen Bedingungen für Gruppen wissenschaftlicher Spezialisten möglich ist, die Standards der Autonomie und Adäquatheit im Nachdenken über soziale Ereignisse zu heben und sich selbst die Disziplin größerer Distanzierung aufzuerlegen, kann nur die Erfahrung zeigen.“ 83 Distanzierung wird durch kritische Selbstreflexion begünstigt, die im Dialog zwischen heterogenen theoretischen Positionen kaum zu vermeiden ist. Wer sich auf diesen Dialog einlässt, gleicht jemandem, der versucht, eine Fremdsprache zu lernen und sich immer wieder gezwungen sieht, über seine Muttersprache, über ihre Möglichkeiten, Lücken und Grenzen nachzudenken. Erst im Dialog mit dem fremden Wort erschließt sich ihm die Besonderheit des seit langem Vertrauten. Auch die eigene Theorie und ihre Begriffsbildung werden in einer Auseinandersetzung mit dem Andersartigen nicht mehr als Selbstverständlichkeiten betrachtet, sondern als besondere, d.h. nur mögliche, kontingente Konstruktionen, die mit anderen Konstruktionen konkurrieren. Im Dialog lernt der Theoretiker, die eigene Theorie mit den Augen eines „Beobachters zweiter Ordnung“ (Luhmann) zu betrachten, wobei eine kritische Distanz zum eigenen Diskurs entsteht. Luhmann interessiert sich für die Frage, „ob ein Beobachter zweiter Ordnung sich nicht darauf konzentrieren könnte, das zu beobachten, was der Beobachter erster Ordnung nicht beobachten kann (…).“ 84 Im Dialog wird der Beobachter erster Ordnung immer wieder angehalten, den Standpunkt eines Beobachters zweiter Ordnung einzunehmen und die eigene Theorie mit dessen Augen zu betrachten: gleichsam von außen. Auf struktureller Ebene ermöglicht der Dialog eine Beobachtung dritter Ordnung, sooft ein Teilnehmer auf Metaebene zwei oder drei verschiedene Positionen in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet und dabei auf den eigenen Standpunkt bezieht. Dass dieser Standpunkt nicht weniger kontingent ist als die beobachteten Standpunkte, versteht sich von selbst. Indem er aber eine vergleichende Perspektive eröffnet, lässt er die Vorzüge und 83 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 58. 84 N. Luhmann, „Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? “, in: P. Watzlawick, P. Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1991, S. 66. <?page no="61"?> Wer beobachtet Gesellschaft? 45 Schwächen der beobachteten Theorien hervortreten und trägt zu ihrem konkreteren Verständnis bei. Im zweiten Kapitel soll u.a. gezeigt werden, wie die vom Dialog begünstigte Distanzierung zwischen wertender Ideologie und wissenschaftlicher Theorie auf diskursiver (semantisch-narrativer) Ebene möglich ist und wie durch das Aufeinandertreffen heterogener soziologischer Theorien Freiräume für kritisch-selbstkritisches Nachdenken entstehen, die neue Erkenntnisse ermöglichen. Zusammenfassung und Ausblick: In diesem Kapitel ging es primär um die Frage, wie Gesellschaft und ihre Entwicklung beobachtet werden. Jede sozialwissenschaftliche Beobachtung gründet auf besonderen (partikularen) Relevanzkriterien, die von der Einstellung des Beobachters zeugen: Er kann - wie Marx, Lukács, Touraine oder die Feministin F. Gaspard - beschließen, auf die beobachteten gesellschaftlichen Probleme mit Engagement zu reagieren und für bestimmte soziale Gruppen Partei zu ergreifen; er kann mit Max Weber versuchen, möglichst neutral, ohne Parteinahme und Werturteil Gesellschaft verstehend zu erklären und mit dem Wissenssoziologen Karl Mannheim nach einer Gruppe Ausschau halten, die über den Antagonismen und Konflikten steht. Er kann schließlich mit Norbert Elias erkennen, dass Wertungen im sozialwissenschaftlichen Diskurs nicht zu vermeiden sind und beschließen, ein Gleichgewicht zwischen sozialem Engagement und selbstkritischer Distanzierung vom Werturteil anzustreben. Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, wie sich Beobachtung der Gesellschaft als Entscheidung für bestimmte Relevanzkriterien auf die Struktur des theoretischen Diskurses als Erzählung auswirkt und wie Distanzierung im Dialog zwischen heterogenen theoretischen Standpunkten begünstigt wird. <?page no="63"?> 47 II. Wer erzählt Gesellschaft und wie? Prozess oder Handlung? Theorie als Erzählung, Konstrukt und Dialog Inhaltsverzeichnis 1. Standort und Relevanz, Klassifikation und Definition: Die semantische Basis 2. Aktanten und Akteure, Fokalisatoren und Prozesse 3. Theorie als Soziolekt und Diskurs: Theorie, Ideologie und Kultur 4. Ideologie und Theorie als zwei Diskurstypen: Monolog und Dialog 5. Der theoretische Dialog als kritische Überprüfung: Widerlegung oder Erschütterung? Geschichte und Soziologie sind verwandte Disziplinen, deren Bereiche in Sozialgeschichte, Zeitgeschichte und Ideengeschichte ineinander greifen. Titel wie Die nachindustrielle Gesellschaft (Daniel Bell), Konsequenzen der Moderne (Anthony Giddens) oder Historisch-genetische Theorie der Kultur (Günter Dux) deuten an, dass sich Gesellschaft unablässig ändert und dass Soziologen das Bedürfnis verspüren, deren Entwicklung zu erzählen und zu erklären. Dass jede ihrer Erzählungen „bereits als solche eine Form der Erklärung ist“ 1 , wie der in der Einleitung zitierte Historiker Werner Schiffer sagt, soll in diesem Kapitel näher erläutert werden. Auch die oft als „statisch“ bezeichnete Systemtheorie eines Talcott Parsons weist narrative, historische Komponenten auf, und einige Titel aus Parsonsʾ Buch The System of Modern Societies (1971, dt. Das System moderner Gesellschaften, 1972, 1985) legen die Vermutung nahe, dass auch dieses scheinbar statische System aus einander ergänzenden historischen Erzählungen hervorgegangen ist: „Prämoderne Grundlagen moderner Gesellschaften“ (3. Kapitel), „Die erste Kristallisierung des modernen Systems“ (4. Kapitel) und: „Gegenbewegung und weitere Entwicklung“ (5. Kapitel). Schon in diesem Stadium drängt sich jemandem, der gern mit dem Erzählen experimentiert, die Frage auf, ob die „erste Kristallisierung“ wirklich die erste war und ob ihr nicht eine frühere vorausging. Kann man die Entwicklung der Gesellschaft nicht ganz anders erzählen, wenn man von einer anderen Warte aus und mit anderen Relevanzkriterien beobachtet? Der Standort des Beobachters kann eine Epoche wie die Renaissance verlängern oder verkürzen, kann sie früher oder später beginnen lassen. Während sie bei einem Komparatisten wie Paul van Tieghem nur 40 Jahre 1 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. <?page no="64"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 48 dauert, erstreckt sie sich bei Ulrich Weisstein, einem seiner Kritiker, über drei Jahrhunderte: vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. 2 Dies bedeutet konkret, dass die beiden Wissenschaftler kulturelle und literarische Erscheinungen ganz unterschiedlich beurteilen, weil sie von grundverschiedenen Relevanzkriterien (Unterscheidungen, Klassifikationen, Definitionen) ausgehen. In der Soziologie - wie in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften - entscheiden die Relevanzkriterien über die Beschaffenheit der semantischen Basis einer Theorie als „Erzählung“: Sind Rationalisierung und Säkularisierung (Comte) für die Entstehung moderner Gesellschaften relevant oder die durch Industrialisierung und Urbanisierung hervorgerufenen Klassenkämpfe? Soll der Theoretiker als Beobachter des Sozialen von der Unterscheidung System / Umwelt (Luhmann) ausgehen und den Differenzierungsprozess „erzählen“, oder soll er (wie Habermas) einen Gegensatz zwischen den Systemen oder Medien „Macht“ und „Geld“ einerseits und der „Lebenswelt“ andererseits konstruieren? 3 Soll er seine Erzählung teleologisch auf ein Ziel (telos) ausrichten, so dass sich die Entwicklung auf eine säkularisierte, rationale (Comte) oder eine klassenlose, von aller Ausbeutung befreite Gesellschaft (Marx) zubewegt? Oder soll er seiner Erzählung im Anschluss an Nietzsches „ewige Wiederkehr“ eine zirkuläre Form geben und wie Vilfredo Pareto die „Zirkulation der Eliten“ beschreiben? Er kann auch - wie eine bestimmte avantgardistische Literatur - den Ausgang der Entwicklung offen lassen und im konkretesten Fall nur einige mögliche Szenarien skizzieren, wie es Luhmann und einige Soziologen der Nachmoderne tun. Im Laufe der Darstellung verschiedener soziologischer Ansätze soll deutlich werden, dass die Zuversicht, mit der die frühen Soziologen - Saint-Simon, Comte, Spencer und Marx - ihre teleologisch angelegten Erzählungen entwarfen, in Spätmoderne und Postmoderne schwindet. Schließlich stellt sich die in diesem Kapitel wichtige Frage nach den handelnden Instanzen: Handeln ausschließlich Individuen oder auch Gruppen, Klassen oder gar Organisationen, Institutionen und Systeme? Wer ist überhaupt handlungsfähig? Solche Fragen treten in den Hintergrund, wenn man davon ausgeht, dass Gesellschaft nicht durch menschliches Handeln in Bewegung gehalten wird, sondern durch Prozesse, die zwar durch individuelle und kollektive Handlungen in Gang gesetzt werden, jedoch bald 2 Vgl. U. Weisstein, Comparative Literature and Literary Theory, Bloomington-London, Indiana Univ. Press, 1973, S. 76. 3 Vgl. Vf., „Theorie als Erzählung. Die Geburt des Konstruktivismus aus dem Geiste der Spätmoderne“, in: M. Arnold, G. Dressel, W. Viehhöfer (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 312- 317. <?page no="65"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 49 ihre Eigengesetzlichkeit entfalten, die nicht aus Einzelhandlungen welcher Art auch immer ableitbar ist. Die Erzähltheorien, die in letzter Zeit vor allem im Bereich der Semiotik entwickelt wurden, sind vorwiegend handlungsorientiert und halten auf diese Frage keine Antworten parat. Soziologische Theorien, die von Comte und Durkheim bis Luhmann und Bourdieu vor allem den Prozesscharakter der Entwicklung wahrnehmen, könnten in diesem Punkt einen Beitrag zur Narrativik leisten. Wie kommen aber theoretische Diskurse als Erzählungen zustande? Auf diese Frage soll dieses Kapitel antworten. 1. Standort und Relevanz, Klassifikation und Definition: Die semantische Basis Der Standort des Beobachters, der Gegenstand des ersten Kapitels war, entscheidet darüber, was für relevant, weniger relevant oder irrelevant gehalten wird. Relevanzkriterien und Relevanzen sind keine rein subjektive Angelegenheit. Der Begriff Relevanz (relevance, pertinence) stammt aus der Phonologie des Prager Linguistischen Zirkels 4 und bezeichnet phonetische Unterschiede und Gegensätze innerhalb der Sprache, die sich auch auf deren Semantik auswirken können. Während im Deutschen der Unterschied zwischen stimmhaftem und stimmlosem „s“ lediglich die norddeutsche bzw. die süddeutsche Aussprache konnotiert (etwa in den Wörtern „sofort“ oder „sozial“) und keinerlei Auswirkungen auf die Wortbedeutung hat, ist er im Französischen semantisch relevant. Davon zeugt u.a. der Gegensatz zwischen stimmlosem und stimmhaftem „s“ in den Wörtern poisson und poison. Während das erste Wort „Fisch“ bedeutet, bedeutet das zweite Wort „Gift“. Bei der Bestellung eines Fischgerichts kann diese phonetische Relevanz lebenswichtig sein. Obwohl in den Sozialwissenschaften Relevanzkriterien und Relevanzen nicht so klar vorgegeben sind wie in der Phonologie, können sich Anthropologen und Soziologen nicht über bestimmte sozial relevante Gegensätze und Unterschiede - etwa männlich / weiblich - hinwegsetzen, zumal in einigen Sprachen (etwa den romanischen und den slawischen) die Grammatik von Frauen und Männern unterschiedlich gehandhabt werden muss (Beispiel aus dem Russischen: ja byl / ich war = männlich; ja byla = weiblich). Andere Relevanzen hängen - vor allem in der Soziologie - sehr stark vom beobachtenden Subjekt ab, wie sich im ersten Kapitel bereits herausgestellt hat. Soll sich das Augenmerk primär auf das individuelle Handeln 4 Vgl. J. Fontaine, Le Cercle linguistique de Prague, Tours, Mâme, 1974, S. 28. Siehe auch: D. Sperber, D. Wilson, Relevance. Communication and Cognition, Oxford, Blackwell (1986), 1994, S. 118-123. <?page no="66"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 50 richten wie etwa bei Max Weber und später bei James Coleman, auf das kollektive Handeln von Klassen wie bei Karl Marx und Georg Lukács oder auf die Differenzierungsprozesse, die Soziologen von Emile Durkheim bis Niklas Luhmann beobachten? Was bewegt Gesellschaft und hält sie in Bewegung: das Handeln des Einzelnen (etwa der großen historischen Gestalt), der Konflikt zwischen Volksgruppen, religiösen Gruppen und Klassen oder die immer intensiver werdende Arbeitsteilung? Arno Bammé meint beispielsweise, dass der technologische Fortschritt zur Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklung werden könnte. Davon zeugt der Titel seines Buches, das 2007 erschien: Die Neuordnung des Sozialen durch Technologie. 5 Aber schon auf den ersten Seiten der Schrift wird deutlich, dass auch andere Faktoren relevant sind: „Geld, sagte ich, sei neben der Technologie von zentraler Bedeutung für die Dynamik der (post-)modernen Gesellschaft, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits, makrosoziologisch gesehen, ermöglicht Geld, vor allem in seiner virtualisierten Form, die ‚Effizienz der Weltmärkte‘. Es treibt den Prozess der Globalisierung voran, des ‚Handelns aus der Ferne‘, des Herauslösens integrativer Mechanismen aus lokalen Kontexten.“ 6 Das „Geld“ wird hier, wie sich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, zu einem mächtigen Aktanten (einem Auftraggeber: siehe weiter unten) und tritt gleichberechtigt neben die „Technologie“ als Auftraggeberin und treibende Kraft. Schon in dem hier zitierten Satz aus Bammés Buch wird deutlich, dass die Relevanzkriterien und Relevanzen der soziologischen Theorie als Erzählung ihre Richtung vorgeben: Sie bewegt sich zwischen Technologie und Ökonomie auf ein Stadium zu, das u.a. als „Globalisierung“ bezeichnet wird. Welche Rolle spielen aber weitere - von Bammé erwähnte - Faktoren wie kulturelle Einflüsse, Migrationsströme, soziale und politische Konflikte, Kriege und ökologische Probleme? Es ist wohl nicht möglich, im Rahmen einer soziologischen Theorie, die Hegels Motto „das Wahre ist das Ganze“ 7 folgt, allen relevanten Faktoren Rechnung zu tragen, ohne den Rahmen der Theorie durch Eklektizismus oder Überdehnung der Komplexität zu sprengen. Daher wird hier der Weg des Dialogs vorgeschlagen, auf dem heterogene, aber thematisch verwandte Theorien zusammengeführt und kritisch überprüft werden. Dass jede dieser Theorien auf andere Relevanzen ausgerichtet ist, in denen ein partikulares Erkenntnisinteresse oder eine „Motivation“ (Schütz) zum Ausdruck kommt, bestätigt Alfred Schütz, der sich mit dem Rele- 5 A. Bammé, Die Neuordnung des Sozialen durch Technologie, Marburg, Metropolis Verlag, 2007. 6 Ibid., S. 16-17. 7 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. <?page no="67"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 51 vanzproblem aus soziologischer Sicht ausführlich befasst hat: „Im Moment genügt es zu bemerken, daß in jedem Augenblick unseres Lebens das Bewußtsein auf einen gewissen Weltausschnitt konzentriert ist, der durch die Gesamtsumme aller Motivationsrelevanzen bestimmt wird. Das können wir ‚Aufmerksamkeit‘ oder ‚Interesse‘ nennen.“ 8 An anderer Stelle von Schütz̕ Werk heißt es von dem als relevant bezeichneten Problem, es werde „nunmehr als thematisch relevant konstituiert, abgelöst von seinem Motivationszusammenhang, gewissermaßen in seinem eigenen Recht, es wird interessant und deshalb befragenswert“. 9 Das Wort „konstituiert“ deutet darauf hin, dass es sich bei jedem theoretischen Problem, jedem Objekt um eine Konstruktion handelt, die auf Relevanzkriterien gründet. Dazu bemerkt Hartmut Esser: „Jede soziologische Erklärung ist ein theoretisches Modell und daher kein unmittelbares Abbild der sog. Wirklichkeit. Deshalb handelt es sich immer um eine Vereinfachung. Es geht gar nicht anders.“ 10 In dem hier entworfenen Zusammenhang wird dieses Modell als Erzählkonstruktion aufgefasst, die aus Beobachtungen und den ihnen entsprechenden semantischen Entscheidungen hervorgeht: aus Relevanzentscheidungen, Selektionen und Klassifikationen. Als Vereinfachung wird diese Konstruktion der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Eine Annäherung an deren Komplexität soll der offene Dialog ermöglichen, der heterogene Perspektiven aufeinander bezieht. Jede der großen soziologischen Erzählungen geht, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, von bestimmten Relevanzen aus, die die Form von relevanten Gegensätzen annehmen. Bei Auguste Comte ist beispielsweise der Gegensatz zwischen Glauben (Religion, Metaphysik) und Vernunft (Wissenschaft) relevant, und seine Erzählung bewegt sich auf Verwissenschaftlichung und Verweltlichung zu. Wie bei anderen Soziologen entscheidet auch bei Comte die Relevanz als semantischer Gegensatz über Dynamik und Richtung des Diskurses. Ähnliches lässt sich von Karl Marx̕ groß angelegter - in vieler Hinsicht hegelianischer (vgl. Kap. IV) - Erzählung sagen, die auf dem semantischen Gegensatz Kapitalismus / Kommunismus bzw. Kapital / Arbeit gründet: Anders als die Erzählung Comtes, die eher Ereignisse und Prozesse beschreibt, wird Marx̕ Erzählung vom Konflikt zwischen zwei kollektiven Aktanten (vgl. Abschn. 2) angetrieben, die um das Objekt „Gesellschaft“ (um den Objekt-Aktanten, Greimas) kämpfen. 8 A. Schütz, Das Problem der Relevanz, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S. 101. 9 A. Schütz, „Strukturen der Lebenswelt“, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. III: Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag, Nijhoff, 1971, S. 161. 10 H. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. I: Situationslogik und Handeln, Frankfurt- New York, Campus, 1999, S. 21. <?page no="68"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 52 In größeren, aber weniger konkreten Dimensionen denken Adorno und Horkheimer, wenn sie in ihrer Dialektik der Aufklärung den Gegensatz Natur / Geist für relevant erklären und die zunehmend fatale Herrschaft des Geistes über die Natur, des Subjekts über das Objekt nachzeichnen (vgl. Kap. VI). In vieler Hinsicht komplementär zu ihrem Entwurf verhalten sich die verschiedenen feministischen Theorien, die in ihren zahlreichen Varianten vom semantischen Gegensatz männlich / weiblich ausgehen und viele Probleme der vormodernen und modernen Gesellschaft aus der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts ableiten. Dass ihre Konstruktionen auf verschiedenen Ebenen die Konstruktion Adornos und Horkheimers ergänzen, weil der Geist (als Logos, Ratio und System) seit jeher männlich war, liegt auf der Hand (vgl. Kap. VII). Ein Vergleich der Relevanzkriterien von Luhmann und Habermas lässt die Auswirkung der Relevanzen auf das verwendete Vokabular erkennen: Der semantische Stellenwert des Wortes „System“ ändert sich, sobald es in andere Relevanzen eingebunden wird. „Im ersten Schub wird die traditionelle Differenz von Ganzem und Teil durch die Differenz von System und Umwelt ersetzt“ 11 , heißt es in Luhmanns Soziale Systeme. In diesem Satz geht es primär um eine Verlagerung der Relevanz. Durch die neue Unterscheidung von System und Umwelt führt der Beobachter eine neue Relevanz ein und leitet zugleich eine neue Erzählung ein: die Erzählung von der fortschreitenden Systemdifferenzierung, die die traditionellen hermeneutischen und dialektischen Erzählungen ersetzen soll. Diese Erzählung ist zugleich eine neue Konstruktion des Objekts „Gesellschaft“. Ganz anders konstruiert und erzählt Jürgen Habermas das gleiche Objekt, wenn er (wie sich in der Einleitung gezeigt hat) vom Gegensatz zwischen den Systemen (Medien) Macht und Geld einerseits und der Lebenswelt andererseits ausgeht. Anders als die Erzählung Luhmanns, die den sozialen Differenzierungsprozess zum Gegenstand hat, gründet seine Erzählung auf einem Konfliktmodell, das vom Widerspruch zwischen Markt und Macht einerseits und einer Lebenswelt der Verständigung und des Konsensstrebens andererseits strukturiert wird: „Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest.“ 12 Es liegt auf der Hand, dass in diesem Modell die „Lebenswelt“ positiv, die „Systeme Macht und Geld“ durchweg negativ konnotiert sind. Zugleich nimmt das Wort „System“ bei Habermas eine ganz andere Bedeutung an als bei Luhmann, obwohl es sich mit Luhmanns Definitionen der Systeme „Wirtschaft“ und „Politik“ überschneidet. Im Rahmen einer so angelegten 11 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 22. 12 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 192. <?page no="69"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 53 Konstruktion kann der „Erzähler“ (als Beobachter) nur ein Ziel verfolgen: die Einrichtungen der Lebenswelt gegen die Monetarisierung durch Marktgesetze und die Machtansprüche der Politik verteidigen. In allen theoretischen Erzählungen - von Comte und Marx bis Luhmann und Habermas - begründen die Relevanzen bestimmte komplementäre Klassifikationen (Klassen von Begriffen). Während bei Comte eine positive Klasse von Begriffen wie „positives Wissen“, „Wissenschaft“, „Tatsache“, „Erkenntnis“ usw. durch eine negativ konnotierte Klasse ergänzt wird, der Begriffe wie „Metaphysik“, „Theologie“, „Mythos“ und „Glaube“ angehören, leitet Marx seine Klassifikationen von dem für ihn relevanten Gegensatz Kapitalismus / Kommunismus (Kapital / Arbeit) ab: Der Begriffsklasse „Materialismus“, „Wissenschaft“, „konkrete Erkenntnis“, „Praxis“ usw. steht die Begriffsklasse „Idealismus“, „Ideologie“, „abstrakte Erkenntnis“, „Spekulation“ usw. gegenüber. Algirdas J. Greimas bezeichnet solche Wortklassen als semantische Isotopien, für deren Kohärenz ein Oberbegriff (Klassem) wie „Kapitalismus“ oder „Sozialismus“ bürgt. Isotopie ist: „Wiederholtes Auftreten auf einer syntagmatischen Ebene von Klassemen, die für die Homogenität des Diskurses als Aussage bürgen.“ 13 Von den semantischen Strukturen oder Isotopien bei Comte und Marx wird im vierten und fünften Kapitel ausführlicher die Rede sein. Auch bei Luhmann und Habermas sind die Wortklassen, die die semantische Basis der jeweiligen theoretischen Diskurse bilden, von den Relevanzen ableitbar. Bei Luhmann wird die Umwelt eines Systems - etwa der Wirtschaft - von allen anderen sozialen Systemen gebildet, so dass es zu einer (naheliegenden) Klassifikation der Systeme in „Politik“, „Wissenschaft“, „Religion“, „Kunst“ usw. kommt. Die Differenz System / Umwelt beinhaltet aber auch Wortklassen oder Isotopien, die sich einerseits auf das „System“, andererseits auf die „Umwelt“ beziehen. Auf das System beziehen sich u.a.: „Autonomie“, „Autopoiesis“, „Selbstreferenz“, „Fremdreferenz“; auf die Umwelt: „Komplexität“, „Kontingenz“, „Außenbereich“, „Außeneinwirkungen“ usw. Bei Habermas gehen aus der postulierten Relevanz Klassifikationen hervor, in denen sich der wertende Gegensatz System / Lebenswelt auf die positiven oder negativen Konnotationen der semantischen Einheiten auswirkt: „strukturelle Gewalt“, „Verdinglichung“, „Ungleichheit“, „Kolonialisierung“ usw. im Gegensatz zu: „Kommunikation“, „Verständigung“, „Gleichheit“, „Konsens“ usw. Die hier skizzierten relevanzabhängigen Klassifikationen lassen Begriffsdefinitionen entstehen („System“, „Umwelt“, „Lebenswelt“), die in je- 13 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 196-197. <?page no="70"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 54 dem theoretischen Diskurs, in jeder soziologischen Erzählung einen anderen semantischen Inhalt annehmen. Das Wort „System“ ist als Signifikant (Saussure), als vieldeutige phonetische Einheit, unbestimmt; erst in der Semantik eines Diskurses, die durch Relevanzen und Klassifikationen entsteht, nimmt es eine konkrete Bedeutung an und wird dadurch als Begriff bestimmt. Dennoch ist es nicht immer eindeutig, und man könnte zeigen, dass es im Falle von Wörtern wie „System“ und „Lebenswelt“ sowohl bei Luhmann als auch bei Habermas zu Sinnverschiebungen kommt. 14 Abschließend kann festgehalten werden, dass jede theoretische „Erzählung“ als Diskurs eine semantische Basis hat, die den Erzählvorgang ermöglicht und für ihn unentbehrlich ist. Ohne beobachtete und postulierte Relevanzen und die aus ihnen hervorgehenden Klassifikationen und Definitionen können Geschichte, Wirtschaftsgeschichte oder Gesellschaft nicht erzählt und in ihrer Entwicklung erklärt werden. Um eine Theorie zu verstehen, ist es daher notwendig, ihre semantischen Grundlagen als Relevanzen zu analysieren. Im Folgenden soll mit Hilfe der Begriffe Aktant, Akteur, Fokalisator, Erzählprogramm und Prozess die eigentliche Dynamik der theoretischen Erzählung erläutert werden. 2. Aktanten und Akteure, Fokalisatoren und Prozesse Bekanntlich können in Märchen, Novellen und Romanen alle möglichen Instanzen handeln und so den Fortgang der Erzählung sichern: Helden und Antihelden aller Art, Tiere, mythische Wesen wie Drachen, aber auch außerirdische Instanzen wie die Sonne oder der Mond, die in der Dichtung oft angeredet, befragt und zum Handeln aufgefordert werden. Aber auch Kollektive können in der Literatur handeln: etwa die „Partei“, von der ein Sozialist in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften sagt: „Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel! “ 15 Dieses „Wir“ kommt auch in der Sozialphilosophie und der Soziologie vor: etwa wenn Saint-Simon seine Hoffnung in das entschlossene Handeln der „Industriellen“ setzt oder wenn Marx das „Proletariat“ gegen das „Bürgertum“ antreten lässt. Im letzten Satz des Kommunistischen Manifests ruft er gar die Proletarier als Kollektiv zum revolutionären Handeln auf. 14 Dass es zu zahlreichen Sinnverschiebungen bei T. S. Kuhns „Paradigmabegriff“ kommt, und zwar in einem und demselben Buch, nämlich The Structure of Scientific Revolutions, hat Margaret Masterman gezeigt. Vgl. M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, London, 1965, Bd. IV, Cambridge, Univ. Press (1970), 1982, S. 61-65. 15 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Hamburg, Rowohlt, 1952, S. 1324. <?page no="71"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 55 Nicht ganz zu Unrecht betrachtet Max Weber Kollektive als handelnde Instanzen mit Skepsis und versucht, seine verstehende Soziologie (vgl. Kap. I und XII) ausschließlich auf das Handeln von Individuen auszurichten. Mit einem Seitenblick auf Marxisten und Sozialisten meint er feststellen zu können: „Auch eine sozialistische Wirtschaft müßte soziologisch genau so ‚individualistisch‘, d.h.: aus dem Handeln der Einzelnen: - der Typen von ‚Funktionären‘, die in ihr auftreten, - heraus, deutend verstanden werden (…).“ 16 Aber beschließt die Partei (als Parteipräsidium oder Politbüro) nicht den Fünfjahresplan? Kann in einer Marktwirtschaft die Regierung oder die Handelskammer nicht Beschlüsse fassen, die stets kollektiv sind, weil sie nie von einer einzelnen Person stammen und (juristisch gesehen) nie von Einzelpersonen getragen werden? Es wird sich zeigen, dass in verschiedenen soziologischen Theorien Institutionen, Organisationen, Bewegungen und sogar Systeme - zu Recht oder zu Unrecht - als handelnde Instanzen und als treibende Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung aufgefasst werden. Wo Individuen gemeinsam etwas beschließen, werden Voraussetzungen für gemeinsames, kollektives Auftreten und Handeln geschaffen. Die von Algirdas Julien Greimas und seinen Mitarbeitern entwickelte Strukturale Semiotik versucht, allen diesen Fragen und Problemen Rechnung zu tragen, indem sie im Anschluss an Lucien Tesnière 17 den Begriff des Aktanten einführt, der im Prinzip alle wirklichen, abstrakten, mythi schen, kollektiven und individuellen Instanzen bezeichnet, die handlungsfä hig sind oder für handlungsfähig gehalten werden: „Die Aktanten sind Personen oder Dinge, die in welcher Eigenschaft und auf welche Art auch immer, sogar als einfache Statisten und auf völlig passive Art, am Prozess beteiligt sind.“ 18 Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, dass Erving Goffman im Zusammenhang mit seiner dem Theater entlehnten Terminologie „Teams“ oder „Ensembles“ als kollektive Aktanten einführt. Grundsätzlich unterscheidet Greimas zwei Arten von Aktanten: Aktan ten der Kommunikation (des Aussagevorgangs) und Aktanten der Erzäh lung (der Aussage). Aktanten der Kommunikation sind alle Erzähler (Sender) literarischer oder theoretischer Texte und alle ihre Hörer oder Leser (Empfänger). Aktanten der Erzählung sind die in der Erzählung handelnden Instanzen, die symmetrisch in Helden und Antihelden, Helfer und Widersa cher, Auftraggeber und Gegenauftraggeber eingeteilt werden. Alle diese Instanzen sind Subjekt Aktanten: handelnde Subjekte oder Antisubjekte. Eine 16 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie (Unvollendet 1919-1920), Studien ausgabe, Bd. I/ 23 (Hrsg. K. Borchardt et al.), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014, S. 12. 17 Vgl. L. Tesnière, Eléments de syntaxe structurale, Paris, Klincksieck, 1959, S. 102 sowie A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 3 („Actant“). 18 Ibid. <?page no="72"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 56 wichtige Funktion erfüllt in jeder Erzählung - symmetrisch zu den Subjekt- Aktanten - der Objekt-Aktant, dessen sich sowohl der Held als auch der Antiheld bemächtigen wollen: die Prinzessin oder der Schatz im Märchen, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Macht oder der Mensch in einer ideologischen oder soziologischen Erzählung. Eine besondere Rolle fällt dem Subjekt-Aktanten als Auftraggeber (destinateur, Greimas) zu: „Der Auftraggeber (gesellschaftliche Autorität, die den Helden mit einem Heilsauftrag betraut) teilt dem Helden die Rolle des Beauftragten zu (…).“ 19 Dieser Heilsauftrag beinhaltet ein Erzählprogramm (programme narratif, Greimas, Courtés), in dem es stets darum geht, ein Ziel zu erreichen (z.B. die „klassenlose Gesellschaft“) oder sich eines Objekts zu bemächtigen (z.B. der Prinzessin im Märchen oder des Staatsapparats in Lenins Staat und Revolution). Der Auftraggeber (der König im Märchen, Gott in monotheistischen Diskursen, die Geschichte im Marxismus) spielt auch in der Philosophie und der Soziologie eine entscheidende Rolle, denn auf ihn berufen sich die Erzähler, um die Handlungen ihrer Helden plausibel zu machen und zu rechtfertigen. Bei Marx erscheint die „Geschichte“ als Auftraggeberin, die die Handlungen des „Proletariats“ mit Vernunft erfüllt und legitimiert. Symmetrisch dazu tritt die „Beharrung“ oder „Reaktion“ als Gegenauftraggeberin des „Bürgertums“ (des „Adels“) und als „Negation der Geschichte“ auf. Den Aktantenbegriff ergänzt der Begriff des Akteurs, von dem Joseph Courtés sagt, er könne als „Synkretismus mehrerer Aktanten“ 20 aufgefasst werden: Ein Politiker kann als individueller Akteur beispielsweise den kollektiven Aktanten „Regierung“, „Parlament“ und „Partei“ angehören. Umgekehrt setzen sich kollektive Aktanten - z.B. Parteien - aus zahlreichen individuellen Akteuren zusammen. Für die Soziologie ist das Wechselverhältnis Akteur-Aktant deshalb von Bedeutung, weil das Handeln eines einzelnen Akteurs oftmals nur im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektivaktanten erklärt werden kann. 21 Auf dieser Ebene wird sich zeigen, dass Versuche, gesellschaftliche Entwicklungen ausschließlich aus individuellen Handlungen abzuleiten, fragwürdig sind (vgl. Kap. III). Die Handlungen von Aktanten sind keine isolierten Taten, sondern laufen auf semantischen Ebenen oder Isotopien (s.o.) der soziologischen Erzählung (des soziologischen Diskurses) ab, die durch die hier beschrie- 19 A. J. Greimas, Du Sens, Paris, Seuil, 1970, S. 234. 20 J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 21 A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 168-169. <?page no="73"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 57 benen semantischen Relevanzen und Klassifikationen - etwa Kapitalismus / Kommunismus oder System / Umwelt - zustande kommen. Greimas zeigt, wie Aktanten und Akteure in mythischen, literarischen, politischen und theoretischen Diskursen diesen Isotopien zugeordnet werden können. Wie in literarischen oder politischen Erzählungen, in denen sich die Helden und ihre Helfer auf den komplementären Isotopien „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ und „Menschlichkeit“ bewegen, die Antihelden und ihre Helfer hingegen auf den Isotopien „Lüge“, „Ungerechtigkeit“ und „Unmenschlichkeit“, bewegen sich auch in theoretischen Diskursen die Subjekte auf positiv konnotierten Isotopien wie „Wahrheit“, „Wissenschaft“, „Erkenntnis“, „Lebenswelt“, während die Antisubjekte der „Unwahrheit“, „Unwissenschaftlichkeit“ oder der (ideologischen) „Verschleierung“ geziehen werden. Für die semiotische Aktantentheorie ist schließlich der Begriff der Modalität wesentlich. 22 Er bezeichnet - vereinfacht ausgedrückt - Haltungen und Fähigkeiten wie „sollen“, „wollen“, „wissen“ und „können“, die Handlungen und ganze Programme als narrative Programme (programmes narratifs, Greimas, Courtés) ermöglichen. Ohne besondere Fähigkeiten wären individuelle und kollektive Aktanten (Akteure) nicht in der Lage, sich Ziele zu setzen und diese Ziele auch zu erreichen. Dies gilt für mythische Helden und Romanhelden ebenso wie für politische Parteien, die versuchen, mit Hilfe ihrer Programme und Proklamationen die Öffentlichkeit von ihren Fähigkeiten oder Modalitäten zu überzeugen und für ihre Programme als Erzählungen künftiger Taten zu gewinnen. Dass literarische Helden von Autoren mit fantastischen Modalitäten - vor allem des „Wissens“ und „Könnens“ - ausgestattet werden, ist bekannt. Von Ariostos Orlando Furioso bis zu Ian Flemings James Bond werden Helden mit Wunderwaffen ausgerüstet, die es ihnen gestatten, den furchterregendsten Feind (etwa Dr. No) zu besiegen. Was wir den Schriftstellern glauben, weil das Papier der Fiktion besonders geduldig ist, nehmen wir Philosophen und Soziologen nicht ohne weiteres ab, weil vor allem die Soziologie als Wissenschaft empirische Ansprüche erhebt und auch erheben soll. So kommt es, dass nicht nur Hegels „Weltgeist“ bei den empirisch denkenden Philosophen Großbritanniens und der USA Unmut erregte, sondern auch Marx̕ „Proletariat“, das mit einem revolutionären Bewusstsein (als Modalität) ausgestattet wird, das sich empirischer Überprüfung entzieht. Der Hegelianer und Marxist Georg Lukács geht noch einen Schritt weiter, wenn er in seiner Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) schreibt: „D.h. es ist gerade so wenig ein Zufall, wie ein rein 22 Vgl. A. J. Greimas, „Pour une théorie des modalités“, in: ders., Du Sens II. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1983, S. 71-79. <?page no="74"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 58 theoretisch-wissenschaftliches Problem, daß das Bürgertum theoretisch in der Unmittelbarkeit stecken bleibt, während das Proletariat darüber hinausgeht.“ 23 Hier wird das Proletariat mit einer nahezu fantastischen Modalität des Wissens ausgestattet, die es in die Lage versetzen soll, das Bürgertum als Antisubjekt aus dem historischen Feld zu schlagen. In diesem Zusammenhang fällt dem Begriff Fokalisator, den Gérard Genette in die Narrativik eingeführt hat, eine wichtige Rolle zu. Er bezeichnet die literarische Figur, mit deren Augen der Schriftsteller als Erzähler die von ihm geschaffene Welt beobachtet. 24 Diese Figur fällt zumeist mit dem positiv konnotierten Subjekt-Aktanten (Helden) zusammen und ist somit in das Aktantenmodell der Strukturalen Semiotik integrierbar. In Geschichte und Klassenbewußstsein stellt Lukács an anderer Stelle den „Marxismus als wissenschaftliche[n] Standort des Proletariats“ 25 dar. Dies bedeutet, dass er die gesellschaftliche Wirklichkeit aus der Sicht des Proletariats (seines Fokalisators) beobachtet und beurteilt - so wie der Schriftsteller einer Novelle oder eines Romans die „Wirklichkeit“ von seinem Helden beobachten lässt. In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig beispielsweise wird die Welt von Venedig mit den Augen der Hauptfigur Aschenbach betrachtet. Das Problem, das sich hier abzeichnet, geht aus dem Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Empirie hervor: Während der Leser der Novelle Thomas Mann alles glauben kann, was er von seinem Protagonisten und dessen Modalitäten (Kenntnissen, Fähigkeiten) sagt, weil er alle Figuren seiner Novelle erfunden hat, wird der Leser von Geschichte und Klassenbewußtsein die fantastischen Modalitäten, mit denen Lukács das „Proletariat“ ausstattet, mit berechtigter Skepsis betrachten. Er wird sich fragen, ob dieses „Proletariat“ tatsächlich der empirischen - der Erfahrung, Befragung, Beobachtung zugänglichen - Arbeiterklasse entspricht oder eine theoretische Fiktion ist. Davon wird hier ausführlicher im Marxismus-Kapitel die Rede sein. In der soziologischen Theorie macht sich dieses Problem immer wieder bemerkbar: etwa bei Alain Touraine, dem Soziologen des „gesellschaftlichen Handelns“, der meint, den Standpunkt der emanzipatorischen sozialen Bewegungen (Frauenbewegungen, „Grüne“, Friedensbewegungen) einnehmen zu sollen. Aber können diese Bewegungen tatsächlich, wie er glaubt, der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung eine Wende zum Besseren geben? Oder stattet er sie mit Modalitäten aus, die einer empirischen Überprüfung nicht standhalten? Hier wird deutlich, dass der soziologische Diskurs Wirklichkeiten schafft, die in mancher Hinsicht mit de- 23 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 288. 24 Vgl. G. Genette, Figures III, Paris, Seuil,1972, S. 206-211. 25 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 308. <?page no="75"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 59 nen der erzählenden Literatur vergleichbar sind. Dadurch können in den Sozialwissenschaften mythische Aktanten entstehen, die nicht das halten (können), was sich ihre Schöpfer von ihnen versprechen. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb einige Soziologen - von Comte und Durkheim bis Luhmann - nicht so sehr Aktanten und Akteuren ihre Aufmerksamkeit widmen, sondern sozialen Prozessen wie Differenzierung, Arbeitsteilung oder Institutionalisierung. Freilich schließen Prozesse Handlungen nicht aus, denn sie werden von individuellem und kollektivem Handeln in Gang gesetzt und in Bewegung gehalten. Aber sie lassen immer wieder etwas Neues entstehen, was die Handelnden weder beabsichtigt noch vorausgesehen haben. Die Narrativik kennt zwar den Prozess-Begriff, stellt ihn aber nicht ins Zentrum ihrer Betrachtungen. 26 In der Soziologie hingegen gehört er zu den Schlüsselbegriffen, wie Norbert Elias̕ Werk Über den Prozeß der Zivilisation (1969) zeigt (vgl. Kap. XIII). Wie entsteht das Neue und Unvorhergesehene? Es entsteht aus koordinierten und unkoordinierten Handlungen, die neue Bedingungen und neue Situationen schaffen, an denen sich künftige Handlungen orientieren müssen. Zwei Beispiele mögen veranschaulichen, was gemeint ist: Man nimmt sich vor, einen Geburtstag wie gewohnt im intimen Kreis zu feiern, lädt aber spontan eine neue, noch wenig bekannte Nachbarin ein. Erstaunt stellt man fest, dass die vertraute Stimmung der Unsicherheit, ja der Anonymität weicht, weil die neue Nachbarin unsicher wirkt, nicht aus sich herausgeht usw. Durch Einwanderung (also durch das Handeln vieler) wächst eine Kleinstadt zur Großstadt heran, die Handwerker und kleinen Geschäfte werden von arbeitsteiligen Betrieben, Supermärkten und Kaufhäusern verdrängt, und auch in diesem Fall nimmt die Anonymität zu. Kein Handelnder, kein Akteur hat diesen Zustand beabsichtigt, herbeigewünscht: und doch tritt er ein mit allen Vor- und Nachteilen. Hartmut Esser spricht in diesem Zusammenhang vom „ungeplante[n] Resultat eines Prozesses des wechselseitig bezogenen Handelns und Reagierens von ‚rationalen‘ Akteuren“. 27 Luhmann bezeichnet diese Erscheinung als Emergenz: „Oft spricht man in diesem Zusammenhang auch von ‚emergenten‘ Ordnungen und will damit sagen, daß Phänomene entstehen, die nicht auf die Eigenschaften ihrer Komponenten, zum Beispiel auf die Intentionen von Handelnden zurückgeführt werden können. Aber ‚Emergenz‘ ist eher die Komponente einer 26 Vgl. G. Prince, Dictionary of Narratology, Aldershot, Scholar Press, 1988, S. 77: „process“. 27 H. Esser, Soziologische Anstöße, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 203. <?page no="76"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 60 Erzählung als ein Begriff, der zur Erklärung von Emergenz verwendet werden könnte.“ 28 Sie ist Komponente einer Erzählung, weil sie dem entspricht, was der Semiotiker Tzvetan Todorov als Ereigniskausalität 29 bezeichnet: Ein Ereignis geht aus dem vorhergehenden hervor, und es kommt zu einer Verkettung von Ereignissen, die den Eindruck weckt, als laufe ein Prozess ohne Handlungen, ohne Aktanten, ohne Subjekte ab. Aber dies ist eine Illusion, wie sich im Luhmann-Kapitel zeigen wird. In der Soziologie käme es darauf an, Handlung und Prozess im theoretischen Diskurs dialektisch aufeinander zu beziehen. Es fragt sich nun, in welchen Kontexten theoretische Diskurse als semantische und narrative Strukturen entstehen. 3. Theorie als Soziolekt und Diskurs: Theorie, Ideologie und Kultur Bisher wurde soziologische Theorie als Erzählung aufgefasst, die durch ein Aktantemodell und besondere semantische Vorentscheidungen (Relevanzkriterien, Klassifikationen, Definitionen) strukturiert wird. Obwohl Einzelpersonen für die Besonderheit einer Theorie verantwortlich sind, entwerfen sie diese Theorie nicht als isolierte Individuen ohne Kontakt zur Umwelt, sondern als sprachbegabte Subjekte, die nur dadurch zu Subjekten werden konnten, dass sie sich im Laufe ihrer Sozialisation in einem ständigen Dialog mit anderen (individuellen und kollektiven) Subjekten entwickelt haben. Auch ihre Theorie kann deshalb nur dialogisch als nachahmende, zustimmende oder ablehnende Reaktion auf andere Theorien und ihre Sprachen verstanden werden. Die Theorie als Diskurs, als semantisch-narrative Konstruktion entsteht in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der sie nicht nur auf andere theoretische Diskurse, sondern auch auf die Alltagssprache, auf die in ihr wirkenden ideologischen Sprachen, Fachsprachen aller Art, Philosophien, Literaturen und Sprachen der Werbung reagiert. Diese Sprachen sind keineswegs „freischwebend“, sondern können verschiedenen ideologischen Gruppen, Berufen, Organisationen und Bewegungen zugeordnet werden: religiösen oder literarischen Gruppierungen, politischen Parteien, Frauenbewegungen, Umweltschützern usw. Es sind keine rein individuellen Sprachen, sondern Soziolekte, denen ein bestimmtes Vokabular wie „freie Marktwirtschaft“, „Konkurrenz“, „Leistungsanreize“ im Falle des Neoliberalismus oder „Sexismus“, „Ungleichbehandlung“ oder „symbolische Gewalt“ im Falle des Feminismus eigen ist. 28 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 134- 135. 29 Vgl. T. Todorov, „Poétique“ in: O. Ducrot et al., Qu’est-ce que le structuralisme ? , Paris, Seuil, 1968, S. 133. <?page no="77"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 61 Dieses Vokabular wird von bestimmten Relevanzkriterien und semantischen Klassifikationen strukturiert. Innerhalb eines jeden Soziolekts können beliebig viele Diskurse (als semantische und syntaktisch-narrative Strukturen oder Erzählungen) generiert werden. Obwohl jeder Diskurs von allen anderen mehr oder weniger stark abweicht, sind allen Diskursen eines Soziolekts bestimmte lexikalische, semantische und narrative Komponenten gemeinsam: Sie können alle zu einer „großen Erzählung“ als Erzählprogramm (des Liberalismus, Feminismus oder Marxismus) gebündelt werden, die dem Soziolekt als sozialem Standort einer Gruppe entspricht. Das hier angeführte Stichwort „symbolische Gewalt“, das einige feministische Gruppierungen der Soziologie Pierre Bourdieus entnehmen, weist auf ein symbiotisches Verhältnis zwischen ideologischen und wissenschaftlichen Soziolekten hin (und auch auf die Schwierigkeit, Webers Postulat der Wertfreiheit in den wissenschaftlichen Semantiken durchzusetzen). 30 Tatsächlich zeigen Karl R. Poppers frühe Erfahrungen, dass Theorien in einer sozio-linguistischen Situation entstehen, in der Theoretiker mit Zustimmung oder Kritik auf ideologische und theoretische Soziolekte und deren Diskurse reagieren. Dazu bemerkt Popper: „Meine Begegnung mit dem Marxismus war eines der wichtigsten Ereignisse meiner intellektuellen Entwicklung. Sie lehrte mich Dinge, die ich nie vergessen habe (…).“ 31 An anderer Stelle fügt Popper im Zusammenhang mit Einsteins Physik hinzu: „Das war eine Einstellung, die sich von der dogmatischen Einstellung von Marx, Freud und Adler grundsätzlich unterschied - und noch mehr von der Einstellung ihrer Anhänger.“ 32 Der Zusatz ist nicht ganz unwichtig, weil er andeutet, dass der theoretische Dialog nicht nur zwischen Einzelpersonen - Popper, Einstein, Marx, Freud - stattfindet, sondern zwischen theoretischen und zugleich ideologischen Gruppensprachen oder Soziolekten. Popper setzte sich auch kritisch mit dem Logischen Positivismus des Wiener Kreises (Schlick, Carnap) auseinander - weshalb er nicht als „Positivist“ bezeichnet werden sollte. Der dialogisch-polemische Ursprung einer Theorie, der hier zu beobachten ist, bewirkt, dass jede sozialwissenschaftliche Theorie am ehesten als intertextuelle, d.h. dialogische Reaktion auf andere Theorien zu verstehen ist. Dazu bemerkt Roland Barthes im Anschluss an Bachtins Theorie des Dialogs und Julia Kristevas Begriff der Intertextualität: „Der Text teilt 30 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IV: „Ideologie und Wertfreiheit: Von Max Weber zum Kritischen Rationalismus“, Kap. V: „Ideologie und Wissenschaft: Von Louis Althusser zu Michel Pêcheux“ und Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 31 K. R. Popper, Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1979, S. 45. 32 Ibid., S. 48. <?page no="78"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 62 die Sprache neu ein (er ist das Feld der Neueinteilung). Eine Art, diese Dekonstruktion-Konstruktion in die Wege zu leiten, ist, Texte sowie die Textfetzen, die im Umfeld eines bestimmten Textes und schließlich in ihm selbst vorkommen, umzugestalten: Jeder Text ist ein Intertext.“ 33 Das heißt: Jeder Text ist als Dialog mit anderen Texten zu verstehen, die er umgestaltet, umdeutet. Wie kommt diese Umgestaltung zustande? Sie kommt dadurch zustande, dass jemand wie Popper im Verlauf seines Dialogs mit anderen theoretischen Soziolekten und Diskursen neue Relevanzkriterien, Klassifikationen und Definitionen postuliert und beispielsweise die vom Wiener Kreis geforderte „Verifikation“ oder „Verifizierbarkeit“ wissenschaftlicher Theorien durch das Kriterium der „Falsifizierbarkeit“ (Widerlegbarkeit) von Theorien ersetzt. Durch dieses neue Relevanzkriterium wird sein Diskurs als Intertext, als dialogisches Konstrukt, zum „Feld der Neueinteilung“. Dass diese „Neueinteilung“ nicht nur theoretisch und wissenschaftlich motiviert ist, lässt Poppers Verhältnis zum Liberalismus, zur liberalen Ideologie, erkennen. Zu diesem Verhältnis bemerkt Alan Ryan: „That is, it is not so much that his philosophy of science supports his liberalism as that it expresses it. This is not a claim which I imagine Popper himself would accept; indeed, I imagine that he would be extremely hostile to it.” 34 In diesen Sätzen wird zweierlei deutlich: Einerseits ist eine Philosophie oder sozialwissenschaftliche Theorie nie frei von ideologischen Interferenzen (Grundsätzen, Ansichten, Wertungen); andererseits geben Philosophen und Sozialwissenschaftler diese Interferenzen nicht gern zu, und zumeist reflektieren sie sie auch nicht. Popper verteidigt zwar die liberalindividualistische Gesellschaftsordnung, stellt aber keine Beziehung zwischen ihr und seiner Wissenschaftstheorie her, obwohl er andeutet, dass „freie Diskussion“ als liberales Prinzip für die Entfaltung der Wissenschaft wesentlich ist: „Gedankenfreiheit und freie Diskussion sind letzte Werte des Liberalismus, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.“ 35 An anderer Stelle heißt es: „Und diese Selbstkritik und Selbstbefreiung ist nur in einer pluralistischen Atmosphäre möglich, das heißt in einer offenen Gesellschaft, die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert.“ 36 In Übereinstimmung mit Ryan kann allerdings gezeigt werden, dass Poppers Plädoyer für „Falsifizierbarkeit“ (Widerlegbarkeit) von Hypothesen und 33 R. Barthes, „Théorie du texte et intertextualité“ , in: S. Rabau (Hrsg.), L’Intertextualité, Paris, Flammarion, 2002, S. 59. 34 A. Ryan, „Popper and Liberalism“, in: G. Currie, A. Musgrave (Hrsg.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht-Boston-Lancaster, Nijhoff, 1985, S. 89. 35 K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München-Zürich, Piper, 1984, S. 172. 36 Ibid., S. 162. <?page no="79"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 63 Theorien seiner Auffassung einer „offenen“ und „pluralistischen“ Gesellschaft homolog ist, in der inmitten von Vielfalt das Konkurrenzprinzip herrscht. 37 Poppers Ansatz wurde hier als Beispiel angeführt, damit nicht der Eindruck entsteht, dass sich nur engagierte Theorien (vgl. Kap. I) wie Marxismus, Feminismus oder Kritische Theorie in ständiger Wechselbeziehung zu Ideologien entfalten - und dass „wirklich“ wissenschaftliche Theorien „neutral“, „objektiv“ oder „wertfrei“ sind. Alle sozialwissenschaftlichen The orien gehen von Relevanzkriterien und Klassifikationen aus, die z.T. ideologisch motiviert und fundiert sind. In den Sozialwissenschaften gibt es keine neutralen oder objektiven Relevanzkriterien, Selektionen und Klassifikationen. Dies gilt auch für die hier vertretene Kritische Theorie, die zwar ebenfalls liberale und individualistische Werte verteidigt, zugleich aber (im Gegensatz zum Kritischen Rationalismus Poppers) den liberalen Individualismus als Herrschaftsprinzip radikal kritisiert. Poppers Auseinandersetzungen mit dem Logischen Positivismus des Wiener Kreises, mit Marxismus, Psychoanalyse, Liberalismus und Sozialismus zeigen, dass sich eine Theorie als semantisch-narrative Struktur in einer sozio linguistischen Situation entwickelt, die mit einer bestimmten Kultur fast koextensiv ist. Insofern sind alle Theorien nicht nur ideologisch, sondern auch kulturell geprägt. Dies gilt für Max Webers „verstehende Soziologie“ ebenso wie für Emile Durkheims Soziologie der Arbeitsteilung und des Kollektivbewusstseins. Während auf Weber neben dem deutschen Neukantianismus (vor allem dem Heinrich Rickerts) auch die damaligen deutschen Wirtschaftstheorien, der Marxismus, der Sozialismus, der Liberalismus und Nietzsches Philosophie eingewirkt haben, verdankt Durkheim viele seiner Relevanzkriterien den Philosophien Rousseaus und Montesquieus sowie dem Positivismus Auguste Comtes (vgl. Kap. IX). Auch der Sozialismus und der Kollektivismus seines Zeitgenossen Jean Jaurès haben Spuren in seinem Werk hinterlassen. Der Unterschied zwischen Weber und Durkheim, zwischen einer auf das individuelle Handeln und einer auf die prozesshaften Veränderungen der Gesellschaft ausgerichteten Soziologie, kann somit als zugleich ideologischer und kultureller Unterschied aufgefasst werden. Jede soziologische Theorie ist in einen ideologischen, kulturellen und sprachlichen Kontext eingebettet, aus dem sie hervorgeht. Das bisher Gesagte zeigt, wie wenig befriedigend Versuche sind, „Theorie“ rein formal als „System von Aussagen“ oder „Propositionen“ zu definieren. So schrieb schon vor längerer Zeit der amerikanische Soziologe Neil Smelser: „Eine in vieler Hinsicht immer noch befriedigende Definition 37 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur und So zialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), S. 95-99. <?page no="80"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 64 formaler Theorie wurde vor einem halben Jahrhundert von Parsons aufgestellt: Theorie ist ‚ein Gebilde logisch voneinander abhängiger, verallgemeinerter Aussagen über empirische Beziehungen‘.“ 38 Über diese von Parsons und Smelser vorgeschlagene Definition gelangt Hermann Astleitner nicht hinaus, wenn er Theorien als „Systeme von Aussagen“ 39 definiert und von ihnen (wie die meisten Anhänger des Kritischen Rationalismus) u.a. „Präzision“, „Informationsgehalt“, „logische Konsistenz“ sowie „empirische Überprüfbarkeit“ 40 verlangt. Gegen solche Kriterien ist nichts einzuwenden, zumal sie sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im sozialwissenschaftlichen Bereich gelten. Ihre Schwäche besteht darin, dass sie den spezifischen Charakter soziologischer Theorien als „Erzählungen der Gesellschaft“ nicht erfassen und ihre Entstehung in besonderen sozialen, kulturellen und sprachlichen Kontexten nicht nachvollziehen können. Warum lehnt es Max Weber ab, die Gesellschaft - wie Marx oder Touraine - mit Hilfe von kollektiven Aktanten zu erzählen? Warum richtet er seine Erzählung auf die Handlungen von Individuen aus? Warum steht bei Durkheim der Gesellschaftsprozess im Vordergrund und nicht die Handlung, und warum gibt Pareto seiner Erzählung eine zirkuläre Form? Formale Definitionen von Theorien („Theorie als System von Aussagen“) bieten keine Antworten auf diese Fragen und können außerdem die „Erzählung als Form der Erklärung“ (W. Schiffer) nicht beschreiben. Insofern erscheinen sie auch aus formaler Sicht als unzureichend. Es kommt hinzu, dass sie den wesentlichen Nexus von Ideologie und Theorie ausblenden. 4. Ideologie und Theorie als zwei Diskurstypen: Monolog und Dialog Im Anschluss an das bisher Gesagte sollen im Folgenden Ideologie und Theorie als grundverschiedene Diskurstypen gegeneinander abgegrenzt werden. Eine solche Abgrenzung ist notwendig, damit nicht der Eindruck entsteht, dass alle soziologischen Theorien „irgendwie“ ideologisch sind und dass sich Ideologie und Theorie nicht unterscheiden lassen. Erschwert wird eine Unterscheidung dadurch, dass ein Soziologe wie Rudolf Richter feststellt, „dass sich wissenschaftliche Theorien von nichtwissen- 38 N. Smelser, „Soziologische Theorien“, in: D. Bögenhold (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart, Lucius & Lucius-UTB, 2000, S. 69. 39 H. Astleitner, Theorieentwicklung für SozialwissenschaftlerInnen, Wien-Köln-Weimar, Böhlau, 2011, S. 20. 40 Ibid., S. 23-24. <?page no="81"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 65 schaftlichen nur graduell unterscheiden“. 41 Dies ist höchstwahrscheinlich richtig; aber wie sieht das „Graduelle“ auf struktureller, diskursiver Ebene aus? Es hat sich gezeigt, dass auch Ideologien Gesellschaft und Politik erzählen: etwa indem sie die sowjetische Intervention in Afghanistan als „brüderliche Hilfe“ gegen „reaktionäre Kräfte“ darstellen oder indem sie versuchen, die bekannte liberale These plausibel zu machen, der zufolge sich Marktwirtschaft und Demokratie parallel entwickeln, so dass eine funktionierende Marktwirtschaft ohne demokratische Ordnung nicht denkbar ist (die Entwicklung Chinas zeigt, dass die Wirklichkeit vielfältiger ist als die Einbildungskraft der Ideologen). Zugleich wurde deutlich, dass eine ursprünglich kritische Theorie wie die von Marx und Engels im Rahmen des Marxismus-Leninismus in eine Staatsideologie verwandelt werden kann. Die Grenzen zwischen Ideologie und Theorie scheinen somit fließend zu sein. Sie sind fließend, weil Ideologie und Theorie eine gemeinsame Grundlage haben: Beide sind Wertsysteme, d.h. Systeme von Wertsetzungen und Werturteilen. Sie können im Prinzip beide konservativ, liberal, marxistisch (sozialistisch), anarchistisch, feministisch oder ökologisch („grün“) sein. Dadurch unterscheiden sie sich von naturwissenschaftlichen Theorien, die zwar auf funktionaler Ebene für ideologische Zwecke eingesetzt werden können (etwa um die „Sicherheit“ eines Kernkraftwerks zu „beweisen“), deren Vokabular und Semantik (etwa „Kernspaltung“ oder „Anziehungskraft“) aber nicht ideologisch sind. Den Unterschied veranschaulicht, wie früher bereits angedeutet, ein Vergleich zweier sprachlich verwandter Metaphern: „wissenschaftliches Feld“ im Sinne von Bourdieu und „magnetisches Feld“ im Sinne der Physik. Obwohl aus sprachwissenschaftlicher Sicht beide Metaphern vergleichbar sind, hat der physikalische Ausdruck einen ganz anderen Status als der soziologische: Während der physikalische universelle Geltung beanspruchen kann, weil er von allen Physikern auf der ganzen Welt akzeptiert wird, findet der soziologische nur unter denjenigen Soziologen Anerkennung, die sich auf Bourdieus Theorie berufen. Diese Theorie ist - wie alle soziologischen Theorien - aus ideologischen Gründen umstritten. Es kommt hinzu, dass jeder sozialwissenschaftlichen Theorie ein implizites oder explizites ideologisches Engagement zugrunde liegt, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat. Ohne Engagement würde es der Theorie an Mo tivation fehlen. Im theoretischen Diskurs als Erzählung wird dieses Engagement unter anderem dadurch erkennbar, dass das Subjekt der Theorie die Gesellschaft aus der Sicht eines Fokalisators erzählt: aus der Sicht des 41 R. Richter, Soziologische Paradigmen. Eine Einführung in klassische und moderne Kon zepte, Wien, WUV-Univ.-Verlag, 200l, S. 20. <?page no="82"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 66 Proletariats, der Frauenbewegung, der „grünen“ Bewegung oder des autonomen Individuums. Die Ideologie im allgemeinen Sinn, die Ideologie als Wertsystem, Gruppensprache oder Soziolekt, unterscheidet sich daher nicht wesentlich von der Theorie, die auch auf einem System von Werten gründet, welches das Engagement des Theoretikers ermöglicht und erhält. Beide, sowohl Ideologie als auch sozialwissenschaftliche Theorie, sind Wertsysteme. Der eigentliche Unterschied zwischen Ideologie und Theorie tritt auf der Ebene der Diskursstruktur in Erscheinung. Auf dieser Ebene kann die Ideologie in einem ideologiekritischen Sinne restriktiv definiert werden: Sie ist ein Diskurs, dessen Aussagesubjekt Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der Wirklichkeit im Rahmen von dualistischen Aktantenmodellen (Gut / Böse; Held / Antiheld) tilgt, sich unreflektiert mit der Wirklichkeit identifiziert und dadurch einen Monolog hervorbringt, der ein dialogisches Verhältnis zu andersartigen Diskursen und zur Alterität allgemein unmöglich macht. 42 Die Kurzfassung dieser Definition lautet: Die Ideologie ist ein dualistisch strukturierter Monolog, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert. Wie die Identifizierung im Einzelnen vor sich geht, beschreibt ausführlich der Semiotiker Luis J. Prieto: „Die Erkenntnis einer materiellen Realität ist ideologisch, wenn das Subjekt die Grenzen und die Identität des Objektes, zu dem diese Realität für es geworden ist, als in der Realität selbst befindlich betrachtet, d.h. wenn das Subjekt der Realität selbst die Idee zuspricht, die es aus ihr konstruiert hat. Das Subjekt einer ideologischen Erkenntnis ist sich dann dieser Konstruktion nicht bewußt (…).“ 43 Anders gesagt: Das ideologische Subjekt blendet den Konstruktionsvorgang aus, der seine Objekte (z.B. „Wissenschaft“, „Kultur“, „Demokratie“) hervorbringt, und identifiziert seinen Diskurs mit diesen Objekten. Dadurch verbietet es implizit oder explizit anderen Subjekten, diese Objekte anders zu konstruieren und blockiert den Dialog, indem es jede Art von Alterität negiert. Zugleich vertuscht der ideologische Diskurs durch seine monologische Struktur und seine Identifizierung mit der Wirklichkeit die Tatsache, dass er selbst im Laufe der Sozialisation auf dialogischem Weg aus verschiedenen, oft heterogenen Sprachen hervorgegangen ist. Prietos ausführliche Beschreibung der Identifikationsmechanismen ist auch deshalb wichtig, weil sie veranschaulicht, was Adorno und Horkheimer mit „Identitätsdenken“ meinen. Sie wenden sich gegen die rationalistische und hegelianische Annahme, „der ordo idearum wäre der ordo 42 Vgl. Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 61. 43 L. J. Prieto, „Entwurf einer allgemeinen Semiologie“, in: Zeitschrift für Semiotik 1, 1979, S. 263. <?page no="83"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 67 rerum“ 44 , das Denken wäre mit der Wirklichkeit identisch. Gegen Hegels Postulat, das von ihm entwickelte dialektische Denken sei identisch mit der realen Welt und ihrer Entwicklung, entwirft Adorno in seiner Negativen Dialektik eine Dialektik der „Nichtidentität“ von Denken und Sein (vgl. Kap. VI). Dabei zeigt er das ideologische Moment von Hegels Philosophie auf: ihre Behauptung, ihre Konstrukte seien in der Wirklichkeit selbst zu finden, so dass Denken und Realität identisch oder identifizierbar seien. Wie der ideologische Diskurs blendet Hegels Dialektik den Konstruktionsvorgang aus, dessen Wahrnehmung zu dem Schluss führen muss, dass Denken und Sein, Subjekt und Objekt zweierlei sind und dass folglich alle von uns beschriebenen Objekte als unsere Objektkonstruktionen aufgefasst werden müssen. Dieser semiotischen (Prieto) und dialektischen (Adorno) Kritik am „Identitätsdenken“ trägt die folgende Definition des theoretischen Diskurses Rechnung, die im Gegensatz zur „Ideologie“ im restriktiven Sinne konstruiert wird: Die Theorie ist ein von ideologischen Interessen geleiteter Diskurs, dessen Aussagesubjekt über seine Relevanzkriterien, seine semantischnarrativen Verfahren und seine Aktantenmodelle im sozio-linguistischen Kontext als Entstehungszusammenhang nachdenkt und sie als partikulare, kontingente Konstruktionen einer ambivalenten und vieldeutigen Wirklichkeit auffasst, deren empirisch fundierte Erkenntnis den Dialog mit anderen Theorien voraussetzt. 45 Die Kurzfassung dieser Definition lautet: Der theoretische Diskurs fasst sich selbst als kontingente Konstruktion auf, die in einem empirisch fundierten, offenen Dialog mit andersartigen Diskursen überprüft werden kann. Diese konstruktivistische und dialogische Auffassung des theoretischen Diskurses knüpft an die konstruktivistischen und dialogischen Elemente in Adornos Essays und in seiner Negativen Dialektik an. Adorno fasst den Essay als ein selbstkritisches Denken auf, das nicht nur seine Voraussetzungen reflektiert, sondern sich bisweilen auch gegen sich selbst kehren kann, um sich selbst in Frage zu stellen: „Er [der Essay] zehrt die Theorien auf, die ihm nah sind; seine Tendenz ist stets zur Liquidation der Meinung, auch der, mit der er selbst anhebt.“ 46 Hier zeichnet sich ein selbstkritisches „Gegen-sich-selbst-Denken“ ab, das in der Negativen Dialektik explizit so bezeichnet wird. 47 Dialektik wird dort nicht nur als selbstkritisches, sich seiner eigenen Kontingenz be- 44 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 23. 45 Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 62. 46 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 39. 47 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 142 und Kap. VI im vorliegenden Band. <?page no="84"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 68 wusstes Denken aufgefasst, sondern als ein Denken, das sich dialogisch Gegenmeinungen und Gegenhypothesen (d.h. der Alterität) öffnet, um sich selbst am Leben zu erhalten, um nicht ideologisch zu verkrusten. Zugleich erscheint hier der Dialog als mit der „Kraft des befreienden, infragestellenden, innovativen und nichtantizipierbaren Gesprächs“ 48 im Sinne von Hans-Herbert Kögler ausgestattet. Dies bedeutet, dass Adornos Variante der Kritischen Theorie sich nicht notwendigerweise - wie Adorno selbst meint - an der Mimesis der Kunst zu orientieren hat, und auch nicht - wie Habermas behauptet - in den „Poststrukturalismus“ münden muss: „Wenn man Adornos Negative Dialektik und Ästhetische Theorie ernstnimmt und sich auch nur einen Schritt von dieser Beckettschen Szene entfernen will, dann muß man so etwas wie ein Poststrukturalist werden.“ 49 Man kann, aber man muss nicht: Von Adorno führt nicht nur ein Weg zur kritischen Kunst, die eine Versöhnung mit der Natur antizipiert, und dann weiter zum „Poststrukturalismus“. Es hat sich gezeigt, dass in Adornos Essayistik und seiner negativen Dialektik auch Spuren des Dialogs zu finden sind, denen man bis zu dem Punkt folgen kann, an dem eine dialogische Theorie entsteht, der das „Gegen-sich-selbst-Denken“ zur Methode wird. Da die dialogischen Elemente der Theorie sowie ihre Verbindung zu Adornos negativer Dialektik schon erörtert wurden, soll zum Abschluss der theoretische Dialog als kritische Überprüfung von Theorien näher betrachtet werden. Dabei wird die Auseinandersetzung mit dem Kritischen Rationalismus - vor allem mit Poppers Plädoyer für Widerlegbarkeit - eine wichtige Rolle spielen. 5. Der theoretische Dialog als kritische Überprüfung: Widerlegung oder Erschütterung? In einem Dialog zwischen verschiedenen theoretischen Positionen sind Kritik und kritische Überprüfung ohne Dissens kaum vorstellbar. Der Dissens kann ebenso wichtig sein wie der Konsens, und ein Gespräch mag am fruchtbarsten sein, wenn Konsens und Dissens einander die Waage halten. Ein Essayist wie Montaigne schätzt gerade den Dissens: „Prallen Meinungen aufeinander, verärgert oder beleidigt mich das also keineswegs - es dient mir vielmehr als Anregung und Ansporn.“ 50 Adorno erweist sich als ein Erbe Montaignes, wenn er in der Ausrichtung auf das Andere und 48 H.-H. Kögler, Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart, Metzler, 1992, S. 7. 49 J. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 172. 50 M. de Montaigne, Essais, Frankfurt, Eichborn, 1998, S. 463. <?page no="85"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 69 Heterogene ein wesentliches Element der Theorie und der Theoriebildung erblickt. Denn erst durch die Projektion ins Andere und Andersartige erscheint der eigene Standpunkt in einem neuen, ihn verfremdenden Licht. Der Theoretiker lernt, das Eigene mit den Augen des Anderen zu betrachten. In diesem Zusammenhang will es durchaus einleuchten, dass eine intersubjektive Überprüfung von Theoremen oder Theorien innerhalb von einer Wissenschaftlergruppe etwas anderes ist als eine Überprüfung zwischen verschiedenen Gruppen, deren Soziolekte und Diskurse ideologisch heterogen sind. Während sich innerhalb von einer marxistischen Gruppe gleichsam von selbst die Frage nach der Bedeutung der Klassen und der sich ändernden Klassenbeziehungen in der zeitgenössischen Gesellschaft stellt, wird in einem Dialog zwischen einer marxistischen und einer feministischen Gruppe die Relevanz dieser Frage angezweifelt und stattdessen die Frage aufgeworfen, ob Herrschaftsstrukturen und „symbolische Gewalt“ nicht eher im Verhältnis der Geschlechter zutage treten. Die Auseinandersetzung zwischen zwei heterogenen Gruppen bewirkt, dass Selbstverständlichkeiten und Dogmen, die innerhalb eines Kollektivs die Diskussionen beherrschen, erschüttert werden. Dadurch wird die intersubjektive Überprüfung in einer ideologisch-theoretischen Gruppe durch die wirksamere interdiskursive Überprüfung zwischen Gruppen ergänzt. Diese Überprüfung ist wirksamer, weil nun heterogene theoretische Diskurse als Erzählungen, als semantisch-narrative Strukturen aufeinandertreffen und jenes „Gegen-sich-selbst-Denken“ ermöglichen, von dem Adorno spricht. In der Vergangenheit haben sich Diskussionen zwischen heterogenen ideologischen und theoretischen Positionen als besonders fruchtbar erwiesen. Als Beispiel sollen die z.T. polemisch geführten Debatten zwischen Formalisten und Marxisten im nachrevolutionären Russland der 1920er Jahre veranschaulichen, was gemeint ist. Während Formalisten wie Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov und Boris Ejchenbaum vor allem in der Frühphase ihrer Entwicklung von Kants Gedanken ausgingen, dass Kunst oder „das Schöne“ „ohne Begriff gefällt“ und daher nicht in begriffliche Rede als Ideologie oder Weltanschauung übertragen werden kann, knüpften Marxisten wie Anatolij Lunačarskij oder Lev Trockij an Hegels Ästhetik an, in der Kunst als Ausdruck eines bestimmten Bewusstseins aufgefasst wird: als „scheinen der Idee“ (Hegel). Wie Hegel war Lunačarskij der Meinung, dass Kunst Ideen ausdrückt und dabei vor allem die Sinne anspricht: „Wie muß die Idee in der Kunst aussehen, um, ohne nur abstrakter Gedanke zu sein, dem ideologischen Bereich zuzu- <?page no="86"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 70 gehören? - Es ist evident, daß sie den Charakter des Gefühls tragen muß.“ 51 In diesem Zusammenhang warfen die Marxisten die Frage nach der gesellschaftlichen Entstehung der Kunst auf: nach ihrem Warum. Diese Frage beantworteten sie zumeist mit Hinweisen auf Ideologien, die Kunstwerke ausdrückten, oder auf Klassenlagen, denen sie entsprachen. Was in einem theoretischen Soziolekt „evident“ ist, kann in einem anderen als abwegig erscheinen. Zu Luna arskijs These stellt Šklovskij die Gegenthese auf: „Eine neue Form erscheint nicht, um einen neuen Inhalt auszu drücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“ 52 Hier steht in Übereinstimmung mit neuen Relevanzkriterien nicht länger die Frage nach dem „Warum“, sondern die Frage nach dem „Wie“, der neuen Form, im Mittelpunkt. Anders ausgedrückt: Der formalistische Beobachter zweiter Ordnung beobachtet die marxistische Theorie und stellt fest, dass ihre Vertreter Wesentliches übersehen: die Tatsache, dass Künstler nicht Werke hervorbringen, um neue Gefühle oder Ideen auszudrücken, sondern um alte, verbrauchte Formen, die kein „neues Sehen“ mehr ermöglichen, durch neue Formen abzulösen. Obwohl die Debatten zwischen Formalisten und Marxisten in der Sowjetunion nicht fortgesetzt werden konnten, weil die Formalisten von der stalinistischen Zensur mundtot gemacht wurden, brachten sie neue Erkenntnisse hervor, die vor allem in der Semiotik und einigen literatursoziologischen Richtungen auf fruchtbaren Boden fielen. Hier erkannten Be obachter dritter Ordnung - d.h. Beobachter des Dialogs zwischen Formalisten und Marxisten - die Notwendigkeit, an die schon der russische Literaturwissenschaftler Pavel Medvedev erinnerte: die formalistische Frage nach dem „Wie“ mit der marxistischen Frage nach dem „Warum“ der Kunst zu verknüpfen und in der Form selbst (der Schreibweise, dem Stil) ein sozia les Faktum zu erkennen. Auf diese Art kann in der Auseinandersetzung zwischen heterogenen Diskursen ein Wahrheitsmoment sichtbar gemacht werden, das als inter diskursives Theorem zu bezeichnen wäre: etwa die sowohl in Prietos Semiotik als auch in Adornos Dialektik geltende Annahme, dass Denken und Sein nicht identisch sind und dass eine Identifizierung von Diskurs und Wirklichkeit ideologisch ist. 51 A. Luna arskij, „Der Formalismus in der Kunstwissenschaft“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 89. 52 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB, 1969, S. 51. <?page no="87"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 71 Ein weiteres Beispiel für das Zustandekommen eines interdiskursiven Theorems ist die dem Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie gemeinsame Auffassung der Ideologie als eines geschlossenen Systems und als einer dualistischen Rede, die „Wahrheit“ und „Unwahrheit“, „Gut“ und „Böse“ einander manichäisch gegenüberstellt. 53 Trotz ihrer Heterogenität im Bereich der sozialen Wertung setzen sich Kritischer Rationalismus und Kritische Theorie für Offenheit und Dialogizität ein. Aus dialogischer Sicht ist nicht die Frage relevant, die Andreas Balog aufwirft, nämlich „ob ein Gesichtspunkt vorstellbar ist, von dem aus die einzelnen Ansätze als Teile eines größeren Ganzen sichtbar werden“. 54 Denn dieses „größere Ganze“, das auch Hegel vorschwebte, erweist sich letztlich auch als partikular, als Teilperspektive, die sich selbst als allgemein gültig präsentiert, zugleich aber vieles im Dunkeln lässt. Den Sinn des theoretischen Dialogs fasst Uwe Schimank knapp und klar zusammen, wenn er schreibt: „Die eine Perspektive wird an wichtigen Punkten erst durch Einblendung einer anderen richtig ausgeleuchtet, setzt also für die eigene Entfaltung deren Hinzunahme voraus.“ 55 Mithin ist der Zweck des Dialogs nicht nur die wechselseitige Kritik, sondern auch die wechselseitige Erhellung theoretischer Diskurse, die zu deren besserem Verständnis beiträgt. Freilich geht es auch um eine kritische Überprüfung, die die Schwachstellen der beteiligten Theorien erkennen lässt. Dieser Gedanke erinnert an Poppers Kritischen Rationalismus, der die Wissenschaftlichkeit von Theorien und Hypothesen an ihre Widerlegbarkeit oder Falsifizierbarkeit knüpft. Für die Dialogische Theorie, die hier als Variante der Kritischen Theorie (Adornos, Horkheimers) vorgeschlagen wird, ist die kritische Überprüfung im Dialog akzeptabel, nicht jedoch das Postulat der Falsifizierbarkeit. Zu Recht wendet der Soziologe Jean-Claude Passeron ein, dass dieses Postulat in den Sozialwissenschaften nicht anwendbar ist: „Die empirische Überprüfung einer theoretischen Aussage kann in der Soziologie niemals die logische Form einer ‚Widerlegung‘ (‚Falsifizierung‘) im Popperschen Sinne annehmen.“ 56 In den Naturwissenschaften mag es durchaus möglich sein, Hypothesen oder ganze Theorien zu widerlegen (etwa die These, dass das Atom die letzte unteilbare Einheit sei); in den Kultur- und Sozial- 53 Vgl. K. Salamun, Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik, Wien- Köln-Graz, Böhlau, 1988, S. 41-42 (zur Geschlossenheit) und S. 59 (zum Manichäismus). 54 A. Balog, Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis der Grundprobleme, Stuttgart, Lucius & Lucius, 2001, S. 6. 55 U. Schimank, Gesellschaft, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 152. 56 J.-Cl. Passeron, Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonnement naturel, Paris, Nathan, 1991, S. 359. <?page no="88"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 72 wissenschaften ist dies kaum zu bewerkstelligen, weil hier Theorien aus Kulturen, Sprachen und Ideologien (als Wertsystemen) hervorgehen und zugleich von Beobachtern beurteilt werden, deren Kriterien ebenfalls kulturell, sprachlich und ideologisch bedingt sind. In den Sozialwissenschaften wird das Verb „widerlegen“ zu pauschal verwendet, ja missbraucht. Als Beispiel sei hier Ulrich Becks scheinbar vernichtendes Urteil über Niklas Luhmanns Soziologie angeführt: „Auch die Systemtheorie, die Gesellschaft subjektunabhängig denkt, ist gründlich widerlegt worden (auch wenn deren Dogmenverwalter und Organisationsfunktionäre noch nicht abgewickelt und aufs Altenteil geschickt werden).“ 57 So amüsant diese Rhetorik auch sein mag, der Soziologie kann sie nur schaden, und sie ist sicherlich nicht dazu angetan, Befürworter der Systemtheorie an ihrer Einstellung zweifeln zu lassen. Ihre Fragwürdigkeit mag ein Hinweis auf das autonome Rechtssystem verdeutlichen: In einem Gerichtsverfahren hat es keinen Sinn, religiöse, moralische oder politische Argumente geltend zu machen, denn Gerichte werden nur juristische (rechtlich formulierbare) Argumente anerkennen, weil sich ihr Sprachsystem ausschließlich aus Rechtssätzen zusammensetzt (zu denen etwa der Grundsatz gehört, dass Unkenntnis eines Gesetzes seine Anwendbarkeit nicht berührt: „ignoratia legis neminem excusat“). Insofern beleuchtet Luhmann durchaus einen wichtigen Aspekt der Differenzierung, wenn er die Autonomie und Autopoiesis (Kap. XV) des Rechtssystems und aller anderen Systeme hervorhebt. Hier gibt es nichts zu „widerlegen“. Seine Systemtheorie enthält - wie die Talcott Parsonsʼ - weitere sehr brauchbare Gedanken, die in diesem Buch möglichst unverzerrt wiedergegeben und gewürdigt werden sollen. Dies bedeutet keineswegs, dass Systemtheorien durch Vergleiche oder in Diskussionen nicht erschüttert werden können. Luhmann selbst hat Parsonsʼ systematische Soziologie grundsätzlich in Frage gestellt, als er daran erinnerte, dass der von Parsons privilegierte soziale Wertekonsens nicht länger als Grundlage der Gesellschaft aufzufassen sei (vgl. Kap. XV). Aber er weist zu Recht darauf hin, dass auch Parsonsʼ Soziologie keineswegs widerlegt wurde. 58 In dieser von der „Unwiderlegbarkeit“ geprägten Situation, in der sich die Sozialwissenschaften befinden, erscheint der Dialog im Sinne einer kritischen Überprüfung als der einzige Ausweg. Im Verlauf dieser Prüfung werden Theorien oder Theorieteile meistens jedoch nicht endgültig 57 U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (5. Aufl.), S. 158- 159. 58 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 240: „Die Parsonssche Theorie ist selten angemessen begriffen und nie angemessen widerlegt worden.“ Dies gilt auch für die Systemtheorie Luhmanns. <?page no="89"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 73 widerlegt (wie bei Popper) sondern „erschüttert“. Der Ausdruck „Erschütterung“ stammt von Otto Neurath, der in seiner Rezension von Poppers Logik der Forschung (1934/ 2002, Rez. 1935) schreibt: „Wo Popper an die Stelle der ‚Verifikation‘ die Bewährung einer Theorie treten läßt, lassen wir an die Stelle der ‚Falsifizierung‘ die ‚Erschütterung‘ einer Theorie treten (…).“ 59 Diese Erschütterung im Dialog (in der Diskussion, im „Geistergespräch“ oder im Theorienvergleich) ist alles andere als trivial. Sie kann, wie sich in der Formalismus-Marxismus-Debatte gezeigt hat, Schwachstellen sichtbar machen; sie kann auch Wahrheitsmomente als interdiskursive Theoreme oder gemeinsame Erkenntnisse zeitigen. Der Dialog, der in den folgenden Kapiteln reproduziert oder inszeniert wird, erfüllt drei komplementäre Funktionen: 1. Er kann die Stärken und Schwächen („blinden Flecken“) von Theorien sichtbar machen. 2. Er kann dadurch zu ihrem besseren Verständnis beitragen (dies ist seine didaktische Funktion, die bereits Sokrates schätzte). 3. Er kann schließlich zu ihrer „Entfaltung“ (Schimank) beitragen und dem unvoreingenommenen Beobachter ihre Aktualität als Entwicklungspotenzial vor Augen führen. - Kurzum: Es geht auch darum, alle hier kommentierten Theorien mit neuem Leben zu erfüllen. Zusammenfassung und Ausblick: Es hat sich gezeigt, dass aus der Beobachtung der Gesellschaft bestimmte Relevanzkriterien, Klassifikationen und Definitionen hervorgehen, welche die Ausrichtung eines soziologischen Diskurses als semantischer und syntaktisch-narrativer Struktur festlegen. Dies bedeutet: Gesellschaft wird in Übereinstimmung mit den semantischen Vorentscheidungen des Aussagesubjekts dargestellt und erzählt. Die Entscheidung für den als relevant postulierten semantischen Gegensatz System / Umwelt (Luhmann) bringt eine andere theoretische Erzählung hervor als die Entscheidung für den Gegensatz System(e) / Lebenswelt (Habermas). Theoretische und ideologische Erzählungen sind als Aktantenmodelle im Sinne von Greimas darstellbar, in denen Fokalisatoren (Genette) darüber entscheiden, von welchem Standpunkt aus beobachtet und erzählt wird. Während ideologische Aussagesubjekte ihre Erzählungen als dualistisch strukturierte Monologe konzipieren, die sie mit der Wirklichkeit identifizieren, wobei der Konstruktionsprozess ausgeblendet wird, tragen theoretische Subjekte der Vieldeutigkeit der Wirklichkeit Rechnung. Sie fassen ihre Diskurse als kontingente, nur mögliche Konstruktionen auf, die in einem 59 O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation“ (1935), in: O. Neurath, Gesammmelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II (Hrsg. R. Haller, H. Rutte), Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1981, S. 638. <?page no="90"?> Wer erzählt Gesellschaft und wie? 74 offenen Dialog auf ihre Stärken und Schwächen hin überprüft werden können. Diese Überprüfung wird hier als „Erschütterung“ im Sinne von Otto Neurath aufgefasst, nicht als Widerlegungs- oder Falsifizierungsversuch im Sinne von Karl R. Popper, der in den Sozialwissenschaften wenig Aussicht auf Erfolg hat. Im nächsten Kapitel soll im Zusammenhang mit den Theorien von George Herbert Mead und Erving Goffman durch Projektion semiotischer Termini in den soziologischen Bereich das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie erläutert werden. <?page no="91"?> 75 III. Subjekt- und Handlungstheorie semiotisch und soziologisch: Von Algirdas Julien Greimas zu George Herbert Mead und Erving Goffman Inhaltsverzeichnis 1. Sozialisation durch infraindividuelle Aktanten: „The ‚I‘ and the ‚Me‘ as Phases of the ‚Self‘“ bei George Herbert Mead 2. Von Mead zu Erving Goffman: Individuelle und kollektive Aktanten in sozialen „Rahmen“ 3. Rolle und Stigma: Interaktion als Subjektivierung und Entsubjektivierung 4. Subjektivität, Machtanspruch und Erzählung: Wer erzählt wen? Dieses Kapitel setzt insofern die Argumentation des zweiten fort, als es die Probleme der Subjektivität, der Handlung (der Aktanten, Greimas) und der Erzählung in einem interdisziplinären Kontext wieder aufgreift. Es soll gezeigt werden, dass die Soziologie zwar keine vollständige Erzähltheorie entwickelt hat, durchaus aber Aktantenmodelle konstruiert, die in George Herbert Meads Diskurs vorwiegend infraindividuelle Aktanten („I“, „Me“ und „Self“) zum Gegenstand haben, aus denen sich (ähnlich wie in Freuds Psychoanalyse, die das „Ich“, das „Es“ und das „Über-Ich“ unterscheidet) das individuelle Subjekt zusammensetzt. Komplementär dazu hat es Erving Goffmans Theorie der sozialen Interaktion immer wieder mit rudimentären Alltagserzählungen zu tun, deren individuelle oder kollektive Subjekte versuchen, eine Handlungssituation zu definieren, einen Handlungsablauf zu steuern oder Machtansprüche zu erheben. Im Hinblick auf Mead und Goffman erscheint es sinnvoll, zwei theoretische Ebenen zu unterscheiden: Während Mead ein Aktantenmodell im Sinne von Greimas entwirft, um das Zustandekommen individueller Subjekte zu erzählen und zu erklären (abermals fungiert die Erzählung als Erklärung im Sinne von Werner Schiffer), macht Goffman in nahezu allen seinen Werken alltägliche Erzählungen von Individuen und Gruppen zum Gegenstand seiner Betrachtungen. Dies hindert ihn nicht daran, selbst in die Rolle des Erzählers zu schlüpfen und zu erzählen, was beispielsweise mit einer Person geschieht, die in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Dabei nimmt er die Perspektive dieser Person ein und lässt sie so als Fokalisator (Genette: vgl. Kap. II. 2) seiner Erzählung auftreten. Es mag bereits deutlich geworden sein, weshalb dieses Kapitel noch zu den „Theoretischen Prolegomena“ gehört und nicht zu einem der Hauptteile, in denen die makrosoziologische Erzählung der gesellschaftlichen <?page no="92"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 76 Entwicklung zentral ist: Es geht nicht primär darum, Meads und Goffmans Soziologien als theoretische Erzählungen „im Übergang von der Moderne zur Postmoderne“ darzustellen, sondern darum, auf das erzähltheoretische Potenzial der Soziologie durch eine Projektion semiotischer Begriffe in den soziologischen Bereich aufmerksam zu machen. Diese Fokussierung auf Subjektivität, Handlung und Erzählung, die der Strukturalen Semiotik und einer bestimmten Soziologie gemeinsam ist, hat auch einen thematischen Grund: Mead und Goffman verstehen sich vor allem als Handlungstheoretiker, nicht als Beobachter gesellschaftlicher Langzeitentwicklungen. Meads Kommentare zur gesellschaftlichen Evolution, die zur „Erreichung einer universalen menschlichen Gesellschaft“ („attainment of a universal human society“) 1 führen soll, sind zwar aus seinem Aktantenmodell, dem der Universalismus-Gedanke zugrunde liegt, ableitbar, letztlich aber zu skizzenhaft, um einen Vergleich mit den großen historischen Erzählungen von Marx, Comte, Spencer oder Durkheim zu rechtfertigen. Bei Goffman würde man vergeblich nach makrosoziologischen Überlegungen, die noch bei einem postmodernen Soziologen wie Michel Maffesoli (vgl. Kap. XXIII) anzutreffen sind, Ausschau halten. Goffmans Gegenstand umschreibt Tom Burns im Anschluss an den amerikanischen Autor selbst völlig richtig als „‚microsociology‘ of social interaction“. 2 Bei Mead und Goffman geht es letztlich um die Frage, wie und in welchen Situationen individuelle und kollektive Aktanten entstehen und handeln. Dieses Erkenntnisinteresse geht aus ihrer Orientierung am amerikanischen Pragmatismus hervor, die bis zu einem gewissen Grad biografisch bedingt ist. Die Kernthese des Pragmatismus, dessen wichtigste amerikanische Vertreter Charles Sanders Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1952) sind, besagt, dass sich die Wahrheit von Aussagen im objektorientierten Handeln (griech. pragma, praxis) zu bewähren hat. Emile Durkheim, der sich ausführlich mit der Bedeutung des Pragmatismus für die Soziologie auseinandersetzt, fasst diese These im Zusammenhang mit William James zusammen: „Eine Idee ist wahr, wenn sie als geistige Vorstellung mit dem vorgestellten Gegenstand übereinstimmt.“ 3 Diese These widerspricht zwar dem hier vertretenen konstruktivistischen Ansatz, der nicht nach Übereinstimmung fragt, sondern nur mehr oder weniger überprüfbare Objektkonstruktionen gelten 1 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 1973, S. 358. (Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1934, S. 310.) 2 T. Burns, Erving Goffman, London-New York, Routledge, 1992, S. 8. 3 E. Durkheim, „The Pragmatist Movement“, in: E. Durkheim et al., Essays on Sociology and Philosophy (Hrsg. K. H. Wolff), New York, Harper and Row, 1960, S. 399. <?page no="93"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 77 lässt; sie bildet aber den Ausgangspunkt des amerikanischen Pragmatismus und der hier kommentierten Soziologien, die aus der Denktradition dieses Pragmatismus hervorgegangen sind. George Herbert Mead (1863-1931) studierte am Oberlin College in Ohio, an der Harvard Universität sowie in Leipzig bei dem damals international einflussreichen Psychologen Wilhelm Wundt und in Berlin, wo er die Hermeneutik Wilhelm Diltheys kennen lernte. 1891 folgte er einem Ruf an die Universität von Michigan in Ann Arbor, wo er das Fach Psychologie vertrat. Wenige Jahre später (1894) begleitete er seinen Freund John Dewey, einen bedeutenden Vertreter des Pragmatismus, nach Chicago, wo er bis zu seinem Tod Philosophie und Psychologie lehrte. Von Dewey und James übernahm Mead den Gedanken, dass nicht nur Wahrheit, sondern auch Per sönlichkeit im Handeln als sozialer Interaktion zustande kommt: Sie geht aus zwischenmenschlicher Kommunikation hervor. Die theoretische Lage am „Department of Philosophy and Psychology“ in Chicago schildert Jürgen Raab: „Beide [Dewey und Mead] argumentierten gegen den naturwissenschaftlich orientierten, ‚strengen‘ Behaviorismus eines John B. Watson (1878-1958) und Burrhus F. Skinner (1904- 1990), der gleichsam in Erweiterung der Theorie vom Reiz-Reaktions-Mechanismus das menschliche Verhalten auf derselben Ebene wie tierische Verhaltensweisen zu interpretieren sucht.“ 4 Im Gegensatz zu den „strengen“ Behavioristen Watson und Skinner kann Mead als „sozialer Behaviorist“ 5 bezeichnet werden, weil er den sozialen Faktor „Interaktion“ in den Prozess der Subjekt- oder Persönlichkeitsbildung einführt. Aus seiner Sicht bildet sich individuelle Subjektivität im Laufe der Sozialisation als Interak tion. Auch in Erving Goffmans Werk steht zwischenmenschliche „Interaktion“ im Mittelpunkt nahezu aller Betrachtungen. Über Goffman schreibt Jonathan H. Turner: „Erving Goffman war vielleicht der kreativste Theoretiker von Interaktionsprozessen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.“ 6 Aber wer war Goffmann? Er wurde 1922 im kanadischen Manville (Alberta) als Sohn ukrainisch-jüdischer Eltern geboren, besuchte eine High School in Winnipeg, brach später ein Chemie-Studium an der 4 J. Raab, Erving Goffman, Konstanz-München, UVK, 2014 (2. Aufl.), S. 40. 5 Vgl. H. Joas, „Einleitung“, in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. I (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1980), 1987, S. 13, wo Joas betont, Mead sei „trotz seiner Begriffswahl niemals Behaviorist oder Determinist in irgendeinem Sinne [gewesen]“. Aber warum sollte man sich über Meads Begriffswahl („social behaviorism“) hinwegsetzen, zumal ein Konsens darüber besteht, dass er den Behaviorismus Skinners und Watsons im sozialen Kontext völlig umgedeutet hat? 6 J. H. Turner, „The Rise of Interactionist and Phenomenological Theorizing“, in: ders., The Structure of Sociological Theory, Belmont (CA), Wadsworth Publishing Company, 1998, S. 392. <?page no="94"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 78 Universität von Manitoba ab und arbeitete eine Zeit lang am National Film Board of Canada in Ottawa. Er schloss ein Studium der Soziologie an der Universität von Toronto mit einem MA ab und wurde danach von der „Graduate School“ der Universität Chicago, später von der Universität Edinburg als Forscher aufgenommen. In Edinburg verfasste er seine Dissertation (Communication Conduct in an Island Community, 1953), die aus einem auf der Shetland Insel Unst durchgeführten „field work“ hervorging. Das Thema des „field work“ fasst Tom Burns in wenigen Worten prägnant zusammen: „the interplay between locals and visitors in and around the hotel he stayed in“. 7 Diesem Thema der sozialen Interaktion, bei dem es um die Selbstdarstellung den Anderen gegenüber (konkret: des Hotelpersonals den Gästen gegenüber) geht, blieb Goffman bis an sein Lebensende treu. 1958 folgte er einem Ruf nach Berkeley (Kalifornien), wechselte aber ein Jahrzehnt später (1969) an die University of Pennsylvania in Philadelphia, um dem Wirbel zu entgehen, den er in Kalifornien als Modeautor verursacht hatte. Ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten der „American Sociological Association“ starb er 1982 an einem Krebsleiden. In den Abschnitten 2-4 soll deutlich werden, dass Goffmans Handlungstheorie aus dem Dreiecksverhältnis zwischen Meads „sozialem Behaviorismus“, Georg Simmels Soziologie der menschlichen „Wechselbeziehungen“ und Durkheims Soziologie des sozialen Faktums (fait social) ableitbar ist. 1. Sozialisation durch infraindividuelle Aktanten: „The ‚I‘ and the ‚Me‘ as Phases of the ‚Self‘“ bei George Herbert Mead In den Titel dieses Abschnitts wurde der Titel eines Aufsatzes von Mead 8 integral aufgenommen, um die Termini „I“, „Me“ und „Self“ vor Missverständnissen und Verzerrungen zu bewahren. Dass die Übertragung dieser Termini ins Deutsche nicht in jeder Hinsicht befriedigt und dazu angetan ist, Verwirrung zu stiften, ist seit langem bekannt. Dazu bemerkt Hans Joas: „Die von Mead geprägten Termini sind schwer übersetzbar, zumal sie keineswegs über Definitionen eingeführt und völlig konsistent verwendet werden.“ 9 Worum geht es konkret bei der Übersetzung? Joas erklärt: „Für ‚I‘ und ‚me‘ wurden ‚Ich‘ und ‚Mich‘ als wörtliche Entsprechungen gewählt; ‚self‘ aber wurde mit Ich-Identität bzw. abgekürzt Identität übersetzt.“ 10 („Me“ wurde leider auch mit „ICH“ übersetzt: vgl. weiter unten.) Im Folgenden wird nicht versucht, die Verwirrung durch neue Übersetzungs- 7 T. Burns, Erving Goffman, op. cit., S. 11. 8 Vgl. G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 192. 9 H. Joas, „Einleitung“, in: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, op. cit., S. 16. 10 Ibid., S. 17. <?page no="95"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 79 vorschläge zu steigern, sondern es werden - wo immer möglich - die Originalbezeichnungen verwendet. Bekannter als Meads Terminologie dürfte die Sigmund Freuds sein, zu deren Verbreitung auch populärwissenschaftliche Texte beigetragen haben. Dass Freud infraindividuelle Aktanten einführt, die Teile der individuellen Subjektivität sind, zeigt der folgenden Satz aus seinem Text über „Das Ich und das Es“: „Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen.“ 11 Diese Terminologie ist keineswegs unumstritten. Vor langen Jahren fand in der Wochenzeitung Die Zeit (10.12.1982, S. 40) eine polemische Diskussion über Freuds Psychoanalyse statt, in der einer der Teilnehmer (R.-H. Uebel, Bergisch Gladbach) zu der Triade „Ich“, „Es“, „Über-Ich“ bemerkte: „Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert müssen die Freudschen Begriffe ‚das Es‘ und ‚das Ich‘ anthropologisch wie sprachanalytisch gesehen als kaum erträgliche gedankliche Schlampereien gesehen werden.“ Ein Einwand gegen diese Termini lautet, dass sie in der Wirklichkeit nichts bezeichnen und daher keinen empirischen Wert haben. In dem hier entworfenen Kontext wird dieser Einwand einerseits als richtig anerkannt, andererseits aber als irrelevant verabschiedet. Er ist zwar richtig, weil Freuds Begriffe keine sichtbaren Gegenstände oder Gestalten bezeichnen; er ist zugleich aber irrelevant, weil es nicht auf Objektbezeichnungen, sondern auf mehr oder weniger brauchbare Konstruktionen ankommt. Die psychoanalytische Praxis von Freud bis Lacan hat gezeigt - etwa durch Beobachtungen von Verdrängungsmechanismen -, dass sich die Freudschen Konstruktionen durchaus bewähren können. 12 Es geht nicht darum, diese Behauptung plausibel zu machen, sondern Meads triadische Konstruktion „I“, „Me“, „Self“ analog zu der Freuds, auf die sich Mead bezieht 13 , aufzufassen, um ihren Stellenwert besser zu verstehen. Auch Meads Terminologie bezeichnet nichts Konkretes, Gegenständliches, sondern ist eine Aktanten-Konstruktion, mit deren Hilfe Sozialisationsprozesse in Phasen eingeteilt und beobachtet werden können. Der Ausdruck „in Phasen eingeteilt“ evoziert nicht zufällig eine Erzählung im Bereich der Mikrosoziologie, deren Gegenstand die Konstitution individueller Subjekte ist. Wie Freud bemüht sich Mead, die Frage zu beantworten, wie ein individuelles Subjekt im Laufe seiner Sozialisation als Interaktion zustande kommt. Erzählt wird also die Entstehung des Individuums in Gesellschaft und Kultur. Wie Freud setzt der Erzähler Mead im 11 S. Freud, „Das Ich und das Es“, in: „Psychologie des Unbewußten“, Studienausgabe, Bd. III (Hrsg. A. Mitscherlich et al.), Frankfurt, Fischer, 1982, S. 292. 12 Vgl. J. Roether, „‚Marion‘. Eine Fallstudie“, in: P. V. Zima, Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, S. 102-112. 13 Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 254-255. <?page no="96"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 80 Anschluss an das von William James (s.o.) eingeführte Begriffspaar ‚I‘ und ‚Me‘ infraindividuelle Aktanten ein, um ein bestimmtes Geschehen anhand einer Konstruktion, eines Aktantenmodells, zu veranschaulichen. Würde man ihn bitten, knapp und klar auf die Frage zu antworten, wie ein individuelles Subjekt entsteht, so könnte er erwidern: „im Spannungsverhältnis zwischen ‚I‘, ‚Me‘ und ‚Self‘.“ Wie sieht dieses Verhältnis konkret aus? Mead stellt es folgendermaßen dar: „Das ‚Ich‘ reagiert auf die Identität [‚self‘], die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das ‚ICH‘ [‚me‘] ein und reagieren darauf als ein ‚Ich‘ [‚I‘].“ 14 Zur Verdeutlichung wurden hier die Originalbezeichnungen in eckigen Klammern eingefügt. Vorsichthalber wird auch der englische Originaltext wiedergegeben: „The ‚I‘ reacts to the self which arises through the taking of the attitudes of others. Through taking those attitudes we have introduced the ‚me‘ and we react to it as an ‚I‘.“ 15 Dies bedeutet, dass das individuelle Subjekt als „Self“ oder „Identität“ aus der Wechselwirkung von „I“ und „Me“ besteht. Eine kompakte Definition von „Self“ schlägt Stefan Kaufmann vor: „(…) Das ‚Self‘ (also Identität) bezeichnet den spezifischen Stil, zwischen ‚I‘ und ‚me‘ Ausgleich zu schaffen.“ 16 Diese Auffassung wird von Charles W. Morris in seiner Einleitung zu Meads Geist, Identität und Gesellschaft (Mind, Self, and Society, 1934) bestätigt: „Die vollständige Identität stellt sich Mead jedoch sowohl als ‚Ich‘ wie als ‚ICH‘ [‚Me‘] vor.“ 17 („The complete self, however, is conceived by Mead as being both ‚I‘ and ‚me‘.“) 18 Das heißt, dass das ‚Me‘ (übersetzt mit „ICH“ oder „Mich“) die Präsenz des Anderen oder der Anderen in unserem Bewusst sein bezeichnet. Als „I“ oder „Ich“ reagieren wir auf diese Präsenz, indem wir uns in einem permanenten Dialog mit den Anderen deren Ansichten oder Einstellungen vergegenwärtigen. Mead geht davon aus, „daß das jeweilige Individuum die Haltung anderer sich selbst gegenüber übernimmt und daß es schließlich alle diese Haltungen zu einer einzigen Haltung oder einer einzigen Position kristallisiert, die als die des ‚verallgemeinerten Anderen‘ bezeichnet werden kann“. 19 Im englischen Original ist von „taking the attitudes of others toward himself“ 20 die Rede, und dieser reflexive und selbstreflexive Prozess führt dazu, dass im 14 Ibid., S. 217. 15 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 174. 16 S. Kaufmann, „Handlungstheorie“, in: L. Gertenbach et al., Soziologische Theorien, München, Fink, 2009, S. 51. 17 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 27. 18 Ch. W. Morris, „Introduction. George H. Mead as Social Psychologist and Social Philosopher“, in: G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. XXV. 19 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 130. 20 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 90. <?page no="97"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 81 Bewusstsein der Einzelperson die Vorstellung von einem „generalized other“ 21 entsteht. Harald Wenzel erklärt: „Die Anderen sind die primären Objekte unserer Erfahrung.“ Er fügt hinzu: „Die Heranbildung unserer eigenen Ich-Identität ist von der des alter ego abhängig - und umgekehrt.“ 22 Obwohl sich Mead von Freud distanziert, wenn er von „der mehr oder weniger phantastischen Psychologie der Schule Freuds“ 23 spricht, lässt er sich von der Psychoanalyse leiten, wenn er das „Me“ als Präsenz des (verallgemeinerten) Anderen im Einzelbewusstsein mit dem „Über-Ich“ als „Zensor“ vergleicht: „Um eine Formulierung Freuds zu verwenden: das ‚ICH‘ [‚Me‘] funktioniert im Sinne eines Zensors.“ 24 („If we use a Freudian expression, the ‚me‘ is in a certain sense a censor.“) 25 Dies bedeutet konkret, dass jemand, der beispielsweise eine wertende Stellungnahme abgeben soll, „die Übereinstimmung seines Urteils mit der Bewertung anderer anwesender Personen unterstellt“ 26 , wie es Wolfgang Ludwig Schneider ausdrückt. Diese reflexive Vorgehensweise ist sprachlich, d.h. durch Symbole vermittelt, und Harald Wenzel spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von „symbolisch vermittelter Interaktion“. 27 Durch die Verwendung und Speicherung sprachlicher Symbole werden Menschen zu Reflexion, Erinnerung und reflexivem Handeln befähigt, das sie vom reizbedingten Reagieren der Tiere unterscheidet. Zugleich wird der Unterschied zwischen dem naturwissenschaftlich verfahrenden Behaviorismus Watsons und Skinners und dem „sozialen Behaviorismus“ („social Behaviorism“, Mead) 28 deutlich. In Meads Ansatz wird die Einwirkung von Reizen auf das menschliche Handeln zwar berücksichtigt, aber dieses Handeln wird zugleich in den gesellschaftlichen Kontext der Sozialisation und der sprachlich vermittelten, reflexiven Interaktion eingebettet. Ähnlich wie Freud geht Mead davon aus, dass sich soziale Konstellationen bilden können, in denen das „Ich“ gegen die Zensur des „Me“ (des Freudschen „Über-Ich“) aufbegehrt und die Fesseln sozialer Konformität abwirft. Das „Ich“, das Mead auch als die „Antwort des Einzelnen auf die 21 Ibid. 22 H. Wenzel, Mead zur Einführung, Hamburg, Junius, 1990, S. 57. 23 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 255. 24 Ibid., S. 254. 25 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 210. 26 W. L. Schneider, „Handlungen als Derivate der Interaktion: George H. Mead“, in: ders., Grundlagen der soziologischen Theorie, Bd. I: Weber - Parsons - Mead - Schütz, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008 (3. Aufl.), S. 210. 27 H. Wenzel, Mead zur Einführung, op. cit., S. 74. 28 G. H. Mead, Mind, Self, and Society, op. cit., S. 91. <?page no="98"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 82 Haltung der anderen ihm gegenüber“ 29 definiert, ist zugleich die kreative Instanz, welche die Initiative ergreift: „Das ‚Ich‘ liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative.“ 30 In dieser Hinsicht überschneidet es sich mit dem Freudschen „Ich“, das jedoch weniger Spielraum hat, weil es genötigt ist, unablässig zwischen der Zensur des „Über-Ichs“ und der Impulsivität des naturwüchsigen „Es“ (als Leidenschaft, Sexualität) zu vermitteln. Meads „Ich“ erscheint als zugleich freier und sozialisierter als das „Ich“ der Psychoanalyse, weil es nicht den Impulsen des „Es“ ausgesetzt ist und weil es auf die Präsenz der Anderen im „Me“ gesellschaftskonform oder gesellschaftskonträr reagieren kann. Somit hat es die Möglichkeit, ein konformistisches oder rebellisches „Self“ als „Identität“ zu entwickeln. Meads Modell der rebellischen „Identität“ ist der Künstler. „Neue Entwicklungen finden in den Aktionen des ‚Ich‘ statt, die Struktur aber, die Form der Identität [self] ist konventionell geprägt“ 31 , heißt es in Meads Geist, Identität und Gesellschaft, wo sich moderne Kunstproduktion - wie im Russischen Formalismus und im Tschechischen Strukturalismus - durch permanente „Verletzung der Norm“ 32 (Mukařovský) profiliert: „In der Haltung des Künstlers, beim künstlerischen Schaffen, wird das Element der Neuheit bis zur äußersten Grenze betont.“ 33 Freilich gilt dies nur für die moderne oder postmoderne Kunst: Für die klassische Form (etwa die des 17. Jahrhunderts) ist eher die Ausrichtung auf den Publikumsgeschmack als den „verallgemeinerten Anderen“ (den „generalized other“) ausschlaggebend. Hingegen ist Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966) für die rebellische Moderne und die Freiheit des „Ichs“ kennzeichnend. Meads Aktantenmodell, das aus den infraindividuellen Instanzen „I“, „Me“, „Self“ besteht, wohnt eine narrative Dynamik inne, die in den interindividuellen und supraindividuellen Bereich hineinreicht. Wenn ein Kleinkind spielt (Mead spricht von „play“) übernimmt es bisweilen die Rollen anderer Kinder oder der ihm bekannten erwachsenen Personen: Es spielt die Bäckerin, von der es nachgemachte Brötchen kauft, oder den Milchmann, von dem es eine Flasche Milch verlangt. Die Lage ändert sich grundlegend, wenn Jugendliche später an einem Spiel als „Wettkampf“ oder „game“ (Mead) teilnehmen. In dieser Situation reicht das Spielen einzelner Rollen (Bäckerin, Milchmann) nicht mehr aus: Jedes teilnehmende Individuum hat auf der Ebene des „Me“ die Rollen des 29 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 221. 30 Ibid. 31 Ibid., S. 253. 32 Vgl. J. Mukařovský, „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“, in: ders., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 45-46. 33 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, op. cit., S. 253. <?page no="99"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 83 eigenen und des gegnerischen Teams zu erlernen und zu verinnerlichen. Dieses „role-taking“ bewirkt, dass sich im Bewusstsein des Kindes ein „verallgemeinerter Anderer“ als „generalized other“ ausbildet, der im Sinne des semiotischen Aktantenmodells zu seinem kollektiven Auftraggeber wird. Dieser Auftraggeber (destinateur, Greimas) beauftragt das an einem Wettkampf teilnehmende Kind mit einem „Heilsauftrag“ („mission de salut“, Greimas). Denn im Wettkampf oder „game“ soll ein gemeinsames Ziel (als Objekt-Aktant) erreicht werden: „Insoweit das Kind die Haltungen anderer einnimmt und diesen Haltungen erlaubt, seine Tätigkeit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu bestimmen, wird es zu einem organischen Glied der Gesellschaft.“ 34 Aus diesem Satz und dem bisher Gesagten insgesamt sind zwei Erzählungen ableitbar, die in Meads Diskurs zwar nur implizit sind, aber an entscheidenden Stellen zutage treten und ineinander greifen: Die erste erzählt den Sozialisationsprozess, in dessen Verlauf sich das „Self“ als „Identität“ in der Interaktion von „I“ und „Me“ bildet. Diese „innere“ Interaktion ist aber nur im Kontext der „äußeren“ Interaktion zwischen Individuen zu verstehen, die in eine zweite, gemeinsame Erzählung eingebunden sind, weil sie sich ein Ziel (etwa im Wettkampf) gesetzt haben: Davon zeugt das „Me“ als Präsenz der Anderen im Subjekt. Dieses „Me“ verbindet die beiden Erzählungen, weil es im Laufe der Sozialisierung das Individuum befähigt, an komplexen Interaktionen teilzunehmen. Denn mit dem „Me“ werden auch über das „role-taking“ die Modalitäten des „Wissens“, „Könnens“ und „Wollens“ vom Subjekt erworben, die es ihm ermöglichen, sich in einem Wettkampf („game“) zu bewähren. Das Kind, das zum ersten Mal an einem Fußballspiel teilnimmt und im Eifer des Gefechts ein Eigentor schießt, hat mit entsprechenden Reaktionen der Anderen und des verinnerlichten „generalized other“, seines Auftraggebers, zu rechnen. Es fühlt: „Du hast den Auftrag nicht erfüllt“. Von der narrativen Struktur der Meadschen Handlungstheorie zeugt der folgende Satz aus Geist, Identität und Gesellschaft: „Der Wettkampf hat eine Logik, durch die eine derartige Organisation der Identität möglich wird: es gilt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen; die Handlungen der einzelnen Personen sind alle im Hinblick auf dieses Ziel miteinander verbunden, so daß sie nicht miteinander in Konflikt geraten; in der Haltung des Mitspielers befindet man sich nicht im Konflikt mit sich selbst.“ 35 Auch dieser Satz, der selbst eine Teilerzählung ist, kombiniert die beiden Erzählungen (die „innere“ Erzählung der Identitätsbildung mit der „äußeren“ Erzählung des Handlungsablaufs), weil er zeigt, wie die Logik des Wettkampfs die Bildung individueller und kollektiver Identitäten ermöglicht. 34 Ibid., S. 202. 35 Ibid., S. 201. <?page no="100"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 84 Nahezu alle narrativen Elemente der Strukturalen Semiotik sind vorhanden: die gegeneinander antretenden Mannschaften als Subjekt und Antisubjekt (die zugleich als Auftraggeber und Gegenauftraggeber fungieren), der Handlungsablauf als narratives Programm, der Objekt-Aktant als „Ziel“ („Sieg über die Gegner“), die „Identität“ des Mitspielers als Ensemble von Modalitäten oder Kompetenzen und schließlich die Einbindung individueller Akteure („Mitspieler“) in den kollektiven Aktanten „Mannschaft“ (in den Wörtern „miteinander“ und „Mitspieler“ enthalten). Kurzum, Mead erzählt, wie sich in individueller und kollektiver Interaktion in einem narrativen Kontext (Wettkampf, Zielsetzung) individuelle Identität bildet, die von einem „generalisierten Anderen“, dem universellen Auftraggeber, gesteuert wird. Wie bereits angedeutet, hofft Mead, dass die „menschliche Gemeinschaft“ als „Weltgesellschaft“ (würde Luhmann sagen: vgl. Kap. XV) einst die Stelle dieses „generalisierten oder verallgemeinerten Anderen“ einnehmen wird. Von dieser Hoffnung zeugen verschiedene Schriften Meads zur sozialen Evolution und Geschichtsphilosophie. Ähnlich wie bei Durkheim (vgl. Kap. IX) erscheint das Kollektiv als „generalisierter Anderer“ und als Auftraggeber des Individuums: „Das Individuum kann jetzt als generalisierter Anderer in der Einstellung der Gruppe oder Gemeinschaft zu sich selbst Stellung nehmen.“ 36 Dieser „generalisierte Andere“ soll schließlich alle Gruppengrenzen (Mannschaft, Wissenschaftlergruppe, Partei, Nation) überwinden und auf die gesamte Menschheit als „menschliche Gemeinschaft“ ausgedehnt werden. Die „individuelle Perspektive“ soll „zur Perspektive der umfassendsten Gemeinschaft - der Gemeinschaft der denkenden Menschen“ 37 werden. Freilich fasst Mead auch die Möglichkeit ins Auge, dass die Hoffnung auf die Entstehung einer menschlichen Gemeinschaft enttäuscht werden könnte: „Es muß eine menschliche Gemeinschaft geben, aber es kann keine menschliche Gemeinschaft geben, solange nicht die Werte anerkannt werden, welche die Ziele ihres Strebens sind.“ 38 Hier wird eine Schwachstelle in Meads Argumentation sichtbar, die nicht so leicht zu beseitigen ist: Wer definiert die „Werte“ und „Ziele“? In welchem Diskurs als Erzählung, als semantisch-narrativer Struktur sollen sie für alle verbindlich definiert werden? Soll das Ziel die „klassenlose Gesellschaft“ im Sinne von Marx (vgl. Kap. IV) oder die liberale Gesellschaft freier Individuen im Sinne von Spencer (vgl. Kap. IX) sein? Oder gar eine verwissenschaftlichte Gesellschaft, in der Experten und Technokraten das Sagen haben? 36 G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. II (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1983), 1987, S. 218. 37 Ibid., S. 216. 38 Ibid., S. 251. <?page no="101"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 85 Es geht leider nicht nur um Meads historischen Diskurs, weil das Problem schon in seinem Konzept des „generalized other“ angelegt ist: Wie allgemein kann dieser „verallgemeinerte Andere“ in einer polarisierten und fragmentierten Gesellschaft sein? In einem Wettkampf liegt die Antwort auf der Hand: Der „generalisierte Andere“ ist der Sport mit seinen Regeln und deren Hütern - oder (um einiges partikularer) die Mannschaft. Aber schon im wissenschaftlichen Bereich erweist sich Allgemeingültigkeit als problematisch: Schreibe ich eine Dissertation bei einem kritischen Rationalisten, den ich als „Me“ (als „Doktorvater“) verinnerlicht habe, setze ich mich mit der Behauptung, der Kritische Rationalismus argumentiere undialektisch, einer massiven Kritik aus; soll die Dissertation bei einem Vertreter der Kritischen Theorie zustande kommen, werde ich womöglich als agent provocateur eingestuft, wenn ich an der Wissenschaftlichkeit dieser Theorie zweifle, weil ich entdecke, dass ihre Aussagen nicht falsifizierbar sind. Daher ist schon das wissenschaftliche „Me“ problematisch: denn es ist stets partikular. In der Politik ist alles noch radikaler: Aus einer Partei werde ich ausgeschlossen, wenn ich mir Überlegungen und Argumente der Gegenpartei zu eigen mache - auch wenn es nur einige und durchaus einleuchtende sind. (Was in der Theorie trotz Stirnrunzeln noch diskutabel ist, wird in der dualistisch strukturierten Ideologie als Sakrileg geahndet.) Fazit: Der Geltungsbereich des „generalized other“ müsste konkretisiert und auf den Alltag eingeschränkt werden: auf eine soziale Welt des Konsenses, in der - fast - alle erwarten, dass für Waren und Dienstleistungen gezahlt wird, dass man Bekannte und Verwandte grüßt und keine Bananenschalen zum Fenster hinauswirft. In Moral, Religion, Wissenschaft, Politik und Ästhetik hingegen zerfällt der „generalisierte Andere“ in tausend Fragmente. Daher ist die Vorstellung von einer „menschlichen Gemeinschaft“, die jenseits aller partikularen Interessen und Wertungen die Rolle des „generalized other“ beanspruchen und als telos der gesellschaftlichen Entwicklung gelten könnte, utopisch. 2. Von Mead zu Erving Goffman: Individuelle und kollektive Aktanten in sozialen „Rahmen“ Goffman war mit Meads Werk, an das er kritisch anknüpft, bestens vertraut. Anders als Mead, der sich auf die Entstehung und Zusammensetzung individueller Subjektivität im Sozialisationsprozess konzentriert, nimmt er auch Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen (Teams, Ensembles) in den Blick. Seine Aktantenmodelle haben nicht infraindividuellen, sondern individuellen und supraindividuellen Charakter und sind mit den Modellen Georg Simmels vergleichbar, der, wie sich im elften Kapitel zeigen wird, <?page no="102"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 86 Vergesellschaftung als Wechselwirkung handelnder Individuen (nicht Kollektive) auffasste. Zum Verhältnis von Simmel und Goffman bemerkt Jürgen Raab: „Goffman wird also Simmels soziologischen Ansatz noch verfeinern und erweitern.“ 39 Die Verfeinerung betrifft vor allem Selbstverständnis und Selbstdarstellung („presentation of self“), die Erweiterung betrifft die Ausdehnung der Interaktionen auf kollektive Aktanten. Wie Meads und Simmels Modelle sind auch die Goffmans als heuristische Konstruktionen, nicht als Abbildungen der Wirklichkeit aufzufassen. Goffman bezieht sich an verschiedenen Stellen seines Werks auf Mead und nimmt sich vor, dessen Ansatz weiterzuentwickeln. In seiner Kritik an Mead geht es vornehmlich um die Wirkung der Interaktion auf das individuelle Subjekt. (Goffman verwendet die Bezeichnungen „Individuum“ und „Subjekt“ als Synonyme 40 ; d.h. dass er von der hier gebräuchlichen Terminologie, in der individuelle und kollektive Subjekte [Subjekt-Aktanten] unterschieden werden, abweicht.) Zunächst wirft er Mead vor, dass er nur den unmittelbaren Interaktionsbereich von Individuen berücksichtigt und nicht das soziale Umfeld insgesamt: „Mead hatte nur darin unrecht, daß er glaubte, die einzigen relevanten Anderen wären diejenigen, die dem Individuum anhaltende und besondere Aufmerksamkeit zu schenken bereit seien.“ 41 Aus Goffmans Sicht sind aber auch jene Personen und Gruppen relevant, die dem Einzelnen keine besondere Aufmerksamkeit schenken, ihn aber durchaus wahrnehmen - etwa als Fußgänger im Straßenverkehr - und auf ihn als normale, beruhigende Erscheinungen durch Ausweichen oder Anhalten reagieren. Diese Interaktion als bloße Kopräsenz oder Wahrnehmung bezeichnet Goffman als unfocused interaction und unterscheidet sie von der focused interaction, die im Gespräch, Spiel oder Streit zustande kommt. Er wirft Mead vor, dass er sich einseitig mit dieser intensiven Interaktion befasst und die unfocused interaction unberücksichtigt lässt. Goffmans zweiter Kritikpunkt betrifft die Auswirkungen der Interaktion auf die Subjektkonstitution des Individuums: „Die Meadsche These, daß der Einzelne die Haltung anderer ihm gegenüber selbst übernimmt, scheint eine zu starke Vereinfachung zu sein. Der Einzelne muß sich vielmehr auf 39 J. Raab, Erving Goffman, op. cit., S. 33. 40 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt, Suhrkamp (1974), 1982, S. 353: „Im folgenden wollen wir einige andere Aspekte normaler Erscheinungen untersuchen, die eng zusammenhängen mit dem Konzept des Individuums oder Subjekts (…).“ 41 Ibid., S. 367. <?page no="103"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 87 andere verlassen, um das Bild von sich zu vervollständigen, von dem ihm selbst nur ein Teil zu malen gestattet ist.“ 42 Diese Kritik kann als eine Radikalisierung von Meads Sichtweise gelesen werden: Das individuelle Subjekt bildet sich nicht einfach durch „role-taking“, durch die Übernahme der Einstellungen anderer Personen ihm gegenüber, sondern ist auf diese Personen angewiesen, um ein vollständiges Bild seiner selbst zu erhalten. Dies bedeutet, dass sich individuelle Subjektivität bei Goffman in noch stärkerem Maße in der Interaktion bildet als bei Mead. Diese Interaktion findet - nach Goffman - stets in sozialen Rahmen (frames) statt. Der Rahmen-Begriff stammt vom amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson (1904-1980). 43 Er könnte als die den Handelnden gemeinsame Auffassung ihrer Interaktionssituation definiert werden. Goffman selbst spricht von „Interpretationsschemata“. 44 Soziale Rollen, Selbstdarstellungen und Handlungen werden stets in einem bestimmten Rahmen - etwa dem eines öffentlichen Vortrags, einer Abiturfeier oder eines Begräbnisses - betrachtet. Jonathan H. Turner konkretisiert die soziologische Rahmen-Metapher, indem er sie auf den Bildrahmen bezieht: „Der Rahmen gleicht in vieler Hinsicht einem Bildrahmen, weil er die dargestellten Ereignisse eingrenzt und so durch Einkapselung von ihrer Umgebung unterscheidet.“ 45 Doch die Rahmen-Metapher ist nicht einfach eine persönliche Erfindung Batesons und Goffmans; sie ist, wie Danilo Martuccelli richtig bemerkt, ein Symptom der Moderne, in der - anders als in traditionalen Gesellschaften - Situationen nicht mehr durch ständische Zugehörigkeit, religiöses Ritual oder die Heiligkeit einer Stätte definiert werden, sondern stets von neuem ausgehandelt werden müssen. Martuccelli stellt zu Recht eine Verbindung zwischen Goffmans Schlüsselbegriff und der Forschungssituation an der Universität von Chicago in den 1950er Jahren her, an der Goffman bei Everett C. Hughes studierte. Die sogenannte Chicago School, die von Robert E. Park (1864-1944), Albion Small (1854-1926), Florian Znaniecki (1882-1958) und anderen zwischen den Weltkriegen begründet und von Georg Simmels Soziologie des Handelns (vgl. Kap. XI) beeinflusst wurde, befasste sich intensiv mit Situationen des modernen Großstadtlebens, deren Unbestimmtheit und labile 42 E. Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (11. Aufl.), S. 93-94. 43 Vgl. Y. Winkin, La Nouvelle communication, Paris, Seuil, 1981, S. 13-89. 44 E. Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (10. Aufl.), S. 31. 45 J. H. Turner, „Erving Goffman’s Dramaturgical Approach“, in: ders., The Structure of Sociological Theory, op. cit., S. 406. <?page no="104"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 88 Schichtung definitorische Anstrengungen von allen Interagierenden erheischt. Martuccelli spricht von häufigen „Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Situationsdefinitionen“ und bemerkt zu William I. Thomas, einem anderen Mitglied der Chicago School: „Thomas ist sich der Tatsache bewusst, dass die Definitionen, die Individuen auf ihre Situationen anwenden, zu wirklichen Elementen der sozialen Welt werden wie die objektiven Komponenten selbst.“ 46 Sie werden zu sozialen Fakten (faits sociaux) im Sinne von Durkheim (vgl. Kap. IX), mit denen Individuen in ihren Interaktionen konfrontiert werden: etwa beim Schlange Stehen vor dem Kino, bei einer Trauerfeier oder einem Abschiedsfest. Immer wieder befasst sich Goffman mit solchen sozialen Fakten, die in der Moderne ad hoc definiert oder „gerahmt“ werden müssen, weil der traditionelle Rahmen - etwa der religiöse des Mittelalters - fehlt. Soll die Trauerfeier für eine verstorbene Kollegin oder einen Kollegen religiös eingerahmt werden oder nicht? Was hätte sich die verstorbene Person gewünscht? Was wünschen sich die Familienangehörigen? Sind sie sich einig? Welche Lösung ist akzeptabel, weil sie niemanden vor den Kopf stößt? Rahmen ist bei Goffman ein Schlüsselbegriff, weil er als stets zu definierender Kontext die Bühne bildet, auf der Interaktion stattfindet. Nicht zufällig hat er diesen Begriff in seinem ersten Werk The Presentation of Self in Everday Life (1959, dt. Wir alle spielen Theater, 1983) eingeführt. Dort geht es sowohl um richtiges Theater als auch um die alltäglichen Aufführungen, an denen wir selbst immer wieder teilnehmen. Goffman unterscheidet Primärrahmen und deren Modulationen. Die Primärrahmen teilt er in natürliche und soziale ein. 47 Die in jeder Hinsicht soziale Inszenierung von z.B. Karl Mays Romanen kann unter freiem Himmel mitten in einer Wald- und Felsenlandschaft stattfinden, und ein jäh aufkommendes Gewitter, mit dem niemand gerechnet hat, kann die natürliche Rahmung mit einem Wirklichkeitseffekt beleben. Soziale Primärrahmen gehen ausschließlich aus menschlichen Interaktionen hervor. Ein von Goffmann privilegiertes Modell ist das Theater, in dem individuelle Akteure zu kollektiven Aktanten: zu Teams oder Ensembles gruppiert werden. Zu einer Modulation des Theater-Rahmens kommt es immer dann, wenn die Inszenierung eines Ereignisses die Form einer Aufführung mit verteilten Rollen annimmt: etwa die feierliche Überreichung einer Auszeichnung, an der mehrere Personen teilnehmen. Auch der Abschied kann theatra- 46 D. Martuccelli, „L’Ecole de Chicago“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 435. 47 E. Goffman, Rahmen-Analyse, op. cit., S. 31 : „Im täglichen Leben in unserer Gesellschaft empfindet, ja macht man einen einigermaßen klaren Unterschied zwischen zwei großen Klassen primärer Rahmen: natürlichen und sozialen.“ <?page no="105"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 89 lisiert werden: Am Ende seiner Amtszeit verabschiedete sich der tschechische Präsident Václav Havel, der zu den bekanntesten Dramenautoren Tschechiens gehört, mit einer kollektiven Verbeugung seines Teams (Ensembles), dessen Mitglieder einander wie am Ende einer Vorstellung bei den Händen hielten. Goffman verwendet die Theater-Metapher, um das Auftreten kollektiver Aktanten in der Gesellschaft zu veranschaulichen und um die Interaktion zwischen diesen Aktanten und den individuellen Akteuren, die ihnen angehören, erklären zu können. In diesem Kontext mag es sinnvoll sein, an das Verhältnis von kollektiven Aktanten und ihren individuellen Akteuren in der Strukturalen Semiotik zu erinnern. So erklärt beispielsweise Joseph Courtés, dass „ein Aktant (…) im Diskurs aus mehreren Akteuren (…) gebildet werden kann“. 48 Komplementär dazu heißt es bei Goffman: „Ich werde den Ausdruck ‚Ensemble‘ (team) für jede Gruppe von Individuen verwenden, die gemeinsam eine Rolle aufbauen.“ 49 Hier wird deutlich, dass sowohl für die Strukturale Semiotik als auch für Goffmans Soziologie der Interaktion die Wechselbeziehung zwischen individuellen und kollektiven Instanzen wesentlich ist. Wie sieht diese Beziehung konkret aus? Sie weist drei Aspekte auf: Unterordnung des Individuums (des Akteurs) unter den kollektiven Aktanten (das Ensemble oder Team); Koordinierung der Tätigkeiten innerhalb des Kollektivs; Aufbau einer gemeinsamen Fassade (eines „presentation of self“) dem Publikum gegenüber. Zur Unterordnung heißt es bei Goffman: „Häufig muß auch jedes Mitglied einer Gruppe, die sich darstellt, eine ihm eigentlich fremde Rolle übernehmen, wenn die Gesamtwirkung des Ensembles zufriedenstellend sein soll.“ 50 Zur Koordinierung bemerkt Goffman, „daß Individuen, die Mitglieder des gleichen Ensembles sind, auf Grund dieser Tatsache in einer wichtigen Beziehung zueinander stehen“ 51 , und erklärt schließlich, dass ein Großstadtmädchen, das sich um die „Stellung einer Empfangsdame“ bewirbt, „neben ihrer eigenen Fassade auch noch die Fassade der Organisation aufbauen“ 52 muss. Dieser kollektive Zusammenhalt als Unterordnung, Koordination und gemeinsame Fassade (front) ist nicht nur in Theater und Alltag entscheidend, sondern auch in der Politik. Eine Regierung muss stets darauf bedacht sein, als homogener, gut koordinierter Aktant mit einheitlicher Fassade aufzutreten, denn: „Offene Meinungsverschiedenheiten vor dem Publikum er- 48 J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 49 E. Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München, Piper, 2017 (17. Aufl.), S. 75. 50 Ibid., S. 74. 51 Ibid., S. 77. 52 Ibid., S. 73. <?page no="106"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 90 zeugen, wie wir sagen, einen Mißklang.“ 53 Ihre Mitglieder müssen darauf achten, „daß sie keine öffentlichen Meinungsäußerungen abgeben, bevor die offizielle Stellung des Ensembles einmal festgelegt ist“. 54 Dies gilt vor allem für Koalitionsregierungen, deren Vertreter sich verschiedenen Parteien als kollektiven Aktanten mit eigenen Interessen, Programmen und Fassaden verpflichtet fühlen. Dass diese „Programme“ auch narrative Programme sind, in denen Ziele als Objekt Aktanten anvisiert werden, wird im folgenden Satz deutlich, in dem es von individuellen Akteuren heißt: „Soweit sie in Zusammenarbeit einen gegebenen Eindruck aufrechterhalten, um damit ihre eigenen Ziele zu erreichen, bilden sie ein Ensemble in unserem Sinn.“ 55 Dieser Eindruck als „Fassade“ kann nur gewahrt werden, wenn sorgfältig zwischen Vorderbühne (frontstage) und Hinterbühne (backstage, Goffman) unterschieden wird und die Trennung der beiden Bereiche erhalten bleibt. Im Theater wird bekanntlich jeder Versuch des Publikums, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wo sich Schauspielerinnen und Schauspieler entspannen und möglicherweise auf das langweilige Publikum lästern, unterbunden. Aber auch Regierungen unternehmen alles, damit Neugierige, vor allem Journalisten, nichts von ihren internen Querelen erfahren und die in den Medien mühsam aufgebaute oder soeben reparierte Fassade beschädigen. Eine einheitliche Fassade ist auch für die dramatic realization oder dra matische Durchführung (Goffman) wichtig, die in der Politik weitgehend mit einer erfolgreichen Verwirklichung des Wahlprogramms (des narrativen Programms) zusammenfällt. Dabei müssen eine Regierung und jedes ihrer Mitglieder den Eindruck wahren, dass sie unablässig für ihr Land tätig sind. (Man sagt, dass Mussolini aus dieser Gesinnung heraus das Licht in seinem Büro die ganze Nacht brennen ließ - se non è vero, è ben trovato.) Dieses Beispiel führt gleichsam von selbst zur nächsten Komponente des Rollenspiels: zur Idealisierung (idealization) der Rollenperformanz. Im wissenschaftlichen Bereich mag es der allwissende Professor sein, in der Politik das fürsorgliche Staatsoberhaupt, das eine von Naturkatastrophen heimgesuchte Region besucht oder sich als unermüdlicher Kämpfer gegen Korruption feiern lässt. Diese idealisierende Fassade kann zerbröckeln, wenn es einem eifrigen Journalisten gelingt, hinter der Fassade ein geheimes Auslandskonto des Politikers zu entdecken, der dann auch nicht mehr hoffen kann, seine Person durch Mystifikation (mystification) zu überhöhen, weil er einer trüge rischen Selbstdarstellung (misrepresentation) überführt wurde. Von schei- 53 Ibid., S. 81. 54 Ibid. 55 Ibid., S. 79. <?page no="107"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 91 ternden Mystifikationen zeugen sowohl die Skandale der Tagespolitik als auch die Abrisse der zahlreichen Stalin-Denkmäler in Osteuropa, die aus einem pompös inszenierten Personenkult hervorgingen. Insgesamt ist es aus Goffmans Sicht wichtig, auf die Kontrolle des Ausdrucks (expressive control) zu achten, um nicht aus dem Rahmen zu fallen oder ihn zu sprengen. In der Spätmoderne, in der der Konsens über Wertsetzungen immer wieder in Frage gestellt wird, mag es einzelnen Individuen schwierig erscheinen, die Kontrolle des Ausdruck zu wahren, um im Rahmen zu bleiben. Zu ihnen gehört der Antiheld Michele Ardengo in Alberto Moravias Roman Die Gleichgültigen (Gli indifferenti, 1929), der an das zerfallende Wertsystem seiner Gesellschaft nicht mehr glauben kann: „Man kann hinter einem Sarg nicht lachen oder gerade dann weinen, wenn die beiden Brautleute die Ringe wechseln…; das wäre skandalös, noch schlimmer, unmenschlich…; wer aus Gleichgültigkeit nichts empfindet, muß eben heucheln…; so geht es mir mit euch - ich gebe vor, Leo zu hassen, meine Mutter zu lieben…“ 56 Hier wird deutlich, was Martuccelli mit „Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Situationsdefinitionen“ in der Moderne meint: In der modernen Gesellschaft sind Rahmen nicht mehr gegeben, sondern müssen in verschiedenen Interaktionen stets von neuem definiert werden, weil kein Wertekonsens mehr vorausgesetzt werden kann und längst nicht jeder alle offiziellen Wertsetzungen spontan nachempfindet (vgl. Luhmanns Kritik an Parsonsʼ Wertekonsens in Kap. XV). Dies ist einer der Gründe, warum Goffman in seinem letzten Buch Forms of Talk (1981), in dem er auch den Vortrag („The Lecture“) kommentiert, die Improvisationskunst und Anpassungsfähigkeit des Vortragenden betont. Der Rahmen steht nie fest, sondern muss stets an die Situation, in der interagiert wird, angepasst werden. Der Vortragende muss beispielsweise die Aufnahmefähigkeit des Publikums richtig einschätzen: „The speaker is encouraged to pitch his remarks down to fit the competence of a large audience (…).“ 57 Er muss ein „Self“ konstruieren, das sein Publikum anspricht: „He performs this self-construing at the podium.“ 58 Den Rahmen sprengt jemand, der mitten in einer Konversation oder geselligen Plauderei, in der auch Themen wie „Finanzkrise“ oder „Handelskrieg“ zur Sprache kommen, anfängt, einen Vortrag über Finanzpolitik oder Wirtschaft zu halten und so eine „Umrahmung“ einleitet. Er langweilt die Umstehenden, die plötzlich spüren, wie ihre Schuhe drücken oder ihre 56 A. Moravia, Die Gleichgültigen, Reinbek, Rowohlt (1963), 1979, S. 275. 57 E. Goffman, Forms of Talk, Oxford, Blackwell, 1981, S. 170. 58 Ibid., S. 194. <?page no="108"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 92 Beine anschwellen, und das Weite suchen - oder sich nach einem anderen, bekömmlicheren Rahmen umsehen. 3. Rolle und Stigma: Interaktion als Subjektivierung und Entsubjektivierung Von der Rolle und ihrer Verknüpfung mit der Fassade als Selbstdarstellung war hier öfter die Rede. Rolle und Stigma hängen insofern zusammen, als das „Stigma“ auch eine negative soziale Rolle und „Stigmatisierung“ eine negative Rollenzuweisung bezeichnen. Sieht man sich die Definitionen von „Rolle“ und „Stigma“ in Nachschlagewerken näher an, stellt man fest, dass sie implizit auf Rahmen verweisen und sogar narrative Elemente enthalten. In The Penguin Dictionary of Sociology wird Rolle in aller Knappheit wie folgt definiert: „(…) Rollen sind Bündel gesellschaftlich definierter Eigenschaften und Erwartungen, die mit sozialen Positionen verknüpft werden.“ („[…] Roles are the bundles of socially defined attributes and expectations associated with social positions.“) 59 Das Wort „expectations“ deutet an, dass im Zusammenhang mit „Position“ und „Rolle“ von einer bestimmten Person konkrete Handlungen und Handlungssequenzen in einem institutionell definierten Rahmen erwartet werden: ein Unterrichtsprogramm im Falle von Lehrerinnen und Lehrern, ein Genesungsprogramm im Falle von Ärztinnen und Ärzten. Auch diskrepante Rollen sind denkbar: etwa die eines Doppelagenten, der in zwei verschiedenen Rahmen agiert, im Auftrag von zwei - möglicherweise verfeindeten - Auftraggebern handelt und zwei einander ausschließende Programme zu realisieren hat. Auch „Stigma“ (lat. = Brand- Schandmal) ist als „negative Rolle“ im Zusammenhang mit den Begriffen Rahmen und (Erzähl-)Programm zu betrachten: „physisches, psychisches oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe (oder Gesellschaft) negativ unterscheidet und aufgrund dessen ihr soziale Deklassierung, Isolation oder sogar allg[emeine] Verachtung droht.“ 60 „Gruppe“ und „Gesellschaft“ bilden hier die Rahmen, in denen eine negative Erzählung („Deklassierung, Isolation, Verachtung“) vorstellbar ist. In eine solche Erzählung des sozialen Abstiegs verstrickt sich ein Lehrer, der eine Schülerin sexuell belästigt, oder ein Wissenschaftler, der ein Plagiat anfertigt, um seine Karriereaussichten zu verbessern. In beiden Fällen sind Umdeutungen und Umerzählungen denkbar: Der Lehrer kann beteuern, dass er nur Trost spenden wollte, der Wissenschaftler kann (wenn ihm nichts Originelleres einfällt) behaupten, er habe nur die Anführungs- 59 N. Abercrombie, S. Hill, B. S. Turner, The Penguin Dictionary of Sociology, London, Penguin, 2006 (5. Aufl.), S. 332. 60 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 864. <?page no="109"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 93 zeichen vergessen. In beiden Fällen geht es um korrigierende Handlungen, wie Goffman sagt, die Missverständnisse beseitigen sollen. Während bestätigende Handlungen wie Hilfsbereitschaft im Alltag mit Freundlichkeit belohnt werden, verlangen zweideutige oder missverständliche Handlungen - etwa „wenn ein Fuß gegen einen anderen stößt“ 61 - nach Korrekturen: Umdeutungen und Umerzählungen. Zum unbeabsichtigten Zusammenstoß der Füße bemerkt Goffman: „(…) Die dazu gegebene Deutung besagt, daß es sich um eine unbeabsichtigte Handlung handelt, die eine geringfügige Ungeschicklichkeit darstellt, die vom Akteur bedauert wird.“ 62 Dies gilt weitgehend auch für den normverletzenden Lehrer und den Autor des Plagiats: In beiden Situationen steht eine korrigierende Deutung an, die zugleich eine Umerzählung ist: „Eine unsittliche Berührung war nicht beabsichtigt, ich wollte nur Trost spenden.“ - „Ein Plagiat war nicht beabsichtigt, ich habe nur die Anführungszeichen vergessen“ - oder zeitgemäßer: „Der Computer (als Antisubjekt oder Widersacher) hat sie gelöscht.“ In allen diesen Fällen streben die „Missetäter“ (Goffman) nicht nur eine Korrektur der Bedeutung und der Erzählung an, sondern versuchen zugleich, ihre Rolle ins rechte Licht zu rücken, um der Stigmatisierung zu entgehen. Wer Anderen auf die Füße tritt, möchte nicht als brutaler Tollpatsch gelten, der Lehrer will seine moralische Rollenintegrität als Pädagoge wahren, und der Wissenschaftler unternimmt alles, um von der scientific community wieder als seriöses Mitglied anerkannt zu werden. Hier wird deutlich, dass Rollenspiel und Stigmatisierung unmittelbar die Identität von Individuen (ihr Self) betreffen: und zwar im Rahmen des Gegensatzes normal / abnormal. In diesem Zusammenhang unterscheidet Goffman drei Arten von Identität: soziale Identität, persönliche Identität und Ich-Identität. Die soziale Identität setzt sich aus den allgemeinsten Merkmalen einer Person zusammen: Alter, Geschlecht, Sprache (Akzent, Dialekt), Volkszugehörigkeit. Die persönliche Identität konkretisiert diese allgemeinen Kategorien durch Aussehen, Größe, Namen und Herkunft. Von beiden Identitäten gilt: „Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht.“ 63 Das Individuum wird tatsächlich im Verlauf der nichtfokussierten Interaktion (s.o.) nach Alter, Geschlecht, Aussehen und Größe beurteilt, und erst in der fokussierten Interaktion kommen Sprache, Name und Herkunft zur Geltung. Alle diese 61 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, op. cit., S. 195. 62 Ibid. 63 E. Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt, Suhrkamp (1967), 1975, S. 132. <?page no="110"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 94 Faktoren betreffen sowohl das Selbstverständnis als auch das Fremdverständnis eines Menschen (die Art, wie Andere ihn sehen). Bei Goffman ist jedoch auch von der Ich-Identität die Rede, die ausschließlich das Selbstverständnis betrifft. Denn die Anderen können nicht wissen (und erfahren vielleicht nie), wie sich jemand zuhause, im stillen Kämmerlein selbst einschätzt. Von der Ich-Identität heißt es bei Goffman, sie sei „zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit“. 64 Im Folgenden geht es um die Frage, wie Rollenverteilung und Stigmatisierung im Spannungsverhältnis zwischen Ich-Identität und sozialer oder persönlicher Identität, zwischen Selbstverständnis und Fremdverständnis zustande kommen. Es soll gezeigt werden, dass die Strategie des „Stigma- Managements“ (Goffman) in diesem Spannungsfeld entwickelt und angewandt wird. Ihr Hauptanliegen ist: die Ich-Identität als Selbstverständnis gegen alle Varianten des Fremdverständnisses - vor allem des stigmatisierenden - durchzusetzen, um autonomes Subjekt zu sein. Denn das stigmatisierende Fremdverständnis kommt einer Entsubjektivierung gleich - und gegen sie wehrt sich das Subjekt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. In diesem Zusammenhang könnte die Ich-Identität als Kern der Subjektivität aufgefasst werden, der allen Fremdverständnissen trotzt. Insofern übertreibt Jonathan H. Turner, wenn er Goffman vorwirft, er „leugne die Existenz eines Kernsubjekts oder einer permanenten Identität“ („denial of a core self or permanent identity“). 65 Es trifft jedoch zu, dass Goffman die Ich-Identität nicht als den „wahren Kern“ der Person bezeichnet. Sie könnte jedoch als der „Subjektkern“ aufgefasst werden. Im körperlichen Bereich kann jemand, der an einer Behinderung leidet, versuchen, diese Ich-Identität zu wahren oder zu erneuern und durch intensive sportliche Tätigkeit sein Gebrechen auszugleichen. Ein Unfall, der die Hand eines Pianisten verstümmelt, kann zur Entstehung einer neuen Lebenserzählung und einer neuen Subjektivität (Ich-Identität) jenseits der stigmatisierenden Verletzung beitragen: „Ein Unfall beendet eine ordentliche Pianistenkarriere und eine außerordentliche Kritikerkarriere beginnt.“ 66 In diesem Fall entspricht auch die Kritikerkarriere dem Selbstverständnis (der Ich-Identität) des Künstlers und hilft ihm, das Stigma der Verstümmelung zu ertragen, zu „managen“. Zum Stigma-Management gehört auch die Täuschung, die Goffman ausführlich bespricht und zu der die Verheimlichung von Gebrechen gehört: 64 Ibid. 65 J. H. Turner, „Erving Goffman’s Dramaturgical Approach“, in. ders., The Structure of Sociological Theory, op. cit., S. 409. 66 H. Lübbe, „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“, in: G. von Graevenitz, O. Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München, Fink, 1998, S. 35. <?page no="111"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 95 „so wenn ein Lehrer das petit mal (epileptischen Anfall) eines Schülers für momentanes Tagträumen hält; Betrunkenheit, etwa wenn ein Mann mit Zerebrallähmung bemerkt, daß seine Gangart immer fehlinterpretiert wird.“ 67 Der Strategie der Verheimlichung folgte auch das Verhalten einiger Juden im Nationalsozialismus, die versuchten, den Behörden eine falsche soziale und persönliche Identität vorzutäuschen und zugleich als gleichberechtigte Deutsche oder international anerkannte Staatsbürger (bisweilen mit ausländischen Pässen) aufzutreten. Auch Nichtjuden wehrten sich gegen die nationalsozialistisch organisierte Stigmatisierung: Der Philosoph Hans Vaihinger etwa ließ nach einer gegen ihn gerichteten antisemitischen Polemik des Nationalsozialisten Dietrich Klagges die folgende Verlagskorrektur (als eingelegten Zettel) in Klaggesʼ Buch Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung (1937) anbringen, um sich vom Stigma zu reinigen: „Berichtigung. Nach Mitteilung der Verlagsbuchhandlung Felix Meiner ist der auf Seite 10 genannte Philosoph Hans Vaihinger arischer Abstammung.“ (Seine Philosophie des „Als Ob“ wurde dort von Klagges als „jüdisches Denken“ und „erkünsteltes Gebäude“ geschmäht: möglicherweise aufgrund ihrer Subtilität.) In der gesellschaftlichen und sprachlichen Situation des Totalitarismus werden Individuen angehalten, sich auch der absurdesten Sprachregelung des herrschenden Soziolekts anzupassen und sich stigmatisierenden Bezeichnungen wie „Jude“ zu entziehen. Es setzt sich ein Streben nach Normalität, im Extremfall eine „Vortäuschung von Normalität“ 68 (Goffman) durch. Im Prinzip ist jeder verdächtig, weil nahezu jeder etwas vortäuscht: vor allem sein Einverständnis mit dem totalitären Regime. Was Goffman über Normalität schreibt, gilt in besonderem Maße für den Totalitarismus: „So wie sich bei dem Subjekt das Gefühl einstellen kann, daß normale Erscheinungen die allerverdächtigsten sind, so können die ihm gegenüberstehenden Anderen zu der Überzeugung kommen, daß der vertrauensselige Eindruck, den er macht, der am wenigsten glaubwürdige ist.“ 69 Schließlich wird jemand, der allen geradezu als eine Inkarnation von Normalität erschien, verdächtigt und als „Klassenfeind“, „Jude“ oder „Spion“ verhaftet (auch Klagges verdächtigte Vaihinger und versuchte, ihn zu stigmatisieren). In allen diesen Fällen geht es darum, der gesellschaftlich organisierten Entsubjektivierung, der Reduktion auf einen minderwertigen oder gefährlichen sozialen Status, zu entgehen und die eigene Ich-Identität als Selbstverständnis und authentische Subjektivität gegen den sozialen Druck zu 67 E. Goffman, Stigma, op. cit., S. 108. 68 E. Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch, op. cit., S. 368. 69 Ibid. <?page no="112"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 96 behaupten. Den Betroffenen kommt es auch darauf an, gegen Stigmatisierung und Diskriminierung ihren Anspruch auf alle sozialen Rollen in Politik, Verwaltung oder Wissenschaft durchzusetzen. Denn Stigmatisierung beinhaltet häufig einen partiellen Ausschluss aus dem öffentlichen Bereich und seinem Rollensystem, das denjenigen vorbehalten bleibt, die der offiziellen Norm entsprechen. Auch dieser Ausschluss läuft auf eine Reduktion der individuellen Subjektivität hinaus: auf Entsubjektivierung. Nach dem bisher Gesagten erscheint eine zusätzliche Definition von „Stigma“ möglich, welche die eingangs zitierte Definition konkretisiert: Stigma ist die Negation der Ich-Identität als Selbstverständnis durch ein negativ konnotiertes Fremdverständnis, das sich der sozialen und der persönlichen Identität eines Individuums bemächtigt. Im letzten Abschnitt soll gezeigt werden, wie diese Vereinnahmung des individuellen Subjekts in „totalen Institutionen“ (psychiatrischen Kliniken, Gefängnissen, Kasernen) auf verschiedenen komplementären Ebenen organisiert wird. 4. Subjektivität, Machtanspruch und Erzählung: Wer erzählt wen? Als erste Ebene kommt wieder der Rahmen im Sinne von Goffman in Frage, zumal er den Begriff der totalen Institution, den Goffmans Chicagoer Mentor Everett C. Hughes prägte, konkretisiert. Besonders anschaulich wird die Rolle des Rahmens in der totalen Institution von Richard Münch dargestellt: „Weil es nicht möglich ist, aus dem Rahmen der totalen Institution auszubrechen, wird alles, was die Insassen tun, primär durch diesen Rahmen geprägt.“ 70 Dies bedeutet, dass alles, was Insassen sagen oder tun, im Kontext der totalen Institution gedeutet wird und entsprechende Konsequenzen hat. Verhalten sie sich konform, werden sie belohnt, lehnen sie sich gegen die Institution auf, wird ihr Verhalten als Symptom ihrer Krankheit oder kriminellen Neigung gedeutet und entsprechend behandelt. Dies geschieht auf der zweiten, der narrativen Ebene, deren Rahmen durch die „totale Institution“ vorgegeben wird. Wer in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird, ist vorab stigmatisiert: als „krank“, „abnormal“ oder „gefährlich“. Ihm stehen zwei Strategien als narrative Programme zur Wahl: Anpassung oder Widerstand. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch Goffmans Darstellung der Klinik in Asylums (1961, dt. Asyle, 1972), in der, wie schon Danilo Martuccelli bemerkte 71 , alle Vorgänge aus der Sicht der Patientinnen und Pa- 70 R. Münch, „Die Dramaturgie der strategischen Kommunikation: Erving Goffman“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. II: Handlungstheorie, Frankfurt, Campus, 2007 (2. Aufl.), S. 295. 71 Vgl. D. Martuccelli, „Erving Goffman, la condition moderne ou le soupçon permanent“, in: Sociologies de la modernité, op. cit., S. 448. <?page no="113"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 97 tienten erzählt werden, die der Autor zu seinen Fokalisatoren macht. Angesichts dieses fokalisierenden Engagements kann nicht von Werturteilsfreiheit im Sinne von Max Weber die Rede sein, da sich Goffman ja die Perspektive der Insassen zu eigen macht. 72 Diese Perspektivierung als Fokalisierung veranschaulicht die folgende Passage aus Asyle, die auch in anderer Hinsicht aufschlussreich ist: „Kurz gesagt, durch die Hospitalisierung wird der Patient überlistet, indem er der üblichen Ausdrucksformen beraubt wird, durch welche der einzelne sich dem Zugriff der Organisation entziehen kann: Respektlosigkeit, Schweigen, sotto voce geäußerte Bemerkungen, unkooperatives Verhalten, mutwillige Zerstörung von Einrichtungsgegenständen usw.; solche Zeichen des Sich- Ausschließens werden nun als Anzeichen der rechtmäßigen Zugehörigkeit des Urhebers gewertet.“ 73 Nicht nur negativ konnotierte Ausdrücke wie „überlistet“ und „beraubt“ deuten an, dass der Autor-Erzähler den Standpunkt des Patienten einnimmt, sondern auch und vor allem seine Diskursanalyse, die zeigt, wie der Widerstand des Insassen durch eine Integration seiner Sichtweise und seiner Handlungen in die Erzählung der Anstalt als kollektiver Gegenauftraggeberin und Antisubjekt in einem integriert wird. Während der Insasse als schwaches Subjekt und Auftraggeber in eigener Sache beteuert, er sei ein freier und normaler Mensch, der nur wegen des Unverständnisses oder der Boshaftigkeit seiner sozialen Umgebung in die Klinik eingewiesen wurde, deutet die Klinik seine Erzählung und seine Handlungen um, indem sie sie als Symptome wertet, die eine Aufnahme in die Psychiatrie rechtfertigen, ja notwendig erscheinen lassen. Ihre Erzählung lautet: „Du bist nicht der, für den du dich hältst; deine Äußerungen und Handlungen lassen klar deine Anomalie erkennen, die hier behandelt werden muss.“ Dabei wird die Vorgeschichte der Patientin oder des Patienten immer wieder zur Rechtfertigung der institutionellen Erzählung herangezogen. Auf dieser Ebene stellt Goffman einen Vergleich mit der Erzählsituation im Totalitarismus an. Sein Beispiel stammt aus China: „Von chinesischen ‚Gehirnwäsche‘-Lagern wird behauptet, sie würden diese Interpretationsprozesse ins Extrem treiben, indem die harmlosen Alltagsereignisse aus der Vergangenheit des Gefangenen in Symptome konterrevolutionärer 72 Vgl. dazu J. Raab, Erving Goffman, op. cit., S. 26. Von Goffman heißt es dort: „Immerhin bekennt er sich ausdrücklich zu Webers Postulat der Werturteilsfreiheit (…).“ Diese Einschätzung ist wohl ein Selbstmissverständnis. Sie zeigt, dass Werturteilsfreiheit vor allem auf narrativer Ebene (Perspektivierung, Fokalisierung, Aktantenmodell) nicht durchzuhalten ist. 73 E. Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 292. <?page no="114"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 98 Aktivität umgedeutet werden.“ 74 Sicherlich handelt es sich stets um Interpretationsprozesse; diese sind aber zugleich Prozesse der Umerzählung. Der Staat und die Klinik sind darauf aus, die Insassen in ihre Erzählung einzubinden und die widerständige Erzählung des aufbegehrenden Einzelnen aus der Welt zu schaffen. Dass dieser Einzelne seine eigene Erzählung konstruiert, die von seiner Ich-Identität als Subjekt-Kern ausgeht, wird von Goffman keineswegs übersehen. Auf sein von der „totalen Institution“ proklamiertes persönliches Scheitern antwortet der Insasse mit einem narrativen Gegenentwurf: „Darauf reagiert der Insasse meist in der Form, daß er sich eine Geschichte, einen Standpunkt, einen traurigen Bericht - also eine Wehklage und Apologie - zurechtlegt, die er seinen Schicksalsgefährten beständig erzählt, um seinen gegenwärtigen niedrigen Status zu erklären.“ 75 Abermals erscheint hier die Erzählung als eine „Form der Erklärung“ im Sinne von Werner Schiffer. Wer Goffmans Ausführungen aufmerksam folgt, kann keineswegs mit Tom Burns zu dem Schluss gelangen, dass der amerikanische Soziologe den Machtfaktor unberücksichtigt lässt. Burns meint, dass das Thema „Macht“ nirgends in Goffmans Werk zur Sprache kommt und fügt hinzu: „There is hardly any mention of power relationships between categories and groups of people, or between individuals.“ 76 Burns relativiert zwar diese vor allem von Marxisten vorgebrachte Kritik durch Hinweise auf Stigma und Asyle, geht aber auf Goffmans Analysen der Machtverhältnisse zwischen Institution und Insassen im letztgenannten Werk nicht ein (ebenso wenig wie die marxistischen Kritiker Goffmans, die nie ein Auge für die Vermittlung der Macht durch sprachliche Strukturen hatten). Asyle ist aber ein Buch über Machtausübung: Davon zeugt auch Goffmans Kommentar zu den chinesischen Umerziehungslagern. Wer wollte behaupten, dass diese nichts mit Machtverhältnissen zu tun haben? Gefängnisse und psychiatrische Kliniken unterscheiden sich nicht grundsätzlich von diesen Lagern: Auch in ihnen geht es letztlich darum, sich des Vokabulars, der Semantik und der Narrativik der Insassen zu bemächtigen, um sie in die offizielle Erzählung und Ideologie der Machthaber einzubinden. Zum Abschluss sollen hier das stets geheim gehaltene Verhältnis von Machtausübung und Erzählung sowie die Erzählung als Machtausübung näher betrachtet werden. Dazu bemerkt der Semiotiker Louis Marin: „Dieses Geheimnis lüften und einen Diskurs über den Diskurs der Macht sprechen heißt Kritik.“ 77 74 Ibid., S. 89. 75 Ibid., S. 70. 76 T. Burns, Erving Goffman, op. cit., S. 54. 77 L. Marin, Le Récit est un piège, Paris, Minuit, 1978, S. 10. <?page no="115"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 99 Wird ein Land besetzt, sorgt die Besatzungsmacht umgehend für eine Erzählung, die ihr Vorgehen rechtfertigt. Die sowjetischen Invasionen der Tschechoslowakei im Jahre 1968 und Afghanistans im Jahre 1979 wurden durch Hinweise auf konterrevolutionäre Bewegungen in beiden Ländern gerechtfertigt. Dabei verließen sich die damaligen Moskauer Machthaber auf eine vereinfachte Variante der marxistisch-leninistischen Erzählung, die besagt, dass die Weltrevolution als Fortschreiten zu stets höheren Stadien des Sozialismus unumkehrbar sei, dass man aber wachsam bleiben und konterrevolutionäre Umtriebe im Keim ersticken müsse (die übliche Mischung aus Determinismus und Voluntarismus: Während der Determinismus die Zuversicht stärkt, rechtfertigt der Voluntarismus Gewalt). Widerstände und Proteste gegen die Besatzungsmacht wurden als Beweise für die Anwesenheit von Konterrevolutionären oder die Realität der Konterrevolution gedeutet und als „empirisches Material“ in den marxistischleninistischen Diskurs, den wissenschaftlichen Diskurs par excellence, dankbar aufgenommen. Wie immer fanden sich Kollaborateure, die bereit waren, diesen Diskurs in Stadt und Land zu propagieren. Erinnert das nicht an Goffmans Darstellungen des Verhältnisses zwischen Klinikleitung und Insassen? Zur Veranschaulichung noch eine kleine Textprobe aus Asyle. Zu den „distanzierenden Akten“ der Insassen heißt es dort: „Meist definiert die offizielle psychiatrische Doktrin solche distanzierenden Akte als psychotisch (…).“ 78 Ersetzt man „psychiatrische“ durch „marxistisch-leninistische“ und „psychotisch“ durch „konterrevolutionär“, befindet man sich wieder im marxistisch-leninistischen Diskurs. Kritik fällt relativ leicht; weniger leicht fällt es einem Autor, einen kritischen Blick auf das eigene Unternehmen zu werfen. Er ist in diesem Fall aber kaum zu vermeiden, weil es doch in den folgenden Kapiteln um die Darstellung soziologischer Theorien als Erzählungen-Erklärungen geht - und zwar im Rahmen einer groß angelegten Erzählung, deren Kurzform lautet: „Die Entwicklung der Soziologie von der Moderne und der Spätmoderne zur Postmoderne“. Jede Metatheorie als Erzählung-Erklärung erhebt (ob der Autor sich dessen bewusst ist oder nicht) einen Machtanspruch, und es drängt sich - vor allem nach den hier vorgebrachten Argumenten - die Frage auf, wie er mit dem Machtfaktor umgehen will. Im Anschluss an Adornos Essayismus, der dialogische Elemente enthält 79 , und an Michail M. Bachtins Dialogizität (vgl. „Einleitung“) soll die Offenheit des unabschließbaren Dialogs dafür sorgen, dass die hier kom- 78 E. Goffman, Asyle, op. cit., S. 293. 79 Vgl. Vf., „Der Essay als Theorie und Utopie: Von Lukács zu Adorno“, in: ders., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, S. 168: „Essay, Parataxis, Dialog: Drei Wege der Kritischen Theorie (Epilog)“. <?page no="116"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 100 mentierten Theorien möglichst unverzerrt, ihrem Selbstverständnis nach dargestellt werden. Dies schließt Kritik nicht aus, aber diese soll auch die Gegenkritik, die Gegenstimme (Bachtin) zu Wort kommen lassen, die möglicherweise bewirkt, dass sich eine Leserin oder ein Leser für einen theoretischen Standpunkt entscheidet, der mit dem des Autors nichts zu tun hat - oder gar mit ihm kollidiert: etwa für Luhmanns Systemtheorie. Dass diese nicht vollständig wiedergegeben wird, versteht sich von selbst (auch der Autor einer Theorie kann diese nicht vollständig wiedergeben, zusammenfassen); aber ihre Kernargumente und Luhmanns Gegenkritik (etwa an Habermas) sollten im offenen Dialog nicht untergehen. Die Dialogische Theorie versteht sich mithin als Alternative zu den Systemtheorien (hier vor allem Hegels, Parsonsʼ und Luhmanns), die versuchen, alle Denkrichtungen, alle theoretischen Standpunkte in ein System zu integrieren, „für den Gegner einen berechtigten Platz im eigenen theoretischen Rahmen zu finden“ und zu erklären, „weshalb er opponiert“ 80 (Luhmann). Im System lautet die Antwort zumeist: wegen seiner Unzulänglichkeiten, die systematisch durch „Aufhebungen“ und „Synthesen“ überwunden werden können (vgl. Kap. IV zu Hegel und Kap. XV zu Luhmann). Der „Gegner“ sieht es naturgemäß anders und erzählt seine eigene Geschichte jenseits der Systemgrenzen. Diese Antwort der Systemdenker ist den Reaktionen der „totalen Institutionen“ nicht ganz unähnlich. Auch sie wissen, warum der Dissident, Insasse oder Patient „opponiert“: wegen seiner Unzulänglichkeiten, die unter bestimmten Bedingungen beseitigt werden können. Die Hauptbedingung ist die Unterwerfung unter den totalen, alles umfassenden Diskurs. Diesen Diskurs sprengt Dialogische Theorie: Sie ist als Metatheorie eine Methode der Verständigung und kritischen Überprüfung und ein Versuch, jederzeit der kritisierten Gegenstimme Gehör zu verschaffen. Sie ist ein Versuch, „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“ (Adorno). Zusammenfassung und Ausblick: Sowohl im Zusammenhang mit Mead als auch im Zusammenhang mit Goffman konnte die Bedeutung narrativer Strukturen in soziologischen Theorien beobachtet werden. Während Mead zeigt, wie in der infraindividuellen Interaktion zwischen „I“, „Me“ und „Self“ das individuelle Subjekt als Aktant (Greimas) zustande kommt und letztlich im Auftrag des „Generalized Other“ (als Auftraggeber, Greimas) handelt, zeichnet sich in Goffmans Soziologie die Bedeutung kollektiver Aktanten (Teams, Ensembles) ab, die das Handeln der ihnen angehörenden individuellen Akteure mitbestimmen. Zugleich wird - vor allem in Goffmans Stigma 80 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft (Hrsg. D. Horster), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (4. Aufl.), S. 68 (vgl. Kap. XV. 1). <?page no="117"?> Subjekt- und Handlungstheorien soziologisch und semiotisch 101 und Asylums - deutlich, dass die Erzählung ein stigmatisierendes Machtinstrument sein kann: In der totalen Institution (Klinik, Gefängnis, Kaserne) wird die Erzählung des individuellen Akteurs in die des kollektiven Aktanten „Institution“ integriert. Dadurch wird individuelles Selbstverständnis durch das institutionelle Fremdverständnis vereinnahmt und das Subjekt seiner Subjektivität beraubt. In der Theorie, die sich dem Anderen (der Alterität) und dem Dialog öffnet, kommt es darauf an, diesem Machtanspruch der Theorie als Erzählung und Metaerzählung Rechnung zu tragen. In den folgen den Kapiteln wird daher versucht, dem Selbstverständnis der dargestellten Theorien und ihrer Subjekte gerecht zu werden und sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen sichtbar zu machen. Dass die Darstellung einer Theorie (auch die Selbstdarstellung! ) nie vollständig sein kann und stets auf Rele vanzkriterien und Selektionen gründet, versteht sich von selbst. <?page no="119"?> 103 Erster Teil: Moderne soziologische Theorien als Erzählungen und ihre Kritik in der Spätmoderne Moderne Denker wie Hegel, Marx und Comte unterscheiden sich grundsätzlich von Denkern der Spät- und Postmoderne durch ihre groß angelegten, teleologisch konzipierten Erzählungen, die in der „Absoluten Idee“ (Hegel) gipfeln, eine „klassenlose“, herrschaftsfreie Gesellschaft (Marx) ankündigen oder eine radikale Neuordnung des menschlichen Zusammenlebens durch wissenschaftlichen Fortschritt (Comte) voraussagen. Wird die Postmoderne mit Jean-François Lyotard - etwas einseitig - als „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ 1 aufgefasst, dann werden im soziologischen Bereich die Konturen einer theoretischen Entwicklung sichtbar, in deren Verlauf ehrgeizige Prognosen und Ankündigungen einer besseren Zukunft ihre Überzeugungskraft einbüßen. Die Skepsis, von der Lyotard spricht, ist indessen keine rein postmoderne Attitüde, weil sie schon von bedeutenden Vertretern der spätmodernen Soziologie wie Alfred Weber, Max Weber, Emile Durkheim, Vilfredo Pareto und Georg Simmel angekündigt wird. In ihren Werken wird bereits deutlich, dass es aus gesellschaftlichen Gründen nicht mehr akzeptabel erscheint, die Geschichte der Menschheit als Sozialgeschichte in einem happy end ausklingen zu lassen. Im zweiten Teil dieses Buches wird nach den Gründen für diese seit der Spätmoderne (also seit ca. 1850) wachsende Skepsis dem philosophischen und soziologischen Erzählen gegenüber gefragt. Es wird sich jedoch zeigen, dass auch Autoren der Spätmoderne, der eigentlichen Gründungsphase der Soziologie, auf das Erzählen nicht verzichten, sich aber hüten, es in euphorische Entwürfe à la Comte oder Marx münden zu lassen. Ihnen erscheinen die Grenzen, Unwägbarkeiten und Gefahren der menschlichen Entwicklung ebenso wichtig wie deren Möglichkeiten und Potenziale. Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die noch zur Spätmoderne gehört, in mancher Hinsicht aber schon die Postmoderne ankündigt, schließt katastrophale Folgen der Naturbeherrschung, die der junge Marx nur ansatzweise analysiert, nicht mehr aus. Aktuell und bestechend sind die modernen soziologischen Entwürfe deshalb, weil sie die historische Entfaltung von Sinn erzählen und nicht wie Camusʼ spätmoderne Philosophie von Sinnzerfall und Absurdität handeln. 1 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S. 14. <?page no="120"?> Moderne soziologische Theorien 104 „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ 2 , beschließt Camus seine Betrachtungen in Der Mythos von Sisyphos. Das ist nicht einfach. Einfacher und befriedigender ist es, den modernen Großerzählungen zu folgen, die nicht von Sisyphos, sondern von Prometheus ausgehen, der für schöpferische Zuversicht und zukunftsträchtigen Elan bürgt. Dass dieser Elan auch von zeitgenössischen Soziologen gewürdigt, ja sogar mit Nostalgie betrachtet wird, zeigt ein Artikel von Dirk Kaesler: „‚Große Erzählungen‘ sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“. Vorausgesetzt wird hier, dass die „Form der Erzählung (…) bereits als solche eine Form der Erklärung“ 3 ist, wie es der in der Einleitung zitierte Historiker Werner Schiffer ausdrückt. Kaesler unternimmt einen Versuch, die soziologische Moderne zu aktualisieren, wenn er ihre „großen Erzählungen“ gegen die „allgegenwärtig angebotenen ‚kleinen Erzählungen‘, wie sie vor allem durch die empirische Sozialforschung erzeugt werden“ 4 , ausspielt und hinzufügt: „Dazu zählt beispielsweise die ‚heroische Erzählung‘ des Auguste Comte mit ihrem Versprechen von der Religion der Vernunft, der harmonischen Integration von gesellschaftlicher Ordnung und individuellen menschlichen Bedürfnissen, bei der die Soziologie die geistige Führung und politische Steuerung der Gesellschaft übernimmt, gewissermaßen einem französischen Echo der bürgerlich-Hegelschen Erzählung vom Sieg der Vernunft. Man denke an die andere ‚heroische‘ Große Erzählung des Karl Marx, mit dessen Vision von der Befreiung des Menschen von Ausbeutung, Entfremdung und Fremdbestimmung (…).“ 5 Im vierten und fünften Kapitel soll hier dieser Versuch, die modernen soziologischen „Großerzählungen“ zu aktualisieren, fortgesetzt werden. In einer dialogischen Konfrontation zwischen Marx und Comte sollen die Stärken, Probleme und Schwächen beider Theorien hervortreten und im Kontext der heutigen Gesellschaft betrachtet werden. In einer Zeit, in der Comtes Soziologie auf das mit negativen Konnotationen befrachtete Schlagwort „Positivismus“ reduziert wird, in der viele, die sich der allgegenwärtigen Wirkung der Medien nicht entziehen können, den Eindruck gewinnen, dass Marx seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Verschwinden von Karl-Marx-Stadt niemandem etwas zu sagen hat, mag eine Aktualisierung beider Denker wichtig sein. 2 A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg, Rowohlt (1959), 1981, S. 100. 3 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. 4 D. Kaesler, „‚Große Erzählungen‘ sind keine Märchen: Die Soziologie erklärt den Menschen ihre Gesellschaften“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? , Münster, Lit-Verlag, 2005, S. 356. 5 Ibid. <?page no="121"?> Moderne soziologische Theorien 105 Zu dieser Aktualisierung gehören die im sechsten und siebenten Kapitel inszenierten Dialoge zwischen Marx, Comte und der Kritischen Theorie sowie zwischen Marx, Comte und einigen feministischen Theorien, die von ganz anderen Relevanzkriterien ausgehen als die modernen Denker. Es wird sich zeigen, dass den z.T. sehr verschiedenen feministischen Ansätzen vor allem im Bereich der Beobachtung und der Relevanz eine besondere Bedeutung zukommt. Die Tatsache, dass die spätmoderne Kritische Theorie Adornos und Horkheimers sowie die zeitgenössischen feministischen Theorien schon im ersten Teil im Zusammenhang mit Marx und Comte kommentiert werden, so dass der Eindruck eines Anachronismus entstehen mag, hängt mit dem dialogischen Aufbau des Buches zusammen: Die Wirkung der Marxschen Theorie und der verschiedenen Varianten des Marxismus mag in den letzten drei Jahrzehnten abgenommen haben; sie machte sich aber zeitweise in Diskussionen um die Kritische Theorie bemerkbar, die z.T. aus Marxʼ Philosophie hervorging, auf die sie kritisch reagierte. Komplementär dazu kann Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als eine Kritik an Comtes Positivismus und an positivistischen Philosophien Comtescher Provenienz gelesen werden. Insofern greifen in diesem Bereich Moderne und Spätmoderne - als Selbstkritik der Moderne - dialogisch ineinander. Ähnliches kann von den feministischen Theorien gesagt werden, die sich sporadisch mit dem Marxismus und der Kritischen Theorie auseinandersetzen und versuchen, die Leerstelle auszufüllen, die in beiden Theoriekomplexen durch die Vernachlässigung des Geschlechtergegensatzes entsteht. Auch sie bewirken, dass Marxʼ Gesellschaftstheorie und die aus ihr ableitbaren Varianten des Marxismus in die Gegenwart hineinragen und schon deshalb nicht pauschal in eine vergangene Moderne der „großen Metaerzählungen“ relegiert werden können. In diesem vom Dialog strukturierten Zusammenhang ist auch die Tatsache zu erklären, dass Herbert Spencers moderne Erzählung der Differenzierung und Individualisierung erst am Anfang des „Zweiten Teils“ kommentiert wird, wo Emile Durkheims spätmoderne Begründung der Soziologie als Antwort auf den Spencerschen Individualismus erscheint. Spencers Entwurf und Durkheims Entgegnung sollen gleichsam eine Brücke von der Moderne zur Spätmoderne schlagen. Im Übergang von Spencer zu Durkheim soll auch deutlich werden, warum die moderne Zuversicht, die bei Spencer in einer fortschreitenden Selbstbehauptung und Emanzipation des Einzelnen zum Ausdruck kommt, einer spätmodernen, krisenbedingten Skepsis weicht. Insgesamt zeigt diese Einleitung zum „Ersten Teil“, dass nicht nur die soziologischen Theorien die gesellschaftliche Wirklichkeit erzählen, sondern dass auch die „Theorie der Theorie“, die hier auf Metaebene die <?page no="122"?> Moderne soziologische Theorien 106 Entwicklung der Gesellschaftstheorien darstellt, eine Metaerzählung ist, in der die Aufeinanderfolge von „Moderne“, „Spätmoderne“ und „Postmoderne“ aus bestimmten Relevanzkriterien hervorgeht. Relevant sind beispielsweise das Reflexivwerden der Moderne in der Spätmoderne (Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne) sowie die postmoderne „Skepsis den Metaerzählungen“ gegenüber, die sich mit dem Beginn der Postmoderne (nach 1950) durchsetzt. <?page no="123"?> 107 IV. Kapital und Tauschwert, Arbeit und Klassenkampf: Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx Inhaltsverzeichnis 1. Hegels idealistische Erzählung als Versöhnung von Subjekt und Objekt 2. Die Öffnung des Hegelschen Diskurses bei Marx 3. Die materialistische Neubesetzung der Hegelschen Aktanten: Geschichte, Bürgertum, Proletariat und Prozess 4. Ein neuer Fokalisator: Das „Proletariat“ 5. Das theoretische Potenzial von Marxʼ Soziologie Hegel und Marx sind beide Denker der Moderne, deren Entwürfe auf sehr verschiedene Arten von der historischen Zuversicht eines Bürgertums zeugen, das die Entwicklung der Gesellschaft als ein Fortschreiten zu immer höheren Stadien sieht. Während sich Hegels Denken innerhalb der bürgerlichen Ordnung bewegt, die es nicht überschreiten, sondern als vernünftige und zeitgemäße Ordnung erklären will, kündigt Marx eine neue Ära jenseits der bürgerlichen Klassengesellschaft an. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie die soziale Entwicklung als einen Emanzipationsprozess auffassen, in dessen Verlauf die Freiheit des Einzelnen und der Gruppe stetig zunimmt. Diese Zuversicht hängt nicht zuletzt mit der historischen und gesellschaftlichen Situation zusammen, in der sie lebten und wirkten. Trotz aller Restaurationen, die ihr folgten, hatte die Französische Revolution von 1789 eine anhaltende Signalwirkung 1 , weil sie zeigte, dass die feudal-absolutistische Ordnung nicht die einzig mögliche war und dass sie durch eine vernünftigere, gerechtere und menschlichere Ordnung überwunden werden konnte. Während Hegel - wie später Comte in einem ganz anderen Kontext - diese neue Ordnung für endgültig hielt und dadurch eine Postmoderne vorwegnahm, in der sich viele keine „Alternative“ zum Bestehenden vorstellen können („living without an alternative“, sagt Zygmunt Bauman) 2 , trat Marx aus dem Bann des Hegelschen Systems heraus, indem 1 Vgl. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 19- 20: „Die Begegnung mit der Revolution und der Enthusiasmus für sie in der Tübinger Zeit (1788-1793) stehen am Anfang des geistigen Weges Hegels. Von diesem Enthusiasmus ist alles ausgegangen; er stiftet die Freundschaft mit Hölderlin und mit Schelling.“ 2 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S. 175. <?page no="124"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 108 er die Kritik des Bürgertums am Absolutismus als eine vom Proletariat getragene Kritik am Bürgertum fortsetzte. Diese Kritik geht durchaus auch aus dem utopischen Bewusstsein des Bürgertums hervor, das in Rousseaus Werk und in der Romantik 3 zum Ausdruck kommt. Dazu bemerkt Reinhart Koselleck: „Endlich trug das letzte Objekt der Kritik, der absolutistische Staat, auf seine Art dazu bei, das utopische Gesellschaftsbild des Bürgertums zu etablieren.“ 4 Aus diesem Gesellschaftsbild ging schließlich die Utopie von Karl Marx hervor, die freilich auch in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt ist, deren Messianismus aus verschiedenen Schriften des jungen Marx spricht. Während die christlichen Impulse Hegel zu einer Versöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt drängen, hält der Marxsche Messianismus das Verlangen nach Erlösung wach. In der christlichen Theodizee sind Versöhnung und Erlösung komplementäre Begriffe, von denen der eine den anderen voraussetzen kann. Christoph Türcke übertreibt keineswegs, wenn er zu Marx bemerkt: „Nur eine Theorie, in deren Innerstem, das Feuer der Erlösungsidee brennt, ist in der Lage, die Totalität der Kapitalverhältnisse als falsche Totalität zu durchschauen und damit angemessen darzustellen.“ 5 Dies bedeutet zugleich, dass Marxʼ Sozialwissenschaft von der großen religiösen Erzählung nicht zu trennen ist und dass in der Soziologie das religiösideologische Engagement, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, das Erkenntnisinteresse und den Erkenntnisfortschritt wesentlich mitbedingt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die modernen Erzählungen von Hegel, Marx und Comte die Form der „Großerzählung“ (vgl. D. Kaesler in der Einleitung zum „Ersten Teil“) nicht der Religion verdanken, zumal Hegels System häufig als säkularisierte Theodizee aufgefasst wird und Comte für die von ihm entworfene, von der positiven Wissenschaft regierte Gesellschaft eine weltliche Religion konzipiert, die die partikularen Interessen überwinden und den Egoismus des Einzelnen bändigen soll (vgl. Kap. V). Nicht zu Unrecht erinnert Robert C. Tucker an die religiöse Form von Marxʼ Erzählung: „Marx sieht ebenso wie das Christentum das ganze Dasein als Geschichte; er erzählt im Grund eine Geschichte mit einem Ablauf von Anfang, Mitte und Ende.“ 6 3 Vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München, Fink, 1992, S. 367. 4 R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg, Alber, 1959, S. 7. 5 Ch. Türcke, „Über die theologischen Wurzeln der Marxschen Kritik“, in: E. Schweppenhäuser, D. zu Klampen, R. Johannes (Hrsg.), Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg, zu Klampen, 1987 (2. Aufl.), S. 31. 6 R. C. Tucker, Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos, München, Beck, 1963, S. 19. <?page no="125"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 109 Dieser Ursprung in der Religion, die im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert noch keineswegs in die säkularisierte Enklave eines „Religionssystems“ (Luhmann) oder eines „Feldes“ (Bourdieu) verbannt worden war, verringert weder das theoretische Potenzial der Großtheorien noch schmälert er ihre wissenschaftlichen Verdienste. Denn die Aktualität von Hegel und Marx besteht u.a. darin, dass ihre Theorien als groß angelegte und widerstreitende Hypothesen über die Gegenwart betrachtet werden können. Ihr Widerstreit ist teilweise aus den stark divergierenden Biografien der beiden Denker ableitbar. Während Hegel (1770-1831) in Tübingen Theologie und Philosophie studierte, 1808 zum Gymnasialdirektor in Nürnberg, 1816 zum Professor in Heidelberg ernannt wurde und nach 1818 als staatstragender Ordinarius in Berlin Philosophie lehrte, führte Marx (1818-1883) nach seinem Bonner und Berliner Studium der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Geschichte ein unstetes Leben als Redakteur der Rheinischen Zeitung und Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, die er im Pariser Exil (nach 1843) gemeinsam mit dem rebellischen Junghegelianer Arnold Ruge betreute. Im Gegensatz zum staatstragenden Philosophen Hegel bekämpfte er den bürgerlich-kapitalistischen Staat und verbannte sich aus dessen Gesellschaft noch bevor er sich ins Londoner Exil begab, wo er 1883 starb. Schließlich verzichtete er auf die wegen seiner chronischen Geldnöte übernommene Redaktion der liberal-demokratischen Rheinischen Zeitung: „nicht allein, weil die Zeitung in Folge ihrer allzu scharfen Sprache von der Regierung verboten wurde, sondern vor allem aus Ekel vor den ständigen Zensurschikanen, die ihn zwangen, ‚mit Nadeln statt mit Kolben zu fechten‘, und weil er es überdrüssig war, ‚sich selbst zu verfälschen‘.“ 7 Angesichts dieser Schwierigkeiten gibt er auch den Gedanken auf, an der Bonner Universität als Privatdozent tätig zu sein. In diesem Zusammenhang lautet Wolfgang Eßbachs These, dass die radikale Gesellschaftskritik der Junghegelianer, zu denen auch Marx (als deren Kritiker) zählte, im Zusammenhang mit ihrer „Entlassung aus dem Staatsdienst“ 8 zu betrachten sei. Anders als Hegel, der seine Apologie des damaligen preußischen Staates in welthistorische Dimensionen kleidete, indem er Staat und bürgerliche Gesellschaft miteinander versöhnte, attackierte Marx als vom Bürgertum verbannter Philosoph den kapitalistischen Klassenstaat. Doch die biografisch bedingten Standorte der beiden Denker sind nicht schlicht als kontingente Kuriosa zu verabschieden. 7 S. Landshut, „Einleitung“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. XXI. 8 W. Eßbach, Die Junghegelianer. Zur Soziologie einer Intellektuellengruppe, München, Fink, 1988, S. 26. <?page no="126"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 110 Während Hegel behaupten könnte, dass seine Darstellung des modernen Staates, der nicht mit dem damaligen Preußen identisch sein muss, der Form des zeitgenössischen Staatswesens entspricht, könnte Marx einwenden, dass gerade der Zusammenbruch des (in den 1960er und 70er Jahren) scheinbar unbeweglichen Ostblocks gezeigt hat, dass die Zukunft offen bleibt und dass folglich auch der „Westen“ nicht gegen Widersprüche und Umbrüche gefeit ist. Während Hegel die postmoderne These bestätigen könnte, dass wir ohne Alternative zum Spätkapitalismus als „postindustrieller Gesellschaft“ ohne revolutionäres Proletariat leben müssen, könnte Marx auf die sich beschleunigenden wirtschaftlichen, technologischen und politischen Entwicklungen sowie auf die sich häufenden Krisen hinweisen und so Zweifel an der Persistenz des bürgerlich-kapitalistischen Systems wecken. Stets sind verschiedene theoretische Erzählungen denkbar, und keine von ihnen deckt sich mit der Wirklichkeit - auch wenn sie ideologisch behauptet, mit dieser identisch zu sein. Indes haben alle Versuche, diese Art von Großtheorien auf die Gegenwart anzuwenden, den Nachteil, dass ihre historische Spannweite, ihr Abstraktionsniveau und ihre Vieldeutigkeit sehr viele, auch widersprüchliche Auslegungen und Anwendungen ermöglichen. Dies ist wohl einer der Gründe, warum Robert K. Merton Theorien der „mittleren Reichweite“ („theories of the middle range“), die er u.a. anhand von Emile Durkheims Studie über den Selbstmord exemplifiziert 9 , Großtheorien im Sinne von Hegel, Marx oder Comte vorzieht. Es ließe sich allerdings zeigen, dass vor allem Marxʼ Erzählung durchaus auch Theoreme „mittlerer Reichweite“ (etwa zum Klassenkampf) enthält, die jedoch nur in dem sie umfassenden Kontext konkret zu verstehen sind - so wie Durkheims Selbstmord-Studie (vgl. Kap. IX) nur im Rahmen von Durkheims Differenzierungstheorie klare Konturen annimmt, die wiederum eine Großtheorie der Gesellschaft und ihrer Entwicklung ist. 1. Hegels idealistische Erzählung als Versöhnung von Subjekt und Objekt Hegels Philosophie ist ein groß angelegter Versuch, den vernünftigen Charakter der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen und nachzuweisen, dass sich jedes vernünftige Subjekt mit ihr identifizieren kann. Wer sich vornimmt, die Wirklichkeit aus dieser Sicht darzustellen und zu erzählen, wird zugleich dazu neigen, diese Wirklichkeit in ihrer Entwicklung zu rechtfertigen und zu zeigen, „daß die Vernunft die Welt 9 Vgl. R. K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York, The Free Press, 1968 (enlarged ed.), S. 59. <?page no="127"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 111 beherrsche, daß es also in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“. 10 Dies bedeutet, was die „Form der Erzählung“ angeht, dass sich diese als rechtfertigende Retrospektive präsentiert und nicht etwa als Negation des Bestehenden oder als zukunftsorientierte Prophetie im Sinne von Marx. Hegel will die bestehenden Verhältnisse erklären und rechtfertigen, nicht kritisieren. Seine Aversion gegen Dissens und Kritik kommt bereits in einer seiner Habilitationsthesen zum Ausdruck: „Philosophia critica caret ideis et imperfecta est Scepticismi forma.“ („Der kritischen Philosophie fehlt es an Ideen, und sie ist eine unvollkommene Form des Skeptizismus.“) 11 Konkrete Gestalt nehmen die Ablehnung des kritischen Bewusstseins und die Zurückweisung der Kritik in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts an, wo es schon in der „Vorrede“ zu der vorgelegten Schrift heißt: „Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll.“ 12 Diese affirmative Einstellung Hegels ist aus seinen Kritiken an den kritischen Philosophien Kants, Fichtes und der Romantiker 13 ableitbar, denen er ihr Unvermögen vorwirft, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt zu überbrücken und sich die Wirklichkeit als vernünftige Totalität anzueignen. Sie fordern zumeist lediglich die Einheit von Subjekt und Objekt, von Gedanken und Wirklichkeit. Sie sind aber außerstande, diese Einheit in ihren Philosophien zu verwirklichen, weil sie die Welt nicht als sinnvolle Totalität begreifen, sondern auf eine „Vereinigung“ von Gedanken und Wirklichkeit hoffen, sie bloß herbeisehnen. Hegel wirft Fichte vor, er gelange „nicht zur Idee der Vernunft, als der vollendeten, realen Einheit des Subjekts und Objekts, oder des Ich und Nicht-Ich; sie ist ein Sollen, wie bei Kant, ein Ziel, ein Glauben, daß beides an sich eins sei, aber ein Ziel, dessen Erreichung derselbe Widerspruch wie bei Kant ist, nicht die gegenwärtige Wirklichkeit an ihm hat“. 14 10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1995 (4. Aufl.), S. 20. 11 G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 533. 12 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 26. 13 Zu Hegels Kritik an Kant und an der Romantik vgl. O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, München, Fink, 1999, S. 126-133 sowie: J. D’Hondt, De Hegel à Marx, Paris, PUF, 1972, S. 143-148. 14 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Werke, Bd. XX, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1986, S. 409. <?page no="128"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 112 Eine Philosophie, die die Wirklichkeit als vollendete und vollkommene, nicht aber als zu verändernde Totalität begreift, wird zu einer teleologischen Erzählung, deren Teleologie ein geschlossenes System zeitigt, dessen telos innerhalb des Bestehenden liegt und nicht jenseits von ihm. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Hegels Denken, wie noch zu zeigen sein wird, von Marxʼ zukunftsweisender Gesellschaftskritik und von der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, die im sechsten Kapitel im Gegensatz zu Hegel und Marx dargestellt wird. Einer der ersten, die die Form der Hegelschen Erzählung aus marxistischer Sicht kommentiert haben, war Ernst Bloch. Er meint, in ihr eine Variante der platonischen Anamnese zu erkennen, der Wiedererinnerung der Seele an die „reinen Formen“, unter denen sie vor ihrer Vereinigung mit dem Körper weilte. Es gehe auch bei Hegel um die Erinnerung an etwas schon Vorhandenes oder Dagewesenes: jedoch in historischer Perspektive, in der Vergangenheit und Gegenwart als vernünftige Einheit ohne Zukunft erscheinen: „Wonach weiterhin nur Vergangenheit als stillgelegte, nicht Zukunft als Zeitmodus des Noch-Nicht-Seins, an Ewigkeit angrenzen soll.“ 15 Es wird sich zeigen, dass Marx - im Anschluss an einige Junghegelianer wie Feuerbach, Ruge und F. Th. Vischer - versucht, Hegels geschlossenes System 16 zu öffnen und die Erzählung auf die Zukunft auszurichten. Hegel bestätigt Blochs Darstellung in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, wo er im neoplatonischen Sprachduktus erklärt: „Der Geist ist wesentlich Resultat seiner Tätigkeit: seine Tätigkeit ist Hinausgehen über die Unmittelbarkeit, das Negieren derselben und Rückkehr in sich.“ 17 Dieser Satz kann zugleich als Skizze von Hegels Aktantenmodell gelesen werden: Die historische Entwicklung ist eine Tätigkeit des Geistes, der zunächst mit einer ihm unverständlichen Unmittelbarkeit konfrontiert wird, über die er begreifend hinausgeht, bis er, von Erkenntnis zu Erkenntnis eilend, in einer Bewegung von konzentrischen Kreisen die Wirklichkeit als konkrete Totalität erfasst, „sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt“ 18 und sich als „selbstbewußte[r] Geist“ 19 wiederfindet. Das Aktantenmodell und die Erzählung als ganze gründen auf dem semantischen Gegensatz von Geist und Materie, wobei dem Geist die aktive Rolle zufällt: „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir 15 E. Bloch, „Hegel und die Anamnesis; contra Bann der Anamnesis“, in: ders., Auswahl aus seinen Schriften, Frankfurt, Fischer, 1967, S. 124. 16 Vgl. dazu: M. Marković, „Entfremdung und Selbstverwaltung“, in: E. Th. Mohl et al., Folgen einer Theorie. Essays über „Das Kapital“ von Karl Marx, Frankfurt, Suhrkamp, 1967, S. 181: „Das gesamte System Hegels bleibt historisch geschlossen und an den bestehenden gesellschaftlichen Kontext gebunden.“ 17 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 104. 18 Ibid., S. 105. 19 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit., S. 26. <?page no="129"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 113 sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit.“ 20 In dieser Behauptung ist die Annahme enthalten, dass der Geist zwar auf die Materie einwirken kann, von den ihn umgebenden materiellen Faktoren aber weder bedingt noch bewegt wird. Dies hat zur Folge, dass Hegel die Geschichte der Gesellschaft und des Staates als Geschichte des Geistes in seinen verschiedenen Erscheinungsformen erzählt und das Aktantenmodell mit „Geistern“ statt mit konkreten Gesellschaftskräften und ihren materiellen Interessen besetzen kann. Auch die Modalitäten der handelnden Instanzen (ihr „Wissen“, „Wollen“ und „Können“: vgl. Kap. II. 2) sind vorwiegend geistiger Natur: Sie sind alle auf der semantischen Ebene oder Isotopie „Geist“ anzusiedeln, der im Bereich der Aktanten die Isotopie „Denken“ entspricht. Wie sieht das Aktantenmodell konkret aus? Es versteht sich fast von selbst, dass es hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden kann, da eine detaillierte semiotische Darstellung 21 , die Hegels Gesamtwerk und dessen verschiedene Phasen berücksichtigen wollte, Hunderte, wenn nicht gar Tausende Seiten beanspruchen würde. Wenn diese Darstellung sinnvoll sein und den Vergleich mit Marx (und Comte) erleichtern soll, kann sie sich nur auf die wesentlichen Faktoren beziehen, die eine klärende Funktion erfüllen. Bei Hegel tritt der Aktant, der als Auftraggeber (destinateur, Greimas) und Subjekt-Aktant alle anderen handelnden Instanzen bewegt, als Weltgeist auf. Symmetrisch zu ihm tritt die Materie, zu der auch die Natur mit ihrer Kontingenz und ihren Unwägbarkeiten gehört, als Gegenauftraggeberin auf. Hegel beobachtet die historische Entwicklung, die ihm als Selbstverwirklichung des Weltgeistes erscheint, dessen Handeln von den Modalitäten „Vernunft“ (wissen) und „Notwendigkeit“ (müssen) zeugt. Dementsprechend erzählt er die Geschichte der Menschheit, und seine Erzählung hat, wie Bloch zeigt, retrospektiven Charakter. Sie ist ein von Bejahung und Einverständnis zeugender Rückblick: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert.“ 22 In der nachchristlichen Erzählung Hegels erscheint der die Vernunft verwirk- 20 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 30. 21 Vgl. A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 13-18. In diesem Buch erstreckt sich die semiotische Analyse einer Kurzgeschichte von sechs Seiten über 267 Seiten. Auf längere Texte sind Greimas’ Methode und Terminologie nur in großen Zügen anwendbar. 22 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 22. <?page no="130"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 114 lichende Weltgeist bisweilen als Synonym für „Gott“: „Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes.“ 23 Kurzum, was immer auch geschehen ist, es war vernünftig und notwendig. Auf die kritisch-polemischen Einwände von Marx bis Adorno und Zygmunt Bauman („The phrase which infuriated me very early in my intellectual life […] was Hegel’s concept of the identity between the real and the rational.”) 24 würde Hegel antworten, dass sie die historische Vernunft als Totalität nicht begriffen haben. Ihre Hinweise auf das Irrationale der zwei Weltkriege könnte er mit einer Fortsetzung seiner Erzählung beantworten: Der Nationalismus (als Idee) musste sich selbst vernichten, indem er im italienischen Faschismus und im deutschen Nationalsozialismus extreme, destruktive und anachronistische Formen annahm und dadurch die Europäische Union als übernationales Gebilde und historische Synthese ermöglichte. So beschleunigt gerade das Negative, das Fehler, Verbrechen und Katastrophen zeitigt, das Fortschreiten des Weltgeistes zu immer höheren historischen Stadien. Von diesem Geist sagt Hegel in der Phänomenologie des Geistes: „(…) Er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.“ 25 Diese bloß schauende, kontemplative Haltung dem Negativen Gegenüber würde Marx beanstanden und den Satz entsprechend umformulieren: „Er ist diese Macht nur, indem er das Negative in revolutionäre Praxis überleitet.“ Möglicherweise hat Hegel Wesentliches übersehen… Übersehen hat er die materiellen Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind. Davon zeugt seine Konkretisierung des Aktantenmodells durch die Unterordnung der „Volksgeister“ unter den „Weltgeist“: „Die Prinzipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge sind selbst nur Momente des einen allgemeinen Geistes, der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt.“ 26 Dies bedeutet, dass der Weltgeist als Auftraggeber die „Volksgeister“ (wohl auch im Singular: den „Volksgeist“) als Subjekt-Aktanten instrumentalisiert, um sein narratives Programm (die Menschheitsgeschichte), das die Absolute Idee zum Ziel hat, verwirklichen zu können. Man könnte die „Volksgeister“ auch als konkrete Akteure auffassen, die dem abstrakten oder mythischen Aktanten „Weltgeist“ angehören oder in seinem Auftrag tätig sind. Anders und unvollständig gibt Ernst Bloch Hegels Aktantenmodell wieder, wenn er erklärt: „Hegel nennt den Träger und das Subjekt der Ge- 23 Ibid., S. 53. 24 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, op. cit., S. 206. 25 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 36. 26 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 104-105. <?page no="131"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 115 schichte vielmehr, mit völligem Idealismus, ‚Volksgeist‘.“ 27 Es hat sich jedoch gezeigt, dass dieser Subjekt-Aktant seine historische und zugleich narrative Funktion dem übergeordneten Aktanten und Auftraggeber „Weltgeist“ verdankt, der ihm einen Heilsauftrag (mission de salut, Greimas) erteilt: nämlich die Vernunft als Objekt-Aktanten und zusammen mit ihr die Freiheit aller Subjekte in der Geschichte zu verwirklichen. Dieser Heilsauftrag, der Hegels Erzählung zugrunde liegt, ergeht auch an jeden Einzelnen als Akteur, der sich dem kollektiven Aktanten „Volk“ als Instrument des „Weltgeistes“ unterzuordnen hat. Der Philosoph tritt insofern als Helfer (adjuvant, Greimas) des „Weltgeistes“ auf, als er dem Einzelnen (dem Hörer, Leser) die Tätigkeit des „Weltgeistes“ und die ihr zugrunde liegende Vernunft erklärt. Zum Verhältnis von Individuum und Volk (seinen Einrichtungen, Institutionen, Bräuchen) bemerkt Hegel: „Das Verhältnis des Individuums dazu ist, daß es sich dieses substantielle Sein aneigne, daß dieses seine Sinnesart und Geschicklichkeit werde, auf das es etwas sei.“ 28 Dies bedeutet konkret, dass der Einzelne nur durch seine Eingliederung in den Volkskörper am Wesen des Weltgeistes und am Gang der Geschichte (dem narrativen Programm des Weltgeistes) partizipieren kann. Kritische Distanz zum eigenen Volk kommt für Hegel nicht in Betracht. Den „englischen Volksgeist“ beschreibt er mit folgenden Worten: „Ein jeder Engländer wird sagen: Wir sind die, welche den Ozean beschiffen und den Welthandel besitzen, denen Ostindien gehört (…).“ 29 Wenn ein Engländer anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, welche Herrschaftsmechanismen den Welthandel ermöglichen, und sich fragt, ob eine europäischer Staat „Ostindien“ besitzen kann, ist er möglicherweise kein Engländer mehr, weil sich sein Denken dem „Volksgeist“ entfremdet. Insofern hat Bloch Recht: Hegels Denken ist idealistisch, weil es von den materiellen Interessen und Herrschaftsmechanismen innerhalb und außerhalb der nationalen Gesellschaft abstrahiert. Hegel geht zwar ausführlich auf die partikularen Interessen der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft ein, aber nur um sie dem grand design des im Auftrag des „Weltgeistes“ agierenden „Volksgeistes“ zu subsumieren, um sie idealistisch in der „Sittlichkeit des Staates“ zu verflüchtigen. Diese Interessen müssen weder aufeinander noch auf die des Volkes oder Staates, dem die Individuen oder Gruppen angehören, abgestimmt sein: Ihr scheinbar unkoordiniertes Zusammenspiel bewirkt, dass sie schließlich der Sache des „Weltgeistes“ dienen und sich in den Gang der Geschichte einfügen. Hegel 27 E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt, Suhrkamp (1962), 1985, S. 136. 28 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 99. 29 Ibid. <?page no="132"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 116 nennt diesen Vorgang „die List der Vernunft“: „Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.“ 30 Jean-Pierre Lefebvre und Pierre Macherey stellen es so dar: „Alles läuft dann so ab, als ob die Weltvernunft die partikularen menschlichen Leidenschaften ‚überlisten‘ würde, indem sie sie für ihre Zwecke benutzt, ohne dass sie sich dessen bewusst würden. Die privaten Zwecke werden so zu Mitteln, die Entfaltung des Geistes zu fördern.“ 31 In dem hier entworfenen Zusammenhang ist das Interessante an Hegels „List der Vernunft“ ihr Prozess-Charakter: die Tatsache nämlich, dass sich aus zahlreichen voneinander unabhängigen und auch widersprüchlichen Handlungen individueller und kollektiver Aktanten ein gesellschaftlicher Prozess ergibt, der aus Hegels Sicht der Intention des Hauptsubjekts und Auftraggebers „Weltgeist“ entspricht. So entsteht eine Dialektik von Intentionalität, Handlung und Prozess, in der bei Hegel die vom „Weltgeist“ verkörperte subjektive Absicht dominiert. Dieser anthropomorphe Zug in Hegels Erzählung ist wohl einer der Gründe, warum sie in der zeitgenössischen Gesellschaft, in der seit Parsonsʼ Werk The Social System (1951) Systemtheorien intensiv diskutiert werden, die das Prozesshafte der gesellschaftlichen Entwicklung hervorheben, mit Skepsis betrachtet wird. Diese Skepsis rührt auch daher, dass der „Weltgeist“ als Motor der Geschichte Hegel als Fokalisator dient, aus dessen Sicht er das Weltgeschehen betrachtet und deutet. Hegel kommentiert die verschiedenen Stufen der Weltgeschichte, die dem Auftreten bestimmter „Volksgeister“ entsprechen, und erklärt: „Diese Stufen zu realisieren, ist der unendliche Trieb des Weltgeistes, sein unwiderstehlicher Drang, denn diese Gliederung sowie ihre Verwirklichung ist sein Begriff. - Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewußtsein.“ 32 Bloch spricht vom „Gespräch des Weltgeistes mit sich selbst“. 33 Ist dies nicht eine Erzählung der Geschichte, in deren Verlauf der Held - als eigener Auftraggeber und Fokalisator - Hindernisse überwindet, allmählich seine Bestimmung findet und „zum vollen Bewußtsein“ gelangt? 30 Ibid., S. 49. 31 J.-P. Lefebvre, P. Macherey, Hegel et la société, Paris, PUF, 1987 (2. Aufl.), S. 35. Vgl. auch: D. Moyar, „Die Verwirklichung meiner Autorität: Hegels komplementäre Methode von Individuen und Institutionen“, in: Ch. Halbig, M. Quante, L. Siep, Hegels Erbe, Frankfurt, Suhrkamp, 2004. Moyar untersucht die Dialektik von Individuum und Institution bei Hegel. 32 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 73-74. 33 E. Bloch, Subjekt-Objekt, op. cit., S. 136. <?page no="133"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 117 Man fühlt sich in einen Bildungsroman versetzt, in dem „Trieb“, „Drang“ und „Wille“ schließlich zur Selbstverwirklichung des Helden führen: eines Helden, dessen Standpunkt der Erzähler einnimmt, um die Wirklichkeit als sinnvolle Einheit darstellen zu können. Dieser Erzähler (als Autor) nimmt nicht nur den Standpunkt seines Helden ein; er kennt den Helden auch, weil er ihn aus sich heraus erschaffen hat. Man fühlt sich abermals an einen Roman erinnert, wenn Hegel vom (göttlichen) „Geist“ sagt, „daß er nicht pressiert ist, nicht zu eilen und Zeit genug hat“, und später hinzufügt: „aber der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg“. 34 Aber diesen Weg hat Hegel selbst vorgezeichnet und hat ganz allgemein den Raum und die Zeit des Geistes in seiner Erzählung konstruiert. Daraus folgt, dass der Geist als „Weltgeist“ sein Konstrukt ist, so wie der Protagonist eines Romans ein Konstrukt des Schriftstellers ist und mythische Auftraggeber (Götter) in allen Religionen Konstrukte von Propheten und Priestern sind. Daraus folgt zugleich, dass Hegels System nicht die Allgemeinheit beanspruchen kann, die dem Selbstbewusstsein des zu sich gekommenen „Weltgeistes“ entspricht, weil dieses System als persönliches Konstrukt Hegels partikular ist. Darauf haben der Junghegelianer Friedrich Theodor Vischer 35 und später Friedrich Nietzsche hingewiesen. Zu Hegels Weltgeist als „Gott“ bemerkt Nietzsche: „Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelschen Hirnschalen durchsichtig (…), so daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eignen Berliner Existenz zusammenfielen.“ 36 Das Stichwort „Existenz“ verweist auf die existenzialistische Umdeutung Hegels bei Sartre, der im Anschluss an Kierkegaard 37 das philosophische System als partikularen Entwurf Hegels auffasst: „Von diesem Standpunkt aus betrachtet, steht am Anfang des Hegelschen Systems nicht das Sein, sondern die Person Hegels, so wie sie gemacht wurde, so wie sie sich selbst gemacht hat.“ 38 Diese von den Junghegelianern bis Sartre anhaltende Hegel-Kritik führt zu der Einsicht, dass die von Hegel proklamierte Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der vom „Weltgeist“ geschaffenen Ordnung in Wirklichkeit seine Erfindung, seine Konstruktion ist. Dies bedeutet, dass der Einzelne als Hegels Adressat nicht hoffen kann, die Freiheit zu erlangen, die sich aus der 34 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. I, Werke, Bd. XVIII, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1986, S. 55. 35 Vgl. F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. IV, München, Meyer und Jessen, 1922, S. 482. 36 F. Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen“, in: Werke, Bd. I (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 263. 37 Vgl. S. Kierkegaard, Das Buch über Adler, Düsseldorf-Köln, Diederichs, 1962, S. 106. 38 J.-P. Sartre, „L’Universel singulier“, in: Kierkegaard vivant. Colloque organisé par L’UNESCO à Paris du 21 au 23 avril 1964, Paris, Gallimard, 1966, S. 39. <?page no="134"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 118 Einsicht in die Vernunft des „Weltgeistes“ und seiner Welt ergibt und die ihm Hegel in seiner Philosophie des Rechts verspricht: „Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Aufforderung ergangen ist, zu begreifen (…).“ 39 Nun kann aber das Beobachten der Gesellschaft auch zu ganz anderen Ergebnissen führen als bei Hegel und eine Erzählung hervorbringen, die zu einer Umkehrung der Hegelschen Verhältnisse führt: eine Erzählung, deren Ziel nicht die Versöhnung, sondern die Erlösung ist. Sie mag in letzter Instanz auch religiös motiviert sein, ist aber anders strukturiert und lässt ganz andere Aktanten und Akteure auf den Plan treten. Der Umstand, dass beide Erzählungen hier als partikulare, kontingente Konstruktionen aufgefasst werden, widerlegt sie keineswegs. Im Gegenteil: Sie werden als heuristische Entwürfe, als Hypothesen über die Wirklichkeit nicht primär mit der Frage konfrontiert: Stimmt das? - sondern mit der wesentlich ergiebigeren, weil produktiven Frage: Was erkennen wir, wenn wir Hegels oder Marxʼ theoretische Konstruktionen auf unsere gesellschaftliche Wirklichkeit anwenden? Oder: Welche Aspekte unserer Gesellschaft verstehen wir besser, wenn wir diese im Rahmen von Hegels oder Marxʼ Erzählung betrachten? Kurzum: Es geht auch um die Aktualisierung oder Wiederbelebung beider Theorien. 2. Die Öffnung des Hegelschen Diskurses bei Marx Marxʼ radikale Kritik an Hegel zeigt - wie die Kritiken der Junghegelianer, Nietzsches, Kierkegaards und Sartres -, dass Hegel als Erzähler weit davon entfernt ist, den Werdegang des „Weltgeistes“ in der Geschichte objektiv darzustellen, weil die Geschichte auch aus einer anderen Perspektive beobachtet und ganz anders erzählt werden kann. Marx erscheint nicht der Gegensatz zwischen Geist und Materie als relevant, sondern der Gegensatz zwischen materiellen Interessen konkreter gesellschaftlicher Gruppierungen. Er verlagert seine Erzählung auf die semantische Ebene oder Isotopie „Materie“, wobei er den mechanischen Materialismus korrigiert, indem er die aktiven Momente des Idealismus in ihn eingehen lässt. Auf dieser Ebene geht er in seinen Frühschriften von einer materialistischen Kritik an Hegel aus: vor allem an Hegels Staats- und Rechtsphilosophie. Was er an ihr beanstandet, ist ihre idealistische Abstraktion. Hegel geht zwar - wie Marx - von der menschlichen Tätigkeit, der menschlichen Arbeit aus, abstrahiert aber von deren materieller Form, indem er sie 39 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit., S. 26-27. <?page no="135"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 119 vergeistigt: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.“ 40 So ist es zu erklären, dass Hegel in seinem System alle Widersprüche überwindet, indem er sie ins Geistige projiziert, und alle Konflikte löst, indem er sie ideell sublimiert. Letztlich geht es ihm darum nachzuweisen, dass alle Gegensätze, die im Laufe des gesellschaftlichen Prozesses entstehen, dadurch überwunden werden, dass die gegensätzlichen Terme in höheren Synthesen aufgehoben werden, und zwar im doppelten Sinne des Wortes „aufheben“: Sie hören auf zu existieren, indem sie in die neue Synthese eingehen, werden in dieser aber, wenn auch in abgewandelter Form, aufbewahrt. Wer den Prozess der historischen Aufhebungen als rationalen Prozess, als Verwirklichung der Vernunft durch den „Weltgeist“ und als dessen Selbstverwirklichung begriffen hat, kann sich mit diesem Prozess weitgehend identifizieren und ist seiner sozialen Umgebung und der Entwicklung seiner Gesellschaft nicht entfremdet. Die Überwindung der Entfremdung kommt folglich durch rein geistige Tätigkeit, durch ein Begreifen des vernünftigen Gesamtzusammenhangs, zustande. Gegen dieses Denken, das auf die Versöhnung im Ideellen ausgerichtet ist, lehnt sich Marx auf, weil er in der Gesellschaft Herrschaftsverhältnisse, Antagonismen und Ungerechtigkeiten beobachtet, die ein Konfliktpotenzial entstehen lassen, das nicht durch philosophische Einsicht als allumfassendes Verständnis-Einverständnis entschärft oder gar getilgt werden kann. Dies betont der junge Marx, wenn er im Zusammenhang mit Hegels Phänomenologie des Geistes schreibt: „Wenn er [Hegel] z.B. Reichtum, Staatsmacht etc. als dem menschlichen Wesen entfremdete Wesen gefaßt, so geschieht dies nur in ihrer Gedankenform… Sie sind Gedankenwesen - daher bloß eine Entfremdung des reinen, das ist abstrakten philosophischen Denkens.“ 41 Indirekt wird hier Hegel als Helfer des „Weltgeistes“ und als Vermittler zwischen diesem und dem entfremdeten Staatsbürger kritisiert. Denn der Philosoph als geistiges und von der materiellen Wirklichkeit selbst entfremdetes Wesen tut nichts anderes, als seinen Lesern den Gang der Geschichte als vernünftige Entwicklung plausibel zu machen. Er kann dies tun, weil er von der realen Geschichte und den in ihr wirkenden materiellen Interessen, Antagonismen und Konflikten abstrahiert. Nur so kann er seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass der moderne Staat als „Sittlichkeit“ die ultima ratio ist, mit der sich der freie, zur 40 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 270. 41 Ibid., S. 254. <?page no="136"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 120 Vernunft gekommene Bürger zu identifizieren hat. Dazu bemerkt Marx in seiner „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“: „Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, bewegt sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist, was sie aussagt, und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist.“ 42 In dieser Passage ist die Öffnung des Hegelschen Systems zur Zukunft hin angelegt. Im Gegensatz zu Hegel, der den existierenden Staat für eine Inkarnation der vom „Weltgeist“ verwirklichten Vernunft hält, erblickt Marx im Staat einen Bestandteil der konsolidierten bürgerlichen Herrschaftsstruktur. Was dieser Staat von sich selbst aussagt, ist das Gegenteil von dem, was er ist: nämlich Ideologie als Rechtfertigung und Tarnung. Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann bleibt nichts anderes übrig, als die unvernünftige Wirklichkeit auf materieller Ebene durch revolutionäre Praxis zu verändern. Den „dialektischen Standpunkt von Marx“ definiert Erich Gerlach im Anschluss an Karl Korsch als „Zusammenfallen des ‚Begreifens‘ und ‚Veränderns‘“. 43 Durch diese dynamische Koinzidenz wird Hegels System als Rechtfertigungsdenken und Ideologie gesprengt. Ein zukunftsträchtiges und in die Zukunft weisendes Denken entsteht. Dazu heißt es bei Ernst Bloch: „Auch im Lichtpunkt Optimismus aber wird erst seit Marx die Vergangenheit nicht nur in die Gegenwart und diese wieder in die kontemplierte Vergangenheit, sondern beide sind auf den Horizont der Zukunft gebracht.“ 44 Marx erscheint hier als der moderne Denker par excellence, weil er einerseits zwar in Übereinstimmung mit den französischen Enzyklopädisten und der Aufklärung am Fortschrittsglauben des aufsteigenden Bürgertums festhält, andererseits aber den Fortschritt über die bürgerlichen Verhältnisse hinaustreibt: in eine bessere, menschlichere Zukunft. Er will die „Vorgeschichte“ der Menschheit in ihre eigentliche, ihre wahre Geschichte überleiten, die erst durch die revolutionäre Praxis des „Proletariats“ ermöglicht wird. Diese Praxis beinhaltet die Abschaffung des entfremdenden Privateigentums und die Beseitigung der ebenso entfremdenden Arbeitsteilung. Dadurch wird Hegel nicht nur „auf die Füße gestellt“, wie Marx sagt, sondern seine idealistische Erzählung, die eine Apologie des Bestehenden ist, wird durch die Anwendung materialistischer Relevanzkriterien auf die 42 K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 74. 43 E. Gerlach, „Vorwort“, in: K. Korsch, Marxismus und Philosophie, Frankfurt-Wien, Europäische Verlagsanstalt-Europa Verlag, 1966, S. 11. 44 E. Bloch, Über Methode und System bei Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 1975 (2. Aufl.), S. 139. <?page no="137"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 121 Isotopien „Materie“ und „Handlung“ projiziert und entsprechend umstrukturiert. Nicht das Denken als „Geist“ ist die Grundlage der menschlichen Geschichte, sondern die Wirtschaft als deren Basis. Obwohl das Denken durchaus auf diese Basis einwirken kann und somit als aktiver Faktor aufzufassen ist 45 , wie die Funktion der Gesellschaftskritik in Marxʼ Diskurs zeigt, gehört es im Wesentlichen zu einem von der Wirtschaft determinierten Überbau. Zu ihm gehört auch Hegels Idealismus, der die wirtschaftlichen Determinanten des Geistigen ideologisch verdeckt und dadurch die bestehende Ordnung rechtfertigt. Aus dieser Rechtfertigung bestehender Verhältnisse wird in Marxʼ Kritik deren radikale Infragestellung. Zu seiner Umdeutung der Hegelschen Erzählung bemerkt Marx im „Nachwort zur zweiten Auflage“ von Das Kapital (Bd. I): „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ 46 Marx beanstandet nicht nur die Trennung des Geistigen vom Materiellen und die Verselbständigung des ideellen Prozesses, sondern kehrt die Hegelschen Verhältnisse um, indem er die materiellen Interessen als „Basis“ zur Grundlage der historischen Entwicklung und seiner eigenen Erzählung macht. In dieser Form hat Dialektik, die Hegel als rein geistigen und das Bestehende rechtfertigenden Prozess auffasst, eine praktisch-negierende, sprengende Wirkung, „weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“. 47 In dieser Passage ist die Öffnung des durch Anamnesis (Bloch) geschlossenen und rückwärtsgewandten Hegelschen Systems vollzogen: Dialektik ist keine Apologie historisch gewordener, verfestigter Verhältnisse mehr, sondern deren praktisch-materielle Negation. 45 Vgl. S. Hook, From Hegel to Marx. Studies in the Intellectual Development of Karl Marx, Ann Arbor, Univ. of Michigan Press (1962), 1966, S. 281: „For Marx knowledge gives power by virtue of the activities it sets up in transforming things on behalf of social needs.“ 46 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1969), 1981, S. 12. 47 Ibid. <?page no="138"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 122 Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, wie sich diese Umkehrung von Hegels System auf Marxʼ Aktantenmodell als Gerüst seines historischen Diskurses auswirkt. Zugleich wird deutlich, dass seine Behauptung, seine „dialektische Methode“ sei das „direkte Gegenteil“ der Hegelschen, eine Vereinfachung und Übertreibung ist. Denn Marxʼ Vorgehensweise bleibt der Hegels in so mancher Hinsicht verpflichtet. 3. Die materialistische Neubesetzung der Hegelschen Aktanten: Geschichte, Bürgertum, Proletariat und Prozess Nicht nur die Wirklichkeit kann auf verschiedene Arten erzählt werden, auch die Theorien, die Gesellschaft erzählen, sind interpretierbar, wie die zahlreichen, einander oft widersprechenden Kommentare zu Hegel und Marx zeigen, und können auf verschiedene Arten rekonstruiert werden. In seiner Sémantique structurale (1966) entwirft Greimas ein provisorisches Aktantenmodell des Marxschen und marxistischen Diskurses, in dem er den „Menschen“ als Subjekt der Erzählung auftreten lässt, die „klassenlose Gesellschaft“ als Objekt-Aktanten auffasst, die „Geschichte“ als Auftraggeberin, die „Menschheit“ als beauftragte Instanz, die „Arbeiterklasse“ als Helferin des Subjekts „Mensch“ und das „Bürgertum“ als Widersacher beider. 48 Greimas hat später seine Diskurs- und Aktantentheorie revidiert, indem er u.a. dem Auftraggeber (destinateur) symmetrisch einen Gegenauftraggeber (anti-destinateur) gegenüberstellte und dem Subjekt ein Antisubjekt. Zugleich verzichtete er auf die Begriffe Helfer (adjuvant) und Widersacher (opposant). (Hier wird deutlich, dass Aktantenmodelle als heuristische Konstruktionen und Orientierungshilfen, nicht als Abbildungen der Wirklichkeit aufzufassen sind.) Im Folgenden werden die letzten beiden Begriffe beibehalten und in das neue Modell integriert, in dem die „Geschichte“ weiterhin als Auftraggeberin erscheint, die „Negation der Geschichte“ oder „Reaktion“ als Gegenauftraggeberin, das „Proletariat“ als von der „Geschichte“ beauftragtes Subjekt, das „Bürgertum“ als Antisubjekt, die „klassenlose Gesellschaft“ wieder als Objekt-Aktant (als telos der Erzählung), der „materialistische Philosoph“ als Helfer des „Proletariats“ und der „idealistische Philosoph“ (oder „Ideologe“) als Widersacher des „Proletariats“ bzw. Helfer des „Bürgertums“, der die wahren Verhältnisse idealistisch verbrämt. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass das „Proletariat“, das an die Stelle der Hegelschen „Volksgeister“ tritt, zugleich die Funktion des Fokalisators (Genette: vgl. Kap. II 2) erfüllt, die bei Hegel dem „Weltgeist“ zufiel (und die es in Greimasʾ Strukturaler Semiotik nicht gibt). Ausgehend von seinen materialistischen Relevanzkriterien, betrachtet Marx die 48 A. J. Greimas, Sémantique structurale, Paris, Larousse, 1966, S. 181. <?page no="139"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 123 gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht des „Proletariats“, statt sich auf den Standpunkt des „Weltgeistes“ zu stellen. Wie in einem Bildungsroman, etwa in Thomas Manns Der Zauberberg, in dem der Held Hans Castorp zugleich Subjekt und Fokalisator ist, erfüllt bei Marx das „Proletariat“ die Funktion des Helden, aus dessen Sicht die Wirklichkeit und das Geschehen beobachtet und erzählt werden. Wer nach dem bisher Gesagten den Eindruck gewonnen hat, dass es sich bei der Anwendung erzähltheoretischer Begriffe auf philosophische und soziologische Diskurse eher um eine spielerische Transposition ins Sprachliche oder Literarische handelt als um eine Rekonstruktion mit Erkenntniswert, wird seine Ansicht möglicherweise revidieren, wenn sich herausstellt, dass viele Probleme der Marxschen Theorie dadurch entstehen, dass sie als Erzählung narrative Funktionen enthält, die Wirklichkeit in Fiktion, Facta in Ficta verwandeln. Von der nach-erzählten „Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft“ heißt es beispielsweise im Manifest der kommunistischen Partei, „sie bewegte sich in Klassengegensätzen“. 49 Wird hier nicht von nationalen, kulturellen 50 , religiösen und sprachlichen Gegensätzen abstrahiert, die zusammen mit Gegensätzen zwischen Ständen und Klassen die soziale Entwicklung beherrschten? Wird nicht auch von Prozessen wie Differenzierung, Arbeitsteilung und Bürokratisierung abstrahiert, die Soziologen wie Durkheim und Max Weber analysieren, um zu zeigen, wie sie zu treibenden Kräften der sozialen Evolution werden? Inwiefern entspricht das „Proletariat“ als kollektiver Aktant der empirischen Arbeiterklasse; inwiefern ist es eine von Marx, dem Erzähler, dem Romancier, geschaffene Fiktion? Die Darstellung der Erzählschemata, die Marx konstruiert, um die gesellschaftliche Entwicklung erzählend zu erklären, soll nicht nur das Funktionieren seiner Erzählung verständlich machen, sondern auch die Lücken und die Fiktionen dieser Erzählung zutage treten lassen. Es geht hier nicht darum, Marxʼ Theorie durch die Aufdeckung ihrer fiktionalen Aspekte zu diskreditieren, sondern darum, alle soziologischen Theorien als Erzählungen zu verstehen, um ihren Konstrukt-Charakter hervortreten zu lassen und um sie auf dieser Ebene als Konstruktionen - d.h. als Hypothesen über die Wirklichkeit - zu vergleichen. 49 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 546. 50 Zum kulturtheoretischen Defizit der Marxschen Theorie vgl. B. Ternes, Karl Marx. Eine Einführung, Konstanz, UVK-UTB, 2008, S. 245: „Marxens Begriff von den materiellen Bedingungen ist für heutige Verhältnisse zu eng, weil er in diesen materiellen Bedingungen nicht die kulturellen unterbrachte und damit ignorierte, dass eine im Umbruch befindliche Gesellschaft sich neue Herausforderungen auch kulturell aneignen muss.“ <?page no="140"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 124 Auf seinen Relevanzkriterien aufbauend, stellt Marx in der Deutschen Ideologie fest, dass seine Theorie der Gesellschaft „auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen [bleibt], erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideenformationen aus der Praxis“ 51 , und kommt zu dem Schluss, „daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte, auch der Religion, Philosophie und sonstiger Theorie ist“. 52 Die „Revolution“ fungiert hier zwar als abstrakter Aktant, der aber durch die Einführung konkreter kollektiver Aktanten, nämlich der antagonistischen sozialen Klassen, konkretisiert wird, die im Kontext der „Weltgeschichte“ 53 als Auftraggeberin des „Proletariats“ agieren. Berühmt wurde der Satz, der gleich am Anfang des Manifests der kommunistischen Partei dem Untertitel „Bourgeois und Proletarier“ folgt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ 54 Das in diesem Satz skizzierte Aktantenmodell ist in der Sozialphilosophie und der Soziologie keine Einzelerscheinung. Auch in Alexis de Tocquevilles L’Ancien régime et la révolution (1856) findet sich der folgende Satz, der Marxʼ Relevanzkriterien zu bestätigen scheint: „Zweifellos kann man mir Individuen entgegenhalten; ich aber spreche von Klassen, sie allein beherrschen die Geschichte.“ („On peut m’opposer sans doute des individus; je parle des classes, elles seules doivent occuper l’histoire.“) 55 Freilich unterscheiden sich Tocquevilles Klassen von den Marxschen u.a. dadurch, dass sie in mancher Hinsicht noch den feudalen Ständen ähneln und nicht primär ökonomisch definiert werden. 56 Dennoch zeigt seine Betonung des Klassencharakters der Gesellschaft, dass Marxʼ Rekonstruktion der Geschichte als Klassenkonflikt keine reine Fiktion ist, weil jemand wie Tocqueville, der Gesellschaft von einem ganz anderen Standort aus beobachtet, eine ähnliche Rekonstruktion vorschlägt - ohne Marxʼ Schlüsse zu ziehen. Sowohl in den Frühschriften als auch in Das Kapital konkretisiert Marx sein Aktantenmodell, indem er die beiden antagonistischen Klassen und ihre Positionen im sozio-ökonomischen Kontext betrachtet. In der folgenden Passage aus Das Kapital (Bd. II) steht der „Kapitalist“ metonymisch für die „Bourgeoisie“: „Das Klassenverhältnis zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter ist also schon vorhanden, schon vorausgesetzt, in dem Augenblick, wo beide in dem Akt G - A (A - G von seiten des Arbeiters) sich gegen- 51 K. Marx, „Die deutsche Ideologie (1845/ 46)“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 368. 52 Ibid. 53 Ibid., S. 365. 54 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 525. 55 A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution, Paris, Gallimard, 1952, S. 207. 56 Vgl. G. Poggi, Images of Society. Essays on the Sociological Theories of Tocqueville, Marx, and Durkheim, Stanford, Univ. Press, London, Oxford Univ. Press, 1972, S. 39. <?page no="141"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 125 übertreten. [A = Arbeit, G = Geld] Es ist Kauf und Verkauf, Geldverhältnis, aber ein Kauf und Verkauf, wo der Käufer als Kapitalist und der Verkäufer als Lohnarbeiter vorausgesetzt wird, und dies Verhältnis ist damit gegeben, daß die Bedingungen zur Verwirklichung der Arbeitskraft - Lebensmittel und Produktionsmittel - getrennt sind als fremdes Eigentum von dem Besitzer der Arbeitskraft.“ 57 Diese Entfremdung von seiner Arbeit und seinem Arbeitsprodukt überwindet der Arbeiter nicht durch einen geistigen oder gedanklichen Aneignungsprozess, der zur Versöhnung mit den herrschenden Zuständen führt (insofern ist der idealistische Philosoph sein Widersacher), sondern durch Praxis: durch revolutionäres Verhalten. Es geht bei Marx um „die Aufhebung der ganzen alten Gesellschaftsform und der Herrschaft überhaupt“. 58 Nach dem Stadium, das Marx als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet, sollte es also in der befreiten Gesellschaft keine Herrschaftsstrukturen mehr geben. Den Befreiungsprozess stellt sich Marx als geschichtsimmanente Entwicklung vor, nicht als Verwirklichung eines dieser Entwicklung äußerlichen Ideals. 59 In der Deutschen Ideologie ist er sehr um eine Distanzierung von „utopischen Sozialisten“ wie Owen und Saint-Simon bemüht, die ihre Diskurse auf einen Idealzustand ausgerichtet haben: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ 60 In dieser Passage fällt - trotz der Projektion der Erzählung auf die materialistische Ebene (Isotopie) - die Nähe zu Hegel auf: Wie Hegel, der Kant und Fichte vorwirft, dass sie die Wirklichkeit mit Imperativen, Postulaten und Idealvorstellungen konfrontieren, wirft Marx den utopischen Sozialisten vor, dass sie Ideal und Wirklichkeit einander unvermittelt gegenüberstellen. Er selbst plädiert - wie Hegel - für eine Dialektik der historischen Immanenz, in der das Neue aus den Widersprüchen hervorgeht, an denen das Alte leidet und zugrunde geht. In diesem Sinne soll das „Proletariat“, das in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft keine Klasse ist, weil es als unterdrückte und aus- 57 K. Marx, Das Kapital, Bd. II: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1970), 1976, S. 35. 58 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 360. 59 Insofern ist Marxʼ Kritik nicht einfach eine „moral critique“, wie Amy E. Wendling behauptet. Vgl. A. E. Wendling, Karl Marx on Technology and Alienation, New York, Palgrave Macmillan (2009), 2011, S. 86. 60 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, op. cit., S. 361. <?page no="142"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 126 gebeutete Mehrheit die Anliegen der gesamten Menschheit darstellt, in der Revolution die Klassengesellschaft als Herrschaftssystem überwinden: „Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf (…).“ 61 Diese Argumentation leuchtet nicht auf Anhieb ein, zumal Marx das „Proletariat“ immer wieder als „Klasse“ bezeichnet 62 und die ganze Geschichte als „Geschichte von Klassenkämpfen“ auffasst. Warum sollte eine Klasse nicht als solche einer anderen Klasse gegenüberstehen? Marxʼ Postulat, dass das „Proletariat“ als Subjekt der Geschichte die „ganze Gesellschaft“ oder gar die Menschheit vertritt, hat keine empirische Basis und ist noch am ehesten im Zusammenhang mit Hegels historischer Dialektik zu verstehen, die eine Bewegung des „Weltgeistes“ vom Unmittelbaren und Besonderen zum Allgemeinen beschreibt. Als Subjekt-Aktant erscheint das „Proletariat“ hier als ein Erbe des „Weltgeistes“ und des „Volksgeistes“. Am deutlichsten tritt der hegelianische Ursprung der Marxschen Theorie in dem Gedanken zutage, dass die gesellschaftskritische Philosophie in der letzten historischen Phase vom „Proletariat“ verwirklicht wird: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen.“ 63 Es lohnt sich, diesen Satz näher zu betrachten. Zunächst fällt auf, dass das „Proletariat“ im Rahmen des Aktantenmodells mit einer Modalität des Wissens (savoir, Greimas) ausgestattet wird, die bewirkt, dass aus einer passiven „Klasse an sich“ eine „Klasse für sich“, d.h. eine Klasse mit revolutionärem Bewusstsein, wird. Diese Modalität des Wissens ist die Voraussetzung für die Modalitäten des „Wollens“ und „Könnens“ (vouloir, pouvoir, Greimas), die beide das revolutionäre Handeln ermöglichen. Nur eine Klasse, die sich ihrer Stellung in der Gesellschaft, ihrer Unterdrückung durch die Bourgeoisie, aber auch ihrer Stellung im Produktionsprozess und ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit bewusst wird, ist in der Lage, die Revolution durchzuführen. 64 61 Ibid., S. 375. 62 Vgl. K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 513 und K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 8. 63 Ibid., S. 223. 64 Zu Marxʾ Behauptung, das „Proletariat“ finde in der Philosophie seine „geistigen Waffen“, bemerkt der Austromarxist Karl Renner: „Ich bezweifle, daß in der ganzen ruhmvollen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie jemals ein Promill der Arbeiter, der sozialdemokratischen Wählerschaft, wirklich nur einen schmalen Katechismus Marxscher Lehren aufgenommen und verdaut hat.“ (K. Renner, „Ist der Marxismus Ideologie oder Wissenschaft! “, in: G. Mozetič [Hrsg.], Austromarxistische Positionen, Wien- <?page no="143"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 127 Ferner fällt auf, dass in der zitierten Passage die Philosophie zur Helferin und der gesellschaftskritische Philosoph zum Helfer (adjuvant, Greimas) der revolutionären Klasse werden. Auch hier werden Parallelen zu Hegels Geschichtsphilosophie erkennbar: Ähnlich wie der Hegelsche Philosoph zum Helfer des „Weltgeistes“ (bei Marx: der „Bourgeoisie“, des Antisubjekts) wurde, indem er der Öffentlichkeit den vom „Weltgeist“ gesteuerten historischen Prozess erläuterte, wird Marx als Philosoph zum Helfer des „Proletariats“, indem er ihm seine gesellschaftliche Lage und seine historische Mission erläutert. Am klarsten kommt die Helfer-Rolle wohl am Ende des Manifests zum Ausdruck, das mit dem berühmten Aufruf endet: „Proletarier aller Länder vereinigt euch! “ Hier wird deutlich, warum kritische Gesellschaftswissenschaft nicht auf Werturteile verzichten kann: Wo die Frage nach einer besseren, menschlicheren Welt im Vordergrund steht, dort kann Werturteilsfreiheit oder Wertfreiheit im Sinne von Max Weber nicht das entscheidende Kriterium sein; dort tritt die Theorie als Erbin einer revolutionären, anarchistischen Romantik auf, die in Großbritannien Shelley, Schüler des Anarchisten Goodwin, vertrat. In seinem bekannten Gedicht The Masks of Anarchy (entstanden: 1819) reagiert er auf die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes von Manchester durch die Regierung von Castlereagh: „I met Murder on the way - / He had a mask like Castlereagh.“ Das Gedicht endet mit einem Aufruf, der den des Manifests vorwegnimmt: Rise like lions after slumber In unvanquishable number - Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you - Ye are many - they are few. 65 Die von Marx beschriebene Situation des britischen Proletariats wird hier insofern wiedergegeben, als Marx davon ausgeht, dass sich die Zahl der Kapitalisten durch Kapitalkonzentration in Großkonzernen zusehends verringert, während die Zahl der Arbeitslosen stetig wächst, bis die Mehrheit der Ausgebeuteten die Minderheit der Ausbeuter beseitigt. Es fragt sich allerdings, ob die gesellschaftliche Entwicklung, die sehr vielschichtig ist und gegenläufige Tendenzen kennt, weil sowohl geplante als auch unüberlegte Handlungen, vorhergesehene und unvorhergesehene Ereignisse und Pro- Köln-Graz, Böhlau, 1983, S. 84.) Dies scheint der Unterschied zwischen der Arbeiterklasse als empirischer Größe und dem „Proletariat“ in Marxʾ Aktantenmodell zu sein. 65 P. B. Shelley, „The Masks of Anarchy“, in: ders., The Major Works (Hrsg. Z. Leader, M. O’Neill), Oxford, Univ. Press, 2003, S. 411. <?page no="144"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 128 zesse aller Art ineinander greifen, von einem dualistischen Aktantenmodell, wie es Marx entwirft, adäquat erfasst werden kann. Möglicherweise ist der berühmte Satz aus dem Manifest, der die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Klassenkämpfen darstellt, eine Vereinfachung, weil er wesentliche Elemente der gesellschaftlichen Entwicklung ausblendet, indem er diese Entwicklung tendenziell auf den Konflikt zwischen nur zwei Klassen - Bürgertum und Proletariat - reduziert. Nicht nur Prozesse wie soziale Differenzierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Bürokratisierung bleiben unterbelichtet, sondern auch die Rollen anderer Klassen: etwa des Adels, der Bauern und des „Lumpenproletariats“ (Marx). Nicht nur im Großbritannien des 19. Jahrhunderts und im Bismarck- Reich, auch noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs spielte der Adel - etwa die preußischen Junker - eine nicht zu unterschätzende politische Rolle sowohl in der Diplomatie als auch beim Militär. In seiner ausführlichen Analyse der Machtergreifung Louis Bonapartes (später Napoleon III) in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852/ 69) unterstreicht Marx selbst die Rolle der Parzellenbauern, die ihren Interessen nach zwar eine Klasse sind, aufgrund ihrer Isolierung jedoch nicht von einem Klassenbewusstsein zusammengehalten werden (jede Bauernfamilie wirtschaftet nahezu autark und lebt getrennt von den anderen Bauernfamilien). Sie sind aufgrund ihrer sozialen Lage eine „Klasse an sich“, ohne eine sich dieser Lage bewusste „Klasse für sich“ zu sein. Durch ihr passives Einverständnis ermöglichen diese Bauern den Aufstieg Louis Bonapartes. Schließlich sieht sich Marx jedoch gezwungen, seine Erklärung zu nuancieren, indem er konservative von revolutionären Bauern unterscheidet und dadurch die „Bauern“ als kollektiven Aktanten in Frage stellt: „Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauer (…).“ 66 Spätestens hier kommt der Gedanke auf, dass es neben dem revolutionären „Proletariat“ auch ein konservatives geben könnte - wie sich später im Italien der 1920er Jahre und im Deutschland der 30er Jahre gezeigt hat, als ein Teil der Arbeiterschaft die Faschisten und die Nationalsozialisten wählte. Was Marx über das mit negativen Konnotationen befrachtete „Lumpenproletariat“ zu sagen hat, gilt möglicherweise auch für das „Proletariat“: „Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach 66 K. Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-Engels, Studienausgabe IV: Geschichte und Politik 2, Frankfurt, Fischer (1966), 1974, S. 114. <?page no="145"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 129 wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ 67 Angesichts der Tatsache, dass Marx auch die „Mittelstände“, die „kleinen Industriellen“, die „kleinen Kaufleute“, die „Handwerker“, die „Bauern“ einerseits als „reaktionär“ bezeichnet, weil sie befürchten müssen, vom Kapitalismus der „Bourgeoisie“ zugrunde gerichtet zu werden, sie andererseits als „revolutionär“ etikettiert, nämlich „im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat“ 68 , stellt sich abermals die Frage nach der Anwendbarkeit seines Aktantenmodells auf die vielschichtige gesellschaftliche Entwicklung. Was genau erklärt die Gegenüberstellung zweier kollektiver Aktanten wie „Proletariat“ und „Bourgeoisie“? Sie erklärt nicht die Machtergreifung Louis Bonapartes, weil diese, wie Marx selbst feststellt, (auch) von der „konservativen“ Bauernschaft ermöglicht wurde. Sie erklärt nicht die entscheidende Rolle der Bauern während der russischen Revolution von 1917. Sie erklärt auch nicht das zwiespältige - teils revolutionäre, teils reaktionäre - Verhalten der italienischen und deutschen Arbeiterschaft während der Entstehung des Faschismus und des Nationalsozialismus. Marxʼ Bemerkungen zum „Lumpenproletariat“ lassen vermuten, dass die von ihm prognostizierte „Verelendung“ der Arbeiterklasse diese zumindest teilweise in ein unberechenbares, manipulierbares und „käufliches Lumpenproletariat“ verwandeln könnte. Allerdings erfasst man das Marxsche Modell nicht vollständig, solange man die Beziehungen zwischen den Aktanten nicht auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse als Basis bezieht, die Marx in Das Kapital ausführlich analysiert. Stärker als in seinen Frühschriften betont er dort die Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, ohne jedoch den Klassenkonflikt und das aus dem Jugendwerk bekannte Aktantenschema zu vernachlässigen: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ 69 In diesem Satz tritt nicht nur der prozesshafte Charakter der sozialen Evolution in den Vordergrund, sondern diese wird auch als „naturgeschichtlicher Prozeß“ aufgefasst, der bestimmten Gesetzen gehorcht. Zusätzlich wird die Rolle des Einzelnen, des Individuums, diesem Prozess untergeordnet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Klassen als kollektive 67 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 536-537. 68 Ibid., S. 536. 69 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 3. <?page no="146"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 130 Aktanten der Geschichte deren Bewegung passiv erleiden. Sie erscheinen in Das Kapital allerdings als in historische Prozesse eingebunden, so dass die „Geschichte“ dort zur allmächtigen Auftraggeberin wird, deren kollektive und individuelle Aktanten und Akteure nur über wenig Spielraum verfügen. So ist es zu erklären, dass Louis Althusser in Für Marx (1965) und Das Kapital lesen (1965) Marxʼ „Wissenschaft von der Entwicklung gesellschaftlicher Formationen“ 70 mit Galileo Galileis Physik vergleichen konnte und eine Interpretation von Das Kapital vorschlug, die sozio-ökonomische Prozesse in den Vordergrund stellte und das Handeln der Klassen sowie anderer kollektiver Aktanten im Hintergrund verschwinden ließ. In einer später erschienenen selbstkritischen Publikation, die zugleich als Replik auf zahlreiche Kritiken konzipiert war, gab er zu, Klassenbegriff und kollektives Handeln vernachlässigt zu haben. 71 Diese Überbetonung des Prozess-Charakters von Das Kapital hat eine Vorgeschichte im Austromarxismus. 72 Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Marx in Das Kapital eine Wechselbeziehung zwischen historischem Prozess und kollektiver Handlung vorschwebte. Während er im 12. Kapitel des ersten Bandes („Teilung der Arbeit und Manufaktur“) die Entmenschlichung des Arbeiters durch den arbeitsteiligen Prozess beschreibt, der „den Arbeiter zum Teilarbeiter verstümmelt“ 73 , schildert er im 23. Kapitel, in dem er „Das allgemeine Gesetz der Kapitalakkumulation“ untersucht, den Nexus von Akkumulation 74 und Klassenlage: „Es [das Gesetz] bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“ 75 Sie produziert es durch die unfreiwillige Schaffung von Mehrwert, der dadurch zustande kommt, dass der Arbeiter zusätzlich zu seinem Existenzbedarf einen Überschuss produziert, den sich der Kapitalist als Unternehmer und Eigentümer der Produktionsmittel aneignet - wodurch Kapitalakkumulation ermöglicht wird. Der Akkumulationsprozess des Kapitals führt 70 L. Althusser, Für Marx, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 125. 71 L. Althusser, Eléments d’autocritique, Paris, Hachette, 1974, S. 93. 72 Vgl. G. Mozetič, Die Gesellschaftstheorie des Austromarxismus. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen, Methodologie und soziologisches Programm, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1987, S. 48-53. 73 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 322. 74 Vgl. R. Schmiede, Grundprobleme der Marx’schen Akkumulationstheorie, Frankfurt, Athenäum Verlag, 1973, S. 117. 75 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 595. <?page no="147"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 131 zur Verelendung der Arbeiterschaft und zu deren Bewusstwerdung: zu deren Verwandlung in eine „Klasse für sich“, die ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt. Den Übergang vom Prozess zur Handlung stellt anschaulich Wolfgang Schluchter dar, wenn er den Kern der Marxschen Theorie in fünf Punkten zusammenfasst, die hier gerafft wiedergegeben werden: „1. Die ständige Revolutionierung der Produktivkräfte“ 2. löst einen „Zwang zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals aus“ und hat 3. „die Entqualifizierung der Arbeitskraft und die wachsende Verelendung immer größerer Teile der Bevölkerung“ sowie 4. die „Verschärfung der Klassengegensätze und die Erosion von Zwischen- und Übergangsklassen“ zur Folge. 5. Die letzte Phase dieser Entwicklung ist „der wachsende Organisationsgrad der Arbeiterklasse und, damit verbunden, ihre wachsende Bereitschaft zur Revolution“. 76 Diese Darstellung ist für die soziologische Theorie von besonderem Interesse, weil sie erkennen lässt, wie Prozess und Handlung ineinander greifen: wie aus einem (1) technisch-wirtschaftlichen Prozess zwangsläufig (2) ein wirtschaftlicher Prozess hervorgeht, der (3) weitreichende soziale Konsequenzen (Verelendung) hat, die wiederum (4) Antagonismen und Konflikte zeitigen, zu deren Folgen (5) Unruhen, Revolutionen oder Bürgerkriege gehören. Die allgemein-theoretische Frage lautet: wie gesellschaftliche Entwicklung dargestellt werden soll, ohne dass das Prozesshafte zum Determinismus gerinnt und ohne dass die Betonung der Handlung ein Abgleiten ins Voluntaristische bewirkt. 4. Ein neuer Fokalisator: Das „Proletariat“ Wenn Marx in „Das Elend der Philosophie“ die Sozialisten und Kommunisten als „Theoretiker der Klasse des Proletariats“ 77 , d.h. als deren Helfer (adjuvants, Greimas) auffasst, so nimmt er implizit die Position eines theoretischen Erzählers ein, der die Geschichte des „Proletariats“ aus dessen Sicht erzählt: d.h. aus der Sicht des Subjekt-Aktanten. Dadurch wird das „Proletariat“ zu seinem Fokalisator, so wie Tonio Kröger und Aschenbach (in Tod in Venedig) zu Fokalisatoren des Schriftstellers Thomas Mann und seiner Erzähler werden. Freilich bezieht sich Marx auf eine historische Wirklichkeit und auf wirkliche Menschen mit ihren Einrichtungen, Handlungen und Kämpfen, nicht auf eine von ihm konstruierte fiktionale Welt. Dennoch hat auch er anhand bestimmter Relevanzkriterien und Erzählschemata seine soziale Welt konstruiert, in der nicht etwa die Arbeits- 76 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 100. 77 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 513. <?page no="148"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 132 teilung im Sinne von Durkheim, sondern der wirtschaftlich bedingte Klassenkampf als die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint. Zu diesen Erzählschemata als Konstruktionen gehört auch die Fokussierung, die in der Erzähltheorie zwei wesentliche Aspekte aufweist: innere und äußere Fokussierung. Während in einer Erzählung mit innerer Fokussierung der Erzähler die Gedanken und Regungen des Helden (der Protagonisten) kennt, ist ihm in einer Erzählung mit äußerer Fokussierung die Gedanken- und Gefühlswelt des Helden nicht zugänglich. Genette spricht in diesem Zusammenhang vom „betonten Nichtwissen des Erzählers im Hinblick auf die eigentlichen Gedanken des Helden“. 78 Das Besondere an der von Marx konstruierten Erzählstruktur besteht darin, dass der Erzähler sowohl in den Frühschriften als auch in Das Kapital zwischen äußerer und innerer Fokussierung oszilliert. Obwohl die verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sachverhalte stets aus der Sicht des „Proletariats“ oder des „Arbeiters“ dargestellt werden, wird die in Marxʼ Diskurs vorherrschende äußere Fokussierung nicht durchgehalten. Sie wird vom folgenden Satz veranschaulicht, der die Arbeitsteilung als Ausbeutung zum Gegenstand hat: „Was die Teilarbeiter verlieren, konzentriert sich ihnen gegenüber im Kapital.“ 79 Marx beschreibt hier im Rahmen des von ihm als relevant postulierten Gegensatzes von „Arbeit“ und „Kapital“ bestimmte Vorgänge aus der Sicht der Ausgebeuteten, ohne deren Ansichten oder Gedanken wiedergeben zu wollen. Diese „Außenansicht“ herrscht auch in dem folgenden Satz aus dem Kommunistischen Manifest vor: „Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ 80 In diesem Satz wird die Schwächung des Kollektivbewusstseins als Klassenbewusstsein durch das marktbedingte, individualisierende Prinzip der Konkurrenz beobachtet - und zwar ohne Kenntnis der Ansichten und Gedankengänge des Aktanten. Zu einem Perspektivenwechsel kommt es in dem folgenden Satz aus Das Kapital, in dem die geistige Entwicklung des Arbeiters nachgezeichnet wird, der sich zunächst als „Maschinenstürmer“ gegen die Maschine kehrt, die er für den Verlust seines Arbeitsplatzes verantwortlich macht: „Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploi- 78 G. Genette, Figures III, Paris, Seuil, 1972, S. 210. 79 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 322. 80 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften, op. cit., S. 535. <?page no="149"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 133 tationsform übertragen lernt.“ 81 Hier wird - wie in einem Bildungsroman - eine „Innenansicht“ geboten nach dem Motto: „Zunächst begriff er nicht… später lernte er zu unterscheiden.“ Erzählt wird wiederum aus der Sicht des Helfers, der es als seine Aufgabe ansieht, durch Erläuterungen des Gesamtzusammenhangs das revolutionäre Bewusstsein des „Proletariats“ als Modalität des „Wissens“ und „Könnens“ zu wecken. Der Übergang zur inneren Fokussierung findet auch im folgenden Satz aus der Deutschen Ideologie statt, in dem von einer Klasse die Rede ist, „die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht (…)“. 82 Hier drückt der Helfer des Proletariats nicht die Hoffnung aus, dass die Arbeiterklasse ein revolutionäres Bewusstsein entwickelt, indem sie zur „Klasse an und für sich“ wird, sondern orientiert sich selbst am Bewusstsein des „Proletariats“, dessen Gedanken, Ansichten und Affekte er zu kennen scheint - wie der realistische Romancier die inneren Regungen seines Helden. Es ist jedoch keineswegs sicher, dass die Arbeiterklasse als homogener, kollektiver Aktant jemals dieses revolutionäre, sie einigende Bewusstsein hatte. Im Übergang von der äußeren zur inneren Fokussierung verwandelt sich das „Proletariat“ von einem kollektiven in einen mythischen Aktanten. In den Frühschriften wird das revolutionäre Bewusstsein dem „Proletariat“ aufgrund seiner Klassenlage im Kapitalismus von Marx zugerechnet. Diese Zurechnung erfolgt in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ nach altbewährter Hegelscher Manier. Die Rolle des „Weltgeistes“, der zu Hegels Fokalisator wurde, fällt dort dem „Proletariat“ zu. Es wird als Subjekt der Geschichte mit der Aufgabe betraut, den menschlichen Emanzipationsprozess durch die Verwirklichung der Philosophie zu vollenden: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ 83 Diese metaphorisch postulierte Symbiose zwischen der gesellschaftskritischen Philosophie und dem „Proletariat“ ist eine Fortsetzung der Hegelschen Dialektik mit scheinbar materialistischen Mitteln und hat mit der materiellen Existenz der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert wenig zu tun. Wesentlich vorsichtiger formuliert der reife Marx in seinem Nachwort zur zweiten Auflage von Das Kapital (Bd. I) im Jahre 1873. Zur Kritik der „bürgerlichen Ökonomie“ heißt es dort: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschicht- 81 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 386. 82 K. Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 366. 83 Ibid., S. 224. <?page no="150"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 134 licher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat.“ 84 Die Erzählstruktur („geschichtlicher Beruf“, „Umwälzung“) bleibt erhalten und auch das Symbiose-Postulat, das die revolutionäre Praxis mit der Verwirklichung der Philosophie als „Kritik“ der „bürgerlichen Ökonomie“ betraut. Die Abweichung von der Jugendschrift fällt mit dem Satzanfang zusammen: „Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt…“ Der apodiktische, hegelianische Sprachduktus der frühen Jahre weicht hier einer vorsichtig formulierten Hypothese. Tatsächlich ist das von Marx konstruierte „Proletariat“ ein mythischer Aktant, eine Fiktion, die sich aus folgenden Gründen nicht in der empirischen Wirklichkeit des 19. und des 20. Jahrhunderts bewähren konnte: 1. Die Arbeiterklasse war nie ein homogener kollektiver Aktant, sondern setzte sich aus verschiedenen sozialen Gruppierungen zusammen, die mit verschiedenen Forderungen und Programmen auftraten. 2. Nicht alle waren „revolutionär“ im Sinne von Marx, sondern versuchten, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und ihre Integration in die bürgerliche Gesellschaft (in den Mittelstand) 85 zu erreichen. 3. Die „Fabrikantengier“ 86 , die Marx z.T. für die „Verelendung des Proletariats“ verantwortlich macht, wurde vom Staat, von der Justiz und der Arbeiterbewegung (später von den Gewerkschaften und dem collective bargaining) gebremst: wie Marx selbst in Das Kapital richtig bemerkt. 87 Kurzum, die Entwicklung bewegte sich nicht linear auf die von Marx ersehnte Revolution zu, sondern erreichte auf Umwegen die Integration der Arbeiterklasse in die bürgerlichkapitalistische Ordnung. 88 Ihre Integration als Verbürgerlichung ist mit der Theorie der proletarischen Verelendung unvereinbar. Dieser Entwicklung trägt auch der junge Georg Lukács in seiner Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein aus dem Jahr 1923 nicht Rechnung, wenn er voller Zuversicht in hegelianisch-marxistischem Sprachduktus behauptet: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere; liegt doch in ihr methodisch die Auflösung jener Probleme, um die die größten Denker der bürgerlichen Epoche vergeblich gerungen haben, sachlich die 84 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 8. 85 Vgl. M. Young, P. Willmott, Family and Kinship in East London (1957), Harmondsworth, Pelican, 1969, Kap. XI: „Movement between classes“. 86 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 251. 87 Ibid., S. 367. 88 Vgl. A. Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Köln-Wien, Europäische Verlagsanstalt, 1980. <?page no="151"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 135 adäquate geschichtliche Erkenntnis des Kapitalismus, die für das bürgerliche Denken unerreichbar bleiben muß.“ 89 Diese Passage ist für die Persistenz der Marxschen und marxistischen Erzählung symptomatisch, weil sie zeigt, wie sehr auch Lukács noch im Rahmen dieser Erzählstruktur denkt. Wie Marx rechnet er dem „Proletariat“ ein bestimmtes wissenschaftlich-revolutionäres Bewusstsein zu, das zum Bewusstsein eines weitgehend fiktiven Fokalisators wird, den der Theoretiker-Romancier Lukács ins Leben ruft, um sich seinen Standpunkt zu eigen machen zu können. Anders ausgedrückt: Er projiziert seinen marxistischen Standpunkt in das Bewusstsein eines scheinbar homogenen, mit fantastischen Modalitäten ausgestatteten „Proletariats“, das als mythischer Aktant der empirischen Arbeiterklasse keineswegs entspricht. Diese ist heterogen und durchaus nicht abgeneigt, verschiedenen politischen Bewegungen zu folgen: kommunistischen, sozialdemokratischen, nationalistischen, faschistischen und nationalsozialistischen. Wesentlich später, Ende der 1960er Jahre, beobachtet der Marxist und Lukács-Schüler Lucien Goldmann die Integration des vermeintlich revolutionären „Proletariats“ in die spätkapitalistische Gesellschaft und versucht, es durch einen neuen Fokalisator als potenziell revolutionären oder radikal-reformistischen kollektiven Aktanten zu ersetzten. In Übereinstimmung mit André Gorz, Serge Mallet u.a. bezeichnet er diesen neuen Aktanten als „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“): „die Facharbeiter, die Techniker, die Angestellten der Mittelschicht“. 90 Dieser vom Neomarxisten konstruierte Aktant ist zwar weniger mythisch als Marx’ und Lukács’ „Proletariat“, aber schon Goldmanns Aufzählung dreier Gruppen lässt vermuten, dass er zu heterogen ist, um sich als revolutionärerer Aktant zu konstituieren und die von Goldmann geforderte Arbeiterselbstverwaltung (als Objekt-Aktanten der Erzählung) durchzusetzen. Dennoch verharrt auch Goldmann noch in der von Marx konstruierten Erzählung: „Wir wollen die Revolution, man muss sie durchführen (…).“ 91 Und es geht abermals darum, den neuen Fokalisator als „Subjekt der Umwälzung“ („sujet de la transformation“) zu finden, um „von seinem Standort aus zu sprechen“ („pour essayer de parler dans sa perspective“). 92 So wird noch in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die geschichtsimmanente Dialektik 93 Hegels und Marx’ fortgesetzt, und es wird 89 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 288. 90 L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne. Pour une sociologie de la totalité, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 167. 91 Ibid., S. 181. 92 Ibid. 93 Vgl. Vf., Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Editions Universitaires, 1973, S. 35. <?page no="152"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 136 deutlich, wie schwierig es ist, aus einer vorkonstruierten ideologisch-theoretischen Erzählstruktur, die sich zeitweise durchgesetzt hat, auszubrechen. Dieser Erzählstruktur wohnt ein weiteres Problem inne, das selten zur Sprache kommt: die von Marx - oft implizit - postulierte problematische Analogie zwischen revolutionärem Bürgertum (dem Bürgertum von 1789) und revolutionärem Proletariat. Vor allem im Bereich der Modalitäten oder „Kompetenzen“ erweist sich diese Analogie als problematisch, weil das Bürgertum schon im 17. Jahrhundert Wirtschaft, Handel, Finanzen, Wissenschaft und Kunst beherrschte, während das Proletariat des 19. Jahrhunderts sehr weit davon entfernt war, diese hegemoniale Funktion des frühen Bürgertums zu erfüllen und dadurch die Nachfolge der bürgerlichen Klasse anzutreten. Tocqueville zeigt 94 , dass sich eine wirtschaftlich-politische Hegemonie des Bürgertums lange vor 1789 abzeichnete: eine Art stiller Revolution vor der Revolution. Das Proletariat des 19. Jahrhunderts war hingegen eine unterworfene Klasse, die zeitweise zwar die soziale Mehrheit ausmachte, in Verwaltung, Politik, Finanzwelt und Wissenschaft aber keinerlei Bedeutung hatte. Daher ist das Marxsche Modell, das dem „Bürgertum“ das „Proletariat“ als ebenbürtigen oder gar überlegenen Aktanten gegenüberstellt, irreführend. Es verdeckt die historische Asymmetrie, die das Verhältnis der beiden Klassen prägte. Wie sehr Marx in seiner Erzählung und dem dualistisch strukturierten Modell dachte und lebte, wie sehr er als Erzähler und Helfer auf die Erlösung durch seinen Helden und Fokalisator hoffte, lässt ein Brief an Friedrich Engels aus dem Jahr 1857 erkennen: „Ich arbeite wie wahnsinnig die Nächte hindurch daran, meine ökonomischen Studien zusammenzukriegen, so daß ich mindestens die Grundzüge klar habe, bevor die Flut kommt.“ 95 Die Flut kam nicht. Aber das Ausbleiben der prophezeiten Weltrevolution, deren Erwartung von den Hoffnungen des jüdisch-christlichen Messianismus nicht zu trennen ist, spricht nicht gegen Marx: Sein Glaube an sein „Proletariat“, an seinen Helden, ist mit Nietzsches Glauben an den „Übermenschen“, mit Max Webers Glauben an die Rolle des „charismatischen Individuums“ und mit Alain Touraines zeitgenössischem Plädoyer für die „soziale Bewegung“ vergleichbar. Dieser Glaube als wissenschaftliches Engagement im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I und Kap. XIII) hat Marx dazu befähigt, mit erstaunlicher Weitsicht die destruktiven Mechanismen und Schwächen des Kapitalismus zu beschreiben und zu zeigen, wie Geldwirtschaft als Vermittlung durch den Tauschwert Entfremdung und Ver- 94 Vgl. A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution, op. cit., S. 90. 95 K. Marx, zitiert nach: R. C. Tucker, Karl Marx, op. cit., S. 299. <?page no="153"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 137 dinglichung zeitigt. Zum Abschluss sollen daher das theoretische Potenzial und die Aktualität der Marxschen Kritik hervorgehoben werden. 5. Das theoretische Potenzial von Marx Soziologie Das theoretische Potenzial des Marxschen Werks sollte im Bereich der Ge sellschaftskritik gesucht werden: nicht im Bereich der revolutionären Prophezeiung und schon gar nicht in den über das ganze Werk verstreuten Bemerkungen zur „sozialistischen Gesellschaft“. Was Marx zu dieser neuen Gesellschaftsform sagt, etwa dass sie die entfremdende Arbeitsteilung überwinden wird, läuft der Entwicklung aller realen Gesellschaften der Moderne zuwider. Obwohl in so verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft und Wissenschaft sporadisch versucht wird, die Auswirkungen von Arbeitsteilung und Spezialisierung durch fachübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu mildern, nimmt die Arbeitsteilung in allen zeitgenössischen Gesellschaften eher zu als ab: Davon zeugen u.a. Nuklearmedizin, Kristallographie und Computerlinguistik als hochspezialisierte Fächer. Was Marx zur „Diktatur des Proletariats“ als Vorstufe zu Sozialismus und Kommunismus zu sagen hat, zeigt lediglich, wie leicht es ist, im Strom sprachlicher Metaphorik, Probleme zu verdecken, die sich in der Wirklichkeit als schwer lösbar, wenn nicht gar als unlösbar erweisen: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ 96 Wie so oft, steht das Wesentliche in einem scheinbar harmlosen Einschub, der den Staat mit dem „organisierten Proletariat“ gleichsetzt. Rhetorisch können die beiden kollektiven, tendenziell mythischen Aktanten „Staat“ und „Proletariat“ problemlos identifiziert werden (wie später bei Lenin); in der Praxis des „realen Sozialismus“ hat sich jedoch gezeigt, dass die revolutionäre Klasse zu keinem Zeitpunkt den Staat unter Kontrolle hatte (sicherlich nicht nach der Unterdrückung der Arbeiter- und Matrosenrevolte von Kronstadt) 97 , sondern dass der Staat zu einem Instrument der Partei (genauer: ihres Politbüros oder Präsidiums) wurde, die in der Sowjetunion das Land im Namen des „Proletariats“ verwaltete. Marx setzt sich allzu leichtfertig über soziale Faktoren wie Organisation, Büro- 96 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 547. 97 Vgl. „Die Kronstädter Kommune“, in: G. Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1967, S. 67-73. <?page no="154"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 138 kratisierung oder das Machtstreben von Eliten hinweg und ebnet dadurch dem Leninismus den Weg. 98 Auch sein dualistisches Aktantenmodell, das, wie sich gezeigt hat, nur im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Prozessen zu verstehen ist, ist eine - narrative - Vereinfachung der sozialen Entwicklung. Zu Recht beanstandet Richard Münch in einer kritischen Würdigung von Marxʼ Beitrag zur Soziologie die Reduktion auf wirtschaftliche Faktoren wie die „Enteignung der Bauern und [die] Kommerzialisierung der Landwirtschaft in England“. 99 Sein Einwand gründet zum Teil auf der Bedeutung des religiösen Faktors für das wirtschaftliche Handeln, die Max Weber hervorhebt: „Ohne die Bildung der starken Nationalstaaten in Europa, ohne die Unterstützung des Handels und der Industrie durch ein System des Wirtschaftsrechts, ohne die Einführung der Arbeitsethik durch den Puritanismus hätte sich kein Kapitalismus in Europa entwickeln können.“ 100 Dies ist zweifellos richtig; Marx könnte allerdings erwidern, dass es ihm nicht primär um die Entstehung des Kapitalismus in Europa geht, sondern um die Kritik des Kapitalismus und der Klassengesellschaft. Tatsächlich ist im Bereich der Kritik das theoretische Potenzial seines Werks angelegt. Sowohl in den Frühschriften als auch in späteren Werken aus den 1850er Jahren wie Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie untersucht Marx die Auswirkungen der Marktgesetze und der Vermittlung durch den Tauschwert (den Wert, den eine Sache als Tauschobjekt auf dem Markt besitzt) auf die menschlichen Beziehungen. Das Geld als Tauschwert bewirkt zunächst, dass auf dem Markt Ungleiches getauscht wird, dass Gegenstände unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Qualität gegeneinander „aufgerechnet“ werden, sobald das Geld zwischen ihnen vermittelt (das Kompensationsgeschäft ist ein Beispiel). Der Tauschwert ist allen Gebrauchswerten gegenüber indifferent, weil er durch das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage zustande kommt: Meine Wohnung mag einen sehr hohen Gebrauchswert 101 für mich gehabt haben, verliert aber an Tauschwert, sobald ein Überangebot an Wohnungen entsteht. Dies gilt auch für menschliche Arbeit: Ein Feinmechaniker, 98 Vgl. E. Heinrich, „Marxʾ Leninismus“, in: H.-G. Backhaus et al. (Hrsg.), Beiträge zur Marxschen Theorie 4, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 129. 99 R. Münch, Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2008, S. 128. 100 Ibid. 101 Zum Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert vgl. W. F. Haug, Vorlesungen zur Einführung ins „Kapital“, Köln, Pahl-Rugenstein, 1974, S. 48: „(…) Der Begriff Gebrauchswert ist dann ein Beziehungsbegriff, der am nützlichen Ding eine bestimmte Art von Beziehung zwischen Mensch und Natur faßt.“ Und: „In der von uns untersuchten Gesellschaftsform ist der Gebrauchswert zugleich Träger des Tauschwerts (…).“ (S. 51) <?page no="155"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 139 der sich auf die Reparatur von Schreibmaschinen spezialisiert hat, stellt fest, dass seinen bisher geschätzten Fähigkeiten auf dem Markt kein Tauschwert mehr entspricht, sobald der Computer die Schreibmaschine ersetzt. Dazu bemerkt Marx: „Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt.“ 102 Es wechselt, weil Angebot und Nachfrage stark in Zeit und Raum variieren. Menschen neigen dazu, den Gebrauchswert als Produkt menschlicher Arbeit zu übersehen und Waren vorwiegend nach ihrem Tauschwert zu beurteilen, der sich als „Fetisch“ verselbständigt, weil Waren als Verhältnisse zwischen Sachen und nicht als Verhältnisse zwischen Menschen und ihren Tätigkeiten erlebt werden: „Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und daher von der Warenproduktion unzertrennlich sind.“ 103 Menschliche Produkte werden einander über den Tauschwert gleichgesetzt, aber von den Menschen ausschließlich als Waren, als „Dinge“ wahrgenommen, d.h. verdinglicht. Marx kommentiert mit dem berühmt gewordenen Satz: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ 104 Was mit der Arbeit geschieht, kann auch mit dem Arbeiter als Arbeitskraft geschehen, wenn er wie sein Arbeitsprodukt auf dem Markt verdinglicht wird. Dadurch können Wiedersprüche und Konflikte in einer Gesellschaft entstehen: Vertreter der Wirtschaft importieren „Arbeitskräfte“ aus aller Herren Länder, um ihre Produktivität aufrechtzuhalten oder zu steigern; es treffen aber Menschen aus verschiedenen Kulturbereichen ein, die sich in ihrer neuen Umgebung fremd fühlen und als Fremde behandelt werden. Die Reduktion des Menschen auf seine „Arbeitskraft“ zeitigt Entfremdung: nicht nur von seiner Arbeit, deren Produkt er sich nicht aneignen kann, sondern auch von seiner sozialen Umwelt, die er kaum versteht. 105 In „Nationalökonomie und Philosophie“ notiert Marx: „Arbeiter selbst ein Kapital, eine Ware.“ 106 Seine Theorie des Warenfetischismus, dessen ästhetische Aspekte Wolfgang F. Haug untersucht 107 , der Verdinglichung und Entfremdung ist aktueller denn je, weil in der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft die Bezie- 102 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 18. 103 Ibid., S. 52. 104 Ibid., S. 53. 105 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, S. 67-80. 106 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 309. 107 Vgl. W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (5. Aufl.), S. 17: „Das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Ware wird zum Instrument für den Geldzweck.“ <?page no="156"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 140 hungen zwischen Menschen vorwiegend durch den Tauschwert geregelt werden, der allen kulturellen Werten gegenüber - auch Charaktereigenschaften wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft - indifferent ist. Dazu bemerkt Marx in den Grundrissen: „Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert (…).“ 108 In seinem Frühwerk holt Marx noch weiter aus, wenn er zeigt, dass der Tauschwert, der von allen besonderen Eigenschaften und Qualitäten abstrahiert, alle kulturellen Werte negiert. Diese Negation kommt als Zusammenführung von Gegensätzen zustande, wobei die miteinander verknüpften, einander widersprechenden Werte einander annullieren, indifferent werden. Vom Geld heißt es in „Nationalökonomie und Philosophie“: „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, die Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.“ 109 Diese Indifferenz allen politischen, moralischen, ästhetischen Werten gegenüber veranschaulicht gegenwärtig der Waffenhandel. Der Waffenhändler unterscheidet nicht zwischen Recht und Unrecht, Demokratie und Diktatur: Ihm ist jeder Käufer Recht, der pünktlich zahlt. Und seine Einstellung ist - zumindest grundsätzlich - die aller großen und kleinen Händler sowie der meisten Konsumenten, die sich vornehmlich nach dem Preis der Ware richten und nicht etwa nach ihrer Herkunft. In einer vom Tauschwert beherrschten Wirtschaftsgesellschaft droht auch die von Wissenschaftlern weiterhin verteidigte Suche nach Wahrheit (nach Luhmann wird das Wissenschaftssystem vom Gegensatz wahr / unwahr strukturiert) 110 zu einem Anachronismus zu verkommen. Immer öfter werden Universitäten mit der Frage nach der „gesellschaftlichen Relevanz“ ihrer Fächer und ihrer Forschung konfrontiert und nach Kriterien des (wirtschaftlichen) Nutzens beurteilt. Auf dieser Ebene eilt Marx seiner Zeit weit voraus, wenn er in einer Fußnote im 13. Kapitel von Das Kapital bemerkt: „Die ‚fremde‘ Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt, wie fremde Arbeit.“ 111 Inzwischen ist die Wissenschaft dem Kapital gar nicht mehr so fremd: Es hat zahlreiche Forschungsstätten zu seinen Anhängseln gemacht. 112 108 K. Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. XLII, Berlin, Dietz Verlag (1983), 2015 (3. Aufl.), S. 90. 109 K. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“, in: Die Frühschriften, op. cit., S. 301. 110 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 209. 111 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, op. cit., S. 345. 112 Vgl. P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 175: „Ähnlich wie für das Verhältnis der Wissenschaft zur Politik und zu den Medien läßt <?page no="157"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 141 Auch die Einverleibung der Arbeit schreitet voran, selbst wenn sie ganz andere Formen annimmt als im 19. Jahrhundert. Während die Disziplinierung von Arbeitern und Angestellten im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleichsam von außen durch Vorarbeiter, Aufseher und Vorgesetzte erfolgte, wird sie in der nachmodernen Gesellschaft als Selbstdisziplinierung verinnerlicht. Es bleibt zwar jedem überlassen, wie er sich die Zeit einteilt, solange er das vorgeschriebene oder vereinbarte Arbeitspensum bewältigt. Dabei spielt auch Erreichbarkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle: Wer aus beruflichen Gründen jederzeit erreichbar sein muss, kann es sich nicht leisten, Telefon, Handy oder e-mail auszuschalten. Eine der Folgen ist, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt und der Arbeits- und Leistungsdruck nur selten nachlässt. Marx, der den Arbeitstag in Das Kapital sorgfältig analysiert hat, könnte heute zeigen, in welchem Ausmaß Arbeitnehmer vom Kapital zeitlich vereinnahmt werden. Jedenfalls würde er Steve Legille und Benjamin Toussaint Recht geben, die feststellen: „Die Arbeit erfährt eine höhere Subjektivierung, diese liegt jedoch nicht im Sinne der arbeitenden Individuen, sondern eher im Sinne der Wirtschaft (…). Nicht die Arbeit wird an den complex man angepasst, sondern der flexible man hat sich an die Marktbedingungen anzupassen.“ 113 Tatsächlich zeigt Richard Sennett in seinem Buch Der flexible Mensch, das den Untertitel Die Kultur des neuen Kapitalismus trägt, wie sich wirtschaftliche Ausbeutung durch Selbstdisziplinierung als flexible Befolgung der Marktgesetze gewandelt hat (vgl. Kap. XXII). Sie ist aber nach wie vor aktuell. Weiterhin aktuell ist daher auch das Werk von Marx, das - wie alle anderen theoretischen Werke - selektiv zu lesen und darauf zu überprüfen ist, welche seiner Argumente noch stichhaltig sind und welche nicht mehr gelten, weil sie schon bei ihrer Entstehung fragwürdig waren oder durch spätere Ereignisse und Entwicklungen widerlegt wurden. Zu vermeiden ist auf jeden Fall eine auf Impressionen und Intuitionen gründende Haltung, die Marxʼ Theorie verabschiedet, weil im Jahre 1989 die Berliner Mauer fiel, für deren Bau der Kritiker und Revolutionär Marx in keiner Weise verantwortlich war. sich auch im Hinblick auf das Verhältnis zur Wirtschaft von einer engeren Kopplung sprechen.“ Inzwischen hört sich diese vorsichtige Formulierung wie ein understatement an. 113 S. Legille, E. Toussaint, Soziale Entfremdung. Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und Phänomenen sozialer Entfremdung in Tätigkeiten mit interaktivem Charakter, Diplomarbeit, Univ. Innsbruck, 2007, S. 44. Vgl. auch M. Moldaschl, G. G. Voß, Subjektivierung von Arbeit, München-Mering, Rainer Hampp Verlag, 2002, S. 36. <?page no="158"?> Die Öffnung der Erzählung im Übergang von Hegel zu Marx 142 Zusammenfassung und Ausblick: In diesem Kapitel sollte gezeigt werden, wie im Übergang von Hegel zu Marx der Diskurs der dialektischen Philosophie, der beim Idealisten Hegel die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als vernünftige Ordnung rechtfertigt, bei Marx materialistisch umgedeutet und durch revolutionäre Perspektivierung zur Zukunft hin geöffnet wird. Während Hegel im Rahmen eines idealistischen Aktantemodells, in dem der „Weltgeist“ als sein Auftraggeber und Fokalisator fungiert, die Notwendigkeit des Bestehenden zu erklären versucht, nimmt Marx sich vor, dessen historische Kontingenz und Veränderbarkeit nachzuweisen: Statt wie Hegel einen Diskurs der Versöhnung (mit der Wirklichkeit) zu entwerfen, konstruiert er eine Erzählung, in der die „Geschichte“ als Auftraggeberin das „Proletariat“ als Subjekt-Aktanten mit der Erlösung der Gesellschaft von Kapitalismus und bürgerlicher Herrschaft beauftragt. In dieser Erzählung wird das „Proletariat“ zu Marxʼ Fokalisator, aus dessen Sicht er die Entwicklung und die Zukunft der Gesellschaft erzählt. Dabei gerät das „Proletariat“ als narratives Konstrukt zu einem mythischen Aktanten, der nur ansatzweise der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts entspricht. Trotz aller Schwächen der Marxschen Theorie sollte gezeigt werden, dass einige ihrer Komponenten hochaktuell sind, weil Marx mit ungewöhnlicher Weitsicht einige Probleme zeitgenössischer Gesellschaften analysiert: die sich in alle Lebensbereiche ausbreitende Herrschaft der Marktgesetze (des Tauschwerts), die aus ihr resultierende Verdinglichung und die sie begleitende Entfremdung. Dennoch wird im nächsten Kapitel Auguste Comtes Theorie der Säkularisierung und Rationalisierung als möglicher Gegenentwurf zu Marxʼ Kapitalismuskritik in Betracht gezogen. <?page no="159"?> 143 V. Säkularisierung und Rationalisierung: Auguste Comtes Erzählung als Antwort auf das Marxsche Geschichtsverständnis - und die marxistische Replik Inhaltsverzeichnis 1. Condorcet und Saint-Simon als Vorläufer: Fortschritt als Industrialisierung, Säkularisierung und Rationalisierung 2. Das „Drei-Stadien-Gesetz“ und die „Enzyklopädie“: Säkularisierung und Rationalisierung 3. Die semantische Grundlage des Comteschen Diskurses und sein Aktantenmodell 4. Marx vs. Comte vs. Marx 5. Auswertung und Ausblick Jede soziologische Erzählung geht von besonderen Gegensätzen und Unterscheidungen aus, die dadurch zustande kommen, dass ein Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern die soziale Wirklichkeit auf spezifische Art wahrnimmt und deshalb bestimmte Aspekte dieser Wirklichkeit für relevant hält und andere nicht. Die Relevanzkriterien des Einzelnen und der Gruppe hängen u.a. von der gesellschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Situation ab, in der sie sich als Beobachter befinden. Es leuchtet ein, dass ein Theoretiker, der den Industrialisierungsprozess in Deutschland und Großbritannien erlebt und vor allem den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beobachtet, die Entwicklung der Gesellschaft anders erzählen muss als ein Theoretiker wie Comte, der im Anschluss an die französische Aufklärung den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen oder Glauben und Vernunft für relevant hält. Dabei spielen die Erfahrungen der Soziologen sowie ihre Sozialisation in einem besonderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld eine entscheidende Rolle. Während Marx in einem feudal-absolutistischen Deutschland aufwuchs, das er für rückständig hielt, weil sein Bürgertum die Französische Revolution von 1789 nur in Gedanken, nicht aber in der Tat nachvollzog, wuchs Auguste Comte (1798-1857) in einer katholischen Familie im südfranzösischen Montpellier und später als Polytechnicien in einer Pariser Gesellschaft auf, in der die entscheidende Frage lautete: Wie kann man die Revolution, die in die Napoleonischen Kriege mündete und immer wieder ausbrach (1830, 1848), beenden? Während Marx, wie sich gezeigt hat, im Londoner Exil die Revolution herbeisehnte und voller Ungeduld auf die Befreiung durch das Proletariat wartete, überlegten Claude-Henri de Saint Simon und sein Sekretär <?page no="160"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 144 Auguste Comte im nachrevolutionären Paris, wie die aufgewühlte Gesellschaft in eine neue, fortschrittliche Ordnung überführt werden könnte. Obwohl Comte die Klassengegensätze des frühen 19. Jahrhunderts durchaus wahrnimmt, misst er ihnen nicht die gleiche Bedeutung bei wie Marx, der den Klassenantagonismus für den Motor der Geschichte hält (vgl. Kap. IV. 3). Angesichts von Industrialisierung, Technisierung und Rationalisierung kommt Comte zu dem Schluss, dass in der modernen Gesellschaft, die dabei ist, die Fesseln des Ancien Régime abzustreifen, nur der Gegensatz zwischen theologischem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft von zentraler Relevanz sein kann. Dieser Gegensatz ist zweifellos auch bei Marx wichtig, der sich als Begründer eines wissenschaftlichen Sozialismus sieht, der alle Religionen, Ideologien und Utopien hinter sich lässt. Die Säkularisierungstendenz als Absage an die Transzendenz oder das „Jenseits“ verbindet Marx und Comte. Während aber Marx die Ansicht vertritt, dass nur die proletarische Revolution den Historischen Materialismus als neues wissenschaftliches Denken verwirklichen kann, neigt Comte zu der Auffassung, dass die gesetzmäßige Entwicklung der „Zivilisation“ 1 der wissenschaftlichen Vernunft oder der „positiven Wissenschaft“ zum Sieg über Glauben und Aberglauben verhelfen wird. In dieser Hinsicht steht der französische Philosoph Hegel, dessen Werk er oberflächlich kannte 2 , näher als Marx. Dazu bemerkt Oskar Negt in seiner Studie über Comte und Hegel: „Für Comte und Hegel ist die Geschichte ein gesetzmäßiger Zusammenhang, durch den Einzelerscheinungen untereinander und in Beziehung auf das Ganze bestimmt sind.“ 3 Dies bedeutet, dass Comte - wie Hegel und stärker als Marx - den Prozesscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung hervorhebt. In seinen Augen greifen Ereignisse, Handlungen und Strukturen ineinander und setzen Prozesse in Gang, deren konkrete Ergebnisse niemand abzusehen vermag, deren Richtung als „marche de la civilisation“ 4 aber der Philosoph als „positiver Denker“ und Wissenschaftler sehr wohl voraussagen kann. Dazu bemerkt Comte selbst: „Denn das übergeordnete Gesetz der Fortschritte des menschlichen Geistes reißt alles mit sich fort und beherrscht alles; die Menschen sind für dieses Gesetz nur Instrumente.“ 5 Diese Auffassung der menschlichen Geschichte erinnert nicht zufällig an Hegels „List 1 Vgl. A. Comte, Soziologie, Bd. II: Historischer Teil der Sozialphilosophie. Theologische und metaphysische Periode (Hrsg. H. Waentig), Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1923 (2. Aufl.), S. 376. 2 Vgl. O. Negt, Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1964, S. 99. 3 Ibid., S. 96. 4 A. Comte, Philosophie des sciences, Paris, Gallimard, 1996, S. 238. 5 A. Comte, Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne, Paris, L’Harmattan, 2006, S. 78. <?page no="161"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 145 der Vernunft“ (Kap. IV. 1). Denn auch Comte ist der Meinung, dass die Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach auf die Absichten und Handlungen von Einzelpersonen und Gruppen reduziert werden kann. Man denke an Gorbatschows „Perestroika“, die wesentlich zur Stärkung des sowjetischen Systems beitragen sollte, schließlich jedoch zu dessen Zerfall führte. Man denke auch an die „Krisen“ der Europäischen Union, die neue Verträge erzwingen, von denen einige („Maastricht“, „Lissabon“) einen nicht immer intendierten Funktionswandel der bestehenden europäischen Institutionen zur Folge haben. Es wird sich jedoch zeigen, dass Comte soziales Handeln keineswegs vernachlässigt und dass seinem Diskurs als Erzählung ein Aktantenmodell zugrunde liegt, das den sozialen Prozessen eine bestimmte Richtung vorgibt. In diesem Aktantenmodell fällt der positiven Wissenschaft und dem sie vertretenden positiven Wissenschaftler eine entscheidende Rolle zu: Es geht darum, bevorstehende Ereignisse und Entwicklungen mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu antizipieren, um sie beeinflussen zu können: „Sehen um vorherzusehen: das ist das dauernde Unterscheidungsmerkmal der wahren Wissenschaft (…).“ 6 Es geht folglich darum, in gesellschaftliche und natürliche Vorgänge einzugreifen, um sie in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und menschlichen Bedürfnissen zu gestalten. Während sich Marx aber von der proletarischen Revolution eine völlig neue Gesellschaftsordnung verspricht, möchte Comte die sich in der bürgerlichen Gesellschaft verstärkenden Tendenzen der Rationalisierung und Säkularisierung mit Hilfe der Wissenschaftler, der „Industriellen“ und der Proletarier so weit treiben, bis eine neue, rationale Ordnung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entsteht. Dabei fällt den positiven Wissenschaftlern, nicht den Proletariern, die geistige, intellektuelle (nicht die politische) Führungsfunktion zu. Anders als Marx stellt Comte das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht in Frage; im Gegenteil, er verteidigt es. 7 Konsequent lehnt er auch den Klassenkampf ab. 8 Dies hat zur Folge, dass Comte im Gegensatz zu Marx, der voller Ungeduld die Revolution erwartet, welche die neue Gesellschaft einläuten soll, die Revolution beenden möchte, um jenseits des revolutionären Chaos die vernünftige Ordnung aufzubauen, die auf der positiven Wissenschaft gründet. 6 A. Comte, Soziologie, Bd. III: Abschluß der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen, op. cit., S. 614. 7 Vgl. A. Comte, Catéchisme positiviste (1852). Ed. établie et présentée par F. Dupin, Paris, Editions du Sandre, 2012, S. 124. 8 Vgl. ibid., S. 270-272. <?page no="162"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 146 Marx oder Comte? Revolutionärer Abbruch eines alles zerstörenden Systems oder positiv-wissenschaftliche Neufundierung der Gesellschaft? Im vorletzten Abschnitt werden diese Fragen in einem Kontext aufgeworfen, in dem (ein fiktiver) Marx und die Marxisten auf Comte reagieren, in dem aber auch (ein fiktiver) Comte als Zeitgenosse zu Wort kommt. Die Gegensätze zwischen diesen beiden Denkern und die Kontroversen, die sie heute noch nähren, sollten nicht dazu führen, dass das Gemeinsame übersehen wird, das Marx und Comte verbindet: die moderne Zuversicht, dass eine vernünftige, menschliche Gesellschaftsordnung zum Greifen nahe ist. Aus dieser Zuversicht gingen „Metaerzählungen“ (Lyotard) hervor, die schon spätmoderne Soziologen wie Durkheim, Simmel, Alfred und Max Weber mit Skepsis betrachteten. 1. Condorcet und Saint-Simon als Vorläufer: Fortschritt als Industrialisierung, Säkularisierung und Rationalisierung Wie Marx, der sich auf Hegel und die Junghegelianer (z.B. Feuerbach) beruft und zugleich gegen sie polemisiert, bezieht sich auch Comte immer wieder auf Vorgänger, die in seinen Augen die Richtung vorgeben, die das Denken in einer verweltlichten Gesellschaft einschlagen sollte, die dabei ist, aus der theologischen Hegemonie des Feudalismus und des Absolutismus auszubrechen. Zu diesen Vorgängern gehört - außer den Begründern des Rationalismus Francis Bacon und René Descartes - auch der abtrünnige Adelige Marie Jean Antoine Marquis de Condorcet (1743-1794), der sich als Mathematiker, Rationalist, Sensualist und Kritiker des Ancien Régime den Enzyklopädisten um Diderot und d’Alembert anschloss und die Revolution von 1789 unterstützte. Sein Glaube an den Fortschritt der Vernunft kommt vor allem in seinem Entwurf einer historischen Darstellung des Fortschritts des menschlichen Geistes (Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, 1794) zum Ausdruck. Auf den modernen Charakter von Condorcets Erzählung geht indirekt Wilhelm Alff in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe ein, wenn er bemerkt: „Zukunft gibt es für den Aufklärer, wie überhaupt für den tätigen Menschen, allein als Ermöglichung einer besseren Welt.“ 9 In diesem von der Aufklärung der Enzyklopädie geprägten Kontext entstand der zukunftsorientierte, auf das Ziel einer vernünftigeren und menschlicheren Gesellschaft ausgerichtete Diskurs Auguste Comtes. Diesen Diskurs antizipiert Condorcet, wenn er in seinem Entwurf erklärt: „Die Fortschritte in den Wissenschaften sichern die Fortschritte in der Technik des Unterrichts, die wiederum die der Wissenschaften 9 W. Alff, in: M. J. A. Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes (Hrsg. W. Alff), Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 8. <?page no="163"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 147 beschleunigen; und dieser wechselseitige Einfluß, dessen Wirkung sich fortwährend erneuert, muß zu den nachhaltigsten und mächtigsten Ursachen der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gerechnet werden.“ 10 Condorcets Entwurf ist in jeder Hinsicht modern, denn der Aufklärer glaubt an die Möglichkeit, die Menschheit mit Hilfe des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts aus Unterdrückung, Unmündigkeit und Schicksalsergebenheit in einen Zustand zukunftsorientierter Selbstgestaltung hinausführen zu können. Ihm schwebt „das Bild eines Menschengeschlechts“ vor Augen, „das von allen Ketten befreit, der Herrschaft des Zufalls und der Feinde des Fortschritts entronnen, sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärtsschreitet (…).“ 11 Bei Comte ändern sich Struktur und Ausrichtung dieses fortschrittsorientierten Diskurses kaum. Dieser wird aber mit neuen Inhalten ausgefüllt, denn Comte nimmt sich vor, „das Werk Condorcets umzugestalten“ 12 , wie Henri Gouhier sagt. Als Erbe Bacons, Descartesʼ und Condorcets glaubt er, dass nur die wissenschaftliche Vernunft den Menschen helfen kann, sich aus der Verstrickung in Glauben und Aberglauben zu befreien. Wie Condorcet ist er der Meinung, dass Wissenschaft, Technik und Wirtschaft durch ihre Wechselbeziehungen eine historische Dynamik entfalten, die wesentlich zur Überwindung der feudal-absolutistischen Verhältnisse, des blinden Glaubens und des Vorurteils beiträgt. Es nimmt daher nicht wunder, dass er Condorcet in vielen seiner Schriften als seinen liebsten Bürgen auftreten lässt, sooft er den Nexus von Wissenschaft, Gesellschaft und Fortschritt erläutert. In seinem „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“ (1822) lobt er Condorcets Verdienste um die Verwissenschaftlichung der Politik: „Die allgemeine Auffassung der Vorgehensweise, die dazu angetan ist, die Politik auf die Ebene der Erfahrungswissenschaften zu heben, wurde von Condorcet entdeckt.“ 13 Wesentlich später, in seinem Catéchisme positiviste (1852), spricht er von „meinem wesentlichen Vorläufer, dem hervorragenden Condorcet“ („mon précurseur essentiel, l’éminent Condorcet“). 14 Es wird sich allerdings zeigen, dass der Soziologe Comte die feudale Ordnung ganz anders einschätzt als der Aufklärer und Enzyklopädist. 10 Ibid., S. 215. 11 Ibid., S. 221. 12 H. Gouhier, La Jeunesse d’Auguste Comte, Bd. III: Auguste Comte et Saint-Simon, Paris, Vrin, 1970 (2. Aufl.), S. 273. 13 A. Comte, „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“, in: ders., Philosophie des sciences (Hrsg. J. Grange), Paris, Gallimard, 1996, S. 379. 14 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 18. <?page no="164"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 148 Hat dieser entscheidend Comtes Auffassung der wissenschaftlichen Entwicklung und seine Religionskritik beeinflusst, so gab Claude-Henri Comte de Saint-Simon (1760-1825) seiner Gesellschaftstheorie den entscheidenden Impuls. 15 Denn dem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben Condorcets fügt er den - potenziell sozialistischen - Gedanken hinzu, dass die werktätige Bevölkerung für die Entwicklung der Gesellschaft verantwortlich sein sollte - und nicht die adelige „Mußeklasse“ (Veblen) 16 , die von der Besteuerung befreit ist, von ihren Renten lebt und mehrheitlich nicht arbeitet. Diese Aufwertung der arbeitenden, schaffenden Bevölkerung mag auf den ersten Blick an Marx erinnern; bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Saint-Simon von ganz anderen Relevanzkriterien und Klassifikationen ausgeht als Marx und die Marxisten: Während Marx den Grundgegensatz zwischen Kapital und Arbeit für relevant erklärt und in Übereinstimmung mit diesem Gegensatz die kollektiven Aktanten „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ einander gegenüberstellt, konstruiert Saint-Simon einen Gegensatz zwischen dem arbeitenden Volk, also den Bürgern, Bauern und Arbeitern auf der einen Seite, und dem Adel auf der anderen. Für Marx war der Antagonismus zwischen Adel und Bürgertum nicht mehr relevant, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, dass vor allem seit der Revolution von 1848 das Bürgertum die herrschende Klasse war und der Adel im bürgerlich-kapitalistischen System eine untergeordnete Rolle spielte. Der im Jahre 1760 (also 58 Jahre vor Marx) geborene Saint-Simon, der die Restauration des Ancien Régime in den Jahren 1814 und 1815 erlebte, als nach den Schlachten bei Leipzig (1813) und Waterloo (1815) Ludwig XVIII den Thron bestieg, schätzte die Verhältnisse verständlicherweise anders ein. Mit Marx verbindet ihn jedoch die Hervorhebung der gesellschaftlichen Arbeit, und Jean Dautry hat zweifellos Recht, wenn er im Zusammenhang mit Saint-Simons Denken bemerkt: „Nie hatte man bis dahin so stark die wirtschaftliche und soziale Tätigkeit des Menschen betont. Noch nie hatte man auf diese Art Arbeit und Müßiggang einander entgegengesetzt.“ 17 Marx und Engels schätzen Saint-Simons Rolle etwas anders ein, weil sie 15 Vgl. H. Gouhier, La Vie d’Auguste Comte, Paris, Vrin, 1997, S. 120. 16 Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen (1857-1929) entwickelte eine Theorie, der zufolge die Kapitalakkumulation im Hochkapitalismus den Aufstieg einer Klasse ermöglicht, die abseits vom Produktionsprozess von ihren Renten lebt und durch „demonstrativen Müßiggang“ und „demonstrativen Konsum“ („conspicuous“ oder „ostentatious consumption“) auffällt: T. Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt, Fischer, 2011 (2. Aufl.), Kap. III und Kap. IV. 17 J. Dautry, „Claude-Henri de Saint-Simon“, in: Cl.-H. de Saint-Simon, Textes choisis (préface et commentaires par J. Dautry), Paris, Editions Sociales, 1951, S. 30. <?page no="165"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 149 meinen, dass sich erst in seinem letzten Werk - in Le Nouveau Christianisme (1825) - Spuren des Sozialismus finden. 18 Tatsache ist, dass Saint-Simon, der eine Zeit lang die Zeitschrift L’Industrie herausgab, in der ersten Phase seiner Theoriebildung vor allem die soziale Rolle der „Industriellen“ betont, in denen er potenzielle Verbündete des Königtums sieht. 19 Davon zeugen seine vielen Briefe an die „Mächtigen“, im vorliegenden Fall ein Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats Ludwigs XVIII, dessen Autor sich für die Gründung einer „Industriellenpartei“ einsetzt: „einer Partei, die von den Industriekapitänen geleitet werden sollte“ („d’un parti qui soit dirigé par les chefs des travaux industriels“). 20 In einem zweiten Schreiben, das er an A. M. Terneau, einen Abgeordneten, richtet, wird deutlich, dass es ihm darum geht, die Interessen der „Industriellen“ und der Arbeiter zur Synthese zu bringen: „die Interessen der Unternehmer mit denen der Arbeiter zu kombinieren“ („combiner les intérêts des entrepreneurs avec ceux des ouvriers“). 21 Noch in seinem letzten Werk, dem Nouveau Christianisme, in dem er ein säkularisiertes Christentum entwirft, das für den sozialen Konsens bürgen soll, versucht er, die Bedeutung des Klassengegensatzes herunterzuspielen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass „die Klassen nur noch durch Nuancen voneinander getrennt werden“. 22 Diese aus marxistischer Sicht beschönigende oder gar verschleiernde Einschätzung erscheint aus heutiger Sicht, angesichts der Entstehung einer breiten Mittelschicht, gar nicht so unrealistisch. Saint-Simons Einstellung beschreibt in großen Zügen Manfred Hahn: „Obgleich der späte Saint-Simon für die zahlreichste und ärmste Klasse, d.h. für die Arbeiter streitet, kennt er keinen ausgeprägten und erst recht keinen unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen industrieller Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Kapital und Lohnarbeit. Unternehmer und Arbeiter zählen bei ihm zur großen Klasse der ‚industriels‘, der produktiv Tätigen.“ 23 18 Vgl. K. Marx, Das Kapital, Bd. III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1971, S. 572: „Man muß überhaupt nicht vergessen, daß erst in seiner letzten Schrift, dem ‚Nouveau Christianisme‘, St. Simon direkt als Wortführer der arbeitenden Klasse auftritt und ihre Emanzipation als Endzweck seines Strebens erklärt.“ 19 Cl.-H. de Saint-Simon, Considérations sur les mesures à prendre pour terminer la Révolution (éd. 1820), Paris, Chez les Marchands de Nouveautés, 1820, S. VIII-IX. (Reprint, Paris, Hachette, s.d.) 20 Cl.-H. de Saint-Simon, 1 ère opinion politique des industriels. 1 er chant des industriels (éd. 1821), Paris, Chez l’auteur, 1821, S. 197. (Reprint, Paris, Hachette, s.d.) 21 Ibid., S. 205. 22 Cl.-H. de Saint-Simon, Textes choisis, op. cit., S. 42. 23 M. Hahn, Präsozialismus: Claude-Henri de Saint-Simon, Stuttgart, Metzler, 1970, S. 46. <?page no="166"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 150 Für die Entwicklung von Auguste Comte, der lange Jahre Saint-Simons Sekretär war und gemeinsam mit ihm Artikel und Abhandlungen für verschiedene Zeitschriften verfasste, ist diese Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung entscheidend. Entscheidend ist für ihn auch Saint-Simons Gedanke, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts primär darauf ankommt, in Frankreich die Revolution zu beenden. Davon zeugen Saint- Simons Considérations sur les mesures à prendre pour terminer la Révolution (1820). Zu Recht bemerkt Michel Bourdeau, dass dieser Gedanke nicht nur Saint-Simon und Comte verband, sondern einer ganzen Generation als Richtlinie diente: „Für alle Angehörigen seiner [Comtes] Generation stellt sich die Frage: Wie kann man die Revolution beenden? “ 24 Diese Frage unterscheidet Saint-Simon und Comte grundsätzlich von Marx: Sie gibt andere Relevanzkriterien vor und lässt einen anderen Diskurs als Erzählung entstehen. Obwohl er im Jahre 1824 mit Saint-Simon brach und später nicht gut auf seinen früheren Arbeitgeber zu sprechen war, machte sich Comte dessen Sicht der Klassenbeziehungen und der historischen Entwicklung zu eigen, die Saint-Simon in drei Stadien einteilt: das theologische, das metaphysische und das positive oder industrielle (vgl. Abschn. 2 und 4). 25 Noch in seinem Catéchisme positiviste (1852), also vier Jahre nach der bürgerlich-proletarischen Revolution von 1848, stellt sich Comte eine friedliche Zusammenarbeit von Industriellen, Wissenschaftlern und Arbeitern vor. 26 Insgesamt wird deutlich, dass die als relevant postulierten Unterscheidungen und Gegensätze als semantische Basis den Ablauf der soziologischen Erzählung bestimmen: Während Marx die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, Bürgertum und Proletariat für entscheidend hält, beobachten Saint- Simon und Comte den Konflikt zwischen dem Ancien Régime und dem Bürgertum und stellen alle produktiven Kräfte der Gesellschaft den adeligen Müßiggängern gegenüber. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass Marx mehr als ein halbes Jahrhundert nach Saint-Simon, einem Denker des 18. Jahrhunderts, zur Welt kam und zwanzig Jahre jünger war als Comte, der immerhin als sein Zeitgenosse gelten kann; es hängt auch mit der labilen Konstitution der französischen Republik zusammen, die noch im 24 M. Bourdeau, Les Trois états. Science, théologie et métaphysique chez Auguste Comte, Paris, Editions du Cerf, 2006, S. 132. 25 Vgl. E. Durkheim, Le Socialisme, Paris, PUF (1928), 2011, S. 154: „(…) Nach Saint-Simon durchlaufen die europäischen Gesellschaften nacheinander drei soziale Systeme: das theologische oder feudale System, das metaphysische oder juristische System und das positive System. In dieser Formel erkennt man das berühmte Gesetz der drei Stadien, das Comte seiner Doktrin zugrunde legte. Sie stammt folglich von Saint-Simon.“ Allerdings findet man die ersten Skizzen dieses Schemas schon bei Turgot und Condorcet. 26 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 270-272. <?page no="167"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 151 ausgehenden 19. Jahrhundert (etwa im Jahre 1877) von traditionalistischen und monarchistischen Kräften in Frage gestellt wurde. 27 Trotz dieser kulturellen und politischen Unterschiede ist den drei Denkern eines gemeinsam: der moderne Gedanke, dass die vernünftige, menschliche Gesellschaft vor uns liegt. Davon zeugt das Ende von Saint-Simons Buch De la réorganisation de la société européenne (1814), in dem er sich, Entwicklungen des 20. Jahrhunderts antizipierend, für ein vereinigtes Europa einsetzt: „Das goldene Zeitalter der Menschheit liegt keineswegs hinter, sondern vor uns; es hängt von der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Ordnung ab (…).“ 28 Um diese Vervollkommnung geht es bei Comte. 2. Das „Drei-Stadien-Gesetz“ und die „Enzyklopädie“: Säkularisierung und Rationalisierung Auguste Comte verdankt seine Bekanntheit als Philosoph und Soziologe vor allem dem sogenannten Drei-Stadien-Gesetz, dem zufolge die Entwicklung der Menschheit (und auch des einzelnen Menschen) in drei Stadien eingeteilt werden kann: in ein theologisches, ein metaphysisches und ein positives oder wissenschaftliches. Der Gedanke an eine solche Differenzierung geistiger Zustände findet sich in rudimentärer Form bereits bei dem Physiokraten Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781), der auch Condorcet beeinflusst hat, und vor allem bei Saint-Simon. 29 Allerdings geht Turgot in seinem Aufsatz über Fortschritt und Niedergang in Wissenschaft und Kunst 30 von dem Gedanken aus, dass die drei Ideensysteme - das theologische, das metaphysische und das positiv-wissenschaftliche - in verschiedenen gesellschaftlichen Formationen koexistieren und nicht nacheinander auftreten. Obwohl Comte diese Koexistenz durchaus wahrnimmt 31 (auch in unserer Gesellschaft ist ein Nebeneinander von religiösen, metaphysischen und wissenschaftlichen Vorstellungen noch nachweisbar), geht er zumeist von dem Gedanken aus, dass wir es mit einer Stufenfolge und einem Fortschritt 27 Vgl. F. Pisani-Ferry, Le Coup d’Etat manqué du 16 mai 1877, Paris, Laffont, 1965. 28 Cl.-H. de Saint-Simon, De la réorganisation de la société européenne, Paris, Editions Payot-Rivages, 2014, S. 143-144. 29 Vgl. M. J. A. Condorcet, Vie de Monsieur Turgot (1786), Paris, Slatkine (Reprints), 2012 sowie E. Durkheim, Le Socialisme, op. cit, S. 114 und S. 154. 30 Vgl. Th. L. M. Thurlings, Turgot en zijn tijdgenoten. Schets van de bevestiging van de economische wetenschap, Wageningen, Veenman en Zonen, 1978, S. 161-162. 31 Vgl. A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 300: „Heute koexistieren drei verschiedene Systeme im Herzen der Gesellschaft: das theologisch-feudale System, das wissenschaftlich-industrielle System und schließlich das vorübergehende Mischsystem der Metaphysiker und Legisten.“ <?page no="168"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 152 zu tun haben, die beide auf eine Rationalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft hinauslaufen. In ihren ersten Entwicklungsphasen denkt die Menschheit vorwiegend theologisch (zunächst fetischistisch, dann polytheistisch, später monotheistisch), danach metaphysisch-religionskritisch und schließlich positivwissenschaftlich. In Discours sur l’ensemble du positivisme (1848), einer Schrift aus dem Spätwerk, wird das Gesetz als Stufenfolge klar dargestellt: „Zunächst das theologische Stadium, in dem eindeutig spontane Fiktionen vorherrschen, die durch nichts zu beweisen sind; danach das metaphysische Stadium, das gewöhnlich durch die Vorherrschaft personifizierter Abstraktionen oder Entitäten geprägt ist, und schließlich das positive Stadium, das auf der exakten Einschätzung der äußeren Wirklichkeit gründet.“ 32 In der Originalfassung des Cours de philosophie positive heißt es wörtlich: „(…) Chaque branche de nos connaissances, passe successivement par trois états théoriques différents : l’état théologique, ou fictif; l’état métaphysique, ou abstrait; l’état scientifique, ou positif.“ 33 Kurz danach ist vom „menschlichen Geist“ („esprit humain“) die Rede, und es fragt sich, ob Comtes „Drei-Stadien-Gesetz“ nicht eher eine geistesgeschichtliche als eine gesellschaftswissenschaftliche Entwicklung beschreibt. Es soll jedoch deutlich werden, dass dieses „Gesetz“, das eher eine beobachtbare Regelmäßigkeit oder Tendenz als ein Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinne bezeichnet, auch materielle Komponenten hat. Das Nacheinander der Stadien fasst Comte - ähnlich wie Hegel die Entfaltung der Bewusstseinsformen - als einen Prozess auf, der letztlich zwar auf menschliches Denken und Handeln zurückzuführen ist, zugleich aber als eine sich oft verselbständigende Abfolge von Ereignissen und Konfigurationen aufgefasst werden kann, in deren Strukturen das Handeln von individuellen und kollektiven Aktanten eingebettet ist. Obwohl Comtes Diskurs, wie sich zeigen wird, durchaus ein Aktantenmodell zugrunde liegt, ist das Prozesshafte seiner Erzählung stärker ausgeprägt als bei Marx. Die Grundform des theologischen Stadiums ist nicht der Monotheismus des europäischen Mittelalters, wie man vermuten könnte, sondern der Polytheismus. „Für Comte ist der Polytheismus die vollendete Form des Theologismus“ 34 , erklärt Laurent Fedi. Es geht primär um den Polytheismus der Antike, der nach dem Zerfall des Römischen Reiches allmählich vom christlichen Monotheismus des Mittelalters abgelöst wird. 32 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme (Hrsg. A. Petit), Paris, Flammarion, 1998, S. 73. 33 A. Comte, „Cours de philosophie positive“, in: ders., Philosophie des Sciences, op. cit., S. 52. 34 L. Fedi, Comte, Paris, Les Belles Lettres, 2004, S. 118. <?page no="169"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 153 Comte vertritt nun die etwas ungewöhnliche Ansicht, dass die moderne Ära als „metaphysische“ Kritik am feudal-theologischen System nicht erst in der Renaissance, sondern schon im ausgehenden Mittelalter, genauer: im 14. Jahrhundert, beginnt. Fedi hält diese Ansicht für eine von Comtes „gewagtesten und vielleicht fruchtbarsten“ 35 Thesen. Zugleich mit dem Zerfall des theologischen Weltbildes, das dem Prozess der Verweltlichung nicht mehr standhalten kann, beginnt das metaphysische Stadium, das seinen ersten Höhepunkt in der Reformation und seinen zweiten in der Aufklärung erreicht, die in die Französische Revolution mündet. Im Catéchisme bezeichnet Comte das metaphysische Stadium als „Übergangszeit“, wenn er zu den „drei Stadien“ bemerkt: „Das erste ist immer provisorisch, das zweite vorübergehend (transitoire) und das dritte als einziges endgültig.“ 36 Obwohl Comte verständlicherweise dem dritten, dem „positiven“ Stadium die allergrößte Bedeutung beimisst, kann jemandem, der seine Philosophie aus der Sicht der Kritischen Theorie betrachtet, das zweite, das metaphysisch-kritische Stadium, als das fruchtbarste erscheinen. Denn dieses Stadium prägt der kritische Geist, der gegen den Aberglauben ins Feld zieht, mit Voltaire und Diderot die Gewissheiten des theologischen Systems in Frage stellt und den Einzelnen von der Bevormundung durch das scholastische Dogma befreit. Der positiv denkende Comte kann dieser kritischen Negativität keinen Reiz abgewinnen und lässt keine Gelegenheit aus, sich von Rousseaus Gesellschaftskritik, die er für das metaphysische Denken als typisch erachtet, zu distanzieren. 37 Außer den Philosophen und Schriftstellern betrachtet er „die Rechtsgelehrten als eine Art Metaphysiker“ 38 und macht sie für den Radikalismus der Französischen Revolution verantwortlich. Er wendet sich gegen die „revolutionäre Metaphysik“ und „die metaphysische oder revolutionäre Politik“. 39 Trotz seiner Aversion gegen Negativität und Kritik, aus der der Ordnungstheoretiker Comte (wie Hegel) nie ein Hehl macht, unterstreicht er immer wieder die historische Funktion des metaphysischen Stadiums. Insgesamt begrüßt er „die allmähliche Zerstörung des theologischen und militärischen Systems unter dem wachsenden Einflusse des metaphysischen Geistes“. 40 Dieser „Geist“ hat insofern eine historische Funktion, als er wesentlich zur Überwindung der feudal-theologischen Verhältnisse beiträgt: „Umgekehrt kann man nicht mehr bestreiten, daß ohne die revolutionäre 35 Ibid., S. 124. 36 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 77. 37 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 560. 38 Ibid., S. 410. 39 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 32. 40 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 365. <?page no="170"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 154 Lehre alle Ideen des politischen Fortschrittes, wie vage sie auch heute sein mögen, unter der finstern Vorherrschaft der alten Philosophie notwendig verschwinden würden.“ 41 In diesem Satz kommt die ambivalente Einstellung Comtes der Aufklärung gegenüber zum Ausdruck: Einerseits begrüßt er ihre kritische Wirkung, die das alte theologische System zersetzt; andererseits möchte er diese Wirkung - zusammen mit der Revolution - so rasch wie möglich beenden, um die neue, positiv-wissenschaftliche Ordnung etablieren zu können. Denn Comte liegt sehr viel daran, Fortschritt und Ordnung so aufeinander abzustimmen, dass der Fortschritt im Rahmen der Ordnung stattfindet und das revolutionäre Chaos überflüssig wird. Es geht darum, „die Bedingungen der Ordnung mit denjenigen des Fortschritts in Einklang zu bringen“. 42 Abermals wird deutlich, wie sehr nicht nur Saint-Simons Denken, sondern auch das Comtes von der Französischen Revolution und ihren Nachwirkungen, vor allem den Napoleonischen Kriegen, geprägt ist. Im positiv-wissenschaftlichen Stadium, das Comte für endgültig (aber nicht für statisch) hält, soll es vernünftig zugehen: Vage metaphysische Begriffe wie Rousseaus „Volkssouveränität“ oder volonté générale werden verschwinden, und die Probleme der Gesellschaft werden mit Hilfe wissenschaftlicher Theoreme und Termini gelöst werden. Wie stellt sich Comte dieses „positive Stadium“, das sich jenseits von Theologie und Metaphysik entfalten soll, konkret, soziologisch vor? Dazu heißt es in seinem „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“(1822): „In dem einzurichtenden System wird die geistliche (spirituel) Macht in den Händen der Wissenschaftler sein und die weltliche Macht in den Händen der Industriekapitäne (chefs des travaux industriels).“ 43 Erst in späteren Arbeiten werden die Frauen und das Proletariat in dieses Machtgefüge aufgenommen, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird. Auch hier wird deutlich, dass Comte trotz aller Unstimmigkeiten und Verstimmungen, die es zwischen ihm und Saint-Simon gegeben haben mag, einige Gedanken seines ehemaligen Arbeitgebers und Weggefährten weiterentwickelt. Die Bezeichnung geistlich (spirituel) lässt Comtes anhaltende Verbundenheit mit dem katholisch-theologischen Gesellschaftssystem erkennen. Er kann sich - auch in einer völlig säkularisierten Welt - eine Gesellschaftsordnung ohne eine „Priesterklasse“ nicht vorstellen (vgl. Abschn. 3) und schlägt vor, dass die Wissenschaftler im „positiven Stadium“ das Priesteramt übernehmen. Nicht zufällig nimmt sein Catéchimse positiviste (Positivistischer Katechismus) die Form eines Dialogs zwischen einem Priester- 41 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 66. 42 Ibid., S. 81. 43 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 266. <?page no="171"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 155 Wissenschaftler und einer Frau an, in dessen Verlauf der weltliche Priester seiner Gesprächspartnerin die neue Ordnung erläutert. (In Wirklichkeit ist dieser Dialog ein Monolog, weil die Gesprächspartnerin alle Ansichten des Priesters teilt: Sie ist eine narzisstische Selbstprojektion des Autors im Sinne des Freudschen Ichideals.) 44 In einer seiner Vorlesungen über Metaphysik weist Adorno ganz richtig darauf hin, dass man bei Comte „mehr Invektiven gegen die Metaphysik finde[t] als gegen die Theologie“, und er fügt hinzu, Comte hätte in seiner Spätphase „die Wahnidee [gehabt], aus der Wissenschaft selber eine Art von Kult und etwas wie eine positive Religion zu machen“. 45 In diesem Zusammenhang teilen Bruno Péquignot und Pierre Tripier Comtes Entwicklung in zwei Phasen ein: „eine erste Phase, während der er die rationalen Prinzipien einer allgemeinen und systematischen Organisation der Wissenschaften erarbeitet, und eine zweite Phase, während der er die Grundlagen einer rationalen Religion der Menschheit, der positivistischen Religion, entwirft“. 46 Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass Comtes Wunsch, in der „positiven Gesellschaftsordnung“ die Form der christlichfeudalen Ordnung (religiöse Doktrin, Priesterklasse, Riten) beizubehalten, mit seiner katholischen Erziehung zusammenhing und trotz aller Säkularisierungsschübe nicht erlosch. Damit wäre zugleich sein eigenes Dictum bestätigt: „Malgré soi, on est de son siècle.“ („Man ist, ob man will oder nicht, ein Kind seines Jahrhunderts.“) 47 So ist es zu erklären, dass er am Ende seines Systems der positiven Politik seine „positive Religion“ als Nachfolgerin des Monotheismus präsentiert: „Einer echten Universalität ausschließlich fähig vereint der Positivismus die entgegengesetzten Qualitäten seiner beiden monotheistischen Vorläufer, wobei er besser als der Katholizismus zu den Unteren passt, die er adelt, und mehr als der Islamismus die würdige Herrschaft der Oberen konsolidiert.“ 48 Tatsächlich sieht Comtes „Menschheitsreligion“ dem Ka- 44 Ichideal: „Von Freud im Rahmen seiner zweiten Theorie des psychischen Apparats verwendeter Ausdruck: Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzißmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das das Subjekt sich anzugleichen sucht.“ (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp [1972], 1973, S. 202- 203.) 45 Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), Hrsg. R. Tiedemann, in: ders., Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. XIV (Hrsg. Th. W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 16. 46 B. Péquignot, P. Tripier, Les Fondements de la sociologie, Paris, Nathan, 2000, S. 30. 47 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 239. 48 A. Comte, System der positiven Politik, Bd. IV, Wien, Turia und Kant, 2012, S. 445. <?page no="172"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 156 tholizismus der Form nach zum Verwechseln ähnlich - zumal sie auch die römische Hierarchie größtenteils reproduziert. Weniger banal als Hinweise auf Comtes Sozialisation ist die Überlegung, dass Comte im Laufe der Jahre der Gedanke kam, dass eine Gesellschaftsordnung nicht dauerhaft auf Vernunft und Wissenschaft gründen kann. Daher suchte er nach einem konsensfähigen Wertsystem, das gleichsam als sozialer Kitt ein stabiles Zusammenleben ermöglichen sollte. Dieser Gedanke wurde später von Soziologen wie Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Talcott Parsons aufgegriffen und konkretisiert. Es ist einer der Grundgedanken der Soziologie, wenn er auch bei Comte in einem sonderbaren Gewand auftritt, und kann nicht auf eine „Wahnidee“ (Adorno) reduziert werden. Denn Comte hat - wie kein anderer vor ihm - den Prozess der Säkularisierung untersucht und kam zu dem Schluss, dass eine völlig verweltlichte Gesellschaft, in der jeder Einzelne nur seinen persönlichen Nutzen vor Augen hat, nicht überleben kann. Sein Entwurf einer weltlichen „Menschheitsreligion“ ist eine Antwort auf die in der Postmoderne hochaktuelle Frage, wie dem sich ausbreitenden Individualismus als Egozentrik und Egoismus zu begegnen sei. Dass diese Antwort fragwürdig ist und heute skurril anmutet, liegt auf der Hand. Zurück zur „ersten Phase“ von Comtes wissenschaftlicher Entwicklung und zu seiner „systematischen Organisation der Wissenschaften“. Es geht um sein von den Enzyklopädisten beeinflusstes Projekt einer „Enzyklopädie der Wissenschaften“, das aus seiner Formulierung des „Drei-Stadien- Gesetzes“ hervorgeht. Das Projekt kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Es gilt zu zeigen, dass Naturwissenschaften wie Astronomie, Physik und Chemie allmählich aus dem Bann der Religion und des Mythos heraustreten (vom polytheistischen Ursprung der Astronomie zeugen noch die Namen einiger Planeten: Jupiter, Mars, Venus) und in einem frühen Stadium zu positiven, tatsachenorientierten Wissenschaften werden. Dieser Prozess der Emanzipation hat einerseits einen Säkularisierungsschub zur Folge, andererseits eine Rationalisierung des sozialen Lebens, die wesentlich zur Entstehung einer modernen Gesellschaft beiträgt. Zu Recht weist daher Henri Gouhier darauf hin, dass Comte im Anschluss an seine Formulierung des Drei-Stadien-Gesetzes die enzyklopädische Hierarchie entdeckte, die sich gleichsam von selbst aus diesem Gesetz ergibt: „Comte hat das Gesetz der enzyklopädischen Hierarchie nach dem der drei Stadien entdeckt, denn das Drei-Stadien-Gesetz ermöglicht erst die soziale Physik.“ 49 Als „soziale Physik“ bezeichnet Comte zunächst die Soziologie, der er ihren Namen gab (kein geringes Verdienst). 49 H. Gouhier, La Jeunesse d’Auguste Comte, op. cit., S. 296. <?page no="173"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 157 Werner Fuchs-Heinritz fasst zusammen: „Die Grundwissenschaften sind: Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und die jetzt zu begründende Soziale Physik (bzw. Soziologie), und zwar in dieser Reihenfolge. (…) Als erste hat die Astronomie das theologische und das metaphysische Stadium hinter sich gelassen, als letzte wird die Soziologie das tun.“ 50 Dies ist nun keineswegs sicher. Comte selbst zeigt am konkretesten, dass er Religion und Sozialwissenschaft nicht sauber zu trennen vermag, die Einflüsse des Protestantismus und des Sozialdarwinismus in der frühen amerikanischen Soziologie wurden von Robert C. Bannister ausführlich untersucht 51 , und neuerdings reagiert der Soziologe Amitai Etzioni auf einen entfesselten Individualismus ideologisch, indem er in seinen wissenschaftlichen Publikationen unverhohlen den religiös gefärbten Kommunitarismus predigt und - wie seinerzeit Comte - um Anhänger wirbt. 52 Somit erscheint Comtes Gedanke, dass die Soziologie als komplexeste Wissenschaft die vorwiegend naturwissenschaftliche Enzyklopädie der Wissenschaften abschließt, heute als eine der vielen soziologischen (positivistischen) Illusionen. In diesem Zusammenhang ist es kaum hilfreich, wenn Comte in seiner Rede über den Geist des Positivismus erklärt: „Zunächst in seiner ältesten und verbreitetsten Bedeutung betrachtet, bezeichnet das Wort positiv das Tatsächliche im Gegensatz zum Eingebildeten (…).“ 53 Ist das von ihm konstruierte oder imaginierte „positive Stadium“ als „tatsächlich“ aufzufassen oder als „eingebildet“, „chimérique“ 54 , wie es im französischen Original heißt? Ist die Soziologie „tatsächlich“ als „positive Wissenschaft“ analog zur Physik oder Astronomie begründbar - oder handelt es sich auch in diesem Fall um eine Schimäre? Angèle Kremer Marietti mag durchaus Recht haben, wenn sie darauf hinweist, dass Comte keineswegs als ein Szientist anzusehen ist, der eine Universalwissenschaft ins Auge fasst und sich um die Besonderheit und die spezifischen Verfahren einzelner Wissenschaften - etwa der Soziologie - nicht sorgt. Comte hatte nicht die Absicht, die Soziologie als Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben auf die Biologie als Elementar- 50 W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1998, S. 147. 51 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity 1880- 1940, Chapel Hill-London, Univ. of North Carolina Press, 1987, S. 233. 52 Vgl. A. Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, London, Harper-Collins-Fontana, 1995, S. 253-267. Wie Comte betont Etzioni die Pflichten des Einzelnen, die die Rechte ergänzen oder (Comte) ersetzen sollten. Beide Autoren sind antiliberal, Comte stärker als Etzioni. 53 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (Hrsg. I. Fischer), Hamburg, Meiner, 1994, S. 45. 54 A. Comte, Discours sur l’esprit positif, Paris, Vrin, 1983, S. 64. <?page no="174"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 158 wissenschaft vom Menschen zu reduzieren: „Man muss anerkennen, dass Comte den spezifischen Charakter der gesellschaftlichen Erscheinungen entdeckt hat: ein Verdienst, das man ihm streitig macht, wenn man ihm ein sogenanntes ‚biologisches Modell‘ zuschreibt.“ 55 Diese Einschätzung ist teilweise richtig, verdeckt aber die Tatsache, dass Comte versucht, den positiv-wissenschaftlichen Charakter der Soziologie im Rahmen einer Enzyklopädie zu bestimmen, deren Prinzipien von der Mathematik und den Naturwissenschaften (Astronomie, Physik, Chemie, Biologie) vorgegeben werden. Dadurch kommt es zu einem „Methodenmonismus, der Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften vereint“ 56 , wie Jürgen Brankel es ausdrückt. In diesem Kontext verschwindet eine Besonderheit der Soziologie aus dem Blickfeld: ihre Verankerung in religiösen Vorstellungen und ideologischen Wertsetzungen. Diese Besonderheit unterscheidet sie ganz wesentlich von einer Naturwissenschaft wie der Physik und lässt Comtes Ausdruck physique sociale fragwürdig erscheinen. Fragwürdig ist darüber hinaus Comtes gesamte Enzyklopädie als Taxonomie oder Klassifikation, die keineswegs, wie Jürgen Brankel meint, „alle Wissenschaften miteinander verbindet“. 57 Denn Comte lässt die Psychologie, wie Jacques Muglioni bemerkt, umstandslos in der Gehirnforschung aufgehen: „Zwischen der Gehirnphysiologie, die nach Comte von Gall nur angekündigt wird, und der philosophischen Menschheitsgeschichte hat die Psychologie daher keinen Platz.“ 58 Noch gravierender als dieser Reduktionismus ist Comtes Auslassung der Wirtschaftswissenschaft, die er als Leser von Adam Smith und als Kritiker der Politischen Ökonomie durchaus kannte. Kremer Marietti verharmlost allzu sehr, wenn sie diese Auslassung aus einer rein persönlichen Vorliebe oder Entscheidung ableitet: „Comte kann in der Politischen Ökonomie nicht die Sozialwissenschaft erkennen, die er sucht (…).“ 59 Denn die Ausblendung der Wirtschaftswissenschaft hat, wie jede sozialwissenschaftliche Relevanzentscheidung und die sich aus ihr ergebende Klassifikation, ideologisch-politische Folgen. 60 Hätte Comte eine kritisch reflektierte Politische Ökonomie in seine Enzyklopädie aufgenommen, 55 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte. Entre le signe et l’histoire, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 18. 56 J. Brankel, Theorie und Parxis bei Auguste Comte. Zum Zusammenhang von Wissenschaftssystem und Moral, Wien, Turia und Kant, 2008, S. 46. 57 Ibid., S. 30. 58 J. Muglioni, Auguste Comte. Un philosophe pour notre temps, Paris, Kimé, 1995, S. 159. 59 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 192. 60 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VII. 3 (d): „Die semantische Ebene: Relevanz, Klasse und Kode“. <?page no="175"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 159 wäre er möglicherweise zu der Einsicht gelangt, dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, Bürgertum und Proletariat abzeichnet; dass der Tauschwert alle kulturellen Werte aushöhlt, so dass schließlich kein alle Menschen verbindendes soziales Wertsystem mehr vorausgesetzt werden kann. Möglicherweise wusste er nur allzu gut, warum er die Ökonomie ausklammerte. 3. Die semantische Grundlage des Comteschen Diskurses und sein Aktantenmodell Das Drei-Stadien-Gesetz und die „Enzyklopädie“ lassen in großen Zügen die semantische Basis von Comtes Diskurs erkennen, die diesem Diskurs als Erzählung eine bestimmte Richtung vorgibt. Diese Richtung hängt stets von den semantischen Relevanzkriterien und Selektionen ab, für die sich ein Beobachter der Gesellschaft entscheidet. Entscheidet er sich für den Gegensatz Kapital / Arbeit, entsteht eine Erzählung, in der die kollektiven Aktanten „Bürgertum“ und „Proletariat“ gegeneinander antreten. Diese Erzählung vermied Comte u.a. dadurch, dass er die Wirtschaftswissenschaft aus seiner Enzyklopädie ausschloss und im Anschluss an sein Drei-Stadien- Gesetz einen anderen semantischen Gegensatz für relevant erklärte: den zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft. Dieser von Comte im Anschluss an die Enzyklopädisten, an Condorcet und Saint-Simon postulierte Gegensatz lässt ein Aktantenmodell und eine Erzählung entstehen, in denen ganz andere Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar werden als bei Marx und den Marxisten. Im Folgenden soll zwar durchaus die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Ausgliederung der Ökonomie aus der Comteschen Enzyklopädie politisch brisant ist; diese Tatsache soll aber nicht dazu dienen, Comtes Diskurs vorab zu diskreditieren. Denn im Vordergrund steht hier die Frage, welche Tatbestände, Ereignisse und Entwicklungen Comte wahrnahm, die Marx aufgrund seiner semantischen und narrativen Vorentscheidungen nicht wahrnehmen konnte. Es geht somit um eine vergleichende Beobachtung dritten Grades, die Comtes innovative Andersartigkeit (im Hinblick auf Marx) erkennen lässt, schließlich aber - im nächsten Abschnitt - Marx und Comte miteinander konfrontiert, um die Vorzüge und Defizite ihrer beiden Diskurse aus heutiger Sicht erkennbar zu machen. Comte spricht zwar immer wieder vom „Gang der Zivilisation“ 61 und unterstreicht damit den Prozesscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung; dies hindert ihn aber nicht daran, bestimmte Instanzen für diese Ent- 61 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 238. <?page no="176"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 160 wicklung verantwortlich zu machen und seiner Erzählung ein Aktantenmodell zugrunde zu legen. In Übereinstimmung mit dem als relevant postulierten Gegensatz Glaube / Vernunft tritt in allen seinen Teilerzählungen und in seinem Diskurs als ganzem, der trotz aller Veränderungen, die er durchmacht 62 , für die Einheit seines Werks bürgt, die Menschheit als Auftraggeberin und die Gottheit oder (allgemeiner) die Transzendenz als Gegenauftraggeberin auf. Freilich erscheinen beide abstrakte oder mythische Aktanten häufig unter Synonymen wie „Mensch“, „Gesellschaft“, „übernatürliche Kräfte“, „Gott“, „Geist“, „Götter“ (einige Revolutionäre und „Metaphysiker“ wandten sich dem antiken Polytheismus zu). Bisweilen wird die Menschheit als „Großes Wesen“(„Grand-Etre“) bezeichnet - etwa im System der positiven Politik. Die „wissenschaftliche Vernunft“ tritt bei Comte als das Subjekt der Geschichte oder der gesellschaftlichen Entwicklung, d.h. als positiv konnotierter Aktant auf, dem zusammen mit den Industriellen die „positiven Wissenschaftler“, allen voran Comte selbst, als Akteure angehören. Dieses von der „Menschheit“ beauftragte Subjekt wird von Comte mit optimalen Modalitäten wie „Rationalität“, „Wissenschaftlichkeit“ und „Tatsachenwissen“ ausgestattet, die seinen Sieg über alle Widersacher wahrscheinlich erscheinen lassen. Das Antisubjekt, das die Entwicklung (den Fortschritt) im Auftrag der „Transzendenz“ rückgängig zu machen versucht oder sie stört, hat einen Doppelcharakter, weil es sich aus Theologie und Metaphysik zusammensetzt. Als kollektiver Aktant ist es mit negativen Modalitäten wie „Rückständigkeit“ und „Irrationalismus“ behaftet, denen es seine Niederlagen verdankt. Es gleicht einem zerstrittenen Paar oder einer labil geschichteten Koalition von Kräften, von denen einige zeitweise die Sache der Vernunft und des Wissensfortschritts begünstigen. Während die „Theologie“, deren Akteure Adelige, Priester und Könige sind, zur Ordnung drängt und - ohne es zu wollen - bisweilen den vernünftigen, geordneten Fortschritt ermöglicht, schwächt die „Metaphysik“ (Philosophen, Literaten, Rechtsgelehrte) die „Theologie“ durch Kritik und revolutionäre Gesinnung. Sie fördert dadurch das narrative Programm des Subjekt-Aktanten Vernunft. Deren „List“ im Sinne von Hegel macht sich in den Konflikten zwischen Akteuren der Theologie und denen der „Metaphysik“ bemerkbar. Der prozesshafte Charakter der sozialen Entwicklung ist auf diese Konflikte zurückzuführen, die bewirken, dass immer wieder Konstellationen und Situationen entstehen, die in keiner Weise den Absichten der Akteure und Aktanten entsprechen. 62 Vgl. M. Bourdeau, Les Trois états, op. cit., S. 143. <?page no="177"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 161 Dennoch ist bei Comte die Gegenwart historischer Intentionalität überall zu beobachten. Denn die Spannungen innerhalb des doppelten und sich ständig verdoppelnden Antisubjekts macht sich die Vernunft als positive Wissenschaft zunutze, um den Fortschritt im Interesse der Menschheit als Auftraggeberin voranzutreiben: um ihr narratives Programm durch die Instrumentalisierung sozialer Prozesse zu verwirklichen. Von diesem Programm zeugt die folgende Passage aus dem Cours de philosophie positive (dt. Soziologie), die mit dem revolutionären Sieg der „Metaphysik“ über die „Theologie“ beginnt: „Auch mußte der politische Triumph der metaphysischen Schule, wie für jeden anderen Gedankenkreis, eine unerläßliche Vorbereitung für das erste soziale Auftreten der positiven Schule bilden, welcher die tatsächliche Beendigung der revolutionären Epoche durch die definitive Begründung eines ebenso fortschrittlichen wie regelmäßigen Systems ausschließlich vorbehalten ist.“ 63 Aber geht es in der gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich um eine Auseinandersetzung zwischen „Schulen“ als geistigen Richtungen? Sind nicht auch materielle, ökonomische Interessen im Spiel, die Gegensätze zwischen Landadel und Hochfinanz, zwischen Industriellen und Arbeitern zeitigen? Comte geht zwar immer wieder auf konkrete Aktanten und Akteure (Adelige und Priester, Literaten und Rechtsgelehrte) ein, neigt aber häufig dazu, kompakte soziale Interessen auf hegelianische Art in geistige Kontroversen, in „Schulen“ zu verflüchtigen - oder Eliten für die soziale Entwicklung verantwortlich zu machen. 64 Davon zeugt seine ausführliche Analyse der „revolutionären Bewegung (…), die seit dem 14. Jahrhundert die Elite der Menschheit mehr und mehr dazu drängt, sich von dem theologischen und militärischen Systeme völlig frei zu machen“. 65 Hat nicht Saint-Simon (und zeitweise auch Comte) die Masse der Werktätigen, Industrielle, Bauern und Arbeiter, dem müßigen Adel entgegengesetzt? Wie wirkt sich die auch materiell, ökonomisch bedingte Konfrontation dieser sozialen Gruppierungen auf den Fortgang der Geschichte aus? Comte weicht solchen Fragen aus (vgl. Abschn. 4). Sein narratives, teleologisch konstruiertes 66 Programm ist auf ein Ziel gerichtet, das mit der Beauftragung der „wissenschaftlichen Vernunft“ durch die „Menschheit“ als „Grand-Etre“ vorgegeben wird: die Verwirklichung des positiv-wissenschaftlichen Stadiums der Gesellschaft. Diese Verwirklichung ist zugleich der Objekt-Aktant des Diskurses im Sinne von 63 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 26-27. 64 In System der positiven Politik, Bd. IV, S. 317 heißt es unmissverständlich: „Da die okzidentale Revolution mehr intellektuell als sozial ist (…).“ 65 A. Comte, Soziologie, Bd. II, op. cit., S. 569. 66 W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, op. cit., S. 139. <?page no="178"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 162 Greimas. 67 Denn im positiven Stadium soll es zu einer Befreiung der Auftraggeberin „Menschheit“ von allen theologischen Fesseln und metaphysischen Irrungen kommen. In Comtes Erzählung können die einzelnen Akteure der kollektiven Aktanten „Vernunft“ bzw. „Theologie-Metaphysik“ als Helfer und Widersacher aufgefasst werden. Während die Sache der wissenschaftlichen (positiven) Vernunft von Denkern wie Comte - später Emile Littré und anderen Positivisten - vertreten wird, kämpfen auf der anderen Seite reaktionäre Adelige und Priester sowie kritische Philosophen und Literaten (im Sinne von Voltaire und Rousseau) gegen den wissenschaftlichen Geist: die einen für die Theologie, die anderen für eine revolutionäre Metaphysik. Paradoxerweise nennt Comte „Theologie“ und „Metaphysik“ oft in einem Atemzug und konstituiert dadurch einen ambivalenten Doppelaktanten als Gegner der positiven Vernunft. 68 Wie sehr sich Comte als Akteur des Aktanten „wissenschaftliche Vernunft“ mit diesem identifiziert, lässt eine Passage aus dem Cours de philosophie positive (dt. Soziologie, Bd. III) erkennen, in der seine Erzählung der Gesellschaft unmerklich zur Ich-Erzählung gerät: „Da ich, wie ich zu sagen mich erkühne, diese neue Grundwissenschaft geschaffen und bis jetzt allein gepflegt habe (…).“ 69 Aus erzähltheoretischer Sicht kommt diesem Satzanfang besondere Bedeutung zu: erstens, weil der Erzähler als Ich-Erzähler selbst in seiner Geschichte auftritt, was in soziologischen Diskursen zwar durchaus vorkommt, aber doch recht ungewöhnlich ist; zweitens, weil dieser Erzähler zugibt, dass er seinen Subjekt-Aktanten, die „wissenschaftliche Vernunft“ als positive „Grundwissenschaft“, selbst „geschaffen“ hat. In seinem „Plan des travaux scientifiques pour réorganiser la société“ heißt es ergänzend: „Ich habe es gewagt, diesen Plan zu entwerfen, und ich unterbreite ihn feierlich den Wissenschaftlern Europas.“ 70 Hier drängt sich die Vermutung auf, dass Comte eine Erzählung konstruiert hat, deren Auftraggeberin - „die Menschheit“ - auch seine Schöpfung ist. Dies ist nicht weiter verwunderlich: denn die Theologen haben ihre Götter als Auftraggeber konstruiert, der „Weltgeist“ ist Hegels ganz persönliches Konstrukt, und dies gilt auch für Marxʼ „Proletariat“, das als von der „Geschichte“ 67 Vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979: „objet“. 68 Vgl. A. Comte, System der positiven Politik, Bd., IV, op. cit., S, 321, wo Theologie und Metaphysik als „Rückschrittlichkeit und Anarchie“ und als „inkohärente Mischung“ charakterisiert werden. 69 A. Comte, Soziologie, Bd. III, op. cit., S. 560. 70 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 277. <?page no="179"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 163 beauftragtes Subjekt und Fokalisator im Marxschen Diskurs entstand (vgl. Kap. IV). In Comtes Diskurs erfüllt die Funktion des Fokalisators der positive Wissenschaftler als Akteur des überindividuellen Aktanten Vernunft. Mit seinen Augen wird das Weltgeschehen betrachtet, aus seiner Sicht und mit Hilfe seiner Modalitäten wird an Theologen und Metaphysikern als Antisubjekten Kritik geübt. Davon zeugt die ausgeprägte Tendenz zur Ich-Erzählung, die man bei Marx vergeblich suchte und die den narzisstischen Zug in Comtes Diskurs erkennen lässt. Marxʼ Fokus liegt nicht in ihm selbst, sondern außerhalb von ihm: in einem - durchaus mythisierten - „Proletariat“. Vor allem in Comtes Spätwerk fällt dem „Proletariat“ auch eine besondere Rolle zu. Es ist jedoch nicht die des Fokalisators, sondern die des Adressaten (destinataire, Greimas). In Werken wie Discours sur l’ensemble du positivisme (1848) und Catéchisme positiviste (1852) lässt Comte zwei (potenzielle) Adressaten der wissenschaftlichen Vernunft auftreten, die zugleich seine Adressaten und Helfer sind oder sein könnten: die „Proletarier“ und die „Frauen“. Comtes Überlegungen zu dieser Erweiterung und Erneuerung der positivistischen Theorie klingen plausibel: Anders als die gebildeten Bürger, deren Denken in religiösen und metaphysischen Vorurteilen befangen ist, sind Proletarier und Frauen aufgrund ihrer Bildungsferne eher für die Argumente der positiven Wissenschaft empfänglich. Sie könnten dem Positivisten helfen, die Verwirklichung des „positiven Stadiums“ zu beschleunigen. Dazu heißt es bereits in der Rede über den Geist des Positivismus (1844): „Wenn die berühmte tabula rasa von Bacon und Descartes jemals vollständig verwirklicht werden könnte, wäre es gewiß bei den heutigen Proletariern, die vor allem in Frankreich sich weit mehr als irgendeine andere Klasse dem Idealbild jener die rationale Positivität vorbereitenden Verfassung nähern.“ 71 In diesem Zusammenhang bezeichnet Angèle Kremer Marietti das Proletariat zu Recht als „Helfer der geistlichen Macht“ („auxiliaire du pouvoir spirituel“). 72 Comte selbst spricht in Discours sur l’ensemble du positivisme im Zusammenhang mit den Proletariern von „entscheidenden Helfern der neuen Philosophen“ („auxiliaires décisifs des nouveaux philosophes“). 73 Das Proletariat tritt hier nicht als Subjekt der Geschichte auf - wie bei Marx -, sondern als Adressat und Helfer des positiven Wissenschaftlers oder der positiven Wissenschaft, der es helfen soll, das positive gesellschaftliche 71 A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, op. cit., S. 93. 72 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 199. 73 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme, op. cit., S. 164. <?page no="180"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 164 Stadium schneller zu erreichen. Für Comte ist nicht die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse, sondern deren geistige Einstellung entscheidend. Diese Einstellung meint Comte auch bei den Frauen anzutreffen, die er als homogene Gruppe auffasst, ohne sich um Standes- und Klassengegensätze zwischen adeligen und bürgerlichen Frauen einerseits und Arbeiterinnen oder Bäuerinnen andererseits zu sorgen. Die Struktur des Catéchisme positiviste legt recht eindeutig die Führungsrolle des positiven Denkers fest: Zusammen mit den Proletariern sollen sich die Frauen von ihren bisherigen geistigen Führern - den Theologen und Metaphysikern - trennen und sich dem positiven Denken (Comtes) zuwenden. 74 Im Kräfteverhältnis zwischen Proletariern, Frauen, Industriellen und positiven Wissenschaftlern (den neuen „Priestern“) bleibt diesen die Schlüsselposition vorbehalten: „So wird die Priesterschaft zur Seele der wahren Soziokratie.“ („C’est ainsi que le sacerdoce devient l’âme de la vraie sociocratie.“) 75 Comte fügt hinzu, dass diese Gruppe eine ausschließlich be ratende Funktion erfüllt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er Theorie und Praxis, wissenschaftliche und politische Tätigkeit voneinander trennt. Zugleich wird jedoch an entscheidenden Stellen des Catéchisme deutlich, dass das von ihm entworfene positive Denken zur Grundlage der neuen Gesellschaft werden soll, so dass die „Seele“ dieser Gesellschaft als das eigentliche historische Subjekt erscheint, das im Auftrag der „Menschheit“ handelt. Von der überragenden Position der Auftraggeberin „Menschheit“ zeugt schließlich die von Comte - vor allem in Catéchisme positiviste - konzipierte, radikal säkularisierte Religion. Es ist eine Religion ohne Gott und Götter, ohne Transzendenz. Gouhier charakterisiert diese Religion in aller Knappheit durch drei Verneinungen: „Kein Gott, keine Seele, keine Ewigkeit.“ 76 Die Aufgabe der neuen Priesterschaft - der positiven Wissenschaftler - besteht darin, die Aufmerksamkeit aller Gruppen der Gesellschaft auf das Diesseits zu richten und zur Ehrung des Großen Wesens (Grand-Etre), der Menschheit, beizutragen: „Schließlich wird die priesterliche Vorsehung dafür sorgen, dass wir systematisch das Wesen und das Schicksal des Großen Wesens erkennen, indem sie uns allmählich die Gesamtheit der wirklichen Ordnung erkennen lässt.“ 77 Kurzum, die positive Wissenschaft soll jenseits von Theologie und Metaphysik allen Beteiligten die Erkenntnis der wirklichen Welt ermöglichen: eine Erkenntnis, die zur Anerkennung und Vereh- 74 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 64-65. 75 Ibid., S. 259. 76 H. Gouhier, La Vie d’Auguste Comte, op. cit., S. 111. 77 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 125. <?page no="181"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 165 rung des Großen Wesens (der „Menschheit“, der Auftraggeberin der „wissenschaftlichen Vernunft“) führt. Es lohnt sich, die Beschaffenheit der einzelnen Aktanten, mit deren Hilfe Comte die Entwicklung der Gesellschaft erzählt, näher zu betrachten. Zunächst fällt auf, dass ihnen allen ein hoher Abstraktionsgrad gemeinsam ist. Die Menschheit als Auftraggeberin (des Subjekts, des Wissenschaftlers) kann nur jemand als Einheit wahrnehmen und verehren, der sich über deren widerspruchsvolle Heterogenität keine Gedanken macht. Skepsis steigt auf, wenn man mit Robert Musil feststellt, dass der Mensch „ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft“ 78 ist. Wird dort Heterogenität entdeckt, wo Comte Homogenität vermutet, drängt sich auch die Frage auf, ob die „Menschheit“ wirklich als kollektiver Aktant (als Auftraggeberin) aufgefasst werden kann - oder ob ihr diese fiktive Funktion nur in Comtes Diskurs zufällt. Diese Überlegung gilt auch für „die Frauen“ und „die Proletarier“ als Ad ressaten und Helfer des Subjekt Aktanten „wissenschaftliche Vernunft“ (oder „Wissenschaftler“). Im Zusammenhang mit den „Frauen“ wurde bereits eine mögliche Heterogenität festgestellt, die sie als Adressatinnen und Helferinnen der positiven Wissenschaft wenig geeignet erscheinen lässt, zumal Comte die sogar für das 19. Jahrhundert recht konservative Ansicht vertritt, dass die Frau am häuslichen Herd am besten aufgehoben ist: „Freiwillig im häuslichen Heiligtum eingeschlossen (volontairement enfermée au sanctuaire domestique), setzt sie sich dort für die Vervollkommnung ihres Gemahls und ihrer Kinder ein, von denen sie auf würdige Art die wohlverdiente Anerkennung empfängt.“ 79 Dies ist alles andere als positive Wissenschaft; eher ist es reine Ideologie als Apologie herrschender Verhältnisse. 80 Ähnlich wie bei Marx wird auch bei Comte das „Proletariat“ zu einem mythischen Aktanten. Obwohl Comte immer wieder die Nähe zur arbeitenden Bevölkerung suchte und Vorträge vor Pariser Arbeitern (z.B. über Astronomie) hielt, abstrahiert er systematisch von den wirklichen sozialen und ökonomischen Verhältnissen der Arbeiterschaft, wenn er „das Proletariat“ als einen homogenen Aktanten auffasst, der sich für die positive Lehre empfänglich zeigen wird. Die wirkliche Arbeiterschaft ist weder homogen als revolutionäre Klasse im Sinne von Marx noch homogen im Sinne von Comtes positivistischer Gesinnung: Sie zerfällt oft in Rebellen, Kon- 78 R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. VIII (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 1081. 79 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 248. 80 Vgl. A. Le Bras-Chopard, „Une statue de marbre. L’idéal féminin d’Auguste Comte: Convergences et dissonances avec ses contemporains socialistes“, in: M. Bourdeau et al. (Hrsg.), Auguste Comte aujourd’hui, Paris, Kimé, 2003, S. 176: „La place de la femme dans la société: mariage et famille“. <?page no="182"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 166 formisten und Opportunisten. Ihnen allen ist ein Utilitarismus gemeinsam, der sie nicht gerade für die Aufnahme philosophischer Doktrinen - welcher Art auch immer - prädisponiert. Auch die „Theologen“ und „Metaphysiker“, die Comte häufig gemeinsam als Doppelaktanten und Antisubjekt auftreten lässt, bilden keineswegs homogene Gruppen. Die Theologen folgen verschiedenen, oft unvereinbaren Doktrinen, und Comte selbst hat Mühe, die Einheit der Metaphysiker als Rechtsgelehrte, Philosophen und Literaten nachzuweisen, zumal bekannt ist, dass seine beiden Vorzeigemetaphysiker - Rousseau und Voltaire - verfeindet waren. Am ehesten bilden noch die „Industriellen“ eine handlungsfähige kollektive Einheit, obgleich auch sie sich als Konkurrenten oft von unvereinbaren Interessen leiten lassen. Es geht hier nicht primär darum, Comtes Aktantemodell zu dekonstruieren, sondern darum, bestimmte Konstruktionsvorgänge sichtbar zu machen, die Comtes soziologische Erzählung ermöglichen. An erster Stelle wären die schon kommentierten Relevanzkriterien zu nennen, aus denen der Gegensatz zwischen Menschheit und Gottheit, wissenschaftlicher Vernunft und religiösem Glauben hervorgeht. Die Aktanten, die im Rahmen dieses Gegensatzes auftreten, kommen dadurch zustande, dass Comte von den wirklichen Gruppierungen und ihren Verhältnissen - Industrielle, Arbeiter, Frauen - abstrahiert und sie als homogene, idealisierte Einheiten auftreten lässt. Dabei bedient er sich u.a. der Metonymie (als Synekdoche): Ein Teil der Arbeiterschaft, die er persönlich kennen gelernt haben mag, steht für „das Proletariat“, ein Teil der weiblichen Bevölkerung steht synekdochisch (Teil für das Ganze) für „die Frauen“ allgemein. In diesem besonderen Fall drängt sich die Vermutung auf, dass er „die Frauen“ mit der früh verstorbenen (1846) Clotilde de Vaux identifiziert, in die er sich nach seiner unglücklichen Ehe mit Caroline Massin platonisch verliebt hat. Kurzum, die Konstruktion der Erzählung wird dadurch ermöglicht, dass der Autor scheinbar konkrete Gruppierungen auftreten lässt - „die Menschheit“, „die Frauen“, „das Proletariat“, „die Industriellen“, „die Metaphysiker“ -, die in Wirklichkeit abstrakte oder gar mythische Aktanten sind, denen kein kohärenter und empirisch feststellbarer Handlungsablauf zugerechnet werden kann. Die Erzählung erscheint nur deshalb plausibel, weil der Theoretiker in den meisten Fällen von den wirklichen Zuständen abstrahiert. Die mythischen Komponenten kommen dadurch zustande, dass er - wie Marx - seine Aversionen und Hoffnungen in die empirisch inhaltslosen Aktanten projiziert. Dadurch kommt ein „Proletariat“ zustande, das in seiner Gesamtheit - oder zumindest mehrheitlich (Umfragen, Statistiken fehlen) - antimetaphysisch eingestellt ist und eine Vorliebe für die positive Wissenschaft entwickelt. <?page no="183"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 167 In dem hier entworfenen Zusammenhang ist es wichtig, den Konstruktionsvorgang nachzuzeichnen, der eine soziologische Erzählung entstehen lässt. Diese ist niemals eine „teils richtige, teils falsche“ Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern stets eine sprachliche, d.h. semantische, syntaktische und narrative Konstruktion, die die Wirklichkeit in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Dass dieser Konstruktion im Falle von Comte eine z.T. konservative Ideologie zugrunde liegt, haben seine Kommentare zur Stellung der Frau in der Gesellschaft gezeigt. Auch der Umstand, dass er die Diktatur Louis-Napoleons begrüßte, zeugt von einem ausgeprägten Sinn für Ordnung. 81 Die Konfrontation mit Marx im nächsten Abschnitt wird seine konservative Einstellung zur Arbeiterschaft erkennen lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Comte insgesamt als konservativer Denker aufzufassen ist. 4. Marx vs. Comte vs. Marx Beobachter wissenschaftlicher Kontroversen erwarten in den meisten Fällen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen eine Position als richtig, die andere als falsch erweist. In einem Kontext, in dem jede Theorie als mögliche Konstruktion oder „Erzählung“ betrachtet wird, können sich solche Erwartungen selbst als fragwürdig erweisen. Denn jede Konstruktion lässt bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zutage treten, die andere Konstruktionen verdecken oder nur teilweise beleuchten. Entscheidend ist daher die Frage, welche Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit man selbst für wichtig hält. Da im vorliegenden Fall der Autor auf dem Standpunkt der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers steht, die er hier als Dialogische Theorie weiterentwickelt, ist es naheliegend, dass er mehr Verständnis für Marx als für Comte aufbringen wird. Dennoch liegt ihm viel daran, Comte als einen aktuellen Denker darzustellen, der wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung beobachtet, die bei Marx im Dunkeln bleiben. Im Folgenden sind Kritik und Gegenkritik konstruiert, stützen sich teilweise aber auf Argumente, die in der Sekundärliteratur zu Marx und Comte vorgebracht wurden. In seiner Kritik an Comte könnte Marx von der hier bereits kommentierten Tatsache ausgehen, dass der Autor der positivistischen Enzyklopädie die Wirtschaftswissenschaft als Politische Ökonomie ausließ, obwohl er mit ihr vertraut war. Eine der Folgen ist, dass er die wirtschaftlichen Positionen und Interessen der von ihm beobachteten Gruppierungen nicht wahrnimmt. Folglich nimmt er auch nicht die wirtschaftlichen Ursachen der 81 Vgl. C. Cassina, „Comte face à la dictature“, in: M. Bourdeau et al. (Hrsg.), Auguste Comte aujourd’hui, op. cit., S. 186. <?page no="184"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 168 sozialen Konflikte wahr, die er zwar beschreibt, ohne sie aber erklären zu können. Die Klassenkonflikte werden ins Ideelle sublimiert. In Comtes Philosophie des sciences, wo wieder einmal die drei Weltanschauungen oder „Philosophien“ - die theologische, die metaphysische und die positive - erörtert werden, hört sich das so an: „Tatsächlich ist klar, dass wenn eine dieser drei Philosophien in der Wirklichkeit eine allgemeine und umfassende Vorherrschaft erringen könnte, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung entstünde, aber das Übel besteht darin, dass es keine wirkliche Organisation gibt.“ 82 Es ist recht unwahrscheinlich, dass die metaphysische Philosophie, die Comte an zahlreichen Stellen seines Werks für Revolution und Anarchie verantwortlich macht, zur Grundlage irgendeiner Ordnung werden könnte. Wichtiger ist hier die Marxsche Überlegung, dass nicht Philosophien um die Vorherrschaft in der Gesellschaft kämpfen, sondern von Interessen geleitete soziale Klassen. Der Landadel und der Klerus bremsen den kapitalistischen Fortschritt, weil sie beobachten, wie ihr Landbesitz der Erosion durch die Marktgesetze zum Opfer fällt. Die Industriellen, die als Kapitalisten über die Produktionsmittel verfügen, sind sehr daran interessiert, die Löhne der Arbeiter niedrig zu halten, um Mehrwert und stabile Profitraten zu sichern. Diese Interessengensätze blendet Comte zusammen mit der Politischen Ökonomie aus, sooft er ein harmonisches Miteinander von Arbeitern, Industriellen und positiven Wissenschaftlern im „positiven Stadium“ schildert: „Dann wird das Proletariat erkennen, dass die Hauptfunktion des Patriziats [der Industriellen, der Kapitalisten] darin besteht, allen Beteiligten die friedliche Erfüllung dieser häuslichen Bedürfnisse zu sichern (…).“ 83 Diese soziale Harmonie wird durch die völlige Unterwerfung des Proletariats unter die Interessen der Kapitalisten erkauft. Im Katechismus wird „der materielle Besitz unmittelbar von der positiven Religion gerechtfertigt“ 84 , und Comte spricht dort von einer „würdigen Unterwerfung“, einer „digne soumission“ 85 des Proletariats, die er mit einem Corneille-Zitat rechtfertigt. Konsequent schlägt er vor, dass das industrielle „Patriziat“ (die Kapitalisten) nach Gutdünken die Höhe der Arbeitergehälter bestimmt: „Aber das Verhältnis zwischen dem konstanten und dem variablen Teil des Arbeitergehalts wird von Industriezweig zu Industriezweig verschieden sein und Gesetzen entsprechen, die nur das Patriziat bestimmen kann.“ 86 82 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 81. 83 A. Comte, Catéchisme positiviste, op. cit., S. 265. 84 Ibid., S. 124. 85 Ibid., S. 264. 86 Ibid., S. 266. <?page no="185"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 169 In Discours sur l’ensemble du positivisme, wo die Rolle der „privaten Industrie“ („industrie privée“) 87 gelobt wird, fällt der positivistischen Wissenschaft die Aufgabe zu, im Konfliktfall zwischen Industriellen und Arbeitern zu vermitteln: „die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme moralisch zu lösen“. 88 Dadurch wird diese Wissenschaft zu einer Konsensideologie, deren Hauptfunktion darin besteht, für die Stabilität des kapitalistischen Systems zu sorgen. Es geht folglich um eine Zähmung des Proletariats, nicht um die Stärkung seines revolutionären Elans. Angesichts solcher Vermittlungsversuche könnte Marx wiederholen, was er über Proudhon in „Das Elend der Philosophie“ schrieb: „Er will die Synthese sein, und ist ein zusammengesetzter Irrtum, er will als Mann der Wissenschaft über Bourgeois und Proletariern schweben; er ist nur der Kleinbürger, der beständig zwischen dem Kapital und der Arbeit, zwischen der politischen Ökonomie und dem Kommunismus hin und her geworfen wird.“ 89 Durch dieses Oszillieren zwischen den Polen bestätigen beide, sowohl Proudhon als auch Comte, die bestehende Ordnung. So sehen es auch Autoren, die Comtes Werk vom Marxschen Standpunkt aus betrachten oder aus der Sicht der Kritischen Theorie. Gerhard Wagner schreibt beispielsweise: „Während Marx alles daran setzte, die bürgerliche Gesellschaft abzuschaffen, wollte Comte sie perfektionieren.“ 90 Ergänzend ist bei Paul Kellermann von einer „Kongruenz von Positivismus im Comteschen Sinn mit [einer] positiven Affirmation des Bestehenden“ 91 die Rede. Aus der Sicht der Erzähltheorie als Aktantentheorie ist die folgende Bemerkung von Claudio de Boni besonders aufschlussreich, weil sie sich auf eine Passage bei Comte bezieht, in der das Proletariat abermals der Obhut der Industriellen anvertraut wird: „In dieser Argumentation bleibt das Proletariat jedoch ein Objekt, selbst wenn es das wichtigste Objekt ist, und wird nicht zum Subjekt der positiven Politik.“ 92 In der hier vorgeschlagenen Konstruktion ist das Proletariat nicht das Objekt, sondern (wie „die Frauen“) Adressat und Helfer des Subjekts „wissenschaftliche Vernunft“ oder „positiver Wissenschaftler“. Jedenfalls ist es nicht - wie bei Marx - das Subjekt der Geschichte. 87 A. Comte, Discours sur l’ensemble du positivisme, op. cit., S. 198. 88 Ibid. 89 K. Marx, „Das Elend der Philosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 514-515. 90 G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, Hamburg, Junius, 2001, S. 83-84. 91 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg, Rombach, 1967, S. 53. 92 C. de Boni, „La Question du prolétariat dans la pensée d’Auguste Comte“, in : A. Kremer Marietti (Hrsg.), Auguste Comte. La Science, la Société, Paris, L’Harmattan, 2009, S. 183. <?page no="186"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 170 Da Comte die ökonomische Problematik übergeht, kann er den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Industriellen und Proletariern nicht konkret im dialektischen Sinne verstehen. Denn dieser Antagonismus hängt nicht nur mit dem Herrschaftsverhältnis zwischen den Klassen und der Unterdrückung der Arbeiter zusammen, sondern auch mit der Herrschaft der Marktgesetze und des Tauschwerts: mit der Verdinglichung der Menschen als Arbeitskräfte und Waren und mit ihrer aus dieser Verdinglichung ableitbaren Entfremdung. Es geht um die Entfremdung des einzelnen Arbeiters von seinem Produkt, das er sich nicht aneignen kann, vom arbeitsteiligen Produktionsprozess, der für ihn unüberschaubar ist, von seinen Mitmenschen, die ihn als Geldquelle und Ware behandeln, und schließlich von sich selbst als instrumentalisierter Arbeitskraft, deren soziale Definition nicht seinem Selbstverständnis entspricht. 93 Wer so verdinglicht, instrumentalisiert und entfremdet ist, kann sich nicht mit Hilfe einer Wissenschaftlergruppe, der positivistischen „Priester“, mit den ihn ausbeutenden Industriellen oder Kapitalisten solidarisch erklären. Aus Marxscher Sicht erscheint das ganze kapitalistische System der „Industriellen“ als falsch, weil es den Menschen verstümmelt und das soziale Gewebe durch Verdinglichung und Entfremdung zerstört. Jede Art von Denken, die dieses System rechtfertigt und durch wissenschaftlichen Fortschritt perpetuiert, erscheint als Ideologie. Diese Kritik lässt die Bedeutung der Relevanzkriterien und Klassifikationen (der semantischen Basis) für den Ablauf eines Diskurses als Erzählung erkennen. Indem Comte die Wirtschaftswissenschaft aus seiner Enzyklopädie ausschließt und die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und Klassen jenseits des Wirtschaftssystems betrachtet, kann er wesentliche Probleme der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft (Verdinglichung, Entfremdung, Klassengegensätze) nicht erfassen. Er schärft aber den Blick für andere Probleme, die bei Marx, dessen Diskurs vom Gegensatz Kapital / Arbeit ausgeht und teleologisch auf die Revolution ausgerichtet ist, nicht angeschnitten werden. Comte würde diese Ausrichtung des Diskurses auf die Revolution wohl an erster Stelle beanstanden und Marx als „Metaphysiker“ bezeichnen, der sich von einer neuen Umwälzung eine neue Ordnung verspricht. Comte muss diese revolutionäre Hoffnung als eine gefährliche Illusion erscheinen, weil er der Meinung ist, dass sich Gesellschaft nur in geordneten Verhältnissen entfalten kann. Insofern haben Autoren wie Pierre Macherey und Angèle Kremer Marietti 93 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, S. 67-86. <?page no="187"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 171 Recht, wenn sie die Bedeutung der „Kontinuität“ 94 und der „Harmonie“ 95 für Comtes Theorie hervorheben. Sie übersehen jedoch das eigentliche Problem, auf das es Comte ankommt, das er aber nirgends explizit zur Sprache bringt. Es ist das Problem der sozialen Komplexität, über das sich Marx hinwegsetzt, wenn er meint, dass die proletarische Revolution schlagartig alle Widersprüche und Unzulänglichkeiten der kapitalistischen Ordnung beseitigen würde. Indirekt spricht Comte, der das Wort „System“ kaum verwendet, das Thema „Systemkomplexität“ an, wenn er bemerkt, „daß das wahre soziale Problem in dieser Hinsicht darin besteht, die fundamentale Lage dieser ungeheuren Majorität zu verbessern, ohne die Standesunterschiede zu vernichten und die unentbehrliche Gesamtökonomie zu stören“. 96 Einerseits kommt in diesen Zeilen abermals Comtes systemerhaltende Einstellung zum Ausdruck, andererseits wird in ihnen auch ein zeitgemäßer und hochaktueller Gedanke artikuliert: der Gedanke, dass es zugleich unproduktiv und gefährlich ist, das komplexe System der Industriegesellschaft gewaltsam umzuwälzen und dabei das soziale Beziehungsgeflecht zusammen mit dem wirtschaftlichen Funktionsgefüge zu zerstören. „Systemveränderung“, würde Comte im zeitgenössischen Sprachduktus gegen Marx einwenden, „ist nur im Rahmen einer bestimmten Ordnung möglich, die dafür bürgt, dass die fortschrittlichen, innovativen Maßnahmen das bisher Erreichte nicht in Frage stellen oder gar zerstören.“ An Comte knüpfen direkt oder indirekt Denker wie Karl R. Popper und Niklas Luhmann an, wenn sie die gesellschaftliche Veränderung als ein „piecemeal social engineering“ 97 (Popper) - ohne große historische Sprünge - oder als „Steigerung der Systemirritabilität“ 98 (Luhmann), d.h. als Vervollkommnung der bestehenden Systeme auffassen. Einige Revolutionen, die nach Marx stattfanden, scheinen diesen Denkern Recht zu geben. So führte beispielsweise in der jungen Sowjetunion die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft in den 1920er Jahren zu Unterdrückung und Hungersnot, in China hatte der „Große Sprung nach 94 P. Macherey, Comte. La philosophie et les sciences, Paris, PUF, 1989, S. 27. 95 A. Kremer Marietti, L’Anthropologie positiviste d’Auguste Comte, op. cit., S. 67. 96 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 149. 97 K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul (1945), 1963, S. 222: „A social technology is needed whose results can be tested by piecemeal social engineering.“ Eine solche Technologie ist nicht dazu angetan, eine Alternative zum bestehenden System zu entwerfen. 98 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 185: „Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann.“ Damit ist aber nicht die Frage beantwortet, was geschehen soll, wenn sich herausstellt, dass diese Systeme Mensch und Natur zerstören. <?page no="188"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 172 vorn“ vorwiegend wirtschaftliche Rückschläge zur Folge, und in Kambodscha mündete die von Pol Pot angeführte Revolution in Genozid und eine teilweise Zerstörung der Gesellschaft. Es ist, als hätte Comte die revolutionären Absurditäten des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt, wenn er vom „absonderlichen wirtschaftlichen Vorschlag“ spricht, „den Gebrauch des Geldes zu unterdrücken“, vom katastrophalen Vorhaben, „die großen Hauptstädte, die Hauptzentren der modernen Zivilisation, als drohende Herde der sozialen Korruption zu vernichten“, und sich schließlich gegen das „Prinzip einer strengen Gleichheit der gewöhnlichen Entlohnung für alle möglichen Arbeiten“ 99 wendet. Die revolutionären Verhältnisse, die die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg den anderen COMECON-Staaten aufzwang, begannen mit einem destruktiven Egalitarismus und führten schließlich zu Stagnation und Rückständigkeit. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die chinesische Führung vor allem darum bemüht, die Ordnung zu erhalten, um die Entfal tung einer immer komplexer werdenden Wirtschaft zu ermöglichen. Die Auswertung dieser Ereignisse, die hier freilich nicht möglich ist, könnte Comtes Ansicht bestätigen, dass Fortschritt nur innerhalb der Ord nung möglich ist, die Comte, der Theoretiker der sich schnell entwickelnden Wissenschaften, nicht mit „Statik“ verwechselte. 100 Seine Maxime trifft vor allem dann zu, wenn die Komplexität einer Gesellschaft so stark zunimmt, dass jede Art von „Umwälzung“ nur Rückschläge bewirken kann: sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozial-politischen Bereich. In diesem Sinne sollte man die Komplexität der zeitgenössischen Gesellschaft als eine „Herausforderung“, ja als die Herausforderung im Sinne von Edgar Morin verstehen. 101 In mancher Hinsicht antwortet Comte auf diese Herausforderung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er und Saint-Simon waren auch in anderer Hinsicht ihrer Zeit voraus: Sie wussten oder ahnten eher, das eine neue Friedens- und Gesellschaftsordnung nur auf europäischer Ebene möglich ist. Im Gegensatz zu Marx, der durchaus international dachte, den spezifisch europäischen Kontext jedoch nicht wahrnahm und nicht analysierte, stellt Comte unmissverständlich fest: „Aber eine europäische Krise erfordert eine europäische Vorgehensweise.“ („Mais il faut évidemment à une crise européenne un traite- 99 A. Comte, Soziologie, Bd. I, op. cit., S. 90. 100 Paul Kellermann geht davon aus, dass Comtes „positives Stadium“ als ein „stationäres Stadium ohne Ende verstanden werden“ muss: P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, op. cit., S. 52. Comte ist zwar der (durchaus plausiblen) Meinung, dass es zu den modernen Wissenschaften keine Alternative gibt, aber als Wissenschaftshistoriker, der sich mit der Entwicklung von Wissenschaften wie Astronomie, Physik und Biologie ausführlich befasst hat, stellt er sich das „positive Stadium“ selbstverständlich nicht als etwas „Stationäres“ vor, das sich nicht mehr entwickelt. 101 Vgl. E. Morin, Introduction à la pensée complexe, Paris, ESF éditeur, 1990, S. 134. <?page no="189"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 173 ment européen.“) 102 Sowohl von den positiven Wissenschaftlern als auch von den Industriellen erwartete er, dass sie den europäischen Integrationsprozess vorantreiben. Zu Recht diagnostiziert er bei den (damaligen) Industriellen einen „ungezähmten Patriotismus“ („patriotisme sauvage“) 103 , der den Einigungsprozess behindern könnte; zu Unrecht setzt er aber voraus, dass die Wissenschaftler das europäische Projekt einstimmig unterstützen würden: denn nicht wenige Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts dachten national, ja sogar nationalistisch. Wenn sich jedoch Habermas für eine europäische Verfassung ausspricht 104 und Bourdieu eine europäische Gewerkschaft fordert 105 , so handeln sie durchaus im Sinne von Comte - wenn auch anderthalb Jahrhunderte nach dessen Tod. 5. Auswertung und Ausblick Die Frage „Marx oder Comte? “ wäre falsch gestellt, weil sie eine einseitigideologische Antwort erheischt. Die Konfrontation der beiden Denker hat gezeigt, dass jeder Diskurs als Erzählung (als semantisch-narrative Struktur) die soziale Wirklichkeit anders konstruiert und dabei bestimmte Aspekte hervortreten lässt und andere verdeckt. Für Marx kündigt die Revolution die Erlösung von der kapitalistischen Ordnung an; für Comte kündigt die neue positive Ordnung die Erlösung von der endemisch werdenden Revolution an. Marx nimmt die Verzerrungen des kapitalistischen Systems wahr; Comte untersucht das Potenzial der bürgerlichen Industriegesellschaft. Angesichts der bisher vorgebrachten Argumente stehen zwei mögliche Hypothesen einander gegenüber: Der Kapitalismus, der Mensch und Umwelt zerstört, kann nur auf revolutionärem Weg überwunden werden. Und: Eine komplexe Industriegesellschaft wird revolutionäres Chaos vermeiden und versuchen, den Fortschritt im Rahmen der bestehenden Ordnung voranzutreiben. Aus der Sicht der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, die im nächsten Kapitel als mögliche Replik auf Hegelianismus, Marxismus und Positivismus dargestellt wird, erscheint der Kapitalismus als eine extreme Form der Naturbeherrschung, die auf die Dauer Natur und Mensch zugrunde richtet. Vertreter dieser Theorie werden daher weiterhin an dem 102 A. Comte, Philosophie des sciences, op. cit., S. 268. 103 Ibid., S. 269. 104 Vgl. J. Habermas, „Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 191. 105 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un mouvement social européen“, in: ders., Contre-feux 2, Paris, Raisons d’Agir, 2001, S. 17. <?page no="190"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 174 Gedanken festhalten, dass das kapitalistische System überwunden werden muss, wenn die Katastrophe vermieden werden soll. Von Auguste Comte könnten sie und ihre marxistischen Kontrahenten jedoch lernen, dass diese Überwindung das schon Erreichte nicht in Frage stellen darf und in einem europäischen Kontext, dessen Institutionen konkrete übernationale Maßnahmen ermöglichen, zu denken ist. Freilich drückt dieses Schlusswort nichts Endgültiges aus. Es fasst lediglich eine mögliche Einsicht zusammen, die sich aus der Konfrontation zweier moderner Theorien ergibt. Es soll vor allem deren Aktualität unterstreichen, die auch in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommt, in denen Durkheim, Max Weber und Pareto als Gesprächspartner von Marx und Comte auftreten. Zusammenfassung und Ausblick: Für Comte sind andere Selektionen und Gegensätze relevant, die Marxʼ Klassengegensatz überlagern: an erster Stelle der Gegensatz zwischen religiösem Glauben und wissenschaftlicher Vernunft, der aus seiner Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung ihre Dynamik und Richtung vorgibt. Ausgehend von diesem Gegensatz versucht Comte, die soziale Evolution als Prozess der Säkularisierung und Rationalisierung zu begreifen und zu erzählen. In diesem Prozess spielen kollektive Aktanten und individuelle Akteure durchaus eine Rolle: Während die „Theologen“ versuchen, das „theologische Stadium“ des Mittelalters zu erhalten, unternehmen die „Metaphysiker“ der Aufklärung (Voltaire, Diderot, Rousseau) alles, um diese Ordnung durch eine aufgeklärt-bürgerliche, d.h. durch ein „metaphysisches Stadium“, zu ersetzen. Comte lehnt ihre revolutionäre Gesinnung ab, weil er überzeugt ist, dass nur die neue Wissenschaft (die Soziologie), die er im Rahmen seiner „Enzyklopädie der Wissenschaften“ analog zu den etablierten Naturwissenschaften betrachtet, in der Lage ist, für soziale Entwicklung im Rahmen von Recht und Ordnung zu sorgen und ein „positives oder wissenschaftliches Stadium“ herbeizuführen: Nur sie wird der Komplexität moderner Gesellschaften gerecht, welche die „Metaphysiker“ nicht wahrnehmen. Sein Subjekt und Fokalisator ist die wissenschaftliche Vernunft oder der sie vertretende „positive Wissenschaftler“, der im Auftrag der „Menschheit“ handelt und im „positiven Stadium“ der Entwicklung als intellektueller Berater der „Industriellen“ die Gesellschaft verwaltet. Um dieses Stadium zu erreichen und zu konsolidieren, versucht Comte, die „Frauen“ und die „Proletarier“ als Adressaten und Helfer des Wissenschaftlers (der Wissenschaftler) zu gewinnen. Im Gegensatz zu Marx setzt er sich über die materiellen Interessen der verschiedenen Gruppierungen hinweg und plädiert idealistisch für ein Bündnis von „Wissenschaftlern“, „Industriellen“, „Proletariern“ und „Frauen“. Dadurch konsolidiert er die Hegemonie der kapitalistischen „Industriellen“ und trägt zur Erhaltung der bestehenden Ordnung <?page no="191"?> Comtes Erzählung als Antwort auf Marx 175 bei. Dennoch ist sein Argument, dass jede Veränderung oder Reform der Komplexität moderner Verhältnisse Rechnung tragen muss, noch heute hochaktuell. Im nächsten Kapitel soll Adornos und Horkheimers Kritik an Hegelianismus, Marxismus und Positivismus näher betrachtet werden. <?page no="193"?> 177 VI. Naturbeherrschung und Subjektivität: Adornos und Horkheimers Kritische Theorie als Antwort auf Positivismus, Hegelianismus und Marxismus Inhaltsverzeichnis 1. Neue Relevanzkriterien: Herrschaft und Natur, Subjekt und Objekt (Aktantenmodell) 2. Kritik an Rationalismus und Positivismus: Natur und „instrumentelle Vernunft“ 3. Kritik an Hegels „Identitätsdenken“: Negative Dialektik I 4. Kritik an Marx und am Marxismus: Negative Dialektik II 5. Die Kunst als Helferin des individuellen Subjekts: Ratio und Mimesis, Es say, Modell und Parataxis 6. Die marxistische Kritik an der Kritischen Theorie und Adornos mögliche Replik Theorien sind keine fensterlosen Monaden, die unabhängig von Kommunikation, Engagement und Kritik zustande kommen, sondern kritische und oftmals polemische Repliken auf theoretische und ideologische Diskurse der Gegenwart oder der Vergangenheit. Im historischen und gesellschaftlichen Kontext sind sie daher nur als dialogische Gebilde zu verstehen, in welche die Interessen und Kontroversen einer bestimmten Epoche eingegangen sind. Marx reagierte polemisch auf Hegel, die Junghegelianer, die britische Politische Ökonomie, auf Proudhon und viele andere; Comte setzte sich kritisch mit den Theologen, mit Rousseau, Voltaire und Condorcet auseinander. Auch die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, die hier von der im Ansatz grundverschiedenen Theorie von Jürgen Habermas getrennt wird, ist konkret am ehesten in ihrem dialogischen Verhältnis zu Positivismus, Hegelianismus und Marxismus zu verstehen. Wie die Theorien von Marx und Comte ist sie in einer besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation entstanden, in der Faschismus, Nationalsozialismus, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus um die politische und ideologische Vorherrschaft rangen; in der Marxismus, Positivismus, Existenzialismus und Anarchismus mit ihren Polemiken immer wieder den für die moderne bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Nexus von Politik, Philosophie und Wissenschaft zutage treten ließen. 1 1 Vgl. z.B. M.-A. Burnier, Les Existentialistes et la politique, Paris, Gallimard, 1966. <?page no="194"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 178 Auf den Diskurs der Kritischen Theorie, der vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marxismus liiert war und sich nach dem Krieg immer mehr von ihm distanzierte 2 , ist - wie auf alle anderen Theorien - Bachtins Skizze der ideologischen und sprachlichen Situation anwendbar, in der Diskurse dialogisch-wertend auf andere Diskurse reagieren. Bachtin spricht von der „dialogischen Orientierung [des Wortes] inmitten fremder Aussagen“. 3 Freilich sind Adorno (1903-1969) und Horkheimer (1895-1973) keine Zeitgenossen von Marx oder Comte, und aus chronologischer Sicht sollte ihre Variante der Kritischen Theorie nach Durkheim, Simmel und Max Weber kommentiert werden. Ihre wichtigsten Gesprächspartner sind jedoch - außer Zeitgenossen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean- Paul Sartre, deren Philosophien im soziologischen Kontext weniger wichtig sind -, Hegel, Marx und Comte. Es wird sich zeigen, dass Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) gegen den Positivismus Comtescher Provenienz polemisieren und dass Adorno seine negative Dialektik im Gegensatz zur positiven Dialektik Hegels definiert. Es kommt hinzu, dass Marxisten wie Georg Lukács und Lucien Goldmann nicht nur Zeitgenossen, sondern auch kritische Gesprächspartner Adornos und Horkheimers waren. Dies ist der Grund, warum die Kritische Theorie an dieser Stelle - und nicht etwa im „Dritten Teil“ des Buches - diskutiert wird. Ein weiterer Grund ist ihre Nähe zu einigen feministischen Theorien, die ebenfalls als Antworten auf Marxʼ Theorie des Klassenkonflikts dargestellt und im nächsten Kapitel erörtert werden. Adornos und Horkheimers Kritische Theorie ist nicht nur als Kritik an Hegel, Marx und Comte (am Positivismus) zu verstehen, sondern auch als eine grundsätzliche Ablehnung der modernen „Metaerzählung“, in der die Geschichte der Menschheit als ein Fortschreiten zu immer höheren Stadien (Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus oder Theologie - Metaphysik - positive Ordnung) aufgefasst wird. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung, die die jahrtausendealte Herrschaft des Menschen über die Natur für einen verhängnisvollen Prozess halten, neigen zu der Ansicht, dass es im zeitgenössischen Stadium, in dem eine globale ökologische oder strategisch-militärische Katastrophe nicht mehr auszuschließen ist, primär darauf ankommt, der fatalen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Diese Skepsis allen soziologischen Evolutionstheorien gegenüber ist teilweise aus den Biografien der beiden Autoren ableitbar, 2 Vgl. M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt, Fischer, 1976, Kap. II: „Die Genese der Kritischen Theorie“ sowie R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S. 140-141. 3 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 168. <?page no="195"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 179 die gezwungen waren, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 Deutschland zu verlassen. Theodor Wiesengrund Adorno promovierte über Edmund Husserl (1924) und habilitierte sich mit einer Arbeit über Søren Kierkegaard (1931). 1933 wurde ihm die venia legendi entzogen, und er emigrierte 1934 nach Großbritannien, wo er bis 1938 an der Universität Oxford lehrte. 1938-41 war er im Bereich empirische Sozialforschung in New York tätig und von 1941 bis 49 in Berkeley (Kalifornien), wo er zusammen mit Else Frenkel-Brunswick, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford an einer empirischen Untersuchung zum „autoritären Charakter“ 4 , einem wesentlichen Element von Faschismus und Nationalsozialismus, arbeitete. Dort hatte er auch intensiven Kontakt zu Thomas Mann und war an der Entstehung von dessen Roman Doktor Faustus (1947), der auch das Erstarken des Nationalsozialismus zu Gegenstand hat, beteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Frankfurt im Jahre 1949 setzte er seine Arbeit am Institut für Sozialforschung fort, dessen Direktor er zeitweise war. Auch Max Horkheimer, der zusammen mit Adorno die Dialektik der Aufklärung (1947) schrieb, die von den Erlebnissen des Totalitarismus, der Judenverfolgung und des Exils geprägt ist, erlebte den Nationalsozialismus als einschneidendes, katastrophales Ereignis. Er war ordentlicher Professor für Sozialphilosophie und Direktor des von Carl Grünberg 1923 gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, musste aber als Jude 1933 emigrieren: zunächst nach Paris, später nach New York, wo er von 1934 bis 1945 als Direktor des Institute for Social Research an der Columbia University tätig war. 1950 wurde er wieder zum Professor am Institut für Sozialforschung in Frankfurt ernannt, wo er zusammen mit Adorno die Kritische Theorie weiterentwickelte, die sich nach dem Krieg zunehmend vom Marxismus distanzierte. Sie vermochte dessen aufklärerisches und hegelianisches Vertrauen in den historischen Prozess nicht länger zu teilen. Historischer Fortschritt, wie ihn Hegel, Marx und Comte deuten, ist für Adorno und Horkheimer ein Fortschreiten zur Katastrophe, weil ihm in seiner gegenwärtigen Form das Prinzip einer immer intensiver werdenden Naturbeherrschung innewohnt. Aus Adornos Sicht wäre nur ein Heraustreten aus diesem verhängnisvollen Prozess echter Fortschritt: „Fortschritt heißt demnach: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit 4 Vgl. Th. W. Adorno et al., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt, Suhrkamp, 1973. <?page no="196"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 180 inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über die Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt.“ 5 Dies bedeutet, wie noch zu zeigen sein wird, dass die menschliche Herrschaft über die Natur, die auf Ausbeutung, Machtzuwachs und Gewinn ausgerichtet ist, sich als irrational erweist und sich vor allem in der Herrschaft des Menschen über den Menschen naturwüchsig und destruktiv auswirkt. Eine menschlichere, mit der Natur versöhnte, d.h. nicht mehr gewalttätige Gesellschaft würde die Naturwüchsigkeit hinter sich lassen und das Recht des Größeren und Stärkeren, das auch die kapitalistische Wirtschaft beherrscht, abschaffen. Eine solche Auffassung des historischen Prozesses bedeutet, wie Adorno selbst andeutet, „aus dem Bann heraustreten“, aus dem Prozess der falschen, naturwüchsigen Vergesellschaftung ausbrechen, bevor es zu spät ist. Sie bedeutet zugleich eine Abkehr von der Moderne als Neuzeit, deren Vertreter - Hegel, Marx, Comte, Spencer - darauf vertrauten, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung trotz ihrer Widersprüche und Verwerfungen auf das Ziel einer besseren, menschlicheren Gesellschaft zubewegt. Was Adorno und Horkheimer aufgeben, ist diese Auffassung der historischen Immanenz: den Gedanken, dass die der sozio-historischen Entwicklung innewohnenden Gesetze, Regelmäßigkeiten oder Tendenzen für eine Befreiung der Menschheit von Unterdrückung, Ausbeutung und Bevormundung sorgen würden. Während Denker wie Hegel, Marx und Comte den historischen Fortschritt zwar von verschiedenen Standorten aus, aber mit der gleichen modernen Zuversicht beobachteten, die sie von der Aufklärung geerbt hatten, sehen die Autoren der Kritischen Theorie keinen Grund mehr, diese Zuversicht zu teilen. Sie stellen - vor allem in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung - ein Scheitern der Aufklärung fest, die ihre Emanzipationsversprechen nicht halten kann, weil sie auf Gedeih und Verderb mit dem Herrschaftsprinzip als Naturbeherrschung liiert ist. Die Lösung, die Adorno und Horkheimer vorschwebt ist: eine Neubestimmung der Aufklärung, die nur durch eine Ablösung gesellschaftskritischer Theorie vom Herrschaftsprinzip zu erreichen ist. Vom gegenwärtigen Gang der Geschichte, der weiterhin von der Naturbeherrschung bestimmt wird, kann sich Kritische Theorie nur abwenden. Dazu bemerkt Adorno in einer seiner Vorlesungen aus den 1960er Jahren: „(…) Der kritische Maßstab, der es der Vernunft erlaubt und der die Vernunft nötigt und dazu verpflichtet, der Übermacht des Weltlaufs sich ent- 5 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/ 65) (Hrsg. R. Tiedemann), in: Th. W. Adorno, Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. XIII (Hrsg. Theodor W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 214. <?page no="197"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 181 gegenzustellen, der ist stets und in jeder Situation der Hinweis auf die konkrete Möglichkeit, es anders zu machen (…).“ 6 Adorno geht es nicht mehr darum, sich auf hegelianische Art dem Weltlauf als „Weltgeist“ anzuschließen, ihn zu seiner eigenen Sache zu machen oder ihn in Übereinstimmung mit Comte zu fördern, sondern darum, ihm Widerstand zu leisten, um die sich abzeichnende Katastrophe zu verhindern. Dieser Widerstandswille des kritischen Theoretikers zeitigt die Negativität der Kritischen Theorie: ihre Nichtidentität mit der schlechten Wirklichkeit und dem Weltlauf, die sie von Hegel, Marx und Comte unterscheidet. Zugleich läuft dieser Widerstand auf einen Bruch mit der Moderne als Neuzeit hinaus: mit ihrer Fortschrittsgläubigkeit, die sich in ihren groß angelegten, von aufklärerischer Zuversicht getragenen „Metaerzählungen“ (Lyotard) niederschlägt. Adorno und Horkheimer sind insofern Vertreter der Spätmoderne (des Modernismus), als sie - ähnlich wie Emile Durkheim, Alfred Weber, Max Weber und Georg Simmel - die Moderne mit einem skeptischen und kritischen Blick betrachten. Als spätmoderne Denker setzten sie die Selbstkritik der Moderne 7 fort, die Nietzsche, Baudelaire und Dostoevskij initiiert haben und die auch die Werke spätmodern-modernistischer Schriftsteller wie Kafka, Pirandello und Musil prägt. 1. Neue Relevanzkriterien: Herrschaft und Natur, Subjekt und Objekt (Aktantenmodell) Wie Hegel, Marx und Comte erzählen Adorno und Horkheimer die Gesellschaft, auch wenn sie sie nicht als eine Entwicklung auffassen, die sich gleichsam von selbst oder mit Hilfe des Philosophen auf einen Zustand der Freiheit und des Glücks zubewegt. Sie erzählen, wie sie in der Dialektik der Aufklärung selbst sagen, die „Urgeschichte der Subjektivität“ 8 , die durch die Herrschaft des menschlichen Subjekts über die Natur als Objekt und über andere Menschen gekennzeichnet ist. Dieser Prozess fortschreitender Naturbeherrschung hat nicht nur die Ausbeutung und die Zerstörung der Natur sowie die Unterdrückung ausgebeuteter Menschen zur Folge, sondern auch die Selbstdisziplinierung des herrschenden Subjekts, die extreme Formen annehmen und die Zerstörung dieses Subjekts bewirken kann: „Die Herrschaft des Menschen über sich 6 Ibid., S. 100. 7 Zur Spätmoderne (Modernismus) als Selbstkritik der Moderne vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), S. 28. 8 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 71. <?page no="198"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 182 selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht.“ 9 Dies bedeutet, dass der Mensch, der über die Natur und andere Menschen herrscht, letztlich seine Subjektivität durch Selbstbeherrschung verstümmelt. Adorno und Horkheimer veranschaulichen ihre Argumentation mit Hilfe des Odysseus-Mythos, in dem Entsagung als Selbstbeherrschung und Herrschaft über andere ineinander greifen. Von Odysseus heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muß er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.“ 10 Wesentliche Aspekte der disziplinierten und disziplinierenden Industriegesellschaft werden hier im mythisch-fiktionalen Kontext angesprochen: Der Einzelne, der sich selbst Gewalt antun muss, um in der Konkurrenzgesellschaft zu überleben, sieht sich bisweilen gezwungen, seine Mitarbeiter oder Angestellten zu opfern, um „Ballast abzuwerfen“, um sein Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren. Aufgrund der vielen Verzichte, die er leisten muss, um erfolgreich zu sein, muss er eine verstümmelte Subjektivität in Kauf nehmen, die weder den Subjekt-Vorstellungen der frühbürgerlichen Renaissance noch denen des Bildungsbürgertums entspricht, dem Adorno und Horkheimer angehörten. Hier wird deutlich, dass deren Erzählung ganz anders aufgebaut ist als die von Comte oder Marx: Während Comte vom Gegensatz Glaube / Vernunft (Wissenschaft) ausgeht und Marx den Klassengegensatz zum Ausgangspunkt seiner Geschichtsinterpretation macht, holen die Autoren der Kritischen Theorie viel weiter aus und erklären den Gegensatz Natur / Herrschaft für relevant. Sie erzählen eine „Urgeschichte des Subjekts“, die zeigen soll, wie ein aufgeklärtes, rationalistisches Subjekt als „Geist“ über die „Natur“ herrscht, das Herrschaftsprinzip auf alle Objekte, alle Bereiche der Natur und der Gesellschaft ausdehnt und schließlich seiner eigenen Herrschaft als Selbstbeherrschung zum Opfer fällt, weil es gezwungen ist, die Natur in sich selbst zu verleugnen, zu unterdrücken. Zusammen mit der „inneren“ Natur fällt dieser Selbstbeherrschung und Selbstdisziplinierung auch die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, zum Opfer. Ähnlich wie beim britischen Psychoanalytiker Ronald D. Laing 11 gehört Erfahrung in den Werken von Adorno und Horkheimer zu den zentralen 9 Ibid. 10 Ibid., S. 74. 11 Vgl. R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 12-13. <?page no="199"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 183 Begriffen. Zunehmende Selbstdisziplinierung, die mit wachsender Naturbeherrschung einhergeht, hat zur Folge, dass Erfahrung und die auf ihr gründende Subjektivität atrophieren. Davon zeugt gegenwärtig die bis ins kleinste Detail organisierte Pauschalreise, die nach dem „Transfer ins Strandhotel“ von dem anhand mehrerer Preislisten ausgewählten „Urlaubsland“ nur noch das „Wellness“-Angebot erfahrbar macht, das den gemeinsamen Nenner aller „Urlaubsländer“ bildet. Diese werden austauschbar, weil sie vornehmlich nach Preiskategorien oder Preis-Leistungs-Verhältnissen beurteilt werden. Ihre geographischen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Besonderheiten werden gerade durch die Konzentration auf das für sie „Typische“ (das kommerzialisierte Kulturklischee) ausgeblendet, und das transferierte Subjekt muss als postmoderner Odysseus auf Erfahrungen, die es als selbständig Reisender machen könnte, verzichten. Die „Urgeschichte des Subjekts“ läuft somit auf dessen Atrophie hinaus, die mit der immer intensiver werdenden Naturbeherrschung und der immer engmaschiger werdenden gesellschaftlichen Organisation als Leistungs-, Sicherheits- und Kontrollmechanismus zusammenhängt. Im Rahmen des Gegensatzes Herrschaft / Natur kommt ein völlig anderes Aktantenmodell zustande als bei Hegel oder Marx, in dem der Kapitalismus als nur eine mögliche Variante der Naturbeherrschung erscheint. Diese wird zum eigentlichen Problem - nicht die sie reproduzierende Klassenherrschaft. Die beherrschte „Natur“ tritt bei Adorno und Horkheimer als die Instanz auf, die zur Versöhnung mahnt. Sie wird zur Auftraggeberin eines Subjekts, das aufgefordert wird, mit der bisherigen Menschheitsgeschichte zu brechen und sich als „Geist“ auf seine eigene Natur zu besinnen, die es unterdrücken muss, solange es der „Herrschaft“ als Gegenauftraggeberin gehorcht. Aus deren Bann kann es noch am ehesten mit Hilfe der „Kunst“ heraustreten, die zusammen mit dem kritischen Philosophen zur wichtigsten Helferin (adjuvant, Greimas) des gespaltenen Subjekts wird. Dieses Subjekt ist gespalten, weil es, wie sich gezeigt hat, in sich das Naturprinzip mit dem Herrschaftsprinzip vereinigt. Aus der Verstrickung in die Herrschaftsmechanismen soll es sich als „Geist“ mit Hilfe der Kunst lösen. Denn: „In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden.“ 12 Auf dem Weg zur „Versöhnung mit der Natur“, dem Objekt-Aktanten von Adornos und Horkheimers Diskurs 13 , stößt das sich versöhnende und 12 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 202. 13 Vgl. E.-A. Sewing, Grenzen und Möglichkeiten der Adornoschen Ästhetik heute, Frankfurt-Bern-New York, Lang, 1991, S. 44, wo die Autorin zu dem Schluss kommt, „daß die Versöhnung die zentrale Kategorie der Ästhetischen Theorie Adornos darstellt“. <?page no="200"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 184 befreiende Subjekt auf seine Widersacher (opposants, Greimas): auf den die Natur instrumentalisierenden rationalistischen („aufgeklärten“) Positivismus und das herrschaftliche Hegelsche Systemdenken. Adorno und Horkheimer betrachten es als eine der wesentlichen Aufgaben Kritischer Theorie, alle Varianten des Systemdenkens und der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) als Mechanismen der Naturbeherrschung zu analysieren und ihre Verbindungen zu verschiedenen Formen technokratischen Handelns aufzuzeigen. Dadurch wird Kritische Theorie - zusammen mit der gesellschaftskritischen Kunst - zur Helferin eines Subjekts, dessen Spaltung sich aus seiner ambivalenten Stellung zwischen Herrschaft und Natur, Unterwerfung und Befreiung ergibt. Indirekt geht Per Jepsen auf diese Subjekt-Spaltung bei Adorno ein, wenn er den Widerstreit zwischen der inneren Natur des Subjekts und seiner gesellschaftlich vermittelten Rationalität beschreibt: „Umgekehrt sei aber auch die unmittelbare Hingabe des Subjekts an die Impulse der inneren Natur mit Freiheit im emphatischen Sinn nicht zu verwechseln, weil ohne Ich-Kontrolle und Rationalität hieraus nur der Zwang, sich den eigenen Trieben zu unterwerfen, resultiere. Weder Vernunft noch Impuls an sich, sondern einzig die Versöhnung der beiden kennzeichne also die Verfassung einer nicht länger widersprüchlichen Autonomie des Subjekts.“ 14 Diese Beschreibung erinnert an die Stellung des Freudschen „Ich“ zwischen „Es“ und „Überich“. Das „Ich“ soll nicht blindlings den „Es“-Trieben folgen; es soll diese Triebe aber auch nicht völlig verleugnen und im „Überich“ als kultureller Instanz aufgehen. Es nimmt eine ambivalente Position zwischen Trieb und Gewissen, Natur und Kultur ein, und diese Ambivalenz 15 des Subjekts (als „Ich“) ist nicht nur für die Psychoanalyse kennzeichnend, sondern auch für zahlreiche Romane der Spätmoderne: für die Romane Musils, Prousts, Gides, Svevos, D. H. Lawrences und Virginia Woolfs, deren Protagonisten zwischen Vernunft und Naturtrieb, Bewusstem und Unbewusstem, Tag und Traum schwanken. 16 Nicht zufällig ist ihnen allen ein ausgeprägtes Interesse für Freuds Psychoanalyse und Nietzsches Philosophie gemeinsam. Nietzsche war wohl der erste, der nahezu alle Aspekte der menschlichen Ambivalenz untersuchte, die sich aus der prekären Stellung des Einzelnen zwischen Natur und Kultur, Trieb und Moral ergibt. 17 14 P. Jepsen, Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, S. 168. 15 Zur Ambivalenz-Problematik bei Freud und in der Spätmoderne vgl. Vf., Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, S. 8-14. 16 Vgl. Vf., L’Ambivalence Romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2., erw. Aufl.), S. 336-347. 17 Vgl. F. Nietzsche, „Der Fall Wagner“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 938. <?page no="201"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 185 Mit Nietzsche und den Romanciers verbindet Adorno und Horkheimer die Ausrichtung ihrer Theorie auf den Einzelnen, auf das individuelle Subjekt. Es ist die eigentlich kritische Instanz und zugleich der Kern des Aktantenmodells, das der Kritischen Theorie als Erzählung der Gesellschaft zugrunde liegt. Dies geht recht eindeutig aus Adornos Aufsatz über „Individuum und Organisation“ hervor, in dem es zur Position des Individuums in der zeitgenössischen Gesellschaft heißt: „Das individuelle Bewußtsein, welches das Ganze erkennt, worin die Individuen eingespannt sind, ist auch heute noch nicht bloß individuell, sondern hält in der Konsequenz des Gedankens das Allgemeine fest. Gegenüber den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünftige beim isolierten Einzelnen besser überwintern, als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben.“ 18 In dieser Passage, die als eine indirekte Kritik an Hegel und Marx (vgl. Abschn. 3 und 4) gelesen werden könnte, weil sie dem „Weltgeist“ und den „kollektiven Mächten“ die Modalität „Vernunft“ abspricht, erscheint der kritische Einzelne als Fokalisator von Adornos und Horkheimers Erzählung. Das gesellschaftliche Geschehen wird aus seiner Sicht betrachtet und beurteilt - und nicht aus der Sicht des „Weltgeistes“ oder des „Proletariats“. Zugleich tritt der kritische Philosoph als Helfer des individuellen Subjekts auf, das er mit kritischen Kompetenzen ausstattet: u.a. mit den Modalitäten „Vernunft“ und „Verallgemeinerungsfähigkeit“, die den „kollektiven Mächten“ fehlen. Dadurch wird als Alternative zu Hegels und Marxʼ geschichtsimmanenter Dialektik, die auf überindividuellen und kollektiven Subjekten wie „Weltgeist“, „Volksgeist“ und „Proletariat“ gründet, eine negative Dialektik begründet, die sich am kritischen Individuum orientiert und dabei dem historischen Prozess als fortschreitender Befreiung ihr Vertrauen entzieht. Dies übersieht Norbert Elias, wenn er Adorno pauschal als „humane[n] Marxist[en]“ 19 bezeichnet. Adornos negative Dialektik ist eher als eine radikale Kritik an der historischen, auf die revolutionäre Klasse als kollektiven Aktanten ausgerichteten Dialektik von Marx zu verstehen. Sein Bruch mit Hegel und Marx bietet eine Erklärung für die von ihm gewählte 18 Th. W. Adorno, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 84-85. 19 N. Elias, „Adorno-Rede: Respekt und Kritik“, in: ders., Aufsätze und andere Schriften, Bd. I, Gesammelte Schriften, Bd. XIV (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 496. <?page no="202"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 186 Bezeichnung „negative Dialektik“ 20 , deren raison d’être eng mit der Kritikfähigkeit des autonomen Individuums zusammenhängt. Der autonome Einzelne verfügt über eine besondere Kompetenz oder Modalität, wenn er in Adornos Essay über Paul Valéry „Der Artist als Statthalter“ als Künstler auftritt. In diesem Essay verschmelzen Subjekt und Helfer zu einem kritischen Aktanten, der als „isolierter Einzelner“ zum Vertreter oder Statthalter des „gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ wird: „Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.“ 21 Karl Markus Michel mag in gewisser Hinsicht Recht haben, wenn er feststellt, Kunst sei bei Adorno das, „was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war“. 22 Allerdings ist die Kunst nicht das historische Subjekt selbst, sondern, wie sich zeigen wird (vgl. Abschn. 5), die Helferin des Subjekts, das versucht, aus dem Räderwerk der Naturbeherrschung auszubrechen. Das Subjekt ist das kritische Individuum, und seine Idealgestalt ist der Künstler oder der kritische Philosoph. Im Gegensatz zu den Aktantenmodellen von Hegel und Marx, die auf überindividuelle Instanzen wie „Weltgeist“ und „Proletariat“ ausgerichtet sind, gründet Adornos und Horkheimers Aktantenmodell auf dem kritischen Einzelnen. Im Rahmen dieses Modells erscheint die Geschichte nicht als Auseinandersetzung zwischen abstrakten oder kollektiven Aktanten („Volksgeistern“, „Klassen“) und schon gar nicht als Auftraggeberin des „Proletariats“, sondern als ein verhängnisvoller Prozess, den der „isolierte Einzelne“ noch am ehesten kritisch reflektieren kann. Freilich handelt es sich, wie Rolf Wiggershaus bemerkt, um das Individuum „der nachliberalistischen Gesellschaft“ 23 , dessen Zukunft in der Zwischenkriegszeit ungewiss war - und noch stets ungewiss ist. Daniel Kipfer treibt die Paradoxien von Adornos individuellem Subjekt auf die Spitze, wenn er schreibt: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“ 24 20 Vgl. L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: La Quinzaine littéraire 78, 1969. In seinem Nachruf auf Adorno wirft Goldmann der Frankfurter Schule in ihrer Gesamtheit ihre Abkehr von der historischen Immanenz des Marxismus vor. 21 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 194-195. 22 K. M. Michel, „Versuch, die Ästhetische Theorie zu verstehen“, in: B. Lindner, W. M. Lüdke (Hrsg.), Materialien zur Ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp (1979), 1980, S. 73. 23 R. Wiggershaus, Theodor. W. Adorno, München, Beck, 1987, S. 69. 24 D. Kipfer, Individualität nach Adorno, Tübingen, Francke, 1999, S. 82. <?page no="203"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 187 Angesichts solcher Argumente sollte man die Ambivalenz von Adornos Einzelsubjekt in Erinnerung rufen: Es ist einerseits das in den Herrschaftsmechanismus verstrickte und zum Untergang verurteilte Subjekt, andererseits das sich durch Reflexion und Kritik befreiende Subjekt, das durchaus noch Widerstand leisten kann und von seinem Helfer, dem kritischen Philosophen, aufgerufen wird, es zu tun. 2. Kritik an Rationalismus und Positivismus: Natur und „instrumentelle Vernunft“ Konkret ist Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als eine kritisch-polemische Auseinandersetzung mit dem Rationalismus im Sinne von René Descartes und Francis Bacon zu verstehen, der bei Auguste Comte durch seine Historisierung und seine Ausrichtung auf Tatsachenwissen eine Neubestimmung erfährt. „Sehen, um vorauszusehen: das ist das dauernde Unterscheidungsmerkmal der wahren Wissenschaft“ 25 , heißt es in einer von Comtes Schriften, wo die positive Wissenschaft zum Instrument der Naturbeherrschung wird und es dem herrschenden Subjekt ermöglichen soll, sich alle Objekte gefügig zu machen, anzueignen. Zu Recht weist Pierre Macherey darauf hin, dass es bei Comte darauf ankommt, eine Wissenschaft zu konzipieren, die nicht Selbstzweck ist, sondern dem Menschen als Mittel dient, sich eine „wirksame und möglichst vollständige Herrschaft über die Natur“ 26 zu sichern. In diesem Kontext kann Gesellschaftskritik, die sich der Instrumentalisierung des Wissens widersetzt und zugleich nach Denkformen jenseits der Naturbeherrschung sucht, nur als fragwürdige „Metaphysik“ erscheinen, die dazu angetan ist, Gesellschaft zu destabilisieren. Adorno ist sich der Tatsache bewusst, dass Comtes Positivismus, der dazu tendiert, das Wissen in ein Herrschaftsinstrument zu verwandeln, schließlich zur Apologie eines autoritären Regimes werden muss. In einem Brief an Walter Benjamin spricht er von der „autoritär-positivistischen Menschheitsreligion Comtes“. 27 Dies bedeutet, dass sich erst jenseits des herrschaftlichen, instrumentellen Wissens ein Erkenntnismodus abzeichnet, der sich den Objekten nähern kann, ohne sie durch Herrschaftsansprüche zu verzerren. Sowohl in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als auch in Horkheimers - ebenfalls in den 1940er Jahren entstandenen - Schriften 25 A. Comte, Soziologie, Bd. III: Abschluß der Sozialphilosophie und allgemeine Folgerungen (Hrsg. H. Waentig), Jena, Verlag Gustav Fischer, 1923, S. 614. 26 P. Macherey, Comte. La philosophie et les sciences, Paris, PUF, 1989, S. 84. 27 Th. W. Adorno - W. Benjamin, Briefwechsel 1928-1940 (Hrsg. H. Lonitz), Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 399. <?page no="204"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 188 Vernunft und Selbsterhaltung (1942) und Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. 1947) wird versucht, Gegenentwürfe zu allen Varianten des Positivismus zu präsentieren. Die Kritik der Aufklärung, die deren herrschaftsbedingten Verblendungszusammenhang nachzeichnet, mündet bei Horkheimer in eine Kritik der „instrumentellen Vernunft“, die aus dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen ableitbar ist, der sich inmitten einer ihm feindseligen Natur behaupten muss und deshalb alles daransetzt, um sich diese Natur zu unterwerfen. Der Versuch restloser Naturbeherrschung geht jedoch mit wachsender Verblendung einher, weil die feindselige Umwelt, in der sich das Subjekt behaupten will, nur aus strategischer Sicht als manipulierbares oder gar zu beseitigendes Hindernis wahrgenommen wird, nicht als Objekt der Erkenntnis. Im Utilitarismus und im Rationalismus der Aufklärung meinen Adorno und Horkheimer, die Hauptquelle dieses instrumentellen Denkens zu erkennen: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn.“ 28 Diese Art von Erkenntnis, die auf Herrschaft und Manipulation aus ist, ist in Wirklichkeit keine. Nietzsche erklärt warum: „Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff (…).“ 29 Somit entsteht der Begriff dadurch, dass man sich über das Individuelle und Besondere hinwegsetzt. Man setzt sich darüber hinweg, um inmitten einer feindseligen Natur überleben zu können. Selbsterhaltung wird zum Hauptanliegen. Dabei wird Ungleiches, Abweichendes kurzerhand einem Begriff subsumiert, der das lebensnotwendige Handeln ermöglicht und das Subjekt wieder zum Herren der Lage macht: „Wer zum Beispiel das ‚Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet.“ 30 Hier beschreibt Nietzsche eine Art „Urszene“, aus der Adornos und Horkheimers „Urgeschichte des Subjekts“ hervorgehen könnte. Der Mensch, dem es primär um seine Selbsterhaltung zu tun ist, sieht sich genötigt, sein Denken den bedrohlichen Umständen anzupassen und es als Instrument in seinem Kampf ums Überleben einzusetzen. Dabei wird dieses Denken verzerrt, weil es letztlich aus groben Schematisierungen besteht, die der Eigenart der Objekte nicht gerecht werden. Daher plädieren 28 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 20. 29 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. V, op. cit., S. 313. 30 F. Nietzsche, „Die Fröhliche Wissenschaft“, in: ders., Werke, Bd. III, op. cit., S. 118-119. <?page no="205"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 189 Adorno und Horkheimer für einen „Vorrang des Objekts“, das in seiner Einmaligkeit und Vielseitigkeit unerkannt bleibt, solange es vorsichtshalber vorschnell einem Begriff subsumiert wird und dadurch einer Abstraktion zum Opfer fällt. Diese Kritik am vorschnellen Subsumieren, das aus dem Herrschaftsprinzip hervorgeht, wird in der Dialektik der Aufklärung zu einer Kritik an der bürgerlichen Marktgesellschaft, die in zunehmendem Maße vom Tauschwert beherrscht wird, der nur Äquivalente kennt: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung.“ 31 Die „Urgeschichte des Subjekts“, deren Anfang Nietzsche skizziert, wenn er versucht, sich und seine Leser in prähistorische Zeiten zu versetzen, gipfelt in der bürgerlichen Marktgesellschaft, in der das „subsumierende“ Machtstreben sich mit dem abstrahierenden Tauschwert paart. Dadurch wird die Neigung des instrumentellen Denkens, begrifflich zu schematisieren und von der Eigenart der Objekte zu abstrahieren, verstärkt. Diese Neigung findet ihre vollkommenste Form im System, das Adorno und Horkheimer als das Ideal der Aufklärung erscheint: „Ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt.“ 32 Das System könnte insofern als Extremform der Abstraktion und des Herrschaftsprinzips betrachtet werden, als es - wie das Hegelsche - den Anspruch erhebt, alle Phänomene erfassen zu können und mit der Wirklichkeit identisch zu sein. Gegen dieses „Identitätsdenken“, dessen nach Selbsterhaltung strebendes und die Natur beherrschendes Subjekt sich über die Eigenart der Objekte hinwegsetzt, indem es sie mit sich selbst, d.h. mit seiner eigenen Begrifflichkeit identifiziert, wenden sich Adorno und Horkheimer in nahezu allen ihren Schriften. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass Adornos Kritik an Hegel - vor allem in der Negativen Dialektik - als eine Fortsetzung seiner Kritik an der rationalistischen und positivistischen Identifizierung von Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit gelesen werden kann. Horkheimer konkretisiert die Entwicklung des Herrschaftsprinzips in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wenn er in seiner Schrift Vernunft und Selbsterhaltung zeigt, wie im Übergang von der liberal-individualistischen Wirtschaftsform zum Monopolkapitalismus die Herrschaftsmechanismen verstärkt wurden: „Die Episode der freien industriellen Wirtschaft mit ihrer Dezentralisierung in die vielen Unternehmer, von denen keiner so groß war, daß er mit den anderen nicht hätte paktieren 31 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 18. 32 Ibid., S. 17. <?page no="206"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 190 müssen, hat die Selbsterhaltung in Grenzen des Humanen verwiesen, die ihr ganz äußerlich sind. Das Monopol hat die Grenzen wieder gesprengt und mit ihm kehrt Herrschaft zu ihrem eigenen Wesen zurück (…).“ 33 In der Zeit des Monopolkapitalismus, in der die Großkonzerne durch Straffung der Organisation den Leistungsdruck erheblich erhöhen 34 und nicht unwesentlich zur Kommerzialisierung aller Lebensbereiche beitragen, nimmt das Herrschaftsprinzip neue Formen an. Es reduziert die Autonomie des Einzelnen, der sich gezwungen sieht, mehr als je zuvor die Regeln der instrumentellen Vernunft zu befolgen und sich selbst zu instrumentalisieren, indem er sich optimal vermarktet. 35 Dabei verzichtet er auf kritische Reflexion, die ihm als einzige helfen könnte, die Herrschaftsmechanismen der instrumentellen Vernunft zu durchschauen und nach Alternativen zu fragen. In seinem Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft nimmt sich Horkheimer als Helfer des nach Autonomie strebenden Subjekts dieser Aufgabe an und deckt die Blindheit des instrumentellen Denkens auf. Vernunft darf nicht auf technische, marktorientierte Vernunft reduziert werden: „Solche Mechanisierung ist in der Tat wesentlich für die Expansion der Industrie; aber wenn sie zum Charakterzug des Geistes wird, wenn Vernunft selbst sich instrumentalisiert, nimmt sie eine Art von Materialität und Blindheit an, wird sie ein Fetisch, eine magische Wesenheit, die mehr akzeptiert als geistig erfahren wird.“ 36 Diese Passage ist aktueller, als sie es in den 1940er Jahren war, weil sich in der nachmodernen Gesellschaft, die man nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen lassen kann, die Neigung von Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen verstärkt hat, alles Wissen nach dem instrumentellen Prinzip zu beurteilen. Während Comte noch für die Trennung von Theorie und Praxis und eine vom unmittelbaren Nutzen unabhängige Forschung plädierte 37 , wird in der heutigen Zeit immer häufiger nach dem Nutzen, dem Praxisbezug und der beruflichen Relevanz der Wissenschaften gefragt. Es ist, als hätte er die gegenwärtige gesellschaftliche und sprachliche Situation vorausgeahnt, wenn Horkheimer schreibt: „Es ist vielmehr der Philosophieprofessor, der den Physiker nachzuahmen sucht, um seinen 33 M. Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung (1942), Frankfurt, Fischer, 1970, S. 28. 34 Vgl. V. de Gaulejac, La Société malade de la gestion. Idéologie gestionnaire, pouvoir managérial et harcèlement social, Paris, Seuil (2005), 2009, S. 44-45. 35 Davon zeugt der Sammelband Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft (Hrsg. S. Neckel, G. Wagner), Berlin, Suhrkamp, 2013. 36 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 32. 37 Vgl. A. Comte, Catéchisme positiviste (1852), Hrsg. F. Dupin, Paris, Editions du Sandre, 2012, S. 259. <?page no="207"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 191 Tätigkeitsbereich in ‚all die erfolgreichen Wissenschaften‘ einzugliedern, der mit Gedanken umgeht, als wären sie Dinge, und jede andere Idee von Wahrheit außer derjenigen eliminiert, die aus der modernen Naturbeherrschung abstrahiert ist.“ 38 An zeitgenössischen Universitäten, an denen Fächer mit geringen Studentenzahlen (bisweilen aber mit hochmotivierten Studierenden) abgeschafft werden, werden die Vertreter aller Wissenschaften in zunehmendem Maße danach beurteilt, ob sie durch möglichst praxisrelevante Projekte „Drittmittel“ einwerben können oder nicht. Diese Orientierung an Zahl und Finanzkraft zeugt von einem ungebremsten Willen, die Naturbeherrschung auf die Spitze zu treiben. Diese Entwicklung verkennen kritische Rationalisten wie Karl R. Popper, wenn sie - wie Auguste Comte - hoffen, dass die modernen Wissenschaften wesentlich dazu beitragen werden, die Schwierigkeiten, mit denen die zeitgenössische Gesellschaft konfrontiert wird, zu meistern. Der Titel des Sammelbandes Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1969) ist irreführend, weil es in ihm um eine Auseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und Karl R. Poppers Kritischem Rationalismus geht, der eine Kritik des Wiener Logischen Positivismus ist - und nicht dessen Fortsetzung. 39 Die Beiträge decken jedoch einige positivistische Tendenzen des Kritischen Rationalismus auf, die im Wesentlichen darauf zurückzuführen sind, dass Popper auf die modernen Naturwissenschaften und die aus ihnen hervorgehenden Technologien vertraut, wenn es gilt, die Probleme der spätkapitalistischen Gesellschaft zu lösen. In einem Sprachduktus, der an Comte erinnert, plädiert er in seiner Kritik an Karl Mannheims Wissenssoziologie für eine „soziale Technologie“: „A social technology is needed whose results can be tested by piecemeal social engineering.“ 40 Es geht folglich nicht um eine radikale Abkehr von Naturbeherrschung und instrumenteller Vernunft, sondern um eine schrittweise Verbesserung des Bestehenden. Diese Einstellung ist insofern „positivistisch“ im Sinne von Comte, als auch der französische Philosoph die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht überwinden, sondern mit Hilfe der positiven Wissenschaft vervollkommnen und konsolidieren wollte. In diesem Zusammenhang kritisiert Adorno den instrumentellen Charakter der kritisch-rationalistischen Wissenschaftsauffassung: „Ihr instrumenteller Charakter, will sagen, ihre Orientierung am Primat verfügbarer 38 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, op. cit., S. 56. 39 Vgl. K. R. Popper, „Der logische Positivismus ist tot: Wer ist der Täter? “, in: ders., Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1979, S. 123-124. 40 K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul, 1963, S. 222. <?page no="208"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 192 Methoden anstatt an der Sache und ihrem Interesse, inhibiert Einsichten, die ebenso das wissenschaftliche Verfahren treffen wie dessen Gegenstand. Kern der Kritik am Positivismus ist, daß er der Erfahrung der blind herrschenden Totalität ebenso wie der treibenden Sehnsucht, daß es endlich anders werde, sich sperrt (…).“ 41 Popper würde freilich (mit Comte) antworten, dass das Streben der Kritischen Theorie nach totaler Umgestaltung zugleich utopisch und gefährlich ist (vgl. Kap. XVI. 6). Damit ist die gesamte Kontroverse auf die Relevanzkriterien der teilnehmenden Diskurse verwiesen: Ist der Gegensatz zwischen Natur und Naturbeherrschung (Herrschaft) relevant oder der kritisch-rationalistische Gegensatz zwischen demokratischer Marktwirtschaft und Totalitarismus? Der Entscheidung für eine dieser beiden Relevanzen liegt stets ein Werturteil zugrunde, das auch die Beobachtung der Gesellschaft lenkt. 3. Kritik an Hegels „Identitätsdenken“: Negative Dialektik I Will man die Negativität der Kritischen Theorie und vor allem Adornos negative Dialektik konkret, d.h. im philosophisch-historischen Kontext verstehen, muss man ihrem dialogischen Charakter Rechnung tragen. Denn sie ist nicht nur eine Reaktion auf den Positivismus, sondern auch - und vielleicht vor allem - auf den Hegelianismus und den hegelianischen Marxismus. Aus kritisch-theoretischer Sicht verbindet den Positivismus und den Hegelianismus der Wille, das Objekt mit dem Subjekt zu identifizieren. Beide philosophische Richtungen gehen vom Primat eines herrschenden Subjekts aus, welches sich das Objekt aneignet, indem es dieses Objekt seiner Begrifflichkeit unterwirft und es für seine Zwecke instrumentalisiert. Indem Hegel immer wieder behauptet, er habe Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Denken und Sein in seinem System versöhnt, behauptet er zugleich den vernünftigen Charakter der sozialen Wirklichkeit und der Weltgeschichte (vgl. Kap. IV. 1). In der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heißt es unmissverständlich: „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“ 42 Diese Vernunft wurde jedoch, wie sich im vierten Kapitel gezeigt hat, von Hegel als System konstruiert. Wenn er erklärt, „die Philosophie [sei] ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ 43 , 41 Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1984 (11. Aufl.), S. 21-22. 42 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 20. 43 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 26. <?page no="209"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 193 so bedeutet dies, dass er selbst seine Zeit mit seinem System gedanklich zu erfassen suchte. Schon der Junghegelianer, Hegel-Schüler und später Hegel-Kritiker Friedrich Theodor Vischer bemerkte, dass dieses System eine Gewalttour ist, die aus dem Herrschaftsanspruch und konkret aus der Herrschaft des Menschen über die Natur resultiert. Vischer gelangt zu dem Schluss, dass Hegels System der Natur aufgestülpt wurde, dass es diese Natur aber nicht erklärt: „Er meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt; daher, weil das Anderssein unerklärt daneben liegen bleibt, fallen sie doch auseinander und ist die Wesensfülle in seiner Vorstellung von der Weltvernunft nur seine ehrliche Vorstellung.“ 44 Lange vor Adorno weist Vischer darauf hin, dass Hegels Anspruch, in seinem System die gesamte Wirklichkeit als konkrete Totalität wiederzugeben, nur die Tatsache verdeckt, dass dieses System eine partikulare Konstruktion ist und ein Versuch, die Welt als Natur begrifflich zu beherrschen und dem Subjekt als Geist um jeden Preis anzugleichen. Vischer ist einer der ersten Kritiker des Hegelschen Identitätsdenkens. An diesem Punkt, an dem die Widersprüche des idealistischen Systems sichtbar werden, setzt Adornos Kritik ein, auf die sich der Kommentar der Eindeutigkeit halber ab jetzt konzentriert. Adorno sieht in Hegels System einen Höhepunkt der Naturbeherrschung, die ideologisch vom Arbeitsethos begleitet wird. Geistige Arbeit erscheint als ein Sublimat materieller Arbeit, die notwendig ist, um die Naturgewalten zu bezwingen. Von Hegel heißt es: „Arbeit wird ihm zu ihrer Reflexionsform, zur reinen Tat des Geistes, zu dessen produktiver Einheit. Denn nichts soll außer ihm sein. Das factum brutum aber, das im totalen Geistbegriff verschwindet, kehrt in diesem wieder als logischer Zwang.“ 45 Dieser Zwang „bewirkt den Schein der Versöhnung“. 46 Von einer echten Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur kann folglich nicht die Rede sein, und Hegels System erscheint Adorno - ähnlich wie der rationalistische Positivismus - als ein raffiniertes Instrument der Naturbeherrschung. Seine logischen Zwänge sind sublimierte materielle Arbeit. Als Alternative stellt sich Adorno ein Denken vor, das sich jenseits aller Systemzwänge dem Objekt nähert, ohne es beherrschen zu wollen. 44 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. IV (Hrsg. R. Vischer), München, Meyer und Jessen, 1922, S. 482. 45 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt, Suhrkamp (1963), 1966, S. 32. 46 Ibid. <?page no="210"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 194 Seine Variante der Kritischen Theorie ist als ein polemisch-kritischer Dialog mit Hegel zu verstehen. Davon zeugen die folgenden Schlüsselsätze in der Negativen Dialektik: „Solche Dialektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel. Bei diesem koinzidierten Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten.“ 47 An dieser Stelle setzt Adorno die Kritik Vischers und anderer Junghegelianer an Hegels Systemdenken fort: Dieses Denken meint, die gesamte Wirklichkeit erfasst zu haben und daher mit dieser Wirklichkeit identisch zu sein, lässt aber alle ihre Elemente aus, die in seiner Begrifflichkeit nicht aufgehen. 48 Dieses Problem wäre konkreter im Zusammenhang mit den hier kommentierten Relevanzkriterien und den aus ihnen ableitbaren Terminologien (Klassifikationen, Definitionen) zu verstehen. Indem sich der Beobachter der Gesellschaft für bestimmte Relevanzkriterien entscheidet, klammert er andere Relevanzkriterien aus und legt dadurch die besondere Richtung seines Diskurses fest. Wenn er mit Hegel den Gegensatz Geist / Materie für relevant hält, erzählt er eine ganz andere Geschichte, als wenn er mit Marx den Klassengegensatz in den Vordergrund stellt oder mit Adorno und Horkheimer den Gegensatz zwischen Natur und Herrschaft. In jedem dieser Fälle fällt Licht auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit, während andere Aspekte im Dunkeln bleiben. Man könnte auch sagen, dass sie in den Diskurs als Konstruktion nicht aufgenommen werden. Dies bedeutet zugleich, dass kein Diskurs den Anspruch erheben kann, die gesamte Wirklichkeit als Totalität zu erfassen. Nur ein Diskurs, dessen Aussagesubjekt auf Relevanzkriterien verzichtete, könnte diesem Anspruch gerecht werden; aber ein solcher Diskurs würde sich sogleich in der vieldeutigen Wirklichkeit auflösen, weil die - stets partikularen - Relevanzkriterien, aus denen alle Selektionen, Klassifikationen und Definitionen hervorgehen, die Basis eines theoretischen Diskurses bilden. Kurzum: Jeder theoretische Diskurs kann per definitionem nur partikular, perspektivisch sein, nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen. Da sich Hegel über dieses Problem hinwegsetzt, kann er behaupten, in seinem System (seinem systematischen Diskurs) die Wirklichkeit als Totalität eingefangen zu haben. Tatsächlich hat er aber diese Wirklichkeit in eine begriffliche Zwangsjacke gesteckt, weil sein System zwar durchaus partikular ist (wie alle anderen auch), zugleich aber von sich behauptet, allumfassend, allgemeingültig und mit der Wirklichkeit identisch zu sein. Diesen Identitätsanspruch kritisiert Adorno als Gewaltakt und herr- 47 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 143. 48 Vgl. M. Bozzetti, Hegel und Adorno. Die kritische Funktion des philosophischen Systems, Freiburg-München, Alber, 1996, S. 164. <?page no="211"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 195 schaftliche Illusion, die mit der Herrschaft des Menschen über die Natur verwoben ist. In seiner Vorlesung über Negative Dialektik erinnert er daran, „daß die These von der Identität zwischen dem Begriff und der Sache eigentlich der Lebensnerv überhaupt des idealistischen Denkens, man kann sagen: des traditionellen Denkens überhaupt ist (…).“ 49 Er fügt hinzu: „Und negative Dialektik als Kritik heißt vor allem anderen die Kritik eben an diesem Identitätsanspruch (…).“ 50 Während dem Identitätsanspruch ein affirmatives oder positives Moment innewohnt, weil Hegel und die Hegelianer sich mit der als vernünftig definierten historischen Wirklichkeit identifizieren, wendet sich negative Dialektik von dieser Wirklichkeit ab, weil sie mit Marx (vgl. Kap. IV. 2) deren irrationalen Charakter wahrnimmt. Dieser besteht u.a. darin, dass der von allen Partikularitäten abstrahierende Tauschwert, der die Gesellschaft beherrscht, die eigentliche Instanz ist, welche die von Hegel, Fichte und anderen Idealisten praktizierte Identifikation von Subjekt und Objekt, Begrifflichkeit und Wirklichkeit durch Abstraktion ermöglicht: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es (…).“ 51 Anders gesagt: Das Tauschprinzip, das von allen besonderen Eigenschaften der Menschen und Dinge abstrahiert, ermöglicht die begriffliche Abstraktion, die der idealistischen Identifikation von Subjekt und Objekt, Denken und Wirklichkeit innewohnt. Konsequent lehnt es Adorno ab, Hegels idealistischer, positiver Dialektik zu folgen, wenn es gilt, die Negation der Negation in Positivität münden zu lassen. „Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens (…)“ 52 , heißt es in der Negativen Dialektik. Adornos Theorie als ganze sperrt sich gegen die Aufhebung der Widersprüche und Negativitäten im Positiven, in der Affirmation des Bestehenden. Sie verharrt im Negativen, und Inge Münz-Koenen mag Recht behalten, wenn sie anmerkt: „Der Verweischarakter auf eine negierte Realität, den jede Utopie besitzt, wird von Adorno absolut gesetzt.“ 53 Die Negation der spätkapitalistischen Realität, die - anders als bei Marx und den Marxisten - auf keine historische Aufhebung oder Überwindung 49 Th. W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/ 66 (Hrsg. R. Tiedemann), in: Th. W. Adorno, Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. XVI (Hrsg. Theodor W. Adorno Archiv), Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 37. 50 Ibid. 51 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 147. 52 Ibid., S. 159. 53 I. Münz-Koenen, Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität des Utopischen bei Bloch, Adorno, Habermas, Berlin, Akademie Verlag, 1997, S. 93. <?page no="212"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 196 zielt, fördert das kritische Bewusstsein, das sowohl Hegel als auch Comte (der es mit dem metaphysischen Stadium assoziierte) missbilligten. Dieses kritische Bewusstsein, Erbe des liberalen Individualismus, wird in Adornos Aktantenmodell als besondere Kompetenz oder Modalität (Greimas) dem isolierten Individuum zugerechnet, das Adorno in Übereinstimmung mit anderen Vertretern der Kritischen Theorie wie Horkheimer, Marcuse und Leo Löwenthal gegen Hegelianer und Marxisten verteidigt. 54 Gegen Hegel, der im Rahmen seines überindividuellen Aktantemodells das individuelle Subjekt dem „Weltgeist“ und den „Volksgeistern“ unterordnet, wendet Adorno ein: „Hegel war sonderbar inkonsequent, als er das individuelle Bewußtsein, Schauplatz der geistigen Erfahrung, die seine Welt beseelt, der Zufälligkeit und Beschränktheit zieh. Erklärbar ist das nur aus der Begierde, das kritische Moment zu entmächtigen, das mit individuellem Geist sich verknüpft.“ 55 Es ist auch auf struktureller, diskursiver Ebene zu erklären: Hegel erzählte Geschichte mit Hilfe von überindividuellen (abstrakten und kollektiven) Aktanten und wurde daher von seinem eigenen Diskurs dazu an gehalten, individuelles Handeln als sekundär oder zufallsbedingt darzustellen. Das diskursive Subjekt ist zwar frei, sich für bestimmte Relevanzkriterien und die aus ihnen ableitbaren Selektionen, Klassifikationen und Definitionen zu entscheiden; hat es sich jedoch auf eine bestimmte Semantik festgelegt, ist seine Freiheit als Beliebigkeit auf narrativer Ebene drastisch eingeschränkt. Adornos Festhalten am autonomen Individuum als kritischer Instanz hat u.a. zur Folge, dass sich seine Kritische Theorie Kants Thesen über die Grenzen unserer Erkenntnis zu eigen macht und sie gegen Hegels Anspruch auf totale Erkenntnis ausspielt. Martin Zencks Behauptung, Adornos Ästhe tische Theorie sei „ein konsequent gegen Hegel gerichteter Kant“ 56 , könnte man in mancher Hinsicht auch auf seine Erkenntnistheorie anwenden. Trotz seiner Kritik an Kant und dessen mit der Naturbeherrschung liierter Askese nähert sich Adorno Kants Position, wenn er es ablehnt, Hegel zu folgen und das „Ding an sich“ in der Totalität absoluten Wissens aufzulösen. 57 „Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik“, erklärt er, „daß sie 54 Zur Rolle von Individualismus und Liberalismus in der Kritischen Theorie vgl. Vf., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), S. 16-17. 55 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 53. 56 M. Zenck, Kunst als begriffslose Erkenntnis. Zum Kunstbegriff der ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos, München, Fink, 1977, S. 98. 57 Vgl. Hegels Kritik an Kant in: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philo sophie, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1986, S. 333: „Die Kantische Philosophie ist theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung, nämlich, daß nichts Wahres, sondern nur die Erscheinung gewußt werden könne.“ <?page no="213"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 197 sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung. Kant hat in der Lehre vom transzendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon etwas aufgezeichnet“. 58 Im folgenden Abschnitt soll deutlich werden, dass Adornos Rekurs auf Kants Skepsis gegenüber uneingeschränkter Erkenntnis, seine Kritik des idealistischen Identitätsdenkens (Fichtes, Hegels) und seine Weigerung, das individuelle Subjekt als kritische Instanz mythischen oder kollektiven Mächten unterzuordnen, seine Kritik am Marxismus motivieren. Diese Kritik ist kaum zu verstehen, wenn man Adorno mit Peter Dews als einen „Frankfurt Marxist“ 59 bezeichnet. 4. Kritik an Marx und am Marxismus: Negative Dialektik II Es soll im Folgenden keineswegs suggeriert werden, dass Adornos Denken mit Marx und dem Marxismus nichts zu tun hat. Der Kerngedanke, der Adorno und Marx verbindet, kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Der Kapitalismus ist ein irrationales, naturwüchsiges System, dessen Negativität in seinen Herrschaftsverhältnissen zutage tritt und einer radikalen Kritik ausgesetzt werden sollte, die nach Alternativen sucht. Wie Marx erkennt Adorno in der modernen Marktgesellschaft die entfremdenden und verdinglichenden Tauschverhältnisse, die den Menschen auf seine Arbeitskraft reduzieren und ihn in ein Anhängsel technischer Einrichtungen verwandeln. Der wesentliche Unterschied, der Adorno von Marx und den Marxisten trennt, findet sich - wie bereits angedeutet - in ihren Relevanzkriterien und in ihrer Art, Gesellschaft zu erzählen. Während Marx die Relevanzkriterien verhältnismäßig eng fasst und beim Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ansetzt, erweitern Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung die Relevanz auf den Gegensatz Natur / Herrschaft. Dies hat weitreichende Folgen für die Erzählung der Gesellschaft, wie die folgende Passage aus der Negativen Dialektik zeigt: „Was Marx und Engels dazu bewog, gleichsam noch den Sündenfall der Menschheit, ihre Urgeschichte, in politische Ökonomie zu übersetzen, obwohl doch deren Begriff, an die Totalität des Tauschverhältnisses gekettet, selber ein Spätes ist, war die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Revolution.“ 60 Anders gesagt: Die Übersetzung des Prinzips der Naturbeherrschung in die Begriffe der politischen Ökonomie greift zu kurz, weil die politische 58 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 396. 59 P. Dews, „Adorno, Poststructuralism and the Critique of Identity“, in: S. Jarvis (Hrsg.), Theodor W. Adorno. Critical Evaluations in Cultural Theory, Bd. II, London-New York, Routledge, 2007, S. 402. 60 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 314. <?page no="214"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 198 Ökonomie als Theorie des Kapitalismus selbst ein Epiphänomen der viel früher einsetzenden Naturbeherrschung ist. Dies heißt zugleich, dass Marx und Engels in Anbetracht einer möglichen Revolution ihr Augenmerk auf Symptome richten, statt sich mit den eigentlichen Ursachen zu befassen: Sie erzählen die moderne Geschichte des Subjekts, statt weiter auszuholen und sich seine Urgeschichte vorzunehmen. (Ein marxistischer - und zugleich positivistischer Einwand - kann jetzt schon vorgebracht werden: Die Vertreter der Kritischen Theorie begnügen sich mit theologisch-mythischen Ausdrücken wie „Sündenfall“ und „Urgeschichte“, statt den historischen Wendepunkt zu bezeichnen, an dem die Herrschaft des menschlichen Subjekts über die Natur tatsächlich eingesetzt hat.) Da sich Marx und Engels nicht mit der eigentlichen Ursache der kapitalistischen Herrschaft (mit dem Prinzip der Naturbeherrschung) auseinandersetzen, können sie sich der Illusion hingeben, dass die revolutionäre Umwälzung der herrschenden Verhältnisse durch die arbeitende Bevölkerung, das Proletariat, die Befreiung der Menschheit von Herrschaft und Zwang einläuten könnte. Sie übersehen, dass schon dem Begriff der Arbeit, der als geistige Arbeit bereits bei Hegel zur treibenden Kraft der Geschichte wurde, das Prinzip der Naturbeherrschung (als Naturbearbeitung) innewohnt. Dies ist der Grund, weshalb die proletarische Revolution, „auch dort, wo sie gelang“ (Adorno) misslingen musste. Da sie überall das Prinzip der Naturbeherrschung perpetuierte, mündete sie nicht in eine Ära der Freiheit und der Versöhnung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch, sondern ließ neue Herrschaftsverhältnisse im „realen Sozialismus“ entstehen. Diese Diagnose hat zwei unmittelbare Konsequenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Bruch zwischen der Kritischen Theorie Adornos (Horkheimers) und dem Marxismus führten: Die erste ist ein Verzicht auf die für den Marxismus unverzichtbare Einheit von Theorie und Praxis. Die Theorie kann eine Praxis, die weiterhin in Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist, nicht begleiten: „Indem aber, in der gerühmten Theorie-Praxis, jene unterlag, wurde diese begriffslos, ein Stück der Politik, aus der sie hinausführen sollte; ausgeliefert der Macht.“ 61 Die zweite Konsequenz, die aus dem Verzicht auf die Einheit von Theorie und Praxis hervorgeht, ist der Verzicht auf historische Immanenz, die Marx und die Marxisten von Hegel geerbt haben. Es ist der schon erwähnte Gedanke (vgl. Kap. IV), dass der von Widersprüchen und Kämpfen angetriebene sozio-historische Prozess gleichsam von selbst immer höhere 61 Ibid., S. 144. <?page no="215"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 199 Stadien der Entwicklung erreichen und schließlich in Befreiung und Versöhnung münden würde, weil ihm Kräfte, die nach Überwindung streben, innewohnen. Die Negativität von Adornos und Horkheimers Kritischer Theorie hängt mit diesem Verzicht auf historische Immanenz ursächlich zusammen. Denn eine Kritik, die auf die Einheit von Theorie und Praxis verzichtet, erkennt keine gesellschaftliche Kraft oder Bewegung, die in der Lage wäre, die bestehenden Verhältnisse zu überwinden. Daher kann sie sich mit keiner der existierenden sozialen Kräfte identifizieren und verharrt in der Negativität als Nichtidentität. Dies hängt auch damit zusammen, dass Adorno und Horkheimer die Gesellschaft rund ein Jahrhundert nach Marx und Engels beobachteten. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse als Produktionsverhältnisse so konsolidiert sind, dass die Entwicklung der Produktivkräfte (im Marxschen Sinn) sie nicht mehr sprengen kann. Dazu bemerkt Adorno in seinem Aufsatz „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “: „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind.“ 62 Die „Technik“ wird hier stellvertretend für die Naturbeherrschung genannt. In dieser Passage wird zweierlei deutlich: Der bei Marx zentrale Antagonismus zwischen Bourgeoisie („Nutznießern“) und Proletariern büßt seine Relevanz, die das 19. Jahrhundert beherrschte, ein; er hat aufgehört, die treibende Kraft zu sein, welche die Produktionsverhältnisse (als Klassenherrschaft) sprengen könnte. Daher ist eine Überwindung der spätkapitalistischen Verhältnisse trotz aller Widersprüche, die ihnen zugrunde liegen, nicht in Sicht. Diese Diagnose erklärt nicht nur die Negativität der Kritischen Theorie, die sich auf eine radikale Kritik des Bestehenden beschränkt, sondern auch die Bedeutung dieser Theorie für die Postmoderne, die an die revolutionären Versprechen der Moderne nicht mehr anknüpfen kann, weil die Revolutionen nicht hielten, was sie versprachen. Gianni Vattimo, ein Vertreter postmodernen Denkens, spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Heidegger von Verwindung, welche, wie 62 Th. W. Adorno, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “, in: ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 173. <?page no="216"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 200 er meint, die revolutionäre Überwindung verdrängt hat. 63 Im soziologischen Zusammenhang bedeutet dies, dass wir die revolutionären Hoffnungen, die Horkheimer noch in der Zwischenkriegszeit hegte 64 , „verwunden“ haben. Diese „Verwindung“, die Adorno mit seiner negativen Dialektik antizipiert, widerspricht der hegelianischen und marxistischen Auffassung der Dialektik, in der Widersprüche stets über das Bestehende hinausweisen. Insofern haftet dem Ausdruck „negative Dialektik“ Widersinn an, und Adorno ist nicht zu Unrecht vorgeworfen worden, durch sein Insistieren auf Negativität und Nichtidentität das dialektische Denken desavouiert zu haben. 65 Diesem Vorwurf könnte Adorno mit der Feststellung begegnen, dass die Revolutionen, die den realen Sozialismus etablierten, die von ihm und Horkheimer analysierten Herrschaftsmechanismen nicht nur nicht abgeschafft, sondern gefestigt haben. Letztlich waren sie für „jene antiliberalen und autoritären Perversionen“ verantwortlich, „die die Marxische und Engelssche Theorie dann mit der Installierung in den östlichen Staaten erfahren hat“. 66 Kurzum: Die Marxsche und marxistische Theorie fiel schließlich der von ihr induzierten Praxis zum Opfer. Als Staatsideologie wurde sie zu einem Herrschaftsinstrument und geriet so in den von ihr nicht ausreichend reflektierten Prozess der Naturbeherrschung. Dazu bemerkt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik in einer luziden Studie zur „Naturproblematik bei Karl Marx“: „Dadurch, daß Marx die Entfremdung von der Natur als Teilmoment der entfremdeten gesellschaftlichen Arbeit bestimmt (…), verliert er jedoch bei seiner weiteren Analyse der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft die Entfremdung von der Natur - zwar nicht gänzlich, wohl aber weitgehend - aus den Augen.“ 67 Damit kehrt der Kommentar zur Relevanzproblematik zurück, die am Anfang eines jeden Diskurses als Erzählung steht. Marx beobachtet den Klassenkampf und postuliert die ihm entsprechende Relevanz, den Gegensatz von Kapital und Arbeit; ein Jahrhundert später beobachten Adorno und Horkheimer das Scheitern der Revolutionen und ihre Pervertierungen im realen Sozialismus. Um die Ursachen dieses Scheiterns zu erklären, holen sie weiter aus und erklären den Gegensatz zwischen Natur und Herrschaft für relevant. 63 Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. 64 A. Schmidt, Materialismus zwischen Metaphysik und Positivismus. Max Horkheimers Frühwerk. Darstellung und Kritik, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1993, S. 49-50. 65 Vgl. B. Scholze, Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2000, S. 286-287. 66 Th. W. Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik, op. cit., S. 143. 67 W. Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx, Freiburg-München, Alber, 1984, S. 85. <?page no="217"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 201 Aus ihm geht eine spätmoderne Erzählung hervor, in der die ehrgeizigen Entwürfe von Marx und Comte zu der Hoffnung zusammenschrumpfen, dass die sich abzeichnende Katastrophe doch noch vermieden werden kann. „Der heraufziehenden Katastrophe“, lautet Adornos Fazit, „korrespondiert eher die Vermutung einer irrationalen Katastrophe in den Anfängen. Heute hat sich die vereitelte Möglichkeit des Anderen zusammengezogen in die, trotz allem die Katastrophe abzuwenden.“ 68 Dennoch halten Adorno und Horkheimer an der Möglichkeit des Anderen fest. An diese Möglichkeit erinnert die kritische Kunst, die durch ihre Negativität der falschen Totalität der bestehenden Verhältnisse Widerstand leistet. Zugleich evoziert sie durch ihre nichtbegrifflichen, mimetischen Momente eine Rationalität jenseits von Naturbeherrschung und Herrschaftsprinzip, die Adorno im Essay, im Modell und im parataktischen (nicht-hypotaktischen, nicht-hierarchischen) Schreiben zu verwirklichen sucht. Es geht um den Entwurf einer Theorie, die sich den herrschaftlichen, identifizierenden Mechanismen rationalistischer, hegelianischer und marxistischer Diskurse entzieht. 5. Die Kunst als Helferin des individuellen Subjekts: Ratio und Mimesis, Essay, Modell und Parataxis Die Darstellung des Aktantenmodells der Kritischen Theorie im ersten Abschnitt hat gezeigt, dass die überindividuellen (mythischen, kollektiven) Aktanten, auf denen die Diskurse von Hegel und Marx gründen, von Adorno und Horkheimer durch das kritikfähige individuelle Subjekt ersetzt werden. Dieses Subjekt ist jedoch gespalten, weil es zwischen dem Impuls der Naturbeherrschung und dem Impuls, der es zur Versöhnung mit der Natur drängt, hin- und hergerissen wird. Es ähnelt dem Subjekt der Psychoanalyse, das sich zwischen konträren Kräften zu behaupten hat. Die Helfer dieses Subjekts, die seine Versöhnung mit der Natur ermöglichen könnten, sind das kritische Denken und die Kunst. Die Orientierung an der Kunst, die vor allem das Spätwerk Adornos prägt, klingt bereits in der Dialektik der Aufklärung an, in der sich die Kunst als einzige dem naturbeherrschenden Fortschritt als Rationalisierung widersetzt. 69 Der Gegensatz von Aufklärung und Kunst ist spätestens seit Novalis romantischen Ursprungs, und es überrascht kaum, dass sich Adorno und Horkheimer auf den Romantiker Schelling berufen, um den „Vorrang [der Kunst] vor der begrifflichen Erkenntnis“ zu rechtfertigen: „Nach Schelling setzt die Kunst da ein, wo das Wissen die Menschen im Stich läßt. Sie gilt 68 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 315. 69 Vgl. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 29. <?page no="218"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 202 ihm als ‚das Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen‘.“ 70 An dieser Stelle tritt die Helferrolle der Kunst klar in Erscheinung: Sie soll dem menschlichen Subjekt, das sich nicht mehr auf sein von Alltag und Wissenschaft überliefertes Wissen verlassen kann, den Weg weisen. Nicht verlassen kann sich das Subjekt auf das rein begriffliche, instrumentelle Denken, das als abstrahierendes mit dem Herrschaftsprinzip verquickt ist, dem schließlich die menschliche Subjektivität selbst zum Opfer fällt. Adorno und Horkheimer suchen in der kritischen Kunst nach Elementen, die dazu angetan sind, das begriffliche Denken so weit zu modifizieren, dass es der Naturbeherrschung abschwört und sich mit der Natur versöhnt. Diese Elemente gehören dem mimetischen, nichtbegrifflichen Bereich der Kunst an, mit dessen Hilfe sie sich dem auf Begriffe angewiesenen kommunikativen Sprachgebrauch entziehen. Dazu heißt es in der Ästhetischen Theorie Adornos: „Die neue Kunst bemüht sich um die Verwandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische.“ 71 Um diesen Satz zu verstehen, genügt es nicht zu bedenken, dass kommunikative Sprache vorwiegend begrifflichen und instrumentellen (mitteilenden, fragenden, befehlenden) Charakter hat; es gilt zugleich, auf Adornos Kunstbegriff zu achten, der nicht „Kunst“ in allen ihren von der Literatursoziologie erfassten Erscheinungen meint, sondern sich auf die (spät-)moderne, kritische Kunst Kafkas, Prousts, Becketts und Valérys konzentriert. Von dieser Kunst ließe sich behaupten, dass sie durch ihren hermetischen, vieldeutigen Charakter der kommunikativen Sprache Widerstand leistet. Das Mimetische oder die Mimesis im Sinne von Adorno ist schwer zu definieren, weil es letztlich das ist, was sich der begrifflichen Definition oder Darstellung - d.h. der herrschaftlichen Identifikation durch das Subjekt - entzieht. Dazu bemerkt W. Martin Lüdke: „Was nun die Leistung der Mimesis ausmacht, stellt sich zugleich als Schwierigkeit ihrer adäquaten Beschreibung dar: denn das Besondere, Nichtidentische, ist ja eben das, was sich festen Bestimmungen, Begriffen - der Identifikation - entzieht.“ 72 Eine Übersetzung von Adornos Terminologie ins Semiotische ist einerseits riskant, wirft andererseits aber Licht auf seine theoretische Intention. Denn „Mimesis“ als Widerstand gegen kommunikative Rede, gegen das mitteilende Wort, bezieht sich auf die Ausdrucksebene der Sprache im Sinne von Louis Hjelmslev 73 : auf die Ebene der vieldeutigen Signifikanten, die 70 Ibid., S. 31. 71 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 171. 72 W. M. Lüdke, Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno - Beckett, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 68. 73 Vgl. L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, Kap. 13: „Ausdruck und Inhalt“. <?page no="219"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 203 nicht ohne weiteres in Begriffe als Signifikate (Saussure) übersetzt werden können. Die hermetischen Gedichte Mallarmés, Valérys und Celans entziehen sich der kommunikativen Begriffsbestimmung, weil sie nicht begriffliche Strukturen, nicht Strukturen von Signifikaten sind, sondern Konstellationen vieldeutiger Signifikanten. Dass sich Adorno von der Hermetik und Negativität solcher Texte eine gesellschaftskritische Wirkung verspricht, lässt der folgende Satz aus seiner Ästhetischen Theorie erkennen: „Die hermetischen Gebilde üben mehr Kritik am Bestehenden als die, welche faßlicher Sozialkritik zuliebe formaler Konzilianz sich befleißigen und stillschweigend den allerorten blühenden Betrieb der Kommunikation anerkennen.“ 74 Das heißt, dass für Adorno die Form als Ausdrucksebene die entscheidende kritische Komponente ist und nicht der - leicht verständliche - kritische „Inhalt“ im Sinne von Naturalisten wie Hauptmann oder Zola, der bisweilen dazu einlädt, ihn auf den ideologischen oder marktgängigen Begriff zu bringen. Adorno erscheint die im Mimetischen verharrende, begriffslose Kunst als Helferin des nach Autonomie strebenden kritischen Subjekts, weil sie ein Denken ermöglicht, das über die aus herrschenden Konventionen hervorgehende Begrifflichkeit und ihre Rationalität hinausweist. Es geht darum, eine durch die künstlerische Mimesis vermittelte Rationalität zu finden, die jenseits der aus der Naturbeherrschung ableitbaren „instrumentellen Vernunft“ liegt. In diesem Zusammenhang ist einer der Kernsätze aus Adornos Ästhetischer Theorie zu verstehen: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 75 Dies bedeutet, das Vernunft, die um der begrifflichen Herrschaft willen ihr mimetisches Moment als Angleichung an das Objekt verdrängt, irrational wird. Mimesis und Erfahrung bilden einen unauflösbaren Nexus: Erst wenn es gelingt, sich einem Objekt - einem Menschen, einer Sprache, einem Land - mimetisch anzugleichen, statt es begrifflich zu beherrschen, besteht Hoffnung, es zu verstehen. Etwas davon hat Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften im Kapitel über den Essayismus antizipiert: „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, - denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein - glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.“ 76 Musils Versuch, das Objekt, „von vielen Seiten“ zu nehmen, ohne es auf einen Begriff zu reduzieren, entspricht in vieler Hinsicht Adornos ge- 74 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 218. 75 Ibid., S. 489. 76 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. I (Hrsg. A. Frisé), Hamburg, Rowohlt, 1978, S. 250. <?page no="220"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 204 waltfreier, mimetischer Betrachtungsweise. Denn auch Musil ist der Meinung, dass eine vielseitige essayistische Annäherung an das Objekt eher zu dessen Erfahrung und Erkenntnis beiträgt als ein begriffliches Zurechtstutzen, das dem herrschaftlichen Impuls folgt. Die begriffliche Reduktion lässt die Erfahrung des Objekts in seiner Vielschichtigkeit nicht zu. Dies ist der Grund, weshalb Adorno den Essay bevorzugt, den er als theoretische Alternative zum (rationalistischen, hegelianischen) System betrachtet, das Subjekt und Objekt, Denken und Sein im Herrschaftsanspruch identifiziert. Der Essay ist dem romantischen Fragment verwandt, das ebenfalls als Antwort auf die identifizierende Systematisierung des Rationalismus und der Aufklärung aufgefasst werden kann: „Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.“ 77 In dieser Hinsicht ist der Essay der nichtbegrifflichen Kunst verwandt; von ihr unterscheidet er sich dennoch „durch sein Medium, die Begriffe (…), und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins“. 78 Der Essay ist nicht Kunst; Adorno erscheint er aber als Vermittler zwischen künstlerischer Mimesis, die auf das Besondere und Einmalige ihrer Gegenstände zielt, und einer kritischen Theorie, die danach strebt, sich ihren Gegenständen mimetisch zu nähern, ohne sie in Begriffen aufzulösen. In der Negativen Dialektik geht es darum, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ 79 - oder, wie Reinhard Kager es ausdrückt, „Mimesis und Rationalität miteinander zu verschmelzen“. 80 Adorno hofft, diese „Verschmelzung“ durch die herrschaftsfreie „Konstellation des Essays“ 81 zu erreichen. Es gilt, der hierarchischen Anordnung rationalistischer und hegelianischer Diskurse abzusagen und der alternativen Strukturierung des Essays zu folgen: „Er koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren“. 82 Er bietet das Bild eines „konstruierte[n] Nebeneinander“. 83 Das Denken soll auf diese Art von den induktiven und deduktiven Zwängen einer Logik befreit werden, die ein lückenloses System entstehen lässt. 77 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 22. 78 Ibid., S. 12-13. 79 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 25. 80 R. Kager, Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, Frankfurt-New York, Campus, 1988, S. 198. 81 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 37. 82 Ibid., S. 47. 83 Ibid. <?page no="221"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 205 Schon dem jungen Adorno schwebte das Ideal eines Denkens in „Konstellationen“ oder „Konfigurationen“ vor, das von Mallarmés experimentellem Gedicht „Un coup de dés“, Walter Benjamins Philosophie und Arnold Schönbergs Zwölftontechnik inspiriert ist. 84 Es ist ein Denken, das sich seinen Objekten nähert, ohne ihnen Gewalt anzutun, und das bereits in einer frühen Schrift Adornos aus den 1930er Jahren skizziert wird. Vom Philosophen heißt es dort: „Es bleibt ihm keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“ 85 Anders als bei Hegel fällt die Wahrheit nicht mit dem Abschluss des Systems zusammen, sondern wird durch die Konstellation oder Konfiguration (Adorno verwendet die beiden Bezeichnungen als Synonyme) evoziert. Dazu bemerkt Anders Bartonek: „Die Begriffe sollen sich dabei gegenseitig korrigieren und in der Konstellation der Begriffe die Selbstkritik des identifizierenden Denkens wirken lassen (…).“ 86 Im Wort „Selbstkritik“ treten zwei Aspekte von Adornos Denken zutage, die hier bereits erwähnt wurden: Es ist ein Denken, das als spätmoderne Selbstkritik der rationalistisch-systematischen Moderne aufgefasst werden kann; es zeugt zugleich von der Spaltung oder vom Doppelcharakter des individuellen Subjekts, das einerseits dieser herrschaftlichen Moderne noch angehört, andererseits aber danach strebt, sich von dieser Moderne und ihren Herrschaftsmechanismen zu emanzipieren. Die kritische Kunst soll ihm helfen, dieses emanzipatorische Projekt zu verwirklichen. Zu diesem Projekt gehört auch das „Denken in Modellen“, das Adorno in der Negativen Dialektik praktiziert: „Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinem allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen.“ 87 Dank seiner Ausrichtung auf das Spezifische und Besondere und seiner Resistenz gegen begriffliche Herrschaft ist das Modell dem Essay verwandt, von dem es auch die Konstellation (Konfiguration) als Struktur erbt. Sie bürgt für die Offenheit der Argumentation und die Unabschließbarkeit des Denkprozesses. „Eine jede Konstellation ist vorläufig (…)“ 88 , erklärt Philipp von Wussow. Es wird 84 Vgl. A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, Könighausen und Neumann, 2011, S. 158. 85 Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I: Philosophische Frühschriften (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 369. 86 A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv, op. cit., S. 159. 87 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 37. 88 Ph. von Wussow, Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2007, S. 198. <?page no="222"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 206 sich zeigen, dass gerade diese Einschätzung auch auf den Dialog, wie er hier konzipiert wurde, zutrifft. Es ist, als wollte Adorno die Offenheit und Vorläufigkeit seines eigenen Denkens demonstrieren, wenn er in seiner Ästhetischen Theorie auch dem Modell als theoretischer Figur absagt und sich für die Parataxis entscheidet, die Hölderlins „rondohafter“ (Adorno) nicht-hierarchischer Dichtung 89 nachempfunden ist. Über die Darstellungsschwierigkeiten, mit denen er beim Schreiben der Ästhetischen Theorie konfrontiert wurde, schreibt Adorno in einem Brief: „Sie bestehen (…) darin, daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der Negativen Dialektik verfolgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ 90 Diese Entscheidung für Parataxis als Konstellation stellt nicht nur eine Rückkehr zum Jugendwerk dar; sie evoziert zugleich die von Adorno geschätzte hermetische Dichtung Mallarmés, deren experimentellen und avantgardistischen Höhepunkt das Gedicht „Un coup de dés“ bildet. Dessen Ende wird mit den Worten UNE CONSTELLATION, die sich auf ein Sternbild beziehen, angekündigt. 91 Tatsächlich lag auch dem späten Mallarmé viel daran, das diskursive Nacheinander durch ein konfiguratives Nebeneinander, durch eine Konstellation als Gleichzeitigkeit, zu ersetzen. 92 Adornos Ausrichtung der Kritischen Theorie auf die Kunst, lässt erkennen, wie weit er sich von Marx entfernt hat: An die Stelle des kollektiven Aktanten „Proletariat“ tritt das kritisch reflektierende Individuum, dem die Kunst helfen soll, aus der Verstrickung des Positivismus (der Aufklärung), des Hegelianismus und des Marxismus in Naturbeherrschung und Herrschaft auszubrechen. Die Marxisten haben diesen Ausbruchsversuch nicht goutiert. 89 Vgl. Th. W. Adorno, „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins”, in: ders., Noten zur Literatur III, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 165-166. 90 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 541. 91 Vgl. S. Mallarmé, „Un coup de dés“, in : Œuvres complètes I, éd. présentée, établie et annotée par B. Marchal, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1998, S. 387. 92 Vgl. Vf., Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2018 (2., erw. Aufl.), S. 57. <?page no="223"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 207 6. Die marxistische Kritik an der Kritischen Theorie und Adornos mögliche Replik In der Zwischenkriegszeit war die Kritische Theorie durchaus noch als „marxistisch“ zu bezeichnen, weil sie sich an die historische Immanenz hielt, die besagt, dass die neue, menschlichere Gesellschaft aus den Widersprüchen des Bestehenden hervorgehen würde. Sowohl Adorno 93 als auch Horkheimer standen in den 1930er Jahren, als das Erstarken des Nationalsozialismus die gesellschaftliche Situation prägte, dem damaligen Marxismus recht nahe. Davon zeugt ein Interview Horkheimers mit Otmar Hersche: „Ich habe die Marxsche Theorie insofern akzeptiert, als sie sagt, die bessere Gesellschaft könne sich nur durch die Revolution verwirklichen. Und angesichts des Terrorregimes erschien mir das immer mehr als das einzig Wahre und Richtige.“ 94 Nach dem Zweiten Weltkrieg wird jedoch deutlich, dass die Revolution von 1917 nicht eine Ära der Freiheit und der zwischenmenschlichen Annäherung einläutete, sondern neue Unterdrückung, die nach Lenins Tod (1924) in Stalins Diktatur und in den von späteren Machthabern erneuerten Stalinismus mündete. Die Hoffnung der Marxisten-Leninisten (die sie mit Auguste Comte teilten), dass eine wissenschaftlich fundierte Gesellschaft alle älteren Gesellschaftsformen übertreffen würde, wurde nicht erfüllt: im Gegenteil. Amos Schmidt kommentiert Horkheimers Abkehr vom Marxismus in einem gesellschaftlichen und historischen Kontext: „Die Pervertierung der Lehren von Marx und Engels in den sozialistischen Ländern der östlichen Welt, die Verwandlung der Begriffe der Marxschen Theorie in ‚Klischees‘ in den Ländern des Diamat stellen sich als Anstoß und Grund für die Abkehr Horkheimers vom Marxismus heraus. So bekennt er in Interviews, daß er kein Marxist mehr sei, dass er sich vom Marxismus losgesagt und sein Verhältnis zu Marx sich geändert habe.“ 95 Das Problem besteht darin, dass kritische Gesellschaftstheorie und Machtausübung wahrscheinlich unvereinbar sind: Den neuen sowjetischen Machthabern ging es nach der Revolution nicht primär darum, Herrschaftsstrukturen abzuschaffen und die Herrschaft über die Natur zu lockern, sondern, wie Lenins Abhandlung über Staat und Revolution zeigt, darum, den Staatsapparat der jungen Sowjetunion zu erneuern und zu stärken. Ihre Einstellung zum Marxismus ist mit der Einstellung der französischen Revolutionäre zur Aufklärung zu vergleichen: In beiden Fällen 93 Vgl. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, op. cit. S. 141-142. 94 M. Horkheimer, Verwaltete Welt? Ein Gespräch, Zürich, Verlag der Arche, 1970, S. 26- 27. 95 A. Schmidt, Materialismus zwischen Metaphysik und Positivismus, op. cit., S. 51. <?page no="224"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 208 wird ein Ideensystem instrumentalisiert und in eine Ideologie verwandelt, die im Falle des Marxismus-Leninismus die postrevolutionären Zustände und die Machtansprüche des Sowjetstaates rechtfertigen soll. Adorno fasst diese Situation mit dem bekannten Satz zusammen, der die Negative Dialektik einleitet: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 96 Dies bedeutet, dass die Hoffnung des jungen Marx, das Proletariat würde als „Herz“ der kritischen Philosophie diese verwirklichen, nicht erfüllt wurde. Da sie nicht erfüllt wurde, hat kritisches Denken als Negation des Bestehenden weiterhin seine Berechtigung. Es wird jede Komplizenschaft mit einer schlechten Praxis vermeiden, die als Verwirklichung des Marxschen Projekts auftritt. Horkheimer folgt Adorno, wenn er sowohl der historischen Immanenz als auch der revolutionären Praxis absagt und sich in den 1950er Jahren auf die kritische Kunst als Helferin des Subjekts beruft: „Denn Kunst ist mit der Wahrheit identisch, und diese zwingt uns in die wirkliche Praxis, in den endlosen und so ungleichen Kampf für die Kreatur.“ 97 Diese ästhetische Wende des kritischen Denkens, die in Adornos Ästhetischer Theorie am prägnantesten zum Ausdruck kommt, besiegelt den Bruch mit dem Marxismus als geschichtsimmanenter, revolutionärerer Kritik, die sich als Synthese von Theorie und Praxis versteht. Die marxistischen Kritiken an der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Habermasʼ sind in diesem Kontext zu verstehen. Ihnen allen - sowohl den westeuropäischen als auch den osteuropäischen - ist eines gemeinsam: Sie beanstanden den Bruch mit der historischen Immanenz, der auf einen Bruch mit dem Klassenkampf-Gedanken hinausläuft. Diesem wohnt die Forderung nach einer Einheit von kritischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Praxis inne. Die Diskurse einiger Marxisten-Leninisten zeigen, wie sehr sich ideologische Mechanismen (im Sinne von Kap. II. 4) in den Kultur- und Sozialwissenschaften auf Kosten theoretischer Reflexion und Offenheit durchsetzen können: Sie werden vom semantischen Dualismus strukturiert (hier richtig und gut, dort falsch und böse), identifizieren sich monologisch mit der Wirklichkeit und sind teleologisch auf den real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und den mittel-osteuropäischen Staaten ausgerichtet. Als charakteristisches Beispiel mag an dieser Stelle die Polemik von Igor S. Narski, die unter dem Titel Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos (1975) erschien, veranschaulichen, was gemeint ist. Durch das Wort „Anmaßung“ wird Adornos Philosophie nicht nur vorab 96 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 13. 97 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland (Hrsg. W. Brede), Frankfurt, Fischer, 1974, S. 12. <?page no="225"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 209 negativ konnotiert, sondern zugleich auch moralisch als „Überheblichkeit“ oder „unberechtigter Anspruch“ zurückgewiesen. Der Autor wirft Adorno erwartungsgemäß vor, er breche „völlig mit der sozialen und Klassenanalyse“ 98 und fügt im Sinne einer marxistischen Dialektik der historischen Immanenz hinzu: „Die Empörung Adornos gegen die imperialistische Wirklichkeit war aufrichtig (…), aber sein Leiden führt nicht zu revolutionären Entschlüssen.“ 99 Wie diese Entschlüsse aussehen könnten, wird an anderer Stelle klar: „Der Antikommunismus und Antisowjetismus ließ Adorno keine Möglichkeit, sich neue Orientierungen und Ziele anzueignen (…).“ 100 Aus Narskis Sicht sind diese Ziele über jeden Zweifel erhaben und werden der Diskussion entzogen, die u.a. den sozialistischen Charakter der damaligen Oststaaten in Frage stellen könnte. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung stellt der Autor mit unverhohlener Genugtuung fest: „Den bereits in einigen Ländern existierenden und sich festigenden Sozialismus konnte Adorno natürlich nicht abschaffen (…).“ 101 Er hat sich selbst abgeschafft. Bemerkenswert an diesem Diskurs ist Narskis Festhalten an einer - von Hegel und Marx geerbten - modernen Zuversicht, die die Marxsche Erzählung dadurch weiterführt und konkretisiert, dass sie im realen Sozialismus die Verwirklichung der von Marx und Engels angekündigten Gesellschaftsordnung zu erkennen meint. Über den repressiven Charakter dieser Gesellschaftsordnung, der in Ostdeutschland 1953, in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 zutage trat, setzt sich Narskis Diskurs ideologisch hinweg. Auch Peter Reichel blendet in Verabsolutierte Negation (1972) die für die marxistisch-leninistische Ideologie peinlichen Ereignisse aus, wirft Adorno vor, er sei nicht gewillt, „sich den Marxismus in seiner Gesamtheit anzueignen“, und fügt hinzu: „Deshalb sieht sich Adorno veranlaßt, die ‚Reinheit‘ dieses seines ‚Marxismus‘ gegen die Philosophie des siegreichen Proletariats, gegen die Theorie und Praxis des gegenwärtigen Sozialismus, gegen das sozialistische Weltsystem überhaupt zu verteidigen. Auf diese Weise wird Marx vor dem Marxismus gerettet und avanciert durch Adorno zu dessen schärfstem Kritiker.“ 102 In diesem Fall besteht die Ideologie darin, dass sie Reflexion und Kritik monologisch verbietet: Der sowjetisch definierte Marxismus muss „in 98 I. S. Narski, Die Anmaßung der negativen Philosophie Theodor W. Adornos, Frankfurt, Verlag Marxistische Blätter, 1975, S. 28. 99 Ibid., S. 50. 100 Ibid., S. 46. 101 Ibid., S. 11. 102 P. Reichel, Verabsolutierte Negation. Zu Adornos Theorie von den Triebkräften der gesellschaftlichen Entwicklung, Frankfurt, Verlag Marxistische Blätter, 1972, S. 21. <?page no="226"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 210 seiner Gesamtheit“ angeeignet werden; Fragen nach seiner theoretischen Aktualität, seiner empirischen Stichhaltigkeit, seinen Lücken und Unzulänglichkeiten sind unerwünscht. Die Ideologie enthält jedoch auch Wahrheitsmomente, die sie freilich nicht als solche kennzeichnet, sondern ironisch verbrämt. Denn es ist durchaus richtig, dass Adorno Marx gegen seine Instrumentalisierung im realen Sozialismus verteidigt, dass er versucht, ihn vor dem Marxismus-Leninismus zu retten und sein kritisches Potenzial gegen das repressive System zu wenden. Wie Reichel, der Adorno „Furcht vor dem Klassenkampf“ 103 bescheinigt und ihm eine Apologie herrschender Verhältnisse vorwirft, bekennt sich auch Günter Rohrmoser in Das Elend der kritischen Theorie (1970), einer Polemik gegen Adorno, Marcuse und Habermas, zur historischen Immanenz: „Die negative Dialektik bei Marx besagt nichts anderes als eben dies, daß die Geschichte aus sich selbst heraus den Träger einer möglichen Überwindung ihrer eigenen Negativität erzeuge.“ 104 Das ist richtig; Adorno würde allerdings bezweifeln, dass dieser Träger im Westen noch etwas bewirken kann und dass er im Osten die Macht bis 1989 ausgeübt hat. Nicht völlig abwegig ist Rohrmosers Einwand, dass dialektische Negativität und die Ausrichtung auf das „total Andere“ dazu angetan sind, „das Bestehende als notwendig zu fixieren“. 105 Schon Sartre warf dem für Adorno so wichtigen Stéphane Mallarmé 106 vor, seine radikale Negation des Bestehenden laufe auf dessen Affirmation hinaus. Diesen Gedanken entwickeln auch Ritsert und Rohlshausen in ihrer immer noch lesenswerten Studie Der Konservativismus der Kritischen Theorie (1971), in der sie - vor allem Jürgen Habermas, Karl Otto Apel und Claus Offe - vorwerfen, in einer von der Negativität geprägten Aufklärung zu verharren, statt nach revolutionärer Veränderung zu streben. Die von den Autoren anvisierte Alternative ist abermals historische Immanenz: „Die Aufklärung eines Bewußtseins und nicht die Befreiung durch kollektive Handlung eines Subjekts, das Objekt historisch konkreter Herrschaft und Zwänge ist, wird mit ‚Emanzipation‘ gleichgesetzt.“ 107 Während sich dieser Satz vor allem auf Apel und Habermas bezieht, ist die Schlussbetrachtung Adorno gewidmet: „Die Reinheit der Idee, die Negativität des Denkens ist das Signum der Resistenz. Adorno übersieht, daß es auch das Signum der Unwirksamkeit ist.“ 108 Dieser Gedanke ist sicherlich nicht 103 Ibid., S. 49. 104 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie, Freiburg, Rombach, 1970, S. 61. 105 Ibid., S. 49. 106 Vgl. J.-P. Sartre, „L’Engagement de Mallarmé“, in: Obliques 18-19, 1979, S. 193-194. 107 J. Ritsert, C. Rohlshausen, Der Konservativismus der kritischen Theorie, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1971, S. 90. 108 Ibid., S. 101. <?page no="227"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 211 abwegig, weil radikale Ablehnung des Bestehenden mit radikaler Abstinenz als Verzicht auf alle Praxis einhergeht. Adorno könnte allerdings antworten, dass die von den Marxisten ins Auge gefassten Alternativen auf Illusionen gründen, weil das „Proletariat“ (die Arbeiterklasse) integriert ist und die „revolutionäre Praxis“ zu einer Fantasievorstellung der linken Intellektuellen verkommt. Im Anschluss an die Revolten des Jahres 1968 konnten die hier genannten Marxisten in den 1970er Jahren noch hoffen, dass es in Westeuropa mit oder ohne Zutun des kommunistischen Ostens zu gesellschaftlichen Umwälzungen in ihrem Sinne kommen würde. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus und der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 machte ihre Hoffnungen zunichte und ließ sie die postmoderne Verwindung entdecken. Dennoch sind nicht alle ihre Einwände gegen die Kritische Theorie obsolet. Ihr Kerngedanke, dass eine radikale Ablehnung des Bestehenden, die in Adornos Satz aus den Minima Moralia „Das Ganze ist das Unwahre“ 109 zum Ausdruck kommt, auf resignierende Akzeptanz der existierenden Verhältnisse hinausläuft, enthält ein Wahrheitsmoment. Er spielt auch in Lucien Goldmanns Kritik an der Frankfurter Schule eine wesentliche Rolle. Adorno und Marcuse wirft Goldmann vor, dass sie „es ablehnten, sich mit einer der sozialen Kräfte innerhalb der Gesellschaft zu identifizieren oder zu einer solchen Kraft zu werden“. 110 Als Vertreter einer kritischen Dialektik der Immanenz 111 stimmt Goldmann mit den Marxisten-Leninisten überein. Von ihnen unterscheidet er sich wesentlich dadurch, dass er sich - wie Adorno und Horkheimer - weigert, das Sowjetimperium mit dem Sozialismus im Sinne von Marx zu identifizieren. Freilich könnten Adorno und Marcuse einwenden, dass Goldmanns Vorschlag, das Marxsche „Proletariat“ durch die „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“) 112 zu ersetzen, auf der fragwürdigen Annahme gründet, dass diese Gruppierung als relativ homogener und handlungsfähiger Aktant aufgefasst werden kann. Die Entwicklungen haben diese Skepsis bestätigt: Die neue Arbeiterklasse, die sich laut Goldmann aus Arbeitern, Angestellten und Technikern zusammensetzt, hat keine Revolution durchgeführt und bisher auch keine radikalen, systemverändernden Reformen erzwungen. Es ist außerdem keineswegs sicher, dass es sie als „Klasse an und für sich“ im Sinne von Marx gibt. 109 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 57. 110 L. Goldmann, „La Mort d’Adorno“, in: La Quinzaine littéraire, op. cit. 111 Vgl. Vf., Goldmann. Dialectique de l’immanence, Paris, Ed. Universitaires, 1973. 112 Vgl. L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 167-181. <?page no="228"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 212 Dennoch spricht auch heute noch einiges für geschichtsimmanente Kritik und gegen eine totale Negation. Wenn beispielsweise Pierre Bourdieu in einer Rede vor dem DGB für einen europäischen Staat und einen europäischen Gewerkschaftsbund plädiert, die dem globalisierten Kapital Widerstand leisten könnten, so argumentiert er durchaus im Sinne einer immanenten Kritik. 113 Auch Alain Touraines Soziologie, die sich für eine Stärkung gesellschaftskritischer Bewegungen (Feministinnen, „Grüne“, Arbeitslose) einsetzt 114 , hat teil an dieser historischen Immanenz. Die Europäische Union selbst kann nicht - trotz berechtigter Kritiken an ihr - pauschal dem „unwahren Ganzen“ im Sinne von Adorno zugerechnet werden, solange sie durch ihre übernationale, vielsprachige Präsenz einen Rückfall in den nationalistischen oder chauvinistischen Monolog verhindert oder erschwert. Eine kritische Theorie der Gesellschaft wird sich dennoch weigern, sie nach hegelianischem oder marxistischem Vorbild zum historischen Telos oder Objekt-Aktanten ihres Diskurses zu machen. Kritische Theorie als Dialogische Theorie, wie sie im zweiten Kapitel skizziert wurde, ist ein „Gegen-sich-selbst-Denken“ im Sinne von Adorno: ein Denken, das seine eigenen ideologischen Prämissen kritisch reflektiert und sein Engagement nie so weit treibt, dass der kritische und selbstkritische Gedanke dem Dualismus, der Identität mit dem Bestehenden und dem Monolog zum Opfer fällt. Es will seinen Gegenstand - etwa Auguste Comtes Soziologie - in seiner Entstehung, Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit verstehen, statt ihn mit der eigenen Begrifflichkeit zu identifizieren. Darin setzt es Adornos Kritische Theorie fort; geht aber auch dialogisch über sie hinaus. Zusammenfassung und Ausblick: Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers kann als eine Replik auf Hegel, Marx und den Positivismus Comtescher Provenienz aufgefasst werden. Trotzt aller Unterschiede ist dem Positivismus und der hegelianisch-marxistischen Dialektik ihr Einverständnis mit der instrumentellen Vernunft und dem Prinzip der Naturbeherrschung gemeinsam. Im Positivismus manifestiert sich dieses Einverständnis in der Forderung nach Anwendbarkeit und Nützlichkeit des Wissens; im Hegelianismus in der Identifizierung von Denken und Sein und im Marxismus in der Verknüpfung von Theorie und Praxis. Adornos und Horkheimers Antwort auf Instrumentalisierung (Anwendbarkeit), Identifizierung und Praxisorientierung der Theorie ist die Trennung von Theorie und Praxis auf allen 113 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un nouvel internationalisme“, in: ders., Contre-feux, Paris, Raisons d’Agir, 1998, S. 68. 114 Vgl. A. Touraine, Comment sortir du libéralisme ? , Paris, Fayard, 1999, S. 65. <?page no="229"?> Adornos und Horkheimers Kritische Theorie 213 Ebenen und ihre Umorientierung auf die künstlerische Mimesis. Diese soll dem vom Herrschaftsprinzip bedrohten individuellen Subjekt, dem Fokalisator der kritisch-theoretischen Erzählung, helfen, aus seiner Verstrickung in die Naturbeherrschung herauszufinden und sich mit der Natur als seiner Auftraggeberin zu versöhnen, statt sie zu instrumentalisieren. In seinen Hauptwerken versucht Adorno, in Essay, Modell und Parataxis Denk- und Argumentationsstrukturen jenseits des Herrschaftsprinzips zu entwickeln. Die dialogischen Elemente in seinem Essayismus werden hier zu einem der Ausgangspunkte der Dialogischen Theorie, die einen Versuch darstellt, die Offenheit des Essayismus in anderer Form weiterzuentwickeln. Im nächsten Kapitel werden feministische Gesellschaftstheorien in den Dialog einbezogen, und es zeigt sich, dass als Alternative zum zentralen Gegensatz der Kritischen Theorie - Natur / Herrschaft - der Gegensatz männlich / weiblich in Frage kommt, der die Kritische Theorie in einigen Punkten korrigiert und ergänzt. <?page no="231"?> 215 VII. Subjektivität und Subjektkritik, Bewegung und Emanzipation: Feministische Gesellschaftstheorien als Antworten auf den Marxismus und die Kritische Theorie Inhaltsverzeichnis 1. Neue Relevanz - neue Erzählung 2. Subjektivität individuell und kollektiv: Für und wider den Subjektbegriff 3. Weibliche Subjektivität und soziale Bewegung 4. Aktantenmodelle: Frau oder Frauen? Emanzipation oder Integration? 5. Feminismus und Kritische Theorie: Subjekt, Natur und Herrschaft 6. Dialogizität: Die Stimme der Anderen Der Grund, weshalb die feministischen Theorien an dieser Stelle kommentiert werden und nicht im Zusammenhang mit den postmodernen Soziologien, mit denen sie bisweilen assoziiert werden 1 , hängt mit zwei Faktoren zusammen: Viele von ihnen sind in Auseinandersetzungen mit marxistischen Entwürfen und mit der Kritischen Theorie entstanden; die meisten sind - wie der Marxismus und die Kritische Theorie - als Kritiken der Herrschaft konzipiert. Im Gegensatz zu postmodernen Ansätzen, die das Partikulare verteidigen und dadurch einen eher defensiven Charakter annehmen (Zygmunt Bauman) oder von einer apokalyptischen Einstellung zur zeitgenössischen Gesellschaft zeugen (Jean Baudrillard), knüpfen Feministinnen wie Françoise Gaspard, Judith Butler oder Nancy Fraser als Kritikerinnen der Herrschaft an das für den Marxismus und die Kritische Theorie unverzichtbare (moderne) Emanzipationsversprechen an. Trotz dieser gemeinsamen Ausgangspunkte, die für theoretische und politische Affinitäten bürgen, fehlt es nicht an Dissens. Er betrifft - wie so oft - die Relevanzkriterien, die den Ausgangspunkt aller Theorien bilden und zugleich von deren grundlegenden Wertsetzungen oder Ideologemen zeugen. Indem die Feministinnen primär weder vom Klassengegensatz ausgehen noch vom Gegensatz Herrschaft / Natur, sondern vom historischen Gegensatz männlich / weiblich, sprechen sie sich für spezifischere Relevanzkriterien aus als Adorno und Horkheimer und stellen den Gegensatz Bürgertum / Proletariat (Kapital / Arbeit) als für die Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungen unzureichend in Frage. Zu Recht spricht Karin Gottschall in ihrer gründlichen und soziologisch weit ausholenden Studie 1 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), Kap. II. <?page no="232"?> Feministische Gesellschaftstheorien 216 Soziale Ungleichheit und Geschlecht von der „Geschlechtsblindheit des soziologischen Mainstream“. 2 Obwohl auch die feministischen Soziologinnen nicht die „wahre Geschichte“ 3 erzählen, von der Günter Dux spricht, beobachten sie die Gesellschaft von einer ganz anderen Warte aus als Marx und die Marxisten, als die Vertreter der Kritischen Theorie. Ihr Kernargument kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Eine kritische Theorie der Gesellschaft kann nur einseitig sein und Zerrbilder zeitigen, solange sie der Geschlechterdifferenz und dem Gegensatz männlich / weiblich nicht Rechnung trägt. Das Plädoyer für neue Relevanzkriterien und einen neuen Ausgangspunkt der Gesellschaftserzählung bringt eine neue Konstruktion des Objekts „Gesellschaft“ hervor, in der Vergessenes und Verdrängtes vergegenwärtigt wird. Marxʼ Klassengegensatz erscheint als einseitig, und der kritisch-theoretische Gegensatz Herrschaft / Natur erweist sich im Lichte feministischer Kritik als zu unspezifisch. Während Günter Rohrmoser in seiner Kritik an der Kritischen Theorie noch behaupten kann, Marx sei „der Meinung, daß in einer sich ihrer bewußten Kontrolle entziehenden Weise die Bourgeoisie in der Gestalt des männlichen Proletariats den eigenen Totengräber produziert“ 4 , weisen zeitgenössische Feministinnen darauf hin, dass anscheinend auch Marx und die Marxisten die Gesellschaftsgeschichte als eine Geschichte männlicher Konflikte erzählen, in der Frauen bestenfalls die Rolle des staunenden, bangenden, leidenden oder hoffenden Publikums zufällt. Fehlt im Kommunistischen Manifest nicht ein Kapitel über Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen und ihre Rolle im Klassenkampf? Ist der Klassenkampf die Haupttriebfeder gesellschaftlicher Entwicklung, oder wird diese auch von anderen Kräften angetrieben, die Marx und die Marxisten nicht beobachtet oder aus kulturellen, ideologischen und theoretischen Gründen nicht beachtet haben? Ergänzend zu ihrer Kritik am Marxismus könnten Feministinnen den unspezifischen Charakter der kritisch-theoretischen Relevanzkriterien bemängeln: Die Hypothese über eine „Katastrophe am Anfang“, von der Adorno spricht, sollte durch konkretere Untersuchungen über frühe Herrschaftsstrukturen und über die sich verschiebenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern ergänzt werden. 2 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Wiesbaden, Springer, 2000, S. 289. 3 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann, Frankfurt, Suhrkamp (1992), 1997, S. 415. 4 G. Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Freiburg, Rombach, 1970 (2. Aufl.), S. 61. <?page no="233"?> Feministische Gesellschaftstheorien 217 Auf der Ebene der Relevanzkriterien setzt sich daher Regina Becker- Schmidt für eine Konkretisierung von Adornos Kritischer Theorie im Bereich der Geschlechterforschung ein. Die in der Dialektik der Aufklärung erforschte Herrschaft über die Natur ist ihr zu unbestimmt: „Adorno übersieht keineswegs die Konflikte zwischen den Geschlechtern, aber in seiner scharfsinnigen Herrschaftsanalyse bleibt das Geschlechterverhältnis als gesellschaftlicher Gewaltzusammenhang unbestimmt (…).“ 5 Sie übertreibt zwar, wenn sie behauptet, „Klassenverhältnisse und deren Transformation“ 6 seien für Adorno „ausschlaggebend“, sie hat aber Recht, wenn sie indirekt feststellt, dass Adornos Relevanzkriterien längst nicht alle Herrschaftsformen erfassen und daher zu kurz greifen. Ihre Darstellung ist auch deshalb aufschlussreich, weil sie erkennen lässt, an welchen Stellen Kritische Theorie und feministische Kritik sich überschneiden und einander ergänzen. Dennoch würde auch eine Synthese der beiden Kritiken nicht die „wahre Geschichte“ oder das „wahre Ganze“ ergeben, nach dem Hegel vergeblich Ausschau hielt. Die Bedeutung feministischer Theorien liegt nicht in ihren Bemühungen um eine umfassende Darstellung gesellschaftlicher Prozesse, sondern in ihren stets wiederholten und stets konkreteren Versuchen, mit Hilfe neuer Relevanzkriterien eine andere, eine vergessene oder verdrängte Geschichte der Gesellschaft zu erzählen, die die Erzählungen des Marxismus, des Positivismus und der Kritischen Theorie dialogisch relativiert. Es geht darum, die Gesellschaftsgeschichte als „His-story“ in Übereinstimmung mit dem relevanten Gegensatz männlich / weiblich durch eine Alternativgeschichte als „Her-story“ herauszufordern, wie Diane Elam 7 es formuliert: „Nach Jahrhunderten westlicher Geschichte, die genau genommen seine Geschichte war (die Erzählung von ‚großen‘ Männern), wandten sich Historikerinnen und Historiker dem Problem einer historischen Darstellung von Frauen zu. Was würde es bedeuten, die Geschichte von Frauen zu schreiben? Wie würde ihre Geschichte aussehen? “ 8 Ergänzend bemerkt 5 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen. Von der Bedeutung seiner Theorie für die Geschlechterforschung“, in: A. Gruschka, U. Oevermann (Hrsg.), Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno. 4.-6. Juli 2003 an der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, Wetzlar, Büchse der Pandora, 2004, S. 65. 6 Ibid. 7 D. Elam, Feminism and Deconstruction. Ms. en abyme, London-New York, Routledge, 1994, S. 35: „Her-Story or His-Story? “ 8 Ibid. <?page no="234"?> Feministische Gesellschaftstheorien 218 Günter Dux zu den tradierten Auffassungen der Geschichte: „Frauen können mit Recht geltend machen, diese Geschichte sei nicht ihre Geschichte.“ 9 Abermals tritt hier der narrative Charakter geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Theorien in den Vordergrund. Und auch in diesem Fall gilt Werner Schiffers Grundsatz, dass jede theoretische Erzählung „bereits als solche eine Form der Erklärung ist“. 10 Um diese neue „Form der Erklärung“, die von anderen Relevanzkriterien / Selektionen ausgeht und dadurch mit den Erzählungen des Marxismus, des Positivismus und der Kritischen Theorie konkurriert, geht es im Folgenden. Es geht um „ihre Geschichte“ und um deren Darstellung als einer soziologischen Alternative. 1. Neue Relevanz - neue Erzählung Die Relevanz, von der hier die Rede ist, ist keine individuelle Erfindung (die Erfindung einer einzelnen Frau), sondern entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Frauenbewegungen im Verlauf einer turbulenten Entwicklung, in der einzelne Frauen und Frauengruppen versuchen, sich gegen Ausbeutung zu wehren und sich männlichen Machtansprüchen gegenüber durchzusetzen. Dazu bemerkt Luis J. Prieto: „Der Standpunkt, der die Relevanz als Art, ein Objekt zu betrachten, hervorbringt, ist stets an ein Subjekt gebunden. Aber, muss man sogleich hinzufügen, an ein Subjekt, das einer gesellschaftlichen Gruppe angehört, in der das, was man als ‚symbolische Macht‘ bezeichnen könnte, bestimmte Standpunkte mit Legitimität ausstattet.“ 11 Dies bedeutet, dass der Standpunkt als Beobachtung der Gesellschaft und die dieser Beobachtung entsprechenden Relevanzkriterien aus den jahrhundertealten kollektiven Erfahrungen von Frauen und Frauenbewegungen hervorgehen und dass die neue Erzählung als Her story eine soziale Erscheinung ist. Sie ist mit den Erzählungen der marginalisierten Junghegelianer (vgl. Kap. IV und VI) und der Angehörigen des Instituts für Sozialforschung (gegründet 1923) zu vergleichen, aus dem die Kritische Theorie hervorging. Auch die feministische Kritik ist als Reaktion auf Herrschaft, Machtausübung und antagonistische Verhältnisse zu verstehen. In dem Maße, wie die Präsenz der Frauen im Produktionsprozess seit dem 19. Jahrhundert zunimmt, bekommt die Gesellschaft diese Reaktion immer stärker zu spüren. Auf der Ebene der Beobachtung, auf der Relevanzkriterien zustande kommen, legt die französische Soziologin Françoise Gaspard den Finger 9 G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, op. cit., S. 437. 10 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 23. 11 L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 148. <?page no="235"?> Feministische Gesellschaftstheorien 219 auf die Wunde, wenn sie lapidar feststellt: „die Soziologie hat die Frauen ignoriert“ („la sociologie a ignoré le femmes“). 12 Die Soziologen haben sich dadurch selbst geschadet, weil sie im Dialog der Theorien eine Perspektive übergangen haben, in der sie einige ihrer Wissenslücken erkannt und neue Erkenntnisse gewonnen hätten: etwa die Erkenntnis, dass Subjektivität zumeist mit männlicher Subjektivität identifiziert wird. Was die „Entdeckung der Frauen“ zu vorgerückter Stunde für die theoretische Erzählung des Marxismus bedeutet, erläutert Nancy Fraser, wenn sie zur Gender-orientierten Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung bemerkt: „Sie zeigt, dass männliche Herrschaft für den klassischen Kapitalismus wesentlich ist und nicht etwas Hinzukommendes.“ 13 Auch hier geht es um Relevanzkriterien: Der Gegensatz Kapital / Arbeit wird in Frasers Diskurs vom Gegensatz männlich / weiblich überlagert und bildet die Grundlage ihres Diskurses und seiner Teleologie. Das Ziel dieses Diskurses ist nicht länger die „klassenlose Gesellschaft“, sondern eine herrschaftsfreie, aus weiblicher Sicht gerechtere und menschlichere Gesellschaft, die eine Aufhebung des Klassenantagonismus im Sinne von Marx nicht herbeiführen kann. In ihrer Kritik an Habermasʼ Kritischer Theorie lässt Fraser die feministischen Relevanzkriterien in den Mittelpunkt der theoretischen Erzählung rücken, wenn sie die gesellschaftliche Entwicklung als Auseinandersetzung zwischen feministischen und (ebenfalls von Frauen angeführten) antifeministischen Bewegungen darstellt. In dieser Auseinandersetzung geht es um gesellschaftliche und sprachliche Bedeutungen, um Sinnbildung und symbolische Machtverteilung: „Diese Bewegungen mitsamt ihren Verbündeten und staatlich verwalteten Institutionen sind in Konflikte involviert, in denen es um die Bedeutungen der Wörter ‚Frauen‘ und ‚Männer‘, ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ geht, um die Deutung weiblicher Bedürfnisse; um die Interpretation und gesellschaftliche Konstruktion weiblicher Körper und um Gender-Normen, die die wichtigsten Gesellschaftsrollen bestimmen, die zwischen Institutionen vermitteln.“ 14 Hier wird eine zugleich historische, gesellschaftliche und sprachliche Situation beschrieben, in der Frauen auf individueller und kollektiver Ebene um ihre Rechte kämpfen. Der Wandel theoretischer Relevanzkriterien, der einer Bewegung des Kaleidoskops gleicht, lässt eine völlig neue Konstellation erkennen, in der nicht Klassen gegeneinander antreten oder Wissen- 12 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le Sujet. Autour d’Alain Touraine, Paris, Fayard, 1995, S. 147. 13 N. Fraser, „What’s Critical about Critical Theory? The Case of Habermas and Gender“, in: S. Benhabib, D. Cornell (Hrsg.), Feminism as Critique. Essays on the Politics of Gender in Late-Capitalist Societies, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1986, S. 45. 14 Ibid., S. 53. <?page no="236"?> Feministische Gesellschaftstheorien 220 schaftler, Theologen und Metaphysiker einander bekämpfen (wie bei Comte), sondern Frauenbewegungen und Gegenbewegungen sich gegenseitig die Vorherrschaft im Bereich der symbolischen Ordnung streitig machen. Dadurch entsteht eine neue Erzählung, die das Objekt „Gesellschaft“ anders konstruiert und soziale Entwicklungen anders erklärt als Marx, Comte oder die Kritische Theorie. Françoise Gaspard zeigt, wie wenig revolutionär die Französische Revolution von 1789 war, wenn sich das Augenmerk auf die Frauenemanzipation im ausgehenden 18. Jahrhundert richtet. Das männlich dominierte „revolutionäre“ Bürgertum bediente seine eigenen Interessen, als es durch eine geschickte Manipulation der historischen Semantik die reaktionären Umtriebe adeliger Frauen vor und während der Revolution hervorhob, um nach der Revolution alle Frauen aus dem öffentlichen Bereich ausschließen zu können. Gaspard kehrt zur Frage nach den Relevanzkriterien zurück, wenn sie sich u.a. auf Arbeiten des Mediävisten Georges Duby 15 beruft, die zeigen, dass die sich ständig verschiebenden Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern eine lange Geschichte haben und dass die männliche Herrschaft weder etwas Natürliches noch eine anthropologische Konstante ist: „Was diese Arbeiten überdeutlich zeigen, ist die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen Frauen und Männern in Gesellschaft und Politik eine Geschichte haben und dass man daher eine Auffassung vermeiden sollte, der zufolge männliche Herrschaft eine Invariante ist und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein langer, stiller Strom sind.“ 16 Gaspard zeigt, dass Frauenbewegungen entstehen und verschwinden und dass die Intensität ihrer Aktivitäten keineswegs der Intensität gesellschaftlicher Revolutionen und Revolten entspricht: „Die Frauen sind kollektiv weniger im Jahre 1789 aktiv als im Jahre 1791, weniger im Jahre 1968 als nach 1970.“ 17 Dies könnte dahingehend gedeutet werden, dass gesellschaftliche Umbrüche zwar Frauen ermutigen, für ihre Rechte einzutreten und die Machtverhältnisse zu ändern, dass sie aber als Umbrüche wahrgenommen werden, die auf kollidierende männliche Interessen zurückzuführen sind - und mit Frauenemanzipation wenig zu tun haben. Der Soziologe Günter Dux, der eine genetische Soziologie und Kulturtheorie entwickelt, die nach der Entstehung von sozialen Konstellationen, 15 Vgl. G. Duby, Le Chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale, Paris, Hachette, 1981. 16 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, op. cit., S. 145. 17 Ibid., S. 151. <?page no="237"?> Feministische Gesellschaftstheorien 221 Strukturen und Institutionen fragt 18 , ergänzt die von Fraser und Gaspard angestellten Überlegungen durch eine erklärende Erzählung, die auf der These gründet, dass die männliche Vorherrschaft mit der Tatsache zusammenhängt, dass der Mann seit Jahrhunderten die Familie beschützt und „nach außen“ vertritt. Dadurch fällt ihm eine Vormachtstellung zu, die er im Laufe der Jahrhunderte ausbauen und konsolidieren kann. Dux spricht von der „Außenzuständigkeit des Mannes“: „Die Außenzuständigkeit des Mannes läßt im Verhältnis zur Frau eine Schutzpflicht entstehen. Die aber ist der beste Boden für eine Bevormundung, zumindest wiederum im Außenverhältnis.“ 19 Diese Dominanz „im Außenverhältnis“ führt dazu, dass Männer für die Beziehungen zwischen ihren Familien zuständig sind und ihre Töchter in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen (den Familieninteressen) verheiraten. Über die „Außenzuständigkeit“ dringt der Machtfaktor „auf einem Umweg in das Verhältnis zwischen den Geschlechtern“ ein: „über die Verfügung der Alten, vornehmlich der Männer, über die Töchter“. 20 Der Tausch der Frauen, der zwischen Familien stattfindet, wird von Männern (Vätern) organisiert. Laut Dux bedeutet dies, dass der Geschlechterkonflikt letztlich durch externe Faktoren in das Verhältnis zwischen Mann und Frau hineingetragen wird. Denn Dux ist nicht zu Unrecht der Meinung, dass dieses Verhältnis grundsätzlich von der geschlechtlichen Liebe geprägt ist - und nicht etwa von einem biologisch bedingten Antagonismus. Allerdings ist die Außen- oder Schutzfunktion des Mannes biologischer Provenienz, weil der Mann sie seiner Größe und Körperkraft verdankt. Vor allem in archaischen Gesellschaften fällt ihm die Aufgabe zu, die Frau(en), die Familie und den Stamm vor Feinden und Naturgewalten zu schützen. In der Antike und im mittelalterlichen Feudalismus wandelt sich diese Schutzfunktion zwar, bleibt aber in ihren wesentlichen Aspekten bis in die frühe Moderne hinein erhalten. In neuester Zeit verliert sie allerdings an Bedeutung: nicht nur weil die Familie häufig zerfällt, so dass die alleinstehende Mutter auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen ist, sondern auch deshalb, weil in der Wissens- und Technologiegesellschaft Körperkraft sekundär wird. In einem Rechtsstaat, in dem Faustrecht kaum noch durchsetzbar ist, ist die Frau immer seltener auf männlichen Schutz angewiesen; wichtiger ist für sie, der Gewalt innerhalb der Familie zu trotzen oder sich ihr zu entziehen. Als Karikatur oder Parodie der männlichen Schutzfunktion tritt noch in der moder- 18 Vgl. G. Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist, Velbrück, 2000, S. 73, wo die Beziehung von Biologie und Sozialwissenschaft aus genetischer Sicht erörtert wird. 19 G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, op. cit., S. 421. 20 Ibid. <?page no="238"?> Feministische Gesellschaftstheorien 222 nen Gesellschaft der Zuhälter auf, der die Prostituierte zwar schützt, zugleich aber rücksichtslos ausbeutet. Luce Irigaray ergänzt die Untersuchungen von Günter Dux, wenn sie im Anschluss an Marx zur Rolle der Männer im „Außenbereich“ bemerkt: „Der Tausch von Frauen als Gütern begleitet und stimuliert den Austausch anderer ‚Reichtümer‘ unter den Männergruppen.“ 21 Sie beleuchtet zugleich einen neuen Aspekt des „Warentausches“, der bei Dux im Dunkeln bleibt, jedoch die Funktion des Tausches für die männliche Subjektivität zutage treten lässt: „Die Waren, die Frauen, sind Wertspiegel des Mannes / für den Mann.“ 22 Das heißt, dass die Macht des Mannes von seinem Tauschverhältnis zu anderen Männern gespiegelt wird. In diesem Verhältnis fungieren die Frauen als Spiegel männlicher Macht, Vollkommenheit und Subjektivität. 2. Subjektivität individuell und kollektiv: Für und wider den Subjektbegriff In den zahlreichen Debatten zwischen Feministinnen ist der Subjektbegriff aus zwei Gründen zentral und umstritten: erstens, weil „Subjekt“ nicht nur eine autonome, handlungsfähige, sondern zugleich auch eine unterworfene Instanz bezeichnet. Das lateinische Wort subiectum bedeutet sowohl das „Darunter-“, „Unterhalb-Liegende“ oder „Grundlegende“ als auch das „Unterworfene“; die subiecti sind die „Untertanen“. Zweitens: Da in der bisherigen Geschichte die handelnden Instanzen vor allem Männer waren, befürchten einige Feministinnen, dass das weibliche Streben nach einer eigenen Subjektivität und nach Handlungsfähigkeit letztlich auf eine Integration in das männliche System der Subjektivitäten und auf eine Unterwerfung unter die männliche Subjektform hinauslaufen könnte. In Anlehnung an Jacques Derridas Dekonstruktion 23 nehmen sie sich deshalb eine Dekonstruktion des Subjektbegriffs vor. Dekonstruktion bedeutet ihnen nicht „Destruktion“ oder „Zerstörung“, sondern eine kritische Zerlegung im Sinne von Derrida. Derrida selbst erläutert seinen Begriff „Dekonstruktion“ im Verhältnis zu Heideggers „Destruktion“: „Es war natürlich auch eine aktive und ein wenig sinnverschiebende Übersetzung von Heideggers Wort ‚Destruktion‘ als Destruktion der Ontologie, das auch nicht Annullierung, Vernichtung der Ontologie bedeutet, sondern eine Strukturanalyse (analyse de la structure) der traditionellen Ontologie.“ 24 21 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin, Merve, 1979, S. 179. 22 Ibid., S. 183. 23 Zur Beziehung von Feminismus und Derridas Dekonstruktion vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (2. Aufl.), Kap. VII. 5: „Feministische Dekonstruktion und feministische Kritik“. 24 J. Derrida, Points de suspension. Entretiens, Paris, Galilée, 1992, S. 226. <?page no="239"?> Feministische Gesellschaftstheorien 223 Feministinnen wie Luce Irigaray, Diane Elam und Judith Butler fassen eine solche „Strukturanalyse“ des Subjektbegriffs als dessen Dekonstruktion ins Auge. Ihre Kernfrage lautet, wie männliche Subjektivität zustande kommt und wie weibliche Subjektivität (jenseits aller männlichen Verzerrungen) komplementär oder im Gegensatz zu ihr aussehen könnte. Dabei spielt der verschiedenen Konstruktivismen und Semiotiken gemeinsame Gedanke eine Rolle, dass Subjektivität gesellschaftlich und sprachlich vorkonstruiert ist: Sie ist keine natürliche Gegebenheit, sondern wird im Laufe der Jahrhunderte von Männern - für alle Angehörigen der Gesellschaft - konstruiert. 25 Mary M. Talbot fasst zusammen: „Masculine and feminine identities are effects of discursive practices.“ 26 Sie werden beide in Diskursen als semantisch-syntaktischen und narrativen Strukturen oder „Erzählungen“ konstruiert. Mit dem Konstruktionsvorgang befasst sich im Anschluss an Marxismus und Psychoanalyse Luce Irigaray. Aus ihrer Sicht entspricht der etablierte Subjektbegriff den männlichen Vorstellungen, so wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte verfestigt haben. „Jede bisherige Theorie des Subjekts“, erklärt Irigaray, „hat dem ‚Männlichen‘ entsprochen.“ 27 Das männliche Subjekt bedient sich der Frau als Spiegel, in dem es narzisstisch seine körperlichen Vorzüge registriert, und als Kontrastfolie, die ihm dazu dient, diese Vorzüge kontrastiv zu den Mängeln der Frau aufzuwerten. Zu diesen imaginierten Mängeln gehört auch der fehlende Penis, den schon Freud in seinem Theorem über den „Penisneid“ des Mädchens implizit als ein „Fehlen“ darstellte. Dazu bemerkt Irigaray: „Freud hat die weibliche Sexualität hier wieder einmal als eine geringere männliche Sexualität gedacht.“ 28 Selbst wenn Werturteilsfreiheit (Kap. I. 2-3) im strengen Sinn nicht möglich ist, weil Wertung schon in den Relevanzkriterien und Selektionen sozialwissenschaftlicher Diskurse angelegt ist, könnte man von Freuds Psychoanalyse doch erwarten, dass sie für mehr selbstkritische Distanz (vgl. N. Elias, Kap. I und Kap. XIII) sorgt und die beiden Geschlechter als biologisch komplementär und gleichwertig betrachtet. Fast gleichzeitig mit Irigaray übt Juliet Mitchell 29 Kritik an Freuds Begriff des „Penis- 25 Zum Begriff des „Vorkonstruierten“ im semiotischen Sinne vgl. P. Henry, „Constructions relatives et articulations discursives“, in: Langages 37, 1975. 26 M. M. Talbot, Language and Gender. An Introduction, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1998, S. 191. 27 L. Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 169. 28 Ibid., S. 158. 29 Vgl. J. Mitchell, Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 125: „Und obzwar er den Begriff Penisneid fortentwickelte, ist doch das, was er über das Mädchen sagt, bislang noch reine Spekulation.“ <?page no="240"?> Feministische Gesellschaftstheorien 224 neids“. Immerhin ist es denkbar, dass Männer Frauen wegen ihrer Fähigkeit, Kinder zu gebären, beneiden könnten. Schließlich beinhaltet Komplementarität, dass auf beiden Seiten etwas fehlt - fehlen muss. Irigaray versucht, den phallozentrischen Diskurs, der männliche Subjektivität durch Abwertung der Weiblichkeit konstruiert, mit Hinweisen auf Widersprüche und Unstimmigkeiten innerhalb dieses Diskurses zu dekonstruieren. Sie zeigt, dass die Vorstellung von einem vollkommenen und sich selbst genügenden männlichen Subjekt, das seine Autarkie durch den Ausschluss des Weiblichen zu begründen sucht, eine Illusion ist. Die Illusion besteht in der Annahme, dass die Differenz männlich / weiblich als klare Abgrenzung zu denken ist und dass sich das Weibliche jenseits der männlichen Grenzen befindet. Doch dieses Weibliche ist als Spiegel und Kontrastfolie integraler Bestandteil der männlichen Subjektivität, die es mitkonstituiert. Ohne den sie konstituierenden Kontrast würde sie sich auflösen. Dazu bemerkt Judith Butler: „Irigarays Antwort auf den Auschluß des Weiblichen aus der Ökonomie der Repräsentation ist letztlich: Gut, ich will ohnehin nicht in eure Ökonomie aufgenommen werden, und ich will euch zeigen, was dieses nicht-intelligible Aufnehmende in eurem System anrichten kann; ich werde keine schlechte Kopie in eurem System sein, aber ich werde euch trotzdem ähnlich sein, indem ich die Textpassagen mimetisch vorführe, durch die ihr euer System konstruiert, und indem ich zeige, daß dasjenige, was nicht hinein darf, bereits drin ist (als sein notwendiges Außen) (…).“ 30 Tatsächlich dekonstruiert Irigaray den männlichen Subjekt- Diskurs durch zahlreiche parodierende Zitate, die an Derridas Parodien in Glas (Totenglocke) erinnern: Dort wird Hegels Logozentrismus durch die Parallellektüre einiger Texte des anarchistischen Schriftstellers Jean Genet relativiert. 31 Judith Butlers Kritik des Subjektbegriffs ergänzt insofern die kritischen Kommentare Irigarays, als sie von der Überlegung ausgeht, dass „Geschlecht“ und „Subjekt“ soziale Konstruktionen sind, die vorwiegend in männlich dominierten Kontexten entstehen. Butler steht auf dem Standpunkt, dass das Streben nach einer autonomen weiblichen Subjektivität nicht dazu führen darf, dass sich Frauen in die im Laufe der Geschichte vorkonstruierten männlichen Formen einfügen. Ihr kommt es darauf an, diese Formen kritisch zu zerlegen, ohne Subjektivität schlicht zu negieren oder aufzugeben. Es geht Butler jedoch nicht nur um eine Kritik des männlichen Subjektbegriffs, sondern auch um kritische Selbstreflexion, in der die Entstehung 30 J. Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin, Berlin Verlag, 1995, S. 71-72. 31 Vgl. J. Derrida, Glas - Que reste-t-il du savoir absolu? , Paris, Galilée, 1974. <?page no="241"?> Feministische Gesellschaftstheorien 225 individueller und kollektiver Subjektbegriffe des Feminismus in männlich dominierten politischen Systemen zur Sprache kommt. Emanzipation ist nur möglich, wenn sich diese zugleich reflexive und genetische Einstellung durchsetzt: „Die feministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ‚Frau(en)‘, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll.“ 32 Kurzum, eine Integration in das bestehende System männlicher Subjektkonstruktionen verhindert Emanzipation, statt sie zu fördern. Stärker noch als Butler und Irigaray setzt sich Diane Elam für eine dekonstruktivistische Kritik des Subjektbegriffs ein. Aus ihrer Sicht fasst der Slogan „gleiche Rechte für Frauen“ ein verhängnisvolles Programm zusammen, das auf eine Angleichung der Aktivistinnen an männliche Verhaltensmuster hinausläuft: „Feminism is destined to lose the entire argument, since the equal rights to which women aspire turn out to mean the right to be hu-MAN.“ 33 Als Alternative zu dieser Angleichung, die auf Integration hinausliefe, schlägt Elam eine dekonstruktivistische Vorgehensweise vor, die in der Praxis in einer Politik der Unentscheidbarkeit gipfelt. Sie plädiert für eine „radical indeterminacy“ 34 und verdeutlicht anhand der Debatten über Abtreibung, was sie sich konkret unter „Unentscheidbarkeit“ und „Unbestimmtheit“ vorstellt: „Um die Debatte über Abtreibung zu gewinnen, müsste man das Unentscheidbare zulassen, wobei Abtreibung weder eine Entscheidung wäre, die vorab gefällt werden könnte, noch eine Entscheidung, die ein für allemal für alle Frauen gelten würde.“ 35 Als allgemeines Prinzip, für das es sich zu kämpfen lohnt, könnte jedoch gelten, dass in allen Fällen die Frau entscheidet, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen will oder nicht. Dass diese Art von Unentscheidbarkeit für Frauen, die sich für weibliche Subjektivität und Handlungsfähigkeit einsetzen, nicht befriedigend ist, liegt auf der Hand. Die Heterogenität der weiblichen Gesellschaft und der Frauenbewegungen erinnert an die von Marx und Engels nur sporadisch kommentierte Heterogenität des Proletariats, das von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig verschiedene Interessen artikuliert und vom Gegensatz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen als kollektiver Aktant weiter geschwächt wird. Auch Frauenbewegungen werden häufig durch sprachliche (Belgien), ethnische (USA) und wirtschaftliche Gegensätze auseinander- 32 J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt, Suhrkamp (1991), 2014 (17. Aufl.), S. 17. 33 D. Elam, Feminism and Deconstruction, op. cit., S. 78. 34 Ibid., S. 59. 35 Ibid., S. 84. <?page no="242"?> Feministische Gesellschaftstheorien 226 dividiert und geschwächt. Angesichts solcher Unwägbarkeiten ist es nicht verwunderlich, dass einige Autorinnen die dekonstruktivistischen Kritiken der Subjektbildung nicht goutieren. So wendet sich beispielsweise die amerikanische Feministin Honi Fern Haber gegen alle an Derrida, Foucault und Lyotard anknüpfenden „Postmodernen“, die Subjektivität durch ihre kritische Zerlegung schwächen. Ohne die von Butler und Fraser betonte Notwendigkeit zu berücksichtigen, den Subjektbegriff auf seine Genese hin zu überprüfen und kritisch zu reflektieren, plädiert sie für kohärente Subjektivität und Gemeinschaft: „Postmoderne Politik stellt keine Option dar (…), denn sie schließt Gemeinschaftsbildung und zusammenhängende Subjekte (coherent subjects) aus, die beide für die Identitätsbildung des Andersartigen wesentlich sind.“ 36 Im letzten Satz ihres Buches stellt sie unumwunden fest, „The subject of oppositional struggle is subject-in-community and not the subject in isolation (…).“ 37 Dieser Rückgriff auf den soziologischen Schlüsselbegriff der Gemeinschaft, der immer wieder ideologisch ausgeschlachtet wird (vgl. Kap. X), lässt ein Dilemma des Feminismus erkennen, das aus dem Gegensatz von kritischer Reflexion und Handlung, von kritisch-reflexiver Theorie und handlungsorientierter Ideologie hervorgeht. Die Theorien der Frauenbewegungen neigen dazu, sich über dieses Dilemma hinwegzusetzen. 3. Weibliche Subjektivität und soziale Bewegung Dem soziologischen Begriff der Bewegung fällt in den feministischen Debatten eine Schlüsselrolle zu, weil viele Aktivistinnen und Autorinnen hoffen, jenseits der etablierten Institutionen und der politischen Parteienlandschaft, die zumeist männlich dominiert ist, neue Möglichkeiten zu finden, auf Wirtschaft, Politik und Kultur verändernd einzuwirken. Soziale Bewegungen sind zwar labil geschichtet, sind aber leicht zugänglich, flexibel und unterscheiden sich dadurch vorteilhaft von hierarchisch organisierten Parteien, die zu Oligarchiebildungen neigen 38 und leicht „verkrusten“ (vgl. Kap. VIII). Soziale Bewegungen werden seit den 1960er Jahren vom französischen Soziologen Alain Touraine untersucht, von dem im siebzehnten Kapitel ausführlicher die Rede sein wird. Er unterscheidet in seinen späteren Arbeiten Bewegungen, die besondere Gruppeninteressen artikulieren (etwa 36 H. Fern Haber, Beyond Postmodern Politics. Lyotard, Rorty, Foucault, New York-London, Routledge, 1994, S. 130. 37 Ibid., S. 134. 38 Vgl. R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (Hrsg. W. Conze), Stuttgart, Kröner, 1925, Teil VI: „Die oligarchischen Tendenzen der Organisation“. <?page no="243"?> Feministische Gesellschaftstheorien 227 die Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhunderts), von neuen kulturellen oder historischen Bewegungen, die nicht nur für die Rechte bestimmter Gruppen kämpfen, sondern versuchen, eine Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung herbeizuführen. Er vergleicht die zeitgenössischen ökologischen und feministischen Bewegungen mit den religiösen Bewegungen der Vergangenheit, die ebenfalls im „Feld der Historizität“ agierten, um den Verlauf der Geschichte in ihrem Sinne zu beeinflussen: „Die wichtigsten kulturellen Bewegungen der Geschichte waren die religiösen Bewegungen; in unserer Welt, die aus der Industriegesellschaft hervorgegangen ist, sind die Frauenbewegungen und die ökologisch-politischen die bedeutendsten (…).“ 39 Tatsächlich geht es diesen Bewegungen in vielen Fällen nicht nur um die Durchsetzung partikularer Interessen (etwa „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“), sondern um eine andere, vernünftigere Gesellschaft. Insofern setzten sie die modernen und spätmodernen Diskurse der Emanzipation, die Diskurse von Marx, Comte, Adorno und Horkheimer, fort. Eine der Grundthesen Touraines lautet, dass die demokratischen Bewegungen (Frauen, „Grüne“, Arbeitslose) nicht nur versuchen, eine historische Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung herbeizuführen, sondern auch die Subjektivität der sie konstituierenden individuellen Akteure zu stützen und zur Entfaltung zu bringen. Diese Fähigkeit, zur Entwicklung der kollektiven und individuellen Subjektivität beizutragen, spricht er den Antibewegungen ab. Zu ihnen rechnet er nationalistische, faschistische, fundamentalistische und bolschewistische Strömungen (vgl. Kap. XVII). Françoise Gaspard, die von Touraines Handlungssoziologie als sociologie de l’action ausgeht, betrachtet die verschiedenen Frauenbewegungen ebenfalls als Stützen weiblicher Subjektivität: sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene. Sie setzt sich indirekt für eine Erweiterung der Relevanzkriterien ein, wenn sie programmatisch feststellt: „Die Handlungssoziologie hat folglich ein riesiges Betätigungsfeld vor sich - und nicht nur im Hinblick auf Frauen als Mitwirkende in Frauenbewegungen, sondern als handelnde Instanzen allgemein, als Subjekte der Geschichte.“ 40 Darum geht es in Touraines Handlungssoziologie als Soziologie der Bewegungen: Durch ihre Teilnahme an Bewegungen, die gegen Unterdrückung, für Gleichberechtigung und Emanzipation kämpfen, sollen einzelne Frauen zu selbstbewussten Subjekten werden und Geschichte als einen Prozess erfahren, dem sie nicht hilflos ausgeliefert sind, weil sie ihn individuell und kollektiv mitgestalten. 39 A. Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents, Paris, Fayard, 1997, S. 177. 40 F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, op. cit., S. 152. <?page no="244"?> Feministische Gesellschaftstheorien 228 Gaspard räumt zwar ein, dass nicht alle Frauenbewegungen als „soziale“ oder „kulturelle“ Bewegungen im Sinne von Touraine aufzufassen sind, weil ihr Handeln nicht immer im Rahmen eines „globalen Entwurfs“ auf eine „Utopie“ oder bessere Gesellschaft ausgerichtet ist. „Sie alle aber stellen die Beziehungen zwischen der ‚Gruppe‘ der Frauen und der ‚Gruppe‘ der Männer in Frage. Sie alle bewirken, dass die Gesellschaft sich verändert. Um die Gesellschaft zu verstehen, ist es daher unerlässlich, den zugleich gesellschaftlichen und sexuellen Charakter des Subjekts zu berücksichtigen.“ 41 Für die soziologische Theoriebildung ist diese Passage deshalb wichtig, weil sie zeigt, dass ein wesentlicher Aspekt der Gesellschaft und ihrer Entwicklung nicht erfasst und nicht verstanden wird, solange der Gegensatz männlich / weiblich ausgeklammert bleibt. Sowohl der Marxismus als auch die Kritische Theorie hätten ihre Analysen der Herrschaft konkreter gestalten können, wenn sie diesem Gegensatz Rechnung getragen hätten. Die Tatsache, dass das Geschlechterverhältnis bei Marx sekundär ist, bewirkt, „daß sich der von ihm vorgegebene grundbegriffliche Rahmen, insbesondere für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus, als nicht hinreichend erwiesen hat“. 42 Marx geht offensichtlich vom Klassengegensatz aus, wenn er im Zusammenhang mit Londoner Zeitungsberichten über den Tod einer zwanzigjährigen „Putzmacherin“ („Death from simple Overwork“: Juni 1863) berichtet: „Es handelte sich um den Tod der Putzmacherin Mary Anne Walkley, zwanzigjährig, beschäftigt in einer sehr respektablen Hofputzmanufaktur, exploitiert von einer Dame mit dem gemütlichen Namen Elise.“ 43 Diese Dame beschäftigt etwa 60 Mädchen, die „durchschnittlich 16, 5 Stunden, während der Saison aber oft 30 Stunden ununterbrochen arbeiten“. 44 In der Klassengesellschaft wird ihr Tod als normale Folge arbeitsbedingter Erschöpfung zur Kenntnis genommen. Marx hätte diese Art von Ausbeutung konkreter beschreiben und erklären können, wenn er außer dem im 19. Jahrhundert sicherlich ausschlaggebenden Klassengegensatz auch die männliche Dominanz in den Systemen „Medizin“, „Politik“ und „Justiz“ einbezogen hätte, die Kinder und Frauen als schwächste Glieder der Gesellschaft besonders krassen Formen der Ausbeutung preisgaben. 45 Seinen polemischen Kommentaren zu den z.T. zynischen Reaktionen von Medizinern, Juristen und Politikern auf den 41 Ibid., S. 155. 42 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, op. cit., S. 64. 43 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein (1969), 1981, S. 219. 44 Ibid. 45 Vgl. ibid., S. 209 zur Rolle der Kinderarbeit. <?page no="245"?> Feministische Gesellschaftstheorien 229 Tod der Zwanzigjährigen fehlt es zwar nicht an Brisanz, aber sein Verzicht auf die von den Feministinnen reklamierte Relevanz hat zur Folge, dass seinen Betrachtungen eine Dimension fehlt. Zugleich zeigt jedoch seine Analyse des frühen britischen Kapitalismus, dass innerhalb der Frauenwelt klassenbedingte Ausbeutung nicht nur gang und gebe war, sondern weit über die Grenzen zeitgenössischer Einbildungskraft hinausreichte. In seiner Abhandlung über die männliche Herrschaft (La Domination masculine, 1998), in der er durchaus im Sinne feministischer Bewegungen argumentiert, erinnert Pierre Bourdieu daran, dass die Marxschen Relevanzkriterien keineswegs der Vergangenheit angehören, weil Frauenbewegungen auch „vorrangig Frauen privilegieren können, die aus denselben sozialen Bereichen stammen wie die Männer, die jetzt die Machtpositionen einnehmen“. 46 Die „Dame mit dem gemütlichen Namen Elise“, die geschickt ein männlich dominiertes soziales Netzwerk manipuliert, kann folglich auch im 21. Jahrhundert erfolgreich agieren - und keineswegs im Sinne der Emanzipation. Es ist das Verdienst von Silvia Kontos, dass sie in einer historischen Übersicht über die Entwicklung von Frauenbewegungen in Deutschland auch deren Probleme und Schwächen aufzeigt, die bei Touraine und Gaspard, die dazu neigen, „Bewegung“ mit euphorischen Konnotationen zu versehen, unsichtbar bleiben. Die Bewegung wurde in den 1970er Jahren allzu sehr als einheitliches „Subjekt“ aufgefasst. Dies „verhinderte seit den 1980er Jahren eine angemessene Problematisierung der unterstellten Homogenität, verlängerte und verschärfte unausgetragene Konflikte um Macht und Zielsetzungen der Bewegung und blockierte damit ihre soziale Ausweitung und generationsübergreifende Erneuerung“. 47 Hier wird deutlich, dass die Homogenität von Bewegungen keineswegs vorausgesetzt werden kann, weil jede Bewegung von generationsbedingten, ideologischen oder ethnischen Brüchen durchzogen ist, die jederzeit ihren Zerfall bewirken können. Kontos schneidet auch ein Problem an, mit dem sich Marx und Engels im Kommunistischen Manifest befassen, wenn sie zeigen, wie die vom Markt induzierten Konkurrenzmechanismen die Klassensolidarität aufweichen. 48 Der Markt zersetzt die etablierten sozialen Rollenmuster und negiert zugleich alles, was aus marktwirtschaftlicher Sicht nicht produktiv ist, was 46 P. Bourdieu, La Domination masculine, Paris, Seuil (1998), 2002, S. 157-158. 47 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche. Die Frauenbewegung und ihre Vorgaben für eine kritische Gesellschaftstheorie“, in: J. Beerhorst, A. Demirović, M. Guggemos (Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 430-431. 48 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 535. <?page no="246"?> Feministische Gesellschaftstheorien 230 nicht vermarktet werden kann. „Im Kontext einer marktradikalen Modernisierung“, bemerkt Kontos, „geriet das Geschlechterverhältnis jedoch unter einen widersprüchlichen Druck, der die politischen Initiativen der Frauenbewegung desintegrierte. Sie wurden förmlich auseinander gerissen in die dem Neoliberalismus kompatiblen Teile, die mit der Schleifung der Bastion des männlichen Ernährers ganz nebenbei auch die Ansprüche an einen ‚Familienlohn‘ erledigten (…).“ 49 Damit waren die Bemühungen um eine gerechte Entlohnung der Frauen für Kindererziehung und Arbeit im häuslichen Bereich, die für Berufstätige eine doppelte Belastung mit sich bringen, vorerst gescheitert. Dennoch ist die Bilanz, die Kontos am Ende ihrer Darstellung zieht, nicht negativ. In mancher Hinsicht nähert sie sich den von Touraine und Gaspard vorgelegten Ergebnissen an, wenn sie feststellt, dass Frauenbewegungen aufgrund ihrer Flexibilität ihren Mitgliedern die Möglichkeit bieten, nicht nur „das Politikmonopol der Parteien und etablierten Verbände“ zu umgehen, „sondern auch den Etatismus der politischen Kultur in Deutschland“. 50 Diese Erkenntnis stimmt weitgehend mit den Erkenntnissen Touraines und Gaspards überein: Die schwache Institutionalisierung von Bewegungen schafft Flexibilität in Freiräumen, die man in Staatseinrichtungen und hierarchisch organisierten Parteien vergeblich suchte. Komplementär zur Flexibilität verhält sich die unvermeidliche Vielfalt, die Kontos in ihren Schlussbetrachtungen auch als „Stärke“ auffasst: „Als Vielfalt ist diese Uneinheitlichkeit jedoch auch die Stärke der Frauenbewegung. Sie hat sie bislang davor bewahrt, dem gesellschaftlichen Druck zur Re-Traditionalisierung von Politik gänzlich nachzugeben und hat sich dadurch die Nähe zu den geschlechterpolitischen Brüchen des Alltags erhalten.“ 51 Auch diese Nähe zu Alltag und „Lebenswelt“ (Habermas) bedeutet, dass Bewegungen zunehmend als Alternativen zu bürokratisierten Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen gesehen werden. Bevor das den meisten feministischen Diskurses gemeinsame Aktantemodell skizziert wird, sollen die Zielsetzungen der Frauenbewegungen näher betrachtet werden. Mit ihnen befasst sich ausführlich Nancy Fraser. Auch sie geht von einer Kritik am Marxismus aus, der die ökonomischen Aspekte von Konflikten in den Vordergrund stellt, was zur Folge hat, dass die politischen und kulturellen Konfliktkomponenten unberücksichtigt bleiben oder unterbewertet werden. Fraser folgt durchaus dem vom Marxismus inspirierten Argument, wenn sie eine Umverteilung der wirtschaftlichen (und politischen) Ressourcen zugunsten der Frauen fordert. Sie plädiert jedoch zugleich für eine 49 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche“, op. cit., S. 432. 50 Ibid., S. 444. 51 Ibid., S. 448. <?page no="247"?> Feministische Gesellschaftstheorien 231 mit dieser Umverteilung einhergehende Anerkennung des weiblichen Beitrags zu Gesellschaft und Kultur. Umverteilung allein genügt nicht, denn: „Frauen werden staatsbürgerliche Rechte vorenthalten. Alle diese Verletzungen sind Ungerechtigkeiten im Sinne von Missachtung; sie sind relativ unabhängig von der politischen Ökonomie und sind nicht bloß Überbauphänomene.“ 52 Wenn soziale Gerechtigkeit oder Gleichgewichtigkeit nur annähernd erreicht werden soll, schließt Fraser, muss das Ziel der Frauenbewegungen „sowohl Umverteilung als auch Anerkennung“ 53 sein. Diese zweifache Zielsetzung deutet an, dass sich die Herrschaftsverhältnisse seit dem 19. Jahrhundert drastisch gewandelt haben: Während das Proletariat buchstäblich ums Überleben kämpfte (wie weiter oben das Beispiel aus Marxʼ Das Kapital I zeigt), geht es im 20. und 21. Jahrhundert auch und vielleicht vorrangig um sozialen Status, um Bildung und kulturelle Anerkennung. Dadurch ändert sich nicht nur der Objekt-Aktant des Diskurses; es entsteht - mit der neuen Erzählung - ein neues Aktantenmodell. 4. Aktantenmodelle: Frau oder Frauen? Emanzipation oder Integration? Die meisten religiösen, ideologischen und theoretischen Diskurse konstruieren ihre eigenen Auftraggeber, denen sie besondere Modalitäten, Regungen und Zielsetzungen zuerkennen. Die „Vorsehung“, die „Götter“, die „Partei“, die „Bewegung“, die „Vernunft“ oder die „Menschheit“ (Comte) werden mit verschiedenen - bisweilen fantastischen - Eigenschaften ausgestattet, die ihre Auftraggeber-Funktion rechtfertigen. Die feministischen Diskurse können insofern als Antworten auf Hegelianismus und Marxismus aufgefasst werden, als sie dem „Weltgeist“ (Hegel) als Auftraggeber und der „Geschichte“ (Marx) als Auftraggeberin eine neue Auftraggeberin entgegensetzen, die eine andere Erzählung begründet: die „Geschichte“ als „Her-story“, die als Alternative zu „His-story“, d.h. zur Geschichte in ihrer tradierten und etablierten Form, präsentiert wird. Diese weiblich gedeutete Geschichte erscheint nicht nur als Alternative zu männlichen Erzählungen, in denen Frauen entweder nicht vorkommen oder die Funktion von Objekt-Aktanten erfüllen, die erobert, getauscht oder befreit werden, sondern auch als Instanz, die Frauen individuell und kollektiv einen „Heilsauftrag“ erteilt. Greimas definiert den destinateur oder Auftraggeber als „gesellschaftliche Autorität, die dem Helden einen besonderen Heilsauftrag erteilt“ und den Helden so zum Beauftragten (desti- 52 N. Fraser, „Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung: Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit“, in: J. Beerhorst, A. Demirović, M. Guggemos (Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, op. cit., S. 458. 53 Ibid., S. 461. <?page no="248"?> Feministische Gesellschaftstheorien 232 nataire) macht. 54 Dieser Auftraggeber ist insofern eine gesellschaftliche und sprachliche Autorität, als er in Diskursen zustande kommt, die ihn in Übereinstimmung mit ihrer individuellen und kollektiven Intentionalität konstruieren. Auf dieser Ebene sind ideologisches und theoretisches Engagement nicht zu trennen, weil jeder „Heilsauftrag“ per definitionem ideologisch oder religiös ist. Es wäre jedoch völlig unangebracht, feministische Diskurse deshalb aus dem wissenschaftlichen Bereich verbannen zu wollen: Hegels „Weltgeist“ und Marxʼ „Geschichte“ sind nicht weniger ideologisch als „Her-story“. Im Gegenteil: „Her-story“ ist zunächst ein durchaus wissenschaftlicher Vorschlag, die Lücken, die Geschichte, Soziologie oder Kunstgeschichte aufweisen, auszufüllen. Dass diesem Vorschlag eine ideologische Aufwertung der Frauenrolle als Engagement zugrunde liegt, versteht sich von selbst, ist aber kein Grund, ihn zurückzuweisen. Er lässt lediglich die ideologische Motivation erkennen, die die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien in Bewegung hält. 55 Symmetrisch zu „Her-story“ erscheint in diesem Modell in Übereinstimmung mit den Relevanzkriterien „His-story“ als Gegenauftraggeberin, die nach dem Motto verfährt „weitermachen wie bisher“ und versucht, Frauen nach Möglichkeit diskret verschwinden zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorgehensweise nicht im Interesse wissenschaftlicher Erkenntnis ist: Man möchte eben wissen, welche Rolle genau das weibliche Proletariat in Familie, Fabrik und Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert gespielt hat und welche Künstlerinnen (z.B. Anaïs Nin) 56 zur Entwicklung der europäischen Avantgarde beigetragen haben. Zugleich wird deutlich, dass sich verschiedene Formen des ideologischen Engagements unterschiedlich auf theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis auswirken: Während das ideologische Motto „weitermachen wie bisher“ theoretische Erkenntnis behindert, wird diese Erkenntnis von einem Engagement für „Her-story“ eher gefördert. (Viel hängt freilich davon ab, wie dieses Engagement theoretisch und empirisch verwirklicht wird.) „Engagement“ und „Distanzierung“ im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I und XIII) bilden folglich keinen absoluten Gegensatz, weil nicht nur selbstkritische „Distanzierung“, sondern auch „Engagement“ zur Erkenntnis der Wirklichkeit beitragen kann. 54 A. J. Greimas, Du Sens, Paris, Seuil, 1970, S. 234. 55 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 56 Vgl. T. Florenacig, L’incesto nel moderno. Una prospettiva d’analisi su Bronnen, Pirandello, Musil e Nin, Pasian di Prato (Udine), 2004. Kap. V: „Incesto e narcisismo mitopoietico nell’opera di Anaïs Nin“. Tatiana Floreancig hebt den originellen Charakter von Anaïs Nins Werk innerhalb der europäischen Avantgarde hervor. <?page no="249"?> Feministische Gesellschaftstheorien 233 In den feministischen Diskursen ist dieses Engagement sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu beobachten. Ausgehend von einer Kritik an verschiedenen Formen der Psychoanalyse, konzentriert sich Luce Irigaray eher auf die individuellen Aspekte der weiblichen Subjektbildung. Sie versucht, „Her-story“ auf individueller Ebene zu entwerfen, und ihre von der neuen Geschichte beauftragte Heldin ist die einzelne Frau, die dem Mann als „Spiegel“ seiner Vorzüge (s.o.) dient: „Die Frau aber, ausgehend von diesem Planspiegel einzig und allein, kann nur als das verkehrte Andere des männlichen Subjekts (sein alter ego) auftreten oder als Ort des Aufbrechens und Verschleierns der Ursache seines (phallischen) Begehrens, oder auch: als Mangel (…).“ 57 In dieser Passage tritt eher die individuelle Frau als Subjekt-Aktant auf und übt Kritik am narrativen Programm (Greimas) ihres männlichen Gegenüber. Judith Butler schlägt eine Brücke vom Individuellen zum Kollektiven, wenn sie im Anschluss an Foucault die paradoxe Situation erörtert, in der das Subjekt als Produkt bestimmter Machtkonstellationen erscheint und zugleich als die Instanz, die von diesen Machtkonstellationen zur Handlung befähigt wird. Zu Recht spricht sie von einer Ambivalenz des Subjekts, das zugleich überdeterminiert und frei (handlungsfähig) ist: „Meiner Ansicht nach liegt die Schwierigkeit zum Teil darin, daß das Subjekt selbst Schauplatz dieser Ambivalenz ist, in welcher das Subjekt sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit entsteht.“ 58 Sowohl dem individuellen als auch dem kollektiven weiblichen Subjekt (der Bewegung) stellt sich die Frage, wie sich die einzelne Frau und Frauen als Gruppe oder Bewegung von den Effekten der Macht befreien sollen, um die sich ihnen bietenden Möglichkeiten wahrnehmen zu können. Da Butler immer wieder von Foucaults Theorie der Unterwerfung (assujettissement) der Subjekte ausgeht, räumt sie - wie Foucault - dem Reflexionsvermögen der Subjekte als Modalität zu wenig Platz ein (vgl. Kap. XXIII. 3). Dies führt zu einem Dilemma als „Doublebind“. 59 Zum Verhältnis von Subjektivität und Überdetermination durch Sozialisation und Machtstrukturen bemerkt Rüdiger Bubner lapidar: „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“ 60 Tatsächlich sind die meisten feministischen Diskurse Reflexionen dieser Art: Versuche, dem struk- 57 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, op. cit., S. 134. 58 J. Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt, Suhrkamp (2001), 2013 (7. Aufl.), S. 19. 59 Ibid., S. 33. 60 R. Bubner, „Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten und mögliche Mißverständnisse der Gegenwart“, in: W. Hogrebe (Hrsg.), Subjektivität, München, Fink, 1998, S. 246. <?page no="250"?> Feministische Gesellschaftstheorien 234 turellen Schicksal der Frau und der Frauen in männlich dominierten Institutionen „die Spitze zu nehmen“. Die Fähigkeit zur Reflexion erscheint hier als die wichtigste Modalität des individuellen und kollektiven Subjekt- Aktanten „Frau“, der im Auftrag von „Her-story“ agiert. Auf individueller Ebene geht es darum, nicht mehr die Rolle des Spiegels zu akzeptieren, der den Narzissmus des Mannes bedient; auf kollektiver Ebene der Bewegungen kommt es darauf an, gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr als Schicksal zu erleiden, sondern auf sie einzuwirken, um ihr eine neue Wende zu geben. Diese zentrale Modalität der Reflexion stärkt insofern das individuelle und das kollektive Bewusstsein, als sie jedem vor Augen führt, wie sich Frauen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte (seit ihrem Eintritt in den Produktionsprozess als Erwerbsarbeit) Modalitäten oder Fähigkeiten angeeignet haben, von denen früher angenommen wurde, dass sie Männern vorbehalten sind: Sie sind in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft tätig, und ihre Präsenz in der Universitätswelt, die noch zu Max Webers Zeiten eine männliche Domäne war, ist nicht mehr wegzudenken. Werden diese Fähigkeiten reflektiert, tragen sie wesentlich zur Konstitution eines kollektiven Subjekt-Aktanten bei, der versucht, im Auftrag von „Her-story“ die gesellschaftliche Entwicklung umzuschreiben und umzugestalten. In dieser Hinsicht sind Frauen individuell und kollektiv kaum mit der Arbeiterschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergleichen, die für die Entwicklung der Wirtschaft zwar unentbehrlich war, in Politik, Wissenschaft und Kultur aber kaum eine Rolle spielte. Sie gleichen aber auch nicht dem revolutionären Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das, wie Tocqueville zeigt 61 , schon vor der Revolution von 1789 Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst beherrschte. Als Kollektiv nehmen Frauen heute eher eine Zwischenposition ein: Im Gegensatz zu den Arbeitern sind sie zwar in fast allen sozialen Bereichen vertreten, in den meisten Fällen aber noch weit von der angestrebten Gleichstellung entfernt. Deshalb setzen sie sich, wie Nancy Fraser es ausdrückt, sowohl für „Umverteilung“ als auch für „Anerkennung“ ein. Die Frage ist, ob diese beiden Zielsetzungen tatsächlich den Objekt-Aktanten der Frauen und Frauenbewegungen bilden. Um ihn konkreter bestimmen zu können, mag es hilfreich sein, die Funktion des Fokalisators in feministischen Diskursen näher zu betrachten. Ein kontrastiver Vergleich mit Marxʼ Diskurs lässt einen wesentlichen Unterschied erkennen: Obwohl zwischen den Wissenschaftlerinnen und der durchschnittlichen Frau im Singular oder der Frauenbewegung oft eine kritische Distanz zu beobachten ist, ist die Nähe einer Autorin zu ihrem 61 A. de Tocqueville, L’Ancien régime et la Révolution, Paris, Gallimard, 1952, S. 312-313. <?page no="251"?> Feministische Gesellschaftstheorien 235 Geschlecht, in dessen Perspektive sie beobachtet und argumentiert, vorab gegeben, während Marx seine Nähe zum Proletariat als Forscher erst herstellen musste. Daraus folgt, dass die innere Fokussierung, bei der einer Erzählerin oder einem Erzähler das Bewusstsein des Aktanten zugänglich ist, in feministischen Diskursen nicht nur ausgeprägter ist als bei Marx, sondern auch empirisch gehaltvoller. Die Wissenschaftlerin, die sich mit der Position der Frau in einem Betrieb oder mit den sich wandelnden Strategien von Frauenbewegungen befasst, weiß zugleich: tua res agitur. Sie schreibt nicht nur über andere Frauen, sondern zugleich auch über sich selbst. Die Fragen, die beispielsweise Irigaray in ihren Interviews aufwirft, betreffen nicht nur die „Frau“ als Individuum oder die Frauenbewegungen; sie betreffen auch Irigaray selbst: als Autorin und Theoretikerin. In den folgenden Fragen geht es abermals um die Spiegelfunktion der Frau, die dem Mann zu seiner Selbstaufwertung dient: „Welches ‚Subjekt‘ kam dabei letzten Endes auf seine Kosten? Welches ‚Andere‘ wurde dabei auf die schwer repräsentierbare Funktion des Negativen reduziert? “ 62 Diese Fragen beziehen sich nicht auf soziale Gruppen, denen die Autorin nicht angehört; sie betreffen die Autorin selbst, die auch von ihrem Schicksal als Frau spricht, wenn sie das weibliche „Andere“ dem männlichen „Einen“ gegenüberstellt. Dies bedeutet nicht, dass eine „Zurechnung des Bewusstseins“, die in marxistischen Abhandlungen über das „Proletariat“ bisweilen sonderbare Projektionen des Eigenen ins Fremde zeitigt, in feministischen Diskursen fehlt. Die dekonstruktivistischen Argumente einer Diane Elam, die sich gegen Verallgemeinerungen und generalisierende Zurechnungen von Bewusstsein wehrt, zeugen davon. Sie zeugen zugleich von der Schwierigkeit, mit der alle soziologischen Theorien konfrontiert werden, die versuchen, das Bewusstsein verschiedener Gruppen adäquat zu erfassen: Die Positionsbestimmung einer Gruppe in einem besonderen sozialen Kontext mag ebenso aufschlussreich sein wie die Befragung ihrer Mitglieder. Aber beide Verfahren können zu Fehlschlüssen führen (wie Prognosen über das Wahlverhalten von Gruppen zeigen). Es kommt hinzu, dass es die Heterogenität von Frauenbewegungen kaum noch gestattet, von einem einheitlichen Bewusstsein zu sprechen. Im Gegensatz zu Françoise Gaspard ist Silvia Kontos sogar der Meinung, „dass heute von ‚der Frauenbewegung‘ überhaupt nicht mehr die Rede sein kann, allenfalls von einem Konfliktfeld, in dessen zahlreichen Arenen sich sehr unterschiedliche Gruppen von Frauen engagieren“. 63 Sie beobachtet 62 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, op. cit., S. 160. 63 S. Kontos, „Brüche - Aufbrüche - Einbrüche“, op. cit., S. 427. <?page no="252"?> Feministische Gesellschaftstheorien 236 zudem, wie einige Frauen dem weiblichen Engagement den Rücken kehren, um in Parteiorganisationen erfolgreich zu sein: „Frauen, die in den Parteien etwas werden wollen, meiden mittlerweile die Jammerecke der Frauenthemen.“ 64 Gaspards Antwort liegt auf der Hand: Deshalb gibt es ja die Frauenbewegungen, die jenseits von Parteiorganisation und Staat flexibel agieren. Komplementär dazu argumentiert Birgit Sauer, wenn sie zeigt, dass sogar der Staat als potenzieller Verbündeter oder Helfer der Frauenbewegungen aufgefasst werden kann: „Der Staat kann auch nicht, wie in der frühen Frauenbewegung und Frauenforschung, nur als repressiv gedacht werden. Vielmehr sollte der Staat als ein gegenüber Geschlechterverhältnissen relativ autonomer Akteur gesehen werden. Und aus dem Staat bzw. in staatlichen Verdichtungsprozessen können sich auch neue Kräftekonstellationen entwickeln, die Veränderung ermöglichen, ja erzwingen.“ 65 Es kommt daher auf die Fähigkeit an, den Staat oder eine seiner Einrichtungen für die Ziele der Frauenbewegungen einzusetzen. 66 Zum Abschluss stellt sich die Frage, ob und wie diese Ziele als Objekt- Aktanten der Diskurse definiert werden können. Das bisher Gesagte deutet bereits an, dass verschiedene Frauengruppen grundverschiedene Ziele verfolgen, die dem Gegensatzpaar „Integration“ und „Emanzipation“ subsumiert werden können. Während „Karrierefrauen“, die, wie Kontos zeigt, in politischen Parteien aufsteigen wollen, die Solidarität mit Frauenbewegungen und Frauenanliegen aufkündigen und nach Integration in die männliche Ordnung streben, setzten sich andere Frauen - oft außerhalb 64 Ibid., S. 435. 65 B. Sauer, „Hat der Staat ein Geschlecht? Reflexionen über geschlechtsspezifische Formen des Regierens“, in: D. Martin, S. Martin, J. Wissel (Hrsg.), Perspektiven und Konstellationen Kritischer Theorie, Münster, Westfälisches Dampfboot, 2015, S. 77. 66 Vgl. auch: B. Sauer, „Den Staat ver/ handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft“, in: A. Demirović (Hrsg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2003, S. 167. Diese Einsicht, dass der Staat auch als Helfer der Frauen und Frauenbewegungen betrachtet werden kann, hat sich, Birgit Sauer zufolge, in langjährigen Auseinandersetzungen mit dem Marxismus durchgesetzt: „Die feministische Staatsdebatte entzündete sich in den späten 1970 Jahren im Kontext und in scharfer Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien (…).“ Auch in diesem Fall wurden von nichtmarxistischen Feministinnen die Relevanzkriterien des Marxismus in Frage gestellt: „Ihr Hauptkritikpunkt am marxistischen Feminismus war die Degradierung des Geschlechterverhältnisses zum Nebenwiderspruch.“ Im Gegensatz dazu kommen Feministinnen wie Sauer zu dem Schluss, dass der Staat zwar sporadisch von männlicher Dominanz zeugt, zugleich jedoch als Helfer der Frauenbewegungen in Frage kommt: „Der Succus feministischer Staatsdebatten lässt sich wie folgt formulieren: Zwischen Staat und männlicher Herrschaft gibt es zwar Homologien, nicht aber einen einzigen Mechanismus, der den maskulinistischen Charakter des Staates ausmacht (…).“ (S. 168) <?page no="253"?> Feministische Gesellschaftstheorien 237 der Institutionen - für Emanzipation und eine andere, menschlichere Gesellschaft ein. In diesem Sinne fasst beispielsweise Sabina Lovibond die Zielsetzungen des Feminismus auf, wenn sie von ihm sagt, er „strebe danach, den Krieg zwischen Männern und Frauen zu beenden und ihn durch kommunikative Transparenz oder Wahrhaftigkeit zu ersetzen“. 67 Integration oder Emanzipation? Hier wird - wenn auch in ganz anderer Form und in einer anderen historischen Situation - die Kontroverse zwischen Marxismus und Sozialdemokratie neu ausgetragen: Ist das Ziel der Bewegung die Überwindung der männlich-kapitalistischen Verhältnisse oder die Gleichstellung der Frauen (der Arbeiter) im bestehenden System? Gegenwärtig sieht es so aus, als würden nur wenige dieses System in Frage stellen. Viele wünschen sich aber „Umverteilung“, „Anerkennung“ und „Integration“. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Sehnsucht nach Überwindung, die aus Lovibonds Bemerkungen spricht, von einer postmodernen Verwindung im Sinne von Vattimo (Heidegger) abgelöst wird. 5. Feminismus und Kritische Theorie: Subjekt, Natur und Herrschaft Dem Feminismus und der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers ist das Oszillieren zwischen moderner Überwindung und postmoderner Verwindung gemeinsam. Davon zeugt der schon kommentierte erste Satz der Negativen Dialektik Adornos: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ 68 Das Proletariat, von dem Marx erwartete, dass es die Philosophie verwirklichen würde, hat sie nicht verwirklicht - wahrscheinlich weil es dazu nicht imstande war. Ob Frauenbewegungen, die weiterhin Emanzipation als Ziel vor Augen haben, dieses Ziel einst erreichen werden, erscheint unter den gegenwärtigen Bedingungen zweifelhaft. Es ist aber weiterhin sinnvoll, die Möglichkeiten der Emanzipation durch eine Auseinandersetzung zwischen Feminismus und Kritischer Theorie dialogisch zu konkretisieren. Im Rahmen von „Her-story“ und den ihr zugrunde liegenden Relevanzkriterien wirft Regina Becker-Schmidt Adorno vor, dass er in seinen Analysen der Naturbeherrschung den Gegensatz männlich / weiblich unberücksichtigt lässt. „Auch die spätere Frauenbewegung nimmt er nicht wahr“ 69 , fügt sie hinzu. Sie will jedoch nicht beim „Androzentrismus- 67 S. Lovibond, „Feminism and Postmodernism“, in: R. Boyne, A. Rattansi (Hrsg.), Postmodernism and Society, Basingstoke-London, Macmillan, 1990, S. 167. 68 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 13. 69 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 65. <?page no="254"?> Feministische Gesellschaftstheorien 238 Vorwurf“ stehen bleiben, sondern sich um „reziproke Annährungen“ 70 zwischen Feminismus und Kritischer Theorie bemühen. Adorno übe zwar „Patriarchatskritik“, könne sich aber - Becker-Schmidt zufolge - nicht dazu durchringen, Frauen als den Männern ebenbürtige Subjekte anzuerkennen: „Gegen seinen Willen gerät seine Argumentation in die Nähe jener diskursiven Muster von Frauen als Naturwesen, mit deren Hilfe Männer über Jahrhunderte hinweg den Subjektstatus für sich allein reklamiert haben.“ 71 Adorno setze Freuds psychoanalytische Tradition fort, welche die Frau als kastriertes Mangelwesen auffasst: „Adorno bringt seine Vorstellung von der weiblichen Kastration mit der Menstruation in Verbindung.“ 72 Gegen diese Auffassung wendet Becker-Schmidt erwartungsgemäß, aber nicht zu Unrecht ein, in der Menstruation „kündig[e] sich die Potenz an, neues Leben zur Welt bringen zu können“. 73 Kurzum, Adorno bleibe den herrschenden „Konstruktionen von Geschlechteridentität“ 74 verhaftet, die von Judith Butler, auf die sich Becker- Schmidt beruft, kritisch zerlegt werden. Im Gegenzug zu dieser Auffassung der Frau als eines „verwundeten“ Mangelwesens plädiert Becker-Schmidt - in Übereinstimmung mit Autorinnen wie Honi Fern Haber (s.o.) - für die Anerkennung weiblicher Subjektivität als gleichberechtigter sozialer Instanz. Wie die amerikanische Feministin wendet sie sich konsequent gegen eine „postmoderne Verabschiedung des Subjekts“. 75 Trotz aller berechtigten Kritik an einem idealistischen Subjekt, das jenseits aller Widersprüche, Kontingenzen und Veränderungen mit sich selbst identisch bleibt, einer Kritik, die in den Werken einiger postmoderner Autoren zu einer voreiligen Verabschiedung des Subjektbegriffs führt, steht fest, dass es männliche und weibliche Subjektivität gibt: sofern Subjekt soziologisch und semiotisch als individuell oder kollektiv denkende und handelnde Instanz (als Subjekt-Aktant) definiert wird. 76 Aus der Sicht der Kritischen Theorie (Adornos und Horkheimers) stellt sich nicht so sehr die Frage, ob Frauen und Frauenbewegungen Subjekte sind, sondern welche Ziele sie verfolgen: Integration in die bestehenden Verhältnisse durch „Umverteilung“ und „Anerkennung“ im Sinne von Fraser oder eine andere Gesellschaft, die nicht mehr auf Herrschaft und Machtausübung gründet. 70 Ibid. 71 Ibid., S. 69. 72 Ibid. 73 Ibid., S. 70. 74 Ibid., S. 78. 75 Ibid., S. 77. 76 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2010 (3. Aufl.), S. 15-25. <?page no="255"?> Feministische Gesellschaftstheorien 239 Becker-Schmidt missversteht Adorno, wenn sie fragt: „Warum behauptet Adorno, Frauen seien zu ihrer Emanzipation auf die Hilfe des Mannes angewiesen? Warum können es nicht die eigenen leidvollen Erfahrungen sein, die Akte der Selbstbefreiung initiieren? “ 77 Es versteht sich von selbst, dass „Akte der Selbstbefreiung“ notwendig sind, wenn sich etwas ändern soll. Aber die erste Frage zeugt von Unverständnis: denn auch Männer sind zu ihrer Emanzipation auf die Hilfe der Frauen angewiesen, wenn, wie Sabina Lovibond zu Recht fordert, der Krieg zwischen Geschlechtern durch „kommunikative Transparenz“ ersetzt werden soll. Für die Beendigung eines Konflikts und für erfolgreiche Kommunikation müssen sich stets beide Seiten einsetzen, wie zahlreiche historische Beispiele zeigen. Machtstreben und strategisches Handeln sind nicht dazu angetan, Konflikte zu beenden - im Gegenteil. Solange erfolgreiche Frauen, die in politischen Parteien und anderen Organisationen die „Jammerecke der Frauenthemen“ (Kontos) meiden und die Anliegen von Frauenbewegungen durch Elitenbildung unterlaufen, wird sich an den bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht viel ändern. Becker-Schmidt stört die Naturnähe der Frauen in Adornos Diskurs: „Es ist, als enthielte die Naturnähe, in der die Frauen festgehalten werden, ein Versprechen.“ 78 Was Frauen mit der Natur und zugleich mit den Arbeitern, Arbeitslosen, Kindern und vielen Angestellten verbindet, ist die Unterwerfung unter die Naturbeherrschung (vgl. Kap. VI), die auch Herrschaft über unzählige Menschen ist - und letztlich Herrschaft des (männlichen) Subjekts über sich selbst, wie Adornos und Horkheimers Deutung des Odysseus-Mythos zeigt. Es geht in der Dialektik der Aufklärung nicht darum, in Übereinstimmung mit einem tradierten Stereotyp, das Silvia Bovenschen in Kultur und Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts untersucht und dem Xavière Gauthier zufolge auch die französischen Surrealisten folgten 79 , die Frau als passives Naturwesen zu entmündigen, sondern zu zeigen, wer unter der Naturbeherrschung leidet. Zugleich gilt es, der Frage nachzugehen, wer gegen die jahrtausendealte Herrschaft aufbegehren könnte. Aus der Sicht Adornos könnte die „Naturnähe“ der Frau auch deshalb emanzipatorisch wirken, weil sie (wie die Kunst) zur Mimesis führt: zu einem mimetisch-rationalen Verhalten, das „instrumentelle“, herrschaftliche Vernunft ersetzt. Dazu heißt es in der Ästhetischen Theorie: „Kunst ist die 77 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 71. 78 Ibid., S. 72. 79 Vgl. S. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 160-161 sowie X. Gauthier, Surréalisme et sexualité, Paris, Gallimard, 1970, S. 121. <?page no="256"?> Feministische Gesellschaftstheorien 240 Zuflucht des mimetischen Verhaltens. In ihr stellt das Subjekt, auf wechselnden Stufen seiner Autonomie, sich zu seinem Anderen, davon getrennt und doch nicht durchaus getrennt.“ 80 Dieses Subjekt ist nicht mehr das herrschende Subjekt, das die Natur und andere Menschen für seine Zwecke instrumentalisiert. Es ist das Subjekt, das sich dem Anderen öffnet und sich ihm bis zu einem gewissen Grad auch angleicht. Die Synthese von Öffnung und Angleichung könnte zur Ausfüllung einiger Lücken beitragen, die Feministinnen in Marxismus und Kritischer Theorie aufgezeigt haben. Ausgehend von den Relevanzkriterien feministischer Diskurse, erinnert Becker-Schmidt an die Diskrepanzen zwischen „Lohnarbeit“ und „Hausarbeit“ und stellt eine Benachteiligung von Frauen fest, die als Berufstätige und Hausfrauen einer doppelten Belastung ausgesetzt sind, ohne für ihre Hausarbeit entlohnt zu werden: „Marx und Adorno regten mich dazu an, danach zu fragen, warum diese Diskrepanzen nicht ins allgemeine Bewusstsein treten. Die erste Antwort ist hinlänglich bekannt: Die gesellschaftliche Relevanz der Hausarbeit bleibt unbeachtet, weil sie nicht marktvermittelt ist und somit im Privaten verschwindet.“ 81 Annette Treibel fasst Regina Becker-Schmidts Kernargument zusammen: „Frauen sind im Gegensatz zu Männern doppelt vergesellschaftet, sie werden für zwei Bereiche sozialisiert, die Erwerbsarbeit und die Familienarbeit.“ 82 Diese These muss allerdings mit einem Hinweis auf männliche Hausar beit relativiert werden: Männer bauen häufig - mit der Unterstützung von Verwandten und Nachbarn - das Familienhaus und sind in diesem Haus weiterhin tätig, wenn es gilt, die Leitungen, das Dach, die Gartenmauer oder das Auto der Frau oder Tochter zu reparieren. Dies trifft vor allem (aber nicht ausschließlich) auf Arbeiter-, Bauern- und Handwerker-Familien zu, die sich Architekten, Bauleiter oder Handwerker nicht leisten können. Die verschiedenen Tätigkeiten im häuslichen Bereich werden freilich in Übereinstimmung mit tradierten Rollenmustern eingeteilt und wirken sich auf die Stellung beider Geschlechter innerhalb der Familie aus. Das Problem der Hausarbeit, das sowohl im Marxismus als auch in der Kritischen Theorie vernachlässigt wird, schneidet auch Nancy Fraser in ihrem Aufsatz „What’s Critical about Critical Theory? “ an. In einer Kritik an Jürgen Habermas Begriff der Lebenswelt, die einen sozialen Bereich bezeichnet, in dem - laut Habermas - die Medien „Macht“ und „Geld“ keine oder nur eine geringe Rolle spielen, zeigt Fraser, dass die Familie als zen- 80 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. VII (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 86. 81 R. Becker-Schmidt, „Adorno kritisieren - und dabei von ihm lernen“, op. cit., S. 86. 82 A. Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (7., erw. Aufl.), S. 286. <?page no="257"?> Feministische Gesellschaftstheorien 241 traler Bestandteil dieser Lebenswelt sehr wohl eine von Machtstrukturen durchwirkte Welt des Geldes ist, in der die Benachteiligung der Frau institutionalisiert ist. Aus Frasers Sicht erscheint die Familie in mancher Beziehung als eine Replika der männlich dominierten kapitalistischen Wirtschaft: „Da er die Rolle der Kindererzieherin unerwähnt lässt und auch die geschlechtsspezifische Sinngebung verschweigt, die den Rollen von Arbeiterin und Konsumentin zugrunde liegt, kann Habermas nicht wirklich verstehen, wie der kapitalistische Arbeitsplatz mit der modernen, klar begrenzten und männlich dominierten Kernfamilie zusammenhängt.“ 83 Kurzum, auch Habermas berücksichtigt nicht die Tatsache, dass weibliche Hausarbeit (vor allem die Kindererziehung) nicht als Arbeit anerkannt wird und dass die berufstätige Frau doppelt belastet wird. Fraser scheint an die Argumentation von Günter Dux (s.o.) anzuknüpfen, wenn sie feststellt, dass auch in der zeitgenössischen Gesellschaft dem Mann als Familienvater die „Rolle des Brotverdieners“ („breadwinner role“) 84 zufällt, so dass er die Familie „nach außen“ vertritt. Dass sich diese Position im sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu seinen Gunsten auswirkt und das Machtgefüge innerhalb der Familie nachhaltig prägt, versteht sich von selbst. Dies bedeutet (wie sich im Habermas-Kapitel zeigen wird), dass sich die Lebenswelt keineswegs jenseits von Herrschaftsstrukturen und Machtkämpfen befindet, wie Habermas mit der Vorstellung von einer „idealen Lebenswelt“ suggeriert, weil die Medien „Macht“ und „Geld“ über die „Außenzuständigkeit des Mannes“ (Dux) in die Familie als Kern der Lebenswelt eindringen und die Lebenswelt strukturieren. In diesem Zusammenhang setzt sich Karin Gottschall für eine soziologische Synthese von „Klasse“ (Marx), „Stand“ (M. Weber), „sozialer Differenzierung“ (Durkheim) und „Geschlecht“ ein. Sie weist auf den „‚strukturierenden Charakter‘ von Geschlechtszugehörigkeit“ 85 hin und fasst das Geschlechterverhältnis als „durchgängiges gesellschaftliches Strukturierungsprinzip“ 86 auf. Das heißt, dass bei der Beurteilung von Frauenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft Hausarbeit und Erwerbsarbeit, Familienstatus und beruflicher Status nicht zu trennen sind: Sie müssen stets aufeinander bezogen werden. Aus der Sicht der Kritischen Theorie Adornos könnte das Problem der unbezahlten Hausarbeit von Frauen und das komplementäre Problem der „Außenzuständigkeit“ von Männern, mit dem alleinstehende Mütter es gar nicht zu tun haben, ansatzweise durch mimetische Angleichung gelöst 83 N. Fraser, „What’s Critical about Critical Theory? “, op. cit., S. 45. 84 Ibid., S. 42. 85 K. Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, op. cit., S. 166. 86 Ibid. 247. <?page no="258"?> Feministische Gesellschaftstheorien 242 werden. Die Hausarbeit könnte (und wird häufig) zu zweit bewältigt, und auch die berufstätige Frau vertritt die Familie „nach außen“, selbst wenn sie nur halbtags arbeitet oder weniger verdient. Die Teilung der Hausarbeit (Kindererziehung, Einkaufen, Kochen, Gartenarbeit) kann durchaus lustvoll sein und die Solidarität innerhalb der Familie steigern. Die neue Gesellschaft wird dadurch nicht entstehen, aber substantielle Veränderungen finden oft unbemerkt statt: durch einen allmählichen Wandel der Status- und Rollenmuster, der erst im Rückblick klare Konturen annimmt. 6. Dialogizität: Die Stimme der Anderen Es sei hier an Adornos im Vorwort schon zitierten Definitionsversuch der Dialektik erinnert: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 87 Die Entstehung der - männlichen und weiblichen - Subjektivität findet in einem permanenten Dialog statt: mit Eltern, Geschwistern, Nachbarkindern während der primären Sozialisation; mit Lehrerinnen und Lehrern, Kolleginnen und Kollegen während der sekundären Sozialisation. Das Kind erlernt seine Muttersprache, indem es die andere, die richtige Aussprache oder Grammatik der Mutter, der Eltern nachahmt. Es erlernt die Fremdsprache, indem es sich intensiv mit dem Anderen, dem Ungewohnten, dem Fremden auseinandersetzt und allmählich - bewusst und unbewusst - dessen Regeln und Gewohnheiten übernimmt. Die Entwicklung der Subjektivität, die alles andere ist als eine statische, unveränderliche, mit sich selbst identische Einheit, ist ohne ständige Interaktion mit den Anderen nicht denkbar. Immer wieder geht es auch darum, mit dem oder der Anderen „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“. 88 Da die Geschlechterbeziehung den ganzen Prozess der Sozialisation durchzieht und möglicherweise sein wichtigster Aspekt ist, hängt die Entwicklung individueller Subjektivität von einer ständigen Interaktion mit dem anderen Geschlecht ab. Hannelore Möckel-Rieke spricht in diesem Zusammenhang von „Simone de Beauvoirs Begriff der Frau als dem ‚gesellschaftlichen Anderen‘, das vom männlichen Subjekt aus definiert, ausgegrenzt und unterdrückt wird“. 89 Aus dialogischer Sicht erscheint diese repressive Ausgrenzung als Selbstverstümmelung: Das männliche Subjekt 87 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 142. 88 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., S. 375-377. 89 H. Möckel-Rieke, Fiktionen von Natur und Weiblichkeit. Zur Begründung femininer und engagierter Schreibweisen bei Adrienne Rich, Denise Levertov, Susan Griffin, Kathleen Fraser und Susan Howe, Trier, Wiss. Verlag Trier, 1991, S. 16. <?page no="259"?> Feministische Gesellschaftstheorien 243 unterdrückt nicht nur einen Teil seiner Natur (wie das die Natur beherrschende Subjekt der Dialektik der Aufklärung), sondern auch das soziale, kulturelle und psychische Potenzial, das die Interaktion mit dem anderen Geschlecht birgt. Beauvoir selbst plädiert für eine Ära der Androgynie, in der das Eine und das Andere zusammengeführt werden. Dazu bemerkt Françoise Rétif: „Das gesamte Werk Beauvoirs ist ein Plädoyer für die Entstehung einer androgynen Welt.“ 90 Sie erläutert die Funktion des Androgynie-Mythos bei Beauvoir: „Der Androgyne ist das Selbe und das Andere, das Identische und das Differente, das Männliche und das Weibliche in einem. Man kann sogar sagen, dass im Androgynen das Paar männlich / weiblich als Prototyp der Alterität aufgefasst wird. Der Androgyne wirft auf und löst in sich das Problem der Koexistenz, der Gleichheit und der Reziprozität.“ 91 Es geht hier nicht so sehr darum, den uralten und seit Platos Symposion intensiv diskutierten Mythos des Androgynen zu aktualisieren, sondern darum, die dialogischen Aspekte dieses Mythos hervorzuheben. In ihm wird Alterität als Ergänzung und Stärkung des männlich-weiblichen Subjekts dargestellt. Die Dialogizität des Mythos besteht darin, dass er die Komplementarität der Geschlechter, zu denen ursprünglich ein drittes, androgynes Geschlecht gehörte, veranschaulicht und zugleich zu verstehen gibt, dass das Eine auf das Andere angewiesen ist. Gerade dies wird durch den hier skizzierten Prozess der Sozialisation, den Claude Dubar als einen Prozess „wechselseitiger Anerkennung“ 92 definiert, bestätigt: Das männliche oder weibliche Subjekt kann sich ohne Interaktion mit dem anderen Geschlecht, der anderen Sprache und dem Andersdenkenden nicht entfalten. Dies gilt auch für den Alltag: Der Eine lebt auf, wenn die Andere seine Grübeleien unterbricht und sagt: „Du siehst das zu einseitig und zu schwarz; ich sehe es ganz anders.“ Und umgekehrt: Sie fasst Mut, wenn er sagt: „Sehen wir uns das Ganze noch einmal in Ruhe an.“ Für die gesellschaftliche Entwicklung, mit der sich die Makrosoziologie befasst, könnten solche Erfahrungen aus dem „Mikrobereich“, dem Bereich individueller Interaktion, bedeuten, dass ihre Richtung in einem permanenten Dialog der Geschlechter - und nicht monologisch von dem Einen oder dem Anderen - festgelegt wird. Zur „dialogischen Wahrheitssuche“ bemerkt Michail M. Bachtin: „Die dialogische Art der Wahrheitssuche wurde dem offiziellen Monologismus, der eine fertige Wahrheit zu besitzen beanspruchte, und der naiven Selbstsicherheit der Leute entgegengestellt, die etwas zu wissen, d.h. über bestimmte Wahrheiten zu verfügen glaub- 90 F. Rétif, Simone de Beauvoir. L’autre en miroir, Paris, L’Harmattan, 1998, S. 13. 91 Ibid., S. 70. 92 Cl. Dubar, La Socialisation. Construction des identités sociales et professionnelles, Paris, Armand Colin, 2010, S. 81. <?page no="260"?> Feministische Gesellschaftstheorien 244 ten.“ 93 Zu diesen Pseudowahrheiten gehören auch die gängigen Assoziationen der Frau mit „Natur“, „Emotion“, „Körper“, die Hannelore Möckel- Rieke beanstandet. 94 Die gemeinsame Geschichte, die Geschichte beider Geschlechter könnte entstehen, wenn „Her-story“ und „His-story“ ohne hegelianische Synthesevisionen so zusammengeführt werden, dass die offiziellen Wahrheiten stürzen und neue Wahrheitsmomente sichtbar werden, die möglicherweise eine neue Richtung vorgeben, die gesellschaftliche Entwicklung einschlagen könnte. Um solche Wahrheitsmomente geht es auch in diesem dialogisch angelegten Buch, in dem eine theoretische Erzählung die andere durch „Erschütterung“ relativiert, ohne sie zu widerlegen, ohne sie aus der Welt zu schaffen. Die andere Erzählung bleibt erhalten und meldet sich wieder zu Wort, sobald die sie kritisierende Erzählung zu Ende ist. Zusammenfassung und Ausblick: Feministische Gesellschaftstheorien stimmen einerseits mit dem Marxismus und der Kritischen Theorie überein, weil sie das Herrschaftsprinzip kritisch analysieren; andererseits distanzieren sie sich von den beiden Theoriekomplexen durch die Einführung neuer Relevanzkriterien: An die Stelle der Gegensätze Kapital / Arbeit und Herrschaft / Natur lassen sie den Gegensatz männlich / weiblich treten. Dadurch kommt eine Umerzählung der gesellschaftlichen Entwicklung zustande: Nicht der Klassekampf ist der Motor der Geschichte und auch nicht die Naturbeherrschung, sondern die Herrschaft des männlichen über das weibliche Geschlecht. Wie bei Marx wird die „Geschichte“ zur Auftraggeberin des Subjekt-Aktanten, aber nicht länger als „Geschichte“ allgemein, die als partikulare Geschichte, als „His-story“, kritisiert wird, sondern als „Her-story“, die als Auftraggeberin des Subjekt-Aktanten „Frau“ in dessen individueller oder kollektiver Gestalt (Bewegung) auftritt. Dieser Subjekt-Aktant wird zum Fokalisator der neuen Erzählung, die sowohl Marxisten als auch Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Theorie zum selbstkritischen Nachdenken ermuntert. Im Folgenden, vor allem in den Kapiteln über Tönnies (X) und Touraine (XVII), soll deutlich werden, dass sich Soziologen (nach Comte) immer wieder Gedanken über die gesellschaftskritische Rolle von Frauen als Individuen und Gruppen gemacht haben. 93 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 122. 94 Vgl. H. Möckel-Rieke, Fiktionen von Natur und Weiblichkeit, op. cit., S. 26. <?page no="261"?> 245 Zweiter Teil: Die soziologischen Theorien der Spätmoderne Die Spätmoderne könnte als eine Selbstkritik der Moderne aufgefasst werden. Diese Selbstkritik ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass bei Denkern wie Nietzsche und Schopenhauer, bei Dichtern wie Baudelaire Zweifel an den Versprechen der bürgerlichen Moderne im Sinne der Aufklärer Voltaire, Diderot und d’Alembert, im Sinne von Hegel, Marx und Comte aufkommen. „Le modne ne marche que par le malentendu“, „die Welt bewegt sich nur aus Missverständnis“ 1 , bemerkt Baudelaire und gibt zu verstehen, dass die von Hegel, Marx und Comte angepeilten hehren Ziele (die verwirklichte Vernunft, die klassenlose Gesellschaft, die wissenschaftlich organisierte Welt) möglicherweise aus falsch konstruierten (erzählten) Ereignisketten hervorgehen und daher nicht mehr als nebulöse Vorstellungen sind. Die von Machiavelli, Nietzsche und Freud beeinflusste spätmoderne Soziologie, deren Hauptvertreter Vilfredo Pareto, Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Max Weber und Alfred Weber sind, verdankt zwar Hegel, Marx und Comte wesentliche Erkenntnisse und Begriffe, kann aber die historische Euphorie, die den dialektischen und rationalistischen Entwürfen zugrunde liegt, nicht mehr nachvollziehen. Allzu häufig endeten Revolutionen des 19. Jahrhunderts (etwa die des Jahres 1848) in neuer, bonapartistischer Unterdrückung. Allzu oft wurde deutlich, dass wissenschaftlicher und technischer Fortschritt nicht nur alte Probleme löste, sondern vor den Augen der Beobachter neue Probleme anhäufte. Durch soziale Differenzierung, Arbeitsteilung, zunehmende Anonymität der Großstädte und Vereinsamung des Einzelnen setzte er den Zusammenhalt der Gesellschaft neuen Gefahren aus. Dies ist wohl der Hauptgrund, weshalb fast alle spätmodernen Soziologen - vor allem die hier genannten - auf die Teleologien ihrer modernen Vorläufer verzichten. Sie entwickeln soziologische Theorien, in denen Probleme und Fragestellungen von größerer Bedeutung sind als groß anagelegte Lösungsvorschläge im Sinne von Hegel, Marx und Comte. Ihre Skepsis den modernen „Metarezählungen“ (Lyotard) gegenüber wird in den postmodernen Soziologien von Michel Maffesoli, Zygmunt Bauman und Jean Baudrillard noch verstärkt. 1 Ch. Baudelaire, „Mon Cœur mis à nu“, in: ders., L’Art romantique, Paris, Julliard, 1964, S. 432. <?page no="262"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 246 Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels knüpfen zwar durchaus an die Klassen- und Klassenkampfproblematik von Marx und Engels an, versuchen aber im Anschluss an Machiavelli und Nietzsche zu zeigen, an welche Hindernisse die nach Vernunft und Menschlichkeit strebende Revolution stößt und weshalb sie letztlich scheitern muss. Die von ihnen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gemachten Beobachtungen und gestellten Prognosen nehmen im Rückblick geradezu prophetischen Charakter an und sollten nicht nur von Marxisten, sondern auch von der Kritischen Theorie und der feministischen Kritik zur Kenntnis genommen werden. Abermals gilt es, Adornos Rat zu folgen: „Gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben.“ Es ist schon deshalb bedauerlich, dass Namen wie Pareto und Mosca in den meisten Einführungen in die soziologische Theorie nicht vorkommen. Es ist ein besonderes Verdienst von Richard Münch, dass er sich im ersten Band seiner dreibändigen Einführung ausführlich und vielseitig mit Paretos Soziologie auseinandersetzt. 2 Durkheim und Tönnies fehlen zwar selten in Abhandlungen über soziologische Theorien, aber nur selten wird klar, dass es sich in ihrem Fall (wie bei Pareto) um Theorien der Krise handelt, in denen der Zusammenhalt der Gesellschaft als solcher zum Problem wird. Durkheim und Tönnies könnten als die eigentlichen Begründer der Soziologie gelten, weil sie sich (wie zu zeigen sein wird) den Faktoren zuwenden, die das Soziale der Gesellschaft ausmachen: ihre Solidarität (Durkheim), ihren Gemeinschaftscharakter (Tönnies). Durkheim greift eines der Themen aus Marxʼ vielschichtiger Theorie heraus, wenn er zeigt, wie Arbeitsteilung die soziale Solidarität und das Kollektivbewusstsein der Gruppe aushöhlt und wie dieser Prozess zu sozialen Pathologien (etwa zur Anomie) führt. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Beobachtung und Erzählung der Gesellschaft zu tun, die mit der Marxschen Auffassung konkurriert und dialogisch auf sie bezogen werden sollte. Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint aus dieser Sicht nicht mehr als andauernder Klassenkonflikt, sondern als fortschreitende Differenzierung, die einerseits unschätzbare Vorteile mit sich bringt, andererseits die Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft akut gefährdet. Mit etwas Übertreibung könnte der komplementär zu Durkheim argumentierende Tönnies als der Entdecker der „modernen Problematik“ bezeichnet werden, weil er in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) das Kernproblem moderner Gesellschaften umrissen hat, das uns bis heute beschäftigt: die Entwicklung der archaischen oder traditionellen Gemeinschaft, in der Menschen einander ähnlich sind und einander 2 Vgl. R. Münch, Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt- New York, Campus, 2008, S. 239-264. <?page no="263"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 247 kennen, zu einer anonymen Gesellschaft, in der das soziale Gewebe und die gesellschaftlichen Beziehungen täglich einer Zerreißprobe ausgesetzt sind und stets neu verhandelt werden müssen. Seinem Zeitgenossen Tönnies, der aus seiner Zuneigung für die Gemeinschaft kein Hehl macht, antwortet Georg Simmel, der zwar die Vorteile der Gemeinschaft durchaus kennt, zugleich aber auf die Befreiung des Einzelnen in der großstädtischen Geldwirtschaft hinweist - nach dem Motto „Stadtluft macht frei“. Dadurch beleuchtet er einen ganz anderen Aspekt der (Spät-)Moderne, der sowohl bei Durkheim als auch bei Tönnies unterbelichtet bleibt. Dennoch erscheinen sowohl Tönnies als auch Simmel im gegenwärtigen Kontext als Soziologen der Krise, die die ehrgeizigen Metaerzählungen von Marx, Comte und Spencer mit Skepsis betrachten. (Hier wird deutlich, dass die von Lyotard verkündete „Skepsis den Metaerzählungen gegenüber“ kein besonderes Charakteristikum der Postmoderne ist, sondern bereits in der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne einsetzt.) Diese Selbstkritik erreicht einen ihrer Höhepunkte bei Max Weber, der wie kein anderer vor ihm die Rationalisierungsprozesse nachgezeichnet hat, die Europa und später die USA zu dem gemacht haben, was sie sind. Zu diesen Rationalisierungsprozessen gehört auch die allmähliche Entstehung einer funktional differenzierten Bürokratie, auf die Weber immer wieder zu sprechen kommt: „Diese letztere Entwicklung speziell, welche die konkrete Sachkenntnis der Interessenten in den Dienst der rationalen Verwaltung fachgebildeter Beamter zu stellen sucht, hat sicherlich eine bedeutende Zukunft und steigert die Macht der Bürokratie noch weiter.“ 3 Dies kann so weit führen, dass der bürokratische Apparat schließlich zu einem „stählernen Gehäuse“ (Weber) wird, in dem der sozialen Körper erstickt oder zumindest zur Unbeweglichkeit verurteilt ist. Auch im Falle von Weber wird deutlich, dass er Hegels, Marxʼ und Comtes Zuversicht, was die modernen Entwicklungen angeht, nicht teilt. Seine Soziologie ist nicht nur in dieser Hinsicht als eine Antwort auf Marx (und Comte) zu lesen, sondern auch auf einer ganz anderen Ebene: Im Gegensatz zu Marx versucht Weber zu zeigen, dass nicht nur Wirtschaft die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung ist, sondern auch andere Faktoren: etwa der religiöse Glaube, der sich auf das wirtschaftliche Denken und Handeln auswirken kann. Eine ganz andere Art von Skepsis im Hinblick auf den sozialen Prozess finden wir bei Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, der sich vorstellt, dass die Entwicklung der Zivilisation als wirtschaftlicher und technischer 3 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband IV: Herrschaft (Hrsg E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 42. <?page no="264"?> Die soziologischen Theorien der Spätmoderne 248 Prozess die gesamte europäische Kultur in Frage stellen und zu einer „Rebarbarisierung“ führen könnte. Auf dieser Ebene überschneidet sich seine Diagnose durchaus mit der seines Bruders, der in Wirtschaft und Gesellschaft vom „Kampf des ‚Fachmensch‘-Typus gegen das alte ‚Kulturmenschentum‘“ 4 spricht. In mancher Hinsicht könnten beide Theorien, vor allem aber die Alfred Webers, als Repliken auf Norbert Eliasʼ These über den Prozess der Zivilisation aufgefasst werden. Seine These lautet: dass der Zivilisationsprozess, der einen seiner Höhepunkte in der höfischen Gesellschaft erreicht, im Laufe der Jahrhunderte zu einer Verfeinerung der Sitten führt, so dass Vulgarität, Gewaltanwendung und Grausamkeit immer weiter aus dem gesellschaftlichen Alltag verdrängt werden. Im Gegensatz dazu weist Alfred Weber auf das destruktive Potenzial der Zivilisation als Wirtschaft und Technik hin: Sie könnte durch ihren kruden Utilitarismus der Verfeinerung der Sitten entgegenwirken und durch ihre Indifferenz allen kulturellen Werten gegenüber eine neue Barbarei entstehen lassen. Auch in diesem Fall lohnt es sich also, sich die Gegenstimme anzuhören, um die gegenläufigen Tendenzen zu erkennen. Stimme und Gegenstimme treffen im neunten Kapitel aufeinander, dessen Platzierung und Struktur eher dem dialogischen als dem chronologischen Prinzip folgen. In diesem Kapitel wird Emile Durkheims Theorie aus seiner Kritik an Herbert Spencers liberalem Individualismus abgeleitet. Im Gegensatz zum liberalen Individualisten Spencer, der meint, dass ein Kollektiv nicht mehr als die Summe der ihm angehörenden Individuen ist, weist Durkheim darauf hin, dass durch die Interaktion der Individuen eine gruppespezifische Eigengesetzlichkeit entsteht, die als Kollektivbewusstsein über das individuelle Bewusstsein hinausgeht und nicht auf dieses zu reduzieren ist. In der heutigen Soziologie ist das Spanungsverhältnis zwischen kollektiver und individueller Fokussierung als Gegensatz zwischen Durkheim und Max Weber weiterhin aktuell. 4 Ibid., S. 45. <?page no="265"?> 249 VIII. Die „Zirkulation der Eliten“ und die „ewige Wiederkehr des Gleichen“: Von Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca zu C. Wright Mills und Robert Michels (Paretos machiavellistische und nietzscheanische Antwort auf Marx) Inhaltsverzeichnis 1. Die Standorte Paretos und Moscas in der Krise des italienischen Libera lismus 2. Paretos Handlungstheorie und seine „Zirkulation der Eliten“: Ein ma chiavellistisch nietzscheanisches Aktantenmodell als Replik auf den Marxismus 3. Mosca als Vorläufer und Überwinder von Paretos Soziologie: „Politische Formel“, „juristischer Schutz“, „Gleichgewicht der Kräfte“ 4. C. Wright Mills Antwort auf Mosca und Pareto: Eine Nuancierung der Elitentheorie 5. Michels und das „eherne Gesetz der Oligarchie“ Die soziologischen Theorien Paretos und Moscas können ihrer Struktur nach als Repliken auf die modernen Großerzählungen aufgefasst werden. Während Hegel, Marx und Comte die gesellschaftliche Entwicklung im Rahmen einer teleologischen, auf ein bestimmtes historisches Ziel ausgerichteten Erzählung darstellen und sich dabei von ihren Vorstellungen einer vernünftigen, befriedeten und menschlichen Gesellschaft leiten lassen, beschreiben Pareto und Mosca eine zirkuläre Bewegung, die auf eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ im Sinne von Nietzsche hinausläuft. Konkret: Ihre historische Erzählung mündet nicht in das happy end einer von aller Herrschaft befreiten Gesellschaft, sondern in neue Herrschaftsformen oder in eine Aktualisierung des Altbekannten. Auf seine Frage „Was ist denn am Philosophen rückständig? “ antwortet Nietzsche: „Daß er weiß, was wahr ist, was Gott ist, was das Ziel ist, was der Weg ist…“ 1 Aus dieser Sicht erscheinen Hegel, Marx und Comte als „rückständige Philosophen“: Sie kennen den Weg, der mit Hilfe des „Weltgeistes“, des „Proletariats“ oder der „positiven Wissenschaft“ durch die Geschichte hindurch ans Ziel führt. 1 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 702. <?page no="266"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 250 Mit Nietzsche, dessen Werk sie zumindest teilweise rezipiert haben 2 , betrachten die beiden italienischen Soziologen Pareto und Mosca die moderne Metaerzählung mit Skepsis. Sie erscheint ihnen als eine Art Wunschdenken, das den wirklichen gesellschaftlichen Situationen, den wirklichen Menschen mit ihren Leidenschaften, Schwächen und Ambitionen nicht oder nur unzureichend Rechnung trägt. Diesem Wunschdenken setzten sie als Erben Niccolò Machiavellis ein Realitätsdenken entgegen, das sich nicht lange bei der Frage aufhält, wie die ideale Gesellschaft aussehen sollte, sondern danach fragt, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist und wie aus dieser Wirklichkeit der Interessen, Herrschaftsansprüche und Machtkämpfe ihr Entwicklungspotenzial und ihre Entwicklung abgeleitet werden können. Sie kommen zu dem Schluss, dass diese Entwicklung keine lineare, teleologische, sondern eine zirkuläre Struktur aufweist. Zu Recht weist James Burnham, der in seinem Buch Die Machiavellisten (The Machiavellians, 1943) Pareto, Mosca und Michels in die machiavellistische Tradition stellt, darauf hin, dass nicht erst bei Nietzsche, sondern schon bei Machiavelli (lange vor dem Auftreten des europäischen Historismus) 3 der soziale Prozess als kreisförmige Bewegung dargestellt wird: „Der Wechselvorgang wiederholt sich und ist ungefähr zyklisch. Das heißt, die Formen des Wechsels kommen in der Geschichte immer wieder vor (…); diese Wechselformen schließen einen mehr oder weniger erkennbaren Kreis.“ 4 Komplementär zu dieser Darstellung ortet auch Carlo Mongardini Paretos Denken zwischen den Philosophien Machiavellis und Nietzsches. 5 Dies bedeutet, aus historisch-hermeneutischer Sicht betrachtet, dass eine Strukturanalogie zwischen Machiavellis zirkulärer Geschichtsauffassung und Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ postuliert wird. Diese Analogie sollte nicht nur als eine Kontinuität des Denkens missverstanden werden, die auf Einflüsse Machiavellis oder Nietzsches in der Soziologie zurückgeführt werden könnte. Obwohl die hier kommentierten Autoren nach- 2 Vgl. G. Eisermann, „Einleitung“, in: G. Eisermann, Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte, Anmerkungen, Stuttgart, Enke, 1962, S. 35: „Auch in dieser Hinsicht war Pareto also eine Parallelerscheinung zu Nietzsches „La gaya scienza“. 3 Das Bewusstsein vom historischen oder im Laufe der Entwicklung gewordenen Charakter aller sozialen Erscheinungen, das vor allem bei W. Dilthey zum Ausdruck kommt. 4 J. Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit, Zürich, Pan-Verlag, 1949, S. 90. 5 C. Mongardini, Vilfredo Pareto. Dall’economia alla sociologia. Con un’antologia dei primi scritti sociologici di Pareto, Rom, Bulzoni, 1973, S. 61. Paretos Unterscheidung zwischen subjektiv Empfundenem und objektiv Gegebenem führt Mongardini auf Machiavelli und Nietzsche zurück. <?page no="267"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 251 weislich sowohl Machiavelli als auch Nietzsche kannten und von Burnham zu Recht als „Machiavellisten“ (mit positiven Konnotationen: als „Verteidiger der Freiheit“) bezeichnet werden, ist ihre kreisförmige Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung eher auf die hier erwähnte Skepsis allen modernen „Metaerzählungen“ gegenüber zurückzuführen. Diese Skepsis ist im Kontext der Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne zu erklären: Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass Aufklärung, Rationalismus, Positivismus und Dialektik im Sinne von Comte, Hegel und Marx nicht halten können, was sie versprachen. Bei Pareto, Mosca, C. Wright Mills und Michels zeichnen sich klar die Hindernisse ab, auf die die Versprechen der modernen Denker stoßen, an denen sie nach der Jahrhundertwende zerschellen. In seiner Abhandlung über die sozialistischen Systeme (Les Systèmes socialistes, 1902), in der er die Peripetien des Sozialismus-Gedankens von der Antike bis zur modernen Gewerkschaftsbewegung nachzeichnet, gibt Pareto zu verstehen, dass es auch im Sozialismus nicht zu der ersehnten Volkssouveränität kommen kann, weil sich schon in den Gewerkschaften Eliten bilden, die über die Massen der Mitglieder herrschen und sich oft auf deren Kosten mit den Arbeitgebern, den Kapitalisten, verständigen. Noch vor Pareto zeigt Mosca in seinem Buch über Die herrschende Klasse (Elementi di scienza politica, 1895) im Anschluss an Machiavelli, dass in allen Gesellschaften und Organisationen letztlich eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht - und diese oft für ihre partikularen Zwecke manipuliert. Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills und der deutsch-italienische Politikwissenschaftler Robert Michels führen diesen Gedanken aus, indem sie mit akribischer Genauigkeit die Prozesse beschreiben, die zur Bildung einer politischen Klasse als Elite führen. Während Mills die Dynamik einer power elite darstellt, die in den 1950er Jahren dadurch zustande kommt, dass Großunternehmer, Manager, Politiker und hohe Militärs aufgrund gemeinsamer Sozialisierung in den Institutionen Cliquen bilden, die das gesellschaftliche Leben der USA beherrschen, lässt Michels in seiner kenntnisreichen vergleichenden Studie Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (1911), die mindestens fünf Kulturbereiche umfasst (Großbritannien, USA, Deutschland, Italien und Frankreich), oligarchische Tendenzen in den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften erkennen: gerade in den Organisationen also, von denen Marx und Engels sich im Kommunistischen Manifest eine Auflösung der Klassenherrschaft versprechen. Um dem dialogischen Charakter dieser Darstellung Nachdruck zu verleihen, soll schon an dieser Stelle Michelsʼ Reaktion auf eine der Kernthesen aus dem Kommunistischen Manifest ausführlich wiedergegeben werden: „Nach Marx liegt zwischen der kapitalistischen und der kommu- <?page no="268"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 252 nistischen Gesellschaft die Periode der revolutionären Umwandlung aus der einen in die andere, eine Wirtschaftsperiode, der eine politische Übergangsperiode entspricht, ‚deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats‘, weniger euphemistisch ausgedrückt: eine revolutionäre Diktatur derjenigen Sozialistenführer, die im Namen des Sozialismus den Händen der sterbenden bürgerlichen Gesellschaft das Zepter der Herrschaft zu entwinden die Kraft und Geschicklichkeit haben werden.“ 6 Dies bedeutet im Klartext - und ohne marxistische Euphemismen -, dass sich eine neue Elite des Zepters der Herrschaft im Namen des Sozialismus und des Volkes bemächtigt. Aber das Zepter verschwindet nicht; es wird nur von einer anderen, einer kräftigeren Hand geschwungen. Kurzum: Die Eliten erneuern sich, gehen aber nicht in einer herrschaftsfreien, menschlicheren Gesellschaft auf. Nicht zufällig - und mit durchaus dialogischer Gesinnung - empfiehlt Franz Borkenau, der ehemalige Komintern-Funktionär, „der einstige Kommunist und einstige Stipendiat des Instituts für Sozialforschung“ 7 , Paretos Werk allen an den Problemen des Sozialismus Interessierten zur Lektüre. 8 Sie sollen erkennen, an welchen Hürden ihr Projekt in Ost und West bisher gescheitert ist. Auch die Autorinnen und Autoren emanzipatorischer Diskurse im Sinne des Feminismus und der Kritischen Theorie werden es mit Gewinn lesen. Sie werden sich möglicherweise mit Kafkas Erzähler gestehen müssen: „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet…“ Da die gesamte Elitentheorie bisweilen unter Faschismus-Verdacht gestellt wird, soll diese Einleitung mit einigen Bemerkungen zu Paretos, Moscas und Michelsʼ Einstellung zum Faschismus abgeschlossen werden. Pareto unterstützte, wenn auch mit einiger Skepsis, kurz vor seinem Tode im Jahre 1923 die Machtergreifung Mussolinis (1922: Marsch auf Rom), die seinem Verständnis nach den Aufstieg einer neuen Elite einläutete, und erntete lauten Beifall der neuen Machthaber. (Davon wird noch ausführlicher die Rede sein.) Mosca war ein konservativer Liberaler und ein Demokratie-Skeptiker, zugleich aber ein Faschismus-Kritiker, der sich im italienischen Parlament sogar mit Mussolini anlegte. Michels bekannte sich als 6 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (Hrsg. W. Conze), Stuttgart, Kröner, 1925, S. 359. 7 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S. 288. 8 Vgl. F. Borkenau, Modern Sociologist: Pareto, London Chapman and Hall, 1936, Kap. I sowie: ders., „A Manifesto of our Time“, in: J. H. Meisel, Pareto and Mosca, Englewood Cliffs, Prentice-Hall, 1965, S. 109. <?page no="269"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 253 Wahlitaliener - wohl auch im Zuge seiner Italien-Euphorie - ohne Vorbehalte zu Mussolinis Regime. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Theorien dieser Autoren pauschal auf eine faschistische Ideologie festgelegt werden können. Der gesellschaftskritische und in der gegenwärtigen Situation eher als „links“ einzustufende C. Wright Mills nimmt sich in The Sociological Imagination vor, „to pick up in a neat and meaningful way the Paretian distinction of governing and non-governing elites“ 9 , und beruft sich immer wieder auf Mosca und Michels. Seine Studie The Power Elite wäre ohne die Vorarbeiten dieser Autoren nicht denkbar. Hier wird deutlich, dass nicht nur literarische Werke, sondern auch soziologische Theorien und Philosophien vieldeutig sind - und dass sehr viel davon abhängt, was man aus ihnen macht. Viele miteinander verfeindete Ideologien können sich ihrer bemächtigen, um sie zu Instrumenten des politischen Kampfes umzugestalten. Die Aufgabe der Theorie als Diskurs besteht darin, sie im Dialog von vergangener und gegenwärtiger ideologischer Vereinnahmung zu befreien - auch von ihrer eigenen. 10 1. Die Standorte Paretos und Moscas in der Krise des italienischen Liberalismus Es ist kaum möglich, die Theorien Vilfredo Paretos und Gaetano Moscas zu verstehen, ohne die gesellschaftliche und sprachliche Situation Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu kennen. Freilich geht es hier nicht um die Geschichte Italiens nach der Verwirklichung von Machiavellis Traum durch Garibaldi (1807-1882): nach der Vereinigung aller italienischen Länder zu einem modernen Nationalstaat. Es geht vor allem um die Position des Bürgertums und seines wirtschaftlich tonangebenden Flügels: der liberalen Bourgeoisie um 1900. Denn dieser Bourgeoisie fühlten sich sowohl Pareto als auch Mosca zugehörig und verfolgten ihre Entwicklung mit Sorge, Irritation und Kritik. Beide beobachteten die italienischen Ereignisse gleichsam von außen: Pareto, der im Jahre 1848 in Paris zur Welt kam, wo seine Familie im Exil lebte, ließ sich nach verschiedenen Tätigkeiten in Italien (u.a. als Ingenieur) in Lausanne nieder, wo er bis 1907 eine Professur für Nationalökonomie innehatte. Er starb 1923 in Céligny bei Genf. Mosca wurde 1858 im sizilianischen Palermo geboren, also an der Peripherie des italienischen 9 C. W. Mills, The Sociological Imagination, Harmondsworth, Penguin-Pelican, 1980, S. 224. 10 Vgl. N. Bobbio, Saggi sulla scienza politica in Italia, Bari, Laterza, 1971, Kap. IV: „L’ideologia in Pareto e in Marx“ sowie Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. <?page no="270"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 254 Staates, war ursprünglich Jurist, später Soziologe und Politiker, von 1914 bis 1916 Unterstaatssekretär im Kolonialministerium, ab 1919 Senator und von 1923 bis 1933 Professor für Staatswissenschaft in Rom, wo er 1941 starb. Der Blick der beiden Sozialwissenschaftler auf die italienische Gesellschaft wurde aus biografischen Gründen zu einem Blick aus der Außenperspektive. Während der zweisprachige Pareto, der sowohl auf Französisch als auch auf Italienisch schrieb, Gelegenheit hatte, die Entwicklung der italienischen Gesellschaft mit der schweizerischen und der französischen zu vergleichen, betrachtete der Sizilianer Mosca die Ereignisse in Rom mit dem für Randgebiete wie Sizilien, Sardinien oder Friaul charakteristischen distacco: mit kritischer Distanz. In der Beobachtung beider Theoretiker trat bald ein Problem der italienischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund: die Schwäche des italienischen Bürgertums, insbesondere aber die des wirtschaftlich-politischen Liberalismus, den das Regime von Giovanni Giolitti (1842-1928) vertrat. Die soziale Situation wird knapp und klar von Guido Baglioni beschrieben: „Als Giolitti an die Macht kam und die ‚Doktrin‘ von der Neutralität des Staates in den kollektiven Arbeits- und Industriekämpfen vertrat, wurden die Bedingungen für spontane Manifestationen sozialer und politischer Dynamiken günstiger, wie das Anwachsen der Agitationen und Streiks sowie das Erstarken der Gewerkschaftsstrukturen zeigen.“ 11 Pareto und Mosca deuteten diese „Neutralität des Staates“ nicht ganz zu Unrecht als eine der Schwächen des Liberalismus, der das Regime schließlich im Jahre 1922 zum Opfer fallen sollte. Beide Denker erblickten in einer immer besser organisierten und immer selbstbewusster auftretenden Arbeiterklasse eine Bedrohung der bürgerlich-liberalen Ordnung. Im Zusammenhang mit Mosca, den H. Stuart Hughes als einen „Angehörigen der liberalen oberen Mittelklasse“ („member of the liberal upper middle class“) 12 definiert, spricht Baglioni etwas pauschal von einer „Restaurationspolitik“ („politica di restaurazione“) 13 und behauptet von Pareto, er setze sich für eine „archaische Gesellschaftsordnung“ 14 ein. Es wird sich zeigen, dass die Theorien Paretos und Moscas nicht gar so eindeutig sind, zumal Mosca den allergrößten Wert auf ein rechtsstaatliches System von checks and balances legt (vgl. Abschn. 4). 11 G. Baglioni, L’ideologia della borghesia industriale nell’Italia liberale, Turin, Einaudi, 1974, S. 112. 12 H. S. Hughes, „Gaetano Mosca and the Political Lessons of History“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 149. 13 G. Baglioni, L’ideologia della borghesia industriale nell’Italia liberale, op. cit., S. 165. 14 Ibid., S. 164. <?page no="271"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 255 So rechtsstaatlich-liberal ist Pareto keineswegs. Ihm geht es in erster Linie um die Erneuerung der sozialen Elite, die für den Zusammenhalt und die Entfaltung der Gesellschaft verantwortlich ist. Während er vor 1900 noch mit der Demokratie und dem Sozialismus sympathisierte und in der Zeit der Dreyfus-Affäre Partei für den in Frankreich zu Unrecht verurteilten jüdischen Capitaine Dreyfus Partei ergriff, änderte er nach der Jahrhundertwende radikal seinen Standpunkt. Dazu bemerkt S. E. Finer: „Aber um 1900 machte sein Denken eine totale Revolution durch.“ 15 Der Grund war die Schwäche des bürgerlich-liberalen Regimes unter Giolitti, die aus Paretos Sicht die Sozialisten und ihre Gewerkschaften dazu ermutigte, lautstark immer mehr Rechte zu beanspruchen, so dass bürgerliche Privilegien von Konflikt zu Konflikt allmählich durch Privilegien der Arbeiterklasse ersetzt wurden. Dass diese Beobachtung, die auch Moscas Argumentationen steuert, weil sie deren Relevanzkriterien bestimmt, einseitig war, liegt auf der Hand. Sie führte jedoch dazu, dass Pareto begann, eine Reaktion der bürgerlichen Elite herbeizuwünschen und in Mussolinis Faschismus - nicht ganz zu Unrecht - eine solche Reaktion zu erkennen meinte. Er soll hier selbst zu Wort kommen, zumal seine Einstellung zum Faschismus stark von seiner Elitentheorie geprägt ist. In einem Artikel mit dem Titel „Il Fascismo“, der im Januar 1922 erschien, zeichnen sich eher Skepsis und Kritik ab: „Unter dem Aspekt der formalen Logik ist der faschistische Glaube dem sozialistischen sicherlich unterlegen, schon deshalb, weil er sich noch in einem nebulösen Zustand befindet (…).“ 16 Ein Jahr später, in seinem Todesjahr, erscheint ihm die faschistische Bewegung als Keim einer neuen Elite, welche die ungelösten Probleme des europäischen Bürgertums mit Erfolg angehen könnte: „In Italien versucht der Faschismus, eine dieser Lösungen zu finden, indem er die alte herrschende Klasse (classe dirigente), die sich als völlig unfähig erwiesen hat zu regieren, durch eine neue ersetzt.“ 17 Die folgenden beiden Sätze klingen skeptisch: „Die Staatsmacht befand sich in einem Zustand des Zerfalls. Der Faschismus hat versucht, sie zu stärken. Die Zukunft wird uns zeigen, ob so eine neue Ära angefangen hat oder ob man zu den alten Fehlern zurückkehrt (…).“ 18 Die Schlussbetrachtung klingt jedoch zuversichtlich, ja euphorisch: „Man kann nur sagen, dass die Anfänge gut sind und die 15 S. E. Finer, „Introduction“, in: V. Pareto, Sociological Writings, London, Pall Mall Press, 1966, S. 11. 16 V. Pareto, „Il fascismo“, in: ders., Scritti sociologici (Hrsg. G. Busino), Turin, Tipografia Torinese, 1966, S. 1097. 17 V. Pareto, „Il fenomeno del fascismo“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 1185. 18 Ibid. <?page no="272"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 256 Hoffnung auf eine glückliche Zukunft rechtfertigen.“ 19 Allerdings fügt Pareto im vorletzten Satz hinzu, dass es nun gilt, „aus dem Provisorium hinauszutreten und gravierende Verfassungsprobleme zu lösen“. 20 Dass der Faschismus als Diktatur diese Probleme nicht lösen konnte, wäre Pareto spätestens im Jahre 1925 klar geworden, als die Weichen in Richtung Totalitarismus gestellt wurden. 21 Obwohl er - anders als der Jurist Mosca - keine Theorie des Rechtsstaates als eines Gleichgewichts von checks and balances entwickelt hat, hätte er an der totalitären Verfassung wahrscheinlich keinen Gefallen gefunden. Noch wahrscheinlicher ist, dass der ehemalige „Dreyfusard“ Mussolinis Bündnis mit dem antisemitischen Nationalsozialismus in den 30er Jahren abgelehnt hätte. Angesichts dieser Überlegungen erscheint Ettore A. Albertonis Urteil zu einseitig: „Dem Faschismus gegenüber, der sich immer stärker behauptet, nimmt Pareto eine Haltung der offenen Unterstützung an.“ 22 Es wäre ratsam - in dubio pro reo - vorsichtiger zu formulieren: Pareto unterstützt den Faschismus der ersten beiden Jahre (1922/ 23), weil er ihn mit der Entstehung einer neuen, noch unverbrauchten Elite identifiziert; den totalitären Faschismus, der sich nach 1925 entwickelte und sich in den 1930er Jahren auf Gedeih und Verderb mit dem NS-Staat verbündete, hat er nie kennen gelernt. Diese Darstellung mag, was Paretos Person angeht, etwas ausgewogener oder freundlicher sein, sie lässt zugleich aber auch eine Affinität zwischen Paretos Elitentheorie und seinen politischen Sympathien erkennen. Daher ist Luigi Montini Recht zu geben, der die folgende, aus diskurskritischer Sicht plausible These vertritt: „Pareto betrachtete den Faschismus mit Sympathie aufgrund bestimmter nicht oberflächlicher, sondern tief liegender Affinitäten zu seinem soziologischen Entwurf (…).“ 23 Es wird sich zeigen, dass diese Affinitäten in der Erzählstruktur und im Aktantenmodell von Paretos Diskurs angelegt sind, der durch seine zirkuläre Anordnung eine Emanzipation der Gesellschaft durch fortschreitende Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit ausschließt. Letztlich kann man nur Raymond Aron beipflichten, wenn er - angesichts der Vieldeutigkeit theoretischer Texte - vier Lesarten (lectures) von Paretos Diskurs vorschlägt: „die faschistische und darwinistische Lesart, die 19 Ibid., S. 1187. 20 Ibid. 21 Vgl. A. Aquarone, L’organizzazione dello stato totalitario, 2 Bde., Turin, Einaudi, 1978, Bd. I, Kap. I-III. Aquarone zeigt u.a., dass Mussolinis Staat die italienische Gesellschaft nie „total“, restlos beherrschte. 22 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca. Storia di una dottrina politica. Formazione e interpretazione, Mailand, A. Giuffrè Editore, 1978, S. 55. 23 L. Montini, Vilfredo Pareto e il fascismo, Rom, Volpe, 1974, S. 15. <?page no="273"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 257 machiavellistische oder autoritäre Lesart, die machiavellistisch-liberale Lesart und die skeptische oder zynische Lesart.“ 24 Jede dieser Lesarten erscheint plausibel, sofern man bedenkt, dass Paretos Skepsis in der spätmodernen Selbstkritik der Moderne angelegt ist und Machiavellis Realismus einerseits auf Machterhaltung (autoritäre Variante), andererseits aber auch auf das Wohlbefinden und das Freiheitsbedürfnis (liberale Variante) der Bevölkerung ausgerichtet ist. Machiavelli hat keine Apologie der Tyrannei geschrieben. Allerdings erhält die faschistische Lesart dadurch eine besondere Plausibilität, dass sie auf der zirkulären Struktur von Paretos Diskurs gründet, der nur die ewige Wiederkehr von Machtkämpfen, nur Nietzsches „Willen zur Macht“ kennt. 2. Paretos Handlungstheorie und seine „Zirkulation der Eliten“: Ein machiavellistisch-nietzscheanisches Aktantenmodell als Replik auf den Marxismus Paretos Handlungstheorie, die die Grundlage seiner Elitentheorie bildet, entstand in dem hier skizzierten gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext. Dem Ökonomen und Soziologen, der meinte, Marxʼ Mehrwert-Theorie endgültig widerlegt zu haben, erschien der marxistische Sozialismus in Italien und Frankreich als eine Bedrohung des liberal-bürgerlichen Rechtsstaates. Ihn irritierte vor allem der wachsende Einfluss des Marxismus bei der italienischen Jugend. S. E. Finer beschreibt die Entstehung von Paretos Handlungstheorie, die auf dem Gegensatz zwischen rationalem und nichtrationalem, logischem und nichtlogischem Handeln gründet: „Wie war es möglich, dass Behauptungen, die aus seiner Sicht nachweislich falsch waren, von der besten italienischen Jugend - um mit ihm zu sprechen - für ‚das neue Evangelium‘ gehalten wurden? Im Jahre 1897 kam ihm plötzlich der Gedanke, dass die meisten menschlichen Handlungen nicht aus rationalen Prozessen, sondern aus Emotionen hervorgehen. Menschen verspüren ein Bedürfnis und handeln; erst danach erfinden sie Rechtfertigungen. Nun brannte er darauf, eine Soziologie zu entwerfen, die auf diesem neuen Prinzip gründete.“ 25 Auf den ersten Blick ist klar, dass es hier um neue Modalitäten (Greimas) des Handelns geht, die das vernünftige Wissen, Wollen und Können des Marxschen Proletariats ersetzten sollen. Nicht Hegels Weltvernunft herrscht hier, sondern es gilt Nietzsches Satz: „Daß die Welt nicht der Inbegriff der ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch bewei- 24 R. Aron, „‚Lectures de Pareto‘, in: Convegno Internazionale Vilfredo Pareto (Roma, 25- 27 ottobre 1973), Atti dei Convegni Lincei IX, Rom, Accademia Nazionale dei Lincei, 1975, S. 41. 25 S. E. Finer, „Introduction“, in: V. Pareto, Sociological Writings, op. cit., S. 11. <?page no="274"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 258 sen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist.“ 26 Wie sieht nun Paretos Maßstab für rationales, logisches Handeln aus? Als Nachfolger des Wirtschaftswissenschaftlers Léon Walras an der Universität Lausanne (1893) und Verfechter einer mathematischen Wirtschaftswissenschaft, die er vor allem in seinem Cours d’Economie Politique (1896/ 7) zu begründen sucht, legt er als Maßstab ein logisch aufgebautes rationales Handeln an, in dem mit geeigneten Mitteln versucht wird, ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das ihm vorschwebende Modell ist das wirtschaftliche Handeln: Ein Unternehmer, der bestimmte Metallgeräte herstellt, erwirbt die neueste Maschine, die zwar teuer ist, aber so effizient, dass sie ihm gestattet, bei gleichbleibender Qualität schneller und billiger zu produzieren und sich so auf dem Markt Vorteile der Konkurrenz gegenüber zu sichern. In der Wirtschaft ist ein rationales Verhalten dieser Art („die sich lohnende Investition“) die Norm. Sobald man jedoch den wirtschaftlichen Bereich verlässt und die Gesellschaft insgesamt betrachtet, stellt sich heraus, dass sowohl individuelle als auch kollektive Aktanten von dieser Norm abweichen. Einfache Beispiele führt Pareto immer wieder an: Der archaische Stamm, der einen Regentanz veranstaltet, hat zwar ein rationales Ziel vor Augen (eine gute Ernte setzt Regen voraus), wendet aber kein zielführendes Mittel an. 27 Die antiken Seeleute, die Poseidon Opfer bringen, mögen überzeugt sein, dass die Opfer ebenso wichtig sind wie das Rudern, aber ihre Überzeugung ist nichtrational - selbst wenn sie ihnen Mut und mehr Kraft zum Rudern gibt. 28 Auch in der heutigen Zeit meinen Menschen, sich mit Hilfe von Amuletten und Heiligenbildern vor Verkehrsunfällen schützen zu können. In allen diesen Fällen - sowohl in der Wirtschaft als auch in den anderen Bereichen - haben wir es mit Modalitäten des Denkens und Handelns zu tun. Während das technische und wirtschaftliche Wissen den Unternehmer befähigt, durch den Nexus von Wissen und Können (Greimas) die Konkurrenz zu überholen, verleiht der Glaube an übernatürliche Kräfte den anderen Aktanten zwar Zuversicht und Mut, gewährt ihnen jedoch keinen Schutz - und führt auch keinen Regen herbei. Diese Aktanten peilen zwar die richtigen Ziele an (Regen, Schutz), setzen aber die falschen Mittel ein. 26 F. Nietzsche, „Menschliches Allzumenschliches“, in: Werke, Bd. II, op. cit., S. 873. 27 Vgl. aber: P. Winch, The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy, London- New York, Routledge (1958), 2001, S. 95-111. Winch kritisiert Paretos Versuch, die Vernunft der Wissenschaft im rationalistischen Sinne zur Universalvernunft zu erheben. Die Magie, wendet er ein, hat ihre eigene Vernunft: „(…) To try to understand magic by reference to the aims and nature of scientific activity, as Pareto does, will necessarily be to misunderstand it.“ (S. 100) 28 V. Pareto, „Le azioni non logiche“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 400-401. <?page no="275"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 259 Die Komplexität des sozialen Handelns wird gesteigert, wenn der Aktant zwar behauptet, mit bestimmten Mitteln ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, sich selbst aber und / oder andere täuscht: sowohl im Hinblick auf die Mittel als auch im Hinblick auf das Ziel. Auf individueller Ebene wird dies durch folgende Beispiele veranschaulicht: Ein Asket und Moralist lässt keine Gelegenheit aus, sexuelle Ausschweifungen „im Interesse der öffentlichen Moral“ zu verurteilen; in Wirklichkeit handelt er nicht aus reiner Abneigung, sondern um sein Interesse für Sexualität zu befriedigen (Paretos Beispiel). Ein Universitätsdozent behauptet, die Behandlung eines bestimmten wissenschaftlichen Themas sei „wichtig für das Fach und daher im Interesse der Studierenden“; in Wirklichkeit ist dieses Thema sein „Steckenpferd“ und interessiert die Studierenden nicht. Auf kollektiver Ebene werden diese Beispiele durch eine bekannte Situation aus der internationalen Politik ergänzt: Eine Regierung behauptet, die (Rück-)Eroberung eines fremden Staatsgebiets sei „im Interesse des Volkes und der nationalen Ehre“; in Wirklichkeit will sie nur in ihrem ureigensten Interesse von wirtschaftlichen und sozialen Problemen im eigenen Land ablenken, die sie nicht zu lösen vermag. Paretos eigenes Beispiel aus der Politik: „Ein Politiker verkündet die Theorie der Solidarität, und ihn treibt die Sucht nach Geld, Macht und Ehre.“ 29 In allen diesen Fällen wird ein mythischer Aktant als Auftraggeber des eigenen Handelns konstruiert („die Studierenden“, „das Volk“, „die Solidarität“), der die Funktion erfüllt, dieses Handeln zu rechtfertigen. Zugleich wird eine bestimmte Emotion oder ein bestimmtes Interesse durch diese Rechtfertigung (im Interesse der Moral, der Studierenden, im Interesse des Volkes, der Nation, der Solidarität) rationalisiert, d.h. für vernünftig erklärt. Pareto bezeichnet die zugrunde liegende Emotion oder das zugrunde liegende Interesse als Residuum (residuo, résidu), die Rechtfertigung als Derivation (derivazione, dérivation). Zum Asketen bemerkt er: „Alle gesellschaftlichen Erscheinungen sind zusammengesetzt, gemischt, und enthalten mehr als ein Residuum. Beim Asketen haben sie außer dem Residuum der Askese oft das des Hochmuts; denn er fühlt sich den gemeinen Sterblichen überlegen (…).“ 30 Aus solchen Befunden leitet Pareto seine These ab, „daß sich die Menschen in ihrem Handeln in erster Linie durch das Gefühl, die Leidenschaft 29 V. Pareto, Allgemeine Soziologie (Hrsg. C. Brinkmann), München, Finanzbuch-Verlag, 2006, S. 70. (Stark gekürzte deutsche Fassung von: V. Pareto, Trattato di sociologia generale [3 Bde.], Florenz, Barbera, 1916.) 30 Ibid., S. 142. <?page no="276"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 260 und das Eigeninteresse leiten lassen und erst in zweiter Linie durch den Verstand“. 31 Aber was genau sind Residuen und worin bestehen sie? Eine erste negative Definition findet sich in Paretos Aufsatz über die nichtlogischen Handlungen: „Le azioni non logiche“. Er spricht dort von einem „nichtlogischen Kern“, einem „nocciolo non logico“. 32 Eine positive und sehr brauchbare, weil allgemeine Definition findet sich bei Sidney Hook: „eine unveränderliche Prädisposition für bestimmte Handlungen oder Glaubensinhalte“ („invariant predisposition to action or belief“). 33 Ergänzend definiert Maurizio Bach Residuen als „nicht weiter reduzierbare oder zerlegbare, mithin elementare Handlungsskelette“. 34 Diese Definitionen sind auf die hier angeführten Beispiele anwendbar. Sie schließen sowohl Emotionen als auch Interessen ein: sowohl den Glauben an übernatürliche Mächte als auch die Angst der antiken Matrosen vor der hohen See; sowohl das zwanghafte Interesse an Sexualität als auch das Streben nach Macht und Ehre. Alle diese Neigungen oder Impulse mögen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Formen annehmen; sie sind aber in allen Gesellschaften präsent und werden von Pareto als ahistorische, anthropologische Konstanten aufgefasst, deren Permanenz wesentlich zu seiner Auffassung der Geschichte als „ewiger Wiederkehr des Gleichen“ beiträgt. Pareto unterscheidet insgesamt sechs Klassen von Residuen: 1. „Instinkt der Kombinationen“ (Flexibilität als Fähigkeit zu kombinieren: sowohl Ähnliches als auch Gegensätzliches); 2. „Persistenz der Aggregate“ (Standhaftigkeit als Festhalten an tradierten Werten, Beziehungen und Bewusstseinslagen); 3. „Bedürfnis nach Gefühlsausdruck durch äußere Handlungen“ (Pareto unterscheidet zwei Aspekte: „Ausdruck durch Kombinationen“ und „religiöse Exaltation“); 4. „Residuen der Soziabilität“ (Bedürfnis nach gesellschaftlicher Billigung und sozialer Einförmigkeit sowie Solidarität); 5. „Unverletztheit (intégrité) des Einzelnen und der Seinen“ (Sorge um die eigene Integrität und um die seines sozialen Umfeldes); 6. „Sexuelles Residuum“ (Sublimierung sexueller Regungen). 35 Die logisch-semantische Struktur dieser Klassifikation ist nicht einleuchtend, zumal es in einigen Fällen um intellektuelle Fähigkeiten (1), in 31 V. Pareto, „Das Individuelle und das Soziale“, in: ders., Ausgewählte Schriften (Hrsg. C. Mongardini), Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, S. 182. 32 V. Pareto, „Le azioni non logiche“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 432. 33 S. Hook, „Pareto’s Sociological System“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 58. 34 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns. Zur Soziologie Vilfredo Paretos, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 220. 35 V. Pareto, „Eine Anwendungsform soziologischer Theorien“, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 78-81. <?page no="277"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 261 anderen um soziale Einstellungen oder Bedürfnisse (2, 3, 4, 5) und schließlich um Triebe (6) geht. Insofern merkt N. S. Timasheff zu Recht kritisch an: „Paretos Klassifikation der Residuen wird nirgendwo erklärt oder gerechtfertigt.“ 36 Es kommt hinzu, dass in dieser Einteilung das Streben nach Macht, das Paretos gesamte Soziologie und vor allem seine Elitentheorie durchzieht, fehlt. Jedenfalls sollten „Residuen“ im Sinne von Pareto nicht auf „Gefühle“ oder „Instinkte“ reduziert werden, weil sie, wie sich hier zeigt, auch soziale, d.h. kulturell überlieferte Einstellungen oder Neigungen umfassen. Vor dieser Art des Reduktionismus warnt Maurizio Bach: „Residuen sind also auf keinen Fall mit Gefühlen nach geläufigem Verständnis zu verwechseln.“ 37 Warum diese Verwechslung in der Vergangenheit schwer zu vermeiden war, erklärt James Burnham: „Pareto hält sich nicht immer ganz streng an diese Unterscheidungen und benutzt manchmal Ausdrücke wie ‚Gefühl‘ oder „Instinkt“, wo er Residuum setzen müßte.“ 38 Hier wird deutlich, dass auch Pareto dort scheitert, wo Comte und Marx scheitern mussten: in seinem Vorhaben, die Soziologie als strenge Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften zu fundieren. Denn eine strenge Wissenschaft im Sinne der Physik setzt eine eindeutige Terminologie voraus (vgl. weiter unten). Entscheidend ist an dieser Stelle die von Pareto postulierte Beziehung zwischen Residuen und Derivationen, die bereits skizziert wurde. Wie sich gezeigt hat, bringt das von Residuen gesteuerte nichtlogische, nichtrationale Handeln es mit sich, dass die Handelnden bewusst oder halbbewusst Erklärungen oder Rechtfertigungen für dieses Handeln erfinden, die im Gegensatz zu den Erklärungen des Wirtschaftsunternehmers (s.o.) auf keine rationale Grundlage zurückgeführt werden können. Eine kompakte und brauchbare Definition der Derivationen bietet Carlo Mongardini, wenn er von „Erklärungen“ spricht, „die die Handlung zur logischen machen wollen“. 39 Wenn eine Regierung oder eine Militärjunta ihren Feldzug gegen den Nachbarstaat durch das „Argument“ rechtfertigt, sie müsse „ein verlorenes oder symbolträchtiges Gebiet in die Heimat zurückholen und handle daher im Auftrag der Nation“, so orientiert sie sich zwar - der Form nach - an der Erklärung des Unternehmers, er könne mit der neuen Maschine billiger und schneller produzieren, in Wirklichkeit verdeckt sie aber durch diese Derivation ihr eigentliches Interesse: ihre Macht noch möglichst lange zu erhalten. Die Nation wird hier von den Macht- 36 N. S. Timasheff, „The Social System, Structure, and Dynamics“, in: J. H. Meisel (Hrsg.), Pareto and Mosca, op. cit., S. 66. 37 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 220. 38 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 191. 39 C. Mongardini, „Paretos Soziologie um die Jahrhundertwende“, in: V. Pareto, Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 45. <?page no="278"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 262 habern als mythischer Aktant (Auftraggeber) konstruiert, der ihnen einen legitimierenden Heilsauftrag (Greimas) gibt: den „Feldzug“, der von inneren Problemen des Landes ablenken soll. Pareto unterscheidet vier Klassen von Derivationen. In mindestens zwei von diesen Klassen spielen mythische Aktanten eine wesentliche Rolle: 1. „Behauptung“ (Verknüpfung von erfahrbaren oder imaginären Tatsachen mit Gefühlen); 2. „Autorität“ (Autorität eines Menschen, einer Tradition, eines göttlichen Wesens); 3. „Übereinstimmung mit Gefühlen oder Grundsätzen“ (Berufung auf „Gemeininteressen“, „rechtliche, metaphysische, übernatürliche Wesenheiten“); 4. „Beweise mit Worten“ (Pseudoargumentationen). Auf den ersten Blick fällt auf, dass sich (2) und (3) überschneiden, weil die Anrufung eines „göttlichen Wesens“ oder einer „metaphysischen oder übernatürlichen Wesenheit“ auf das Gleiche hinauslaufen. Schon wegen dieser semantischen Redundanz ist auch Paretos zweite Klassifikation nicht klar durchdacht. Aus semiotischer Sicht erscheinen „göttliche“, „metaphysische“ und „übernatürliche Wesenheiten“ allesamt als mythische Aktanten, die in den Diskursen, die Pareto als Derivationen bezeichnet, die Funktion von Auftraggebern erfüllen: „Gott verlangt von euch, dass ihr zu den Fahnen eilt, wenn das Vaterland ruft.“ „Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass unser Medikament oder Waschpulver das beste ist.“ Mythischer Objekt-Aktant: „Wir mussten so handeln, um unsere Ehre zu retten.“ Tradition als Auftraggeberin: „Das haben wir immer so gemacht.“ Es nimmt nicht wunder, dass Paretos Theorie der Derivationen immer wieder zu Freuds Begriff der Rationalisierung 40 und Marxʼ Ideologiebegriff in Beziehung gesetzt wurde. Freuds Psychoanalyse kannte Pareto wahrscheinlich nicht 41 ; Marxʼ Werk kannte er gut und nahm sich vor, mit der Derivation einen Gegenentwurf zur Ideologiekritik zu wagen, mit dem er auch die Marxsche Theorie als Derivation erfassen konnte. In einem Brief an seinen Freund Maffeo Pantaleoni heißt es u.a.: „Die Theorien, die Anschauungen der Menschen sind die äußere Hülle der Gefühle, die allein die wirksamen Triebkräfte des menschlichen Handelns sind.“ 42 40 Rationalisierung im Sinne von Freud definieren Laplanche und Pontalis: „Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben.“ (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp [1972], 1973, S. 418.) Die Verwandtschaft mit Paretos „Derivation“ ist frappierend. 41 Vgl. M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 217. 42 V. Pareto, Brief an Maffeo Pantaleoni vom 24. September 1909, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 263. <?page no="279"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 263 Zu diesen Theorien gehört nach Pareto auch der Marxismus: „Der Marxismus bietet uns eine Unzahl solcher Derivationen (…), die alle sozialen Erscheinungen durch den ‚Kapitalismus‘ erklären.“ 43 Mit einem Seitenblick auf den Marxismus verallgemeinert Pareto seinen gesellschaftskritischen Ansatz, wenn er über Theorien als Derivationen schreibt: „Sie plädieren mehr, als daß sie unparteiisch richten. Gefällt ihnen A, so muß gezeigt werden, daß alle Wirkungen von A nur ‚günstig‘ sein können; mißfällt ihnen A, ist zu zeigen, daß die Wirkungen ‚ungünstig‘ sind; ohne daß übrigens diese Ausdrücke günstig, ungünstig, wenigstens durch Angabe des Nutzens oder Schadens näher bestimmt würden.“ 44 Anscheinend schrieb Pareto diese Zeilen, ohne zu bedenken, dass sie nicht nur auf den Marxismus, sondern auch auf seine eigene Gesellschaftstheorie anwendbar sind. Ersetzt man in diesem Text A durch „Proletariat“, dann ist die erste Hälfte auf den Marxismus anwendbar, der die Handlungen des „Proletariats“ (je revolutionärer, desto besser) für „günstig“ hält; die zweite Hälfte kann aber auf Paretos eigenen Ansatz angewendet werden, in dem das Erstarken des „Proletariats“ und des Sozialismus als „ungünstig“ erscheint. Denn Pareto hat, wie sich gezeigt hat, kein Verständnis für das Emanzipationsstreben der Arbeiterklasse, sondern kann dieses nur einseitig als eine Bedrohung der liberal-kapitalistischen Ordnung betrachten, die (möglicherweise) nur Mussolini retten kann. Hier wird deutlich, dass Paretos Soziologie nichts mit einer „positiven“ Wissenschaft im Sinne von Comte oder mit einer „werturteilsfreien“ Wissenschaft im Sinne von Max Weber zu tun hat. Pareto ist zwar sehr bemüht, diese Soziologie im Anschluss an seine Wirtschaftswissenschaft und analog zu den Naturwissenschaften als positive und exakte Wissenschaft zu präsentieren, aber vor allem seine Theorie der Derivationen lässt die ideologische Einseitigkeit seiner Beobachtung und seiner Erzählung erkennen. Man meint Comte zu hören, wenn man in Paretos Artikel „L’economia e la sociologia dal punto di vista scientifico“ („Wirtschaft und Soziologie aus wissenschaftlicher Sicht“) liest: „Man muss die auf Gedankenassoziationen gründenden und aus Gefühlen hervorgehenden Argumente durch wissenschaftliche, auf Tatsachen basierende Argumente ersetzen.“ 45 Paretos Klassifikationen und Definitionen der Residuen und Derivationen haben indes gezeigt, dass sie zumindest teilweise auf fragwürdigen Konstruktionen gründen, die alles andere als reine Tatsachen bezeichnen: Die Existenz von „Residuen“ ist ebenso umstritten wie die des „Unbewussten“ Freuds. Sie ist 43 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 226. 44 Ibid., S. 240. 45 V. Pareto, „L’economia e la sociologia dal punto di vista scientifico“, in: ders., Scritti sociologici, op. cit., S. 395. <?page no="280"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 264 nicht mit der Existenz von „Proteinen“ oder „Laugen“, mit der von „Neutronen“ oder „Elektronen“ zu vergleichen. 46 Daher ist Maurizio Bach Recht zu geben, wenn er Paretos Soziologie zwischen Positivismus und Hermeneutik bzw. Wissenssoziologie ansiedelt und feststellt, Pareto habe die hermeneutisch-wissenssoziologischen Komponenten seiner Theorie gar nicht wahrgenommen und sei so einem positivistisch-szientistischen Selbstmissverständnis zum Opfer gefallen: „Damit vollzieht Pareto einen definitiven Bruch mit seinem erklärten Methodenverständnis: der methodologische Positivismus verwandelt sich gleichsam unter der Hand in eine originär hermeneutische Methodik.“ 47 Bach fügt hinzu: „Er begann schon das noch gänzlich jungfräuliche Terrain der Wissenssoziologie zu pflügen, als sein methodisches Credo noch einem weitgehend verdinglichten sozialen Tatsachenbegriff verpflichtet war.“ 48 Das Problem besteht darin, dass sich dieses positivistische Credo wie ein Schleier über die Ideologie des Autors legt und zugleich den Zugang zu seiner Theorie erschwert, weil es deren ideologische Beweggründe verdeckt. Diese Beweggründe, die zum Teil schon genannt wurden, muss man kennen, um die Elitentheorie Paretos zu verstehen. Während sich Marx von der proletarischen Revolution auch die Emanzipation der Intellektuellen und der Juden versprach, erhoffte sich Pareto von der Erneuerung und Kräftigung der bürgerlichen Elite in Italien eine Eindämmung oder gar Zurückdrängung dieser Revolution, von der er sich als liberaler Bourgeois bedroht fühlte. Von seinem Aktantenmodell, in dem die „Bourgeoisie“ als Subjekt- Aktant ihren Gegnern, den Antisubjekten „Proletariat“ und „Sozialismus“, gegenüber gestärkt werden soll, zeugen die folgenden Sätze aus einem Artikel über soziologische Theorien: „Für viele Bürger nimmt die Arbeit der Sozialisten subjektiv die Form einer Arbeit an, die darauf gerichtet ist, den 46 Vgl. G. Eisermann, Max Weber und Pareto. Dialog und Konfrontation, Tübingen, Mohr- Siebeck, 1989, S. 55, wo es im Zusammenhang mit Pareto und Weber heißt: „Soziologie ist demnach jeder die Tatsachen bloß wertend interpretierenden und nach irgendwelchen Werturteilsmaßstäben messenden Sozialphilosophie unversöhnlich entgegengesetzt (…).“ Hier sollte gezeigt werden, wie sehr Paretos Theorie noch der „Sozialphilosophie“ verhaftet bleibt. Vgl. auch: G. Eisermann, Vilfredo Pareto. Ein Klassiker der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1987, S. 69: „So begann sich Pareto bereits 1895 zu der Haltung durchzuringen, ‚wir wollen lediglich Tatsachen auseinandersetzen und aus ihnen Schlußfolgerungen ziehen‘ (…).“ „Tatsachen“ kommen jedoch stets als Konstruktionen in einer ideologisch-theoretischen Erzählung zustande, die selbst eine Konstruktion ist und keine Widerspiegelung der Wirklichkeit. Daher ist auch Paretos „metodologia della storia“ („historische Methodologie“), von der Giovanni Busino spricht, alles andere als eine „Methodologie“ im naturwissenschaftlichen Sinn. (G. Busino, „Introduzione“, in: V. Pareto, Scritti sociologici, op. cit., S. 76.) 47 M. Bach, Jenseits des rationalen Handelns, op. cit., S. 206. 48 Ibid., S. 225. <?page no="281"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 265 ‚sozialen Frieden‘, das ‚soziale Wohl‘, die ‚soziale Gerechtigkeit‘ und andere ähnliche ‚soziale‘ Dinge zu sichern. (…) Wenn diese Bürger wüßten, wo ihr Handeln hinführt, wären sie Helden und Märtyrer, aber da sie ihren eigenen Untergang betreiben, ohne es zu wissen, sind sie einfach töricht.“ 49 Von einer „positiven“ oder „wertfreien“ (Weber) Argumentation kann hier nicht die Rede sein: eher von einem ideologischen Prolog zur Elitentheorie. In dieser Theorie geht es auf ideologischer Ebene um die Stärkung der (scheinbar) versagenden bürgerlichen Elite; auf theoretischer Ebene um den Kerngedanken, dass der Klassenkampf in Wirklichkeit ein Kampf der Eliten ist, in dem es um die ständige Erneuerung der herrschenden Elite geht, die dadurch zustande kommt, dass eine vitale, aufstrebende Elite die an der Macht befindliche, zerfallende („dekadente“) Elite verdrängt. 50 In diesem Kontext ist die Tatsache wichtig, dass Pareto die herrschende (bürgerliche) Elite als Subjekt-Aktanten zu seinem Fokalisator macht: d.h. er beschreibt alle Entwicklungen von ihrer Warte aus. Dadurch dreht er die Marxsche Erzählperspektive um und gibt ihr eine reaktionäre Wende. Die Elite definiert Pareto als die Gruppe der Besten in einem bestimmten sozialen Bereich: „Bilden wir also eine Klasse aus den Menschen mit der höchsten Meßzahl in ihrem Tätigkeitszweige und geben dieser Klasse den Namen Elite.“ 51 Er unterscheidet eine regierende (politische) Elite von einer nichtregierenden, die in deren Umfeld agiert und sie mit Personal versorgt. 52 Dies bedeutet, dass die Elite nicht mit der Klasse identisch ist: Sie ist - als regierende und nichtregierende Elite - eine relativ kleine Gruppierung innerhalb der Klasse: des Bürgertums oder der Arbeiterklasse. Für die Struktur der Elitentheorie ist wieder das narrative Element entscheidend: Marxʼ Klassenkampferzählung wird dergestalt umgedeutet oder „umerzählt“, dass in Paretos Aktantenmodell die Bourgeoisie als Subjekt nicht dem Proletariat als Bevölkerungsmehrheit gegenübersteht, sondern dem Proletariat als neuer Elite und als Antisubjekt, als neuer „Aristokratie“. Der Sozialismus kündigt nicht die Auflösung aller Klassen in der „klassenlosen Gesellschaft“ an, sondern ermöglicht den Aufstieg einer neuen Elite, die aus der Arbeiterklasse hervorgeht: „Der Sozialismus erleichtert die Organisation der Eliten, die aus den unteren Klassen aufsteigen (…).“ 53 49 V. Pareto, „Eine Anwendungsform soziologischer Theorien“, in: ders., Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 120-121. 50 Vgl. V. Pareto, Les Systèmes socialistes. Bd. I: Cours professé à l’Université de Lausanne, Paris, Giard et Brière, 1902, S. 36. 51 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 247. 52 Vgl. ibid., S. 248. 53 V. Pareto, Les Systèmes socialistes, Bd. I, op. cit. S. 63. <?page no="282"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 266 Paretos neue Erzählung wird durch neue Relevanzkriterien und Klassifikationen ermöglicht. Anders als Marx, der den Gegensatz Bürgertum / Proletariat für relevant hält und zu zeigen versucht, wie Teile der bürgerlichen Mittelschicht allmählich verarmen und ins Proletariat absteigen, wodurch die proletarischen Massen weiter anschwellen und verelenden, relativiert Pareto diesen Gegensatz, indem er eine proletarische Elite von der restlichen Arbeiterschaft als Klasse absondert: „Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter sind den nichtorganisierten und nichtsozialistischen tatsächlich überlegen; sie stellen eine Elite dar.“ 54 Im Anschluss an diese Feststellung beschreibt Pareto die Arbeitskämpfe und sozialen Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft. Symmetrisch dazu hebt er die Heterogenität der bürgerlichen Elite hervor, deren abtrünnige Intellektuelle Partei für das Proletariat und gegen ihre eigene Klasse ergreifen - wodurch sie zu Helfern des Proletariats werden. Diese (soziologisch durchaus fruchtbare) neue Klassifizierung hat weitreichende Folgen für Paretos theoretische Erzählung: Der proletarischen Elite geht es nicht mehr um die Vernichtung des bürgerlichen Kapitals, sondern um wirtschaftliche und soziale Konzessionen und - mittelfristig - um die Aufnahme in die herrschende Elite oder um die Bildung einer neuen Elite. Die Bildung dieser neuen Elite wird durch die abtrünnigen sozialistischen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft begünstigt. Nichts - außer seiner Ideologie - hätte Pareto daran gehindert, im Rahmen seiner Elitentheorie für den Aufstieg der neuen, vitaleren Arbeiterelite zu plädieren, die seinen eigenen Ausführungen zufolge für die historische Dynamik der „Zirkulation“ sorgte. Auf dieser Ebene folgte er jedoch dem ideologischen Impuls, ergriff Partei für sein liberales Bürgertum - und nahm lieber eine theoretische Ungereimtheit in Kauf. Denn seine Theorie besagt, dass eine vitalere, aufstrebende Elite die herrschende, aber schon verbrauchte Elite von der Macht verdrängt - ja verdrängen soll. Warum sollte diese Rolle nicht der neuen Arbeiterelite zufallen? Damit ist die Zirkulation der Eliten in großen Zügen beschrieben. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, welche Rolle Paretos „Residuen“ und „Derivationen“ in dieser Kreisbewegung spielen. In seinen Darstellungen der „Zirkulation“ beruft sich Pareto fast ausschließlich auf die ersten beiden Kategorien der „Residuen“: „Instinkt der Kombinationen“ (Klasse I) und „Persistenz der Aggregate“ (II). Aus seiner Sicht sind beide Kategorien für den Machterhalt einer Elite wesentlich, und es hängt von der gesellschaftlichen Situation ab, welche dieser Fähigkeiten gebraucht werden und zum Tragen kommen. 54 Ibid., Bd. II, S. 423. <?page no="283"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 267 Pareto beschreibt eine Situation, in der die herrschende Elite ihre Macht eher durch den Kombinationsinstinkt als durch die „Persistenz der Aggregate“ erhalten kann: „Auf diese Weise festigen sich die Residuen des Kombinationsinstinkts (Klasse I) in der regierenden Schicht und schwächen sich die der Persistenz der Aggregate (Klasse II). Denn erstere taugen eben dazu, die Kunst des Zweckmäßigen zu üben, einfallsreiche Kombinationen zum Ersatz offenen Widerstandes zu entdecken, während die Residuen der Klasse II gerade zu diesem offenen Widerstande treiben und ein starkes Gefühl für die Persistenz der Aggregate die Biegsamkeit vermindert.“ 55 Pareto entwickelt hier eine Theorie der Modalitäten (Greimas), mit denen Eliten als kollektive Aktanten ausgestattet sein können: Während die Modalität der Kombination Flexibilität und Geschick beinhaltet, bietet die Modalität der Persistenz eine Gewähr für Kontinuität, Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit. Eine herrschende Elite überlebt am ehesten, wenn sie aufgrund ihrer Zusammensetzung zum rechten Zeitpunkt die richtige, d.h. von der sozialen und politischen Situation erforderte Modalität aktivieren kann. Zugleich muss sie die den beiden Residuen entsprechenden Derivationen einsetzen, die ihre Vorgehensweisen rechtfertigen: Geht sie „kombinierend“ vor, setzt sie Derivationen wie „Solidarität“, „Humanität“, „soziale Gerechtigkeit“ ein; geht sie „konsequent-persistent“ vor, beruft sie sich auf „Traditionen“, „Ideale“ oder „Recht und Ordnung“. Als Machiavelli-Leser assoziiert Pareto die Kombinationsfähigkeit mit der Schläue des Fuchses, die Persistenz mit dem Mut des Löwen. Die einschlägige Passage bei Machiavelli lautet: „Da also ein Fürst imstande sein muß, die Natur eines Tieres anzunehmen, so muß er sich den Fuchs und den Löwen aussuchen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen, der Fuchs gegen Wölfe. Man muß also Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und Löwe, um die Wölfe zu schrecken.“ 56 Im Anschluss daran, heißt es in Paretos Darstellung der Situation, in der eher Kombinationsinstinkte vonnöten sind: „Um Gewalt zu verhindern oder ihr zu widerstehen, nimmt die regierende Klasse ihre Zuflucht zu List, Betrug und Bestechung, wird mit einem Wort aus einem Löwen zu einem Fuchs.“ 57 Allerdings machte Pareto nie ein Hehl daraus, dass er es gern sähe, wenn die Nachfolger des schlau taktierenden Giolitti sich wieder mehr vom Löweninstinkt leiten ließen, den er bei der regierenden italienischen Elite vermisste und bei den immer selbstbewusster auftretenden Sozialisten (später den Faschisten) bewunderte. 58 Dies mag einer der Gründe sein, 55 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 270. 56 N. Machiavelli, Der Fürst, Stuttgart, Reclam, 1961, S. 104. 57 V. Pareto, Allgemeine Soziologie, op. cit., S. 269. 58 Etwas einseitig beschreibt Richard Münch den Übergang von der „Persistenz der Aggregate“ zum „Residuum der Kombination“: „Mit der Ersetzung des Residuums der <?page no="284"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 268 warum er Mussolini mit Sympathie beobachtete. (Es fragt sich, wie er auf Mussolinis strategisch desaströse Feldzüge gegen Albanien, Griechenland und Äthiopien [Abessinien] reagiert hätte: Dem wild gewordenen Löwen fehlte jeglicher „Kombinationssinn“ - vor allem der geopolitische.) Machiavellis und Paretos Vergleiche der Herrschenden mit Tieren auf der Ebene der Modalitäten haben nicht nur anekdotischen, sondern auch symptomatischen Charakter im Sinne von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung: Um inmitten von Naturbeherrschung, Unterdrückung und politischer Taktik zu überleben, passt sich der Mensch blinder Naturwüchsigkeit an und verfällt dem Teufelskreis der Zirkulation. Er muss, wie Machiavelli sagt, „die Natur eines Tieres annehmen“. 59 Gerade diese irrationale Anpassung an die Naturgewalten will die Kritische Theorie vermeiden, indem sie menschliche Vernunft durch Mimesis - oder Dialogizität - aus der Naturwüchsigkeit hinausführt. Marx schwebte zwar eine andere, praxisorientierte Rationalität vor; aber auch er setzte sich für eine Vernunft ein, die das Herrschaftsprinzip auflöst und eine andere, menschlichere Art von Gesellschaft ermöglicht. Im Gegensatz dazu halten Pareto und Mosca an einer rationalistischen, rein instrumentellen Vernunft im Sinne der Dialektik der Aufklärung fest und kehren mit ihrer zyklischen Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung, deren kollektive Protagonisten die erstarkenden oder zerfallenden Eliten sind, zu der trostlosen Diagnose Machiavellis und Hobbes’ zurück: es könne nie anders werden, weil die menschliche Natur nun einmal so beschaffen sei. Ihre Ideologie ist nicht so sehr in ihren einzelnen Aussagen zu suchen, sondern in der Struktur ihrer Diskurse. Persistenz durch das Residuum der Kombination beginnen der Glaube an die Ideale und die Verpflichtung auf gemeinsame Ziele sowie auf die Gruppe dahinzuschwinden.“ (R. Münch, „Die italienische Tradition des Machiavellismus. Vilfredo Pareto“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. I: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 253.) Diese implizite Aufwertung der „Persistenz“ der „Kombination“ gegenüber entspricht nicht Paretos Vorstellungen. Er sah es so ähnlich wie Aristoteles, in dessen Philosophie jede gute Eigenschaft von einem negativen Extrem begleitet wird: etwa Sparsamkeit von Geiz, Freigiebigkeit von Verschwendungssucht usw. Die „Kombination“, die von Flexibilität zeugt, kann auch in Charakterschwäche und Orientierungslosigkeit (Opportunismus) ausarten; die „Persistenz“, die von Charakterstärke und Standfestigkeit zeugt, kann durchaus in Sturheit und Unbeweglichkeit abgleiten. 59 Vgl. F. Gilbert, Machiavelli e Guicciardini. Pensiero politico e storiografia a Firenze nel Cinquecento, Turin, Einaudi, 1970, S. 136: „Aber Machiavelli wusste, dass politisches Handeln, das nur auf der Vernunft gründete, seine Grenzen hatte.“ Hier fehlt der Gedanke, dass Machiavellis Vernunftbegriff begrenzt war: Er bezeichnete ausschließlich die instrumentelle, auf das Hic et Nunc gerichtete Vernunft. Ähnliches ließe sich von Pareto sagen. <?page no="285"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 269 3. Mosca als Vorläufer und Überwinder von Paretos Soziologie: „Politische Formel“, „juristischer Schutz“, „Gleichgewicht der Kräfte“ Wie bereits angedeutet, wurde hier Paretos Soziologie vor der Moscas kommentiert, weil Pareto eine umfassende, systematische Handlungstheorie entwickelt, die er mit seiner Elitentheorie verknüpft. Es sollte gezeigt werden, dass seine soziologische Theorie nicht nur als Replik auf den Marxismus, sondern auch als Soziologie des sozialen Handelns und der Herrschaftsformen wichtig ist. Zugleich wurde angedeutet, dass Pareto seine Elitentheorie auf der Grundlage von Moscas Theorie der „herrschenden Klasse“ entwickelt hat. Dazu bemerkt Mosca selbst, dass Pareto zu seiner Auffassung der Elite „im Anschluss an seine Kenntnis meiner politischen Klasse, d.h. der Begrifflichkeit, die ich nicht nur vorgetragen, sondern auch ausführlich in meinem Buch Elementi di Scienza Politica und sogar in früheren Arbeiten entwickelt habe“ 60 , gelangt ist. Liest man Ettore A. Albertonis Entstehungsgeschichte von Moscas Hauptwerk - Elementi di scienza politica (1895, dt. Die herrschende Klasse, 1950) - und berücksichtigt zugleich die Reihenfolge der Publikationen 61 , so kommt man zu dem Schluss, dass Moscas Ausführungen glaubwürdig sind. Im Zusammenhang mit diesem Werk erscheint Paretos Soziologie der Eliten in einem neuen Licht und wird im Kontext ihrer Zeit besser verstanden. Die Kernthese von Moscas Buch Die herrschende Klasse lautet: „In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird.“ 62 Diese These ist den hier kommentierten vier Autoren - Pareto, Mosca, C. Wright Mills und Robert Michels - gemeinsam. Sie erinnert zwar an die Klassentheorie von Marx, unterscheidet sich jedoch radikal von ihr dadurch, dass die hier genannten Theoretiker der Elite implizit und explizit behaupten, die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit könne niemals abgeschafft werden. Allerdings unterscheidet sich Moscas Elitentheorie in mancher Hinsicht von der Paretos: 1. Ausführlicher als Pareto geht Mosca auf die organisatorischen Aspekte der Elitenbildung ein (vor allem auf dieser Ebene beeinflusst er Michels). 2. Er zeigt, dass jede Elitenherrschaft (d.h. die Herrschaft einer „politischen Klasse“) auf einer diese Herrschaft legitimierenden 60 G. Mosca zit. nach: E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 49. 61 Paretos Werk Les Systèmes socialistes (2 Bde.) erschien 1902 in Paris, und sein soziologisches Hauptwerk Trattato di sociologia generale (3 Bde.), von dem hier die deutsche Teilübersetzung (Allgemeine Soziologie) verwendet wird, erschien 1916 in Mailand - beide einschlägigen Werke also eindeutig nach Moscas Elementi (1895). 62 G. Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, Bern, Francke, 1950, S. 53. <?page no="286"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 270 Formel (formula politica) gründet: z.B. „Gottesgnadentum“ oder „Volkssouveränität“. 3. Anders als Pareto legt der liberale Mosca den allergrößten Wert auf Rechtsstaatlichkeit und auf das, was er als juristischen Schutz (difesa giuridica) bezeichnet. 4. In diesem Kontext betont er auch die Notwendigkeit eines Mächtepluralismus (pluralità di forze) im Sinnes eines juristisch-politischen Systems von checks and balances. Insgesamt kann behauptet werden, dass er nicht nur ein Vorläufer Paretos ist, sondern auch über Pareto hinausgeht, weil er versucht, die Elitenherrschaft rechtsstaatlich zu begründen. Bei allen diesen Punkten ist jedoch zu berücksichtigen, dass Moscas Liberalismus keine demokratisch-parlamentarische Gesinnung einschließt: Mosca stand sowohl der Demokratie als auch dem Mehrparteiensystem skeptisch gegenüber. Zu Recht stellt Albertoni lapidar fest: „(…) Mosca ist ein nichtdemokratischer und konservativer Liberaler.“ 63 Dies ist wohl der Hauptgrund, warum er - wie Pareto - die Elite zum Fokalisator seiner theoretischen Erzählung macht: Auch er betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung aus der Sicht der Herrschenden. Moscas Überlegungen zu den organisatorischen Aspekten von Herrschaft und Verwaltung sind quantitativ-qualitativer Art. Das Kernargument, mit dem er eine der Schwachstellen der Marxschen Lehre trifft, lautet, dass nur eine relativ kleine, straff organisierte Minderheit aufgrund ihrer Homogenität in der Lage ist, Macht auszuüben und eine Gesellschaft effizient zu verwalten. Die unorganisierte Bevölkerungsmehrheit ist außerstande, diese Aufgabe zu bewältigen. Schon im zweiten Kapitel seines Buches Die herrschende Klasse schneidet Mosca dieses organisatorische Problem an: „Andererseits ist die Minderheit einfach darum organisiert, weil sie die Minderheit ist. Hundert Menschen, die gemeinsam nach gemeinsamen Plänen handeln, werden tausend Menschen besiegen, die nicht übereinstimmen und mit denen man darum nacheinander einzeln fertig werden kann.“ 64 Immer wieder beruft sich Mosca in seinen Analysen des Minderheit- Mehrheit-Verhältnisses auf Saint-Simon und Comte, die er als seine Vorläufer betrachtet. Im fünften Kapitel hat sich gezeigt, wie sehr Saint-Simon die Führungsrolle der Industriellen betont, die seiner Meinung nach die Modernisierung der Gesellschaft vorantreiben sollten. Zu Saint-Simon bemerkt Mosca: „Schließlich hat Saint-Simon vor mehr als hundert Jahren die Hauptlinien unserer Theorie deutlich genug dargelegt.“ 65 Allerdings vergisst er hinzuzufügen, dass vor allem dem späteren Saint-Simon ein Bündnis zwischen den Industriellen und den Arbeitern vorschwebt (weshalb er 63 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 285. 64 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 55. 65 Ibid., S. 271. <?page no="287"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 271 in Marxʼ Das Kapital teils lobend, teils kritisch erwähnt wird). 66 Von diesem Bündnis will der konservative Mosca freilich nichts wissen. Entsprechend einseitig ist sein Comte-Verständnis: „Auguste Comte war ein geistiger Sohn von Saint-Simon. In seinem Système de politique positive ou de sociologie entwickelte er in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewisse Ideen seines Meisters weiter. Er behauptete, daß die Leitung der Gesellschaft in die Hände einer wissenschaftlichen Aristokratie übergehen müsse, die er ‚wissenschaftliche Priesterschaft‘ nannte.“ 67 In dieser Darstellung wird die Tatsache übergangen, dass bei Comte der Gruppe der Wissenschaftler eine ausschließlich beratende Funktion zufällt und dass die die neue (positive) Gesellschaft führenden Industriellen auch von den Proletariern und den Frauen (als Helfern) unterstützt werden sollen (vgl. Kap. V). Hier wird deutlich, wie sehr das ideologische (hier: konservative) Engagement eines Autors (vgl. Kap. I. 1) seine Relevanzkriterien, Selektionen und Unterschlagungen mitbestimmt. Denn eines der (ideologischen) Ziele seines Diskurses ist es, den Nachweis zu erbringen, „daß auch ein demokratisches Regime nicht die Führung durch eine organisierte Minderheit entbehren kann“ 68 und dass folglich „die Notwendigkeit einer herrschenden Klasse“ 69 auf der Hand liegt. Es zählt sicherlich zu Moscas Verdiensten, auf die Legitimationsprobleme herrschender Eliten hingewiesen zu haben. Herrschaft, meint er, sei labil geschichtet, wenn sie von der Mehrheit eines Volkes nicht als legitim erfahren wird. Seine Frage lautet, wie in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Situation die Herrschaft einer Elite als Minderheit legitimiert werden kann. Seine Antwort mündet in die historische Analyse einer Legitimationsproblematik, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft wandelt. Von diesem Wandel unberührt bleibt die Tatsache, dass es sich in allen Fällen um eine politische Formel handelt, die Herrschaft als legitime Herrschaft begründet. Mosca unterscheidet zwei Typen (Max Weber würde sagen: „Idealtypen“: vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII) von „Formeln“: Die erste hat einen traditionalistischen und idealistischen Charakter, weil sie die Machtbefugnisse eines Souveräns (Königs, Fürsten) von der göttlichen Allmacht ableitet; die andere ist weltlicher Art und gründet - scheinbar rational - auf dem „Willen des Volkes“ (das in der „Formel“ freilich zu einem mythischen Aktanten wird). 66 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Bd. III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (Hrsg. F. Engels), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1971, S. 572-573. 67 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 271-272. 68 Ibid., S. 272. 69 Ibid., S. 273. <?page no="288"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 272 Mosca zeigt, wie lange sich die Formel „Gottesgnadentum“ in Frankreich bewährte: „In Wirklichkeit leistete das Gottesgnadentum, das nach Saint- Simon seit einem Jahrhundert tot und begraben war, noch nach dem Tode Saint-Simons im Jahre 1830, unter Karl X. und unter Polignac, in Frankreich Widerstand.“ 70 Dem wäre hinzuzufügen, dass dem „Gottesgnadentum“ im Spanien des 20. Jahrhunderts ein noch viel längeres Leben beschieden war. Während des Franco-Regimes war auf allen Peseta-Münzen zu lesen: „Francisco Franco Caudillo de España por la Gracia de Dios“. Erst nach Franco hat sich die säkularisierte Formel der „Volkssouveränität“ durchgesetzt. Vom Legitimationsproblem ist das Problem der Rechtssicherheit ableitbar. Denn letztere ist nur dann gegeben, wenn im Rahmen einer bestimmten, allgemein anerkannten Legitimität Gesetze den Einzelnen und die Gruppe vor Willkür und Übergriffen schützen. Bei Burnham findet sich eine sehr brauchbare Definition des juristischen Schutzes (difesa giuridica) im Sinne von Mosca: „Der Begriff ‚juristischer Schutz‘ bedeutet also gesetzmäßige Regierung und rechtmäßiges Verfahren (…), er bedeutet eine Anzahl unpersönlicher Beschränkungen für die Machthaber und entsprechend eine Anzahl schützender Maßnahmen für die Einzelnen gegen Staat und Machthaber.“ 71 Albertoni konkretisiert die Begriffsbestimmung (durchaus im Sinne von Mosca), wenn er die Geltung des „juristischen Schutzes“ auf alle beteiligten Akteure ausdehnt: auch auf „Einzelpersonen und soziale Gruppen“ 72 - denn auch die Regierung braucht Rechtssicherheit, um planen und handeln zu können. Den „juristischen Schutz“ ergänzt bei Mosca das Gleichgewicht der sozialen und politischen Kräfte. Auf dieser Ebene lautet Moscas liberales Argument: Nur in einem Rechtsstaat, in dem verschiedene politische Kräfte einander die Waage halten, kann es individuelle und kollektive Freiheit (der Meinungsäußerung, des Handelns) geben. „Darum“, schließt Mosca, „sollte es immer eine Vielheit politischer Kräfte und eine Mehrzahl von Wegen zu Macht und Einfluß geben, und alle politischen Kräfte sollten an der Staatsleitung beteiligt sein.“ 73 Auf nahezu prophetische Art warnt er vor der Monopolisierung der Macht in Kollektivismus und Kommunismus. Seine Auseinandersetzungen mit Mussolini, die Albertoni in allen Einzelheiten schildert 74 , zeugen von seinem Engagement für das parlamentarische System, dessen Untergang er verhindern wollte. Insofern kann er auf keinen 70 Ibid., S. 275. 71 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 128. 72 E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 385. 73 G. Mosca, Die herrschende Klasse, op. cit., S. 241. 74 Vgl. E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 195-196. <?page no="289"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 273 Fall als Ideologe des Totalitarismus (eines stato totalitario im Sinne des Faschismus) betrachtet werden: eher als Theoretiker der Rechtsstaatlichkeit. Seine Auffassung des Elitenkreislaufs erinnert zwar an die Paretos, gründet aber auf der Anwesenheit einer Vielfalt politischer Kräfte. Um ihre Energien zu erneuern und ihre Macht zu erhalten, ist die herrschende Elite gut beraten, sich den Unterschichten zu öffnen, statt sich abzuschotten, denn: „Eine herrschende Klasse verfällt desto leichter in solche Irrtümer, je mehr sie sich gegen aufsteigende Elemente aus der Unterklasse faktisch, wenn auch nicht immer gesetzlich, abschließt.“ 75 Mosca mag kein überzeugter Demokrat gewesen sein, aber er wusste, dass soziale Mobilität im Sinne einer Öffnung der Elite nach „unten“ hin für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich ist. Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang Michael Hartmann in seiner Elitesoziologie von der „wechselseitigen Durchdringung eines Teils der Unterschicht mit der Oberschicht“. 76 Moscas und Paretos Elitentheorien überschneiden sich in wesentlichen Punkten, vor allem, was die Dynamik der Eliten und ihre Erneuerung durch vertikale Mobilität angeht. Mosca geht als Jurist insofern über Pareto hinaus, als er viel stärker die Legitimationsprobleme und den juristischen Kontext der Machtausübung berücksichtigt. Denn der Zerfall einer Elite kann auch damit zusammenhängen, dass die politische Formel (z.B. das „Gottesgnadentum“ im Frankreich des 19. Jahrhunderts) ausgedient hat, oder damit, dass der juristische Schutz nicht mehr gegeben ist (wie in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Somit besteht Moscas Verdienst darin, nicht nur einen ersten Entwurf der Elitentheorie vorgelegt, sondern diese Theorie auch juristisch untermauert zu haben. 4. C. Wright Mills ʼ Antwort auf Mosca und Pareto: Eine Nuancierung der Elitentheorie Der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1916-1962) kannte sowohl Paretos als auch Moscas Elitentheorien, und sein Buch The Power Elite (1956, dt. Die amerikanische Elite, 1962) kann in mancher Hinsicht als eine Replik auf die beiden italienischen Soziologen gelesen werden. Es ist insofern eine gesellschaftskritische Replik, eine Replik von „links“, als Mills, der als „führender Vertreter einer kritischen Soziologie in Amerika“ 77 gilt, weder glaubt, dass Elitenherrschaft historisches Schicksal ist, noch (wie Pareto) zur Feder greift, um eine aufkommende Elite zu ermutigen oder zu stärken. Im Gegenteil, er warnt in den Fünfzigerjahren vor der Entstehung 75 G. Mosca, Die Herrschende Klasse, op. cit., S. 105. 76 M. Hartmann, Elitesoziologie. Eine Einführung, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 24. 77 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 571. <?page no="290"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 274 einer mehrschichtigen Machtelite (power elite), die in den USA sowohl das Gleichgewicht der Kräfte als auch die Demokratie gefährden könnte. Auch hier wird deutlich, dass ein Begriff wie „Elite“ verschiedene Bedeutungen annehmen kann und dass diese Bedeutungen von den ideologisch-theoretischen Diskursen abhängen, die sich seiner bemächtigen. Mills verwendet den Begriff zwar durchaus im Sinne von Mosca und Pareto 78 , setzt ihn aber in einer anderen Erzählung der Gesellschaft ein: in einer Erzählung, in der der negativ konnotierte Aktant „Elite“ dem positiv konnotierten Aktanten „Demokratie“ gegenübersteht und in der es um die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft (als Objekt-Aktant) geht. Die diskursive (aktantielle) Umfunktionierung des Elitebegriffs hindert Mills jedoch nicht daran, wesentliche Komponenten dieses Begriffs von Mosca zu übernehmen. In The Sociological Imagination bestätigt er die von Mosca diagnostizierte Tatsache, dass die Bildung einer organisierten Minderheit oder Elite, die über eine unorganisierte Mehrheit herrscht, nicht zu vermeiden ist. Zur Bedeutung des Wortes „organisiert“ bemerkt Mills: „I think Mosca means: capable of more or less continuous and coordinated policies and actions. If so, his thesis is right by definition.“ 79 Im Anschluss an diese Überlegungen und Paretos Elitentheorie unterscheidet Mills eine „regierende“ von einer „nichtregierenden“ Elite und versucht, in The Power Elite zu zeigen, wie es in der Nachkriegsgesellschaft der USA zur Entstehung einer „Machtelite“ kam. Der Kontext, in dem er diese Entstehung schildert, ist in einer Hinsicht mit dem sozialen Kontext vergleichbar, den Pareto und Mosca beschreiben: In beiden Fällen beobachten die Soziologen den Niedergang des freiberuflichen, liberalen Bürgertums und die seit 1900 sich beschleunigende Macht der international agierenden Großkonzerne, denen in Italien erstarkende Gewerkschaften entgegentreten, die allerdings mit den relativ schwachen und vom Staat gegängelten Gewerkschaften der USA kaum zu vergleichen sind. Zu den wichtigsten Beobachtungen Millsʼ gehört die nach dem Zweiten Weltkrieg und in der ersten Phase des „Kalten Krieges“ rasant zunehmende Macht der Großkonzerne und des Militärs. Im Anschluss an diese Beobachtung lautet seine These: Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es in den USA zur Bildung einer Machtelite, in der die Vertreter einer von Wirtschaftsballungen geprägten Konzernwirtschaft, die durch den „Kalten Krieg“ gestärkten Militärs und einflussreiche Politiker das Sagen haben. 78 Vgl. T. B. Bottomore, Elites and Society, Harmondsworth, Penguin-Pelican (1964), 1966, S. 33. 79 C. W. Mills, The Sociological Imagination, Harmondsworth, Penguin (1959), 1980, S. 224. <?page no="291"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 275 Hier ist Millsʼ eigene Definition im Original: „By the power elite, we refer to those political, economic, and military circles which as an intricate set of overlapping cliques share decisions having at least national consequences. Insofar as national events are decided, the power elite are those who decide them.“ 80 („Wir wollen deshalb […] die Macht-Elite ganz grob als diejenigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen umschreiben, die als kompliziertes Gebilde einander überschneidender Kreise an allen Entscheidungen von zumindest nationaler, wenn nicht internationaler Tragweite teilhaben. Wenn Entscheidungen von solcher Tragweite gefällt werden, ist also jedesmal die Macht-Elite im Spiel.“) 81 Mills geht in dreierlei Hinsicht über Pareto und Mosca hinaus: 1. Er zeigt auf soziologischer Ebene und mit Hilfe soziologischer Terminologie, wie diese Elite konkret entsteht, 2. wie sie zusammengesetzt ist und 3. welche Position sie im gesamtgesellschaftlichen Umfeld einnimmt. Wie entsteht die power elite? Zunächst durch enge Kontakte, durch „face-to-face milieux“ der Angehörigen der Oberschicht, sagt Mills 82 , deren wirtschaftliche, finanzielle und soziale Stellung es ihnen ermöglicht, die besten Schulen und Universitäten der USA zu besuchen. Dadurch kommt es zu einer gemeinsamen Sozialisation auch in Klubs und anderen Einrichtungen: „Diese Familien gehören Klubs und Vereinigungen an, zu denen nur sie und ihresgleichen Zutritt haben, und nehmen das gesellschaftliche Leben sehr Ernst.“ 83 Mills stützt seine Untersuchungen u.a. auch auf das amerikanische Social Register, in dem die wichtigsten und einflussreichsten Familien der USA eingetragen sind. Er kommt zu dem Schluss, dass in diesem Nachschlagewerk vor allem CEOs (Chief Executive Officers) großer Konzerne, hohe Militärs und erst an dritter Stelle Großstadtpolitiker prominente Positionen einnehmen. Mills spricht von einem „Eindringen der Großindustriellen in die politische Führung“ 84 : von einer Entwicklung also, die mittelfristig die Berufspolitiker im Kongress auf die mittlere Machtebene abgleiten lässt. In der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wirklichkeit interagieren die drei Gruppen der power elite regelmäßig und bilden aufgrund von Sozialisation und Interaktion eine homogene Gruppe, die als organisierte Einheit im Sinne von Mosca die eigentliche Macht in der Gesellschaft ausübt. 80 C. W. Mills, The Power Elite, Oxford, Univ. Press (1956), 2000 (Neuausgabe), S. 18. 81 C. W. Mills, Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg, Holstein-Verlag, 1962, S. 33. 82 C. W. Mills, The Power Elite, op. cit., S. 15. (Die amerikanische Elite, op. cit., S. 30. Hier fehlt der Ausdruck „face-to-face“.) 83 C. W. Mills, Die amerikanische Elite, op. cit., S. 76. 84 Ibid., S. 306. <?page no="292"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 276 Ihr gegenüber steht eine relativ heterogene und schwach organisierte Mittelklasse, die zwar auch aktiv am politischen Leben teilnimmt, es aber wegen ihrer Heterogenität nicht mit der power elite aufnehmen kann: „Die Spitze des amerikanischen Machtsystems ist viel geeinter und mächtiger, die unterste Ebene weit zersplitterter und in Wahrheit auch machtloser (…).“ 85 Die wichtigste Folge ist, dass die offizielle demokratische Politik, die sich in den Provinzparlamenten, im Washingtoner Kongress und im Senat abspielt, immer mehr zu einer Fassade verkommt, hinter der die eigentlichen Machtspiele stattfinden und die national und international bedeutenden Entscheidungen fallen. Einer der Gründe, warum Millsʼ The Power Elite in den 50er und 60er Jahren so einflussreich war, ist wohl in seiner - in den USA umstrittenen - Behauptung zu suchen, dass die reichen und einflussreichen Gruppierungen Amerikas die Gesetze ihres Landes nach Bedarf manipulieren, um ihre Macht zu erhalten und nach Möglichkeit auszudehnen: „Die Multimillionäre haben sich bestehender Gesetze bedient, haben andere Gesetze umgangen oder verletzt, andere Gesetze wiederum eigens für ihre Zwecke verabschieden lassen.” 86 Dies bedeutet nicht nur, dass die exekutive Gewalt der legislativen und der judikativen gegenüber nachhaltig gestärkt wird, sondern auch, dass das demokratische System zumindest tendenziell außer Kraft gesetzt wird, weil eine mächtige Gruppierung sich über die Tätigkeiten aller gesetzgebenden Versammlungen und die gesamte Rechtsprechung hinwegsetzen kann. Millsʼ Befund fasst Michael Hartmann als Erzählsequenz in zwei Sätzen zusammen: „Insgesamt, so Millsʼ Resümee, weise die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft eine klare Dreiteilung auf. An ihrer Spitze sei eine ‚echte Macht-Elite‘ entstanden, die mittlere Ebene bestehe ‚aus einem System hilflos treibender, sich gegenseitig aufhebender Kräfte‘, das die untere nicht mehr mit der höchsten Ebene verbinden könne, und die untere Ebene sei politisch zersplittert und versinke in ‚absoluter Machtlosigkeit‘.“ 87 Dieses Szenario ist das genaue Gegenteil von dem, was sich Mosca unter „Machtpluralismus“ oder „pluralità di forze“ 88 vorstellte: ein Gesellschaftssystem, in dem verschiedene Institutionen (exekutive, legislative, judikative Gewalt), Gruppierungen und Bewegungen einander die Waage halten und einander daran hindern, ein Machtmonopol aufzubauen. Die von Mills beschriebene und zugleich kritisierte power elite stellt ein solches Machtmonopol dar. 85 Ibid., S. 45. 86 Ibid., S. 122. 87 M. Hartmann, Elitesoziologie, op. cit., S. 83-84. 88 G. Mosca, in: E. A. Albertoni, Gaetano Mosca, op. cit., S. 375. <?page no="293"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 277 Millsʼ Analyse enthält ein besonders zeitgemäßes Element: die Auswirkungen der Medien (damals vor allem Zeitungen) auf die Massengesellschaft. Im Anschluss an David Riesmans Buch The Lonely Crowd (1950) beschreibt Mills den Niedergang der liberalen Mittelschicht und ihres Individualismus sowie die damit einhergehende Isolierung und Schwächung des Einzelnen, der beginnt, sich an den anderen und der medial vermittelten Mode zu orientieren, statt autonom zu handeln. Die power elite macht sich diese Situation in ihrem Streben nach Machterhaltung und Machtausdehnung immer mehr zunutze. Zu der Entstehung einer medialen Massengesellschaft bemerkt Mills: „(…) In einer Massengesellschaft gibt es erstens viel weniger Personen, die einer Meinung Ausdruck geben, als Personen, die eine fertige Meinung beziehen. Das Gemeinwesen von Öffentlichkeiten wird zu einer abstrakten Summe von Einzelpersonen, die ihre Eindrücke nur von Massenkommunikationsmitteln empfangen (…).“ 89 Der folgende Satz ist hochaktuell: „Ganze Berufsgruppen sind in das Geschäft der ‚Meinungsmache‘ eingestiegen und manipulieren die Öffentlichkeit gegen Bezahlung nach dem Willen ihrer Geldgeber.“ 90 Die power elite versteht es, sich diese Berufe und Industrien gefügig zu machen, so dass die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Es mag deutlich geworden sein, dass Mills Paretos und Moscas Erzählperspektive umkehrt, indem er nicht die Elite, sondern die Demokratie zu seinem Fokalisator macht. Er betrachtet die gesellschaftliche Entwicklung nicht aus der Sicht der (entstehenden, erstarkenden) Elite, sondern aus der Sicht einer im Zeitalter der Großkonzerne gefährdeten Demokratie. Hier wird deutlich, wie sehr das ideologisch-theoretische Engagement mit dem Standort des Erzählers-Beobachters und mit der Struktur der theoretischen Erzählung zusammenhängt. Zum Abschluss stellt sich die Frage, wie aktuell Millsʼ Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch sind. In seinem Nachwort zu Millsʼ Buch (2000) wendet Alan Wolfe zu Recht ein, dass Mills Hypothesen, denen zufolge die Macht des Militärs stetig wachsen würde, während die beiden großen Parteien - Demokraten und Republikaner - einander ideologisch immer ähnlicher würden, von den Ereignissen widerlegt wurden. Das Ende des „Kalten Krieges“, das Mills nicht voraussehen konnte, brachte eine Kürzung der Rüstungsausgaben und eine Schwächung der militärischen Lobby mit sich; zugleich kam es jedoch zu einer ideologischen Polarisierung der politischen Parteien - wie die letzten Präsidentschaftswahlen zeigen. 89 C. W. Mills, Die amerikanische Elite, op. cit., S. 342. 90 Ibid., S. 343. <?page no="294"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 278 In einem wesentlichen Punkt gibt Wolfe Mills jedoch Recht: „There can be little doubt that those who hold the highest positions in America’s corporate hierarchy remain, as they did in Mills’s day, the most powerful Americans.” 91 Dieses Fazit bestätigt die Vermutung, dass Eliten als power elites in der heutigen Zeit eher wirtschaftlich als politisch oder gar kulturell geprägt sind. 5. Michels und das „eherne Gesetz der Oligarchie“ Robert Michels wurde 1876 in Köln geboren und starb 1936 in Rom. Er war an verschiedenen Universitäten in Belgien, Frankreich, der Schweiz, den USA und schließlich in Italien tätig, wo er sich als Wahlitaliener (italienischer Staatsbürger seit 1913) niederließ. 1927 wurde ihm als Mitglied der faschistischen Partei ein Lehrstuhl an der Universität Perugia angeboten. Die ideologische Entwicklung des deutsch-italienischen Soziologen fasst Werner Conze im Zusammenhang mit dessen bekanntestem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens (1911, 1925) in aller Knappheit zusammen: „So steht die Parteisoziologie von 1911 und 1925 mitten auf dem Wege vom Wunsch nach der idealen, sozialistisch verstandenen Demokratie bis zur Absage an eben diese Demokratie mit Konsequenzen, die unmittelbar zum Faschismus führen oder diesen mindestens in der geschichtlichen Relativität der Verfassungslösungen als sinnvoll erscheinen lassen.“ 92 Anders ausgedrückt, Michels gehört zu jenen abtrünnigen bürgerlichen Intellektuellen, deren Werdegang Pareto und Mosca häufig beschreiben: Sie wenden sich von ihrer Herkunftsklasse, dem geschwächten Bürgertum, ab, um sich als Arbeiterführer für den Aufstieg einer neuen (sozialistischen) Elite einzusetzen. Michels machte jedoch die Erfahrung, dass die neue Elite um nichts demokratischer war als die alte, weil ihre Organisationen noch stärker als die der alten Elite zur Erstarrung in Oligarchien neigten. Er kehrte deshalb zu der faschistisch neuorganisierten italienischen Bourgeoisie zurück. Die soziologischen Prämissen und Prinzipien, von denen er ausgeht, stimmen weitgehend mit denen Paretos und Moscas überein: 1. In jeder Gesellschaft herrschen organisierte Minderheiten über nichtorganisierte Mehrheiten. 2. Organisation ist ohne effiziente Aufgabenteilung oder Differenzierung aufgrund von Bildung und Ausbildung nicht möglich. 3. Durch diese Differenzierung, die auch Machtdelegierung und Machtmissbrauch mit sich bringt, kommt es zur Bildung von Cliquen und Oligarchien, d.h. zu einer schwer zu beseitigenden Herrschaft der Gewählten (der politischen 91 A. Wolfe, „Afterword“, in: C. W. Mills, The Power Elite, op. cit., S. 370. 92 W. Conze, „Nachwort“, in: R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart, Kröner, 1925, S. 384. <?page no="295"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 279 Vertreter) über die Wählerschaft. 4. Dies bedeutet, dass das demokratische Ideal einer Selbstverwaltung der Mehrheit nicht erreichbar ist - es bleibt eine Illusion. In Wirklichkeit wechseln politische Eliten einander ab oder verschmelzen miteinander. Michels spricht auch von einer „Amalgamierung beider Elemente“. 93 Als ehemaliges Mitglied der Italienischen Sozialistischen Partei und der deutschen SPD, d.h. als Kenner sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen, erforscht Michels in seinem Buch Zur Soziologie des Parteiwesens fast ausschließlich sozialistische Organisationsformen, um nachzuweisen, dass gerade die Sozialisten, die über die bürgerliche Demokratie hinausgehen wollten, um die volle - auch wirtschaftliche - Demokratie zu verwirklichen, an der oligarchischen Hürde scheitern. Freilich ist der Eifer, mit dem er die Oligarchiebildung in sozialistischen Organisationen untersucht, auch auf die Enttäuschungen des früheren Idealisten zurückzuführen, der sich viel, ja zu viel vom neu entstehenden Sozialismus versprach. Aus der Fragestellung, die am Ende des ersten Kapitels von Michelsʼ Buch formuliert wird, spricht dieser Eifer des enttäuschten Idealismus: „Da nun eben die sozialrevolutionären und demokratischen Parteien theoretisch gerade ihren wesentlichsten Lebenszweck in der Bekämpfung der Oligarchie in allen ihren Formen erblicken, so entsteht die Frage, wie es zu erklären sei, daß sie die gleichen, von ih[nen] befehdeten Tendenzen in sich selbst entwickeln.“ 94 Die erste Antwort auf diese Frage überschneidet sich weitgehend mit den Befunden Paretos und Moscas und bezieht sich auf den ersten Punkt der weiter oben eingefügten Zusammenfassung: Die Gesellschaft kann sich mehrheitlich nicht selbst verwalten und ist daher auf eine spezialisierte und intern differenzierte Minderheit angewiesen: „Die Menschheit kann der ‚politischen Klasse‘ nicht entraten. Diese kann aber nur einen Bruchteil der Gesellschaft ausmachen.“ 95 Die interne Differenzierung als Aufgabenteilung lässt eine Bürokratie entstehen, in deren Zusammensetzung Sozialisation, Bildung und Ausbildung eine entscheidende Rolle spielen. Michels unterstreicht die Distanz, die gerade in den sozialistischen Parteien die Führer von den Geführten, die Parteifunktionäre von den einfachen Parteimitgliedern trennt: „Auch der faktisch bestehende Bildungs- und Kompetenzunterschied innerhalb der Mitglieder der Partei macht sich bei der Aufgabenverteilung in ihr geltend. Die Führer pochen auf die Urteilslosigkeit der Menge (…).“ 96 Diese Distanz zwischen den Funktionären und der „Menge“ kann in sozialis- 93 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, op. cit., S. 194. 94 Ibid., S. 13. 95 Ibid., S. 20. 96 Ibid., S. 144. <?page no="296"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 280 tischen Parteien noch größer sein als in konservativen oder liberalen Parteien, weil in diesen Parteien das Bildungsniveau der Geführten meistens höher ist. Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb in sozialistischen Parteien und ihren Gewerkschaften die Bildung von Oligarchien prononcierter ist als in vergleichbaren bürgerlichen Organisationen, zumal die sozialistischen Intellektuellen häufig bürgerlicher Herkunft sind und dadurch - auch trotz ehrlicher Bemühungen um intensiven Kontakt - von der Partei- oder Gewerkschaftsbasis isoliert werden. Schließlich verliert diese Basis die Kontrolle über ihre Führer, wobei die Bildung der Führer und die Differenzierung der Aufgaben innerhalb der Elite (Punkt 2) eine entscheidende Rolle spielen: „Die Führer, die zuerst spontan entstehen und ihre Tätigkeit umsonst und nebenamtlich ausüben, werden berufsmäßig. Auf diesen ersten Schritt folgt dann der zweite, denn die Schaffung eines berufsmäßigen Führertums ist nur das Präludium zur Entstehung eines stabilen und inamoviblen Führertums.“ 97 Eine führende Clique, die nicht absetzbar ist, entzieht sich mit der Zeit jeglicher Kontrolle durch die geführte Mehrheit, und es entsteht eine unabsetzbare und unkontrollierte Oligarchie mit stark ausgeprägten bürokratischen Zügen. Dass Angehörige dieser Oligarchie ihre Macht mit der Zeit immer häufiger missbrauchen (Punkt 3), indem sie ihre Gehälter nach Belieben erhöhen und Partei- oder Gewerkschaftsgelder für private oder halbprivate Zwecke „abzweigen“, liegt auf der Hand. Über die amerikanischen Arbeiterführer schreibt Michels, ihre beruflich erworbenen Gewohnheiten seien „plutokratisch gefärbt“ 98 , und er fügt hinzu: „Das Gros der dortigen Gewerkschaftsführer wird sozialistischerseits beschrieben als stupid and cupid.“ 99 Es gibt auch im europäischen Gewerkschaftsbereich Beispiele für solches Verhalten. Dies kann allerdings nicht dahingehend gedeutet werden, dass die europäischen Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien nichts für die Sozialisierung, die Ausbildung und die Bildung der Arbeiter getan hätten. Es gibt zahlreiche Beispiele, die vom Gegenteil zeugen. 100 Jedoch hat die sozialistische Bewegung durch ihre anhaltenden Bemühungen um die Anhebung des Lebensstandards und die Bildung der Arbeiter paradoxerweise dazu beigetragen, dass 97 Ibid., S. 370. 98 Ibid., S. 297. 99 Ibid. 100 Vgl. dazu die Untersuchungen von P.-H. Kucher, „Zur Vorgeschichte des austromarxistischen Schul- und Bildungsprogramms: Bildungs- und Schulfrage in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung von 1848 bis 1909“, in: Die Schul- und Bildungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik (Hrsg. P. Heintel u.a.), Wien, Bundesverlag, 1983, S. 155-159. <?page no="297"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 281 diese schneller und nachhaltiger in das bürgerlich-kapitalistische System, das es zu überwinden galt, integriert werden konnten. Der vierte Punkt, der das demokratisch-sozialistische Ideal betrifft, wird auch von Burnham gestreift: „Die Theorie der Demokratie ist zu dem Versuch gezwungen, sich der Notwendigkeit des Führertums anzupassen.“ 101 Wenn dieses Führertum aber Oligarchiebildung, Machtmissbrauch und illegitime Selbstbereicherung beinhaltet, dann ist es dem demokratisch-sozialistischen Prinzip diametral entgegengesetzt. Es kann zudem nur als Auswuchs anhaltender Naturbeherrschung im Sinne der Kritischen Theorie gedeutet werden. Es klingt daher etwas zynisch, wenn Michels über das Verhältnis seiner Oligarchie-Theorie zum Historischen Materialismus schreibt: „Die Formel von der Notwendigkeit der Ablösung einer herrschenden Schicht durch eine andere und das von ihr abgeleitete Gesetz der Oligarchie als der vorbestimmten Form menschlichen Zusammenlebens in größeren Verbänden wirft die materialistische Geschichtsauffassung keineswegs über den Haufen, ersetzt sie nicht, sondern ergänzt sie nur.“ 102 Ja und nein: Ja, sie wirft die „materialistische Geschichtsauffassung“ sehr wohl „über den Haufen“, weil das Gesetz der Oligarchie zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann, das den Weg, auf dem das Proletariat zur Befreiung der Menschheit voranschreiten soll, versperrt. Denn wenn es zutrifft, dass „menschliches Zusammenleben in größeren Verbänden“ unweigerlich Oligarchien hervorbringt, dann sind Verzerrungen, wie sie alle bisherigen sozialistischen Experimente gezeitigt haben, nicht zu vermeiden. Nein, sie wirft sie nicht über den Haufen, solange jenseits des realen Sozialismus neue Formen der Demokratisierung ins Auge gefasst werden können (Bürgerinitiativen, Bewegungen, Arbeiterselbstverwaltung), die oligarchischen Tendenzen auf allen Ebenen entgegenwirken. (Vor allem im siebzehnten Kapitel, das Alain Touraines Handlungssoziologie zum Gegenstand hat, sollen diese Formen der Demokratisierung näher betrachtet werden.) In diesem Kapitel ging es primär darum, in mehreren Repliken auf Marx, die Kritische Theorie und den Feminismus die Hindernisse aufzuzeigen, die das Streben nach Demokratisierung, Gleichberechtigung und Emanzipation scheitern lassen können. Es galt, in Übereinstimmung mit Adorno „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“. Den Willen, sich nicht preiszugeben und am eigenen Standpunkt festzuhalten, kann man oft genug beobachten; vielen fällt es aber schwer, „gegen sich selbst zu denken“ und den Gegner zu Wort kommen zu lassen, der den eigenen, narzis- 101 J. Burnham, Die Machiavellisten, op. cit., S. 156. 102 R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, op. cit., S. 366. <?page no="298"?> Von Pareto zu Mosca, C. Wright Mills und R. Michels 282 stisch besetzten Diskurs in Frage stellt und dadurch möglicherweise narzisstische Kränkungen verursacht - ohne es zu beabsichtigen. Zusammenfassung und Ausblick: Paretos Soziologie kann als eine von Machiavelli und Nietzsche inspirierte Antwort auf den Marxismus und die Kritische Theorie gelesen werden: Anders als der moderne Marx und die auf Emanzipation hoffenden kritischen Gesellschaftstheorien geht sie im Bereich der Relevanzkriterien von einer ahistorischen Unterscheidung zwischen Residuen und Derivationen aus. Sie gründet auf der Annahme, dass bestimmte sozialpsychische Faktoren (Residuen) als anthropologische Konstanten menschliches Verhalten durch alle historischen Epochen hindurch bestimmen und von sich ändernden „Derivationen“ als „Rationalisierungen“ im Freudschen Sinne gerechtfertigt werden. Aus dieser Relevanzbestimmung geht eine von Machiavellis Realismus und Nietzsches Geschichtsphilosophie beeinflusste Auffassung der sozialen Entwicklung als „ewiger Widerkehr des Gleichen“ (Nietzsche) oder als zirkulärer Bewegung hervor, in der eine aufstrebende, vitale Elite eine verbrauchte, schwächelnde Elite von der Macht verdrängt. Innerhalb dieser zirkulären Dynamik muss jedes gesellschaftskritische Streben nach Emanzipation im Sinne des Marxismus, der Kritischen Theorie und des Feminismus als illusorisch erscheinen. Im Gegensatz zu Marx, der das revolutionäre „Proletariat“ zu seinem Subjekt-Aktanten und Fokalisator macht, betrachtet Pareto das soziale Geschehen aus der Sicht der herrschenden Elite, die zum Subjekt-Aktanten, Fokalisator und Motor seiner Erzählung wird. Im Anschluss an Pareto zeigen Mosca, dem Paretos Theorie wesentliche Impulse verdankt, C. Wright Mills und Robert Michels, wie Demokratisierungsprozesse durch Eliten- und Oligarchienbildung gebremst oder gar zunichte gemacht werden können. Dies ist der Grund, warum gesellschaftskritische Theorien, die sich für Emanzipation einsetzen, dialogisch auf die Soziologien Paretos, Moscas, Millsʼ und Michels bezogen werden sollten: Sie sollten die gegenläufigen Tendenzen, die ihre Bestrebungen scheitern lassen könnten, mitberücksichtigen. Paretos Skepsis den modernen Emanzipationsdiskursen gegenüber ist, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, für die gesamte Spätmoderne (Durkheims, Simmels, M. Webers) als Selbstkritik der Moderne charakteristisch. <?page no="299"?> 283 IX. Differenzierung und Individuum, Kollektivbewusstsein, Solidarität und Anomie: Emile Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencers Individualismus Inhaltsverzeichnis 1. Spencers organischer Evolutionismus: Liberalismus, Sozialdarwinismus, System 2. Spencers Erzählung als Aktantenmodell: Differenzierung und Individualisierung 3. Durkheim als Erbe Montesquieus und Rousseaus: Seine Kritik an Spencers Individualismus und an Comte 4. Kollektivbewusstsein und „soziale Tatsache“ („fait social“): Durkheim, Paul Fauconnet und Marcel Mauss 5. Soziale Differenzierung als Arbeitsteilung: Mechanische und organische Solidarität 6. Soziale Pathologien: Egoismus, Anomie, Selbstmord 7. Durkheims Aktantenmodell zwischen Kant und Hegel: Im Auftrag der Gesellschaft 8. Die Kritiken des Marxismus und der Kritischen Theorie: Durkheims Replik Der hier postulierte Übergang von der Moderne zur Spätmoderne (als Selbstkritik der Moderne) bringt es mit sich, dass dieses Kapitel auch einen Bruch im soziologischen Denken zum Gegenstand hat. Denn auf Herbert Spencers (1820-1903) moderne Vorstellung von einer sozialen Evolution, an deren Ende eine befriedete Industriegesellschaft freier Individuen steht, reagiert Emile Durkheim (1858-1917) mit einer spätmodernen Soziologie der Krise, in der soziale Pathologien wie Egoismus, Anomie und Selbstmord im Mittelpunkt stehen. Im Gegensatz zu Spencer glaubt Durkheim nicht mehr, dass die Entwicklung der Gesellschaft trotz aller Rückschläge gleichsam von selbst auf das doppelte Telos von Befriedung und Befreiung zustrebt. Vielmehr fragt er nach konkreten Möglichkeiten, den wirtschaftlich bedingten Egoismus der Individuen einzudämmen und die soziale Solidarität als gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt zu steigern. Ein weiterer Unterschied zwischen Spencer und Durkheim macht sich auf ideologischer Ebene bemerkbar: Während Spencer einen liberalen Individualismus vertritt und die Funktion des Staates auf ein Minimum beschränken möchte, steht Durkheim einem demokratischen (nichtmarxistischen) Sozialismus nahe, der die Bedeutung des sozialen Faktors, des Kollektivs und des staatlich-institutionellen Rahmens für die individuelle <?page no="300"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 284 Entwicklung betont. Anders als Spencer, der in der von Hobbes und Locke begründeten individualistischen Tradition steht, die das moderne britische Denken prägt, verarbeitet Durkheim in seiner Soziologie die Krisen der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: des Second Empire Napoleons III und der Dritten Republik, die aus Napoleons Niederlage im preußisch-französischen Krieg (1870/ 71) hervorging. Die Zerschlagung der Pariser Kommune (1871), in der sich Möglichkeiten und Grenzen einer Rätedemokratie abzeichneten, gehört sicherlich zu den schwersten Krisen, die der junge Durkheim erlebt hat. Der Umstand, dass Spencer im Rahmen der hier vorgeschlagenen Gliederung eher der Moderne im Sinne von Marx und Comte zuzurechnen ist, während Durkheim als spätmoderner Kritiker der Moderne erscheint, lässt die Frage aufkommen, warum er nicht unmittelbar im Anschluss an Comte (1798-1857), dessen Werk er kannte und kommentierte, besprochen wurde. Die Antwort geht aus dem dialogischen Ansatz hervor, der dieses Buch strukturiert: Stärker als die Comte-Rezeption Spencers dessen Denken prägt, prägt die Kritik an Spencer Durkheims gesamten Ansatz, vor allem seine bahnbrechende Studie über die Arbeitsteilung: De la division du travail social (1893, dt. Über soziale Arbeitsteilung, 1992). Mit etwas verdeutlichender Übertreibung ließe sich sagen, dass Durkheims gesamte auf das Kollektivbewusstsein ausgerichtete Soziologie als kritisch-polemische Antwort auf Spencers ideologischen und methodologischen Individualismus zu verstehen ist. Hier gilt uneingeschränkt, was Michail Bachtin über den Dialog der Sprachen und die Wechselbeziehung zwischen Eigenem und Fremdem schreibt: „Wir spüren, daß es ein Gespräch ist, obwohl nur einer spricht, und zwar ein sehr angespanntes Gespräch, denn jedes vorhandene Wort antwortet und reagiert mit allen seinen Fibern auf den unsichtbaren Gesprächspartner, weist über sich selbst hinaus auf das unausgesprochene fremde Wort.“ 1 Der soziologische Text ist keine Monade, sondern ein Intertext: ein Aufeinandertreffen von Texten, auf das der Soziologe mit Zustimmung, Kritik oder Ablehnung reagiert (oftmals auf alle drei Arten). Auch dort, wo Durkheim Spencer nicht erwähnt oder zitiert, reagiert er unterschwellig auf das „unausgesprochene fremde Wort“ seines Kontrahenten. In diesem Kontext ist die Tatsache zu erklären, dass Durkheim vieles von Spencer übernimmt, in wesentlichen Punkten jedoch vom britischen Philosophen und Soziologen abweicht. Es wird sich zeigen, dass an diesen Punkten, an denen sich Kritik und Polemik entzünden, die eigentliche Soziologie Durkheims entsteht. Indem sie über das Individuelle im Sinne von 1 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 220. <?page no="301"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 285 Spencer hinausgeht, lässt sie die soziale Tatsache (fait social) ins Blickfeld rücken und wird dadurch zur Soziologie schlechthin. Comte mag die Bezeichnung Soziologie (sociologie) geprägt haben; Durkheim hat die Soziologie als Wissenschaft vom spezifisch Sozialen begründet. Daher ist es müßig, nach seiner gegenwärtigen „Popularität“ 2 zu fragen: Unabhängig von allen marktbedingten Meinungen und Modeerscheinungen ist er als Denker des Überindividuellen, des Sozialen der spätmoderne Soziologe par excellence. Trotz aller Differenzen und Gegensätze verbinden wesentliche Gedanken Durkheim mit dem 38 Jahre älteren Spencer, der nicht nur das britischamerikanische, sondern auch das kontinentaleuropäische Denken beeinflusst hat. Die Werke beider Soziologen könnten als groß angelegte Antworten auf die Klassen- und Elitentheorien von Marx und Pareto (Mosca, Mills) aufgefasst werden. Abermals stellen sich die Fragen, die am Anfang dieses Buches stehen: Wer beobachtet Gesellschaft? Wer erzählt Gesellschaft? Ausgehend von anderen Relevanzkriterien, nehmen Spencer und Durkheim ganz andere Erscheinungen und Prozesse wahr als Marx und Pareto, die sich vor allem für Herrschaftsstrukturen, Machtverhältnisse und die aus ihnen ableitbaren Klassen- oder Elitenkämpfe interessieren. Sie beobachten zwar auch systemische Prozesse der Differenzierung und der (aus Marxʼ Sicht entfremdenden) Arbeitsteilung; sie ordnen diese Prozesse jedoch den Herrschafts- und Machtverhältnissen unter. Aus Spencers und Durkheims Sicht sind die funktionalen Differenzierungsprozesse (Spezialisierung, Arbeitsteilung) von primärer Bedeutung, und die Herrschaftsbedingungen (etwa die Differenzierung in Herrschende und Beherrschte) werden ihnen untergeordnet. Andere Relevanzkriterien, andere Erzählungen als Gesellschaftskonstruktionen: Während Marx und Pareto vor allem das Handeln kollektiver Aktanten (Klassen, Eliten) sichtbar machen, lassen Spencer und Durkheim Differenzierungsprozesse in den Vordergrund treten. Dabei erscheint Gesellschaft als Analogon des mehr oder weniger differenzierten biologischen (tierischen, menschlichen) Organismus. Spencer fasst seine Kernthese, der zufolge Gesellschaft als Analogon zum biologischen Organismus betrachtet werden kann, in seinem Buch The Study of Sociology (1872, dt. Einleitung in das Studium der Soziologie, 1875) zusammen: „Es ist dies eine Wahrheit in der Sociologie, vergleichbar der biologischen Wahrheit, dass der erste Schritt in der Erzeugung irgendeines lebenden Organismus, hoch oder niedrig, eine gewisse Differenzierung ist, 2 Vgl. R. Collins, „The Durkheimian Tradition in Conflict Sociology“, in: J. C. Alexander, Durkheimian Sociology: Cultural Studies, Cambridge, Univ. Press, 1990, S. 107-108. <?page no="302"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 286 durch welche ein peripherischer Theil von einem centralen Theil unterschieden wird.“ 3 Diese biologisch-soziologische Analogie, die aus den Relevanzkriterien hervorgeht, die darüber entscheiden, was zu welcher Klasse von Erscheinungen gehört und was womit vergleichbar ist, entscheidet auch über die Art des Diskurses, der in diesem Fall die individuelle und kollektive Handlung dem Prozess als Differenzierung unterordnet. Dies bedeutet keineswegs, dass Spencers oder Durkheims Diskurs als Erzählung kein Aktantenmodell zugrunde liegt. Es bedeutet lediglich, dass die individuelle oder kollektive Handlung in diesem Modell (ähnlich wie bei Comte) sekundär ist, weil sie dem Differenzierungsprozess untergeordnet wird. Dieses Modell ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der Soziologie: nicht nur weil es sich als Alternative zu den kollektiven und individuellen Handlungsmodellen von Marx, Pareto und Max Weber präsentiert, sondern auch deshalb, weil es eine neue Art der soziologischen Theoriebildung begründet: Es geht in diesem Modell nicht mehr primär um Handlung, Machtausübung und Herrschaft, sondern um die Evolution des Gesellschaftssystems durch Differenzierung. An dieses Modell knüpft - wie sich zeigen wird - nicht nur Talcott Parsons an, der versucht, Handlung und Systemstruktur miteinander zu vermitteln, sondern auch Niklas Luhmann, der sich sowohl auf Parsons als auch auf Durkheim beruft. 4 Insofern haben Brock, Junge und Krähnke Recht, wenn sie zu dem Schluss kommen: „Mit dieser Betrachtungsweise führt Spencer das systemtheoretische Denken in die Soziologie ein.“ 5 Freilich hat Spencers Modell den Nachteil, dass es aufgrund seiner von Comte beeinflussten Ausrichtung auf die Naturwissenschaften, vor allem die Biologie, wesentliche Aspekte des Sozialen vernachlässigt, die bei Marx und Pareto im Vordergrund stehen: vor allem die Herrschafts- und Machtstrukturen in ihrem historischen Wandel. Die positivistische Anlehnung an die Naturwissenschaften, die Spencer und Durkheim als Erben Comtes (vgl. Kap. V) gemeinsam ist, hat einen Objektivismus zur Folge, der die beiden Soziologen daran hindert, in ihren Objekten und Darstellungen von Entwicklungen Objektkonstruktionen zu erkennen, die aus bestimmten kontingenten Diskursen als Erzählungen hervorgehen. In dieser Hinsicht ist J. D. Y. Peel Recht zu geben, der zu 3 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie. Erster Theil, Leipzig, Brockhaus (2. Aufl.), 1875, S. 75. 4 Vgl. N. Luhmann, „Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie“, in: E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2012 (6. Aufl.), S. 30. 5 D. Brock, M. Junge, U. Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, München, Oldenbourg, 2012 (3. Aufl.), S. 92. <?page no="303"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 287 Spencer bemerkt: „Er glaubte, dass er alle anderen Gesichtspunkte ausschließen konnte, indem er seinen eigenen Gesichtspunkt als objektiv, als in der Natur der Dinge selbst begründet (grounded in the nature of things) darstellte.“ 6 (Vgl. Abschn. 8.) Dieser Objektivismus, zu dem auch Durkheim neigt, sooft er versucht, subjektive Meinungen durch Faktenkenntnis zu ersetzen, ist ein Aspekt des ideologischen Diskurses als „Identitätsdenken“ im Sinne von Adorno und Horkheimer. Das Subjekt des ideologischen Diskurses „vergisst“, dass es keine objektive Darstellung der Wirklichkeit gibt, weil jede Rede über die Wirklichkeit eine kontingente, nur mögliche Konstruktion ist. Es identifiziert sich mit der Wirklichkeit und ihren Objekten. Im Folgenden geht es darum, Spencers und Durkheims theoretische Konstruktionen zu analysieren und im Dialog zu testen. 1. Spencers organischer Evolutionismus: Liberalismus, Sozialdarwinismus, System Spencer kannte das Werk Comtes und übernahm vom französischen Philosophen drei wesentliche Gedanken: 1. Die gesellschaftliche Evolution ist als Differenzierungsprozess zu denken, in dem individuelle und kollektive Handlungen eine eher untergeordnete Rolle spielen. 2. Diese Evolution kann als Selektionsprozess und als Analogon zur Evolution des biologischen Organismus aufgefasst werden. 3. Aus diesem Grunde ist die neu entstehende Soziologie in die bestehende „Enzyklopädie“ der Naturwissenschaften einzufügen. Zum dritten Punkt bemerkt Paul Kellermann: „Auf der Basis einer Vereinheitlichung der Wissenschaften mittels der Evolutionsthese bietet Spencer gleich Comte eine Wissenschaftshierarchie, deren Kulminationspunkt - wiederum wie bei Comte - die Soziologie ist.“ 7 Wie bei Comte weist bei Spencer die Soziologie aufgrund ihres heterogenen Gegenstandes (menschliches Leben, Sprache, Kultur) die größte Komplexität auf. Spencers Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung illustriert seine auf die gesamte Wirklichkeit angewandte Evolutionsthese, deren Kurzform lautet: von einfacher Homogenität zu komplexer Heterogenität. In First Principles (1897) wird diese These auf alle Bereiche angewandt: „(…) We think of Evolution as divided into astronomic, geologic, 6 J. D. Y. Peel, „Introduction“, in: H. Spencer, On Social Evolution. Selected Writings (Hrsg. J. D. Y. Peel), Chicago-London, Univ. of Chicago Press, 1972, S. XXIX. 7 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg, Rombach, 1967, S. 90. <?page no="304"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 288 biologic, psychologic, sociologic, &c.“ 8 Für alle diese Bereiche gilt das Gesetz der zunehmenden Komplexität: „Every increase in structural complexity involving a corresponding increase in functional complexity.“ 9 Damit wird die Grundlage für eine systematische Betrachtung nicht nur der Wissenschaften, sondern der Gesellschaft als ganzer geschaffen, wobei die Gesellschaft durch ihre Annäherung an Bereiche der Natur, vor allem an die Welt der Biologie, als Organismus erscheint (vgl. weiter unten). Durch die Klassifizierung und Standortbestimmung der Soziologie im Rahmen des naturwissenschaftlichen Systems wird ihre Anbindung an die biologische Evolutionslehre Charles Darwins ermöglicht. „Sag mir, wie du klassifizierst, und ich sage dir, wer du bist“ 10 , schreibt Roland Barthes und erinnert an die sprachlichen Grundlagen der Theorie: daran, dass das von bestimmten Relevanzkriterien gesteuerte Klassifizieren als semantischer Vorgang nicht nur vom Objekt bestimmt wird, das als solches auch eine besondere Gliederung erheischt (etwa die Einteilung Amerikas in Nord- und Südamerika in der Geographie), sondern auch vom theoretischen Subjekt ausgeht, das psychischen, wissenschaftlichen und ideologischen Impulsen gehorcht, die nicht immer sauber zu trennen sind. Bei Spencer - wie bei den meisten anderen Soziologen - greifen ideologische und wissenschaftliche Impulse ineinander 11 und bestimmen sowohl das Klassifizieren als auch die aus diesem Klassifizieren hervorgehende Erzählung der Gesellschaft. Sie können mit zwei Stichworten bezeichnet werden: Liberalismus und Darwinismus. Spencers Liberalismus ist bekannt und bildet die Grundlage seiner soziologischen Evolutionslehre, die in die utopische Vorstellung einer Gesellschaft freier Individuen ohne staatliche Bevormundung mündet. Spencer wuchs in seiner Geburtsstadt Derby in einem liberalen Umfeld auf („in der Stadt gehörten die Spencers zum radikalen Flügel der Liberalen“, schreibt J. D. Y. Peel) 12 und hielt bis an sein Lebensende an den liberalen Grundsätzen fest. Er war eine Zeit lang Mitarbeiter der liberalen Wochenzeitschrift The Economist, 13 die sich noch heute für freien Handel, individuelle Freiheit und die Begrenzung staatlicher Macht einsetzt. Alberto Mingardi fasst zusammen: „Grundsätzlich war der klassische Liberalismus die politische 8 H. Spencer, First Principles, New York, Adamant Media Corporation (Elibron Classics), 2005, S. 558. 9 Ibid., S. 557. 10 R. Barthes, Essais critiques, Paris, Seuil, 1964, S. 179. 11 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 12 J. D. Y. Peel, „Introduction“, in: H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. XII. 13 Vgl. A. Mingardi, Herbert Spencer, London-New York, Bloomsbury, 2013, S. 14. <?page no="305"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 289 Philosophie, die Spencer in seiner Jugend zu schätzen lernte - und er blieb ihr sein ganzes Leben lang treu.“ 14 Im Kontext der liberalen Ideologie las er die Schriften von John Locke (etwa Two Treatises of Government, 1690) und Adam Smith (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776) und gelangte zu der Überzeugung, dass die Freiheit und das Eigentum des Einzelnen gegen staatliche Übergriffe geschützt werden müssen und dass die Freiheit des Individuums dort ihre Grenzen hat, wo die Freiheit seines Nachbarn beginnt. In dieser Situation erschöpft sich die Residualfunktion des Staates darin, den Einzelnen vor Übergriffen zu schützen und die Gesellschaft als ganze gegen feindliche Mächte zu verteidigen. Dies ist eine für den Liberalismus charakteristische negative Auffassung der Freiheit als „Freiheit vom Zwang“. Ihr stellt Isaiah Berlin einen positiven Freiheitsbegriff gegenüber: die Freiheit, etwas tun zu können 15 , die für Marxisten und Sozialisten von besonderer Bedeutung ist. Sie weisen darauf hin, dass z.B. der Arbeitslose zwar formal frei ist (frei von Zwängen), mit dieser negativen Freiheit jedoch wenig anfangen kann. Damit ergreifen sie Partei für den sozial Schwächeren und die ihm vorenthaltene positive Freiheit. Die liberale Ideologie und Darwins Lehre von der „natürlichen Selektion“ („natural selection“) und vom „Kampf ums Dasein“ („struggle for life“) ergänzen einander insofern, als sie beide den Stärkeren, den autonom handelnden Einzelnen oder den Organismus beobachten, der es versteht, sich ohne fremde (z.B. staatliche) Hilfe durchzusetzen. Diese Affinität zwischen den beiden Denkrichtungen 16 begünstigte die Entstehung des Sozialdarwinismus, dessen Kernthese lautet, dass sich im sozialen Auslese- oder Selektionsprozess die Tüchtigen und Lebensfähigen (Individuen, Gruppen, Völker, Rassen) behaupten, während die Schwächeren untergehen. Diese These macht sich Spencer zu eigen, wenn er in seiner Einleitung in das Studium der Sociologie (The Study of Sociology) den individuellen und kollektiven „Kampf ums Dasein“ als Fortschritt erzählt: „Der Krieg unter den Menschen hat wie der Krieg unter den Thieren einen bedeutenden Antheil daran gehabt, ihre Organismen zu einer höheren Stufe zu erheben.“ 17 Der Fortschritt besteht darin, dass die lebensfähigeren Individuen und Gruppen überleben, während die schwächeren untergehen: „Ausser diesem Durchschnittfortschritt, hervorgerufen durch Vernichtung der min- 14 Ibid., S. 27. 15 Vgl. I. Berlin, Two Concepts of Liberty. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford on 31 October 1958, Oxford, Clarendon Press (1958), 1963, S. 7-19. 16 Vgl. S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880-1914, Cambridge, Univ. Press (1979), 1983, S. 187-188. 17 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 244. <?page no="306"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 290 destentwickelten Rassen und Individuen, hat ein Durchschnittfortschritt stattgefunden, hervorgerufen durch Vererbung jener höhern Entwicklungen, welche von der fortgesetzten Uebung bestimmter Functionen herrühren.“ 18 Bemerkenswert ist hier die Vermischung der soziologischen mit der biologischen Terminologie („Vererbung“). Im Hinblick auf die nordamerikanischen Indianer fügt Spencer hinzu, „dass der Kampf ums Dasein zwischen benachbarten Stämmen eine bedeutende Wirkung in Bezug auf Cultivirung von Fähigkeiten verschiedener Art ausgeübt hat“. 19 In diesem Kontext prägt er den berühmt gewordenen Ausdruck „survival of the fittest“. 20 Der diesen Überlegungen gemeinsame Kerngedanke könnte in einem Satz zusammengefasst werden: Im sozialen Evolutionsprozess als „Kampf ums Dasein“ verbessern Gesellschaften als Organismen ihre Funktionen durch Spezialisierung und bilden neue Funktionen aus. Als Beispiel führt Spencer den Stammeshäuptling an: „Der Häuptling, anfangs den Charakter eines Königs, Richters, Anführers und oft Priesters vereinigend, sieht seine Functionen mehr specialisirt, je nachdem die Entwicklung der Gesellschaft nach Grösse und Complicirtheit fortschreitet.“ 21 So fragwürdig sie auch sein mag, die Analogie von biologischem und sozialem Organismus zeitigt einen für die Systemsoziologie wichtigen Gedanken: dass ein Organ nicht die Funktion eines anderen erfüllen kann und dass Funktionen folglich nicht austauschbar sind. In Die Principien der Sociologie erklärt Spencer, „dass zugleich mit der zunehmenden Specialisirung der Functionen auch in jedem Theile das Unvermögen sich steigert, die Funktionen anderer Theile auszuüben“. 22 Dieser systemtheoretische Gedanke, der sowohl für Parsons als auch für Luhmann wichtig ist, wird in den First Principles anhand von Religion und Wissenschaft verdeutlicht. Spencer zeigt, dass „Religion und Wissenschaft eine langsame Differenzierung durchgemacht haben“ 23 und wagt die Prognose, dass dieser Prozess zu einer Entkoppelung der beiden Bereiche und zur Beilegung ihrer Konflikte führen wird. Die Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben diese Prognose weitgehend bestätigt: Die Subsysteme „Religion“ und „Wissenschaft“ sind autonom und werden in säkularisierten Gesellschaften selten als antagonistisch erfahren. Anders als in den weniger differenzierten Gesellschaften des Mittelalters können Vertreter der 18 Ibid., S. 244-245. 19 Ibid., S. 245. 20 H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. 189. 21 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 76-77. 22 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 173. 23 H. Spencer, First Principles, op. cit., S. 108. <?page no="307"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 291 Religion nicht länger den Anspruch erheben, religiöse Antworten auf wissenschaftliche Fragen zu finden, und Wissenschaftler versuchen nur selten, religiöse Probleme wissenschaftlich zu lösen. Wie sieht aber der systembedingte Prozess der funktionalen Differenzierung konkret aus und wohin führt er? 2. Spencers Erzählung als Aktantenmodell: Differenzierung und Individualisierung Insgesamt unterscheidet Spencer zwei Prozessebenen: 1. die soziale Differenzierung, die eine wachsende Komplexität des Gesellschaftssystems mit sich bringt, und 2. eine Aufeinanderfolge von sozialen Stadien: von den militanten (kriegerischen) Gesellschaften zu Industriegesellschaften. Während die militanten Gesellschaften homogen und relativ einfach sind, sind die Industriegesellschaften eher heterogen und komplex. In diesem Modell wird Marxʼ zentrales Theorem des Klassengegensatzes dem Gedanken fortschreitender Differenzierung untergeordnet: „Tritt eine herrschende Classe auf, so wird sie dabei nicht allein unähnlich den übrigen, sondern sie erlangt auch einen regulirenden Zwang über alle andern, und wenn sich diese Classe wieder in die mehr und die weniger herrschende sondert, so beginnen auch diese wieder verschiedene Seiten der gesammten überwachenden Thätigkeit an sich zu reissen. Bei den Classen, deren Thätigkeit überwacht wird, finden wir dasselbe.“ 24 Dies bedeutet, dass bei Spencer nicht der Klassengegensatz als die den Diskurs strukturierende Instanz relevant ist, sondern das Differenzierungsprinzip, das den Klassenantagonismus tendenziell aufhebt, weil es - wie das Oligarchieprinzip bei Pareto, Mosca und Michels - Herrschende und Beherrschte zergliedert und in der zunehmenden Komplexität aufgehen lässt. (Im Gegensatz dazu ist Marx bestrebt, „Bürgertum“ und „Proletariat“ als homogene kollektive Aktanten auftreten zu lassen: vgl. Kap. IV. 3.) Die Komplexität des modernen Gesellschaftssystems, die aus der „zunehmenden Grösse der socialen Aggregate“ und der „zunehmende[n] Dichtigkeit der Bevölkerung“ 25 hervorgeht, beschreibt Spencer wie folgt: „Es ist ein verwickeltes Gewebe, welches überall Knotenpunkte hat und nach allen Seiten Fäden aussendet und alle Thätigkeitsäusserungen so zu einander in Beziehung bringt, dass irgend eine beträchtliche Änderung in der einen rückschlagende Wandlungen in allen übrigen hervorruft.“ 26 Dies ist nicht nur ein systemtheoretischer, sondern (allgemeiner) ein strukturalistischer Kerngedanke: Die wechselseitige Abhängigkeit der 24 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 7. 25 Ibid., Bd. I, S. 13. 26 Ibid., Bd. IV, S. 460. <?page no="308"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 292 Einheiten und ihrer Funktionen bildet die Grundlage eines Systems als strukturierter Totalität, und die Änderung oder der Ausfall einer Funktion wirkt sich auf das Funktionieren des Gesamtsystems aus. (Ein konkretes Beispiel ist der Stromausfall in einer Stadt oder Region - oder ein Bahnstreik.) Den Übergang vom militanten oder kriegerischen zum industriellen Gesellschaftstypus stellt Spencer nicht nur als einen Übergang von einfacher Homogenität zu komplexer Heterogenität dar, sondern zugleich auch als sozialen Emanzipationsprozess im Sinne des Liberalismus und Individualismus. Während in den kriegerischen Gesellschaften, die auf Solidarität, Disziplin und Kampfbereitschaft angewiesen sind, der Einzelne der Gesellschaft als organischer Totalität untergeordnet ist, erlangt er in der Industriegesellschaft eine noch nie gekannte Freiheit (im Sinne des oben erwähnten negativen Freiheitsbegriffs). Allerdings schließt Spencer Rückfälle in das kriegerische Stadium auch im Industriezeitalter nicht aus: „Von wesentlichem Interesse sind hier für uns die Umwandlungen des kriegerischen in den industriellen und des industriellen in den kriegerischen Typus. Und vor allem haben wir zu beobachten, wie der industrielle Typus, der überhaupt nur in wenigen Fällen zu theilweiser Ausbildung gelangt ist, abermals in den kriegerischen zurückfällt, sobald internationale Kämpfe wiederkehren.“ 27 Unverkennbar wirkt hier im britisch-liberalen Kontext Comtes Vorstellung von den aufeinanderfolgenden, aber zeitweise auch koexistierenden drei Stadien: dem theologischen, dem metaphysischen und dem wissenschaftlichen (industriellen). (Vgl. Kap. V.) Denn auch bei Comte erscheint das theologische Stadium zugleich als das kriegerische, das die Zurückstellung aller Einzelinteressen erfordert. Allerdings deutet Spencer Comtes Schema im Rahmen seiner liberalen Theorie um, indem er die Industriegesellschaft als demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft nicht primär mit Vernunft und Wissenschaftlichkeit, sondern mit individueller Freiheit assoziiert. Comte wirft er vor, die im Staatsgedanken verankerte hierarchische Auffassung der Gesellschaft nicht aufgegeben zu haben; „(…) Comte und seine Schüler verrathen, trotzdem sie an eine völlige Umwandlung der Gesellschaft glauben, dennoch eine nur unvollkommene Emancipation, denn die von ihnen erhoffte ideale Gesellschaft ist eine durch eine Hierarchie regulirte (…).“ 28 Tatsächlich legt Comte, wie sich im fünften Kapitel gezeigt hat, die politische Verantwortung in die Hände der Industriellen und der sie beratenden Wissenschaftler. Es kommt hinzu, dass der Einzelne sich in 27 Ibid., Bd. II, S. 156. 28 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 150. <?page no="309"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 293 seinem System einer säkularisierten Staatsreligion und zugleich der staatlichen Autorität zu unterwerfen hat. Im Gegensatz dazu schwebt dem liberalen Soziologen Spencer ein stark ideologisiertes Gesellschaftsideal vor, das den Einzelnen von allen staatlichen Fesseln befreit. In seinen Principien der Sociologie wird er nicht müde, dieses Ideal von Kapitel zu Kapitel zu variieren und betont an entscheidender Stelle (im 2. Teil, Kap. X: „Gesellschaftstypen und Verfassungen“), „dass der Wille der Bürger zu oberst stehe und die Regierungswerkzeuge nur dazu da seien, um ihren Willen auszuführen“. 29 Es fragt sich natürlich, wie und von wem der gemeinsame Wille der stets uneinigen, auf ihre individuellen Interessen bedachten Bürger festgestellt werden soll. Hier macht sich ein Problem bemerkbar, das in Durkheims Kritik an Spencer eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Abschn. 3): der methodologische Individualismus, der den britischen Sozialphilosophen daran hindert, das Überindividuelle, das eigentlich Soziale wahrzunehmen, das über das Individuum und sein Bewusstsein hinausgeht. Der ideologische, liberale Individualismus, den Spencer gegen Comte verteidigt, verstellt ihm den Weg, der zur Soziologie führt: zur sozialen Tatsache im Sinne von Durkheim. Trotz aller Gegensätze, die Spencer von Comte trennen, ist eine historisch und gesellschaftlich bedingte Gemeinsamkeit nicht zu übersehen: Beide leben (wie schon ihr Vorgänger Saint-Simon) im Zeitalter der Industrialisierung und versprechen sich von der Entwicklung, die sie beobachten, eine bessere - vernünftigere, freiere und friedlichere - Gesellschaft. In dieser Hinsicht sind sie beide Denker einer aufgeklärten Moderne, die weder an der Rationalität noch an der Autonomie des vernunftbegabten Individuums zweifelt. Sie haben beide ein klares Ziel vor Augen, auf das sich ihre Gesellschaft zubewegt. Dieses Ziel kann im Rahmen eines Aktantenmodells als Objekt-Aktant aufgefasst werden, der im Falle von Spencer als „Gesellschaft freier Individuen“ definiert werden kann. Denn es wäre ein Fehler, Spencers Denken einseitig auf einen subjektlosen Differenzierungsprozess festzulegen und dabei das Zusammenwirken der Aktanten, die seinen Diskurs als Erzählung bewegen und seine liberale Ideologie erkennen lassen, zu übersehen. Was genau bewegt Spencers Diskurs, was verleiht ihm seine narrative Dynamik und sorgt dafür, dass der Differenzierungsprozess nicht als objektiv feststellbarer Ablauf (wie Spencer selbst meint) erfahren wird, sondern als ideologisch sinnvolle Entwicklung? Im Anschluss an diese Frage erscheint die im Sinne einer liberalen Ideologie definierte „menschliche Natur“ als Auftraggeberin des Diskurses. Sie 29 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 142. <?page no="310"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 294 beauftragt das mit den Modalitäten „Vernunft“ und „Freiheitswillen“ ausgestattete „Individuum“ als Subjekt-Aktanten, sich für eine „Gesellschaft freier Individuen“ (Objekt-Aktant) einzusetzen und dabei den „Staat“ und seine Helfer (Hierarchien, Institutionen, Bürokratien) in die Schranken zu weisen. Das „Individuum“ erfüllt hier nicht nur die Funktion des Subjekt- Aktanten, sondern auch die des Fokalisators, dessen Standpunkt Spencer als Theoretiker und Erzähler durchweg einnimmt. Der „Staat“ tritt in diesem Schema als Antisubjekt auf, das im Namen des Gegenauftraggebers „Kollektivismus“ handelt, der bisweilen auch die Gestalt des „Sozialismus“ annimmt. Er wird in Spencers Diskurssemantik zur Negation der menschlichen Natur. Von dieser Funktionsverteilung zeugt seine polemische Schrift: The Man Versus the State (1884), in welcher der Staat als das eigentliche Übel erscheint, weil er - wie das Kollektiv - die individuelle Freiheit bedroht und beschneidet. 30 Man meint Pareto zu lesen, wenn Spencer feststellt, dass die Liberalen vor den neuen Tories und den Sozialisten die Waffen strecken: „They [the Liberals] have lost sight that in past times Liberalism stood for individual freedom versus State coercion.“ 31 Alberto Mingardi erinnert an „Spencer’s aversion to collectivism“ 32 und daran, dass Spencer den „Tod des alten Liberalismus“ 33 bedauert und in der Massengesellschaft mit ihren Gewerkschaften und ihren Staatsinterventionen die eigentliche moderne Gefahr zu erkennen meint. An dieser Stelle werden Parallelen zum Denken Paretos und Moscas und zur italienischen gesellschaftlichen Situation der Jahrhundertwende erkennbar, die ebenfalls von einer Krise des Liberalismus geprägt war (vgl. Kap. VIII. 1). Immer wieder tritt die durchaus veränderliche „menschliche Natur“ als Auftraggeberin in Spencers Werk auf. So ist beispielsweise in den Principien der Sociologie von der „ursprünglichen Natur der Individuen“ 34 die Rede und davon, „dass sociale Erscheinungen theilweise von der Natur der Individuen abhängen und theilweise von den Kräften, welchen die Individuen unterworfen sind“. 35 In Spencers Diskurs geht es nun darum, sich gegen alle Kräfte aufzulehnen, die der individuellen Emanzipation den Weg verstellen: vor allem gegen das Antisubjekt „Staat“ und seine Helfer. 30 Vgl. H. Spencer, The Man versus the State. Six Essays on Government, Society and Freedom, London, Create Space Independent Publishing Platform, 1884 (Reprint). 31 Ibid., S. 5. Wie Pareto wirft Spencer den Liberalen seiner Zeit vor, dass sie den Sozialisten den Weg zur Macht ebnen: „(…) So called Liberals who are diligently preparing the way for them“ (S. 53). 32 A. Mingardi, Herbert Spencer, op. cit., S. 88. 33 Ibid., S. 89. 34 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. I, op. cit., S. 14. 35 Ibid., S. 17. <?page no="311"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 295 Dabei treten die Prozesskräfte „Differenzierung“ und „Industrialisierung“ als Helferinnen des Individuums in seinem Kampf gegen Militarisierung, Disziplinierung und staatliche Bevormundung auf. Hier wird deutlich, wie Prozess und Handlung ineinander greifen und im Rahmen eines Aktantenmodells in ihrer Wechselbeziehung als integrierter Erzählvorgang aufgefasst werden können. Sein narratives Programm fasst Spencer am Ende seiner Einleitung in das Studium der Sociologie zusammen: „Die Behauptung der Individualität ist also nachweisbar eine Pflicht.“ 36 Diesem programmatischen Satz, der zeigt, wie sehr das Individuum der Fokalisator ist, aus dessen Sicht Spencer die Evolution erzählt, entspricht seine Darstellung des angestrebten gesellschaftlichen Zustandes, der mit dem Objekt-Aktanten des Diskurses zusammenfällt: „(…) Der industrielle Typus ist deshalb der höher stehende, weil er, in jenem Zustande des dauernden Friedens, welchem die Civilisation entgegenstrebt, dem individuellen Wohlergehen besser dient als der kriegerische Typus.“ 37 Hier wird deutlich, dass Spencers Sozialdarwinismus nur in seiner Auffassung der militanten oder kriegerischen Gesellschaften zum Tragen kommt und mit seiner Auffassung der sozialen Emanzipation als Befreiung von Krieg und Unterdrückung unvereinbar ist. Sein liberaler Individualismus unterscheidet ihn radikal von Comte und allen sozialistischen Denkern, die den Einzelnen einer überindividuellen Instanz (Klasse, Bewegung, Staat) unterordnen. Insofern ist Paul Kellermann Recht zu geben, der zu dem Schluss kommt: „In Comtes Glauben an die Vernunft liegt ein sozialistisches Moment, das ihn von Spencer scharf unterscheidet, der eher an die ‚invisible Hand‘ des Adam Smith glaubt (…).“ 38 Spencers individualistisches Aktantenmodell, das auf liberalen Relevanzkriterien gründet (individuelle Freiheit vs. kollektive und staatliche Bevormundung), bestimmt auch den Stellenwert und die Funktion des „Sozialismus“ in seiner Erzählung. In ihr erscheint der „Sozialismus“, der als Gegenauftraggeber zu den Widersachern des Individuums zählt, als Anachronismus. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei das Original wiedergegeben: „Hence the socialist theory and practice are normal in the militant type of society, and cease to be normal as fast as the society becomes predominantly industrial in its type.“ 39 Es wird sich zeigen, dass Durkheim, der mit einem demokratischen Sozialismus sympathisiert, von Spencer Wesentliches übernimmt, jedoch von 36 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 234. 37 H. Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, op. cit., S. 180-181. 38 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung, op. cit., S. 97-98. 39 H. Spencer, On Social Evolution, op. cit., S. 244. <?page no="312"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 296 anderen Relevanzkriterien ausgeht und die gesellschaftliche Entwicklung ganz anders erzählt. 3. Durkheim als Erbe Montesquieus und Rousseaus: Seine Kritik an Spencers Individualismus und an Comte Von Spencer übernimmt Durkheim vor allem die Differenzierungstheorie und entscheidet sich somit für eine prozessuale und funktionale Auffassung der Gesellschaft (vgl. Abschn. 5). Damit widerspricht er - wie Spencer - der Kernthese der Marxisten, der zufolge der Konflikt als Klassenkampf die treibende Kraft der Sozialgeschichte ist. Insofern ist im dialogischen Kontext nicht nur Spencer für seine Theoriebildung entscheidend, sondern auch Marx, dessen Bedeutung für sein Denken hier im letzten Abschnitt zur Sprache kommt. Inwiefern geht nun Durkheims zentraler Gedanke aus seiner Kritik an Spencers Sozialphilosophie hervor? Wie bei Spencer spielt auch bei Durkheim das Ineinander von Ideologie und Theorie eine wichtige und durchaus produktive Rolle. Durkheim (geb. 1858) wuchs im lothringischen Epinal in einer strenggläubigen jüdischen Familie auf und sollte Rabbiner werden. Die Tatsache, dass er dem Wunsch seiner Eltern nicht entsprach und sich zunächst für eine didaktische Laufbahn als Gymnasiallehrer, später für eine wissenschaftliche Laufbahn an den Universitäten von Bordeaux und Paris entschied, mag als Zeichen der Zeit und als soziales Phänomen gewertet werden: als ein Zeichen der von Comte erforschten fortschreitenden Säkularisierung, die eine Schwächung des religiösen Glaubens mit sich bringt. Diese Entwicklung führte jedoch nicht dazu, dass Durkheim jegliches Interesse an der Religion verlor: im Gegenteil, der Gedanke an das Religiöse und an die Solidarität, die es in der Gemeinschaft der Gläubigen bewirkt, ließ ihn nie los. Es war zugleich der Gedanke an die Rolle des Kollektivs und des Kollektivbewusstseins, der im religiösen Bereich entstand und in die Theorie Durkheims einging. Hier macht sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem britischen und dem französischen Soziologen bemerkbar: Während Spencer in einem liberalen Milieu aufwuchs und sich bis an sein Lebensende einem liberalen Individualismus verpflichtet fühlte, ließ sich Durkheim stets vom Gedanken an das religiöse Kollektiv, an die Gruppe leiten. „Es ist ein gewisses Vergnügen, wir statt ich zu sagen (…)“ 40 , bemerkt er in einer seiner Schriften. Vor diesem religiösen und ideologischen Hintergrund wird Durkheims Kritik an dem schon erwähnten (Abschn. 2) methodologischen Individualismus Spencers besser verstanden. Spencer vertritt die aus seinem Libe- 40 E. Durkheim, L’Education morale, Paris, PUF, 1963, S. 203. <?page no="313"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 297 ralismus ableitbare Ansicht, dass Gruppe und Gesellschaft nicht mehr sind und sein können als die Summe ihrer Individuen und deren Eigenschaften: „Und doch gilt von menschlichen Gesellschaften wie von anderen Dingen, dass die Eigenschaften der Einheiten die Eigenschaften des Ganzen, welches sie bilden, bestimmen.“ 41 Zur Verdeutlichung fügt Spencer an anderer Stelle als „allgemeinen Grundsatz“ hinzu, „dass die Eigenschaften der Einheiten die Eigenschaften des Aggregats bestimmen“. 42 Dies bedeutet, dass bei Spencer das „Aggregat“ (als Kollektiv, Gruppe oder Gesellschaft) keine spezifischen Eigenschaften aufweist, die über die Eigenschaften seiner individuellen Mitglieder hinausgehen. In dieser Hinsicht setzt Spencer die von Hobbes und Locke begründete individualistische Tradition fort, die Francesco Callegaro als „moderne individualistische Orthodoxie“ 43 bezeichnet. Zu Hobbes bemerkt Durkheim in einer zu wenig beachteten Schrift: „Denn auch er geht vom Individuum aus. Im Prinzip leitet sich die kollektive Wirklichkeit vom Individuum ab.“ 44 Auf dieses individualistische Prinzip konzentriert sich Durkheims Kritik, die er auch an Spencers Adresse richtet: nicht nur in Über soziale Arbeits teilung, sondern auch in den Regeln der soziologischen Methode. So heißt es beispielsweise in Über soziale Arbeitsteilung im Zusammenhang mit Spencer: „Die soziale Solidarität wäre also nichts anderes als die spontane Übereinstimmung der individuellen Interessen, eine Übereinstimmung, deren natürlicher Ausdruck die Verträge sind. (…) Die Gesellschaft wäre, mit einem Wort, nur die Zusammenfassung von Individuen (…).“ 45 Der Vertrag erscheint hier als ein Produkt der Marktgesellschaft, die Individuen aufgrund ihrer Interessen aneinander bindet. Aus Durkheims Sicht ist jedoch das Interesse das am wenigsten geeignete soziale Bindemittel: „Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt.“ 46 Schon hier wird deutlich, dass Durkheim nicht das geringste Vertrauen zum marktwirtschaftlichen Besitzindividualismus als gesellschaftlicher Grundlage hat und nach anderen Faktoren Ausschau hält, die zur Entstehung sozialer Solidarität beitragen könnten. Seine Alternative zu Spencer lautet: Die Gruppe ist etwas qualitativ an deres als das Individuum, weil sie soziale Eigenschaften entstehen lässt, die nicht aus der Beschaffenheit ihrer einzelnen Mitglieder abgeleitet werden können und auch nicht auf sie reduzierbar sind. Durkheim fasst seinen 41 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, op. cit., S. 62. 42 Ibid., S. 64. 43 F. Callegaro, La Science politique des modernes. Durkheim, la sociologie et le projet d’autonomie, Paris, Economica, 2015, S. 11. 44 E. Durkheim, Hobbes à l agrégation, Paris, Editions EHESS, 2011, S. 59. 45 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesell schaften, Frankfurt, Suhrkamp (1992), 2012 (6. Aufl.), S. 259. 46 Ibid., S. 260. <?page no="314"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 298 Kerngedanken knapp und klar zusammen, wenn er in den Regeln der soziologischen Methode bemerkt: „Ein Ganzes ist eben nicht mit der Summe seiner Teile identisch.“ 47 Man könnte hinzufügen: weil es über die Teile hinausgeht und etwas qualitativ Neues hervorbringt. Dieses Neue ist das Soziale als besonderes Charakteristikum eines Kollektivs, einer Gruppe oder Gesellschaft: „Wir müssen also die Erklärung des sozialen Lebens in der Natur der Gesellschaft selbst suchen. Da sie nun das Individuum in der Zeit wie im Raum grenzenlos überschreitet, muß sie auch begreiflicherweise imstande sein, ihm die Arten des Handelns und Denkens aufzuerlegen, die sie mit ihrer Autorität sanktioniert hat.“ 48 Das heißt, dass die Gesellschaft dem Einzelnen aufgrund seiner Sozialisierung zwar innewohnt, zugleich aber eine ihm äußerliche Macht ist, die weit über sein individuelles Denken, Wollen und Wirken hinausgeht. Sie ist, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, eine Wirklichkeit sui generis: eine soziale Tatsache oder wie es im Original heißt: ein fait social. Dies hat Spencer verkannt. Denn er „sieht in der Gesellschaft keine eigene Wirklichkeit, die aus sich selbst und dank spezifischer und notwendiger Ursachen existierte (…)“. 49 Dem Wort „spezifisch“ kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil es etwas bezeichnet, das allen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Kultur- und Sozialwissenschaften gemeinsam ist: das Spezifische einer Wissenschaft wie Soziologie, Linguistik oder Literaturwissenschaft, das sie von den philosophischen Spekulationen der Philosophen (Hobbes, Locke, Kant, Hegel) unterscheidet. Während Saussure das Spezifische der Sprache in der Interaktion von Phonetik, Semantik und Syntax sieht, bezeichnet auch der russische Formalist Boris Ejchenbaum die Formalisten als „Spezifizierer“: „Das Bestreben nach einer Spezifizierung der Literaturwissenschaft äußerte sich vor allem darin, daß man die ‚Form‘ als Grundproblem der Erforschung der Literatur betrachtete (…).“ 50 Er fügt hinzu: „Wir sind keine ‚Formalisten‘, sondern, wenn Sie so wollen, Spezifizierer.“ 51 Auch Durkheim tritt Spencer und Comte gegenüber als „Spezifizierer“ auf, wenn er auf der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der sozialen Tatsache besteht, die jenseits der Individuen ist und im Alltag das indi- 47 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (Hrsg. R. König), Frankfurt, Suhrkamp (1984), 2014 (8. Aufl.), S. 187. 48 Ibid., S. 186. 49 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 408. 50 B. M. Ejchenbaum, „Zur Frage der Formalisten“, in: Marxismus und Formalismus (Hrsg. H. Günther, K. Hielscher), Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1973, S. 71. 51 Ibid., S. 72. <?page no="315"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 299 viduelle Handeln bestimmt. Durkheim kann als der eigentliche Begründer der Soziologie gelten, weil er dieses Spezifische der Soziologie als Wissenschaft entdeckt hat: Sie hat sich mit den Tatbeständen, Regelmäßigkeiten, Werten und Normen zu befassen, die über das Individuelle hinausgehen und nicht auf die Psyche des Einzelnen reduziert werden können. Immer wieder wehrt sich Durkheim gegen die Reduktion der Gesellschaftswissenschaft auf Psychologie oder philosophische Spekulation. In seinem Programm der Konkretisierung und Spezifizierung bricht er sowohl mit Spencer als auch mit Comte. Beiden Vorgängern, deren Differenzierungsgedanken er weiterentwickelt, wirft er vor, sich mit spekulativen Entwürfen zu begnügen, statt die von Comte so oft beschworenen Tatsachen zu berücksichtigen. Zu Comtes Theorie, deren antirevolutionäre und auf soziale Ordnung ausgerichtete Einstellung er übernimmt 52 , bemerkt er in den Regeln: „Kurz, Comte hat an Stelle der geschichtlichen Entwicklung den Begriff gesetzt, den er selbst davon hatte und der von dem Vulgärbegriff nicht sonderlich abweicht. (…) Mit einem derartigen Verfahren bleibt man aber nicht nur in der Ideologie stecken; man macht auch einen Begriff zum Gegenstande der Soziologie, der nichts spezifisch Soziologisches an sich hat.“ 53 Abermals kehrt das Wort „spezifisch“ wieder und deutet auf den Bruch der Soziologie als sich spezialisierender Wissenschaft mit der Philosophie, aus der sie hervorgeht. Auch Spencer wirft Durkheim vor, soziologische Forschung durch begriffliche Spekulation zu ersetzen. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, über die philosophischen Grundlagen der Soziologie nachzudenken: etwa über die Nähe seines eigenen Denkens zur französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Als seine eigentlichen Vorgänger im soziologischen Sinne betrachtet er Montesquieu - und bis zu einem gewissen Grad Rousseau. Der Grund hierfür ist: dass sie im Gegensatz zu Spencer das eigentlich Soziale, Überindividuelle - wenn auch nur in Ansätzen - erkannt haben. Im Gegensatz zu Comte und Spencer, die auch deshalb von der sozialen Wirklichkeit abstrahieren, weil sie der seit Platon dominierenden Frage nachgehen, wie eine Gesellschaft beschaffen sein sollte und nicht wie sie beschaffen ist, wendet sich vor allem Montesquieu vorwiegend dem Faktischen zu: dem, was der Fall ist. So heißt es beispielsweise von Montesquieu in Durkheims Buch über Montesquieu und Rousseau: „Daher sind es nicht nur die Gesetze, sondern 52 Vgl. A. Giddens, „Durkheim’s Political Sociology“, in: ders., Politics, Sociology and Social Theory, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell (1995), 2004, S. 107: „Both in political temper and in sociological conviction, Durkheim was an opponent of revolutionary thought.“ 53 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 119. <?page no="316"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 300 auch die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die er in seinem Buch erforscht (…).“ 54 Zugleich betrachtet Montesquieu in seinem Hauptwerk De l’esprit des lois (1748, dt. Vom Geist der Gesetze, 1961) die „sozialen Gegenstände“ (…) „als verschieden von den Gegenständen der anderen Wissenschaften“. 55 Dies bedeutet, dass er ihren spezifischen Charakter hervorhebt. Das Spezifische tritt bei Montesquieu auch dadurch in den Vordergrund, dass er sich einer vergleichenden Methode bedient, die sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen sozialen und politischen Systemen (Monarchien, Aristokratien, Demokratien oder Despotien) hervortreten lässt. Indem er die Gesetze vergleicht, „welche die verschiedensten Völker befolgen“ 56 , entwirft er das Programm einer „vergleichenden Rechtswissenschaft“ („droit comparé“). 57 Die vergleichende Methode gestattet es ihm, Typen von Gesellschaften, spezifische „soziale Arten“ 58 , wie Durkheim in den Regeln sagt, zu unterscheiden, wobei die Typologie auf konkreten Analysen sozialer Tatsachen und Zustände gründet. Obwohl Montesquieu immer wieder der idealistischen Abstraktion verfällt, indem er dem Gesetzgeber bei der Gründung einer gesellschaftlichen Ordnung eine privilegierte Position einräumt, versteht er es laut Durkheim, die Gesetzgebung vom Spezifischen und Konkreten einer Gesellschaft, von ihrem Typus, abhängig zu machen. Zu diesem Spezifischen gehören nach Durkheim auch und vor allem die Sitten und die Religion: „Er meint, dass sich die Sitten und die Religion der Macht des Gesetzgebers entziehen und dass sogar die Gesetze, die sich auf andere Gegenstände beziehen, mit den Sitten und der Religion übereinstimmen müssen.“ 59 Dies bedeutet, dass Montesquieus Gesetzgeber angehalten wird, bei seiner Tätigkeit die sozialen Tatsachen zu berücksichtigen. Obwohl Rousseau vor allem in seiner Darstellung des „Menschen im Naturzustand“ von der stets sozialen Beschaffenheit aller Individuen abstrahiert („le Sauvage vit en lui-même“) 60 , finden sich auch bei ihm (jedoch weniger ausgeprägt und durchdacht als bei Montesquieu) Ansätze zu einer Auffassung der Gesellschaft als Einheit sui generis, die nicht - wie bei Spencer - auf das Individuelle reduzierbar ist. Zur Verdeutlichung zitiert Durkheim Rousseau, der feststellt, dass die Gesellschaft „ein moralisches Wesen ist, das besondere Eigenschaften aufweist, die von denen der Indi- 54 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau. Précurseurs de la sociologie, Paris, Marcel Rivière, 1966, S. 45. 55 Ibid., S. 48. 56 Ibid., S. 97. 57 Ibid. 58 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 166. 59 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 82. 60 J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de lʼinégalité, Paris, Gallimard, 1965, S. 126. <?page no="317"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 301 viduen verschieden sind“. 61 Im Anschluss an diese Auffassung stellt er fest, dass Rousseau „sehr klar das Spezifische der sozialen Ordnung wahrnahm“ („avait un sentiment très vif de la spécificité du règne social“) und fügt hinzu: „Er fasst diese Ordnung sehr klar als eine Anordnung von Tatsachen auf, die sich von rein individuellen Tatsachen unterscheidet“. 62 Daraus folgt abermals, dass die Gesellschaft eine besondere Wirklichkeit ist, die nicht auf die Psyche ihrer Individuen reduziert werden kann. Bernard Valade fasst zusammen: „Dem Autor des Contrat social wird das Verdienst zugesprochen, die Verschiedenheit des Sozialen und des Individuellen hervorgehoben und dadurch das Gesellschaftliche begründet zu haben.“ 63 Doch wie stellt sich Durkheim das Gesellschaftliche als soziale Tatsache oder fait social konkret vor? 4. Kollektivbewusstsein und „soziale Tatsache“ („fait social“): Durkheim, Paul Fauconnet und Marcel Mauss Im Folgenden geht es vor allem um eine Verdeutlichung von Durkheims zentralem Begriff der sozialen Tatsache (fait social) anhand von Beispielen. In der Betonung des Tatsächlichen folgt Durkheim Comte, dessen positivistisches Programm er gegen Comtes Subjektivismus und Idealismus verwirklichen möchte. In den Regeln, in denen er, wie sich gezeigt hat, mit Comte auch hart ins Gericht geht, erklärt er sich zunächst mit dem Grundprinzip seines Vorläufers einverstanden: „Comte hat freilich den Grundsatz aufgestellt, daß die sozialen Erscheinungen Naturtatsachen und als solche den Naturgesetzen unterworfen sind. Damit hat er implizit ihren dinglichen Charakter erkannt.“ 64 Hier wird in zwei Sätzen das Credo des älteren soziologischen Positivismus zusammengefasst. Indem er die „sozialen Erscheinungen“ als „Naturtatsachen“ auffasst, übernimmt Durkheim Comtes Auffassung der Einheitswissenschaft, der „Enzyklopädie der Wissenschaften“, in der der Soziologie die Aufgabe zufällt, sich wie die Naturwissenschaften am Tatsächlichen zu orientieren. Comte wirft er allerdings vor, dass er diesen von ihm selbst vorgezeichneten Weg nicht einschlug und sich stattdessen von subjektiven Vorstellungen und Begriffen leiten ließ. Dieser Vorwurf trifft nur teilweise zu, denn Comte hat die Prozesse der Differenzierung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung recht genau beschrieben (vgl. Kap. V. 1). 61 J.-J. Rousseau in: E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 136. 62 E. Durkheim, Montesquieu et Rousseau, op. cit., S. 136. 63 B. Valade, „Durkheim: les idées directrices d’une sociologie scientifique“, in: B. Valade (Hrsg.), Durkheim. L’institution de la sociologie, Paris, PUF, 2008, S. 68. 64 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 118. <?page no="318"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 302 Im Gegensatz dazu halten Durkheim und seine Mitstreiter - Marcel Mauss, Paul Fauconnet - an dem Gedanken fest, dass die Soziologie ihr Augenmerk auf das für sie Spezifische zu richten hat und dass dieses Spezifische das Überindividuelle, das Kollektive ist. Es ist zugleich die soziale Tatsache im Sinne von Durkheim. Dieser Gedanke kommt am deutlichsten in dem Enzyklopädie-Artikel „Sociologie“ (1901) von Paul Fauconnet und Marcel Mauss zum Ausdruck, in dem Robert L. Geiger zu Recht das „Programm der Durkheim-Schule“ 65 sieht. In diesem Artikel geht es primär um das fait social als objektiv gegebene Tatsache, die das Einzelsubjekt als Faktum, als „Ding“ vorfindet und nicht ändern kann. Dies ist der Grund, warum Durkheim dafür plädiert, die faits sociaux als „Dinge“ zu betrachten: „Soziale Tatsachen als Dinge anzusehen, das ist die erste Regel seiner Methode“ 66 , erklärt Paul Fauconnet. Nach Fauconnet und Mauss ist es die Aufgabe der Erziehung als Sozialisation, das individuelle Subjekt mit den sozialen Tatsachen vertraut zu machen, damit es sich ihnen durch Verinnerlichung von Werten und Normen unterwirft: „Die Erziehung ist nun genau die Art, wie das Soziale einem jeden von uns als Einzelwesen einverleibt wird: das Moralische dem Animalischen; auf diese Art wird das Kind schnell sozialisiert. Diese Bemerkungen bieten uns eine viel allgemeinere Charakteristik der sozialen Tatsache als das Vorhergehende: Sozial sind alle Arten zu handeln und zu denken, die das Individuum als vorgegebene vorfindet und deren Überlieferung vorwiegend durch die Erziehung erfolgt.“ 67 Kurzum, die soziale Tatsache ist das Überindividuelle, das über allen individuellen Varianten steht und von allen Beteiligten anerkannt werden muss: „Den verschiedenen Bewusstseinsformen wohnen kollektive Vorstellungen inne, die von den individuellen Vorstellungen verschieden sind.“ 68 Zur Veranschaulichung sei an das „Schlange Stehen“ vor einem Geschäft oder Amt erinnert: Es ist eine soziale Tatsache, welche eine kollektive Norm verkörpert, die besagt, dass sich Neuankömmlinge hinten anzustellen haben. Zugleich ist sie dem Einzelnen äußerlich und wird tatsächlich von den meisten Menschen als Hindernis und Ärgernis empfunden - dennoch aber als kollektive und im Laufe der Sozialisierung verinnerlichte Norm anerkannt. 65 R. L. Geiger, „Die Institutionalisierung soziologischer Paradigmen: Drei Beispiele aus der Frühzeit der französischen Soziologie“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 149. 66 P. Fauconnet, „Das pädagogische Werk Durkheims“, in: E. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 13. 67 P. Fauconnet, M. Mauss, „La sociologie: objet et méthode“, in: M. Mauss, Essais de sociologie, Paris, Minuit, 1968/ 69, S. 16. 68 Ibid., S. 26. <?page no="319"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 303 An dieser Stelle könnte Spencer mit Theodor Geiger einwenden, es sei müßig, „sich um eine Transzendierung des Individs in Richtung auf ein Kollektivsubjekt zu bemühen, da ‚Kollektivsubjekte‘ nachweislich kein Gehirn haben“. 69 Nun ist nicht alles, was nachgewiesen werden kann, von großer Bedeutung. Viel ergiebiger sind Georg Simmels Ausführungen zur Entstehung des Kollektivbewusstseins als Faktum durch die Interkation einer wachsenden Anzahl von Individuen. Seine Überlegungen zur „Quantitativen Bestimmtheit der Gruppe“, in der es auch um die Dialektik von Quantität und Bewusstseinsqualität geht, könnten als eine Replik auf Geiger und Spencer gelesen werden: „Der Charakter des Überpersönlichen und Objektiven, mit dem solche Verkörperungen der Gruppenkräfte dem Einzelnen gegenübertreten, entstammt gerade der Vielheit der irgendwie wirksamen individuellen Elemente. Denn nur durch ihre Vielheit paralysiert sich das Individuelle an ihnen und steigt das Allgemeine in solche Distanz von diesem empor, daß es als ein ganz für sich Existierendes, des Einzelnen nicht Bedürftiges, ja oft genug ihm Antagonistisches erscheint (…).“ 70 Simmel präzisiert hier die Eigenständigkeit des Kollektiven, indem er auf die Rolle der Zahl hinweist, und definiert zugleich Durkheims fait social auf quantitativer Ebene. Das Kollektiv ändert sich quantitativ-qualitativ, je nachdem, ob es sich aus fünf, zehn oder hundert Personen zusammensetzt: Die Interaktion und das Denken innerhalb der Gruppe nehmen jeweils andere Formen an (dies hat jeder erlebt, der gemeinsam mit einigen oder vielen anderen einen Text schreibt - oder einen Ausflug plant). Es sei die Aufgabe der Soziologie, meinen Durkheim und seine Mitarbeiter, ihr Augenmerk auf diese kollektiven Prozesse und Vorstellungen zu richten. Um welche kollektiven Vorstellungen als soziale Tatsachen handelt es sich genau? In ihrem Artikel nennen Fauconnet und Mauss u.a den Ritus, der durch seine „Äußerlichkeit“ Zwangscharakter annimmt. Wir können ihn nicht ändern, sondern müssen ihn, wenn wir an einer Zeremonie, einem Begräbnis oder einem Gottesdienst teilnehmen, als Tatsache anerkennen und befolgen. Zum kollektiven Charakter religiöser Riten bemerkt Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dass sie der „Gruppe“ gehören und „deren Einheit“ 71 bilden. 69 Th. Geiger, Arbeiten zur Soziologie. Methode, moderne Großgesellschaft, Rechtssoziologie, Ideologiekritik (Hrsg. P. Trappe), Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1962, S. 427. 70 G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. XI (Hrsg. O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp (1992), 2016 (8. Aufl.), S. 73. 71 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt, Suhrkamp (1981), 2014 (3. Aufl.), S. 71. <?page no="320"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 304 Die Religion als ganze erscheint ihm dort als kollektive, soziale Tatsache. Sie geht aus dem Kollektivbewusstsein hervor, weil „das kollektive Leben, wenn es einen bestimmten Intensitätsgrad erreicht hat, das religiöse Denken erweckt (…)“. 72 Im Totem eines Clans der australischen Ureinwohner kommen Kollektivbewusstsein und Solidarität des Clans zum Ausdruck. Im Stamm, der sich aus verschiedenen Clans zusammensetzt, ergänzen die Totems einander. „Es ist unmöglich“, meint Durkheim, „daß sich jeder Clan einen völlig unabhängigen Glauben geschaffen hat; notwendigerweise müssen die Kulte der verschiedenen Totems untereinander abgestimmt gewesen sein, da sie sich genau ergänzen.“ 73 Fauconnet und Mauss fügen hinzu: „Und das Totem und die Fahne symbolisieren die Gruppe.“ 74 Das ist sicherlich der Fall. Die Fahne symbolisiert ein „Wir“: vor allem dann, wenn dieses „Wir“ während der Olympischen Spiele oder in einem politischen Konflikt besonders intensiv als Einheit, als kollektiver Aktant erlebt wird. Die Fahne ist kein buntes Tuch, das beliebig oft geändert werden kann, sondern bringt ein Identitäts- und Solidaritätsgefühl zum Ausdruck. Eine neue Fahne erscheint nur dann gerechtfertigt und wird von der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert, wenn nach einer Revolution (in Frankreich nach 1789), nach einem Krieg (in Deutschland nach 1945) oder nach dem Zerfall eines Staates (in Russland nach 1991) ein Neubeginn unvermeidlich erscheint. Der neuen Fahne fällt in solchen Situationen die Funktion zu, ein sich erneuerndes „Wir“ zu symbolisieren. Eine Funktion ganz anderer Art erfüllt das Geschenk, mit dem sich Marcel Mauss in Essai sur le don (1950, dt. Die Gabe, 1990) ausführlich befasst. Das Geschenk schafft langfristige soziale Bindungen zwischen Individuen und Gruppen (Familien), indem es die Beschenkten verpflichtet, sie an die Geber bindet. Weil sie als sozialer Kitt fungiert und wesentlich zum Zusammenhalt einer Stammesgesellschaft beiträgt, wird sie von Mauss als fait social total, als totale soziale Tatsache aufgefasst. Dazu bemerkt Mauss: „Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern.“ 75 Bruno Karsenti fasst Maussʼ zentrale These zusammen, wenn er schreibt „dass das Geschenk als totale soziale Tatsache betrachtet werden kann, weil es den Punkt bezeichnet, an dem die Gesellschaft vermag, zwischen den Individuen und Gruppen, aus denen sie besteht, Bande zu 72 Ibid., S. 618. 73 Ibid., S. 232. 74 M. Mauss, Essais de sociologie, op. cit., S. 65. 75 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 2016 (11. Aufl.), S. 181. <?page no="321"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 305 knüpfen“. 76 Somit erscheint das Geschenk als eine besondere Verkörperung des Sozialen. Noch in hochentwickelten Gesellschaften erfüllt es eine vergleichbare Funktion: Es schafft soziale Bindungen, weil es in den meisten Fällen eine anhaltende Reziprozität begründet. Das Soziale wohnt auch der Klassifikation inne, wie Marcel Mauss in einem bedeutenden Aufsatz über das Klassifizieren in australischen Stammesgesellschaften zeigt. Seine wichtigste Erkenntnis fasst er in der Feststellung zusammen, dass ein Stamm die inneren Klassifikationen, die seiner Organisation zugrunde liegen, auf die Gegenstände seiner Umgebung überträgt: „Die Klassifikation der Dinge reproduziert die Klassifikation der Menschen.“ 77 Für die Durkheim-Schule ist diese Erkenntnis wichtig, weil sie den kollektiven Charakter des Klassifizierens erkennen lässt: Die Klassen von Gegenständen, die die Stammesangehörigen in ihrer Umwelt zu erkennen meinen, wohnen nicht den wahrgenommenen Objekten inne, sondern sind eine Projektion des Stammes als Kollektivsubjekt. Nicht nur das Klassifizieren als semantische Tätigkeit ist kollektiven Ursprungs; die Sprache als ganze ist es. Der von Durkheim beeinflusste Linguist Ferdinand de Saussure, der die synchrone Linguistik begründete, indem er die Sprache als System auffasste, spricht von einer „habitude collective“, einer „kollektiven Gewohnheit“. 78 Er meint damit, dass die Sprache eine soziale Tatsache mit Zwangscharakter ist: Wir können ihre Regeln nicht ändern, wir können sie nur zur Kenntnis nehmen und richtig anwenden. Kinder erfahren die Zwänge der Sprache, sooft sie beim Erlernen ihrer Muttersprache Fehler machen, die von den Erwachsenen im Rahmen der Sozialisation korrigiert werden. Wer eine Fremdsprache lernt, bekommt sie zu spüren, wenn er der fremden Kollektivgewohnheit nicht folgt und zu hören bekommt: „Das kann man nicht sagen“. Nur die Schriftsteller verletzen immer wieder die kollektiven Sprachnormen und entziehen sich kritisch dem sozialen Zwang. Aber die Durkheimianer haben für individuellen Dissens, für Gesellschafts- und Sprachkritik keinen Sinn (vgl. Abschn. 8). 5. Soziale Differenzierung als Arbeitsteilung: Mechanische und organische Solidarität Wie Spencer und Comte steht Durkheim auf dem Standpunkt, dass die gesellschaftliche Entwicklung als ein Prozess aufgefasst werden könnte, der vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Heterogenen 76 B. Karsenti, Marcel Mauss. Le fait social total, Paris, PUF, 1994, S. 44. 77 E. Durkheim, M. Mauss, „De quelques formes primitives de classification“, in: M. Mauss, Essais de sociologie, op. cit., S. 169. 78 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 197. <?page no="322"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 306 verläuft. Die Gesellschaftsform, von der er ausgeht, ist mit der theologischen Gesellschaft Comtes und der militanten oder kriegerischen Gesellschaft Spencers vergleichbar: Es ist die traditionelle, „segmentale“ oder archaische Gesellschaft, in der alle Menschen einander ähnlich sind, weil sie ähnlichen Tätigkeiten - zumeist in der Landwirtschaft, der Jagd oder der Kriegskunst - nachgehen, wobei diese Tätigkeiten einander nicht ausschließen und nacheinander von einer und derselben Person ausgeübt werden können (wie die feudalen Gesellschaften Europas zeigen). Der gemeinsame Nenner, der allen diesen soziologischen Darstellungen zugrunde liegt und auch die Grundlage von Ferdinand Tönniesʼ Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Kap. X) bildet, könnte mit dem Ausdruck „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ zusammengefasst werden, der zugleich eine theoretische Erzählung evoziert. Diese Erzählung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte moderne und spätmoderne Soziologie und reicht bis in die Postmoderne Baudrillards und Maffesolis (vgl. Teil IV). Anthony Giddensʼ Schlüsselbegriff disembedding (Herauslösung aus der Tradition), der im neunzehnten Kapitel ausführlich zur Sprache kommt, gehört der neuesten Phase dieser Erzählung an und hätte ohne moderne Denker wie Comte oder Spencer, ohne den spätmodernen Durkheim kaum entstehen können. Wie sieht nun Durkheims traditionelle Gesellschaft aus? Sie wird nach Durkheim von der mechanischen Solidarität geprägt. Diese Solidarität ist als Solidarität im ursprünglichen, umgangssprachlichen Sinn aufzufassen. Sie wird im Duden wie folgt definiert: „völlige Übereinstimmung“; „unbedingtes Zusammenhalten auf Grund gleicher Anschauungen und Ziele“. Durkheims Auffassung der mechanischen Solidarität stimmt weitgehend mit dieser Definition überein. Zu ihren wesentlichen Aspekten gehören aus seiner Sicht: ein „gemeinsames Bewußtsein“ und „bestimmte kollektive Gefühle“. Dies bedeutet, dass die mechanische Solidarität eine soziale Tatsache (fait social) ist, die auf dem Kollektivbewusstsein einer Gesellschaft, eines Stammes oder eine Gruppe gründet. 79 In diesem Kontext wird sie von Durkheim allgemein als „Gesamtheit der sozialen Ähnlichkeiten“ 80 definiert. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten fühlt sich der Einzelne unmittelbar allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft oder Gruppe verbunden, denn er kann ihre Sitten, Bräuche und Handlungen nachvollziehen und ihre Gefühle nachempfinden. Dazu bemerkt Durkheim: „Daraus folgt eine Solidarität sui generis, die, aus Ähnlichkeiten erwachsend, das Individuum direkt an die Gesellschaft bindet.“ 81 Dies bedeutet zugleich, dass die traditionelle, 79 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 130. 80 Ibid. 81 Ibid., S. 156. <?page no="323"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 307 von der mechanischen Solidarität zusammengehaltene Gesellschaft eine homogene Gesellschaft ist, in der individuelle Abweichungen von herrschenden Wertsetzungen und Normen kaum vorkommen. Durkheim stimmt insofern mit Spencers Einschätzung der sozialen Entwicklung überein, als er die traditionelle (bei Spencer die „militante“) Gesellschaft mit einem schwach ausgeprägten Individualismus und einer bloß rudimentären individuellen Freiheit assoziiert. Die folgenden Überlegungen Durkheims zeigen, dass individuelle Freiheit in dem Maße zunimmt, wie die Solidarität und das Kollektivbewusstsein ihre Intensität einbüßen: „Die Solidarität, die aus den Ähnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewußtsein unser ganzes Bewußtsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. Sie kann nur entstehen, wenn die Gemeinschaft weniger Platz in uns einnimmt.“ 82 Durkheim, dem manchmal zu Unrecht Kollektivismus nachgesagt wird, sieht sehr wohl, dass sich individuelle Freiheit nur um den Preis einer Schwächung des Kollektivbewusstseins und der Solidarität entfalten kann. Als eine Art Barometer zeugt das Rechtssystem traditioneller Gesellschaften von deren Solidarität als Kohäsionskoeffizient. Das Recht dieser Gesellschaften hat repressiven Charakter und stimmt in vieler Hinsicht mit dem modernen Strafrecht überein. Es geht in diesem Recht vorrangig darum, Abweichungen von der Norm (etwa Verletzungen von Tabus) zu ahnden, um durch exemplarische Strafen die Solidarität des Kollektivs zu erhalten oder zu steigern. Zur Funktion der Strafe in mechanischer Solidarität heißt es in Über soziale Arbeitsteilung: „Ihre wirkliche Funktion ist es, den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewußtsein seine volle Lebensfähigkeit erhält.“ 83 Als Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung von der traditionellen zur modernen Gesellschaft stellt Durkheim fest, dass es zwei Typen des sozialen Zusammenhalts gibt: Solidarität aufgrund von Ähnlichkeiten und Solidarität, die auf wechselseitiger Abhängigkeit durch Arbeitsteilung gründet: „Das soziale Leben entspringt einer doppelten Quelle: der Ähnlichkeiten der Bewußtseinszustände und der Teilung der sozialen Arbeit.“ 84 Aus dieser geht die organische Solidarität hervor, die Durkheim so bezeichnet, weil sie die Interdependenz sozialer Funktionen meint, die der Interdependenz der Organe im biologischen Organismus vergleichbar ist. (Hier übernimmt Durkheim Spencers biologisch-soziologische Analogie.) In dem Maße, wie die Bevölkerung und die Bevölkerungsdichte zunehmen, nimmt auch die soziale Arbeitsteilung vor allem in den Städten zu und 82 Ibid., S. 181-182. 83 Ibid., S. 159. 84 Ibid., S. 283. <?page no="324"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 308 bewirkt, dass sich die organische Solidarität der mechanischen gegenüber allmählich durchsetzt. Die Arbeitsteilung wird nicht nur von demographischen Faktoren begünstigt, sondern auch vom Markt, der die effizienteste Produktionsweise belohnt. Marx weist darauf hin, dass der Markt als „Hang zum Austausch der Teilung der Arbeit ihren Ursprung gibt“. 85 Diesen Aspekt vernachlässigt Durkheim - möglicherweise, weil er Berührungspunkte mit Marxʼ Kapitalismus-Kritik, die er als Ökonomismus ablehnt (vgl. Abschn. 8), vermeiden möchte. Er stellt jedoch fest, dass das Rechtssystem in organischer Solidarität seinen repressiven Charakter verliert und einen restitutiven Charakter annimmt. Im Rahmen dieses Rechts, das als Erstattungsrecht eher dem Zivilrecht als dem Strafrecht ähnelt, zielt die Strafe „auf eine einfache Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands“. 86 Man könnte hinzufügen, dass dieses Prinzip einer restitutio ad integrum aus der Wirtschaft stammt. Dazu bemerken Steven Lukes und Devyani Prabhat: „(…) So verweise das repressive Recht auf den Grad der mechanischen Solidarität, und am restitutiven Recht lasse sich der Grad der organischen Solidarität ablesen.“ 87 Der sich beschleunigende Prozess der Arbeitsteilung, der in den industriellen und technologischen Gesellschaften seinen Höhepunkt erreicht, führt dazu, „daß alle sozialen Bande, die der Ähnlichkeit entstammen, allmählich ihre Kraft verlieren“. 88 An die Stelle der mechanischen Solidarität tritt vor allem in Städten die organische oder funktionale Solidarität, die auf der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander verschiedener, oft einander fremder Individuen und Gruppen gründet. Das Wort Solidarität büßt hier seine umgangssprachliche Bedeutung ein, weil es kein „Zusammenhalten“ aufgrund gemeinsamer Anschauungen und Gefühle bezeichnet, sondern eine funktionale Abhängigkeit. W. Watts Miller bezeichnet sie treffend als „cohesion without consensus“ 89 und evoziert den Widerspruch, welcher der organischen Solidarität innewohnt. An dieser Stelle tritt ein grundsätzliches Problem von Durkheims Soziologie auf, das Durkheim nie wirklich gelöst hat: Wie können auf der Grundlage einer funktionalen Interdependenz, deren Existenz vom Geldmedium als Tauschwert abhängt, ein kollektives Wertbewusstsein, eine gemeinsame Moral und eine Solidarität im ursprünglichen Sinne des Wor- 85 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 291. 86 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 162. 87 S. Lukes, D. Prabhat, „Durkheim über Recht und Moral: Die Desintegrationsthese“, in: T. Bogusz, H. Delitz (Hrsg.), Emile Durkheim. Soziologie - Ethnologie - Philosophie, Frankfurt-New York, Campus, 2013, S. 156. 88 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 228. 89 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, London, UCL Press, 1996, S. 248. <?page no="325"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 309 tes entstehen? Bei Durkheim ist von einer „anderen Solidarität“ 90 die Rede und davon, „daß die soziale Solidarität dazu neigt, rein organisch zu werden“. 91 Aber kann hier noch von Solidarität die Rede sein? Danilo Martuccelli spricht in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht von Durkheims „tragischer Auffassung der Gesellschaft“ und erklärt: „Wenn er im Laufe der Zeit der moralischen Pflicht eine immer größere Rolle in der sozialen Integration zuspricht, so kann er sich doch niemals von seiner Darstellung der Zerbrechlichkeit sozialer Bindungen lösen.“ 92 Worin besteht die Tragik? Darin, dass die Menschen als Spezialisten zwar aufeinander angewiesen sind, einander aber zunehmend als fremde Geldquellen wahrnehmen. Dies ist wohl der Grund, warum Durkheim alles Wirtschaftliche mit Misstrauen betrachtete. In einer Vorlesung über die Berufsmoral spricht er vom „amoralische[n] Charakter des Wirtschaftslebens“ 93 und fügt hinzu, „daß die Entfesselung der ökonomischen Interessen zu einem Niedergang der öffentlichen Moral geführt hat“. 94 Dieses Eindringen der Wirtschaft in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ist eines der Hauptthemen von Durkheims Soziologie und bildet den Hintergrund, vor dem er die Pathologien der modernen Gesellschaft - Egoismus, Anomie, Selbstmord - darstellt. Dieser Soziologie, die - ähnlich wie Comtes Theorie - den religiösen Faktor als soziales Bindemittel so hoch veranschlagt, stellt sich die Frage, wie das von der Arbeitsteilung geschwächte Kollektivbewusstsein moralisch gestärkt werden könnte. Durkheim meint, dass die Arbeitsteilung selbst zu einer Stärkung des Kollektivbewusstseins beitragen würde, wenn es gelänge, die mittelalterliche Institution der Zunft zu erneuern und Berufsgruppen oder Korporationen zu bilden. Am Ende seiner Selbstmord-Studie stellt er fest: „Es muß erreicht werden, daß der einzelne sich wieder solidarischer mit einem Kollektivwesen fühlt.“ 95 Als geeignetes Kollektivwesen erscheint ihm die Berufsgruppe als Korporation. Über sie schreibt er im „Vorwort zur zweiten Auflage“ seiner Studie Über soziale Arbeitsteilung, in der auch von der „Wiederbelebung der Korporation“ 96 die Rede ist: „Die einzige, die diese Bedingungen erfüllt, ist die Gruppe, die aus allen Trägern eines gleichen Gewerbes besteht und 90 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 228. 91 Ibid. 92 D. Martuccelli, „Emile Durkheim, problèmes et promesses de la différenciation sociale“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 65. 93 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt, Suhrkamp (1991), 1999, S. 24. 94 Ibid. 95 E. Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt, Suhrkamp (1983), 2014 (13. Aufl.), S. 443. 96 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 47. <?page no="326"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 310 die in einem einzigen Verband vereinigt und organisiert ist, das heißt in einer Korporation oder einer Berufsgruppe.“ 97 Von ihr verspricht er sich eine Stärkung des Kollektivbewusstseins und der Moral als Berufsmoral in einer arbeitsteiligen und von ökonomischen Faktoren dominierten Gesellschaft. Serge Paugam bringt Durkheims Reformprogramm auf eine Kurzformel: „moraliser l’économie“, „die Wirtschaft moralisieren“. 98 Es fragt sich allerdings, ob angesichts der ökonomisch motivierten Verteilungskämpfe, die in der modernen Gesellschaft alle Organisationen von den Eisenbahnen bis zu den Fluggesellschaften heimsuchen und sogar in Universitäten an der Tagesordnung sind, weil keine Wissenschaftlergruppe auf einen Teil ihres Budgets zugunsten einer Nachbarwissenschaft verzichten will, Durkheims Vorschlag nicht vorab zum Scheitern verurteilt sei. Es ist kaum vorstellbar, dass die Berufsverbände, für deren Schaffung er plädiert, in der zeitgenössischen Gesellschaft die sozialen Pathologien, die er untersucht, eindämmen oder gar zurückdrängen könnten: Auch die Verbände werden zumindest teilweise von gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zusammengehalten. 6. Soziale Pathologien: Egoismus, Anomie, Selbstmord Die spätmoderne arbeitsteilige Gesellschaft ist eine Welt der Ambivalenz: Durch funktionale (organische) Interdependenz werden Individuen und Gruppen zusammengeführt, die einander mit Gleichgültigkeit, Unverständnis oder gar Feindseligkeit betrachten. Sie sollen zusammenarbeiten, d.h. funktional solidarisch sein, verstehen einander aber nicht (aufgrund ihrer extremen Spezialisierung) oder lehnen einander sogar ab: etwa aus religiösen, ethnischen oder sprachlichen Gründen. Dies ist ein Aspekt, den der auf Solidarität und Konsens bedachte Durkheim kaum berücksichtigt. Tatsache ist jedoch, dass in dieser von der sozialen Arbeitsteilung geprägten Situation Wertsetzungen und Normen kollidieren, so dass Anomie entsteht: nicht „Normlosigkeit“, wie Durkheim und später Robert K. Merton 99 meinen, sondern Wert- und Normrelativismus, der darin besteht, dass es schwerfällt, sich für oder gegen einen Wert und die mit ihm einhergehende Norm zu entscheiden. Die zweite Ambivalenz besteht darin, dass das Individuum der spätmodernen Gesellschaft einerseits aus traditionellen Bindungen freigesetzt wird, andererseits aber vereinsamt. Dazu bemerkt Joseph Neyer: „Das 97 Ibid., S. 46. 98 S. Paugam, „Présentation. Faire société. Les Leçons de Durkheim“, in: E. Durkheim, Leçons de sociologie, Paris, PUF (1950), 2015 (6. Aufl.), S. 11. 99 Vgl. R. K. Merton, „Sozialstruktur und Anomie“, in: A. Fischer, Die Entfremdung des Menschen in einer heilen Gesellschaft. Materialien zur Adaptation und Denunziation eines Begriffs, München, Juventa, 1970, S. 126. <?page no="327"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 311 Individuum wird autonomer, selbst wenn es existenziell zunehmend auf soziale Beziehungen angewiesen ist.“ 100 Das heißt, dass diese Beziehungen im Rahmen der organischen Solidarität funktionalen oder gar „strategischen“ Charakter annehmen (im Sinne des networking) und nichts oder wenig mit der mechanischen (kulturellen, gefühlsmäßigen) Solidarität zu tun haben. Dabei wächst nicht nur die Autonomie des Einzelnen, sondern auch seine Vereinsamung. In solchen Verhältnissen der Bindungslosigkeit bei zunehmender funktionaler Verflechtung besteht die Gefahr, dass der Einzelne „im Egoismus und in der Regellosigkeit versinkt“. 101 Abermals greift Durkheim die Erzählung „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ auf und kommt am Ende seiner Selbstmordstudie zu dem Schluss: „Aber wenn man das Alte stürzt, ohne etwas anderes an seine Stelle zu setzen, hat man nur den Egoismus des Verbandes ersetzt durch den Egoismus des einzelnen, der noch viel zersetzender ist.“ 102 In dieser Studie greifen Egoismus und Anomie als soziale Pathologien ineinander und bilden zusammen ein Krisensyndrom, von dem die Zunahme der Selbstmordraten zeugt. 103 Durkheim spricht von einer krankhaften Entwicklung der Gesellschaft: „Egoistischer Selbstmord und anomischer sind also die einzigen, deren Entwicklung man als krankhaft bezeichnen könnte, und infolgedessen haben wir uns nur mit ihnen zu beschäftigen.“ 104 Hier wird deutlich, warum Durkheims Soziologie als eine spätmoderne Soziologie der Krise bezeichnet werden kann: Sie reflektiert kritisch die Fehlentwicklungen der Moderne, indem sie diese kontrastiv mit der traditionellen Gesellschaft der mechanischen Solidarität vergleicht. Als eine Theorie der Krise fasst auch Francesco Callegaro diese Soziologie auf: „Nach Durkheim stellt die Moderne nicht eine kritische Phase unter anderen dar, sondern ist die Krise des Sozialen schlechthin.“ 105 Die wachsende Zahl egoistischer und anomischer Selbstmorde ist ein Symptom dieser Krise. Im Rahmen seiner Theorie des Kollektivbewusstseins und der sozialen Tatsache untersucht Durkheim in seiner Selbstmordstudie, die als kritische Analyse der Moderne gelesen werden könnte, den Nexus von Kollektivbewusstsein und Selbstmordrate. Seine These, die aus den Regeln der soziologischen Methode und aus Über soziale Arbeitsteilung ableitbar ist, 100 J. Neyer, „Individualism and Socialism in Durkheim“, in: E. Durkheim, Essays on Sociology and Philosophy (Hrsg. K. H. Wolff), New York, Harper and Row, 1964, S. 47. 101 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 464. 102 Ibid., S. 454. 103 Ibid., S. 433. 104 Ibid., S. 442. 105 F. Callegaro, La Science politique des modernes, op. cit., S. 95. <?page no="328"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 312 lautet: Der Selbstmord ist keine rein individuelle Erscheinung, sondern hängt eng mit dem Kollektivbewusstsein der Gruppe zusammen, der ein Einzelner angehört, und die Selbstmordrate steigt in dem Maße, wie das Kollektivbewusstsein und die Solidarität der Gruppe abnehmen. Schon in seiner Studie über die Arbeitsteilung stellt Durkheim eine Beziehung zwischen der arbeitsteiligen Zivilisation und der steigenden Selbstmordrate her. Von der „ökonomischen Tätigkeit, die jede Zivilisation begleitet“, heißt es gleich im ersten Kapitel: „Sie dient dem Fortschritt der Moral durchaus nicht; vielmehr sind die Verbrechen und die Selbstmorde gerade in den großen Industriezentren am häufigsten.“ 106 In seinen Analysen des Selbstmordes als sozialer Tatsache 107 weist Durkheim überzeugend nach, dass die Selbstmordrate vom sozialen Zusammenhalt und konkret vom Solidaritätsgrad bestimmter - vor allem religiöser - Gruppen abhängt. Zunächst stellt er ganz allgemein fest, dass der Selbstmord in Großstädten viel häufiger vorkommt als auf dem Land. Eines seiner Beispiele ist Wien (damals noch Hauptstadt von Österreich-Ungarn), das für die außergewöhnlich hohe Selbstmordrate im damaligen Niederösterreich (im Vergleich zu Oberösterreich oder Tirol) verantwortlich ist: „Die Erklärung für diese hohe Zahl [der Selbstmorde] ist darin zu finden, daß in Niederösterreich Wien liegt, das, wie alle Großstädte, Jahr für Jahr eine enorme Zahl von Selbstmorden aufweist: 1876 waren es 320 pro Million Einwohner.“ 108 Die Großstadtgesellschaft vereinigt die beiden Faktoren, die die Neigung zum Selbstmord verstärken: Egoismus und Anomie. In einer säkularisierten Welt kann die Vereinsamung des Individuums dazu führen, dass es - wie Antoine Roquentin in Sartres Roman Der Ekel - keinen Sinnzusammenhang mehr wahrnimmt und auf den Gedanken verfällt, aus dem Leben zu scheiden. Durkheim bezeichnet diese Art von Selbsttötung als egoistischen Selbstmord. Er ist für eine arbeitsteilige, urbane Gesellschaft charakteristisch, die den Einzelnen isoliert und der Anonymität preisgibt. Zugleich ist diese Gesellschaft von der Anomie geprägt: der Schwächung sozialer Normen, die auf die Koexistenz widersprüchlicher und konkurrierender Wertsetzungen und Normvorstellungen zurückzuführen ist. Dieser Zustand hat eine Orientierungslosigkeit des Einzelnen zur Folge. „Anomie entsteht“, erklären Baudelot und Establet, „wenn individuelle und von der Gesellschaft vorgegebene Ziele stark divergieren (…).“ 109 106 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 97. 107 Zum Selbstmord als soziale Tatsache vgl. Ch. Baudelot, R. Establet, Durkheim et le suicide, Paris, PUF (1984), 1990 (3. Aufl.), S. 15-45. 108 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 79. 109 Ch. Baudelot, R. Establet, Durkheim et le suicide, op. cit., S. 40. <?page no="329"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 313 Durkheim selbst führt die Zunahme anomischer Selbstmorde auf den wachsenden Einfluss der Wirtschaft zurück. Vom „Zustand der Anomie“ heißt es in der Selbstmordstudie: „Es gibt aber eine Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, wo er tatsächlich eine Art Dauerzustand ist, nämlich in der Welt des Handels und der Industrie.“ 110 Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur steigen Selbstmordraten, weil sich viele Menschen unrealistische, anomische Ziele setzen, die sie nicht erreichen können. Zu dem nach der Gründung des deutschen Reiches (1871) einsetzenden Wirtschaftswachstum bemerkt Durkheim: „Handel und Industrie gedeihen. Und niemals stiegen die Selbstmordzahlen so rapide.“ 111 Das zentrale Argument von Durkheims Le Suicide, das man als spezifisch soziologisch bezeichnen könnte, weil es den Selbstmord als soziale Tatsache bestimmt, betrifft den Nexus von Selbstmordrate und religiöser Gruppe. Gleich in der „Einführung“ stellt Durkheim fest, dass in jeder sozialen Gruppe eine spezifische Neigung zum Selbstmord nachweisbar ist. 112 Anders gesagt, der Selbstmord ist keine rein individuelle, psychische, sondern eine kollektive Erscheinung, und zwar in dem Sinn, dass er in protestantischen Gruppen wesentlich häufiger vorkommt als in katholischen oder jüdischen: „So stellen also überall ohne jede Ausnahme die Protestanten viel mehr Selbstmörder als die Gläubigen anderer Religionen.“ 113 Besonders gering ist die Neigung zum Selbstmord bei den Juden, nicht nur wegen des Gemeinschaftsgefühls, das ihnen ihre Religion vermittelt, sondern auch aufgrund der Gruppensolidarität, die sie als - oft marginalisierte - Minderheit entwickeln: „Bei den Juden ist die Neigung zum Selbstmord immer geringer als bei den Protestanten.“ 114 Die Selbstmordanfälligkeit der Protestanten erklärt Durkheim aus dem vom protestantischen Glauben geförderten „religiösen Individualismus“. Anders als etwa die Katholiken, die eine universelle Kirchengemeinde bilden und sich an den Dogmen ihrer Kirche orientieren, „ist der Protestant Schöpfer seines eigenen Glaubens“. 115 Diese Freiheit kann aber auch Isolierung, Orientierungslosigkeit und Anomie zur Folge haben, so dass es unter Protestanten häufiger als unter Katholiken und Juden zu egoistischen und anomischen Selbstmorden kommt. Allerdings sinkt die Selbstmordrate auch unter Protestanten, wenn sie in einem Land oder einer Region eine Minderheit bilden: Wie bei den Juden steigert der Druck, der auf sie von der (katholischen) Mehrheit ausgeübt 110 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 290. 111 Ibid., S. 277. 112 Ibid., S. 34. 113 Ibid., S. 165. 114 Ibid., S. 166. 115 Ibid., S. 169. <?page no="330"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 314 wird, die Solidarität. (Hier zeigt sich, wie wichtig es in der Soziologie ist, das Ineinandergreifen verschiedener Faktoren zu berücksichtigen und monokausale Erklärungen mit Skepsis zu betrachten.) Eine besondere Kategorie in Durkheims Selbstmordstudie bildet der altruistische Selbstmord, der als das Gegenstück zum egoistischen und anomischen betrachtet werden könnte: Er kommt dadurch zustande, dass das Individuum so stark in eine Gruppe integriert ist, dass es jederzeit bereit ist, sich für die Belange dieser Gruppe zu opfern. Als Beispiel führt Durkheim die Selbstmordepidemien im Mittelalter an, „die durch ein Übermaß religiösen Eiferertums ausgelöst“ 116 wurden. Ein Beispiel aus heutiger Zeit wären die Selbstmordattentate religiöser Fundamentalisten, die so sehr im Glauben ihrer Gruppe oder Bezugsgruppe aufgehen, dass sie nicht zögern, ihr Leben zu opfern Allerdings weist Durkheim unmissverständlich darauf hin, dass nicht der altruistische, sondern der egoistische oder anomische Selbstmord für die spätmoderne Gesellschaft kennzeichnend ist. Dem altruistischen fällt eher die Funktion einer Kontrastfolie zu, die erkennen lässt, wie schwach die Bande zwischen Individuum und Kollektiv in der hochentwickelten Gesellschaft geworden sind. In diesem Kontext wirkt der fundamentalistische Selbstmordattentäter als exotischer Fremdkörper. Durkheim nimmt sich vor, die Bande zu stärken: nicht durch eine Rückkehr zur mechanischen Solidarität, sondern durch eine moralische Festigung der modernen organischen Solidarität. Er möchte das isolierte, egoistische und selbstmordgefährdete Individuum in die - im vorigen Abschnitt erwähnte - Berufsgruppe integrieren. Die Schaffung dieser Gruppe fasst er nicht nur als Beitrag zur Integration arbeitsteiliger Gesellschaften auf, sondern auch als Antwort auf die Pathologien des spätmodernen Alltags. Sowohl Durkheims Schrift über die Arbeitsteilung als auch seine Selbstmordstudie schließen mit Überlegungen zur integrierenden moralischen Funktion der Berufsgruppe oder Korporation. Im letzten Kapitel von Der Selbstmord („Praktische Folgerungen“) heißt es: „Wir haben aber bewiesen, daß (…) Religion, Familie, Vaterland vor dem egoistischen Selbstmord schützen (…). Eine ganz andere Gruppe kann also dieselbe Wirkung haben, vorausgesetzt, daß sie den gleichen inneren Zusammenhalt hat (…). Es ist die Berufsgruppe oder der Fachverband.“ 117 Somit erscheint die „Einbettung des Individuums in die Gesellschaft“ als oberstes Ziel, als telos von Durkheims soziologischer Erzählung, die im Folgenden als Aktantenmodell dargestellt wird. 116 Ibid., S. 255. 117 Ibid., S. 449. <?page no="331"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 315 7. Durkheims Aktantenmodell zwischen Kant und Hegel: Im Auftrag der Gesellschaft Nach dem bisher Gesagten ist es nicht weiter erstaunlich, dass Durkheim der Gegensatz zwischen den gesellschaftlich-moralischen und den wirtschaftlich-anomischen Kräften als relevant erscheint. Er spricht in seiner Selbstmordstudie von „ökonomische[r] Anomie“ 118 und macht dort die Wirtschaft für die Pathologien der Gesellschaft verantwortlich: „Und weil dieses Durcheinander gerade in der Welt der Wirtschaft seinen Höhepunkt erreicht hat, findet es dort auch die meisten Opfer.“ 119 Die Kurzformel, der Durkheim implizit alle seine Gegensätze subsumiert, kommt letztlich in der Gegenüberstellung von Gesellschaft und Wirtschaft zum Ausdruck. Während auf Seiten der Gesellschaft die Faktoren der sozialen Integration stehen: die moralische Wertsetzung, die Regel, die Norm, die Solidarität und die soziale Gesundheit, werden auf Seiten der Wirtschaft die Faktoren der Desintegration gruppiert: Utilitarismus, Regellosigkeit, Anomie, Egoismus und soziale Pathologie. Aus diesem als relevant postulierten semantischen Gegensatz Gesellschaft / Wirtschaft geht ein Aktantenmodell hervor, in dem „Gesellschaft“ und „Wirtschaft“ als Auftraggeberin bzw. Gegenauftraggeberin eines Subjekt-Aktanten auftreten. Der „Heilsauftrag“ (Greimas) der Auftraggeberin „Gesellschaft“ läuft freilich nicht auf eine Zerstörung der „Wirtschaft“ hinaus (was im sozialwissenschaftlichen Kontext eine Absurdität wäre), sondern auf deren Unterordnung unter die Gesellschaft und ihre Helfer (z.B. den Staat). (Hier tritt der Gegensatz zu Spencer besonders klar in Erscheinung.) Dem „Individuum“ als Subjekt-Aktanten fällt in diesem Modell die Aufgabe zu, gegen alle Kräfte sozialer Desintegration die soziale Integration durchzusetzen - an erster Stelle seine eigene. Damit ist auch der Objekt- Aktant von Durkheims Diskurs bezeichnet: „Es ist also ein würdiges Ziel, die Gesellschaft diesem Grad der Vollendung so nahe wie möglich zu bringen.“ 120 Mit „Vollendung“ ist hier „soziale Gesundheit durch Integration“ im moralischen Bereich der Werte und Normen gemeint. In regelmäßigen Abständen tritt in Durkheims Diskurs als Erzählung die Gesellschaft als Auftraggeberin und oberste Autorität auf: „Die Gesellschaft allein vermag, ein Gesamturteil darüber zu fällen, was das menschliche Leben wert ist, ein Urteil, für das der einzelne nicht kompetent ist.“ 121 An die Adresse des Subjekt-Aktanten oder „Helden“, der als Fokalisator der Er- 118 Ibid., S. 296. 119 Ibid., S. 294. 120 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 405. 121 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 238. <?page no="332"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 316 zählung nicht zum „Antihelden“ werden, nicht dem wirtschaftlichen Egoismus nachgeben soll, richtet der Erzähler Durkheim (wie im Bildungsroman) die unmissverständliche Warnung, „daß unser Handeln sein Ziel verliert, wenn wir uns ihr [der Gesellschaft] entfremden“. 122 Die religiösen Konnotationen sind in diesen Passagen kaum zu überhören. In der säkularisierten Welt, in der Nietzsche als älterer (1844-1900) Zeitgenosse Durkheims den „Tod Gottes“ verkündet, mag jemand durchaus auf den Gedanken kommen, dass die Gesellschaft an die Stelle des Toten tritt. Hier wird deutlich, dass sich Durkheims Aktantemodell nahtlos in die allgemeine Erzählung „von der traditionellen zur modernen Gesellschaft“ einfügt: Denn es gilt, die zentrifugalen Kräfte der Moderne durch integrative Maßnahmen zu bändigen. Im Zusammenhang mit Durkheim spricht W. Watts Miller von „God as society thought of symbolically“. 123 Tatsächlich bestätigt Durkheim in seinem Buch über Die elementaren Formen des religiösen Lebens die auch von anderen Kommentatoren vorgebrachte Hypothese 124 , dass die Gesellschaft die neue, säkularisierte Auftraggeberin oder Gottheit ist. Von ihr als „Wirklichkeit“ heißt es dort, „daß diese Wirklichkeit, die sich die Mythologien unter so vielen verschiedenen Formen vorgestellt haben, die aber die objektive, universale und ewige Ursache dieser Empfindungen sui generis ist, aus denen die religiöse Erfahrung besteht, die Gesellschaft ist“. 125 Sie beauftragt den Einzelnen - und zusammen mit ihm alle Individuen -, für kollektive Gesundheit als soziale Integration zu kämpfen. Es kann hier von einem „Heilsauftrag“ („mission de salut“, Greimas) in fast wörtlichem Sinne die Rede sein. Worin besteht der narrative „Heilsauftrag“ genau? Es ist die Aufgabe des Individuums und aller vom Soziologen-Erzähler angesprochenen Individuen, dafür zu sorgen, dass die „Wirtschaft“ als destruktive Gegenauftraggeberin der „Gesellschaft“ untergeordnet wird. Durkheim spricht vom „amoralischen Charakter des Wirtschaftslebens“ 126 , und Raymond Boudon stellt in diesem Zusammenhang eine „Disqualifizierung der Wirtschaft“ 127 fest. Dieser Teil von Durkheims narrativem Programm (Greimas) nimmt vor allem in seiner Selbstmordstudie klare Konturen an. Der mit einem moderaten, reformistischen Sozialismus sympathisierende Durkheim plädiert dort indirekt für eine Unterordnung der Wirtschaft unter staatliche Ins- 122 Ibid. 123 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, op. cit., S. 230. 124 Vgl. H. Alpert, Emile Durkheim and his Sociology (1939), Aldershot, Gregg Revivals, 1993, S. 207: „Moreover it is society that has created the dignity of man (…).“ 125 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, op. cit., S. 612. 126 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 24. 127 R. Boudon, „D’un Durkheim à l’autre“, in: B. Valade, Durkheim, op. cit., S. 163. <?page no="333"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 317 titutionen: „Die Regierung ist von einer Regelinstanz des wirtschaftlichen Lebens zu dessen Instrument und Diener geworden.“ 128 Die „Industrie“ als Metonymie für die Wirtschaft hat im Aktantemodell die Stelle der „Gesellschaft“ usurpiert: „(…) So ist die Industrie das erhabenste Ziel des einzelnen und der Gesellschaften geworden, statt weiter lediglich als Mittel zu einem höheren Zweck betrachtet zu werden.“ 129 Der „höhere Zweck“ ist die Gesellschaft und ihre Integration. Dieser Integration sollen in Durkheims Erzählprogramm die „Berufsgruppen“ als Helferinnen der „Gesellschaft“ und des Subjekt-Aktanten „Individuum“ dienen. Als vermittelnde Instanzen sollen sie helfen, die Kluft zwischen Staat und Individuum zu überbrücken, weil sie Teil des gesellschaftlichen Alltags sind und durch ihre Nähe zu Einzelpersonen unmittelbar integrierend wirken können. 130 Zugleich sollen sie eine neue mechanische Solidarität in der von der organisch-funktionalen Solidarität dominierten arbeitsteiligen Gesellschaft begründen und so dem von der Vereinzelung bedrohten Individuum den Rücken stärken. Insofern hat Serge Paugam gar nicht so Unrecht, wenn er Durkheim gegen den Kollektivismus-Vorwurf verteidigt und feststellt, „dass Durkheims Auffassung des Staates von Grund auf individualistisch ist“. 131 Denn der Staat, der durch die Berufsgruppen für individuelle Anliegen sensibilisiert wird, hat als Helfer des Individuums und der Gesellschaft bei Durkheim die Aufgabe, individuelle Freiheit zu gewährleisten und individuelle Belange zu fördern. Wie ist es nun um das Individuum selbst bestellt, den Subjekt- Aktanten und Fokalisator des Diskurses? Ist Durkheims Soziologie, wie Melvin Richter meint, ein „restatement of individualism“ 132 , d.h. eine sozialindividualistische Alternative zu Spencers Liberalismus? Im Rahmen des hier konstruierten Aktantenmodells kann man Richter durchaus zustimmen: Von der Gesellschaft als Auftraggeberin erhält das Individuum als Subjekt „alles, was es benötigt, und für ebendiese Gesellschaft setzt es sich ein“. 133 Wie in allen Aktantenmodellen (vom Märchen bis zum James-Bond-Roman) wird der Subjekt-Aktant vom Auftraggeber mit allen Modalitäten ausgestattet, die er braucht, um den „Heilsauftrag“ zu erfüllen. Zu diesen Modalitäten gehören Sprache und Vernunft als soziale Tatsachen, die den Einzelnen befähigen, in Begriffen abstrakt zu denken und 128 E. Durkheim, Der Selbstmord, op. cit., S. 291. 129 Ibid., S. 292. 130 Vgl. E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 154-155. 131 S. Paugam, „Présentation“, in: E. Durkheim, Leçons de sociologie, op. cit., S. 27. 132 M. Richter, „Durkheim’s Politics and Political Theory“, in: E. Durkheim, Essays on Sociology and Philosophy, op. cit., S. 181. 133 E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, op. cit., S. 285. <?page no="334"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 318 allgemein gültige Wahrheiten zu erkennen. 134 Zu ihnen gehört auch der neue kategorische Imperativ, dem Durkheim in seiner Kritik an Kants abstraktem, rein individuellem Imperativ einen gesellschaftlichen Gehalt gibt: „In spezifischer Hinsicht nimmt der kategorische Imperativ des moralischen Bewußtseins allmählich folgende Form an: Bereite dich vor, eine bestimmte Funktion nützlich auszufüllen.“ 135 Zu Durkheims Absicht, Kants kategorischen Imperativ in den sozialen, arbeitsteiligen Kontext zu projizieren, bemerkt Wolfgang Schluchter, der dem Verhältnis zwischen Kant und Durkheim einen ausführlichen Kommentar widmet: „Es gilt, die Einsichten von Kant in der Ethik in die positive Wissenschaft zu übernehmen, seine Metaphysik der Sitten in eine soziale Physik der Sitten zu überführen.“ 136 Es ist hier nicht der Ort, einen Dialog zwischen Kant und Durkheim über Fragen der Ethik zu inszenieren. Als Kantianer könnte man jedoch einwenden, dass die Vergesellschaftung des kategorischen Imperativs, die Durkheim sagen lässt, der Mensch habe „Organ der Gesellschaft zu sein“ 137 , auf eine unzulässige Partikularisierung hinausläuft. Denn in einer totalitären Gesellschaft wirkt sich eine Befolgung von Durkheims Imperativ fatal aus: Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus haben gezeigt, dass diejenigen, die in einer solchen Gesellschaft „eine bestimmte Funktion nützlich ausfüllen“ zu Mittätern werden. Aus Kantischer Sicht scheint es sinnvoller zu sein, dem Individuum jenseits aller Auftraggeber die volle Verantwortung zu überlassen, so dass es sich im Extremfall auch gegen eine falsche Gesellschaft wenden kann: nach Adornos Maxime aus den Minima Moralia: „Das Ganze ist das Unwahre.“ 138 Diese Überlegungen sind nicht als „Randbemerkungen zu Kant und Durkheim“ zu lesen, weil sie auf ein grundsätzliches Problem von Durkheims Soziologie zielen: auf deren Hegelianismus, der darin besteht, dass eine Theorie, die im Auftrag der Gesellschaft argumentiert, nolens volens zu einer Apologie des Bestehenden gerät. Zwar kritisiert Durkheim explizit Hegels „Kult des Staates“ 139 und seinen Gedanken, dass „die Gesellschaft einen 134 Vgl. R. A. Nisbet, The Sociology of Emile Durkheim, London, Heinemann, 1975, S. 94-95. Über Durkheims und Mauss’ Aufsatz „De quelques formes primitives de classification“ schreibt Nisbet : „In Primitive Classification, on the other hand, the intent is nothing less than a declaration that the very structure of the human mind - that is, the logical structure, the capacity to reason in terms of concepts and classes of concepts - is an emergent of social structure.” 135 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 87. 136 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2015 (2. Aufl.), S. 116. 137 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 473. 138 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 57. 139 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 81. <?page no="335"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 319 den Zwecken des einzelnen übergeordneten und davon unabhängigen Zweck“ 140 besitzt, aber er fasst nirgends die Möglichkeit ins Auge, dass der Einzelne sich kritisch von der Gesellschaft distanziert. Als Auftraggeberin ist sie über alle Kritik erhaben: wie die Gottheit im Mythos, wie der Auftraggeber im Märchen. Hier tritt eine grundsätzliche Ambivalenz in Durkheims Aktantenmodell in zutage. Der Subjekt-Aktant „Individuum“, der seiner Auftraggeberin alles verdankt, läuft Gefahr, von ihr überwältigt zu werden, mit ihr als sozialer Wirklichkeit zu verschmelzen und seine Autonomie zu verlieren (Dissens ist nicht vorgesehen). P. Q. Hirst fasst das Problem in wenigen Worten zusammen, die nicht nur für Durkheim, sondern auch für Hegels Geschichts- und Staatsphilosophie gelten: „The real becomes the rational.“ 141 W. Watts Miller meint das Gleiche, wenn er Durkheims ethisches Prinzip in der Maxime zusammenfasst: „The real and its rationale are the good.“ 142 Damit kehrt die Reise durch die Soziologie zu ihrem Ausganspunkt zurück: zu Marxʼ Kritik an Hegels Rechtfertigung des kapitalistischen Staates. Diese Kritik wird hier im neuen Kontext zu einer radikalen Kritik an Durkheim und seinem Gesellschaftsbegriff. 8. Die Kritiken des Marxismus und der Kritischen Theorie: Durkheims Replik Wie Hegel und Comte vor ihm gibt sich Durkheim der ideologischen Illusion hin, die Wirklichkeit als solche objektiv wiedergeben zu können (vgl. die Einleitung zu diesem Kapitel). So heißt es etwa in den Regeln der soziologischen Methode: „Ferner ist unsere Methode objektiv.“ 143 Der Versuch, Gesellschaft „an sich“ zu erfassen, wird in den Schriften zur Soziologie der Erkenntnis bekräftigt: „Vor allem die Sozialwissenschaft bringt zum Ausdruck, was die Gesellschaft an sich ist, und nicht, was sie in den Augen des Subjekts, das sie denkt, ist.“ 144 Der stets subjektive Konstruktionsvorgang, der dem Objekt „Gesellschaft“ als wissenschaftlicher Konstruktion vorausgeht, wird hier ausgeblendet. Überdies steht Durkheims Plädoyer für Objektivität in einem sonderbaren Kontrast zu seiner Weigerung im Vorwort zu seinem Werk über die Arbeitsteilung, „auf ihre [der Gesellschaft] Verbesserung [zu] verzich- 140 Ibid., S. 80. 141 P. Q. Hirst, Durkheim, Bernard and Epistemology, London-Boston, Routledge and Kegan Paul, 1975, S. 101. 142 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, op. cit., S. 256. 143 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, op. cit., S. 220. 144 E. Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis (Hrsg. H. Joas), Frankfurt, Suhrkamp (1987), 1993, S. 144. <?page no="336"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 320 ten“. 145 Denn wenn jemand sich vornimmt, etwas zu verbessern, muss er es zuvor kritisch-normativ beurteilt haben. Durch sein kritisches Werturteil stellt er jedoch die Objektivität seiner Darstellung in Frage, weil er zur Kenntnis nehmen muss, dass andere die Wirklichkeit anders sehen, konstruieren und bewerten (im Rahmen anderer Relevanzkriterien und narrativer Strukturen). Er hat nun zwei Möglichkeiten: konkurrierende Konstruktionen der Wirklichkeit zu akzeptieren und auf „Objektivität“ zu verzichten oder Hegel zu folgen und alle Alternativen zu seinem Entwurf für falsch oder unzureichend zu halten. Durkheim scheint Hegel zu folgen. Damit setzt er sich über eine fundamentale Einsicht hinweg, die Semiotik und Kritische Theorie verbindet: die Einsicht, dass die Sozialwissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften nicht allgemein gültige, interkulturell konsensfähige Konstruktionen hervorbringen, sondern Konstruktionen, die ideologisch oder kulturell geprägt und folglich partikular sind. Zum „Projekt“ der Sozialwissenschaften bemerkt Greimas: „Dieses kann, wie jedes menschliche Projekt, nur ideologisch sein: Wir haben diese Tatsache ausdrücklich akzeptiert, indem wir vorschlugen, der Stellung des Subjekts der wissenschaftlichen Rede eine aktantielle Struktur zu geben.“ 146 Kurzum, als partikulares und kontingentes (nur mögliches) Projekt kann keine sozialwissenschaftliche Theorie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Objektivität erheben. Ihre Aktantenmodelle sind nicht nur theoretische, sondern auch ideologische Konstruktionen. Selbstverständlich gilt dies auch für alle Varianten des Marxismus und der Kritischen Theorie. In den Sozialwissenschaften bietet sich daher der theoretische, interdiskursive Dialog als konkrete Möglichkeit an, die Schwächen und Stärken von Theorien zu testen. So erscheint aus marxistischer Sicht die Tatsache, dass Durkheim von „Gesellschaft“ allgemein spricht und sie in Anlehnung an die homogene Stammesgesellschaft 147 als integrierte und in jeder Hinsicht erhaltenswerte Einheit (als Auftraggeberin im Aktantemodell) auffasst, als zentrales Ideologem seiner Theorie. Dadurch macht er sich die herrschende Auffassung der Gesellschaft zu eigen, die zugleich die Auffassung der Herrschenden ist. „Die Gesellschaft wird bestimmt durch die Idee, die sie sich von sich selber macht“ 148 , erläutert Inge Hofmann diesen Sachverhalt. In seinen Kritiken an Hegel hat Marx diese Idee radikal in Frage gestellt, indem er den modernen Staat des 145 E. Durkheim, Über soziale Differenzierung, op. cit., S. 77. 146 A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976, S. 38. 147 Vgl. Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1976, S. 13. 148 I. Hofmann, Bürgerliches Denken. Zur Soziologie Emile Durkheims, Frankfurt, Athenäum, 1973, S. 58. <?page no="337"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 321 Industriezeitalters als Klassenstaat und Ausdruck des Klassenkonflikts dargestellt hat. Durkheim macht diese Kritik rückgängig, indem er die (kapitalistische) Wirtschaft zwar als Quelle sozialer Pathologien auffasst, nicht aber als Basis des Klassenantagonismus, der dadurch zustande kommt, dass die Bourgeoisie die Produktionsmittel besitzt, während das Proletariat als besitzlose Klasse gezwungen ist, seine Arbeit zu vermarkten. Zu Recht bemerkt Inge Hofmann: „Der gesellschaftliche Arbeitsprozeß fällt aus der Gesellschaft heraus. Die so von der Ökonomie losgelöste Gesellschaft erzeugt den Schein, als seien die Moral und deren genetischer Kern, die Religion, das Substrat der Gesellschaft.“ 149 Nicht nur der Arbeitsprozess wird ausgeblendet, sondern auch die eigentliche Ursache sozialer Pathologien (vor allem der Anomie): die Vermittlung durch den Tauschwert. Sie bewirkt, dass durch die marktbedingte Arbeitsteilung der Arbeiter von seiner Tätigkeit entfremdet und sein Arbeitsprodukt als Ware auf dem Markt verdinglicht wird. Der Arbeiter wird als Arbeitskraft selbst zur Ware, zum Tauschobjekt, das der Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage preisgegeben ist. Wenn diese Einschätzung der kapitalistischen Verhältnisse zutrifft, dann erscheint Durkheims Vorschlag, Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Übereinstimmung mit Comte in „Berufsgruppen“ oder „Korporationen“ zu solidarisieren, bestenfalls als ideologischer Versuch, den Klassenkonflikt zugunsten des Status quo zu entschärfen. Tatsächlich heißt es in einer von Durkheims Vorlesungen über die „Berufsmoral“ zum Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: „Selbstverständlich müssen beide in der Versammlung vertreten sein, die über das allgemeine Leben der Berufsorganisation zu befinden hat.“ 150 Hier wird im Rahmen einer Solidaritäts- und Konsensideologie versucht, die „Gesellschaft“ als Auftraggeberin und oberste Autorität in ihrer bürgerlichen Form zu rechtfertigen. Dieser Rechtfertigungswille ist es, der zumindest teilweise Adornos kritisch-polemischen (leider auch stark verzerrenden) 151 Kommentar zu Durkheims Schrift Soziologie und Philosophie erklärt. Beanstandet wird in diesem Kommentar vor allem die Dominanz des Kollektivs: „Willentlich läßt er sich von der einen Seite des Sozialen, der kollektiven, so sehr 149 Ibid., S. 61. 150 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., 61. 151 Adorno scheint in seiner „Einleitung“ zu Durkheims Soziologie und Philosophie, op. cit., S. 15 die „mechanische“ mit der „organischen Solidarität“ zu verwechseln: „Nachdem er [Durkheim] der Unmöglichkeit der von ihm so genannten „organischen Solidarität“ in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Epoche innegeworden war (…).“ (In dieser Passage müsste „organische Solidarität“ durch „mechanische Solidarität“ ersetzt werden.) <?page no="338"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 322 imponieren, daß er die andere, individuelle, als ihrerseits soziale aus dem Blickfeld verliert (…).“ 152 Diese Kritik an der Vorherrschaft des Kollektiven in Durkheims Diskurs geht folgerichtig in eine Kritik an dem in seinem Werk impliziten Konformismus über: „Suspekt ist ihm, nach einem dann in Amerika allgegenwärtigen Schema, das nicht hinlänglich Angepaßte, nie Anpassung selber.“ 153 Wo die Gesellschaft als real existierende soziale Ordnung zur Auftraggeberin des Diskurses wird, ist Konformismus kaum zu vermeiden, weil er in der Struktur des Diskurses als Erzählung angelegt ist. An der folgenden Passage über die Rolle der „öffentlichen Meinung“ in Soziologie und Philosophie mag sich Adornos Polemik entzündet haben: „Denn die öffentliche Meinung besitzt dank ihren Ursprüngen eine moralische Autorität, kraft derer sie sich den Einzelnen aufzwingt. Sie leistet den Bemühungen Widerstand, die ihr Gewalt antun möchten; sie reagiert auf die Dissidenten, so wie die Außenwelt empfindlich auf jene reagiert, die sich gegen sie aufzulehnen suchen. Sie tadelt jene, die über moralische Dinge anders als nach den von ihr vorgeschriebenen Prinzipien urteilen; sie macht jene lächerlich, die sich von einer anderen Ästhetik leiten lassen als der ihren.“ 154 Was hätten wohl die Dissidenten Mallarmé und Valéry als unversöhnliche Kritiker der Öffentlichkeit und ihrer „Meinung“ zu dieser Passage gesagt? Die Dissidenten in der DDR und der Sowjetunion hätten diese Zeilen wahrscheinlich an die Invektiven ihrer Regierungen erinnert, die immer wieder die (freilich manipulierte) „öffentliche Meinung“ gegen den kritischen Geist mobilisierten, wenn jemand es wagte, genuin kritische Literatur oder Wissenschaft zu veröffentlichen. Die „moralische Autorität“ muss nicht in der Gesellschaft verwurzelt sein; sie kann auch vom isolierten Einzelnen ausgehen, der sich als vernunftbegabtes Wesen gegen eine falsche Ordnung auflehnt - oder gegen kommerzialisierte Medien (z.B. die „Murdoch press“ in Großbritannien), die versuchen, mit nationalistischen Slogans oder Sensationsnachrichten ihre Absatzzahlen zu steigern. Durkheim, der Individualist, der Kritiker der öffentlichen Meinung, der während der Dreyfus-Affäre, in der es um die ungerechte Verurteilung des unschuldigen jüdischen Offiziers Dreyfus ging, unerschrocken Partei für Dreyfus ergriff (zugleich mit Zola), hätte auch etwas anderes zur „öffentlichen Meinung“ schreiben können. Denn das Aktantenmodell seines Diskurses zeigt, dass es ihm primär darum ging, das Individuum durch Einbettung in den sozialen Kontext zu stärken. Außerdem könnte er geltend 152 Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, op., cit., S. 18. 153 Ibid., S. 26. 154 E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, op. cit., S. 141-142. <?page no="339"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 323 machen, dass er, der immer wieder die Pathologien moderner Gesellschaften kritisiert, auf individuelle Kritik keineswegs verzichten will. In diesem Sinne verteidigt Lothar Peter Durkheim gegen Adornos „teilweise obsessive Polemik“ 155 , wenn er völlig richtig Durkheims Kernfrage zusammenfasst: „(…) wie eine moderne Gesellschaft beschaffen sein muss, um der Entwicklung des Individuums und seinen Ansprüchen auf Menschenwürde, Vernunft und Autonomie eine angemessene soziale Form zu geben“. 156 Durkheims konformistische Bemerkungen zur „öffentlichen Meinung“ lassen indessen Zweifel an der Möglichkeit einer adäquaten Beantwortung dieser Frage im Rahmen seines Werks aufkommen, das zwischen Kollektivismus und Individualismus oszilliert und nicht umstandslos auf einen der beiden Pole festgelegt werden kann. Seine Replik auf die marxistische Kritik, die von einer antirevolutionären, von Comte geerbten Gesinnung zeugt, kann in einem Satz zusammengefasst werden: Die Wirtschaft wirkt sich zweifellos zerstörerisch aus, aber man muss die aus ihr hervorgehenden Antagonismen zwischen den Klassen nicht zum Anlass nehmen, um das Bestehende pauschal zu negieren, sondern kann dieses Bestehende mit sozialen und moralischen Mitteln verbessern. Hier nimmt der Gegensatz zwischen Marxʼ revolutionärem Sozialismus und dem reformistisch-revisionistischen Sozialismus eines Jean Jaurès, mit dem Durkheim befreundet war und den er nachhaltig beeinflusst hat, klare Konturen an. In einer Rede stellt Jaurès fest, dass seine Anhänger den Mut hatten zu proklamieren, „dass es zwischen den Klassen trotz ihres Antagonismus eine bestimmte Solidarität gibt“. 157 Abermals tritt hier die Bedeutung der Relevanzkriterien in den Vordergrund: Was ist entscheidend, der Antagonismus oder die Solidarität? Die Entscheidung im Bereich der Relevanz legt die Richtung des Diskurses als Erzählung fest. In Le Socialisme, einem Buch, in dem sich Durkheim vorwiegend mit dem Sozialismus-Gedanken bei Saint-Simon befasst, heißt es von der Gesellschaft: „Was sie beherrscht, ist nicht der Zustand unserer Wirtschaft, sondern der Zustand unserer Moralität.“ 158 Auch hier wird das Relevanzproblem angesprochen und ganz anders gelöst als bei Marx. Ergänzend dazu könnte der folgende Satz als versteckte Polemik gegen Marx und die Marxisten gelesen werden: „Es geht nicht darum, die bestehende Gesellschaft durch eine ganz neue zu ersetzen, sondern die bestehende den 155 L. Peter, „Dialektik der Gesellschaft versus ‚Conscience collective‘? Zur Kritik Theodor W. Adornos an Emile Durkheim“, in: T. Bogusz, H. Deliz (Hrsg.), Emile Durkheim, op. cit., S. 73. 156 Ibid., S. 80. 157 J. Jaurès, L’Esprit du socialisme, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 86. 158 E. Durkheim, Le Socialisme, Paris, PUF (1928), 2011 (2. Aufl.), S. 230. <?page no="340"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 324 neuen Bedingungen des sozialen Daseins anzupassen.“ 159 Gegen die Kollektivierung der Produktionsmittel in einer neuen Gesellschaft wendet Durkheim ein: „Es gäbe immer noch einen ökonomischen Apparat und die verschiedenen Akteure, die zu seinem Funktionieren beitragen. So müsste man denn auch die Rechte und Pflichten dieser verschiedenen Akteure festlegen (…).“ 160 Damit ist die Problemlösung wieder an die moralische Instanz verwiesen. Die Erfahrungen des „realen Sozialismus“ - etwa in Jugoslawien - haben gezeigt, dass Durkheim mit seinen Einwänden gar nicht so Unrecht hat, weil die Kollektivierung der Produktionsmittel weder Korruption noch Verschwendung verhindert hat. Davon zeugt unter anderem die verheerende Pleite des bosnischen Großunternehmens Agrokomerc kurz vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens (weitere Beispiele aus der Sowjetunion und anderen Ländern des ehemaligen COMECON könnten hinzugefügt werden). Es soll hier nicht entschieden werden, ob sich der Kapitalismus auf eine wirtschaftliche, soziale oder ökologische Katastrophe zubewegt oder ob er reformierbar ist. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass „Berufsgruppen“ im Sinne von Durkheim oder moralische Reformversuche anderer Art ihn qualitativ verändern würden. Hier ging es vor allem darum, in großen Zügen zu zeigen, dass die Auseinandersetzung zwischen Marx und Durkheim fruchtbar ist und dass beide Denker noch aktuell sind: der eine als Gesellschaftskritiker, der andere als Entdecker der sozialen Tatsache und als Begründer der Soziologie mit ihrem Sinn für das spezifisch Soziale. Zusammenfassung und Ausblick: Durkheims Soziologie geht aus einem teils affirmativen, teils kritischen Dialog mit Herbert Spencer hervor. Durkheim fasst wie Spencer die gesellschaftliche Entwicklung als Differenzierungsprozess auf, lehnt aber Spencers liberal-individualistisches (ideologisches) Engagement ab. Dieses Engagement bewirkt, dass in Spencers Soziologie das Individuum als Grundeinheit der Gesellschaft aufgefasst und alles als schimärenhaft verabschiedet wird, was über diese Minimaleinheit hinausweist. Im Gegensatz dazu meint Durkheim, dass die Interaktion von Individuen in Gruppen und Institutionen ein Kollektivbewusstsein als soziales Faktum (fait social) entstehen lässt, das nicht auf das Bewusstsein des Einzelnen (seine Psyche) reduziert werden kann. Es stellt eine Tatsache sui generis dar. Soziale Werte, Normen, Riten und Klassifikationen, die auch Durkheims Mitarbeiter Paul Fauconnet und Marcel Mauss untersuchen, gehen aus dem Kollektiv- oder Gruppenbewusstsein hervor. Durkheim zeigt zwar, 159 Ibid. 160 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, op. cit., S. 49. <?page no="341"?> Durkheims Soziologie als Kritik an Herbert Spencer 325 wie moderne individuelle Freiheit aus dem Zerfall der mechanischen Solidarität archaischer Stämme und mittelalterlicher Gemeinschaften hervorgeht, versucht aber zugleich, diese Freiheit in die Solidarität des Einzelnen mit dem Kollektiv und der Gesellschaft einzubetten. Diese Einbettung erscheint ihm umso dringlicher, als die organische oder funktionale Solidarität, die aus der demographisch und wirtschaftlich bedingten Arbeitsteilung hervorgeht, soziale Solidarität im eigentlichen Sinne schwächt und wesentlich zum Anwachsen sozialer Pathologien wie Egoismus, Anomie und Selbstmord beiträgt. Um den sozialen Zusammenhalt zu konsolidieren, plädiert Durkheim für die Stärkung von Berufsgruppen (Korporationen). In seinem Aktantenmodell stellt er schließlich die „Gesellschaft“ als Auftraggeberin des Individuums (des Subjekt-Aktanten) der Gegenauftraggeberin „Wirtschaft“ gegenüber, die soziale Pathologien zeitigt. Diese Konstruktion hat eine Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv zur Folge und bedeutet, dass Autonomie und Kritik des Einzelnen zumindest tendenziell dem konformistischen Einverständnis mit der herrschenden Norm geopfert werden. Dieses Streben nach Konsens und sozialer Solidarität bewirkt zugleich, dass der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit nicht wahrgenommen oder bagatellisiert wird. Dagegen richtet sich marxistische Kritik. Im nächsten Kapitel wird die Soziologie von Ferdinand Tönnies kommentiert, weil Tönnies wie Durkheim den Zerfall gemeinschaftlicher Solidarität und die Entstehung einer arbeitsteiligen Gesellschaft beschreibt, in der Marktgesetz, Konkurrenz und Egoismus herrschen. <?page no="343"?> 327 X. Gemeinschaft und Gesellschaft, Wesenwille und Kürwille: Ferdinand Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne als Replik auf Spencer, Durkheim und Marx Inhaltsverzeichnis 1. Tönnies Antworten auf Spencer und Durkheim 2. Gemeinschaft und Gesellschaft - Ideologie und Theorie 3. Verfall und Aufbruch: Ambivalenz 4. Wesenwille und Kürwille: Tönnies Erzählung als Aktantenmodell 5. Naturzustand, Gesellschaft und Staat: Tönnies zwischen Hobbes und Marx 6. Kommunitarismus: Von Tönnies zu Amitai Etzioni (Epilog) Wie Durkheim und seine Mitarbeiter gehört auch Ferdinand Tönnies (1855-1936) der spätmodernen Problematik 1 an, aus der die Soziologie als Wissenschaft hervorging, indem sie begann, sich gegen die Philosophie abzugrenzen, ohne jedoch die philosophische Reflexion aufzugeben. Wie Durkheims Werk zeugen Tönnies Schriften von der Krise der Spätmo derne, einer Ära, die in ganz Europa von Revolutionen (1848, 1917, 1918), Wirtschaftskrisen (der 1880er Jahre) und politischen Unruhen aller Art geprägt war. Tönnies selbst spricht von der „sozialen Frage“ und der „großen Kulturkrise“. 2 Beide Probleme haben ihn bewogen, sich um 1878 mit dem „bewunderungswürdigen Karl Marx’schen Werk“ 3 auseinanderzusetzen. Mit Durkheim und Pareto verbindet ihn eine tiefe Skepsis den modernen „Metaerzählungen“ von Marx, Comte und Spencer gegenüber. Auch seine Werke zeigen, dass diese Skepsis nicht erst (wie Lyotard meint: vgl. Einleitung zu Teil II) in der Postmoderne aufkommt, sondern sich schon bei spätmodernen Soziologen, Philosophen und Schriftstellern (etwa bei Nietzsche, Musil und Camus) bemerkbar macht. Denn auch Tönnies verzichtet auf utopische Entwürfe, die das Denken von Marx, Comte und Spencer prägen. Obwohl seine Soziologie nachhaltig von Marx beeinflusst 1 Auch in diesem Fall wird davon ausgegangen, dass Frühmoderne, Moderne und Spätmoderne nicht einfach Epochen, Ideologien oder Weltanschauungen sind, sondern Problematiken: Konstellationen von Problemen, auf die verschiedene individuelle oder kollektive Sprachen unterschiedlich reagieren, indem sie - oft unvereinbare - Lösungen vorschlagen. Vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Lite ratur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), Kap. I. 2 F. Tönnies in: E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Stuttgart, Enke, 1971, S. 89. 3 Ibid. <?page no="344"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 328 wurde (vgl. Abschn. 2 und 5), ist der Autor von Gemeinschaft und Gesellschaft weit davon entfernt, seinen Diskurs auf das Telos einer „klassenlosen Gesellschaft“ auszurichten. Die spätmoderne Skepsis, die aus einer kritischen Selbstreflexion der Moderne durch die Soziologen der Jahrhundertwende hervorgeht, ist auch für das Misstrauen verantwortlich, mit dem Autoren wie Tönnies oder Simmel (vgl. Kap. XI) den von Comte so euphorisch kommentierten Fortschritt betrachten. Heinz-Jürgen Dahme spricht in einem Kommentar zu den Soziologien von Simmel, Tönnies und Max Weber vom „Fortschritt als der Leitidee des 19. Jahrhunderts“ 4 und davon, dass der Fortschrittsglaube „die Soziologie als Fortschrittswissenschaft par excellence entstehen“ 5 ließ. Zugleich zeigt er, „wie der Fortschrittsbegriff der ‚älteren‘ Soziologie bei den modernen Klassikern in Mißkredit gekommen ist und wie man den neuzeitlichen Geschichtsprozeß soziologisch neu zu deuten versuchte“. 6 Er fügt hinzu: „Mit der neu-soziologischen Sichtweise der gesellschaftlichen Realität wurde auch endgültig der Fortschrittsbegriff von der Soziologie abgekoppelt.“ 7 Die Tatsache, dass hier von einer neuen Sichtweise die Rede ist und dass die „neuen Soziologen“ (etwa Tönnies und Simmel) mittlerweile zu „Klassikern“ avanciert sind, bedeutet nicht, dass sie als Kritiker der Fortschrittsideologie selbst nichts erzählen oder gar „objektive“, werturteilsfreie Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung vorlegen. Weit davon entfernt, objektiv zu sein, beinhaltet die Kritik des Fortschrittsgedankens - teils fundierte - Werturteile. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass sich jemand weiterhin oder von neuem für diesen Gedanken stark macht, indem er beispielsweise zu zeigen versucht, dass fortschreitende Technik die Lösung aller Probleme (etwa der ökologischen oder gesundheitlichen) ermöglichen wird. Selbst wenn man solche Visionen für naiv hält, muss man zugeben, dass sie mitsamt ihren Werturteilen möglich sind und als Gegenentwürfe zu den spätmodernen Soziologien in Frage kommen, sofern sie wissenschaftlich gestützt werden. Selbst wenn man Tönniesʼ und Simmels Fortschrittsskepsis teilt (und das ist hier der Fall), wird man sie nicht für „objektiv“ halten: denn auch sie ist nur eine mögliche Konstruktion, die stets mit Gegenentwürfen konfrontiert werden sollte. 4 H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 222. 5 Ibid., S. 223. 6 Ibid., S. 249. 7 Ibid., S. 249. <?page no="345"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 329 Sowohl bei Tönnies als auch bei Simmel nimmt diese Konstruktion die Form einer Erzählung an, die mit anderen möglichen Erzählungen kritischwertend konkurriert. In Geist der Neuzeit fasst Tönnies wesentliche Aspekte seiner Erzählung zusammen: „Dies ist der große in jeder einzelnen Kulturentwicklung fortwährend, wenn auch gegen starke Widerstände und nicht ohne rückläufige Bewegungen sich steigernde Vorgang ‚von Gemeinschaft zu Gesellschaft‘, der am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt.“ 8 Dieser Diskurs über die gesellschaftliche Entwicklung, dessen narrative Kernsequenz mit dem Ausdruck von der Gemeinschaft zur Gesellschaft zusammengefasst werden könnte, konkurriert dialogisch-polemisch (im Sinne von Bachtin) mit anderen Diskursen, die er teils aufnimmt, teils ablehnt. Er überschneidet sich u.a. mit der von Tönnies immer wieder zitierten Marxschen Erzählung, die er jedoch durch die Setzung neuer Relevanzkriterien relativiert und umgestaltet. Nicht der Gegensatz Arbeit / Kapital erscheint dem Beobachter Tönnies als Grundstruktur, sondern der Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft, in dem sich der Begriff „Gemeinschaft“ durchaus mit Marxʼ Begriff „Arbeit“ überschneidet - wie sich zeigen wird. Weder Marxʼ noch Tönniesʼ Diskurs kann als „objektiv“ bezeichnet werden, weil beide Diskurse nur mögliche und keineswegs „ideologie“- oder „wertungsfreie“ Konstruktionen der Wirklichkeit sind. Trotz seiner oft impliziten Bewertungen der Gesellschaftsentwicklung ist Tönnies - ähnlich wie Durkheim - bemüht, durch einen Verzicht auf Werturteile eine „objektive“ Darstellung der sozialen Welt zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ plädiert er dafür, „das Gebiet der Soziologie außerhalb solcher Streitfragen zu setzen und abzugrenzen, es auf die so viel leichter lösbaren Aufgaben objektiver Erkenntnis der Tatsachen einzuschränken“. 9 Aber was kann in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation als „objektiv“ bezeichnet werden, in der die Objekte „Differenzierung“ und „Arbeitsteilung“ von Marx, Spencer, Durkheim und Tönnies auf ganz verschiedene Arten konstruiert und bewertet werden? Mehr noch: Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Soziologen erzählend konstruieren, weichen aus ideologischen Gründen stark voneinander ab, weil sie von z.T. unvereinbaren Relevanzkriterien (semantischen Gegensätzen) ausgehen, die die Diskurse verschiedene Richtungen einschlagen lassen. 8 F. Tönnies, Geist der Neuzeit (Hrsg. R. Fechner), Materialien der Ferdinand-Tönnies Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2010, S. 32-33. 9 F. Tönnies, „Wege und Ziele der Soziologie“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft (Hrsg. K. Lichtblau), Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 190. <?page no="346"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 330 Im theoretischen Dialog werden jedoch Übereinstimmungen sichtbar, die in allen Kapiteln dieses Buches und in der „Schlussbetrachtung“ kommentiert werden. Sie zeigen, dass der Dissens nicht der Weisheit letzter Schluss ist, weil sich in ihm selbst auch Konsens herauskristallisiert, der sogar in fortschrittsskeptischer Zeit von Erkenntnisfortschritt zeugt. Tönniesʼ Kritik an Spencer und Durkheim verdeutlicht, was gemeint ist: Wie Durkheims Diskurs, der aus der Kritik an Spencer hervorgeht (vgl. Kap. IX), geht auch Tönniesʼ Diskurs aus Dialog und Kritik hervor - und was durch Kritik entsteht, kann nicht objektiv oder frei von Werturteilen sein: denn Kritik enthält stets Wertung. 1. Tönnies ʼ Antworten auf Spencer und Durkheim Es ist, als wollte Tönnies an die hier vorgebrachten Argumente anschließen, wenn er in seiner kurzen Schrift „Mein Verhältnis zur Soziologie“ bemerkt: „Die wissenschaftliche Erörterung ist immer Disputation gewesen, und immer ist der Streit und Widerspruch auch hier der Vater des Fortschritts gewesen.“ 10 An diese Art von Fortschritt mag Tönnies gedacht haben, wenn er in einem längeren Kommentar zu Herbert Spencer programmatisch feststellt: „Wir müssen ihn anerkennen, festhalten, und wenn wir können, verbessern.“ 11 Worin bestehen nun Tönniesʼ Verbesserungsvorschläge, in welche Richtung gehen sie? Man versteht sie besser, wenn man einen Blick auf seinen Lebenslauf wirft. Als eines von sieben Kindern wuchs Tönnies in einer schleswig-holsteinischen Landgemeinde (Riep bei Oldenswort) auf und zog erst als zehnjähriger mit seiner Familie in die Kleinstadt Husum, wo er mit sechzehn Jahren die Reifeprüfung bestand. Seine Sozialisation in einer Großfamilie, in einer Dorfgemeinde und in einem kleinstädtischen Milieu ließ ihn die Vorzüge der Gemeinschaft erleben und prägte schließlich sein wissenschaftliches Denken, in dem die Gemeinschaft mit unverkennbar positiven Konnotationen ausgestattet wird, während die großstädtische Gesellschaft häufig, aber nicht immer als Gefahr erscheint. (Gemeinschaft wird hier provisorisch im Hinblick auf die von Tönnies genannten drei Aspekte definiert, deren gemeinsamer Nenner „Ähnlichkeit“ ist: „Gemeinschaft des Blutes“ - in der Familie - „Gemeinschaft des Ortes“ - etwa in der Dorfgemeinschaft - und 10 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: F. Tönnies, Gesamtausgabe, Bd. XXII, 1932-1936. Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen (Hrsg. L. Clausen), Berlin-New York, de Gruyter, 1998, S. 345. (Die beiden Gesamtausgaben - von de Gruyter in Berlin und von Profil in Wien - sind leider noch nicht vollständig.) 11 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: F. Tönnies, Soziologische Schriften, Bd. XIII (1889-1905) (Hrsg. R. Fechner), Materialien der Ferdinand-Tönnies Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2008, S. 8. <?page no="347"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 331 „Gemeinschaft des Geistes“ - etwa unter Freunden. Komplementär dazu erscheint Gesellschaft bei Tönnies als ein von Marktgesetz und Eigennutz geprägtes Gegeneinander konkurrierender Individuen, deren Verbindungen vertragsrechtlich geregelt werden.) 12 Vor diesem Hintergrund nimmt seine Kritik an Spencers liberalem Individualismus konkrete Konturen an. Dem liberalen Spencer, der jede Art von politischer, religiöser oder patriotischer Parteilichkeit als bias ablehnt, wirft Tönnies vor, dass er sich des eigenen ideologischen bias, d.h. der Auswirkungen seines Liberalismus auf seine Theorie, nicht bewusst war: „Man könnte wohl sagen, dass er von dem patriotischen Vorurtheile nicht frei geblieben, dem free-trade-bias unterlegen sei.“ 13 Hier zeigt sich abermals, dass häufig die Ideologie der Anderen wahrgenommen wird, nicht jedoch die eigene. Wie wirkt sich diese Ideologie auf die Theorie aus? Es ist erstaunlich, wie sehr sich Tönniesʼ Kritik an Spencers Theoriebildung mit der Durkheims überschneidet. 14 Wie Durkheim vertritt Tönnies als Soziologe der festgefügten Gemeinschaft die Ansicht, dass sich soziale Gebilde wie Gruppen, Organisationen oder Institutionen zwar aus Individuen zusammensetzen, aber wesentlich mehr sind als die Summe der sie konstituierenden Teile. Er zitiert Spencers Bemerkung, „man könnte sagen, Gesellschaft sei nur ein Collectiv-Name für eine Anzahl von Individuen“ 15 , und antwortet: „Hingegen ein lebendiges Ganze bedingt das Leben seiner Theile.“ 16 Diese Auffassung entspricht weitgehend der Durkheims und seiner Weggefährten, die in allen ihren Werken die Eigengesetzlichkeiten des kollektiven Denkens und Handelns hervorheben, die dem Agieren von Einzelpersonen (häufig als Zwänge) vorgegeben sind. Diese Eigengesetzlichkeiten, die in verschiedenen kollektiven Gebilden - Stämmen, Dorfgemeinden, Städten - vorherrschen, übersieht Spencer und zusammen mit ihnen das Spezifische dieser Gebilde. Für dieses Spezifische, das die vergleichende Methode (von Montesquieu bis Durkheim: vgl. Kap. IX. 3) kontrastiv zutage treten lässt, sollte sich aber der Soziologe, dem Anthropologen oder Ethnologen folgend, besonders interessieren. 12 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2017, S. 32. 13 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 35. 14 Vgl. F. Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken (Dritte Sammlung), Jena, Verlag Gustav Fischer, 1929, S. 216-217: „Die ganze Soziologie Durkheims ist eine Modifikation der Spencerschen; in der Art, wie diese kritisiert wird, wie auch in mehreren anderen Ausführungen, finde ich manche Gedanken, mit denen ich übereinstimme.“ 15 F. Tönnies, „Herbert Spencer’s sociologisches Werk“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 26. 16 Ibid. <?page no="348"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 332 Daher kommt Tönnies zu dem Schluss: „Eigentliche ethnologische Forschung ist seinem [Spencers] Werke trotz des überreichen ethnographischen Materials darin fremd geblieben (…).“ 17 In diesem Kontext, in dem es vor allem um das Überindividuelle, das spe zifisch Soziale geht, beanstandet Tönnies auch Spencers liberal-individualistische Auffassung des Staates, dessen Rolle Spencer auf eine Minimalfunktion (Außenpolitik, Verteidigung, Rechtssicherheit) reduzieren möchte. Tönnies wendet sich vor allem gegen einen Freiheitsbegriff im individualistischen Sinne sowie gegen die auf dem Markt herrschende negative Freiheit von Zwängen, die die positive Freiheit im Sinne einer sozialen Selbstverwirklichung vergessen lässt: „(…) In einer besonderen Schrift ‚The man versus the state‘ ist Sp. mit Leidenschaft für unbedingte Freiheit und Handelsfreiheit gegen die auch in England zunehmenden Tendenzen des sog. Staats-Socialismus aufgetreten, oder wie er nicht selten sich ausdrückt, für das Princip des Contracts wider das Princip des Status, für Naturrecht wider positives Recht.“ 18 Es wird sich zeigen, dass Tönnies im Gegensatz zu Spencer eine Marktgesellschaft kritisch betrachtet, deren Konkurrenzprinzip jederzeit in Egoismus und Feindseligkeit ausarten kann. Auch das Vertragsrecht („Princip des Contracts“), das die Konkurrenz ermöglicht, betrachtet er mit Misstrauen. Ausgehend von der Gemeinschaft und den in ihr vorherrschenden Beziehungen, fasst er eine soziale und demokratische Rolle des Staates ins Auge, die er allerdings nicht eindeutig definiert (vgl. Abschn. 3 und 5). Wie Comte und Durkheim lehnt er jedoch einen Staat ab, der Wirtschaft und Gesellschaft sich selbst überlässt und lediglich für innere und äußere Si cherheit sorgt. Angesichts der frappierenden Übereinstimmungen mit Durkheim stellt sich nun die Frage, in welcher Hinsicht er von dem französischen Soziologen abweicht. Zwischen Durkheim und Tönnies hat eine Art Dialog stattgefunden, in dem sich ein weitreichender Konsens herauskristallisiert, was Tönnies Begriff der Gemeinschaft angeht. 19 Zu diesem Begriff bemerkt Durkheim, der auch davon ausgeht, dass die Familie als Blutsverwandtschaft die ur- 17 Ibid., S. 20-21. 18 Ibid., S. 34. 19 Vgl. F. Farrugia, Sociologies. Histoires et théories, Paris, CNRS Editions, 2012, S. 68-75 : „Point de vue de Durkheim ; réponse de Tönnies“. Farrugias Kommentar zeigt, dass in dieser rudimentären Debatte wesentliche Aspekte der beiden Theorien (Arbeitsteilung, Pathologien, Abhilfen) ausgespart wurden. Vgl. auch: C. Bickel, „Tönnies und Durkheim. Nähe und Distanz“, in: Tönnies Forum. Rundbrief der Ferdinand Tönnies Ge sellschaft 1, 2011, S. 35: „Durkheim äußert sich kritisch, aber durchaus wohlwollend über Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft. Tönnies reagiert darauf etwas missmutig und weist die ihm unterstellte Hypostasierung der Rolle des Staates für die Gesellschaft zurück.“ <?page no="349"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 333 sprüngliche Form der Gemeinschaft ist: „Wie er [Tönnies] gehe ich davon aus, dass die Gemeinschaft die Grundvoraussetzung ist und Gesellschaft der abgeleitete Zweck. Insgesamt akzeptiere ich in großen Zügen die von ihm durchgeführte Analyse und Beschreibung der Gemeinschaft.“ 20 (Kursivsetzung der dt. Wörter im frz. Original.) Allerding vermag Durkheim nicht zu verstehen, wie Tönnies annehmen kann, dass die Reste der Gemeinschaft in der Gesellschaft nicht aus einem spontanen Überleben gemeinschaftlicher Beziehungen, sondern aus rein „äußeren“ Interventionen des Staates 21 erklärt werden. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Missverständnis, denn Tönnies antwortet: „Dies ist sogar ein starkes Mißverständnis: das Dasein des Staates ist für mich nur eine Folge der spontanen Bewegung der Gesellschaft (…).“ 22 Dies bedeutet zugleich, dass die gemeinschaftlichen Komponenten der Gesellschaft sich als Traditionen spontan erhalten - und, wie Tönnies meint, auf verschiedene Arten gestärkt werden können (vgl. Abschn. 2, 3 und 5). Das Problem, das eine jede Diskussion zwischen Durkheim und Tönnies in Gefahr bringt, ist die eigenwillige Terminologie beider Autoren. Während Durkheim, wie sich gezeigt hat, gemeinschaftliche, auf Ähnlichkeit gründende Beziehungen als „mechanisch“ im Sinne der mechanischen Solidarität bezeichnet, funktionale, durch Arbeitsteilung bedingte Abhängigkeiten hingegen als „organisch“ (vgl. Kap. IX. 5), betrachtet Tönnies gerade die Gemeinschaft, die auf Ähnlichkeiten gründet, als „organisch“, die von Marktgesetzen dominierte Gesellschaft dagegen als „mechanisch“: „Das Verhältnis selber, und also die Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bindung - dies ist der Begriff der Gesellschaft.“ 23 In Diskussionen über Tönnies und Durkheim kommt es wegen dieser lexikalisch ähnlichen, aber begrifflich heterogenen Terminologien zu Verwechslungen und Missverständnissen. 24 20 E. Durkheim, „Communauté et société selon Tönnies“ (1889), in: ders., Eléments d’une théorie sociale (Textes), Paris, Minuit, 1975, S. 389. 21 Tönniesʼ Ausführungen über die Demokratie zeigen, dass er den Staat aus der (demokratischen) Gesellschaft hervorgehen lässt - und nicht umgekehrt: „Es ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie, die Entwicklung des modernen Staates zu vollenden.“ (F. Tönnies, „Über die Demokratie“, in: Schriften zur Staatswissenschaft [Hrsg. R. Fechner], Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2010, S. 429.) 22 F. Tönnies, zitiert nach: E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 174-175. 23 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 19. 24 Zur Klärung der beiden Begriffe tragen auch die folgenden Sätze aus einem Artikel von Norbert Zander und Hermann Strasser bei: „Richtig ist nun, daß beide Autoren zwei Arten der Assoziation von Personen unterscheiden. Tönnies nennt sie Gemeinschaft <?page no="350"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 334 In der reichlich flüchtigen Diskussion zwischen den beiden Soziologen (Jacoby schreibt über Tönnies: „Seine Antwort besteht bloß aus ein paar hingeworfenen Bemerkungen“) 25 wurde allerdings das Wesentliche ausgespart: die Tatsache, dass Durkheim, wie sich gezeigt hat, Gesellschaft und Wirtschaft einander gegenüberstellt, während Tönnies, wie sich noch zeigen wird, Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander konfrontiert. Dabei fällt der „Gesellschaft“ die Rolle der Gegenauftraggeberin zu (vgl. Abschn. 3), und die Zielrichtung des Diskurses ändert sich radikal: Im Gegensatz zu Durkheim, der „Gesellschaft“ durchweg positiv konnotiert und ihre Pathologien auf die ökonomischen Interferenzen zurückführt, fasst Tönnies „Gesellschaft“ primär als ökonomisch-kapitalistisches Gebilde auf. Dabei stützt er sich auf Marx, ohne jedoch alle seine Thesen zu übernehmen. In Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht er sich auf die „meisterhafte Analyse von K. Marx“. 26 Am Ende des ersten Buches dieser Schrift heißt es vom „Marxschen System“, es habe „mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt“. 27 In Durkheims Werk wären solche Hinweise auf Marx undenkbar. Für Tönniesʼ Abweichung von Durkheim bedeutet dies, dass bei Tönnies die ökonomische Sinnebene wesentlich stärker ausgeprägt ist als beim französischen Soziologen und dass der für Marx relevante Grundgegensatz Arbeit / Kapital in Tönniesʼ Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft als untergeordneter oder abgeleiteter Gegensatz eingeht, wobei Marxʼ Diskurs - gleichsam metasprachlich - von Tönniesʼ Diskurs eingefasst und umgedeutet wird. Die Richtung des Diskurses als Erzählung ändert sich dadurch insofern, als nun nicht mehr wie bei Durkheim eine Konsolidierung oder Verbesserung der Gesellschaft anvisiert wird, sondern (auch) ihre Überwindung im Sinne der Gemeinschaft als vorherrschender Form. Anders als Tönnies hält Durkheim als Marx-Kritiker den Antagonismus von Arbeit und Kapital nicht für zentral, obwohl er ihn wie der Reformsozialist Jaurès (vgl. Kap. IX. 8) durchaus wahrnimmt. Hier wird deutlich, warum die beiden verwandten Diskurse und ihre Objektkonstruktionen voneinander abweichen: Aufgrund von unterschiedlichen Beobachtungen und Einschätzungen gehen sie von z.T. unvereinbaren Relevanzkriterien aus und peilen daher ähnliche, aber letztlich heterogene Ziele an (vgl. Abschn. 5). und Gesellschaft, Durkheim mechanische und organische Solidarität. Außerdem stimmt es, daß beide das erste Konzept als Urform ansehen und das zweite als sich formierend darstellen.“ (N. Zander, H. Strasser, „Formale Anmerkungen zu einem Vergleich von Durkheim und Tönnies“, in: L. Clausen et al. [Hrsg.], Tönnies heute. Zur Aktualität von Ferdinand Tönnies, Kiel, Mühlau Verlag, 1985, S. 171.) 25 E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 174. 26 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 98. 27 Ibid., S. 116. <?page no="351"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 335 2. Gemeinschaft und Gesellschaft - Ideologie und Theorie Die beiden von Tönnies eingeführten Schlüsselbegriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, die hier eingangs provisorisch und in aller Knappheit definiert wurden, sollen nun näher betrachtet werden. Vor allem der Begriff Gemeinschaft ist für ideologische Zwecke einsetzbar und wurde von der Neuromantik bis zum Nationalsozialismus - u.a. als „Volksgemeinschaft“ - instrumentalisiert. Tönnies hat sich stets gegen diese Art von Ideologisierung gewehrt. Zwei Jahre nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten - im Jahre 1935 - schreibt er im Vorwort zur achten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft, „daß ich schon in meiner ersten Vorrede nachdrücklich vor mißverständlichen Auslegungen und sich klug dünkenden Nutzanwendungen gewarnt habe“. 28 Es versteht sich fast von selbst, dass Tönnies, der nach 1933 nur Probleme mit den Nationalsozialisten hatte (er wurde gezwungen, seine Lehrtätigkeit an der Kieler Universität abzubrechen), kein Interesse an einer „völkischen“ Deutung seines Gemeinschaftsbegriffs haben konnte. Dieser Begriff lässt im Kontext von Tönniesʼ Werk eine Deutung dieser Art nicht zu. Dennoch hat Isabel Wenzler-Stöckel grundsätzlich Recht, wenn sie zu dem sich als „objektiv“ gebärdenden Diskurs von Tönnies bemerkt: „Unter dem Deckmantel vermeintlich objektiver Begrifflichkeit wird hier eine heimliche Wertung mittransportiert.“ 29 Worin besteht diese Wertung? Sie besteht zunächst darin, dass Tönniesʼ Diskurs - entgegen seinem Objektivitätsanspruch - die Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüber durch dualistisch geordnete positive und negative Konnotationen aufwertet. Sie besteht aus feministischer Sicht auch darin, dass dieser Diskurs die patriarchalen Strukturen der Gemeinschaft als natürlich darstellt (es gehört zu den Charakteristika aller ideologischen Diskurse, historisch veränderliche Erscheinungen, etwa den „Vater als Familienoberhaupt“, als natürlich aufzufassen): „Gemeinschaftliche Verhältnisse bleiben ihrer Struktur nach hierarchisch, emotional-abhängig und kriegerisch geordnet.“ 30 Die Autorin fügt hinzu: „Die Stärke der Väter und Söhne sichert die Gemeinschaft gegen Feindliches. Dem Vater wird gleichzeitig auch der Besitz des anderen Geschlechts (…) zugesprochen.“ 31 Während der Mann mit dem Rationalen der Gesellschaft, die Frau hingegen mit dem Affektiven der Gemeinschaft assoziiert wird, wird „das Weibliche als das Andere konzi- 28 Ibid., S. 10. 29 I. Wenzler-Stöckel, Spalten und Abwehren - Grundmuster der Gemeinschaftsentwürfe bei Ferdinand Tönnies und Helmuth Plessner, Frankfurt, Verlag Neue Wissenschaft, 1998, S. 34. 30 Ibid., S. 54. 31 Ibid. <?page no="352"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 336 piert“ 32 und, wie sich im siebenten Kapitel gezeigt hat, entsprechend abgewertet. Gegen diese ideologiekritische Lesart ist nichts einzuwenden; sie lässt allerdings nicht den Schluss zu, „Gemeinschaft“ sei „ein fragwürdiger Begriff“ 33 und bringe, wie der von der Autorin zitierte René König meint, „keinen soziologischen Erkenntnisgewinn“. 34 Das Gegenargument lautet: „Gemeinschaft“ als theoretischer Begriff ist nicht auf Gedeih und Verderb mit den von Tönnies in ihn projizierten positiven Konnotationen verbunden und bleibt auch jenseits der patriarchalen Ideologie erhalten. Im Folgenden sollen seine wesentlichen Aspekte analysiert werden. Als Fortsetzung der provisorischen Definition soll die Analyse zeigen, dass Distanzierung im Sinne von Norbert Elias (vgl. Kap. I. 6) möglich ist und dass sie einer Annäherung an Max Webers Wertfreiheitspostulat gleichkommt. Dies ändert allerdings nichts an der positiven Bewertung der „Gemeinschaft“ in Tönniesʼ Diskurs als semantisch-narrativer Einheit. Es wird sich schließlich zeigen, dass dieser Einheit eine Ambivalenz zugrunde liegt, die oft übersehen wird. Der Diskurs als ganzer ist nie wertfrei, obwohl der Untertitel von Tönniesʼ Buch Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1935: achte, stark geänderte Fassung der Erstauflage: 1887) 35 Neutralität suggeriert. Diese Neutralität wird spätestens dann in Frage gestellt, wenn die „reine Soziologie“, die sich darauf beschränkt „die sozialen Wesenheiten statisch, also im Zustande der Ruhe zu denken und zu beschreiben“ 36 in die „angewandte Soziologie“ übergeleitet wird, die „mit der Dynamik oder der Bewegung solcher Wesenheiten“ 37 zu tun hat und „immer Fühlung haben [wird] mit dem, was unter dem Namen Philosophie der Geschichte eine gewisse Geltung gewonnen hat“. 38 Aufgrund ihrer Normativität, die vor allem in der narrativen Anordnung zum Ausdruck kommt, kann diese Art von Philosophie, wie Hegels historisches System zeigt (vgl. Kap. IV. 1), nie Objektivität oder Wertfreiheit beanspruchen. Schon in Gemeinschaft und Gesellschaft werden die beiden Schlüsselbegriffe auf die gesellschaftliche Entwicklung angewandt und als Aktanten in eine kritisch-polemische (wertende) Erzählung eingefügt. Tönnies, der im letzten Kapitel seiner Einführung in die Soziologie die reine Soziologie von 32 Ibid., S. 69. 33 Ibid., S. 96. 34 R. König in: I. Wenzler-Stöckel, Spalten und Abwehren, op. cit., S. 62. 35 Die erste Auflage von Tönniesʼ Gemeinschaft und Gesellschaft erschien im Jahre 1887 mit dem Untertitel: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen (Leipzig, Fues’s Verlag). 36 F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, Stuttgart, Enke, 1965, S. 316. 37 Ibid. 38 Ibid., S. 317. <?page no="353"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 337 der angewandten und der empirischen unterscheidet, neigt dazu, diese drei Erkenntnisbereiche zu trennen, statt ihr Ineinandergreifen zu untersuchen. 39 Indessen zeigt eine Analyse des Schlüsselbegriffs Gemeinschaft, der bei ihm einen Idealtypus oder „ideellen Typus“ (Tönnies) im Sinne von Max Weber bezeichnet 40 , dass dieser Begriff sehr wohl einen „Erkenntnisgewinn“ ermöglicht, sofern seine wesentlichen Aspekte untersucht und auf neuere Forschungen bezogen werden. Wie bereits in der provisorischen Definition angedeutet, weist Tönniesʼ Auffassung der Gemeinschaft drei komplementäre Aspekte auf: Gemeinschaft des Blutes in der Familie, Gemeinschaft des Ortes (etwa in einem Dorf) und Gemeinschaft des Geistes (etwa als Freundschaft). Dazu heißt es gleich am Anfang von Gemeinschaft und Gesellschaft: „Denn die Gemeinschaft des Blutes als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren unmittelbaren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne.“ 41 Somit unterscheidet Tönnies drei Arten der Gemeinschaft: Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft. Beispielhaft für die Verwandtschaft als Gemeinschaft des Blutes ist die Familie, die auch Durkheim für die Urgemeinschaft hält. Sie wird nicht nur biologisch, sondern auch räumlich definiert: „Verwandtschaft hat das Haus als ihre Stätte und gleichsam als ihren Leib (…).“ 42 Nachbarschaft wird am anschaulichsten durch die Dorfgemeinde versinnbildlicht: „Nachbarschaft ist der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch bloße Begrenzung der Äcker, zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung aneinander und vertraute Kenntnis von einander verursacht (…).“ 43 Hingegen kann Freundschaft unabhängig von räumlicher Nähe bestehen: „Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmütiger Arbeit und Denkungsart; daher durch Ähnlichkeit des Berufes und der Kunst am ehesten gegeben.“ 44 Sie kann sich auch in der Stadt entfalten, sofern regelmäßige Kontakte möglich sind. Es ist keineswegs so, dass Tönnies „Gemeinschaft“ mit dem Land (dem Dorf), „Gesellschaft“ hingegen mit der Stadt identifiziert. Denn auch das 39 Vgl. ibid., S. 315. 40 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 337. 41 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 32. 42 Ibid., S. 33. 43 Ibid. 44 Ibid., S. 34. <?page no="354"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 338 Stadtleben kann Gemeinschaften hervorbringen: „Innerhalb der Stadt aber treten, als ihre eigentümlichen Erzeugnisse oder Früchte, wiederum hervor: die Arbeits-Genossenschaft, Gilde oder Zunft; und die Kultgenossenschaft, Brüderschaft, die religiöse Gemeinde: diese zugleich der letzte und höchste Ausdruck, dessen die Idee der Gemeinschaft fähig ist.“ 45 Wie bei Durkheim spielt auch bei Tönnies die Religion eine entscheidende Rolle, weil sie für die Gemeinschaftsbildung und für die mit ihr einhergehende (mechanische) Solidarität wesentlich ist. Welche sind nun die wichtigsten Aspekte der Gemeinschaft im Sinne von Tönnies? Die weiter oben zitierten Passagen aus Gemeinschaft und Gesellschaft lassen erkennen, dass die in Durkheims mechanischer Solidarität vorherrschende Ähnlichkeit auch der gemeinsame Nenner aller Gemeinschaftsformen ist. Verwandte sind einander nicht nur aus biologischen Gründen (als Blutsverwandte) ähnlich, sondern auch aufgrund von gemeinsamen Erfahrungen, die eine gemeinsame Vergangenheit entstehen lassen. Auch Nachbarschaft ermöglicht gemeinsame Erfahrungen, Einstellungen und Handlungen. Freundschaft wird von Tönnies explizit durch Einmütigkeit und Ähnlichkeit gekennzeichnet. Die Nachbarschaft zeigt, dass Ähnlichkeit und Nähe einander bedingen, weil Nähe oft (nicht immer) gemeinsame Interessen, Ansichten und Vorgehensweisen entstehen lässt. Auch für Familie und Freundschaft ist Nähe wesentlich, weil es ohne sie zur Entfremdung in allzu heterogenen sozialen Umgebungen kommen kann. Viele Gemeinschaften im Sinne von Tönnies - etwa die Dorf- oder Glaubensgemeinschaft - werden durch face-to-face relations gekennzeichnet: durch regelmäßigen persönlichen Kontakt, der affektiver Entfernung und Entfremdung entgegenwirkt. Dieser Kontakt lässt ein Solidaritätsgefühl im Sinne von Durkheims mechanischer Solidarität entstehen: Man schätzt und unterstützt einander, weil man die gleichen sozialen Werte und Normen vertritt und einander affektiv nahe steht. Dieses Solidaritätsgefühl, das auf Bekanntschaft und Freundschaft gründet, führt dazu, dass der Einzelne um seiner selbst willen beurteilt und geschätzt wird und nicht im Hinblick auf seine Leistungen, die in der Gesellschaft als Markt- und Konsumgesellschaft entscheidend sind. Im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Ralph Linton könnte man in diesem Zusammenhang einen ascribed status (zugeschriebenen Status) von einem achieved status (erworbenen Status) unterscheiden und den ascribed status als für die Gemeinschaft, den achieved status als für die Gesellschaft charakteristisch bezeichnen. Während der ascribed status dem Individuum als Familien- oder Gemeinschaftsmitglied bei seiner Geburt zufällt, muss der achieved status durch Leistung erworben werden. Zu 45 Ibid., S. 43. <?page no="355"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 339 den achieved statuses bemerkt Linton: „They are not assigned to individuals from birth but are left open to be filled through competition and individual effort.” 46 Im Anschluss an Henry Sumner Maine spricht Tönnies im Zusammenhang mit der Gemeinschaft von Status, im Zusammenhang mit der Gesellschaft von Kontrakt (contractus). 47 Letzterem liegen die Begriffe „Leistung“ und „Gegenleistung“ zugrunde. Hier wird deutlich, dass der von Tönnies eingeführte Begriff Gemeinschaft durchaus einen „Erkenntnisgewinn“ mit sich bringt, weil er Aspekte aufweist - Ähnlichkeit, Nähe, Solidarität und ascribed status, - die ihn auf sehr verschiedene gesellschaftliche Erscheinungen von der Familie bis zur religiösen Gemeinde anwendbar machen. Als Beispiel kann eine Gruppierung an der Grenze von Gemeinschaft und Gesellschaft dienen: das Universitätsseminar. In ihm herrschen meistens gemeinschaftliche Verhältnisse, weil sich Studierende aufgrund ihrer sozialen Positionen und Probleme ähnlich sind, sich für einander auf affektiver Ebene interessieren (es entstehen Freundschaften und Beziehungen) und einander - trotz der aus der Gesellschaft ins Seminar eindringenden Konkurrenzverhältnisse - im Studium oft behilflich sind. Eine Vermittlerrolle zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft fällt dabei den Lehrenden zu: Einerseits müssen sie die Studierenden auf Prüfungen vorbereiten und zu Leistungen im Sinne des achieved status anspornen; andererseits haben sie auch die Pflicht, den Studierenden im Sinne des ascribed status Mut zu machen - etwa anhand eigener Erfahrungen aus der Studienzeit: „Ja, kann ich gut verstehen, auch ich hatte seinerzeit Probleme mit der Unterscheidung von ‚mechanisch‘ und ‚organisch‘ bei Durkheim und Tönnies…“. In einer solchen Bemerkung setzt sich gemeinschaftliche Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Leistungsanforderung gegenüber durch. Dass die Anwendbarkeit des Begriffs bis in die zeitgenössische Mediengesellschaft hineinreicht, weist Julia Harrer nach. In ihrer anregenden Seminararbeit versucht sie zu zeigen, dass Tönniesʼ Begriff vor allem mit dem Aspekt Ähnlichkeit als „Gemeinschaft des Geistes“ 48 auf verschiedene „Internet-Comunities“ oder „Cybercommunities“ anwendbar ist. Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass die Community eine neue Möglichkeit der Gemeinschaft darstellt“. 49 46 R. Linton, „Status and Role“, in: L. A. Coser, B. Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New York, Macmillan (1957), 1964, S. 360. 47 Vgl. F. Tönnies, „Status und Contractus. Eine sozialpolitische Betrachtung“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 71. 48 J. Harrer, Ferdinand Tönniesʼ Konzeption der Gemeinschaft und ihre Konstruktion in die Gegenwart am Beispiel von Internet-Communitys, München, Grin-Verlag, 2009, S. 6. 49 Ibid., S. 17. <?page no="356"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 340 Eine Einschränkung lässt sich nicht vermeiden: „Die Community stellt eine virtuelle Welt dar und ist dadurch realitätsfern.“ 50 Zu Recht weist auch der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman (vgl. Kap. XX) darauf hin, dass die Internet-Gemeinschaft vom individuellen Engagement abhängt und im Gegensatz zu realen (face-to-face) Gemeinschaften von den Beteiligten von einem Tag auf den anderen aufgekündigt werden kann. 51 Dies bedeutet, dass sie nicht alle Aspekte des Idealtypus „Gemeinschaft“ verwirklicht (etwa die räumliche Nähe). Harrer zeigt jedoch, ohne es expressis verbis festzustellen, dass nicht nur Tönniesʼ Begriff weiterhin aktuell ist 52 , sondern dass die Suche nach Gemeinschaften in einer anonymer werdenden Gesellschaft neue Formen annimmt. Es ist, als wollte Karl-Heinz Kohl an Harrers Gedankengang anknüpfen, wenn er in einem Artikel über Heimat und Migration abschließend feststellt: „Wie ausgeprägt die Sehnsucht nach face-to-face Gemeinschaften heute ist, tritt vielleicht nirgends deutlicher zutage als in dem Bestreben, sie in der Facebook-Gesellschaft zumindest virtuell zu erzeugen.“ 53 Hier wird deutlich, dass die Suche nach der verlorenen Gemeinschaft weit über Tönniesʼ Werk hinaus bis ins 21. Jahrhundert hineinreicht - und der „Klassiker“ Tönnies erscheint als zeitgenössischer Autor. 54 Der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft beherrscht seinen gesamten Diskurs - nicht nur in seinem Hauptwerk, sondern auch in seiner Einführung in die Soziologie und in seinem Buch über den Geist der Neuzeit. Er selbst beschreibt ihn narrativ als einen „Entwicklungsgang von Gemeinschaft zu Gesellschaft“ 55 , wehrt sich aber gegen den Vorwurf, er habe eine Geschichte des Verfalls erzählen wollen. Dennoch stellt er fest: „Der Begriff ‚Gesellschaft‘ bezeichnet also den gesetzmässig-normalen 50 Ibid. 51 Vgl. Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (4. Aufl.), S. 55: „Eine Gemeinschaft ist weitaus sicherer und verläßlicher als ein Netzwerk - allerdings ist die Mitgliedschaft in ihr auch mit mehr Einschränkungen und Pflichten verbunden.“ 52 Vgl. auch: A. Bammé, „Transhumane Kommunikation. Zum Implikationsverhältnis von Sozialbiologie und Neurosoziologie“, in: Soziologie 3, 2017, S. 260-261. 53 K.-H. Kohl, „Alte Heimat, neue Heimat? Die Rückbesinnung auf das Eigene in einer globalisierten Welt“, in: Forschung und Lehre 4, 2017, S. 305. 54 Mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft befasst sich auch Richard Münch in einer vergleichenden und historischen Perspektive, indem er die Suche nach Gemeinschaft in Deutschland und Nordamerika seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschreibt. Vgl. R. Münch, „Vereinigungsfreiheit: Auf der Suche nach Gemeinschaft in der Gesellschaft“, in: ders., Die Kultur der Moderne, Bd. II: Ihre Entwicklung in Frankreich und Deutschland, Frankfurt, Suhrkamp (1986), 1993, S. 804-815. 55 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 159. <?page no="357"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 341 Prozess des Verfalles aller ‚Gemeinschaft‘.“ 56 Wie sieht dieser Verfallsprozess aus? Damit nicht der Eindruck entsteht, soziologische Theorien seien disparate Konstruktionen oder Erzählungen, die einander kaum berühren, soll gleich im Vorfeld betont werden, dass Tönnies wie Durkheim von den Auswirkungen des Bevölkerungswachstums und einer fortschreitenden Differenzierung als Arbeitsteilung ausgeht und wie Marx zeigt, dass die soziale Entwicklung auch durch Ökonomisierung vorangetrieben wird: durch den Ausbau urbaner Zentren zu Knotenpunkten des Handels und internationalen Märkten. In Übereinstimmung mit Durkheim stellt er fest: „Der große Faktor der Veränderung ist die Bevölkerung: ihr Wachstum und das Knappwerden des Raumes.“ 57 Wie bei Durkheim bewirkt das sich beschleunigende Bevölkerungswachstum eine zunehmende Differenzierung der Aufgaben und Funktionen: „Denn Differenzierung, Scheidung, Arbeitsteilung ist ja das große Gesetz der Entwicklung.“ 58 Alfred Bellebaum fasst zusammen: „Kennzeichnend für die von Tönnies behauptete Entwicklung von Gemeinschaft zur Gesellschaft ist unter anderem eine zunehmende Differenzierung und Individualisierung.“ 59 Bevölkerungswachstum und Differenzierung sind allerdings nur zwei Aspekte der Erzählung; der dritte Aspekt - Industrialisierung - ist genauso wichtig. Im Gegensatz zu Durkheim, aber in Übereinstimmung mit Marx führt Tönnies die Industrialisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft als das dritte (aber nicht weniger wichtige) „große Gesetz“ von deren Entwicklung ein: „Wenn wir daher den Prozeß der Gesellschaft, welcher als die höchste Steigerung eines sich entwickelnden gemeinschaftlichen und Volkslebens erfolgt, in wesentlicher Einschränkung auf dieses ökonomische Gebiet betrachten, so stellt er sich dar als Übergang von allgemeiner Hauswirtschaft zu allgemeiner Handelswirtschaft, und im engsten Zusammenhange damit: von vorherrschendem Ackerbau zu vorherrschender Industrie.“ 60 Zu Recht fasst daher Rolf Fechner diesen Prozess als Ökonomisierung zusammen: „Die ‚Urbedingung‘ des Geistes der Neuzeit ist für Tönnies die ökonomische Lebensweise.“ 61 56 F. Tönnies, „Zur Einleitung in die Soziologie“, in: Soziologische Schriften, Bd. XIII, op. cit., S. 193. 57 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 185. 58 F. Tönnies, „Wege und Ziele der Soziologie“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 186. 59 A. Bellebaum, Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen, Maisenheim/ Glan, Hain, 1966, S. 136-137. 60 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 83. 61 R. Fechner, „Editorische Nachlese“, in: F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 243. <?page no="358"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 342 Auf dieser Ebene überschneidet sich Tönniesʼ Diskurs auch mit den Diskursen Saint-Simons und Comtes. Wie die beiden französischen Denker beschreibt er die Entwicklung von der mittelalterlichen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft. In schroffem Gegensatz zu ihnen und in häufiger Anlehnung an Marx versieht er jedoch die kapitalistische Industriegesellschaft (die „Industriellen“) mit vorwiegend negativen Konnotationen. Das mit dem Titel „Theorie der Gesellschaft“ überschriebene Kapitel in Gemeinschaft und Gesellschaft beginnt mit einer kontrastiven Definition: „Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.“ 62 Hier klingt wieder Durkheims Auffassung der „organischen Solidarität“ an: als einer rein funktionalen Verbundenheit bei affektiver und geistiger Trennung. Diese Trennung kann jederzeit in blanke Feindseligkeit umschlagen, weil Tönniesʼ Gesellschaft ein Gegeneinander von Egoisten ist, von denen ein jeder nur auf seinen eigenen Vorteil (oft als Marktanteil) bedacht ist. In Anlehnung an Hobbesʼ Auffassung des Naturzustandes als „Krieg aller gegen alle“, von dem im fünften Abschnitt ausführlicher die Rede sein wird, meint Tönnies, im modernen Kapitalismus einen latenten Kriegszustand zu erkennen, denn „so kann das Verhältnis aller zu allen (…) als potentielle Feindseligkeit oder als ein latenter Krieg begriffen werden (…)“. 63 Im Gegensatz zur Gemeinschaft, deren Bindungen durch Brauchtum, Sitte, Solidarität und ein gemeinsames Gedächtnis geprägt sind, gründet die Gesellschaft auf vertraglichen Beziehungen: „Der einige Wille bei jedem Tausche, sofern der Tausch als gesellschaftlicher Akt gedacht wird, heißt Kontrakt.“ 64 Dieser Wille „dauert bis zur Vollendung des Tausches“. 65 Das heißt, dass er im Gegensatz zum andauernden „einigen Willen“ der Gemeinschaft an einen Zweck (Vorteil) gebunden ist und erlischt, sobald dieser Zweck erreicht wurde. Zum philosophischen Ursprung der Auffassung der Gesellschaft als Vertragsgebilde bemerkt Cornelius Bickel: „Der Gesellschaftsbegriff hat in sich den Topos des Gesellschaftsvertrages aus der Aufklärungsphilosophie 62 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 64. 63 Ibid., S. 81. 64 Ibid., S. 72. 65 Ibid. <?page no="359"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 343 aufgenommen (…).“ 66 Wie dies im Zusammenhang mit Tönniesʼ Hobbes- Deutung aussieht, wird hier im fünften Abschnitt erläutert. Wie in Hobbesʼ „Naturzustand“ dominiert in der Gesellschaft nicht die gemeinschaftliche Eintracht, sondern das individuelle Interesse, das im Handel auf prägnanteste Art zum Ausdruck kommt. Vom gemeinschaftlichen „Schaffen, Bilden und Wirken“ 67 als „Kunst“ hebt sich der Handel schroff ab: „Der Handel, als die Geschicklichkeit Profit zu machen, ist das Gegenteil aller solcher Kunst. Profit ist kein Wert, er ist nur eine Veränderung in den Relationen der Vermögen: das Plus des einen ist das Minus des anderen (…). Die Aneignung ist eine bloß okkupatorische, also sofern andere beeinträchtigt werden, eine räuberische Tätigkeit; nicht Arbeit, welche zum Gute (oder Gegenstande des Gebrauches) verändert, was vorher nicht da war (…).“ 68 In dieser Passage ist der implizite Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert von besonderer Bedeutung, weil die Gemeinschaft mit der Schaffung von Gebrauchswerten, die Gesellschaft hingegen mit den vertraglich geregelten Tauschwertbeziehungen verknüpft wird. Angesichts dieser Zweiteilung, die von einem ideologischen Dualismus (vgl. Kap. II. 3) geprägt ist, der durch negative Konnotationen wie „räuberische Tätigkeit“ noch verstärkt wird 69 , nimmt es nicht wunder, dass Tönnies im Rahmen seines alles übergreifenden Gegensatzes zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auch Marxʼ strukturierenden Gegensatz von Arbeit und Kapital aufgreift: „Auf dem (eigentlichen oder Waren-)Markte erscheinen Arbeitskräfte nur in dieser, durch ihre Vereinigung und ihre Anwendung auf Stoffe und Arbeitsmittel, verwandelten Gestalt, folglich nicht als Eigentum der Arbeiter, sondern der Kapitalisten.“ 70 In diesem semantischen Kontext bietet sich die folgende Schlussfolgerung geradezu an: „Die Kaufleute oder Kapitalisten (Inhaber von Geld, das durch doppelten Tausch vermehrbar ist), sind die natürlichen Herren und Gebieter der Gesellschaft. Die Gesellschaft existiert um ihretwillen.“ 71 Zwei wesentliche Abweichungen von Marx fallen hier auf: Die Kapitalisten sind nicht primär die Besitzer von Produktionsmitteln, sondern von Geld: Sie sind bei Tönnies vorwiegend Kaufleute oder Händler. Die zweite Abweichung wurde schon angedeutet: Der den Diskurs strukturierende 66 C. Bickel, „Ferdinand Tönniesʼ Weg in die Soziologie“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 116. 67 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 85. 68 Ibid., S. 86. 69 Zur Funktion negativer Konnotationen in ideologischen Diskursen vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII. 2. b: „Isotopien als Konnotationsketten: ‚over-lexicalisation‘“. 70 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 111. 71 Ibid., S. 90. <?page no="360"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 344 semantische Gegensatz ist nicht der zwischen Arbeit und Kapital, sondern der zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Dies hat, wie sich im fünften Abschnitt zeigen wird, Folgen für den narrativen Ablauf des Diskurses: Er ist nicht (wie bei Marx) auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel (die Enteignung der Kapitalisten als Besitzer der Produktionsmittel) und die klassenlose Gesellschaft ausgerichtet, sondern auf eine Wiederherstellung oder Stärkung der Gemeinschaft. Da die Entwicklung dieser Gemeinschaft von Tönnies selbst als Verfall erzählt wird, ist eine düstere Prognose kaum zu vermeiden. In Tönniesʼ kurzer Schrift „Mein Verhältnis zur Soziologie“ nimmt sie folgende - etwas bekenntnishafte - Form an: „Es ist allerdings mein Gedanke, daß selbst in dem Falle, den ich als den günstigsten für die gegenwärtige Zivilisation schätze: daß es nämlich gelingen werde, sie in allmählichem Fortschritt durch sozialistische Organisation abzulösen, das Ende unabwendbar wäre, nicht das Ende der Menschheit, auch nicht das der Zivilisation oder Kultur, wohl aber das Ende dieser Kultur, deren Merkmale durch das Erbe Roms bezeichnet werden.“ 72 3. Verfall und Aufbruch: Ambivalenz Angesichts solcher Aussagen hat man Tönnies oft „Pessimismus“ vorgeworfen, gegen den er sich sporadisch gewehrt hat. 73 Vielleicht zu Recht, denn sein Diskurs ist von einer Ambivalenz geprägt, die sowohl Untergangsals auch Aufbruchsstimmung verbreiten kann. Jedenfalls kann man trotz aller negativen Konnotationen nicht ohne weiteres Matthias Heises Bemerkung gelten lassen, „daß Ferdinand Tönnies an der Gesellschaft kein gutes Haar läßt“. 74 Mit etwas Sinn für Dekonstruktion kann man auch den Gegenbeweis antreten. Liest man das unvollendete Werk Geist der Neuzeit parallel zu Gemeinschaft und Gesellschaft, setzt sich der Eindruck der Ambivalenz allmählich durch. Zu dem von ihm postulierten Übergang „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“ bemerkt Tönnies am Ende des ersten Abschnitts von Geist der Neuzeit, dass dieser Übergang „am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt“. 75 Dieser Individualismus als Komponente der Gesellschaft und als Prozess besteht darin, „daß der einzelne Mensch seiner Persönlichkeit, 72 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 336. 73 Vgl. C. Bickel. „Tönnies und Durkheim. Nähe und Distanz“, in: Tönnies-Forum, op. cit., S. 28. 74 M. Heise, Ferdinand Tönniesʼ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ - Sozialismuserwartung und Kapitalismuskritik, München, Grin-Verlag, 2004, S. 6. 75 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 33. <?page no="361"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 345 seines Wertes und seiner persönlichen Zwecke, also seiner Angelegenheiten oder Interessen bewußter wird; folglich selbständiger und freier zu werden strebt, allem gegenüber, was ihn sonst bindet, verbindet und beschränkt, und das ist, sofern es seinen Willen gebunden und verbunden hat: Gemeinschaft“. 76 Freilich wird auch hier das zentrale Ereignis aus Gemeinschaft und Gesellschaft - die Lockerung und Auflösung der Gemeinschaft - erzählt, aber die positiven Konnotationen der gesellschaftlich bedingten Individualisierung, etwa der Wille, „freier zu werden“ und aufzulösen, was einen „bindet, verbindet und beschränkt“, sind kaum zu übersehen. Wird hier nicht unterschwellig - wie bei Durkheim - ein Emanzipationsprozess dargestellt: eine Befreiung des Individuums aus gemeinschaftlicher Fesselung und Bevormundung? Komplementär dazu und stärker als in Gemeinschaft und Gesellschaft werden die Herrschaftsverhältnisse in der Gemeinschaft beleuchtet: „Seinem Wesen nach ist das Herrentum eine fundamentale Erscheinung des gemeinschaftlichen Lebens. Der Individualismus des Herrn innerhalb solcher Verbundenheiten macht am leichtesten sich geltend durch den Gebrauch der Macht als Zwang und Gewalt (…).“ 77 Dazu gehören auch „Mißhandlung, Bedrückung, Ausbeutung“ sowie „die Unterwerfung des Weibes unter die Gelüste des Mannes“. 78 Ergänzend heißt es in Tönniesʼ Aufsatz „Der Begriff der Gemeinschaft“, „daß auch keine Art der inneren Gemeinschaft feindselige Gefühle und feindseliges Verhalten der in ihr Verbundenen als tatsächliche Erscheinungen ausschließt“. 79 Tönnies widerspricht sich nicht durch das Aufstellen unvereinbarer Thesen. Auch in Geist der Neuzeit beschreibt er die Entwicklung zur Gesellschaft hin als einen Verfallsprozess. Es ist dort sogar von „Entfremdung“ die Rede: „Dies bedeutet zunehmende Entfremdung zwischen den aufeinander angewiesenen, insbesondere den zusammenarbeitenden Schichten des Volkes, also den Klassen oder Ständen (…).“ 80 Somit erscheint auch in Geist der Neuzeit die „Gesellschaft“ als eine von Warentausch und Klassenantagonismus geprägte, entfremdete Welt. Die Ambivalenz als latenter Widerspruch hängt nicht vorrangig mit den abwechselnd positiven und negativen Konnotationen zusammen, mit denen der Autor die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ versieht; auch nicht damit, dass in Geist der Neuzeit der Prozess der Individualisierung 76 Ibid., S. 36. 77 Ibid., S. 43. 78 Ibid. 79 F. Tönnies, „Der Begriff der Gemeinschaft“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 226. 80 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 135. <?page no="362"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 346 positiver dargestellt wird als in Gemeinschaft und Gesellschaft. Sie manifestiert sich vor allem - wie die meisten Ideologeme - auf narrativer Ebene, wo der Autor-Erzähler einerseits den Verlust der Gemeinschaft beklagt und die Gesellschaft mit dem „Verderben“ assoziiert, andererseits Begrifflichkeit, abstraktes Denken und Wissenschaft aus eben dieser Gesellschaft hervorgehen lässt. So heißt es beispielsweise im romantischen (F. Schlegelschen) Sprachduktus in Gemeinschaft und Gesellschaft: „Wir ahnen zuweilen, was wir verloren haben, wenn wir kalt und berechnend, flach und aufgeklärt geworden sind.“ 81 Als Ergänzung zu diesem Satz wäre eine Passage am Ende des Buches zu lesen: „So ist Großstadt und gesellschaftlicher Zustand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes (…).“ 82 Aus der großstädtischen Gesellschaft und ihrem kritisch-selbstkritischen Individualismus geht aber ein begriffliches Denken hervor, das Wissenschaft (auch Tönnies‘ Sozialwissenschaft) ermöglicht. „Denn Gesellschaft ist nichts als die abstrakte Vernunft (…). Die abstrakte Vernunft in einer speziellen Betrachtung ist die wissenschaftliche Vernunft (…).“ 83 Lange vor Alfred Sohn-Rethel, der den „Entwicklungszusammenhang von Ökonomie und Wissenschaft“ 84 , von „Tauschabstraktion“ und begrifflicher Abstraktion untersucht 85 , weist Tönnies - und dies ist ein großes Verdienst - auf den Nexus von begrifflicher Abstraktion und Geldwirtschaft hin: „Der oberste wissenschaftliche Begriff, welcher nicht mehr den Namen von etwas Wirklichem enthält, ist gleich dem Gelde. Z. B. der Begriff Atom oder der Begriff Energie.“ 86 Kurzum, Tönniesʼ Ambivalenz besteht darin, dass er den Niedergang der Gemeinschaft als Verlust bedauert, den ihn begleitenden Aufstieg der Gesellschaft für verderblich hält („Verderben und Tod des Volkes“), zugleich aber die Gesellschaft als Geburtsstätte der (seiner) Wissenschaft erkennt und anerkennt. Diese ambivalente Haltung, die immer wieder Kontroversen hervorruft, geht aus der eingangs erwähnten Fortschrittsskepsis der spätmodernen Soziologen hervor, die im Gegensatz zu Comte und Spencer beginnen, die Unwägbarkeiten der Ökonomisierung, Differenzierung und Individualisierung wahrzunehmen. Sie verstehen auch, dass es unmöglich ist, den gesellschaftlichen Fortschritt, der stets ein zwei- 81 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 200. 82 Ibid., S. 323. 83 Ibid., S. 71. 84 A. Sohn-Rethel, Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin, Wagenbach, 1990, S. 69. 85 A. Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 122. 86 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 72. <?page no="363"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 347 schneidiges Schwert ist 87 , aufzuhalten, um die von ihm ausgehenden Gefahren zu bannen. Teils skeptisch, teils zuversichtlich klingen die letzten Sätze von Tönniesʼ Geist der Neuzeit, weil sie von der ambivalenten Einstellung des Soziologen zu „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“ und der von ihm beschriebenen Entwicklung zeugen. Die Wissenschaft sieht er dort weiterhin als gesellschaftliche Kraft und besteht darauf, „daß die Macht der Wissenschaft vorzugsweise dem absteigenden Ast einer sozialen Gesamtentwicklung angehöre, denn auch der Abstieg ist naturnotwendig, also gesetzlich bedingt, und es ist noch kein Grund, die Vermutung aufzugeben, daß er immer die unerläßliche Bedingung eines neuen Aufstiegs und Fortschrittes, also unter Umständen einer neuen großen Kulturepoche sei“. 88 Als Schlusswort ist diese Passage deshalb wichtig, weil sie zeigt, wie unverantwortlich es ist, Tönniesʼ Denken auf das Schlagwort „Pessimismus“ festzulegen. Der Theorie fällt die Aufgabe zu, wissenschaftliche Texte von Ideologemen und Schlagwort-Schlacken zu befreien und zugleich ihre Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten sichtbar machen. 4. Wesenwille und Kürwille: Tönnies’ Erzählung als Aktantenmodell Tönnies unterscheidet zwei Arten des Wollens, von denen die eine für die Gemeinschaft, die andere für die Gesellschaft kennzeichnend ist. Während der Wesenwille als Ausdruck der Solidarität (im umgangssprachlichen Sinn) von Affekt, Gewohnheit und überlieferter Sitte motiviert wird, wird der Kürwille als Zweck-Mittel-Denken von Zielstrebigkeit, Utilitarismus und der Aussicht auf Erfolg angetrieben. An verschiedenen Stellen seines Hauptwerks Gemeinschaft und Gesellschaft zeigt Tönnies, „wie Gemeinschaft den Wesenwillen entwickelt und bildet, Kürwillen bindet und hemmt“ und wie „Gesellschaft diesen nicht allein entfesselt, sondern auch fordert und fördert“. 89 Wie die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sind auch die sie ergänzenden Begriffe „Wesenwille“ und „Kürwille“ als Idealtypen im Sinne von Max Weber (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII. 3) oder als „ideelle Typen“ (Tönnies) konzipiert. So ist es zu erklären, dass Tönnies feststellen kann: „Die Begriffe der Willensformen und Gestaltungen sind selber, an und für sich, nichts als Artefakte des Denkens (…).“ 90 Als theoretische Konstruktionen abstrahieren sie von der Wirklichkeit, in der sie uns aber als klar umrissene 87 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, „Einleitung: Was ist Entfremdung? - Entfremdung und Fortschritt“. 88 F. Tönnies, Geist der Neuzeit, op. cit., S. 237. 89 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 222. 90 Ibid. S. 178. <?page no="364"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 348 Schemata die Orientierung erleichtern. Als abstrakte Schemata sollen sie uns helfen zu unterscheiden: „In den Formen des Wesenwillens soll nichts von Kürwillen, in den Formen des Kürwillens nichts von Wesenwillen mitgedacht werden.“ 91 In der empirischen Wirklichkeit verhält es sich freilich umgekehrt: Dort sind Wesenwille und Kürwille oft schwer auseinanderzuhalten, weil auch in einer solidarischen Dorfgemeinde ein Bauer versuchen kann, seinem Nachbarn zu beweisen, dass er das Saatgut besser einzuschätzen weiß als alle anderen und dass seine erfolgreichere Weizenernte dafür den besten Beweis liefert. Umgekehrt kann ein Seminarteilnehmer trotz aller Konkurrenzverhältnisse im Wissenschaftsbereich seinem Nachbarn freundschaftlich helfen, im Internet oder über die Fernleihe einen „unauffindbaren“ Text ausfindig zu machen. Nicht zufällig verweist das Wort „Wille“ auf Arthur Schopenhauers bekanntes Werk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819). Tönnies selbst erinnert an die Herkunft der von ihm konstruierten Willensformen aus Schopenhauers Philosophie: „Im Willen den Kern des menschlichen Wesens zu begreifen, war ich schon in früher Jugend durch Schopenhauer angeleitet worden.“ 92 Peter-Ulrich Merz-Benz dehnt den Willensbereich auf den Wissens- oder Erkenntnisbereich aus, wenn er bemerkt: „Gleich wie Schopenhauer sieht auch Tönnies den Intellekt als ein Produkt des Willens (…).“ 93 Diese Erläuterung führt mitten in die Modalitätentheorie der Strukturalen Semiotik, die auf narrativer Ebene Modalitäten wie sein, wollen, wissen, können und müssen unterscheidet, die das Handeln ermöglichen und über den Handlungsablauf entscheiden. Als Angehöriger einer Gemeinschaft - etwa einer Familie - gehe ich von diesem besonderen sozialen Sein aus und will, weil ich weiß, dass ich als einziger über das nötige Wissen und Können verfüge, den Eltern oder Geschwistern helfen. Der Erfolg, den ich mir von meiner Vorgehensweise verspreche, geht weder mit persönlichem Vorteil noch mit Gewinn einher. In diesem Fall ist mein Handeln vom gemeinschaftlichen Wesenwillen motiviert. Diese Motivation ändert sich radikal, wenn ich als Vertreter eines großen internationalen Konzerns weiß, dass ich als Einziger über das nötige knowhow verfüge, die feindliche Übernahme eines konkurrierenden Konzerns in die Wege zu leiten, und entsprechend handeln will, weil ich mir davon einen Karrierevorteil verspreche, der mit einem beachtlichen materiellen Gewinn einhergeht. In dieser Situation ist mein Handeln vom ge- 91 Ibid. 92 F. Tönnies, „Mein Verhältnis zur Soziologie“, in: Gesamtausgabe, Bd. XXII, op. cit., S. 330. 93 P.-U. Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönniesʼ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt, Suhrkamp, 1995, S. 63. <?page no="365"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 349 sellschaftlichen Kürwillen motiviert. Zu einer Synthese beider Willensarten kommt es, wenn ich so handle, um meine Familie mit Reichtum zu beglücken. Ausgehend von den beiden Modalitäten Wesenwille und Kürwille, die den antagonistischen Seinsmodi „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ angehören, konstruiert Tönnies - ansatzweise - sein Aktantenmodell, in dem der „Gemeinschaft“ die Funktion der Auftraggeberin, der „Gesellschaft“ die Funktion der Gegenauftraggeberin zufällt. Dadurch kommt ein „Handlungssystem“ zustande, „in dem Individuen oder Gruppen als Akteure aufeinander relationiert sind“, wie Heinz-Jürgen Dahme es im Zusammenhang mit der „deutschen Soziologengeneration um die Jahrhundertwende“ 94 ausdrückt. Dass Tönnies im Gegensatz zu anderen Soziologen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ durchaus als agierende Subjekte oder Aktanten auffasst, lässt der folgende Satz erkennen: „So ist, in allgemeiner Fassung, Gemeinschaft das Subjekt verbundener Wesenwillen, Gesellschaft das Subjekt verbundener Kürwillen.“ 95 Der Ausdruck „verbundener Wesenwillen / Kürwillen“ deutet darauf hin, dass diese beiden gegensätzlichen Modalitäten keineswegs freischwebend sind, sondern mit individuellen und kollektiven Aktanten verknüpft werden. Insofern ist Cornelius Bickels Ausdrucksweise verwirrend, wenn er von „zweckrational verfahrenden Kürwillen“ spricht und hinzufügt, dass Tönnies „die soziale Wirklichkeit in ein Geflecht hin und her fluktuierender Willensprozesse auflöst“. 96 So vage ist Tönniesʼ Diskurs keineswegs, weil er die Modalitäten „Wesenwille“ und „Kürwille“ mit konkreten Aktanten assoziiert: den „Wesenwillen“ mit den noch verbleibenden „Gemeinschaften“ und der „Arbeiterklasse“ sowie mit den „Frauen“, die als Vertreterinnen der Gemeinschaft mit dem „Proletariat“ verbündet werden: „Längst ist die Analogie des Loses der Frauen mit dem Lose des Proletariats erkannt und behauptet worden.“ 97 Diesen kollektiven Aktanten oder Subjekten, die im Namen der Gemeinschaft agieren, stehen im gesellschaftlichen Bereich die kollektiven Aktanten oder Antisubjekte „Bürgertum“ und „Kapital“ gegenüber, die in Tönniesʼ Diskurs häufig als kollektive („Aktiengesellschaften“) oder individuelle 94 H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 250. 95 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 236. 96 C. Bickel, „Ferdinand Tönniesʼ Weg in die Soziologie“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen, op. cit., S. 100. 97 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 217. <?page no="366"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 350 Akteure 98 , etwa „Händler“ oder „Kaufmann“, auftreten: „Seiner ganzen Beschaffenheit nach und mit voller Bewußtheit ist solches Subjekt, wie früher betrachtet wurde, der Händler oder Kaufmann.“ 99 Als anachronistisches Ideologem wirkt in heutiger Zeit Tönniesʼ Vermutung, „wie sehr der Handel dem weiblichen Gemüte zuwider sein muß“. 100 Hier soll die Feststellung genügen, dass „Frauen“ bei Tönnies vom Affekt beherrscht werden und als kollektiver Aktant im Namen der Auftraggeberin „Gemeinschaft“ handeln: im Gegensatz zu den „klugen“, ihrem Verstand gehorchenden „Männern“, die sich vom zweckrationalen Kürwillen leiten lassen und (zumindest tendenziell) die „Gesellschaft“ als Gegenauftraggeberin vertreten. Unreflektiert bleibt bei Tönnies die Wahrscheinlichkeit, dass Arbeiter im Rahmen seines Modells eher dem Wesenwillen, bürgerliche Frauen hingegen dem Kürwillen folgen. Im Vergleich zu Marx ist entscheidend, dass die Auftraggeberin der „Arbeiter“ und „Frauen“ nicht die „Geschichte“ ist, sondern die „Gemeinschaft“, die Auftraggeberin des „Bürgertums“ und des „Kapitals“ nicht die „Gegengeschichte“ als Reaktion ist, sondern die „Gesellschaft“. Infolge dieser semantischen Umschichtung ändert sich die Richtung der Erzählung radikal: In Tönnies‘ narrativem Programm ist der Objekt-Aktant nicht die „klassenlose Gesellschaft“, sondern eine „Aneignung der sozialen Welt durch die Gemeinschaft“ - und zwar mit Hilfe der hier genannten Aktanten. Dieses Programm wird von einem „Willen zur Gemeinschaft“ 101 getragen, den Günther Rudolph in seinem Nachwort zu Tönniesʼ Buch Der Nietzsche-Kultus Nietzsches „Willen zur Macht“ gegenüberstellt. Von diesem „Willen zur Gemeinschaft“ zeugt in diesem Buch auch Tönniesʼ Hinweis auf den „synthetischen, den gemeinschaftlichen Zug, der durch das echte sozialwissenschaftliche Denken hindurchgeht“. 102 Dass diese Art von Denken nicht frei von Werturteilen sein kann, liegt auf der Hand. Ein „gemeinschaftliches“ Werturteil liegt auch Tönniesʼ Vorschlag zugrunde, in sein Handlungsmodell „Genossenschaften“ als Helferinnen oder Verbündete der anderen Kollektivaktanten (Arbeiter, Frauen, Gemeinden) aufzunehmen. In seinem Nietzsche-Buch spricht er im Zusam- 98 Zum Verhältnis von Akteuren und Aktanten vgl. J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95: « Actants et acteurs ». 99 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 215. 100 Ibid. 101 G. Rudolph, „Friedrich Nietzsche und Ferdinand Tönnies. Der ‚Wille zur Macht‘ widerlegt von den Positionen eines ‚Willens zur Gemeinschaft‘“, in: F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, Berlin, Akademie-Verlag, 1990, S. 107. 102 F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, op. cit., S. 21. <?page no="367"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 351 menhang mit dem mittelalterlichen Wertsystem vom „genossenschaftlichvolkstümlichen Ideal“. 103 Er knüpft an dieses Ideal an, wenn er analog zu Durkheim, der für die Stärkung von Berufsverbänden plädiert, vorschlägt, dass in der modernen Gesellschaft Genossenschaften als Beauftragte der Gemeinschaft auftreten sollten, um dem gesellschaftlichen Zersetzungsprozess entgegenzuwirken. Auf das Zusammenwirken von Arbeitergewerkschaften und Genossenschaften im Interesse einer neuen Gemeinschaft, die sich innerhalb der Gesellschaft bildet, um sie schließlich zu überwinden, geht Tönnies in der dritten Vorrede zu seinem Hauptwerk ein. Dort zeigt er, wie die „Arbeit“ dem gesellschaftlichen „Kapital“ gegenüber gestärkt werden könnte, und zwar durch „die Selbstorganisation der Arbeiter in Gewerkschaften, deren wachsender Einfluß die konstitutionelle Fabrik schaffen wird, und vollends in Genossenschaften, die für ihren eigenen Bedarf als Verbraucher selbst Fabriken und andere Betriebe ins Leben zu rufen vermögen“. 104 Der Frage, wie in einem Netzwerk global agierender Konzerne die „Selbstorganisation der Arbeiter“ in Gewerkschaften und Genossenschaften überleben soll, geht Tönnies nicht nach. Tatsache ist, dass noch in heutiger Zeit Pierre Bourdieu vergeblich für die Schaffung einer europäischen Gewerkschaftsorganisation plädiert. 105 Ein ambivalenter Aktant, dessen Ambivalenz mit Tönniesʼ ambivalenter Einstellung zum Gesellschaftsprozess zusammenhängt, ist der „Staat“. Die für Tönnies entscheidende Frage lautet: Wird er als Produkt der „Gesellschaft“ deren Instrument oder Helfer bleiben, oder kann er in einen Helfer der „Gemeinschaft“ umgewandelt werden? Im Spionageroman ginge es analog dazu um die Frage, ob es gelingt, einen Agenten der Gegenseite für die eigene Sache zu gewinnen. Da die Geschichte der Gesellschaft noch nicht zu Ende ist und wir nicht wissen können, in welchem ihrer Kapitel wir uns gerade befinden, muss diese Frage offen bleiben - auch bei dem schon 1936 verstorbenen Tönnies, der sich fragt: „ob das soziale Wollen und Denken in unserer Zeit sich stark genug erweisen wird, den modernen Staat in eine wirkliche, auch das Eigentum umfassende und beherrschende Gemeinschaft auszubilden - vielleicht muß es heißen: umzugestalten -, oder ob die Tendenzen der 103 Ibid., S. 83. 104 F. Tönnies, „Gemeinschaft und Gesellschaft. Vorrede der dritten Auflage“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 216. 105 Vgl. P. Bourdieu, „Pour un nouvel internationalisme“, in: ders., Contre-feux, Paris, Raisons d’agir, 1998, S. 70. <?page no="368"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 352 Gesellschaft in diesem sozialen Wollen und Denken das Übergewicht behalten werden“. 106 Im Rahmen des Aktantemodells lautet die Frage, ob sich die Gegenauftraggeberin „Gesellschaft“ mit ihren vom Kürwillen motivierten Aktanten (Konzernen, Aktiengesellschaften, Handelskammern) auf Dauer durchsetzt oder ob die Auftraggeberin „Gemeinschaft“ mit Hilfe ihrer vom Wesenwillen beseelten Aktanten (Arbeitern, Frauen, Genossenschaften) schließlich die Oberhand gewinnt und den Staat als Helfer für ihre Zwecke einsetzen kann. Am Ende von Gemeinschaft und Gesellschaft macht sich zusammen mit der Ambivalenz eine Art Verzweiflung bemerkbar, die von Tönniesʼ starker Abneigung gegen die kommerzialisierte Gesellschaft zeugt: „Der Staat, als die Vernunft der Gesellschaft, müßte sich entschließen, die Gesellschaft zu vernichten, oder doch umgestaltend zu erneuern. Das Gelingen solcher Versuche ist außerordentlich unwahrscheinlich.“ 107 Verflogen ist Hegels Harmonie von Staat und Gesellschaft, verflogen auch Marxʼ moderne Vorstellung vom Staat als Form proletarischer Übergangsherrschaft. Die Hoffnung auf eine qualitative Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse weicht einer spätmodernen Skepsis. 5. Naturzustand, Gesellschaft und Staat: Tönnies zwischen Hobbes und Marx Von der Übereinstimmung zwischen Tönniesʼ „Gesellschaft“ und Thomas Hobbesʼ „Menschheit im Naturzustand“ war ansatzweise schon die Rede. Im Gegensatz zu Rousseau, der sich vorstellt, dass Menschen von Natur aus nach Geselligkeit und Gemeinsamkeit streben und dass ihre Darstellung als egozentrische und egoistische Wesen eine nicht zu rechtfertigende Identifizierung des sozialisierten Stadtmenschen mit dem Menschen schlechthin ist 108 , behauptet Hobbes, dass der Mensch von Natur aus ein nach Macht und Vorteil strebender Egoist ist. Solange eine staatliche Macht fehlt, die ihn zwingt, mit seinen Mitmenschen Frieden zu schließen und Gesetzen zu gehorchen, wird er vorwiegend seinem eigenen Machtinstinkt und Interesse folgen. So lauten wörtlich die einschlägigen Sätze in Hobbesʼ Leviathan: „So that in the nature of man, we find three principall causes of quarrell. First, Competition; Secondly, Diffidence; Thirdly, Glory.“ Daraus folgt, dass sich Men- 106 F. Tönnies, „Das Wesen der Soziologie“, in: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 127. 107 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 321. 108 Vgl. J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité, Paris, Gallimard, 1965, S. 44-45. <?page no="369"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 353 schen von Natur aus in einem permanenten Kriegszustand befinden: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man, against every man.“ 109 Wie Tönnies ist auch der kanadische Philosoph C. B. Macpherson der Meinung, dass Hobbes in Wirklichkeit nicht einfach Individuen in einem fantasierten „Naturzustand“ beschreibt, sondern in der vor seinen Augen entstehenden frühmodernen Marktgesellschaft. Der von ihm so ausführlich beschriebene state of nature sollte folglich als eine mythische Darstellung der frühmodernen bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse aufgefasst werden. 110 Tönnies nimmt den Gedankengang von Macphersons Buch (in dem sein Name nirgends vorkommt) vorweg, wenn er die komplementäre These aufstellt: dass die zeitgenössische „Gesellschaft“ (um 1900) weitgehend dem von Hobbes beschriebenen „Naturzustand“ entspricht. Dies würde freilich bedeuten, wenn man Macphersons und Tönniesʼ Hobbes-Kommentare als komplementäre Deutungen auffasst, dass sich im langen Übergang von der Frühmoderne zur Spätmoderne und Postmoderne (Macpherson: 1962) nichts Grundsätzliches geändert hat. Tönnies geht tatsächlich davon aus, dass Hobbesʼ Beschreibung des „Naturzustandes“ wesentlich zum Verständnis der von ihm konstruierten spätmodernen „Gesellschaft“ beitragen kann: „Der Gedanke aber, dass der Krieg aller gegen alle nicht sowohl oder nicht allein als der vorstaatliche Zustand, sondern auch oder sogar wesentlich als ein Zustand innerhalb des bürgerlichen, geordneten, friedlichen Zustandes gedacht werden müsse, klingt schon in De cive an (…).“ 111 (Die Elementa philosophica de cive - 1642 - gehören zu Hobbesʼ wichtigsten Werken.) Tönnies antizipiert Macphersons Hobbes-Deutung und deren Kernargumente, wenn er von dem Gedanken ausgeht, dass Hobbes, ohne sich dessen bewusst zu sein, die moderne Marktgesellschaft beschreibt, die er allerdings in einen mythischen „Naturzustand“ projiziert: „Keine Spur findet sich bei Hobbes des Gedankens, der uns heute näher liegt als seine Ansicht vom Ur- oder von dem in aller Kultur verborgenen Naturzustande: des Gedankens nämlich, dass gerade die moderne grossstädtische, gesellschaftliche Zivilisation, von der er freilich nur die Anfänge kannte, einen ver- 109 Th. Hobbes, Leviathan, Harmondsworth, Penguin (1951), 1985, S. 185. 110 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford, Clarendon Press, 1962, S. 61-68. 111 F. Tönnies, „Hobbes und das Zoon Politikon“, in: Schriften zu Thomas Hobbes (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2015, S. 318. <?page no="370"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 354 hüllten Krieg aller gegen alle darstellt. Und doch ist dies allerdings die Wahrheit seines Themas (…).“ 112 Komplementär dazu heißt es in Tönniesʼ Buch über Hobbes, „dass dieser Denker ein Auge gehabt hat für die Anfänge und zugleich für das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise“. 113 In Gemeinschaft und Gesellschaft ist von den „Menschen des Hobbes und [den] von ihnen abstammenden Individuen meiner ‚Gesellschaft‘“ 114 die Rede. Von Tönniesʼ Gesellschaftsbild sagt Günther Rudolph, es sei „weitgehend in Hobbesschen Farben gemalt“. 115 Dies bedeutet, dass Tönniesʼ „Gesellschaft“ von den verschiedenen Komponenten der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer: vgl. Kap. VI) beherrscht wird: von „Kürwillen“, „Besitzindividualismus“ (Macpherson), Utilitarismus und Machtanspruch. Zu diesen Komponenten gehört auch der Vertrag, den die Individuen im „Naturzustand“, also auf der Ebene des Naturrechts, schließen, um dem „Krieg aller gegen alle“ ein Ende zu bereiten. Die ihnen allen gemeinsame Motivation ist die Furcht vor Gewalt und Tod, „the fear of violent death“, wie Hobbes selbst sagt. Indem sich die einander bekämpfenden und zugleich fürchtenden Individuen auf einen Vertrag einigen, durch den sie alle Macht dem Souverän übertragen, einem Staat, den ein Einzelner oder eine Versammlung vertritt, unterwerfen sie sich einer Autorität, die den Kriegszustand beendet. Aus diesem ursprünglichen Vertrag gehen alle Verträge und das gesamte Vertragsrecht der so begründeten zivilen Gesellschaft hervor, die mit Tönniesʼ „Gesellschaft“ übereinstimmt. „Dabei wird im Begriffe der Menschen von allem abgesehen, was sie auf natürliche und ursprüngliche Weise verbinden mag, also von Banden der Familie, der Freundschaft u.s.w., von allen sozialen Instinkten.“ 116 An dieser Stelle könnte Tönnies auch sagen: „von allen gemeinschaftlichen Banden“. Als Alternative zur Vernunft des Vertrags erscheinen hier die gemeinschaftliche Überlieferung und das auf ihr gründende „Gewohnheitsrecht als Ausdruck der historischen, gemeinschaftlichen Sozialformen“ 117 , wie es Peter-Ulrich Merz-Benz ausdrückt. Er fügt hinzu: „Nicht der Vernunft 112 Ibid., S. 327-328. 113 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2014, S. 375. 114 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 167. Vgl. auch: R. Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart, Kröner, 1953, S. 16: „Die Menschen der Tönniesschen ‚Gesellschaft‘ sind die gleichen, die Hobbes in seinem Leviathan beschrieben hat.“ 115 G. Rudolph, „Friedrich Nietzsche und Ferdinand Tönnies“, in: F. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, op. cit., S. 124. 116 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre, op. cit., S. 369. 117 P.-U. Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn, op. cit., S. 296. <?page no="371"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 355 entstammend, sondern dem Instinkt, dem Gefühl und dem Gewissen, bestimmen [die] genossenschaftlichen Rechtsverhältnisse das Zusammenleben im gemeinschaftlichen Haushalt des Dorfes, der Gemeinde und der Stadt (…).“ 118 Als Rationalist blendet Hobbes die historisch („organisch“, würde Tönnies sagen) gewachsenen Rechtsnormen aus. Sein Staat begründet zwar Gemeinsamkeit, bleibt aber Verwalter kapitalistischer oder „besitzindividualistischer“ (Macpherson) Verhältnisse. In diesem entscheidenden Punkt versucht Tönnies, in Anlehnung an Marx eine gemeinschaftlich-sozialistische Wende herbeizuführen, indem er Hobbes entsprechend umdeutet. Der Staat, den Hobbes als unabhängige Macht über der Gesellschaft wähnt, ohne zu bedenken, wie Macpherson betont, dass dieser Staat seine Stabilität dem erstarkenden Bürgertum verdankt 119 , könnte in einen sozialistischen Staat umgewandelt werden: „Der Idee gemäss, die Hobbes in so grosser Schärfe ausprägt, soll die Verfassung und die Regierung des Staates unabhängig von der Gesellschaft sein: das ‚soziale‘ Königtum oder der Staats-Sozialismus ist nur eine neue Gestaltung seines Gedankens.“ 120 Es ist hier nicht der Ort, nach der sicherlich nicht gegebenen Konsensfähigkeit dieser praxisorientierten Hobbes-Deutung zu fragen. Wichtiger ist Tönniesʼ Versuch, den Staat, den er zumeist als Produkt der „Gesellschaft“ darstellt, in einen Helfer der „Arbeiterklasse“ und einen Aktanten der „Gemeinschaft“ umzuwandeln. In der Vorrede zur dritten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft erklärt er, „daß die Idee der Arbeiterbewegung auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaft abzielt, nämlich die Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit (…)“. 121 Diesem Programm entspricht der „Entwurf einer demokratischen Staatsverfassung“, in dem ergänzend zu den Bestrebungen der Arbeiterbewegung „sein Begriff der sozialen Demokratie“ 122 , wie Jacoby sagt, zum Ausdruck kommt. Charakteristisch für diesen Begriff ist der zweite Punkt der Verfassung: „finanzielle Unabhängigkeit im Vergleich zum ‚Steuerstaat‘, auf Grund einer staatssozialistischen Eigentumsordnung, namentlich des Eigentums an Grund und Boden“. 123 Dieser Gedanke ist nicht eben neu; er erinnert an die verschiedenen Formen der Verstaatlichung, die Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei für die Phase der 118 Ibid., S. 297. 119 Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, op. cit., S. 99. 120 F. Tönnies, Thomas Hobbes - Leben und Lehre, op. cit., S. 374-375. 121 F. Tönnies, „Das Wesen der Soziologie“, in: ders., Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft, op. cit., S. 215. 122 E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, op. cit., S. 191. 123 Ibid., S. 192. <?page no="372"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 356 „Diktatur des Proletariats“ vorschreiben. 124 Dennoch ist Tönnies recht weit von Marx entfernt. Der wesentliche Unterschied tritt - wie so oft - auf narrativer Ebene zutage. Während Marxʼ Erzählung von dem als relevant postulierten Gegensatz Arbeit / Kapital ausgeht und sich auf das Telos „klassenlose Gesellschaft“ (als Objekt-Aktant) zubewegt, geht Tönnies vom Gegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft aus und fasst sein Erzählprogramm mit dem Ausdruck „Wiederherstellung der Gemeinschaft durch die Arbeiterbewegung“ zusammen. Dadurch kommt eine neue theoretische Erzählung zustande, weil Marxʼ Diskurs auf Metaebene von einem neuen Diskurs eingefasst, den Relevanzkriterien dieses Diskurses unterworfen und entsprechend umfunktioniert wird. Das wichtigste Ergebnis dieser diskursiven (narrativen) Umstrukturierung besteht darin, dass der Objekt-Aktant „klassenlose Gesellschaft“ durch den Objekt-Aktanten „Wiederherstellung der Gemeinschaft“ (durch die Arbeiterbewegung) ersetzt wird. Die neue Erzählung nimmt eine paradoxe Form an, die verkürzt mit dem Ausdruck „vorwärts in die Vergangenheit“ wiedergegeben werden könnte. Von Tönniesʼ Versuch, die Marxsche Großerzählung im Rahmen seiner eigenen Erzählung gleichsam metadiskursiv umzugestalten, zeugen die folgenden beiden Sätze aus seinem Buch über Marx: „Die Klassenkämpfe, die Revolutionen, sind, wie Marx sie deutet, subjektive Ausdrücke solcher objektiven Widersprüche. Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten, daß sie im letzten Grunde unlösbar und unheilbar sind.“ 125 Dennoch versucht Tönnies, eine Art Lösung herbeizuführen, indem er die Arbeiterbewegung als Subjekt mit einer Wiederherstellung oder Erneuerung der Gemeinschaft beauftragt. In seiner Erzählung fällt, wie bereits angedeutet, den Genossenschaften als Helferinnen der Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle zu. Als Teil der Erzählung ist die folgende Bemerkung Tönniesʼ in seiner Einführung in die Soziologie zu lesen: „Dieser genossenschaftliche Geist ist vielleicht die aussichtsreichste Gegenströmung gemeinschaftlichen Inhaltes gegen die gesellschaftliche Entwicklung (…).“ 126 Obwohl er häufig zweifelt und auch Zweideutigkeiten, ja Widersprüche nicht scheut, gibt Tönnies Marxʼ moderne Hoffnung auf eine Überwindung 124 Vgl. K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 547. 125 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung der Alpen-Adria- Universität Klagenfurt, München-Wien, Profil Verlag, 2013, S. 180. 126 F. Tönnies, Einführung in die Soziologie, op. cit., S. 55. <?page no="373"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 357 der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Er sieht in ihr „eine utopistische Zuversicht, die mehr den Charakter eines religiösen Glaubens als eines wissenschaftlichen Gedankens hat“. 127 Wie der spätmoderne Durkheim, der versucht, den ökonomisch bedingten Pathologien durch eine Stärkung der Berufsverbände zu begegnen, versucht auch Tönnies, auf die „soziale Frage“ mit einer Wiederbelebung des „genossenschaftlichen oder gemeinschaftlichen Geistes“ eine adäquate Antwort zu finden. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen, die von globalisierten Marktgesetzen und den Kräften eines entfesselten Weltkapitalismus geprägt sind, kann keine der beiden Antworten überzeugen. Durkheims Berufsverbände, die es freilich gibt, sind nicht dazu angetan, den arbeitsteiligen Kapitalismus zu zähmen, und Tönniesʼ „genossenschaftlicher oder gemeinschaftlicher Geist“, den es auch geben mag, kann kaum als wirksame „Gegenströmung“ bezeichnet werden. 6. Kommunitarismus: Von Tönnies zu Amitai Etzioni (Epilog) Von der Anwendbarkeit und Aktualität des Begriffs „Gemeinschaft“ war bereits die Rede. Der Begriff ist anwendbar, weil er familiäre, nachbarschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen bezeichnet, die sich auch heute noch qualitativ von „gesellschaftlichen“ (Tönnies) Beziehungen unterscheiden. Er ist auch deshalb aktuell, weil er an verwandte Begriffe der zeitgenössischen Soziologie wie ascribed status (Linton) anschließbar ist. Der Gegensatz von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ kann überdies für die Gruppensoziologie fruchtbar gemacht werden, die primary und secondary groups unterscheidet, indem sie die familiären, affektiven Beziehungen in Primärgruppen den unpersönlichen Beziehungen in Sekundärgruppen gegenüberstellt. 128 Die Anschließbarkeit von Tönniesʼ Begriffen an eine später entwickelte (vor allem mikrosoziologische) Terminologie wird durch seinen Einfluss in den USA veranschaulicht. Dort hat er, wie Werner J. Cahnman zeigt, vor allem auf „ländliche Gemeindestudien“ und auf das Werk von Robert E. Park eingewirkt, der in Anlehnung an Tönnies „sakrale“ und „säkulare“ Gesellschaften unterscheidet: „Die ‚sakrale‘ Gesellschaft wurde als isoliert und auf die Familie orientiert gedacht und sollte eine Gesellschaft sein, in der Verpflichtungen personeller Natur waren. Die ‚säkulare‘ Gesellschaft dachte er sich als auf temporären Interessen und der Erkenntnis auf- 127 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre, op. cit., S. 182. 128 Vgl. z.B. M. S. Olmsted, The Small Group, New York, Random House (1959), 1966, S. 17- 18. Von der primary group heißt es dort: „In the primary group, members have warm, intimate, and ‚personal‘ ties with one another (…).“ Im Gegensatz dazu steht die secondary group: „Relations among members are ‚cool‘, impersonal, rational, contractual, and formal.“ <?page no="374"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 358 ruhend, daß eine Vereinigung von wechselseitigem Nutzen für die Beteiligten ist. Hinzu kommt, daß die ‚säkulare‘ Gesellschaft ihr Zentrum im Markt findet (…).“ 129 Die Analogien zu Tönniesʼ Begriffspaar „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sind kaum zu übersehen. Parks Unterscheidung bestätigt außerdem die Bedeutung der schon von Comte untersuchten Säkularisierung für die Soziologie. Zu den amerikanischen Soziologen, die Tönnies beeinflusst hat, gehört auch der Organisationssoziologe und wichtigste Vertreter des Kommunitarismus: Amitai Etzioni (geb. 1929). Sein in jeder Hinsicht zeitgenössisches Werk soll hier - im spätmodernen Kontext - nicht ausführlich kommentiert werden. In diesem Epilog geht es lediglich darum, eine mögliche Weiterentwicklung des Gemeinschaftsgedankens in großen Zügen darzustellen und dabei die Aktualität von Tönniesʼ Ansatz noch einmal hervorzuheben. Schon die Titel der zwei hier ausgewählten Werke - The Moral Dimension (1988) und The Spirit of Community (1993) - verweisen auf Tönniesʼ Problematik, zumal die deutsche Übersetzung des ersten Titels - Jenseits des Egoismus-Prinzips (1994) - als prägnante Zusammenfassung von Tönniesʼ Kritik an der „Gesellschaft“ gelesen werden könnte. Etzionis Kernargument lautet: In der zeitgenössischen individualistischen Gesellschaft überwiegt die Orientierung an individuellen Rechten. Sie bewirkt, dass die Pflichten der Öffentlichkeit gegenüber, die mit diesen Rechten einhergehen, übersehen und vernachlässigt werden. Diese Einstellung lässt einen ungezügelten Egoismus entstehen, der die Gemeinschaft als solidarischen Verband vergessen lässt und den Mitmenschen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel-zum-Zweck betrachtet. In seinem Buch The Active Society (1968) definiert Etzioni die von ihm als Ideal angestrebte Gesellschaft als eine „Assoziation von Mitgliedern, die einander als Zwecke behandeln und Nichtmitglieder so, als wären sie Mitglieder“. 130 Kants Forderung, man solle seinen Nächsten nie als Mittel behandeln, wird so ins Soziale projiziert. Etzioni argumentiert ähnlich wie Tönnies, wenn er das Gewinn-Verlust- Kalkül in Frage stellt und im Anschluss daran eine stärkere Orientierung an der Allgemeinheit fordert: „Tatsächlich wird die Unterscheidung zwischen Gewinn und Verlust entbehrlich: denn des einen Verlust ist des anderen Gewinn. Will man daher ein arbeitsfähiges Konzept entwickeln, so scheint es, daß es das Beste ist, das Streben nach Selbstbefriedigung streng vom Wunsch zu trennen, anderen (inklusive der Allgemeinheit) aus einem 129 W. J. Cahnmann, „Tönnies in Amerika“, in: W. Lepenies, Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 94. 130 A. Etzioni, The Active Society. A Theory of Societal and Political Processes, London, Collier-Macmillan, New York, The Free Press, 1968, S. 14. <?page no="375"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 359 Gefühl moralischer Verpflichtung heraus zu dienen.“ 131 Im Sinne von Tönnies und im Gegenzug zur gesamten utilitaristischen und rationalistischen Tradition bezeichnet Etzioni den Begriff des „Nutzens“ als „eine leere Hülle“. 132 Explizit beruft er sich auf Tönnies in seinem Buch The Spirit of Community, dessen viertes Kapitel mit seinem Titel „Back to We“ sowohl an Durkheim als auch an Tönnies erinnert. Der erste Untertitel dieses Kapitels könnte auch in einem Text von Tönnies vorkommen: „The Loss of Traditional Community“. Gleich am Anfang des Kapitels werden Tönniesʼ Schlüsselbegriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ erwähnt. Wichtiger als direkte Hinweise dieser Art ist der Gebrauch der Wörter „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, die im englischen Original (klein geschrieben) vorkommen, in ihrer Bedeutung jedoch von Tönniesʼ Termini abweichen (daher wird hier das Original zitiert). Zunächst stellt Etzioni fest, dass die nordamerikanische Gesellschaft ein Gemisch aus „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ ist und dass eine Rückkehr zur „Gemeinschaft“ in den USA (u.a. aus wirtschaftlichen Gründen) nicht in Frage kommt: „In short, our society is neither without community nor sufficiently Communitarian; it is neither gemeinschaft nor gesellschaft, but a mixture of the two sociological conditions. America does not need a simple return to gemeinschaft, to the traditional community. Modern economic prerequisites preclude such a shift (…).“ 133 Es fällt auf, dass „Gemeinschaft“ hier (anders als bei Tönnies) dem gesamten wirtschaftlichen Bereich entgegengesetzt wird und dass gemeinschaftliche Formen in diesem Bereich - etwa Tönniesʼ Genossenschaften - nicht mehr als Alternativen zur kapitalistischen Organisation ins Auge gefasst werden. Worin besteht nun Etzionis kommunitaristisches Programm? Er plädiert für eine Stärkung der gemeinschaftlichen Elemente in Städten und Vorstädten: „Thus, we need to strengthen the communitarian elements in the urban and suburban centers (…).“ 134 Konkret stellt sich Etzioni in „The Responsive Communitarian Platform: Rights and Responsibilities“, die im Anhang zu seinem Buch gleichsam als Manifest veröffentlicht wurde, die Stärkung der Familie, der Schule als Gemeinschaft sowie der communities in Städten und Vorstädten vor. Allerdings benennt er nicht konkrete Instanzen, die sich für diese Vergemeinschaftung der Gesellschaft einsetzen könnten. Er muss zugeben, dass die Familie von 131 A. Etzioni, Jenseits des Egoismus-Prinzips. Ein neues Bild von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Stuttgart, Schäffer-Poeschel, 1994, S. 68-69. 132 Ibid., S. 69. 133 A. Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, London, Fontana-Harper-Collins, 1995, S. 122. 134 Ibid. <?page no="376"?> Tönnies’ Soziologie der Spätmoderne 360 Jahrzehnt zu Jahrzehnt schwächer wird und fordert deshalb „moralische Erziehung“ („moral education“) 135 vom Kindergarten bis zur Universität. Wer die Anonymität nordamerikanischer Städte von New York bis Los Angeles erfahren hat und in regelmäßigen Abständen Zeitungsberichte über Gewaltausbrüche an amerikanischen Schulen und Universitäten liest, wird Etzionis „Communitarian Agenda“ mit Skepsis zur Kenntnis nehmen. Anders als Durkheim und Tönnies kann Etzioni keine treibenden Kräfte - Berufsverbände, Genossenschaften, Gewerkschaften oder die Arbeiterklasse - einer Veränderung zum Besseren benennen. Seine Beiträge zum Kommunitarismus sind eher moralische Aufrufe zur Besinnung auf Pflichten und Aufgaben. Die Akteure, die eine solche Besinnung oder Besserung herbeiführen könnten und die noch in der spätmodernen Soziologie der „Klassiker“ die Erzählungen bewegten, sind in Etzionis Postmoderne verschwunden. Zusammenfassung und Ausblick: Die rudimentäre Diskussion zwischen den Zeitgenossen Durkheim und Tönnies ließ ein partielles Einverständnis zutage treten, das für die Soziologie als ganze wichtig ist: Das menschliche Zusammenleben entwickelt sich von der Gemeinschaft im Sinne von Tönnies (als Familie, Dorfgemeinschaft oder Freundschaft) und von Durkheims mechanischer Solidarität zur Gesellschaft, die von Arbeitsteilung, Vereinzelung (Durkheim), Geldwirtschaft, Konkurrenz und Egoismus (Tönnies) geprägt ist. Stärker noch als bei Durkheim ist diese Entwicklung bei Tönnies mit negativen Konnotationen befrachtet. Trotz der Ambivalenz, die seine Argumentation prägt, in der auch die befreiende Wirkung von Traditionszerfall und Individualisierung zur Sprache kommt, erzählt Tönnies einen Zerfallsprozess, in dessen Verlauf die „Gemeinschaft“ als Auftraggeberin des Individuums und der Gruppe allmählich der Gegenauftraggeberin „Gesellschaft“ unterliegt. Insofern ist auch die Aneignung des Objekt-Aktanten, der „sozialen Welt durch die Gemeinschaft“, unwahrscheinlich, zumal die „Gesellschaft“ und ihre Helfer - „Bürgertum“ und „Kapital“ mit ihrer wirtschaftlich-rationalen Modalität des „Kürwillens“ - dem affektiv-sozialen „Wesenwillen“ der „Gemeinschaft“ und ihren Helfern (der „Arbeiterklasse“, den „Frauen“, den „Genossenschaften“) überlegen sind. Dennoch ist auch in der zeitgenössischen Gesellschaft ein Streben nach Gemeinschaft zu beobachten: unter anderem im Internet. Mit seinem Plädoyer für den Gemeinschaftsgeist (spirit of community) versucht Amitai Etzioni in den USA, Tönnies Gemeinschaftsbegriff zu aktualisieren. Im nächsten Kapitel wird gezeigt, das Georg Simmel Tönniesʼ spätmoderne Skepsis durchaus teilt, obwohl er anders argumentiert. 135 Ibid., S. 258. <?page no="377"?> 361 XI. Vergesellschaftung als Wechselwirkung, subjektive und objektive Kultur: Georg Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz und seine Antworten auf Durkheim und Tönnies Inhaltsverzeichnis 1. Gesetz oder Erzählung? Simmels Individualismus und seine konstruktivistische Antwort auf Hegel, Marx und Comte 2. Formen der Vergesellschaftung: Kant empirisch 3. Geldwirtschaft und Kultur: Simmels ambivalentes Aktantenmodell und die „Tragödie der Kultur“ 4. Entfremdung: Subjektivität als Sackgasse 5. Ambivalenz und Kritik der Moderne: Simmels Antworten auf Durkheim und Tönnies 6. Kulturindustrie als Komödie der Kultur: Adornos und Horkheimers Antwort auf Simmel Wie Durkheim und Tönnies ist Georg Simmel (1858-1918) ein Philosoph und Soziologe der Spätmoderne, der den Fortschrittsglauben moderner Denker wie Marx, Comte und Spencer mit Skepsis betrachtet. Auch er beobachtet zwar die sich beschleunigende Entwicklung der Gesellschaft im demographischen, wirtschaftlichen und technischen Bereich. Er teilt aber nicht die Zuversicht der Modernen, die trotz aller Divergenzen in der Ansicht übereinstimmen, dass diese Entwicklung zu immer höheren Stadien führt und eine Befreiung des Menschen in der klassenlosen Gesellschaft (Marx), im positiv-wissenschaftlichen Stadium (Comte) oder in einer individualistischen Industriegesellschaft (Spencer) mit sich bringt. Anders als diese Denker, von denen er wesentliche Gedanken und Begriffe übernimmt, nimmt er die Ambivalenzen der gesellschaftlichen Entwicklung wahr, die darin bestehen, dass das, was gemeinhin als Fortschritt bezeichnet wird, ein zweischneidiges Schwert ist, das dem Menschen einerseits dient, ihm andererseits auch gefährlich werden kann. Das Geld etwa befreit den Einzelnen zwar von feudalen Fesseln und blind befolgten Traditionen, macht ihn aber durch seine Reduktion aller Dinge auf ihre quantitativen Aspekte unempfindlich für qualitative Unterschiede und Nuancen. Der Fortschritt in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Gesundheitswesen hat ein Anwachsen der sozialen Komplexität zur Folge, die als unbeabsichtigte Nebenwirkung den Einzelnen und die Gruppe zur Ohnmacht verurteilen kann. Es ist vor allem die sich rasch entfaltende und immer mehr Bereiche erfassende Geldwirtschaft, mit der sich Simmel ausführlich befasst: haupt- <?page no="378"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 362 sächlich in seiner Philosophie des Geldes (1900), die eine für das spätmoderne Denken charakteristische Ambivalenz erkennen lässt. Sie kommt dadurch zustande, dass das Geld immer wieder unvereinbare Werte zusammenführt und so den scheinbar unaufhebbaren Gegensatz grundsätzlich in Frage stellt. In einem Essay über „Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens“ stellt Simmel beispielsweise fest: „Als Werth-Ausgleicher und Tauschmittel von unbedingter Allgemeinheit hat das Geld die Kraft, Alles mit Allem in Verbindung zu setzen (…).“ 1 Solche Bemerkungen erinnern an die Betrachtungen des jungen Marx, dem das Geld als die „verkehrende Macht“ erscheint: „als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes“, der „alle Dinge verwechselt, vertauscht“. 2 In dieser gesellschaftlichen und sprachlichen Situation kommt es bei Nietzsche zur „Umwertung aller Werte“ und zu der Überlegung, „daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein“. 3 Als eigentlicher Entdecker der spätmodernen Ambivalenz hat Nietzsche nicht nur Schriftsteller wie Robert Musil, Thomas Mann und Marcel Proust beeinflusst, in deren Werken Ambivalenz sowohl Kritik als auch Ironie zeitigt, sondern auch Soziologen der Spätmoderne wie Pareto, Simmel und Max Weber. Simmel, dessen Denken sich zwischen Kant und Nietzsche bewegt, kann Gegensätze wie Arbeit / Kapital (Marx), Wissenschaft / Glaube (Comte) oder militante Gesellschaft / Industriegesellschaft (Spencer), die den teleologisch strukturierten und auf Fortschritt ausgerichteten modernen Erzählungen zugrunde liegen, nicht mehr ernst nehmen. 4 Er nimmt wie Pareto die Komplizenschaft von Arbeit und Kapital wahr, durchschaut die Mythen der Wissenschaft und beobachtet den militanten Charakter der imperialistischen Industriegesellschaften um 1900. In diesem Kontext beschreibt er die Ambivalenz des Geldes, des Fortschritts, der Vergesellschaftung und der Kultur. Als Ganzes betrachtet zeigt 1 G. Simmel, „Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, Georg Simmel Gesamtausgabe, fortan: GSG, Bd. V, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 224. 2 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 301. 3 F. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 568. 4 Vgl. W. Dreyer, „Gesellschaft, Kultur und Individuum. Zur Grundlegung der Soziologie bei Georg Simmel“, in: F. Dörr-Backes, L. Nieder (Hrsg.), George Simmel between Mo dernity and Postmodernity / Georg Simmel zwischen Moderne und Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1995, S. 87. <?page no="379"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 363 sein Werk, das vom Grundgedanken der Vergesellschaftung als Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen ausgeht, wie schließlich der Vergesellschaftungsprozess eine materielle und geistige Kultur hervorbringt, die dem Einzelnen und der Gruppe wie eine fremde Welt begegnet. Was in der Aufklärung als moderne Befreiung durch Geld, Wissenschaft und Technik begann, schlägt in neue Unterwerfung und Unmündigkeit um. Wie in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (vgl. Kap. VI) wird das sich scheinbar emanzipierende Subjekt zum Unterworfenen (sub-iectum) seiner eigenen Schöpfung. Vergesellschaftung, Geldwirtschaft und Kultur erscheinen aus dieser Sicht als ambivalente Prozesse, in denen Befreiung, Subjektwerdung und Unterwerfung unentwirrbar ineinander greifen. In Übereinstimmung mit der Dialektik Adornos und Horkheimers, aber im Gegensatz zu der Dialektik Hegels wird in Simmels Diskurs keine Synthese oder Versöhnung im Höheren angepeilt, weil dieser Diskurs in Aporie und Tragödie mündet. Zu Recht spricht in diesem Fall Otthein Rammstedt von einer „Dialektik ohne Versöhnung“. 5 Es ist eine tragische Dialektik ohne Synthese, die von den modernen Dialektiken Hegels und Marxʼ durch ihre spätmoderne Skepsis abweicht. Für sie ist der folgende Satz aus Simmels Aphorismensammlung charakteristisch: „Auf unserer jetzigen Anpassungsstufe sind wir die Wesen der Frage, noch nicht die der Antwort.“ 6 Dies bedeutet zugleich, dass Hegels, Marxʼ und Comtes moderne Zuversicht verfrüht war. Simmels Skepsis hängt nicht nur mit der von ihm untersuchten geldwirtschaftlich bedingten Krise der Kultur und ihrer Werte zusammen, sondern auch mit den Revolutionen des 19. Jahrhunderts und der Großen Depression, von der Hans-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt sprechen: „Der Fortschrittsoptimismus, der integraler Bestandteil des Verständnisses von Gesellschaft war, wich einer Krisensensibilität, als ökonomischer Fortschritt durch die ‚Große Depression‘ zwischen 1873 und 1895, die sich in den drei großen Wirtschaftskrisen dieser Zeit abzeichnete, fraglich wurde.“ 7 Auch Wirtschaftskrisen dieser Art lassen den ambivalenten - 5 O. Rammstedt, „Georg Simmel und die Soziologie“ (Nachwort), in: G. Simmel, Individualismus der modernen Zeit (Hrsg. O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp (2008), 2016 (2. Aufl.), S. 391. 6 G. Simmel, „Aus einer Aphorismensammlung“ (Juni 1915), in: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1920, GSG, Bd. XVII, Frankfurt, Suhrkamp (2005), 2015 (2. Aufl.), S. 134. 7 H.-J. Dahme, O. Rammstedt, „Die zeitlose Modernität der soziologischen Klassiker. Überlegungen zur Theoriekonstruktion von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber und besonders Georg Simmel“, in: H.-J. Dahme, O. Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 466. <?page no="380"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 364 zugleich produktiven und destruktiven - Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung erkennen. Ein Denken, das von der Ambivalenz und der Vieldeutigkeit der Erscheinungen, Ereignisse und Entwicklungen ausgeht, zweifelt nicht nur an der Teleologie moderner Diskurse, die eine bessere Gesellschaft versprechen, sondern auch an deren realistischem Anspruch, der Wirklichkeit gleichsam als ihrem Spiegelbild zu entsprechen, mit ihr gar identisch zu sein. Wie Nietzsche, wie spätmoderne Schriftsteller (Musil, Svevo, Pirandello) nimmt Simmel einen nichtrealistischen, konstruktivistischen Standpunkt ein, weil er weiß, dass seine Perspektive (Nietzsche) und seine Erzählung nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern kontingente Konstrukte sind. 8 Dieses Thema wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher erörtert: Dort soll gezeigt werden, wie sehr sich Simmel als spätmoderner Kritiker der Moderne nicht nur von deren Teleologien, sondern auch von deren Realismus, dem Postulat einer Übereinstimmung von Diskurs und Wirklichkeit, entfernt hat. Kritik an diesem Realismus ist schon in Simmels essayistischer Schreibweise angelegt. 9 Im Gegensatz zu Hegels Anspruch, die gesamte Wirklichkeit als sinnvolle Totalität zu erfassen, begnügt sich der Essay mit einem Fragment des Ganzen, das er stellvertretend für dieses Ganze, gleichsam synekdochisch, untersucht. Von Simmels Stil gilt, was Adorno über den Essay schreibt: „Der Essay muß an einem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug die Totalität aufleuchten lassen, ohne daß diese als gegenwärtige behauptet würde.“ 10 „Der Essay als bevorzugte Form der Darstellung“ 11 , von dem Habermas im Zusammenhang mit Simmel spricht, ist ein Versuch, das Spezifische, gesellschaftlich Konkrete zu erfassen, das dem systematischen Denken entgeht. 12 Zu diesem Spezifisch-Konkreten gehören u.a. Simmels Formen der Vergesellschaftung, die im zweiten Abschnitt kommentiert werden: die Interaktionen von Individuen und 8 Vgl. Vf., „Theorie als Erzählung. Die Geburt des Konstruktivismus aus dem Geiste der Spätmoderne“, in: M. Arnold, G. Dressel, W. Viehöfer (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 317-323. 9 Vgl. U. Krähnke, „Dynamisierte Theoriebildung: Das Forschungsprogramm von Georg Simmel“, darin vor allem den Abschnitt „Das stilistische Muster des Essays“, in: Berliner Journal für Soziologie, 1, 1999, S. 97-99. 10 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 36. 11 J. Habermas, „Georg Simmel über Philosophie und Kultur. Nachwort zu einer Sammlung von Essays“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt, Suhrkamp, 1991, S. 159. 12 Zum Gegensatz von Essay und System bei Simmel vgl. P. Christian, Einheit und Zwiespalt. Zum hegelianisierenden Denken in der Philosophie und Soziologie Georg Simmels, Berlin, Duncker und Humblot, 1978, S. 67: „Die Ablehnung des Systems zugunsten von Fragment und Essay“. <?page no="381"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 365 Gruppen, aus denen soziale Strukturen hervorgehen, deren Verselbständigung schließlich in die „Tragödie der Kultur“ (Simmel) mündet. Damit ist Simmels soziologische Erzählung angesprochen, die in den Abschnitten 3-5 erläutert wird. Ihr Erzähler ist sich zwar der Kontingenz seiner Konstruktionen bewusst; er ist zugleich aber bemüht, eine Entwicklung nachzuzeichnen, deren Notwendigkeit oder Unvermeidlichkeit durchaus einleuchten mag. Durch ihre arbeitsteilige Interaktion oder Wechselwirkung lassen individuelle Subjekte und Gruppen in Wirtschaft, Verwaltung, Politik, Wissenschaft, Technik und Kunst Strukturen und Institutionen entstehen, die im Laufe der Modernisierung solche Ausmaße annehmen, dass der Einzelne sie nicht erfassen und sich geistig nicht mit ihnen identifizieren kann. Diese tragische Auffassung des Modernisierungsprozesses ist zugleich eine radikale Kritik an Hegel und Marx. Während Hegels systematische Erzählung in einer Identität von Subjekt und Objekt gipfelt, d.h. in der Einsicht des Subjekts in die Vernunft des Weltlaufs, und Marxʼ Erzählung verspricht, dass der Weltlauf in der proletarischen Revolution Vernunft annimmt, mündet Simmels Erzählung in ein unheilvolles Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur und in eine Entfremdung des Subjekts von seiner eigenen Schöpfung. 1. Gesetz oder Erzählung? Simmels Individualismus und seine konstruktivistische Antwort auf Hegel, Marx und Comte Obwohl Simmel wie Durkheim und Tönnies die Schwächung sozialer Solidarität und den Verlust der Gemeinschaft wahrnimmt, stehen nicht diese Entwicklungen im Mittelpunkt seiner Analysen, sondern die Peripetien des Individualismus: von der Aufklärung zu Kant und von Kant zu Nietzsche, dessen Vorstellung von Individualität Simmels Denken geprägt hat. Zu Recht hält Matthias Junge „Individualität und Individualisierung“ 13 für das zentrale Thema von Simmels Werk und „die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ 14 für dessen Kernfrage. Die „Ausbildung der Individualität“ 15 , die, wie sich zeigen wird, in der „Tragödie der Kultur“ grundsätzlich in Frage gestellt wird, gehört sicherlich zu Simmels Hauptanliegen. In seiner großen Soziologie versucht er zu zeigen, wie die wachsende Komplexität der urbanen Gesellschaft als Ausdehnung und Überschneidung ihrer Milieus oder Kreise zunächst zur Befreiung des Einzelnen aus 13 M. Junge, Georg Simmel kompakt, Bielefeld, Transcript, 2009, S. 65. 14 Ibid., S. 79. 15 G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Hrsg. O. Rammstedt), GSG, Bd. XI, Frankfurt, Suhrkamp (1992), 2016 (8. Aufl.), S. 791. <?page no="382"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 366 Familienbindung, Dorfgemeinschaft und kirchlicher Bevormundung beiträgt: „Jene Individualität des Seins und Tuns erwächst, im allgemeinen, in dem Maße, wie der das Individuum sozial umgebende Kreis sich ausdehnt.“ 16 Diese Entwicklung konnte im 19. Jahrhundert vor allem in den rasch wachsenden Großstädten Europas beobachtet werden. Im Gegensatz zu Durkheim, der in einer jüdischen Gemeinschaft aufwuchs, im Gegensatz zu Tönnies, dessen Jugend von den Erfahrungen in einer holsteinischen Dorfgemeinde geprägt war, wurde Simmel „1858 im Herzen der pulsierenden Großstadtmetropole Berlin geboren“, 17 als Jude evangelisch getauft und gehörte als Bewohner des damaligen „West End“ zu den Intellektuellen unter den Bildungsbürgern, die sich für Nietzsche, den Naturalismus, die damalige deutsche Avantgarde (den frühen Expressionismus), den Sozialismus und den militanter werdenden Feminismus interessierten. Als Privatdozent an der Berliner Universität (er wurde sehr spät [1914] zum ordentlichen Professor an der Universität Straßburg ernannt) befasste er sich in seinen Vorlesungen nicht nur mit Philosophie, Ästhetik und soziologischer Theorie, sondern auch mit den soziologischen und psychologischen Aspekten der Frauenemanzipation. Ralph M. Leck bemerkt zwar zu Recht, Simmel sei weder Sozialist noch Revolutionär gewesen, fügt jedoch hinzu: „But he was a member of an iconoclastic, often bohemian, and reform-minded German intelligentsia.“ 18 Er charakterisiert Simmel als „nietzscheanischen Antikapitalisten“ 19 , der dennoch - in vollem Bewusstsein seiner eigenen Ambivalenz - auf das „Freiheitspotenzial der kapitalistischen Geldwirtschaft“ 20 vertraut. Dieses Vertrauen, könnte man ergänzen, hängt mit seinem großstädtischen Individualismus zusammen, der den Einzelnen und seine Partikularität zum Ausgangspunkt des Denkens macht. Diese Partikularität ist nicht nur von einer Wahlverwandtschaft mit dem Essay und dem Fragment geprägt, sondern auch von einer Aversion gegen universalistisch-systematische Entwürfe im Sinne von Hegel, Marx und Comte. Sie alle neigen dazu, sich über das Individuelle und Besondere hinwegzusetzen und die eigene Perspektive monologisch zu verabsolutieren. Dagegen wehrt sich der Individualist und Essayist Simmel in seiner frühen Arbeit Über sociale Differenzierung (1890): „Das Falsche liegt nur 16 Ibid., S. 791-792. 17 U. Krähnke, „Georg Simmel“, in: D. Brock, M. Junge, U. Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons. Einführung, München, Oldenbourg, 2012 (3. Aufl.), S. 134. 18 R. M. Leck, Georg Simmel and Avant-Garde Sociology. The Birth of Modernity, 1880- 1920, Amherst (N.Y.), Humanity Books, 2000, S. 25. 19 Ibid., S. 22. 20 Ibid. <?page no="383"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 367 darin, daß entweder eine partielle Wahrheit zu einer absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung gewisser Thatsachen ein Schluß auf das Ganze gezogen wird, der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter ausgedehnt wäre (…).“ 21 Indirekt angesprochen wird hier ein sorgloser Umgang mit Relevanzkriterien, deren Geltung aufgrund von oberflächlichen Beobachtungen leicht überdehnt werden kann: etwa wenn der Klassenkampf, der das 19. Jahrhundert prägte, bei Marx zum historischen Universalprinzip erklärt wird. Dies bedeutet im Falle von Hegel, dass sein Versuch, die gesamte Wirklichkeit als sinnvolle Totalität aus einem vom „Weltgeist“ dominierten begrifflichen System abzuleiten, auf einen Gewaltakt hinausläuft, der ein Partikulares, das aus der Individualität Hegels hervorging, zum allgemein gültigen Prinzip erhebt. Simmel bestätigt die Kritik der Junghegelianer - vor allem F. Th. Vischers - an Hegel, wenn er schreibt: „Wo aber mit diesen Abstraktionen die ganze Wirklichkeit und ihr Verlauf charakterisiert werden soll, da wird dieser doch Gewalt angethan, wenn alle diejenigen Einzelheiten, die nicht unter den allgemeinen Begriff gehören, als zu vernachlässigende Größen gelten.“ 22 Simmel mag hier an Hegels bekanntes Diktum „um so schlimmer für die Tatsachen“ (die nicht mit seinem System übereinstimmen) gedacht haben. Konsequent betrachtet er auch den Marxschen Entwurf als nur mögliche Hypothese, die keineswegs mit der Wirklichkeit als solcher übereinstimmt. Zur materialistischen Geschichtsauffassung bemerkt er: „Zunächst ist die Deutung jeder geschichtlichen Bewegung als einer von ökonomischen Interessengegensätzen hervorgerufenen eine Hypothese (…).“ 23 Dies bestreiten Marxisten wie Georg Lukács, die als gute Hegelianer fest an die Identität ihres Diskurses mit der Wirklichkeit glauben. So ist es zu erklären, dass Lukács, als jüngerer Zeitgenosse (1885-1971), Simmel, von dem er einiges gelernt und übernommen hat 24 , vorwirft, die Erkennbarkeit 21 G. Simmel, „Über sociale Differenzierung“, in: G. Simmel, Aufsätze 1887-1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), GSG, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 120. 22 G. Simmel, „Die Probleme der Geschichtsphilosophie“, in: ibid., S. 397. 23 Ibid., S. 395. 24 Vgl. A. Hauser, „Erinnerungen“, in: E. Karádi, E. Vezér (Hrsg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt, Sendler, 1985, S. 100: „Und dann vor allem Georg Simmel, zu dessen Lieblingsschülern Lukács zählte (…).“ Vgl. auch G. Lukács, Die Seele und die Formen. Essays (1911), Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971: „Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper“. Lukácsʼ Formbegriff weist in diesem Jugendwerk frappierende Ähnlichkeiten mit Simmels „Form“ als strukturierendem Prinzip auf. Dazu: A. A. Rosa, „Der junge Lukács - Theoretiker der bürgerlichen Kunst“, in: J. Matzner (Hrsg.), Lehrstück Lukács, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 84: „Auf der einen Seite die Bewegung des Aufstiegs vom alltäglichen Chaos zum Wunder der <?page no="384"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 368 der Wirklichkeit idealistisch und subjektivistisch zu leugnen: „Er ist resolut subjektivistisch (…). Wie ebenfalls bei vielen modernen Idealisten entsteht auch bei ihm aus dieser Einsicht eine Ablehnung der Erkennbarkeit, ja der Existenz der objektiven Wirklichkeit.“ 25 Simmel leugnet weder die Existenz noch die Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Er leugnet lediglich die Möglichkeit, sie mit einem bestimmten Diskurs (dem Hegelschen oder Marxschen) zu identifizieren und dabei alle anderen Diskurse als konkurrierende Hypothesen monologisch zu disqualifizieren. Als Kantianer weiß er, dass uns die Wirklichkeit als solche, als „Ding an sich“ (Kant), als Objekt ohne Erkenntnissubjekt, unzugänglich ist, weil wir nur in subjektiven Kategorien wie Raum, Zeit und Kausalität denken können. Daher spricht Simmel in einer seiner Kant-Vorlesungen von einer „Wendung zum ‚Subjekt‘“. 26 Im Anschluss an Kant fordert er eine Befreiung vom „Naturalismus“ als Identifizierung von Diskurs und Wirklichkeit und vom „Historismus“ als Identifizierung von Diskurs und Geschichte: „Die Befreiung, die Kant vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus.“ 27 Die vermeintlichen Gesetze, die Hegel, Marx und Comte - jeder auf seine Art - in der Geschichte zu entdecken meinten, sind in Wirklichkeit nur ihre narrativen Konstruktionen. In diesem Zusammenhang spricht Simmel von einem „Dualismus zwischen erzählender und Gesetzeswissenschaft, der zu so vielen Kompetenzkonflikten Veranlassung gegeben hat (…).“ 28 Zusammenfassend bemerkt David Frisby: „Simmel also rejected causal laws in favour of regularities of interaction.“ 29 Comtes und Spencers positivistische Versuche, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten in den sozialwissenschaftlichen Bereich zu übertragen, gründen Simmel zufolge auf einem illusorischen Objektivismus, den er im Anschluss an die geisteswissenschaftliche Hermeneutik Wilhelm Diltheys, dessen Vorlesungen er besuchte, ablehnt. Seine Schlussfolgerung ist ein- Formen, von der Unordnung zur Ordnung (…).“ Wie bei Simmel erscheint hier die Form als das ordnende, strukturierende Prinzip. 25 G. Lukács, Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik, Frankfurt, Fischer, 1966, S. 135. 26 G. Simmel, „Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität“, in: Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/ 1907), GSG, Bd. IX, Frankfurt, Suhrkamp (1997), 2015, S. 34. 27 G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse (Hrsg. M. Landmann), Frankfurt, Suhrkamp (1968), 1987, S. 31. 28 G. Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie“, in: Aufsätze 1887-1890, op. cit., S. 346-347. 29 D. Frisby, Simmel and Since. Essays on Georg Simmel’s Social Theory, London-New York, Routledge, 1992, S. 26. <?page no="385"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 369 deutig genug: „Es giebt keine realistische Geschichtsbetrachtung (…).“ 30 Folglich ist Comtes Drei-Stadien-Gesetz kein Gesetz im naturwissenschaftlichen Sinne (etwa im Sinne des Gravitationsgesetzes), sondern Comtes partikulare Konstruktion oder Erzählung, die man als Hypothese über die Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft durchaus für plausibel halten mag (vgl. Kap. V. 2). Simmels Alternative zu Comte, Marx und Hegel ist konsequent konstruk tivistisch. Die Geschichte der Gesellschaft ist nicht mit dem identisch, was Historiker und Soziologen über sie schreiben. Simmel spricht vom „wissenschaftlichen Gebilde“: „Das fundamentale Problem für die Erkenntnistheorie der Geschichte ist dies: wie aus dem realen Geschehen das wissenschaftliche Gebilde wird, das wir Geschichte nennen.“ 31 „Geschehen“ und „Gebilde“ sind folglich zweierlei - und sorgfältig zu unterscheiden. Nur jemand, der den theoretischen Konstruktionsprozess mit seinen Erzählstrukturen und Erzählsequenzen ausblendet, kann auf den Gedanken kommen, dass seine Erzählung objektiv oder realistisch ist: Er identifiziert seinen Diskurs monologisch mit der Wirklichkeit und verbietet implizit oder explizit anderen Diskursen, sie anders zu konstruieren: Alternativen zu entwerfen. Dies ist der Grund, warum hier von „Theoriebildung“ die Rede ist: Es sollen nicht nur die „wissenschaftlichen Gebilde“ als solche untersucht werden, sondern auch ihre von Simmel immer wieder (wenn auch indirekt) evozierte Entstehung in Semantik, Syntax und Erzählung. Nach Simmel ist Geschichte sowohl als Kontinuität als auch als Diskontinuität konstruierbar: „Ob man nun die Kontinuität oder die Diskontinuität betont, ist Sache der freien oder zweckmässigen Wahl, man kann die Geschichte mit demselben Recht auf die Verwandtschaft wie auf die Besonderheit ihrer Erscheinungen hin ansehen.“ 32 Dieser Satz ist deshalb hochaktuell, weil er die Kontroverse zwischen Hegelianern und Marxisten einerseits und den Anhängern Michel Foucaults andererseits ins rechte Licht rückt: Die Frage „Kontinuität oder Diskontinuität? “ ist unentscheidbar und falsch gestellt, weil sowohl „Kontinuität“ als auch „Diskontinuität“ mögliche - mehr oder weniger fundierte - Konstruktionen sind und nicht wahre oder falsche Darstellungen der Wirklichkeit. Es kommt hinzu, dass Kontinuität oftmals in der Diskontinuität aufgezeigt werden kann und umgekehrt. 33 30 G. Simmel, Aufsätze 1887-1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Ge schichtsphilosophie, GSG, Bd. II, op. cit., S. 394. 31 G. Simmel, „Beiträge zur Philosophie der Geschichte“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. I, GSG, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 62. 32 Ibid., S. 64. 33 Vgl. Vf., „Anwesenheit und Abwesenheit des Werks: Michel Foucaults Subjekt- und Werkbegriff“, in: K.-M. Bogdal, A. Geisenhanslüke (Hrsg.), Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault, Heidelberg, Synchron, 2006, S. 189-190. <?page no="386"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 370 In den Kommentaren zu Simmels Werk ist dessen konstruktivistischer Einschlag häufig zur Sprache gebracht worden. So heißt es etwa bei Werner Jung: „Bezogen auf Individuum und Gesellschaft heißt das unmißverständlich: Sie sind bloße Konstruktionen des Soziologen.“ 34 Das Wort „bloß“ ist hier möglicherweise fehl am Platz: So manche theoretische Konstruktion stellt die Wirklichkeit in einem neuen Licht dar, indem sie - wie Simmels Soziologie - neue Aspekte hervortreten lässt. Wilfried Dreyer lässt Simmel im spätmodern-modernistischen Spektrum erscheinen, wenn er fragt: „Wenn wir den anderen aber nicht so sehen können, wie er wirklich ist, wie sehen wir ihn dann? Simmel stellt fest, dass wir den anderen in dreifach verzerrter Weise sehen.“ 35 Um diese Art von Verzerrung geht es in Luigi Pirandellos konstruktivistischem Roman Einer, keiner, hunderttausend, in dem alle realistischen Illusionen gesprengt werden. Sie werden vom Protagonisten ironisch hinterfragt und zerfallen im Laufe der Handlung: „Ach, Sie glauben, Konstruktion hätte nur mit Gebäuden zu tun? Ich konstruiere mich andauernd, und ich konstruiere Sie, und Sie tun dasselbe.“ 36 Der Roman enthält eine konstruktivistische Theorie, die im Modernismus - bei Robert Musil, Virginia Woolf und Miguel de Unamuno - die verschiedensten Formen annimmt. Auch in der Soziologie nimmt sie verschiedene Gestalten an: etwa bei George Herbert Mead und Erving Goffman (vgl. Kap. III) oder bei Alfred Schütz, der zeigt, wie anhand von besonderen Relevanzkriterien Gesellschaftskonstruktionen und Konstruktionen von Personen entstehen. 37 Das konstruktivistische Bewusstsein geht aus der Spätmoderne hervor, die in Nietzsches Perspektivismus 38 eine konkrete Gestalt annahm: in seinem Gedanken, dass es keine realistische Darstellung der Welt geben kann, sondern nur konkurrierende Perspektiven. Aus dieser Sicht erscheint Simmel nicht nur als Kantianer, sondern auch als Erbe Nietzsches. Nicht selten bezieht er - wie Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaf ten - die konkurrierenden Perspektiven aufeinander, um sie in einem latenten Dialog ironisch zu relativieren. 34 W. Jung, Georg Simmel zur Einführung, Hamburg, Junius, 1990, S. 86. 35 W. Dreyer, „Gesellschaft, Kultur und Individuum“, in: F. Dörr-Backes, L. Nieder (Hrsg.), Simmel between Modernity and Postmodernity, op. cit., S. 73. 36 L. Pirandello, „Einer, keiner hunderttausend“, in: ders., Die Ausgestoßene. Einer, keiner, hunderttausend. Zwei Romane, Berlin, Propyläen, 1998, S. 311. 37 Vgl. A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 16-17. 38 Vgl. Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. V: „Nietzsches Essayismus: Ambivalenz, Skepsis und Spiel“. <?page no="387"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 371 Damit ist allerdings die Werturteilsfreiheit, „die als Postulat für Simmel ebenso grundlegend war wie für Max Weber“ 39 , wie Wilfried Dreyer meint, in Frage gestellt: Denn als besonderer Diskurs geht jede Perspektive aus Relevanzkriterien hervor, die stets auf partikularen Wertungen gründen, die im Aktantenmodell, im narrativen Ablauf des Diskurses und seiner Fokalisierung zum Ausdruck kommen (vgl. Abschn. 3-5). 2. Formen der Vergesellschaftung: Kant empirisch Im neunten Kapitel hat sich gezeigt, dass Simmel - ähnlich wie Durkheim - Faktoren untersucht, die aus der Interaktion zwischen Individuen hervorgehen und über den individuellen Bereich hinausweisen. In seiner Soziologie richtet er sein Augenmerkt auf das „Überpersönliche und Objektive“ und auf die „Gruppenkräfte, [die] dem Einzelnen gegenübertreten“ 40 und ihm sogar als fremde, antagonistische Mächte erscheinen können. Ähnlich wie Durkheim, Mauss und Fauconnet beobachtet er die Prozesse, die durch das Handeln der Individuen, aber jenseits von ihnen und ihren unmittelbaren Absichten, zustande kommen: als faits sociaux oder Formen der Vergesellschaftung. Anders als die Durkheimianer spricht Simmel nicht von Gesellschaft, die in keiner seiner Abhandlungen als handelnde Instanz (Auftraggeberin) erscheint, sondern vom Prozess der Vergesellschaftung, der durch die Wechselwirkung handelnder Individuen in Gang gehalten wird. Dazu bemerkt Matthias Junge: „Vielmehr ist der Begriff der Gesellschaft gedacht (a) als Summenbegriff aller Wechselwirkungen und (b) als Gegenbegriff zum Begriff des Individuums.“ 41 Simmel selbst definiert die Aufgabe der Soziologie wie folgt: „Als die Aufgabe der Soziologie verstehe ich die Beschreibung und historisch-psychologische Herleitung derjenigen Formen, in denen sich die Wechselwirkungen zwischen Menschen vollziehen.“ 42 Wir haben es folglich mit einem dynamischen oder prozessualen Begriff von Gesellschaft zu tun. Wenn jemand spricht oder handelt, ruft er stets Reaktionen bei seinem Gegenüber hervor: bei einem Einzelnen, einer Hörerschaft oder einem Publikum von Zuschauern. Diese Reaktionen wirken sich wiederum ermutigend oder entmutigend auf sein Verhalten aus, das in einer dritten Phase der Interaktion die Begeisterung oder Entgeisterung der Anwesenden steigern kann. Wer mit einem freundlichen Lächeln ein 39 W. Dreyer, „Gesellschaft, Kultur und Individuum“, in: F. Dörr-Backes, L. Nieder (Hrsg.), Simmel between Modernity and Postmodernity, op. cit., S. 92. 40 G. Simmel, Soziologie, op. cit., S. 73. 41 M. Junge, Georg Simmel kompakt, op. cit., S. 14. 42 G. Simmel, „Soziologie der Über- und Unterordnung“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. II, GSG, Bd. VIII (Hrsg. F. Cavalli, V. Krech), Frankfurt, Suhrkamp (1993), 1997 (2. Aufl.), S. 180. <?page no="388"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 372 Geschäft betritt, kann eher hoffen, dass er freundlich empfangen wird, als jemand, der mit mürrischer Miene die Angestellten verstört. Das „Wahlgrinsen“ der Politiker ist ein erstarrtes Lächeln dieser Art, mit dem politische Parteien hoffen, eine produktive Wechselwirkung zu erzielen, die möglichst viele Stimmen einbringt. Die fehlende Spontaneität der Wahlplakate soll durch Wahlkundgebungen wettgemacht werden. Freilich stößt Spontaneität im Alltag immer wieder an Grenzen, weil in vielen Fällen Formen des Handelns und der Kommunikation vorgegeben sind. Diese Formen sind es, die Simmel als Vergesellschaftungsformen untersucht: „Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach Außen und unzähliges Ähnliches findet sich an einer staatlichen Gesellschaft wie an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie.“ 43 Diesen Formen, die als Idealtypen avant la lettre 44 (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII) aufgefasst werden könnten, müsste auch der Tausch hinzugefügt werden, der im nächsten Abschnitt ausführlicher zur Sprache kommt. Die Form der Über- und Unterordnung - beim Militär, in der Kirche, in der Bank oder in einer Gangsterbande - wird immer ähnliche Verhaltensweisen wie Anordnung, Gehorsam, Zuverlässigkeit und Disziplin vorschreiben und für abweichendes Verhalten Sanktionen parat halten. Die Möglichkeit von Sanktionen evoziert eine weitere Form der Vergesellschaftung, die bei Simmel eine wichtige Rolle spielt: den Konflikt. Immer wieder weist Simmel darauf hin, dass Konflikte nicht bloß destruktiv wirken, sondern wesentlich zur Vergesellschaftung beitragen, indem sie eine soziale Situation klären oder die innere Solidarität der miteinander streitenden Gruppen oder Völker steigern. Frankreich und Spanien verdanken ihr nationales Bewusstsein als Zusammengehörigkeitsgefühl den Auseinandersetzungen mit den Engländern und den Mauren: „Frankreich verdankt das Bewußtsein seiner nationalen Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampf gegen die Engländer, die spanischen Landschaften hat erst der Maurenkrieg zu einem Volk gemacht.“ 45 Auch im wissenschaftlichen Bereich können Konflikte, die aus Konkurrenz und Kritik hervorgehen, produktiv wirken. Das zeigt nicht nur der 43 G. Simmel, Individualismus in der modernen Zeit, op. cit., S. 25. 44 Vgl. U. Gerhardt, Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 221. Gerhardt stellt Simmels Formbegriff als einen Vorläufer des Weberschen „Idealtypus“ dar. Im Zusammenhang mit Simmels Werk schreibt sie: „Das Verfahren idealtypischer Begriffsbildung war allgegenwärtig.“ Sie fügt hinzu: „Zugleich erkannte er [Simmel] im Idealtypus ein Apriori von Gesellschaft und ihrer Erkenntnis.“ 45 G. Simmel, Soziologie, op. cit., S. 361. <?page no="389"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 373 sogenannte Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der die Kritische Theorie mit dem Kritischen Rationalismus konfrontierte und zu einem besseren Verständnis beider Positionen beitrug, sondern auch der Konflikt zwischen russischen Formalisten und Marxisten, der die Entstehung einer formorientierten Literatursoziologie als Textsoziologie oder Soziosemiotik beschleunigte. Diese produktiven Auswirkungen wissenschaftlicher Konflikte können durchaus als Formen der Vergesellschaftung aufgefasst werden. Simmels Beispiele zeigen, dass es dem Soziologen der Vergesellschaftung nicht primär um die Inhalte zu tun ist - Nation, Religionsgemeinde, Kunstschule oder Verschwörerbande -, sondern um die Formen, denen diese faktisch existierenden sozialen Erscheinungen subsumiert werden. Simmel übernimmt den Formbegriff von Kant: „Die Kantische Reflexion (…) hat ihren Angelpunkt im Formbegriff.“ 46 Tatsächlich betrachtet Kant „reine Anschauungen a priori“ 47 wie Raum und Zeit, d.h. „subjektive Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart“ 48 als Grundvoraussetzungen unserer Erkenntnis der Wirklichkeit und aller ihrer Gegenstände. Allerdings macht Kants Formbegriff durch Simmels Übertragung in den soziologischen Bereich einen Bedeutungswandel durch, weil er seinen a priori Charakter verliert - wie Simmels eigene Beispiele zeigen. Begriffe wie Über- und Unterordnung, Konflikt oder Konkurrenz können nur auf empirischem Wege gewonnen werden, d.h. durch gesellschaftliche Erfahrung. Dazu bemerkt Friedrich Pohlmann: „Gegenüber Kants schroffer Trennung des Apriori von allem Empirischen nimmt Simmel gleitende, sich historisch ändernde Übergänge zwischen den unsinnlichen und den aus der Erfahrung gewonnenen Aprioritäten an.“ 49 Wilfried Dreyer knüpft an diesen Gedankengang an, wenn er erklärt: „Die Parallele zur Kant’schen Fragestellung wird man dabei nicht zu sehr pressen dürfen; sie dient für Simmel mehr als eine Art heuristisches Prinzip denn als absolut stimmige Analogie.“ 50 Es wäre wohl genauer zu sagen, dass Simmel analog zu Kants Formbegriff, der die a priori Bedingungen unserer Erkenntnis definiert, einen empirisch ableitbaren soziologischen Formbegriff einführt, der es uns 46 G. Simmel, „Vom Wesen der Philosophie“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. I., GSG, Bd. XII, op. cit., S. 78. 47 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1998, S. 127. 48 Ibid., S. 126. 49 F. Pohlmann, Individualität, Geld und Rationalität. Georg Simmel zwischen Karl Marx und Max Weber, Stuttgart, Enke, 1987, S. 45. 50 W. Dreyer, „Gesellschaft, Kultur und Individuum“, in: F. Dörr-Backes, L. Nieder (Hrsg.), Georg Simmel between Modernity and Postmodernity, op. cit., S. 72. <?page no="390"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 374 gestattet, verschiedene gesellschaftliche Erscheinungen begrifflich zu erfassen. Kants Apriori nähert sich Simmel mit seinen Anwendungen der Zahl auf das Phänomen der Wechselwirkung. Diese Anwendungen gehören zu den anregendsten und originellsten Aspekten seiner Soziologie. Das Kernargument lautet: dass die wachsende Anzahl der interagierenden Individuen nicht nur die Komplexität der sozialen und psychischen Wechselwirkungen steigert, sondern auch die soziale und psychische Qualität der Beziehungen verändert. In dem Kapitel seiner Soziologie, das den Titel trägt „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“, erscheint die Dyade oder Zweierbeziehung als die am wenigsten überindividuelle Einheit, und es ist dort von der „Abhängigkeit der Zweiergruppen von der reinen Individualität des einzelnen Gliedes“ 51 die Rede. Diese Situation ändert sich radikal, wenn die Dyade zu einer Triade wird, wenn die Zweierbeziehung durch eine dritte Person erweitert wird. Die Eintracht der drei Musketiere, die Dumasʼ bekannten Roman prägt, ist nicht für alle Triaden charakteristisch, und Simmel stellt im Zusammenhang mit der Familiengründung fest, „daß selbst die Ehe, sobald sie zu einem Kinde geführt hat“ 52 , bisweilen in Schwierigkeiten gerät. Die Intimität der erotischen Zweierbeziehung verträgt in manchen Fällen keine Erweiterung, weil diese als Unterbrechung des intimen Beisammenseins erfahren wird. Andererseits zeitigt die Großfamilie als „Erweiterung des Kreises“ (Simmel) ein überindividuelles Bewusstsein, ein „Wir“, das weit über Dyade und Triade hinausgeht. In Großfamilien kommt es zu einer ersten rudimentären Arbeitsteilung, die in dem Maße zunimmt, wie der Gesellschaftskreis erweitert wird. Die Ausdehnung auf eine Hundertschaft (etwa im Sinne der römischen centuria) bringt eine Intensivierung der Arbeitsteilung mit sich. Wie Durkheim geht Simmel davon aus, dass der Zusammenhalt (die „Solidarität“, Durkheim) großer Kreise nur durch Arbeitsteilung zu erhalten ist: „Eine sehr große Zahl von Menschen kann eine Einheit nur bei entschiedener Arbeitsteilung bilden; nicht nur aus den auf der Hand liegenden Gründen der wirtschaftlichen Technik, sondern weil erst sie das Ineinandergreifen und Auf-einander-angewiesen-sein erzeugt, das jeden durch unzählige Mittelglieder hindurch mit jedem in Verbindung setzt, und ohne das eine weit ausgedehnte Gruppe bei jeder Gelegenheit auseinanderbrechen würde.“ 53 Wie bei Durkheim wird hier Arbeitsteilung als Grundlage einer funktionalen oder „organischen“ Solidarität aufgefasst. 51 G. Simmel, Soziologie, op. cit., S. 101. 52 Ibid., S. 106. 53 Ibid., S. 64. <?page no="391"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 375 Die „Erweiterung des Kreises“, die Simmel in allen ihren Aspekten untersucht, erreicht ihr modernes Maximum in der Großstadt. Im Gegensatz zur kleinen Gruppe, etwa der Großfamilie oder der mittelalterlichen Gilde, gewährt die moderne Großstadt dem Einzelnen Freiheiten, die in traditionellen Gesellschaften oder Gemeinschaften (im Sinne von Tönnies) undenkbar waren: „Aus weiterer Entwicklung dieses Zusammenhanges verstehen wir, daß eine starke Ausbildung der Individualität und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit kosmopolitischer Gesinnung paart, daß umgekehrt die Hingabe an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert.“ 54 Dieser Satz lässt Simmels Hauptanliegen erkennen, das über die Ausrichtung seines Diskurses und seine Fokussierung entscheidet: Es ist die Entfaltung des Individualismus und des Individuums in der Moderne. In diesem Zusammenhang unterscheidet Simmel - vor allem in seinem Essay „Die beiden Formen des Individualismus“ - den „quantitativen Individualismus“ des 18. Jahrhunderts, der das „Ich als das allgemein menschliche, in allen gleiche und gleich wertvolle deutet“ 55 , vom „qualitativen Individualismus“ des 19. Jahrhunderts, der „sich von Goethe über Schleiermacher und die Romantik bis zum Nietzscheanismus entwickelt“. 56 Diesem „qualitativen Individualismus“ oder „individualism of singleness“ 57 , wie es Olli Pyythinen ausdrückt, geht es nicht primär um die Freiheit und Gleichheit der Individuen, sondern um deren Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit: darum, „daß man dieser Bestimmte und Unverwechselbare ist“ 58 , wie Simmel sagt. Solche Individualität als Einmaligkeit kann nur jemand entfalten, der in der Lage ist, sich die materielle und geistige Kultur, die individuelle und kollektive Wechselwirkungen im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht haben, anzueignen. Diese Aneignung wird in dem Maße problematisch, wie die „objektive Kultur“ (Simmel) Ausmaße annimmt, die weit über das Fassungsvermögen des Einzelnen hinausgehen. Damit kehrt die Betrachtung zum Ausgangspunkt dieses Abschnitts zurück, wo von „Gruppenkräften“ die Rede war, die „dem Einzelnen gegenübertreten“ (Simmel). In dieser Situation kann es geschehen, „dass die durch Wechselwirkung erzeugten Gebilde Macht über die Individuen ge- 54 G. Simmel, „Über sociale Differenzierung“, in: Aufsätze 1887-1890, GSG, Bd. II, op. cit., S. 178. 55 G. Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, GSG, Bd. VII (Hrsg. R. Kramme, A. Rammstedt, O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp (1995), 2016 (3. Aufl.), S. 52. 56 Ibid. 57 O. Pyythinen, Simmel and „the Social“, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 2010, S. 137. 58 G. Simmel, „Die beiden Formen des Individualismus“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, GSG, Bd. VII, op. cit., S. 52. <?page no="392"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 376 winnen“ 59 , wie Matthias Junge sagt. Zugleich wird deutlich, dass das „Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“ (Simmel) und die aus ihm hervorgehende „Tragödie der Kultur“ (Simmel) unmittelbar aus dem Vergesellschaftungsprozess als endloser Verkettung von Wechselwirkungen ableitbar sind. 3. Geldwirtschaft und Kultur: Simmels ambivalentes Aktantemodell und die „Tragödie der Kultur“ Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht abermals die im zweiten Kapitel aufgeworfene Frage: Wie wird Gesellschaft erzählt? Wie erzählt Simmel Gesellschaft? Diese Frage wurde schon im ersten Abschnitt gestreift, wo sich gezeigt hat, dass Simmel auch die hegelianischen und marxistischen Erzählungen als „Hypothesen“, als nur mögliche Konstruktionen betrachtet. Er selbst holt in seiner Relevanzbestimmung wesentlich weiter aus als Marx und die Marxisten (etwa Lukács), weil er nicht die Aktanten „Kapital“ und „Arbeit“ (konkret: Eigentümer von Produktionsmitteln und Eigentümer von Arbeit) einander gegenüberstellt, sondern die „Geldwirtschaft“ der gesamten materiellen und geistigen „Kultur“. Diese beiden überindividuellen, abstrakten Aktanten fungieren in Simmels Erzählung als ambivalente Auftraggeber des individuellen Subjekts, dem sie „Heilsaufträge“ (missions de salut, Greimas) erteilen, die einerseits Emanzipation und Bildung (des Subjekts) beinhalten, andererseits aber ins Verderben führen: in Verdinglichung auf dem Markt und Entfremdung in der Kultur. In diesem Kontext werden die emanzipatorischen Erzählungen der Moderne in spätmoderner Perspektive radikal in Frage gestellt. Im Folgenden soll die Ambivalenz der beiden Aktanten (Auftraggeber) „Geldwirtschaft“ und „Kultur“ näher betrachtet und der aus dem Aktantenmodell hervorgehende narrative Ablauf rekonstruiert werden. Dass es hier um eine „Hypothese“ oder „Konstruktion“ im Sinne von Simmel geht und nicht um realistische Wiedergabe, wurde bereits angedeutet. Das Verhältnis zwischen „Geldwirtschaft“ und „Kultur“, das Simmel in seiner Konstruktion der sozialen Entwicklung für relevant hält, ist insofern antagonistisch (trotz der Verflechtung der beiden Größen), als das Geld in seiner Tauschwertform tendenziell alle qualitativen - ethischen, ästhetischen, politischen, wissenschaftlichen und religiösen - Werte, aus denen sich Kultur zusammensetzt, in Frage stellt oder unmittelbar negiert. In der spätkapitalistischen Tauschgesellschaft verwandelt es sich in zunehmendem Maße von einem Mittel, das u.a. die individuelle Freiheit fördert, in einen Selbstzweck: „In dem ganzen Gewebe des menschlichen Zweckhandelns giebt es vielleicht kein Mittelglied, an dem dieser psycho- 59 M. Junge, Georg Simmel kompakt, op. cit., S. 71. <?page no="393"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 377 logische Zug des Auswachsens des Mittels zum Zweck so rein hervorträte wie am Gelde (…).“ 60 Dies bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, dass das Geld durch seine Vermittlerrolle als Tauschwert nicht nur wirtschaftliche Tauschbeziehungen, sondern alle Wechselwirkungen, die die Vergesellschaftung konstituieren, so stark durchdringt, dass es zum Generalnenner aller Werte wird: auch der kulturellen. Das Wort Bestseller zeugt davon: Es suggeriert, dass es sich um ein gutes Buch handelt (nach dem kommerziellen Motto: das liest, trägt, trinkt jeder) und kaschiert zugleich die Tatsache, dass es möglicherweise nur ein Buch ist, das marktgängige Stereotypen so geschickt kombiniert, dass es fast jeden anspricht - oder jedenfalls so viele, dass es sich millionenfach verkauft. Dies meint Simmel, wenn er in seiner Philosophie des Geldes feststellt, „daß das Geld allenthalben als Zweck empfunden wird und damit außerordentlich viele Dinge, die eigentlich den Charakter des Selbstzwecks haben, zu bloßen Mittel herabdrückt“. 61 Kunst und Literatur veranschaulichen, was gemeint ist: Sie werden als „Publikumsmagnet“ oder „Bestseller“ zu „bloßen Mitteln“, die Markterfolge sichern sollen. Auch wissenschaftliche Forschung kann durch den Tauschwert vermittelt sein, sooft nach ihrer wirtschaftlichen „Akzeptanz“ oder ihrer „Drittmittelfähigkeit“ gefragt wird. In der Medizin wird der Mensch als Selbstzweck radikal in Frage gestellt, wenn ein Patient vorrangig als Geldquelle behandelt wird. Dazu schreibt der Mediziner Giovanni Maio: „Heute wird den Ärzten implizit beigebracht, die Patienten in ökonomische Kategorien einzuordnen und bei jedem Patienten mit zu reflektieren, welche Bilanz er verspricht.“ 62 Simmel antizipiert diesen Zustand, in dem der Wert des Menschen hinter dem des Geldes zurücktritt, wenn er von der „Charakterlosigkeit des Geldes“ spricht und hinzufügt, dass „innerhalb des Geldgeschäftes alle Personen gleichwertig [sind], nicht, weil jede, sondern weil keine etwas wert ist, sondern nur das Geld“. 63 Das heißt, dass in hochentwickelten Marktgesellschaften Individuen als Patienten, Arbeitskräfte oder Konsumenten austauschbar werden, so dass die Tauschbeziehung zur dominanten Form wird. Dem Großunternehmen ist es gleichgültig, aus welchen Ländern oder Kulturbereichen seine Arbeitskräfte stammen; entscheidend ist, dass sie billig sind. Komplementär dazu erscheinen in den Augen des Händlers alle Konsumenten als gleichwertig, solange sie zahlen, ohne seine Preise zu beanstanden. Der von Maio porträtierte Arzt der Zukunft wird seine Patien- 60 G. Simmel, „Zur Psychologie des Geldes“, in: Aufsätze 1887-1890, GSG, Bd. II, op. cit., S. 52. 61 G. Simmel, Philosophie des Geldes, GSG, Bd. VI (Hrsg. D. P. Frisby, K. Ch. Köhnke), Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (10. Aufl.), S. 593. 62 G. Maio, „Wider die ökonomisierte Medizin“, in: Forschung und Lehre 4, 2013, S. 261. 63 G. Simmel, Philosophie des Geldes, op. cit., S. 595. <?page no="394"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 378 ten primär nach ihrem Bankkonto beurteilen - und nicht etwa nach ihren Bedürfnissen. Als einer der ersten bezeichnet Simmel diese durch den Tauschwert herbeigeführte Austauschbarkeit von Menschen und Dingen als Indifferenz und nimmt die Tauschwert-Analysen Jean Baudrillards vorweg (vgl. Kap. XXI). In seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ erscheint ihm das Geld als das Medium, in dem alle qualitativen Unterschiede aufgehoben werden, so dass schließlich alles austauschbar, in-different wird: „(…) Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“ 64 Vor diesem Hintergrund erscheint die Großstadt als eine Metonymie der spätkapitalistischen Moderne. Als Ort der Indifferenz und der Nivellierung ist sie zugleich eine anonyme Welt austauschbarer Personen, Gegenstände, Empfindungen: Busfahrer, Taxifahrer oder Verkäuferin sind anonyme, austauschbare Funktionen (im Gegensatz zu vergleichbaren Personen in einer Dorfgemeinde). Zum Geburtstag einer Bekannten kauft man, stets unter Zeitdruck, schnell „irgendetwas - was gerade im Angebot ist“ (einen Beststeller); man sieht sich den Thriller an, der von der Werbung angepriesen wird - und ist enttäuscht. Angesichts dieser Atrophie von Erfahrung, die allein von der Wahrnehmung des Unterschieds und der Einmaligkeit von Personen und Gegenständen ermöglicht wird, spricht Simmel von der großstädtischen Blasiert heit: „Darum sind die Großstädte, in denen als den Hauptsitzen des Geldverkehrs die Käuflichkeit der Dinge sich in ganz anderem Umfange aufdrängt als in kleineren Verhältnissen, auch die eigentlichen Stätten der Blasiertheit.“ 65 Diese Blasiertheit als Abstumpfung der Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit (frz. blasé = abgestumpft) ist eine Form der Verdinglichung: Das individuelle Subjekt, das in Simmels Werk auf allen Ebenen als Fokalisator auftritt, aus dessen Sicht erzählt wird, ähnelt immer mehr dem Roboter, der zwar auf Reize reagiert, aber ohne Erfahrungen zu machen, ohne zu leben. Das Geld hat jedoch seine Kehrseite: Denn in der Philosophie des Geldes ist auch von der „Bedeutung der Geldwirtschaft für die individuelle 64 G. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, GSG, Bd. VII, op. cit., S. 121-122. 65 Ibid., S. 122. (An dieser Stelle wurde die korrekte Syntax einer anderen Ausgabe wiedergegeben: G. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders., Das Indivi duum und die Freiheit. Essais, Berlin, Wagenbach, 1984, S. 197.) <?page no="395"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 379 Freiheit“ 66 die Rede. Dies bedeutet, dass das Subjekt von seinem ambivalenten Auftraggeber in der ersten Phase der Erzählung in die Freiheit hinausgeschickt wird. Es wird - wie bei Durkheim und Tönnies - von feudaler Knechtung, mechanischer Anpassung an das Kollektiv und klerikaler Bevormundung befreit, zumal es sich die intellektuelle Fähigkeit des Kalküls, „die rechnende Intellektualität“ 67 , wie Simmel sagt, als Modalität aneignet. Denn die Geldwirtschaft entwickelt das verstandesmäßige, rationale Denken des Subjekts. In Simmels Soziologie wird diese Entwicklung, die mit demographischem Wachstum, Arbeitsteilung und Urbanisierung einhergeht, ausführlich kommentiert: „Je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir (…).“ 68 Und: „Jene Individualität des Seins und Tuns erwächst, im allgemeinen, in dem Maße, wie der das Individuum sozial umgebende Kreis sich ausdehnt.“ 69 Dies ist in der von der Geldwirtschaft beherrschten Großstadt der Fall, in der der Einzelne einer Vielzahl verschiedener „Kreise“ oder Milieus angehören kann, wodurch seine Freiheit als horizontale und vertikale Mobilität gesteigert wird. Diese Mobilität wird im Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft vom Geld als Tauschmittel begünstigt: „Und auf der andren Seite bewirkt das Geld eine ungeheure Individualisierung des wirtschaftenden Menschen: die Form des Geldlohnes macht den Arbeiter unendlich viel unabhängiger, als jede irgend naturalwirtschaftliche Entlohnung (…).“ 70 Marx würde freilich einwenden, dass der kapitalistische Arbeitgeber - anders als der feudale - den Arbeiter zwar nicht „an die Scholle binden“ kann, weil dieser frei ist, sich eine andere Stelle zu suchen, dass aber das Überangebot an Arbeitskräften auf dem Markt ihn in der Regel dazu zwingt, an seinem Arbeitsplatz zu verharren und mit einem kargen Lohn vorlieb zu nehmen - oder Arbeitslosigkeit zu riskieren. Prinzipiell hat Simmel freilich Recht mit seiner Behauptung, dass das Geld die Freiheit des Einzelnen - vor allem des Bürgers als Besitzindividualisten - stark erweitert. In diesem Zusammenhang spricht Hans Blumenberg von der „Affinität der Institution des Geldes zum Prozeß der menschlichen Freiheit“. 71 Diese Freiheit als Individualisierung hängt auch mit der Differenzierung als Arbeitsteilung zusammen, die das Geldmittel dadurch 66 G. Simmel, Philosophie des Geldes, op. cit., S. 392. 67 Ibid., S. 614. 68 G. Simmel, Soziologie, op. cit., S. 797. 69 Ibid., S. 791-792. 70 Ibid., S. 832. 71 H. Blumenberg, „Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels“, in: H. Böhringer, K. Gründer (Hrsg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt, Klostermann, 1976, S. 122. <?page no="396"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 380 fördert, dass es die qualitative Leistung des Spezialisten oder Experten belohnt und ihn zu weiteren Spezialleistungen (Erfindungen, Verbesserungen, Anwendungen im technischen Bereich) anspornt. Betrachtet man den Gesamtkontext, in dem das Geld bei Simmel als Funktion und als Aktant erscheint, so kristallisiert sich sein ambivalenter Charakter heraus: Einerseits beauftragt es das individuelle Subjekt mit dessen Emanzipation von traditionellen Bindungen und mit Selbstverwirklichung; andererseits reduziert es dieses Subjekt auf eine austauschbare Einheit (als Produzent, Konsument oder Patient), die vorwiegend als mehr oder weniger ergiebige Geldquelle gehandelt wird. Es kommt hinzu, dass es eine Atrophie der Subjektivität in der Blasiertheit bewirkt, weil es nicht nur Subjekte, sondern auch Kulturobjekte auf Quantitäten, auf das von Simmel erwähnte „Wieviel“ reduziert und dadurch ihrer Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit beraubt (etwa in der Trivialliteratur, in der Romane nach einem bestimmten marktgängigen Schema produziert werden). Geld ermöglicht es dem Subjekt, seine „volle individuelle Besonderheit auszudrücken“ 72 , wie Nicholas J. Spykman sagt, aber negiert diese Besonderheit zugleich. Simmel geht nicht nur auf diese Ambivalenz des Geldes ein, sondern lässt zugleich erkennen, dass er es als eine „geschichtliche Macht“ - als Aktanten - auffasst, weil es, „wie alle großen geschichtlichen Mächte, dem mythischen Speer gleichen mag, der die Wunden, die er schlägt, selbst zu heilen im Stande ist.“ 73 Die Ambivalenz des Geldes fasst Ralph M. Leck zusammen, wenn er von „monetary culture as social liberation and oppression“ 74 spricht. Dies ist zugleich ein knappes Resümee von Simmels Gelderzählung: Das vom Auftraggeber „Geld“ initiierte narrative Programm „Befreiung des individuellen Subjekts“ mündet schließlich in Verdinglichung als Austauschbarkeit von Individuen und subjektive Atrophie als Blasiertheit. 75 Simmels Kulturerzählung, die parallel zur Gelderzählung verläuft und von dieser nicht zu trennen ist, weil das Geld vor allem über die materielle Kultur als Wirtschaft die gesamte Kulturentwicklung durchwirkt, weist eine ähnliche Ambivalenz auf. Seit unvordenklichen Zeiten beauftragt die „Kultur“ das individuelle Subjekt, das auch in diesem Fall als Fokalisator fungiert, mit „Bildung“: Es soll sich kultivieren, indem es sich die aus 72 N. J. Spykman, The Social Theory of Georg Simmel, Aldershot, Gregg Revivals, 1992, S. 235. 73 G. Simmel, „Das Geld in der modernen Kultur“, in: Aufsätze und Abhandlungen 1894- 1900, GSG, Bd. V, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 196. 74 R. M. Leck, Georg Simmel, op. cit., S. 99. 75 Vgl. D. Martuccelli, „Georg Simmel ou la modernité comme aventure“ , in : ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 384, wo die Reduktion der Qualität auf Quantität kommentiert wird. <?page no="397"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 381 jahrhundertelangen Wechselwirkungen hervorgegangene Kultur aneignet. Doch die materielle und geistige Kultur nimmt im Laufe der Zeit solche Ausmaße an, dass jeder Aneignungsversuch letztlich zum Scheitern verurteilt ist. Jürgen Habermas fasst das narrative Programm „Kultur“ bei Simmel zusammen: „Kultur meint beides: sowohl die Objektivationen, in die sich ein der Subjektivität entspringendes Leben entäußert, also den objektiven Geist - wie auch umgekehrt die Formierung einer Seele, die sich aus der Natur zur Kultur emporarbeitet, also die Bildung des subjektiven Geistes. Simmel folgt dem von Herder über Humboldt bis Hegel maßgeblichen expressivistischen Bildungsideal. (…) Das Telos dieses Bildungsprozesses ist die Steigerung des individuellen Lebens.“ 76 Dieses Telos erscheint hier zugleich als der Objekt-Aktant des Diskurses: als „Bildung“ oder als „Kultur, die sich das Subjekt im Bildungsprozess aneignen soll“. Die Aporie, die diesem Erzählprogramm „Bildung“ zugrunde liegt, besteht darin, dass vom individuellen Subjekt implizit verlangt wird, dass es mit der Auftraggeberin „Kultur“, die aus den Wechselwirkungen unzähliger Subjekte hervorgeht, übereinstimmt, mit ihr identisch wird. Im Aktantenmodell ist der Auftraggeber jedoch stets die übergeordnete Instanz (Gott, der König, der Staat, die Partei, die Kirche, die Wissenschaft), von der der Subjekt-Aktant (der „Held“) einen Heilsauftrag empfängt. Eine Identität der beiden Aktanten ist selten vorgesehen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Simmels Subjekt schließlich eine Aufgabe zufällt, der es nicht gewachsen ist: die Aneignung der „objektiven Kultur“. Diese ist aus dem arbeitsteiligen Prozess hervorgegangen, an dem sowohl im materiellen als auch im geistigen Bereich Generationen mitwirken und im Laufe der Jahrhunderte dazu beitragen, dass ein Objekt entsteht, das sich kein Einzelner aneignen kann. Denn er hat als ein aus der Arbeitsteilung hervorgegangener Spezialist längst die Übersicht verloren - und hat weder die Zeit noch die intellektuellen Fähigkeiten, sich diese Übersicht zu verschaffen: ars longa vita brevis. Die Ambivalenz der Auftraggeberin „Kultur“ besteht darin, dass sie vom Subjekt einerseits verlangt, es solle sich bilden und sich die objektive Kultur aneignen („Bildungsauftrag“), es zugleich aber durch ihre eigene unermessliche Größe daran hindert, den Auftrag zu erfüllen. Diese Größe kommt durch die Wechselwirkungen unzähliger Subjekte im Laufe der Sozialgeschichte zustande. Diese Subjekte setzten durch ihre Handlungen einen Prozess in Bewegung, der sich gleichsam hinter ihrem Rücken verselbständigt und intentionslos in eine Zukunft drängt, die sich dem menschlichen Wollen, Begreifen und Planen entzieht. 76 J. Habermas, „Georg Simmel über Philosophie und Kultur“, in: Texte und Kontexte, op. cit., S. 162. <?page no="398"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 382 Daher kommt Simmel in seiner Abhandlung über „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“ zu dem folgenden Schluss: „Die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst - sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen.“ 77 Etwas weiter fügt er hinzu: „Diese Diskrepanz zwischen der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur scheint sich stetig zu erweitern.“ 78 Darin besteht die „Tragödie der Kultur“: Das Subjekt, für das die Kultur einer Gesellschaft als lebendige oder gelebte bestimmt ist, vermag sich diese Kultur nicht anzueignen. Es gleicht Kafkas „Mann vom Lande“, der Einlass in „das Gesetz“ verlangt und, kurz bevor er stirbt, vom „Türhüter“ erfährt: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ 79 Hier wird deutlich, um welche Beziehung es sich zwischen der Auftraggeberin „Kultur“ und dem Subjekt-Aktanten „Individuum“ handelt: Die Auftraggeberin verlangt nicht nur, dass das Subjekt sich bildet (also die Modalität „Bildung“ erwirbt), sondern auch, dass es sie mit Leben erfüllt: Sie will gelebte, nicht tote Kultur sein. Ihr ambivalenter und paradoxer Auftrag gleicht dem von Kafkas Helden, die nach der Verwirklichung von Unmöglichem streben. Der „Weg der Seele zu sich selbst“ 80 , wie Simmel seine eigene Erzählung zusammenfasst, ist verbaut. Diese Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung erläutert Ursula Menzer: „Den unter den Bedingungen der Arbeitsteilung hergestellten Objekten fehlt die Durchseeltheit, da in sie nicht die Schaffenskräfte ganzer Menschen einfließen (…), so daß die ‚Arbeitsteilung, die den Kulturinhalt subjektlos macht, ihm eine entseelte Objektivität gibt‘.“ 81 Man könnte nun einwenden, dass Simmel vom modernen Menschen Unmögliches verlangt, weil niemand in der Lage ist, sich den gesamten Wissensvorrat der Menschheit anzueignen - vor allem in einer „multikulturellen“ Großstadt, in der Kulturen, Sprachen und Religionen aufeinandertreffen, von denen wir möglicherweise noch nie etwas gehört haben. 77 G. Simmel, „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“ (1900), in: ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl (Hrsg. H.-J. Dahme, O. Rammstedt), Frankfurt Suhrkamp, 1983, S. 97. 78 Ibid., S. 98. 79 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1958, S. 156. 80 G. Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, GSG, Bd. XIV (Hrsg. R. Kramme, O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 385. 81 U. Menzer, Subjektive und objektive Kultur. Georg Simmels Philosophie der Geschlechter vor dem Hintergrund des Kultur-Begriffs, Pfaffenweiler, Centaurus, 1992, S. 63. <?page no="399"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 383 Simmels Standpunkt wirkt plausibler, wenn berücksichtigt wird, dass er wie Nietzsche von einem Bildungsideal ausgeht, das in der Antike und der Renaissance beheimatet ist. In seinen Augen kommt die Bildung im antiken Athen diesem Ideal am nächsten, weil es den damaligen Athenern gelang, das Auseinanderfallen der subjektiven und der objektiven Kultur zu vermeiden: „Eine Steigerung des Kulturniveaus - insbesondere wenn es mit einer Vergrößerung des Kreises gleichzeitig ist - wird das Auseinanderfallen beider begünstigen: es war die unvergleichliche Situation Athens in seiner Blütezeit, daß es bei all seiner Kulturhöhe grade dies (…) zu vermeiden wußte.“ 82 Es versteht sich fast von selbst, dass die Wissensvorräte einer antiken Polis nicht mit denen einer zeitgenössischen Gesellschaft zu vergleichen sind. Es stellt sich daher die Frage, ob Simmel nicht nur von einem antiken, sondern auch von einem antiquierten Ideal ausgeht - und ob seine Darstellung nicht irrelevant ist. Sie ist nicht irrelevant, solange wir nicht bereit sind, uns über die Tatsache hinwegzusetzen, dass vielen Menschen ihre unmittelbare Umgebung - die Gebäude und Brücken ihrer Stadt, die Bilder einer Ausstellung, die Bücher in der Auslage einer Buchhandlung - nichts mehr sagen. Auch die Angehörigen der Wissenschaftlergemeinschaft werden beunruhigt sein, weil sie ahnen, dass nur die wenigsten unter ihnen wissen, wie ihr Computer funktioniert oder wie sich die zahlreichen Kondensstreifen am Himmel auf das Klima auswirken. Hegels Gedanke, dass uns unsere Vernunft als umfassendes, konkretes Wissen mit unserer Wirklichkeit versöhnen könnte, wird durch Simmels „Tragödie der Kultur“ ebenso in Frage gestellt wie Marxʼ Gedanke, dass die Entfremdung in der Gesellschaft durch die Kollektivierung der Produktionsmittel überwunden werden könnte. 4. Entfremdung: Subjektivität als Sackgasse Hegel konnte noch die Geschichte der Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt erzählen und behaupten, dass die Entfremdung des subjektiven Bewusstseins durch Erkenntnis überwunden wird. Es sei hier an Hegels im vierten Kapitel zitierten Satz aus der Philosophie des Rechts erinnert, in der eine Versöhnung des vernunftbegabten Subjekts mit der - stets vernünftigen - Wirklichkeit angestrebt wird: „Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die 82 G. Simmel, „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, in: Schriften zur Soziologie, op. cit., S. 104. <?page no="400"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 384 Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen (…).“ 83 Diese Zuversicht des modernen Denkens, dass es in der Welt vernünftig zugeht, geht in Simmels und Tönnies̕ Spätmoderne verloren. Verloren geht auch Marxʼ zugleich hegelianische und Hegel-kritische Hoffnung, dass die umwälzende Praxis des revolutionären Proletariats die Gesellschaft ein für allemal von Herrschaft, Knechtschaft und Entfremdung befreien könnte. Der spätmoderne Skeptiker, der die Ausbreitung der Geldwirtschaft, die Anhäufung menschlicher Wissensvorräte, die Wirtschaftskrisen und das Scheitern der Revolutionen beobachtet, kommt zu ganz anderen Ergebnissen als Hegel und Marx. Er erzählt, wie durch die Interaktion unzähliger Individuen und Gruppen eine hochdifferenzierte Gesellschaft entsteht, deren „objektive Kultur“ als gemeinsames Produkt aller Beteiligten dem individuellen Subjekt als fremde Macht gegenübertritt. Mit seiner Auffassung der Bildung steht Simmel Hegel noch durchaus nahe, wie Habermas mit seinen Bemerkungen zum „Bildungsideal“ des Soziologen zu verstehen gibt (s.o.); aber Hegels Vision einer vernunftvermittelten Einheit von Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Wirklichkeit als Überwindung der Entfremdung kann er nicht mehr nachvollziehen. Daher ist Ralph M. Leck Recht zu geben, wenn er Simmels Denken als „unhegelianisch“ 84 bezeichnet. Auch Marxʼ prophetischer Entwurf, der die Beseitigung der Entfremdung durch revolutionäre Praxis ankündigt, greift aus Simmels Sicht zu kurz, weil seine Relevanzkriterien zu eng gefasst sind: Aus dem Gegensatz Kapital / Arbeit geht ein Diskurs hervor, der die zunehmende Komplexität aller modernen Gesellschaften - auch der sozialistischen oder kommunistischen - unberücksichtigt lässt. Die wachsende Entfremdung des individuellen Subjekts hängt jedoch mit der Zunahme dieser Komplexität und ihrer materiellen und geistigen Kulturformen zusammen. Kurzum: Entfremdung kann nicht - wie bei Marx - auf den Arbeits- oder Produktionsprozess beschränkt werden. Entfremdung in der Arbeit ist ein „spezieller Fall der Entfremdung“ 85 , wie Ha- 83 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. VII, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 26-27. 84 R. M. Leck, Georg Simmel, op. cit., S. 28: „Simmel’s thought, as a particular unity of extremes, was un-Hegelian both philosophically and politically.“ 85 J. Habermas, „Georg Simmel über Philosophie und Kultur“, in: ders., Texte und Kontexte, op. cit., S. 165. Siehe auch: G. Simmel, „Weibliche Kultur“, in: Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, GSG, Bd. XIV, op. cit., S. 421: „Die Entwicklungsbeschleunigung ergreift mehr die Dinge als die Menschen und die ‚Trennung des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln‘ erscheint nur als ein sehr spezieller ökonomischer Fall der allgemeinen Tendenz (…).“ - Hier zeigt sich, wie Relevanzkriterien (was ist wichtig, was nebensächlich, was übergeordnet, was untergeordnet? ) Diskurse steuern und deren divergierende Abläufe vorbestimmen. <?page no="401"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 385 bermas im Zusammenhang mit Simmel bemerkt. Entfremdung mit ihren vielen Facetten reicht weit über diesen besonderen Fall hinaus - wie die uns unverständlichen Techniken, Verwaltungsmaßnahmen, politischen Programme und Kulturformen täglich zeigen. Daher kann Entfremdung auch nicht durch die Kollektivierung der Produktionsmittel global beseitigt werden. Simmel beschreibt den Übergang von einer modernen Zuversicht zu einer moderneskeptischen und modernekritischen Spätmoderne, wenn er die Abkehr von den Idealen oder Illusionen der englischen Aufklärung und der Französischen Revolution erläutert: „(…) Dann stand hinter jedem Umsturz das ganz feste neue Ideal: die Befreiung des Individuums, das Vernünftigwerden des Lebens, der sichere Fortschritt der Menschheit zu Glück und Vollkommenheit. (…) So kam es nicht zu der Kulturnot, die wir kennen, die wir Älteren allmählich wachsen sahen, bis zu dem Grade, daß überhaupt nicht mehr eine neue Form den Kampf gegen eine alte aufnahm, sondern auf allen möglichen Gebieten das Leben sich dagegen empört, in irgendwie festen Formen verlaufen zu sollen.“ 86 Die Absage an das „feste neue Ideal“ im Sinne von Hegel und Marx 87 , an die Vorstellung von einem „Vernünftigwerden des Lebens“ ist hier nicht zu überhören. Die Einheit von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein erweist sich in der Spätmoderne - nicht nur bei Simmel, sondern auch bei Tönnies und Durkheim - als Illusion. Die „Tragödie der Kultur“ lässt Entfremdung als permanenten Zustand erscheinen, der nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch den Konsumbereich und die Freizeit erfasst. 88 Dennoch kann Simmel, der mit der Revolte des Lebens gegen die „festen Formen“ der Kultur Gedankengänge einiger Existenzialisten vorwegnimmt 89 , nicht einfach als „Pessimist“ etikettiert werden. Denn er hält weiterhin an der „Einheit und Ganzheit des subjektiven Wesens“ 90 fest, von der er in seinem Essay über „Weibliche Kultur“ spricht, und stellt sich Kultur weiterhin als „eine einzigartige Synthese des subjektiven und des objektiven Geistes“ 91 vor. 86 G. Simmel, Das individuelle Gesetz, op. cit., S. 151. 87 Vgl. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 51: „Die Geschichte selbst ist der Boden, auf dem die Idee wirklich ist und wirkt; die Vernunft der Zeit ist in dem, was ist, vorhanden und die Theorie hat sie aus der Zeit selbst als ihren Begriff hervorzubringen.“ 88 Vgl. Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2014, Kap. IV. 89 Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin-Göttingen-Heidelberg, Springer, 1960 (5. Aufl.) S. 304: „Der Halt im Begrenzten: Die Gehäuse“. 90 G. Simmel, „Weibliche Kultur“, in: Hauptprobleme der Philosophie, GSG, Bd. XIV, op. cit., S. 417. 91 Ibid. <?page no="402"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 386 Diese Vorstellung findet er im Kunstwerk verwirklicht: „Dessen Wesen widerstrebt völlig jener Aufteilung der Arbeit an eine Mehrzahl von Arbeitern, deren keiner für sich ein Ganzes leistet. Das Kunstwerk ist unter allem Menschenwerk die geschlossenste Einheit, die sich selbst genügendste Totalität (…).“ 92 Diese Sätze aus der Philosophie des Geldes enthalten eine Erklärung für Simmels Interesse an Kunst und Ästhetik: In großen Kunstwerken (älterer Epochen) findet er noch die Einheit von subjektiver und objektiver Kultur verwirklicht, die ihm als Bildungsideal vorschwebt. Das Kunstwerk stellt sich ihm wie seinem jüngeren Zeitgenossen Lukács als „ein Gebilde, in welchem Subjektivität und Objektivität zur organischen Einheit gebracht werden“ 93 , dar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sich Simmel als Weggefährte der Berliner Naturalisten und Expressionisten des Anachronismus seiner Kunstauffassung bewusst war - im Gegensatz zu Lukács, der noch in seinem Spätwerk, seiner „großen Ästhetik“, das Kunstwerk als „organische Einheit“ zum Leitbild erhebt. 94 Analog zum Kunstwerk erscheinen Simmel die Frauen als Helferinnen des Subjekts, als Statthalterinnen eines ganzheitlichen, nichtfragmentierten Lebens, das sich im Gegensatz zum männlichen Leben dem arbeitsteiligen Prinzip zumindest teilweise entzieht. Simmel geht von der in heutiger Zeit fragwürdigen These aus, dass Arbeitsteilung „offenbar dem männlichen Wesen viel adäquater [ist] als dem weiblichen“. 95 „Die Tätigkeit der Hausfrau“ sei „eine mannigfaltigere, weniger spezialistisch festgelegte, als irgendein männlicher Beruf.“ 96 Freilich mag er eher an die Klavier spielende und den Salon betreuende Bildungsbürgerin gedacht haben, als an die Fenster putzende Hausfrau im zeitgenössischen Sinn. Es kommt hinzu, dass Simmels Frauenbild aus (zeitgenössischer) feministischer Sicht nicht frei ist von ideologischen Stereotypen, die auch mit seiner idealistischen Suche nach einem „weiblichen Wesen“ zusammenhängen. „Man kann“, erklärt er, „diese Grundstruktur des weiblichen Wesens, die in dessen Fremdheit gegen die spezialistisch-objektive Kultur nur ihren historischen Ausdruck gewinnt, in einem psychologischen Zug zusammenfassen: in der Treue. Denn Treue bedeutet doch, daß das Ganze und Einheitliche der Seele sich mit einem einzelnen ihrer Inhalte unablöslich verbindet.“ 97 92 G. Simmel, Philosophie des Geldes, op. cit., S. 629. 93 G. Lukács, Ästhetik, Bd. III, Neuwied-Darmstadt-Berlin, Luchterhand (1963), 1972, S. 69. 94 Vgl. Vf., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 1995 (2. Aufl.), Kap. II. 2. 95 G. Simmel, „Weibliche Kultur“, in: Hauptprobleme der Philosophie, GSG, Bd. XIV, op. cit., S. 422. 96 Ibid. 97 Ibid., S. 428. <?page no="403"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 387 Es kann hier nicht um die Frage gehen, ob Frauen im statistischen Durchschnitt treuer sind als Männer (man mag nur daran denken, dass in der Renaissance der Ausdruck „les Belles Infidèles“ / „die schönen Untreuen“ sehr freie oder „untreue“ Übersetzungen bezeichnete). Wichtiger ist, dass Simmels Argument nicht auf Anhieb einleuchten mag, weil die begriffliche Beziehung zwischen der Treue und dem Streben nach Ganzheit oder Einheit eher locker oder gar inexistent ist. Eine Frau kann untreu werden, weil sie sich in einer Zweierbeziehung eingeengt fühlt und zu der Einsicht gelangt, dass sie in dieser Beziehung nicht ihr ganzes Potenzial verwirklichen kann. In diesem Fall gilt die Umkehrung von Simmels Argument. Tatsache ist, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft die Angestellte eines Chemiekonzerns ebenso spezialisiert ist wie ihre Kollegen und dass ihr Geschlecht mit dieser Spezialisierung nichts zu tun hat. Diese geht aus dem Streben nach größtmöglicher wirtschaftlicher und technischer Effizienz hervor und richtet sich nicht nach der affektiven Einstellung oder den Bedürfnissen von Einzelpersonen. Insgesamt fällt auf, dass Soziologen von Comte über Tönnies bis Simmel ihre Hoffnungen auf das weibliche Geschlecht projizieren, das in ihren Diskursen zu einem Helfer in der Not wird: in einer auf Naturbeherrschung gründenden Wirtschaftsgesellschaft, in der Wissenschaftlichkeit (Comte), Erneuerung der Gemeinschaft (Tönnies) und die Kultiviertheit des Subjekts (Simmel) mit Hilfe der Frauen verwirklicht werden soll, die entsprechend idealisiert werden. Diese Art von idealisierender Projektion erinnert an Marxʼ Aufwertung des „Proletariats“ zu einem mythischen Aktanten, aus dessen Revolution die vernünftige und erlöste Gesellschaft hervorgehen soll. Von Marxʼ modernem Diskurs unterscheidet sich der spätmoderne Diskurs Simmels dadurch, dass er sich wegen der Ambivalenz seiner Aktanten „Geldwirtschaft“ und „Kultur“, die unentwirrbar miteinander verflochten sind, nicht auf Überwindung und Befreiung zubewegt, sondern in eine Aporie mündet, in der das individuelle Subjekt unterzugehen droht, weil der Objekt-Aktant „Besitz der Kultiviertheit“ 98 von diesem Subjekt nicht angeeignet werden kann. 5. Ambivalenz und Kritik der Moderne: Simmels Antworten auf Durkheim und Tönnies Simmel hatte sowohl Kontakte zu Durkheim als auch zu Tönnies, dessen Nietzsche-Buch er kritisch rezensiert hat. 99 Hier geht es nicht um diese 98 G. Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, in: Hauptprobleme der Philosophie, GSG, Bd. XIV, S. 388. 99 Vgl. D. Frisby, Simmel and Since, op. cit., S. 54. <?page no="404"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 388 Kontakte, die eher unergiebig waren und z.T. von Missverständnissen begleitet wurden 100 , sondern um die Frage, inwiefern Simmels Gesellschaftslehre von der Durkheims und Tönniesʼ abweicht und warum. Die vorläufige Antwort kann recht knapp ausfallen: Während Durkheim und Tönnies trotz ihrer Kritik der Moderne noch dem modernen Denken verpflichtet sind, weil sie von eindeutigen Relevanzkriterien und einfachen Gegensätzen wie Gesellschaft / Wirtschaft, Gemeinschaft / Gesellschaft ausgehen, entdeckt der Nietzsche-Leser Simmel die spätmoderne Ambivalenz (vgl. Einleitung). Dazu bemerkt Horst Jürgen Helle: „Charakteristisch ist stets bei Simmel die Fähigkeit und Bereitschaft, historische Prozesse in ihrer Ambivalenz zu sehen.“ 101 Anders als Durkheim, dessen „Gesellschaft“ als Auftraggeberin an eine Gottheit erinnert (W. Watts Miller spricht von „God as society thought of symbolically“) 102 , anders als Tönnies, der trotz aller Kritik an der Gemeinschaft festhält und sich für ihre Stärkung einsetzt, stellt Simmel sowohl „Geldwirtschaft“ als auch „Kultur“ als ambivalente Größen dar, die trotz ihres Antagonismus unentwirrbar miteinander verflochten sind und die - jede auf ihre Art - sowohl Heil als auch Unheil zeitigen. Durkheim und Tönnies betrachten zwar die Fortschritts- und Erlösungsversprechen von Comte, Spencer und Marx mit Skepsis, sind aber insofern noch der Moderne verhaftet, als sie versuchen, Wege aus der spätmodernen Krise aufzuzeigen. Durkheim meint, mit Hilfe von Berufsverbänden (Korporationen) mechanische Solidarität innerhalb der organischen wiederbeleben und die soziale Solidarität stärken zu können; komplementär dazu setzt sich Tönnies für die Stärkung von Genossenschaften ein, die innerhalb der Gesellschaft die gemeinschaftliche Gesinnung fördern könnten. Im Gegensatz dazu lässt Simmel ambivalente Instanzen auftreten, die dem individuellen Subjekt einerseits Freiheit und Bildung versprechen, es andererseits aber in eine aporetische Situation führen: in die „Tragödie der 100 Vgl. O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, darin vor allem: M. Maffesoli, „Ein Vergleich zwischen Emile Durkheim und Georg Simmel“, D. P. Frisby, „Soziologie und Moderne: Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber“, H.-J. Dahme, „Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber“ sowie O. Rammstedt, „Die Attitüden der Klassiker als unsere soziologischen Selbstverständlichkeiten. Durkheim, Simmel, Weber und die Konstitution der modernen Soziologie“. Vgl. auch: D. Frisby, Simmel and Since, op. cit. S. 54-55. Zu Simmels Rezension von Tönniesʼ Nietzsche-Buch (Der Nietzsche-Kultus: vgl. Kap. X), siehe: R. M. Leck, Georg Simmel, op. cit., S. 85. 101 H. J. Helle, Soziologie und Erkenntnistheorie bei Georg Simmel, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1988, S. 169. 102 W. Watts Miller, Durkheim, Morals and Modernity, London, UCL Press, 1996, S. 230. <?page no="405"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 389 Kultur“. (Seine Erörterung „von Kreisen und Genossenschaften“ 103 als Stützen der Individualität in Über sociale Differenzierung hat in seinem Diskurs nicht den gleichen Stellenwert wie bei Tönnies.) Er geht weiter als Durkheim und Tönnies, weil er durch die Struktur seines Diskurses (seiner „Erzählung“) die gesamte moderne Entwicklung als „Fortschritt“, „Bildung“ und „Befreiung“ in Frage stellt. Seine Replik auf Durkheim und Tönnies könnte lauten: Eure Kritik der Moderne geht nicht weit genug, weil ihr die Aporien ihrer Entwicklung und ihr Entfremdungspotenzial nicht wahrnehmt. David Frisby bemerkt: „(…) Simmel provided a fin de siècle social theory that could not be matched by his contemporaries.“ 104 Diese Einschätzung ist zwar richtig, sie ist aber zu abstrakt. Das konkrete Fazit lautet: Simmel hat im Anschluss an Nietzsche die Ambivalenz moderner Kräfte und Entwicklungen entdeckt und dadurch eine radikale Kritik der Moderne aus spätmoderner Sicht ermöglicht. Immer wieder folgt er Nietzsches von der Ambivalenz gesteuerten Dialektik ohne Synthese, die z.B. in Nietzsches „Gesamt-Einsicht“ (Nachlass) zur Anwendung kommt: „Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auch ein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich (…).“ 105 Analog dazu zeigt Simmel, wie das Anwachsen der „objektiven Kultur“ den Niedergang des spezialisierten Individuums mit sich bringt, dessen bescheidene Bildung sich angesichts der angehäuften Wissensvorräte der Gesellschaft als völlig unzulänglich erweist. Auf dieses Individuum, das den Überblick über die „objektive Kultur“ und die soziale Orientierung verliert, konzentriert Simmel seine ganze Aufmerksamkeit. Es wird zum Subjekt-Aktanten und Fokalisator seines Diskurses. Auch dadurch unterscheidet sich sein Diskurs wesentlich von den Diskursen Durkheims und Tönniesʼ. Während es bei Durkheim um einer Stärkung gesellschaftlicher Solidarität durch die Einbettung des Einzelnen in solidarische Gruppen geht und Tönnies sich vornimmt, dem Einzelnen durch einen neuen Gemeinschaftsgeist den Rücken zu stärken, und dadurch eher die Gruppe als das Individuum in den Vordergrund stellt, gilt Simmels Sorge vorwiegend dem individuellen Subjekt. Wie die Romanciers der Spätmoderne, wie Adorno und Horkheimer hält er dieses Subjekt für akut gefährdet. In der Philosophie des Geldes stellt er fest, „daß das Bedeutende in der gegenwärtigen Epoche nicht mehr durch die Individuen, sondern durch die Massen geschehe“. 106 Als Ursache für 103 G. Simmel, Aufsätze 1887-1890, GSG, Bd. II, op. cit., S. 244-245. 104 D. Frisby, Simmel and Since, op. cit., S. 55. 105 F. Nietzsche, Werke, Bd. VI (Nachlass), Hrsg. K. Schlechta, München, Hanser, 1980, S. 625. 106 G. Simmel, Philosophie des Geldes, op. cit., S. 648. <?page no="406"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 390 diese Entwicklung nennt er wieder den Differenzierungsprozess, der dazu führt, dass an der Hervorbringung eines „objektiven Kulturprodukts“ so viele Personen beteiligt sind, dass dieses Produkt dem Einzelnen letztlich fremd ist. Freilich hat der Niedergang des (liberalen) Individualismus auch noch andere Ursachen als die soziale Differenzierung. Die Großkonzerne, die im wirtschaftlichen Bereich das Sagen haben und den Einzelunternehmer (den tycoon) in spezialisierte Produktionsbereiche abdrängen, stehen den Gewerkschaften (den organisierten Massen) und Staatsbürokratien gegenüber, die sie auf internationaler Ebene bisweilen gegeneinander ausspielen. In dieser Situation hat der Einzelne, auch der einzelne Politiker, immer weniger Spielraum - und weniger Übersicht. Komplementär zu Simmel beschreibt diese Situation Franz Kafka, der als spätmoderner Schriftsteller die Mythen der Moderne - Fortschritt, Befreiung, Gleichberechtigung - radikal in Frage stellt: „Das geschichtliche Geschehen wird nicht mehr vom Einzelnen, sondern nur noch von den Massen getragen. Wir werden gestoßen, gedrängt, hinweggefegt. Wir erleiden die Geschichte.“ 107 Dieses „Erleiden der Geschichte“ könnte als eine Metapher für Simmels Prozess der Wechselwirkungen gelesen werden, der schließlich dazu führt, dass sich die soziale Evolution verselbständigt und vielen als „Prozess ohne Subjekt“ erscheint: etwa Louis Althusser, dem Vertreter eines strukturalen Marxismus, oder dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der meint, auf den Subjektbegriff verzichten zu können (vgl. Kap. XV). Die allgemeinste Schlussfolgerung findet sich in Robert Musils Aufzeichnungen zu seinem großen Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften: „Der Individualismus geht zu Ende. Ulrich liegt nichts daran. Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 108 In gewisser Hinsicht trifft diese Betrachtung auch auf Simmels Position zu: Auch er möchte vom Individualismus und vom individuellen Subjekt das „Richtige“ hinüberretten. Das „Richtige“ ist ihm (wie auch Musil, der Bildung inszeniert und parodiert) das gebildete Individuum, das er selbst als Berliner Bildungsbürger, Wissenschaftler, Essayist und Ästhet war. Es fragt sich freilich, ob Simmels Streben nach Subjektivität nicht die Aporie zugrunde liegt, die er in seinen Artikeln über die „Tragödie der Kultur“ auch beschreibt: die Unmöglichkeit des Bildungsbürgers in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft. 107 Das Kafka-Buch. Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen (Hrsg. H. Politzer), Frankfurt, Fischer, 1965, S. 162. 108 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1952, S. 1578. <?page no="407"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 391 6. Kulturindustrie als Komödie der Kultur: Adornos und Horkheimers Antwort auf Simmel In Komödien ist Betrug ein zentrales Ereignis: Dem Geizhals wird sein sorgsam gehüteter Schatz entwendet, dem alternden reichen Mann jagt ein junger Liebhaber die schöne Braut ab, und den Dienstboten fallen immer die geeignetsten Tricks ein, die dem normbrechenden Liebespaar die Hochzeit trotz aller Widerstände der traditionskonformen Familien ermöglichen. Auch in der von Adorno und Horkheimer kritisierten Kulturindustrie geht es um Betrug: „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht.“ 109 Was verspricht nun die Kulturindustrie den Konsumenten? Sie verspricht ihnen - bald gegen ihr eigenes besseres Wissen, bald aus Ignoranz - eine Überwindung der Tragödie durch eine „demokratische“ Schließung der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwischen subjektiver und objektiver Kultur. Die zur Ware gewordene Kultur soll allen zugänglich sein wie Seife, Waschmaschine, Fernsehen und Handy. Dabei wird freilich übersehen, dass die „materielle Kultur“ (Simmel) im gleichen Rhythmus ausufert wie die geistige, so dass der Einzelne sowohl im materiellen als auch im geistigen Bereich die Orientierung verliert. Davon zeugt das Fernsehen als Schnittpunkt von Technik und Kultur mit seinem Überangebot an Kanälen, Programmen, Werbespots, Spielfilmen und Informationen. Auf dieses Überangebot reagieren viele mit einem hilflosen channel switching, das sie vollends verwirrt - ebenso wie das Surfen im Internet. Beide Verhaltensweisen lähmen die Konzentration, die als einzige die Aufnahme von Sprache, Text und Kultur ermöglichen würde. Die Lähmung der Konzentrationsfähigkeit hängt mit dem Unterhaltungscharakter der Kulturindustrie zusammen, die auf profitable Zerstreuung aus ist und in jeder Hinsicht dem Diktat des Tauschwerts gehorcht. Auch darin gleicht sie der Komödie, die dazu angetan ist, „das Publikum zu entspannen und zu unterhalten“. 110 In dieser Situation sind Konzentration und kritisches Nachdenken nicht gefragt. „Bekämpft wird der Feind, der bereits geschlagen ist, das denkende Subjekt“, 111 kommentieren Adorno und Horkheimer diesen Sachverhalt. Dies ist der zweite Grund, warum der Eindruck des Tragischen verblasst: Wo das Subjekt als Widerstand leistender Held verschwindet, dort ist keine Tragödie mehr möglich, bestenfalls eine Komödie, die darin besteht, „daß es zur Sache nicht kommt, daß der Gast an der Lektüre der 109 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 166. 110 H. van Gorp et al., Lexicon van literaire termen, Löwen, Wolters, 1986 (3. Aufl.), S. 216. 111 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 177. <?page no="408"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 392 Menükarte sein Genügen finden soll“. 112 Tatsächlich besteht die Komödie u.a. darin, dass die „Kulturgüter“ den „Kulturkonsumenten“ in schillernder, vielversprechender Aufmachung serviert werden: in Form von Zusammenfassungen, Videofilmen, Prospekten und Shows, die als Analoga der „Menükarte“ fungieren und die „Sache“ ersetzen, statt sie zu erfassen. Im „Kulturbus“, mit dem Touristen durch eine österreichische Barockstadt fahren, erklärt die Reisebegleiterin in Windeseile über Mikrophon die Stadtgeschichte und die Barockarchitektur. Sie ist fast sprachlos, als sie eine junge Chinesin beim Aussteigen in gebrochenem Englisch fragt, wie denn die Stadt heißt, durch die sie soeben gefahren ist. Dieser Vorfall mag von Komik oder Tragik zeugen oder als tragikomisch aufgefasst werden; er zeigt aber, dass die Kluft zwischen subjektiver und objektiver Kultur tiefer ist denn je. Sie wird jedoch von der „demokratischen“ Illusion kaschiert, dass nun alle an der Kultur teilhaben, die ihnen von kompetenten „Kulturmanagern“ näher gebracht wird. Noch pointierter im Hinblick auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis drückt es Rainer Winter aus: „Die Kulturindustrie beraubt sowohl die Objekte als auch die Subjekte ihrer Individualität.“ 113 Der Name der Barockstadt ist bald vergessen, und das Gedächtnis atrophiert inmitten von vielen beziehungslosen Eindrücken. Dabei löst sich „Bildung“ im Sinne von Simmel auf. Dazu heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „Die Abschaffung des Bildungsprivilegs durch Ausverkauf leitet die Massen nicht in die Bereiche, die man ihnen ehedem vorenthielt, sondern dient, unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, gerade dem Zerfall der Bildung, dem Fortschritt der barbarischen Beziehungslosigkeit.“ 114 Von dieser Beziehungslosigkeit zeugt die Frage der jungen Chinesin, die sich auch so manchem Europäer aufdrängen mag, der in China einen „Kulturbus“ besteigt. Auch er kommt dort nicht „zur Sache“: jedenfalls nicht mit Hilfe der „Kulturmanager“, die nicht unwesentlich zum Bruttonationalprodukt beitragen. Ihnen geht es nicht darum, Gästen gastfreundschaftlich etwas zu zeigen, sondern möglichst viele „Kulturbusse“ mit zahlenden Touristen zu füllen. Diesen Gedankengang konkretisiert Guy Debord in La Société du Spectacle (1967, 1992): „Die völlig zur Ware gewordene Kultur ist auch dazu bestimmt, zur wichtigsten Ware der Spektakelgesellschaft zu werden.“ 115 Er weist darauf hin, dass die Kultur in dieser Form bereits 29 % 112 Ibid., S. 166. 113 R. Winter, „Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus. Von Adorno und Horkheimer zu den Cultural Studies“, in: U. Bittlingmayer (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https / / / doi. Org. 10. 10,1007/ 978-3- 658-12707-95-1. 4. 114 Ibid., S. 190. 115 G. Debord, La Société du spectacle, Paris, Gallimard, 1992, S. 187. <?page no="409"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 393 des Bruttonationalprodukts der USA ausmacht (inzwischen sicherlich mehr) und auf dem besten Weg ist, auf dieser Ebene das Auto zu überholen. Dies bedeutet in dem hier konstruierten Kontext, dass die „Geldwirtschaft“ sich die „Kultur“ als Gegenspielerin und Komplizin längst unterworfen hat, so dass es auch aus diesem Grunde keine „Tragödie der Kultur“ mehr geben kann: An die Stelle des Subjekts, das den Auftrag hatte, sich zu bilden, sich die „objektive Kultur“ anzueignen, tritt ein Nicht-Subjekt, ein Individuum als passiver Kulturkonsument, der oft unzusammenhängende Eindrücke aneinanderreiht. In der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft wird die von Simmel beschriebene „Tragödie der Kultur“ nicht überwunden (wie Simmel noch gehofft haben mag), sondern kommerziell kaschiert und „verwunden“. Nach Gianni Vattimo ist die Verwindung (ein von Nietzsche und Heidegger stammender Begriff) die eigentliche Figur der Postmoderne, die diese von der Moderne unterscheidet. 116 Denn die Denker, Politiker und Manager der Postmoderne haben sich damit abgefunden, dass die kapitalistischen Verhältnisse und die Entfremdung, die sie mit sich bringen, nicht überwunden werden können. Das Scheitern des Veränderungswillens kann nur „verwunden“ werden. Gegen diese Art der „Verwindung“ lehnt sich die Kritische Theorie weiterhin auf. Zusammenfassung und Ausblick: Als gebürtiger Berliner, Individualist und Kantianer ist sich Simmel zwar des von Durkheim und Tönnies analysierten kollektiven und gemeinschaftlichen Faktors bewusst, geht aber vom Individuum aus, das in seinem Diskurs als Fokalisator auftritt. Dieser Diskurs hat einen zugleich essayistischen und konstruktivistischen Charakter, der eine hegelianische oder marxistische Identifizierung von Diskursstruktur und Wirklichkeit ausschließt. Für diese Nichtidentität, welche der Adornos vergleichbar ist, bürgt Simmels Kantianismus, der die Erkennbarkeit der Wirklichkeit begrenzt und das „Ding an sich“ der Erkenntnis entzieht. Auf diesem Kantianismus gründet auch seine formale Soziologie, die vor allem die Formen der Vergesellschaftung als Wechselwirkungen zwischen Individuen und Gruppen in den Blick nimmt: Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Konflikt oder die Auswirkung der Zahl (Dyade, Triade, Hundertschaft) auf Bewusstsein, Handeln und Handlungsfähigkeit. Das Individuum als Fokalisator befindet sich bei Simmel in einer prekären, tragischen Lage, weil es von zwei ambivalenten Auftraggebern beauftragt wird: vom „Geld“ und von der „Kultur“. Beide Auftraggeber steuern das individuelle Subjekt in eine Aporie: Während das „Geld“ dem Individuum hilft, aus Traditionen und kollek- 116 Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. <?page no="410"?> Simmels Soziologie der spätmodernen Ambivalenz 394 tiven Zwangslagen herauszutreten, es zugleich aber der Anonymität und Entfremdung ausliefert, erteilt ihm die „Kultur“ einen unmöglichen Auftrag: Es soll sich die objektive, in unzähligen menschlichen Wechselbeziehungen angehäufte, jahrtausendealte objektive Kultur aneignen und sie mit Leben erfüllen. Das Individuum ist jedoch außerstande, sich „seine“ stetig wachsende Kultur anzueignen und fällt als ohnmächtiges Subjekt der „Tragödie der Kultur“ zum Opfer. Die spätmoderne Ambivalenz der beiden Auftraggeber führt ihre Aufträge ad absurdum. Im letzten Abschnitt wird im Zusammenhang mit Adornos und Horkheimers „Kulturindustrie“ gezeigt, wie sich die „Tragödie“ in eine „Komödie der Kultur“ verwandelt: In der kommerzialisierten Postmoderne wird die Aporie, in der sich das individuelle Subjekt befindet, nicht mehr als tragisch aufgefasst, sondern inmitten einer organisierten Oberflächlichkeit als unterhaltsam akzeptiert. Im nächsten Kapitel soll deutlich werden, dass Max Weber Simmels Skepsis dem modernen Fortschrittsglauben gegenüber teilt: Komplementär zu Simmels „Tragödie der Kultur“ zeichnet sich in seiner Theorie der Rationalisierung die Möglichkeit ab, dass die moderne Entwicklung in Bürokratisierung und soziale Stagnation mündet. <?page no="411"?> 395 XII. Wertfreiheit und Idealtypus, Rationalisierungsprozess, Bürokratie und Charisma: Die verstehende Soziologie Max Webers als Antwort auf den Marxismus Inhaltsverzeichnis 1. Webers Antwort auf Marx: Wertfreiheit statt Engagement, Religion als Wirtschaftsfaktor, Klasse und Stand 2. Verstehende Soziologie als werturteilsfreies Verstehen individueller Handlungen: Von Hegel und Marx zu Kant 3. Idealtypen als Konstruktionen und Verständnishilfen: Handlungstypen und Herrschaftstypen 4. Rationalisierungsprozess und Bürokratie, Politik und Charisma: Webers Erzählung als Aktantenmodell 5. Protestantische Wirtschaftsethik: Der religiöse Faktor 6. Der Zerfall der protestantischen Askese in der „nachindustriellen Gesellschaft“: Daniel Bells Fortsetzung der Weberschen Erzählung 7. Rationalisierung und instrumentelle Vernunft: Herbert Marcuses Weber-Kritik und Webers (mögliche) Antwort Mit seinen Zeitgenossen Ferdinand Tönnies und Georg Simmel teilt Max Weber (1864-1920) die spätmoderne Skepsis den großen modernen Erzählungen gegenüber, die bei Marx, Comte und Spencer von dem Gedanken ausgehen, dass sich die Entwicklung der Menschheit auf eine vernünftigere und humanere Gesellschaftsordnung zubewegt. Weber entwickelt eine Theorie der Rationalisierung, die - ähnlich wie die Soziologie Simmels - von der spätmodernen, nietzscheanischen Ambivalenz geprägt ist: Er zeigt, wie in Europa und später in Nordamerika aufgrund spezifischer kultureller Bedingungen ein Rationalisierungsprozess in Gang kommt, der einerseits wirtschaftlich-technischen Fortschritt, Wohlstand und individuelle Freiheit mit sich bringt, andererseits diese Freiheit im Spätkapitalismus durch Bürokratisierung wieder in Frage stellt. Diese Bürokratisierung lässt nicht nur die individuelle Initiative erlahmen, sondern kann aus Webers Sicht die gesamte Gesellschaft zu Stagnation und steriler Routine verurteilen. Während Durkheim und Tönnies ihr Augenmerk auf die Schwächung „mechanischer“ und „gemeinschaftlicher“ Bindungen richten und die Ökonomisierung der Gesellschaft für „zunehmende Entfremdung“ 1 (Tönnies) und Anomie (Durkheim) verantwortlich machen, untersucht Weber die 1 F. Tönnies, Geist der Neuzeit (Hrsg. R. Fechner), München-Wien, Profil Verlag, 2010, S. 135. <?page no="412"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 396 Zwangsmechanismen, die im Zuge der Rationalisierung entstehen und die Freiheit des individuellen Subjekts, die der frühkapitalistische Markt begünstigte, im Spätkapitalismus aushöhlen. Wie Simmel sorgt er sich um dieses Subjekt, das nicht nur der Bürokratisierung zum Opfer fallen könnte, sondern auch der Spezialisierung, die mit der Rationalisierung einhergeht. Wie Simmel, der fürchtet, dass das gebildete Individuum, das in der Lage ist, sich die „objektive Kultur“ als Wissensvorrat seiner Zeit anzueignen, der Vergangenheit angehört, ahnt Weber eine Zeit voraus, in welcher der Typus des „Kulturmenschen“ von einem hochspezialisierten „Fachmenschen ohne Geist“ 2 abgelöst wird. Diesem neuen Menschentypus entspricht bei Weber ein „Genußmensch ohne Herz“. 3 Diese erste Skizze von Webers Denken lässt bereits die Stoßrichtung seines Diskurses erkennen, der für die gesamte spätmoderne Soziologie als Soziologie der wirtschaftlich-politischen Krise charakteristisch ist. Wie bei Simmel entdeckt diese Soziologie bei Weber die Ambivalenz des Fortschritts, der sowohl Wohlstand als auch Armut, sowohl Frieden als auch Krieg, sowohl Freiheit als auch Knechtschaft verheißt und nicht mehr eindeutig als fortschreitende Befreiung, Versöhnung oder Erlösung beschreibbar ist. Verloren geht in diesem neuen gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext Marxʼ, Comtes und Spencers moderne Zuversicht, die teils von der Aufklärung, teils von der Religion (die Comte säkularisierte) gespeist wurde. Während Marx und Comte noch religiösen Erlösungsvorstellungen verpflichtet waren, schreibt Weber in einer Epoche, die von Nietzsches Diktum „Gott ist tot“ geprägt ist. Diesem von Nietzsche angekündigten „Nihilismus“ entspricht bei Weber ein „Polytheismus der Werte“, den wir nicht wahrnahmen, solange wir innerhalb der christlichen Erzählung dachten und lebten: „Schicksal unserer Kultur aber ist, daß wir uns dessen wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrtausend die angeblich oder vermeintlich ausschließliche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hatte.“ 4 Dies ist eine nietzscheanische Zeitdiagnose jenseits des Christentums, aber auch jenseits des religiösen Glaubens schlechthin, aus dem bei Marx und Comte ein weltlicher Erlösungs- und Versöhnungsglaube wurde. Dieser Glaube bildete die Grundlage der ehrgeizigen modernen Erzählungen, die auf das Telos einer „besseren Welt“ ausgerichtet waren. Wo 2 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013 (4. Aufl.), S. 201. 3 Ibid. 4 M. Weber, „Vom inneren Beruf zur Wissenschaft“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973, S. 330. <?page no="413"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 397 dieser in bestimmten Wertsetzungen verankerte Glaube erlischt, weil ein „Polytheismus“ oder „Pluralismus der Werte“ herrscht, kann sich ein auf die Allgemeingültigkeit seiner Aussagen bedachter Wissenschaftler wie Weber nur der Wertsetzung und des Werturteils enthalten. In seinem bekannten Vortrag „Vom inneren Beruf zur Wissenschaft“ setzt er sich konsequent für eine Lehre ein, die frei von Werturteilen ist. Der Universitätsprofessor ist weder Prophet noch politischer Führer, sondern Lehrer: „Aber nur als Lehrer sind wir auf das Katheder gestellt.“ 5 Das ist zweifellos richtig, weil jede Art von Wissenschaft in erster Linie dazu da ist zu verstehen und zu erklären. Dennoch wird im Folgenden immer wieder nach der Rolle der ideologischen Wertung im wissenschaftlichen Diskurs 6 gefragt. Denn auch der „Lehrer“ im Sinne von Weber geht, wie sich zeigen wird, von besonderen - partikularen, nicht allgemein gültigen - Relevanzkriterien und Selektionen aus, die seinen Diskurs und seine Objektkonstruktionen im Rahmen dieses Diskurses steuern. Vorerst soll der Gedanke festgehalten werden, dass Webers Forderung, in der Wissenschaft (in der Universitätslehre) auf Werturteile zu verzichten, eng mit seiner spätmodernen Skepsis allen modernen Heilserzählungen gegenüber zusammenhängt. Von diesem Zusammenhang zeugt die folgende Darstellung von Webers Position in Jürgen Ritserts Buch Gesellschaft: „Zwar wälzt sich nach der Weberschen Metaphorik der Strom des Weltgeschehens der Ewigkeit entgegen, aber die Abfolge des Geschehens weist keine innere Tendenz auf, die sie mit innerer Notwendigkeit auf ein endgültiges Heilsziel (auf ein telos wie das Paradies, die klassenlose Gesellschaft, die gerechte Gesellschaft etc.) als ihren Sinn hin steuerte. Diesen Grundgedanken teleologischer Geschichtsmodelle weist Weber im Lichte seiner Kritik an der Vermischung von Tatsachenaussagen mit Werturteilen zurück (…). Die historische Forschung könne kein normatives Ziel der Geschichte aufstellen und auf den Mitteln der Tatsachenanalyse rechtfertigen.“ 7 Kurzum, wo der Sinn als verbindliches Wertsystem nicht mehr gegeben ist (Catherine Colliot-Thélène spricht im Zusammenhang mit Weber von einer „Welt ohne Sinn“) 8 , dort werden auch alle Relevanzkriterien fragwürdig, die stets auf Wertsetzungen gründen, und die aus ihnen hervorgehenden Erzählungen gesellschaftlicher Entwicklung. Dennoch erzählt Weber 5 Ibid. 6 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IV: „Ideologie und Wertfreiheit: Von Max Weber zum Kritischen Rationalismus“ sowie Kap. IX: „Ideologie in der Theorie: Soziologische Modelle“. 7 J. Ritsert, Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt, Campus, 2000, S. 128. 8 C. Colliot-Thélène, Max Weber et l’histoire, Paris, PUF, 1990, S. 65. <?page no="414"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 398 wie seine Vorgänger Marx, Comte und Spencer eine Geschichte der Gesellschaft: die Geschichte der Rationalisierung. Die Frage, ob Werturteile (Ideologeme) in diese Erzählung eingegangen sind - und wenn ja, in welcher Form - soll in diesem Kapitel auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Tatsache ist, dass Weber das religiöse und politische Engagement Comtes und Marxʼ ebenso ablehnte wie den militanten Liberalismus Spencers. Die Soziologie, für die er sich einsetzte, sollte von der politischen Praxis, ihren Ideologien und Weltanschauungen getrennt werden. Dennoch bezog Weber im gesellschaftlichen Alltag recht eindeutig einen liberalen und individualistischen Standpunkt, der eng mit seiner Biografie zusammenhängt. Er wurde 1864 in Erfurt geboren, studierte in Heidelberg und Straßburg, wurde im Fach Rechtswissenschaft sowohl promoviert als auch habilitiert und 1894 zum Professor für Wirtschaftswissenschaft in Freiburg, 1897 in Heidelberg ernannt. Er wuchs in einer national-liberalen, protestantischen Familie auf und befürwortete ein demokratisches, parlamentarisches System. Zu seiner politischen Einstellung bemerkt Jürgen Kaube: „[Er] nimmt am ‚Kulturkampf‘ zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche teil (und schlägt sich auf die protestantische Seite), er fordert eine imperialistische Politik Deutschlands nach außen und eine liberale nach innen.“ 9 Wolfgang J. Mommsen bezeichnet Weber als den „letzten großen Liberalen der Neuzeit“. 10 Angesichts dieser biografischen Daten, die von einem offenen Engagement für Nationalismus, Liberalismus, Individualismus und Protestantismus zeugen, drängt sich die Frage auf, ob Webers eigenes Werk, in dem die Ablehnung des Sozialismus ein rekurrierendes Motiv ist, seinem Desiderat der Werturteilsfreiheit (kurz „Wertfreiheit“) genügen konnte. Die These, dass eine unmittelbare Einwirkung von Werturteilen auf wissenschaftliches Denken vermieden werden sollte, weil sie die theoretische Argumentation verzerrt und einen offenen Dialog behindert, ist in der Wissenschaftlergemeinschaft wohl unumstritten. Sogar außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs erwartet der gebildete Zeitungsleser, dass Journalisten zunächst von Fakten berichten, bevor sie wertend zu ihnen Stellung nehmen. Jedoch besteht das eigentliche Problem in diesem Fall darin, dass kein sozialwissenschaftlicher Diskurs als isolierte, fensterlose Monade zu verstehen ist, weil er stets zustimmend oder kritisch-polemisch - d.h. wertend - auf die ihn betreffenden Gruppensprachen und Diskurse der Vergangen- 9 J. Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin, Rowohlt, 2014 (3. Aufl.), S. 15. 10 W. J. Mommsen (Beitrag zur Diskussion), in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des fünfzehnten deutschen Soziologentages, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1965, S. 215. <?page no="415"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 399 heit oder Gegenwart reagiert. Kenner von Webers Soziologie sind sich einig, dass sein Werk, das zahlreiche historische und zeitgenössische Diskurse (Neukantianismus, Nationalökonomie, Soziologie) aufgenommen und kritisch verarbeitet hat, auch als kritisch-polemische Reaktion auf Marx und den Marxismus zu verstehen ist. Dazu bemerkt Richard van Dülmen: „Wurde Webers Werk doch bald (…) als eine kongeniale bürgerliche Antwort auf die theoretisch-intellektuelle Herausforderung von Karl Marx verstanden, ja darüberhinaus als Widerlegung des historischen Materialismus begrüßt (…).“ 11 Im Folgenden soll deutlich werden, dass Weber nicht die Absicht hatte, die Marxsche Theorie zu widerlegen. Eher ging es ihm darum, sie kritisch zu ergänzen und die soziologische Erzählung von Einseitigkeiten zu befreien, sie ins rechte Lot zu bringen. Indessen zeigt van Dülmens Bemerkung, dass wissenschaftliche Theorien nicht nur dialogisch intendiert sind, weil sie auf konkurrierende Theorien reagieren, sondern als „Antworten“ auch dialogisch rezipiert werden. 1. Webers Antwort auf Marx: Wertfreiheit statt Engagement, Religion als Wirtschaftsfaktor, Klasse und Stand Die Beziehung zwischen wissenschaftlichem Engagement und der Forderung nach Wertfreiheit (Werturteilsfreiheit) wurde im ersten Kapitel in großen Zügen dargestellt. Hier und im nächsten Abschnitt geht es um eine konkretere Analyse dieser Beziehung, die ihre Zweideutigkeiten und Aporien zutage treten lässt. Während Marx im Rahmen eines „wissenschaftlichen Sozialismus“, den er dialogisch-polemisch dem „utopischen Sozialismus“ (Fouriers, Owens, Saint-Simons) entgegensetzte, unmissverständlich für ein politisches Engagement der neuen materialistischen Wissenschaft plädierte und die revolutionären Proletarier aufforderte, sich zu vereinigen, trat Weber ebenso unmissverständlich für eine Trennung von Politik und Wissenschaft, Theorie und Praxis ein. Wolfgang Schluchter spricht im Zusammenhang mit Weber von einer „Trennung von Welterkenntnis und Weltgestaltung“. 12 Diese Trennung hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen: mit Webers liberalem Individualismus und mit seinem Kantianismus oder Neukantianismus (im Sinne von Heinrich Rickert). Diese beiden Faktoren bilden insofern eine Einheit, als eine Wahlverwandtschaft zwischen Indivi- 11 R. van Dülmen, „Protestantismus und Kapitalismus. Max Webers These im Licht der neueren Sozialgeschichte“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, München, DTV, 1988, S. 89. 12 W. Schluchter, Rationalismus und Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 54. <?page no="416"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 400 dualismus und Kantianismus postuliert werden kann. Im Gegensatz zu Hegel und Marx, die das individuelle Subjekt letztlich in überindividuellen Subjekten (Nationen bei Hegel, Klassen bei Marx) aufgehen lassen, hält Kant am individuellen Subjekt fest, das er als abstraktes, „denkendes Ich“ von allen empirischen Determinanten trennt - ebenso wie er das Ich des kategorischen Imperativs von dem lebenden, seinen Neigungen, Leidenschaften und Interessen folgenden „Ich“ trennt. 13 Weber ist insofern Kantianer, als er alles soziale Handeln auf das Individuum beschränken möchte und im Gegensatz zu Marx keine kollektiven Subjekte (Gruppen, Klassen) als handelnde Instanzen anerkennt. Er ist auch Kantianer, wenn es gilt, das wissenschaftliche Denken vom sozialen Engagement als Interesse, Ideologie oder politische Leidenschaft zu trennen. Er meint, dass die Interessen und Wertungen, die den Alltag prägen, nicht in die Sprache der Wissenschaft eingehen sollten. Wie Kant und die Neukantianer folgt er dem Prinzip der Trennung und weist den Hegelschen und Marxschen Gedanken der dialektischen Vermittlung ab: den Gedanken, dass alles Denken und Sprechen gesellschaftlich vermittelt ist und daher besondere Standpunkte, Interessen und Wertungen ausdrückt. Von Webers Individualismus (als Ideologie) und von seiner individualistischen Methode in der Soziologie zeugt die folgende Passage aus seinem Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“: „Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten, Zusammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen, selbstverständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus.“ 14 Dieser methodologische Individualismus, der ausschließlich individuelles Handeln (individuelle Aktanten) gelten lässt, beinhaltet eine Trennung des Individuums von seiner Sozialisierung in kollektiven Strukturen: in Sprache, Familie, Schule - und Klasse, würden die Marxisten hinzufügen. Als Beispiel könnten sie den restricted code anführen, der dem Soziolinguisten Basil Bernstein 15 zufolge dem stark begrenzten Wortschatz und Sprach- 13 Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg, Meiner, 1994 (7. Aufl.), S. 49-50: „Hier aber ist vom objektiv-praktischen Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt, das denn alles, was aufs Empirische Beziehung hat, von selbst wegfällt: weil, wenn die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt, sie dieses notwendig a priori tun muß.“ 14 M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 214. 15 Vgl. B. Bernstein, Class, Codes and Control, St. Albans, Paladin, 1973, S. 196. <?page no="417"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 401 gebrauch der Arbeiterklasse als Kollektiv zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Marx und den Marxisten trennt Weber das „Ich“ vom „Wir“, das - nach Marx und Durkheim - dem „Ich“ innewohnt. Zweifellos tragen Individuen zur „Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens“ bei (davon zeugen die individuellen sprachlichen und kulturellen Innovationen von Künstlerinnen und Künstlern), aber wir werden alle in eine Sprache als „Ensemble kollektiver Gewohnheiten“ („ensemble des habitudes collectives“, Saussure) 16 hineingeboren und wachsen in einer Kultur auf, die, wie Simmel sah, von Generationen hervorgebracht wurde und daher überindividuellen Charakter hat. Dieses Vermitteltsein des Individuellen durch das Kollektive, das Marx und Durkheim stets gegenwärtig war, negiert Weber durch die Rückführung des Sozialen auf das Individuelle und Interindividuelle. Diese Reduktion bewirkt, dass er im Gegensatz zu Marx das individuelle Handeln in seiner Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung privilegiert (vgl. Abschn. 4) und die Marxsche Vorstellung von der Geschichte als Klassenkampf, als Auseinandersetzung zwischen kollektiven Aktanten, ablehnt. Auf dieser Ebene, der Ebene des Diskurses als Erzählung, stellt sich die Frage, ob die Entscheidung, soziale Entwicklung mit Hilfe individueller - und nicht kollektiver - Aktanten darzustellen, frei von Werturteilen sein kann, zumal sie offensichtlich ein wichtiger Aspekt von Webers kritischer (d.h. wertender) „Antwort auf Marx“ ist. Davon soll ausführlicher im vierten Abschnitt die Rede sein, wo Webers Wiedergabe des Rationalisierungsprozesses zur Sprache kommt. Eine dialogische Rekonstruktion von Webers Antwort auf Marx wäre unvollständig und eindimensional, wenn sie nicht die Schwächen des Marxschen Modells und die ihnen entsprechenden Vorzüge von Webers verstehender Soziologie aufzeigen würde. Da Weber von Kant und dem Neukantianismus ausgeht, hat er ein Gespür für die aktiven Momente des Idealismus, welches in der Erkenntnis gipfelt, dass Ideen auf das soziale und wirtschaftliche Handeln einwirken können und nicht bloß „passiv“ - als ideologische Rechtfertigungen im „Überbau“ - materielle Handlungen und Ereignisse begleiten. Marx selbst erkannte in seinen „Thesen über Feuerbach“ diesen aktiven Aspekt des Idealismus, den er dem „mechanischen Materialismus“ gegenüber betonte: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ 17 Gegen diesen 16 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 197. 17 K. Marx, „Thesen über Feuerbach“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 339-340. <?page no="418"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 402 Satz aus der 3. These über Feuerbach hätte Weber nichts einzuwenden. Allerdings würde er hinzufügen, dass sich Marx - vor allem der ältere Marx - nicht in jeder Hinsicht an diese These hielt und sie in seinen Versuchen, Ideologie und Religion als Begleiterscheinungen der ökonomischen Basis zu verstehen, zumindest teilweise desavouierte. Bei Friedrich Engels und einigen späteren Marxisten (wie Kautsky) setzte sich der ökonomische Determinismus bisweilen durch, so dass Anthony Giddens zu Recht bemerkt, dass Weber durch seine Betonung des „subjektiven Idealismus“ Marx „teilweise gegen dessen eigene Schüler rechtfertigte“. 18 Marx, könnte Weber einwenden, missversteht die Religion, wenn er sie lediglich als „Trost- und Rechtfertigungsgrund“ 19 auffasst und schreibt: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ 20 Webers Antwort könnte lauten: „Der Mensch macht zwar die Religion, aber die Religion macht auch den Menschen.“ In seinem Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/ 5), das hier im Mittelpunkt des fünften Abschnitts stehen wird, zeigt er, wie das protestantische Christentum in seiner puritanischen (calvinistischen, methodistischen) Variante die Gläubigen anspornt, im Rahmen einer innerweltlichen Askese nach Zeichen zu suchen, die darauf hindeuten, dass sie zu den Auserwählten Gottes gehören und nach ihrem Tode gerettet werden. Die meisten dieser Zeichen finden sich im Bereich des beruflichen, materiellen Erfolgs, der im Nordwesten Europas und in den frühen USA des 18. Jahrhunderts zur wichtigsten Triebfeder der kapitalistischen Entwicklung wurde. Hier wird deutlich, dass Weber, der Marxʼ Spätwerk gut kannte, nicht die Absicht hatte, alle diesem Werk zugrunde liegenden Thesen zu widerlegen. Es ging ihm darum, einige von ihnen - auf durchaus dialektische Art - zu ergänzen und zu zeigen, wie Geist und Materie, Idee und soziale Praxis einander wechselseitig bedingen. Von diesem Vorhaben zeugen die folgenden Bemerkungen aus der Protestantischen Ethik: „(…) So kann es dennoch natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ‚materialistischen‘ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich möglich.“ 21 Der letzte Satz wird hier so verstanden, dass die beiden Deutungen einander ergänzen - nicht dass sie unabhängig voneinander nur einseitige Geltung beanspruchen können. Hätte Weber Zeit gehabt, sein Hauptwerk 18 A. Giddens, Capitalism and Modern Social Theory. An Analysis of the Writings of Marx, Durkheim and Max Weber, Cambridge, Univ. Press, 1971, S. 211. 19 K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften, op. cit., S. 208. 20 Ibid., S. 207. 21 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 202. <?page no="419"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 403 Wirtschaft und Gesellschaft (1921), das postum als Sammlung von Textfragmenten erschien, zu überarbeiten, hätte er möglicherweise die Wechselbeziehungen zwischen ideellen und materiellen Faktoren konkreter dargestellt. In den hier rekonstruierten Kontext gehört auch Webers Kritik an Marxʼ Neigung, kulturelle und politische Faktoren aus einer materiellen Basis abzuleiten, die bald wirtschaftlichen, bald technischen Charakter hatte. Zu Marxʼ oft zitierter These, die Handmühle habe den Feudalismus, die Dampfmühle den Kapitalismus hervorgebracht (die freilich metaphorischmetonymisch gemeint war), bemerkt Weber: „Der bekannte marxistische Satz: daß die Handmühle ebenso den Feudalismus postuliere, wie die Dampfmühle den Kapitalismus, ist nur allenfalls in seinem zweiten Teil begrenzt richtig. Auch dafür freilich nur begrenzt: die Dampfmühle fügt sich auch einer staatssozialistischen Struktur der Wirtschaft ohne weiteres ein. In seinem ersten Teil ist er aber gänzlich unrichtig: die Handmühle hat alle überhaupt denkbaren ökonomischen Strukturformen und politischen ‚Überbauten‘ durchlebt.“ 22 Diesen Einwänden liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht genügt, materielle (in diesem Fall technische) Ursachen anzuführen, um wirtschaftliche und politische Organisationsformen zu erklären. Der Feudalismus gründet auch auf religiösen und politischen Überzeugungen und auf rechtlichen Strukturen (etwa dem Lehenwesen); der spezifische Charakter des Sozialismus in seinen zahlreichen Varianten ist nicht aus der „Dampfmühle“ als Industrialisierung ableitbar, die auch zur Grundlage des Kapitalismus gehört: Eher erklärt er sich aus dem „Primat des Politischen“, einem Bestandteil der leninistischen Ideologie. Man könnte diese Argumentation weiter treiben, um zu zeigen, dass gerade der reale Sozialismus (UdSSR, DDR, ČSSR) die Bedeutung des ideellen Faktors im Sinne von Weber illustriert: die Interferenz der Staatsideologie, die sich über wirtschaftliche Faktoren wie die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage hinwegsetzt und schließlich die Planwirtschaft in den Ruin treibt. 23 Im Anschluss an seine Kritik der Marxschen und marxistischen Neigung, Klassenlagen und Klassenbewusstsein aus wirtschaftlichen Verhältnissen abzuleiten, führt Weber einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Klasse und Stand ein. Diese Differenzierung ergänzt seine Aufwertung nichtmaterieller (kultureller, geistiger) Faktoren, die jenseits der materiellen Verhältnisse das Bewusstsein von Individuen bestimmen oder beeinflussen können. 22 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft (Hrsg. E. Hanke), Max Weber Studienausgabe (fortan MWS), Bd. I/ 22-4, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 115. 23 Vgl. O. Šik, Plan und Markt im Sozialismus, Wien, Molden, 1967, S. 42-43. <?page no="420"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 404 Im Gegensatz zur „Klasse“, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess definiert wird, geht der „Stand“ aus einem bestimmten Konsumverhalten und einer besonderen, von diesem Konsumverhalten ermöglichten Lebensführung hervor: „Man könnte also, mit etwas zu starker Vereinfachung, sagen: ‚Klassen‘ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, ‚Stände‘ nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von ‚Lebensführung‘. Auch ein ‚Berufsstand‘ ist ‚Stand‘, d.h. prätendiert mit Erfolg soziale ‚Ehre‘ normalerweise erst kraft der, eventuell durch den Beruf bedingten, spezifischen ‚Lebensführung‘.“ 24 In der englischsprachigen Soziologie verdankt die Statustheorie Webers Unterscheidung von „Klasse“ und „Stand“ („Status“) wesentliche Impulse: „Weber employed status group as an element of social stratification distinct from class (…).“ 25 Wesentlich in dem hier entworfenen Zusammenhang ist Webers Versuch, den Marxschen Materialismus durch eine stärkere Betonung ideeller (kultureller) Faktoren zu korrigieren, die sich im Konsumbereich auf die „Lebensführung“ auswirken, die wiederum den Status von Individuen und Gruppen begründet. Dieser unterscheidet sich grundsätzlich von ihrer Klassenlage. Die Nuancierungen Webers bieten eine Erklärung dafür, dass er Marxʼ Klassenkampfmodell als Aktantenmodell und Grundlage der soziologischen Erzählung nicht akzeptieren konnte. Er wollte die Materie durch die Idee ergänzen, die Produktion durch den Konsum, die Klasse durch den Stand. Diese Nuancierung der Relevanzkriterien und Klassifikationen hielt ihn davon ab, einen teleologisch angelegten Diskurs anzuerkennen, der die „Diktatur des Proletariats“ und anschließend eine „klassenlose Gesellschaft“ verhieß. Zu dieser Art von Diktatur bemerkt Weber mit ungewöhnlicher Weitsicht: „Die ‚Diktatur des Proletariats‘ zum Zwecke der Sozialisierung insbesondere erforderte eben den vom Vertrauen der Massen getragenen ‚Diktator‘.“ 26 Im Hinblick auf diese durchaus realistische Einschätzung ist es nicht verwunderlich, dass der nationalliberale und individualistisch denkende Soziologe von sozialistischen Programmen nichts hielt. In seiner Weber- Biografie fasst Reinhard Bendix die Gründe für Webers Skepsis zusammen: „Denjenigen, die sich von einer künftigen sozialistischen Gesellschaft eine größere gesellschaftliche Umgestaltung versprachen, antwortete Weber, 24 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Gemeinschaften (Hrsg. W. J. Mommsen), MWS, Bd. I/ 22-1, op. cit., S. 86-87. 25 N. Abercrombie, S. Hill, B. S. Turner, The Penguin Dictionary of Sociology, London, Penguin, 2006 (5. Aufl.), S. 380. 26 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie (Hrsg. K. Borchardt, E. Hanke, W. Schluchter), MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 199. <?page no="421"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 405 dass sich in einer zentral geplanten Gesellschaft die bürokratischen Tendenzen noch stärker bemerkbar machen würden.“ 27 Angesichts der Erfahrungen des real existierenden und in Europa gescheiterten Sozialismus kann man Weber in dieser Hinsicht nur Recht geben. 2. Verstehende Soziologie als werturteilsfreies Verstehen individueller Handlungen: Von Hegel und Marx zu Kant Gleich am Anfang des ersten Kapitels seiner „Soziologischen Grundbegriffe“ findet sich Webers Definition der Soziologie als „verstehender Soziologie“: „Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (…) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ 28 Im Gegensatz zu Wilhelm Dilthey, der das „Verstehen“ den Geisteswissenschaften, das „Erklären“ den Naturwissenschaften vorbehielt 29 , versucht Weber, in dieser Passage „Verstehen“ und „ursächliches Erklären“ miteinander zu verknüpfen. Der Vollständigkeit halber soll dieser Definition noch Webers Hinweis hinzugefügt werden, dass seine „verstehende Soziologie“ es ausschließlich mit Individuen („Einzelpersonen“) zu tun hat: „Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.“ 30 Der letzte Satz dieser ausführlichen Begriffsbestimmung der Soziologie kündigt zugleich eine klare Abgrenzung dem hegelianisch-marxistischen Denken gegenüber an, das individuelles Handeln überindividuellen Aktan ten wie Nationen oder Klassen unterordnet. Denn es heißt ergänzend in Webers „Soziologischen Grundbegriffen“ („Methodische Grundlagen“): „Und jedenfalls gibt es für sie [die Soziologie] keine ‚handelnde‘ Kollektivpersönlichkeit.“ 31 27 R. Bendix, Max Weber. An Intellectual Portrait, London, Methuen (1959), 1966, S. 458- 459. 28 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 1. 29 Vgl. W. Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart, Teubner, 1968, S. 317-319. 30 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 8. 31 Ibid., S. 9. <?page no="422"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 406 Der Frage, wie individuelles Handeln unabhängig von kollektiven Aktanten wie Institutionen, Parteien, Gewerkschaften, denen Individuen als Akteure (Greimas, Courtés) 32 angehören, verstanden und erklärt werden kann, soll nicht hier, sondern im vierten Abschnitt nachgegangen werden. Vorerst mag der Hinweis genügen, dass Weber - ganz im Sinne der Kantschen Philosophie - das Individuum vom Kollektiv trennt, dessen Handlungsfähigkeit er leugnet. 33 Dieser Trennung von Individuum und Kollektiv (als Klasse, Bewegung oder Organisation) entspricht die Trennung von „Welterkenntnis und Weltgestaltung“, wie Wolfgang Schluchter sagt: d.h. die kantianische Trennung von „Sein“ und „Sollen“. 34 Auf sie beruft sich der Neukantianer Heinrich Rickert, der sich bemüht, „die wissenschaftliche Philosophie und die Weltanschauung auseinanderzuhalten“. 35 Dabei lässt er Kant, der den „Weltbegriff“ der Philosophie von ihrem „Schulbegriff“ trennte, als seinen Bürgen auftreten: „Der ‚Schulbegriff‘ aber beschränkte sich nach ihm auf die Wissenschaft.“ 36 Auch Weber folgt diesem „Schulbegriff“ der Kantschen und kantianischen Philosophie, indem er versucht, die werturteilsfreie soziologische Wissenschaft von allen Weltanschauungen und ihrem Engagement zu trennen und sie auf empirisch nachprüfbare Erkenntnis zu beschränken. Dies bedeutet im Zusammenhang mit Webers Definition der verstehenden Soziologie, dass das verstehende Nachvollziehen und Erklären individueller Handlungen Werturteile grundsätzlich ausschließen soll. Da eingangs bereits angedeutet wurde, dass hier Webers Anliegen, Werturteile und sozialwissenschaftliche Darstellungen auseinanderzuhalten, um soziologisches Verstehen und Erklären zu ermöglichen, für sinnvoll gehalten wird, sollen im Folgenden Möglichkeiten und Grenzen der Werturteilsfreiheit näher betrachtet werden. Es wird sich zeigen, dass man im Zu- 32 Vgl. A. J. Greimas, „Les actants, les acteurs et les figures“, in: ders., Du Sens II. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1983, S. 49-66. Vgl. Auch : A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 4 : „(…) l’actant sera dit soit individuel, duel ou collectif“. („Der Aktant wird als individuell, doppelt oder kollektiv aufgefasst.“) Ein doppelter Aktant ist beispielsweise Simmels „Dyade“ (z.B. ein Ehepaar, das als Käufer oder Erzieher Rechtsperson sein kann), ein kollektiver Aktant ist z.B. eine politische Partei oder eine Gewerkschaft (stets als Rechtsperson denkbar). 33 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 9. 34 Vgl. G. Eisermann, Max Weber und Vilfredo Pareto. Dialog und Konfrontation, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1989, S. 45: „Entscheidend wurde indes für Max Weber vielmehr die im Anschluß an Kant von Windelband und Rickert entwickelte grundlegende Differenz von Seins- und Werturteilen (…).“ 35 H. Rickert, „Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung“, in: ders., Philosophische Aufsätze (Hrsg. R. A. Bast), Tübingen, Mohr-Siebeck, 1999, S. 332. 36 Ibid. <?page no="423"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 407 sammenhang mit der Weberschen Wertfreiheit wiederholen könnte, was Jacques Derrida zur Übersetzung sagte: sie sei zugleich notwendig und unmöglich. 37 Um den Problembereich wertfreien Verstehens genauer abzustecken, ist es sinnvoll, wie Weber bei elementaren Handlungen anzusetzen. „Handeln“, dem in Übereinstimmung mit Webers Definition ein subjektiver Sinn innewohnt, ist täglich zu beobachten: Jemand öffnet einen Schirm, weil es anfängt zu regnen; jemand putzt die Fenster oder mäht den Rasen. In allen diesen Fällen ist der subjektive Sinn durch Alltagsdenken und Wissenschaft nachvollziehbar. Wir haben es jedoch nicht mit „sozialem Handeln“ zu tun, das in Webers Definition „auf das Verhalten anderer“ bezogen ist. In seinem Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ führt Weber als Beispiel den Zusammenstoß zweier Radfahrer an. Ein ungewollter Unfall dieser Art kann nicht als soziales Handeln oder „Gemeinschaftshandeln“ verstanden werden, denn er gleicht einem Naturereignis. Die Lage ändert sich, sobald sinnhafte, intentionale Handlungen im Spiel sind, d.h. „ihre [der Radfahrer] etwaigen vorherigen Versuche einander auszuweichen, oder, nach einem Zusammenstoß, ihre etwaige ‚Prügelei‘ oder ‚Verhandlung‘ über gütlichen ‚Ausgleich‘“. 38 Es fällt nicht schwer, solches Handeln wertfrei nachzuvollziehen und „ursächlich zu erklären“: Die „Prügelei“ oder „Verhandlung“ kann verstehend nachvollzogen und ursächlich aus dem Zusammenstoß erklärt werden. Wenn es wegen des Unfalls zu einem Gerichtsverfahren kommt, will auch das Gericht möglichst werturteilsfrei ermitteln, wie es zu der „Prügelei“ kam: ob sie zufallsbedingt war oder ob die beiden Personen einander etwa kannten und in ihrem Handeln aufgestauten Animositäten und Rachegefühlen folgten. Hier geht es tatsächlich um „ein Schließen von äußeren Merkmalen des Handelnden und seiner Situation auf die Absicht oder den Sinn der Handlung“ 39 , wie Clausjohann Lindner sagt. Nun sind Unfälle dieser Art für die Soziologie weder besonders interessant noch methodologisch ergiebig. Deshalb soll hier das Wertfreiheitspostulat an einer etwas komplexeren Erscheinung überprüft werden: an einer Jugendgruppe (peer group), die nach der Niederlage „ihres“ Fußballvereins, mit dem sie sich identifiziert, gewalttätig wird und (beispielsweise) 37 Vgl. J. Derrida, „Des Tours de Babel“, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris, Galilée, 1987, S. 207. Ausgehend von einer eigenwilligen Deutung des Alten Testaments, behauptet Derrida von Gott : „Er befiehlt und verbietet gleichzeitig die Übersetzung.“ 38 M. Weber, „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (Hrsg. J. Winckelmann), Tübingen, Mohr-Siebeck, 1988 (7. Aufl.), S. 441. 39 C. Lindner, „Max Webers handlungstheoretisches Programm für die Soziologie“, in: J. Weiß (Hrsg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 361. <?page no="424"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 408 den Schiedsrichter angreift oder sein Auto anzündet, weil sie ihm eine ungerechte Entscheidung vorwirft, die zu der Niederlage führte. Tatsächlich kann es als die Aufgabe einer Gruppen- und Jugendsoziologie angesehen werden, das Verhalten der Gruppe oder ihrer einzelnen Mitglieder möglichst „wertfrei zu verstehen“ und „ursächlich zu erklären“. Eine Bewertung oder Verurteilung des Gruppenverhaltens (aber würde Weber nicht schon das Wort „Gruppenverhalten“ als Ideologem beanstanden? ) kann nicht das Anliegen dieser Soziologie sein. 40 Sie will lediglich versuchen, die Wertungen der Jugendlichen - ihren Sinn für Gerechtigkeit im Sport, ihre Bewunderung des Fußballvereins und ihren jähen Hass auf den Schiedsrichter - verstehend nachzuvollziehen und zu erklären. Das Kernargument Webers und der „Weberianer“ (etwa Hans Alberts) 41 , dass es möglich sei, wertfrei über Werte (der Jugendgruppe) zu sprechen, kann hier Gültigkeit beanspruchen, zumal das Selbstverständnis der Jugendgruppe und das soziologische Fremdverstehen dieser Gruppe einander nicht grundsätzlich widersprechen: Beide Verstehensarten gehen davon aus, dass sich die Jugendlichen mit dem Fußballverein identifizieren, dass sie die Entscheidung des Schiedsrichters als ungerecht empfanden und ihn deshalb bestrafen wollten. In diesem Kontext kann man - Weber folgend - Wertinterpretation 42 und Wertung unterscheiden und feststellen, dass es möglich ist, sich verstehend und erklärend auf Werte zu beziehen, ohne diese Werte kritisch zu beurteilen. Die Möglichkeit einer „deskriptiven Analyse wertenden Verhaltens“ 43 , wie Hans Albert es ausdrückt, ist sicherlich gegeben. Man könnte auch von einer „rationale[n] Rekonstruktion und Einordnung subjektiver Sinnkonstruktionen“ 44 sprechen. Diese Art von Rekonstruktion hat aber Grenzen, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Da es hier auch um die Wechselbeziehung von Selbstverstehen und Fremdverstehen geht, soll nun ein Beispiel aus Webers Protestantischer 40 In dieser Hinsicht kann man Manfred Hennen Recht geben, der erklärt: „Das Postulat der Wertfreiheit bietet insofern allemal eine Garantie dafür, daß die Rationalität der Erkenntnis sich nicht in der Enge einer Ethoswissenschaft verliert.“ (M. Hennen, Krise der Rationalität - Dilemma der Soziologie, Stuttgart, Enke, 1976, S. 42.) 41 Vgl. H. Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart, Reclam (1977), 1984, S. 75. Zu den Aussagen der Sozialwissenschaften bemerkt H. Albert: „Sie können die Wertungen der analysierten Individuen und Gruppen beschreiben, erklären und voraussagen, ohne selbst Wertgehalt zu haben.“ Diesem Verzicht auf Wertung sind jedoch Grenzen gesetzt. 42 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 277. 43 H. Albert, „Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität“, in: H. Albert, E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1979, S. 207. 44 W. Bonß et al., Handlungstheorie. Eine Einführung, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 69. <?page no="425"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 409 Ethik angeführt werden, das die Übereinstimmung zwischen Webers soziologischem Verständnis des Protestantismus und dem Selbstverständnis protestantischer Gruppen veranschaulicht. Weber versucht, seine Thesen über die protestantische Lebensführung plausibel zu machen, indem er die von ihm untersuchten Subjekte („Kreise“) selbst indirekt zu Wort kommen lässt: „Dem, was ich darüber sagte, daß mir aus der Mitte jener Kreise selbst heraus - und zwar nicht nur von einer Seite, - direkt versichert wurde: sie verständen die spezifische Eigenart ihrer eigenen Traditionen aus diesen Antezedenzien erst jetzt vollständig.“ 45 Kurzum, diese Protestanten verstanden ihre eigene Weltanschauung besser, nachdem sie Webers Ansatz (seine Interpretation ihrer Werte) kennen gelernt hatten. Man könnte hier von einer diskursiven Wahlverwandtschaft sprechen: Selbstverständnis und soziologisches Fremdverstehen konvergieren zumindest tendenziell, so dass Kritik und Wertung nicht wirksam werden. Die gesellschaftliche und sprachliche Situation ändert sich jedoch grundlegend, wenn Selbstverständnis und wissenschaftliches Fremdverstehen ideologisch weit auseinandertreten. Zur Verdeutlichung soll die Auseinandersetzung zwischen einer Gewerkschaft und der Regierung angeführt werden. Man kann dabei an die vom Gewerkschaftsführer Scargill angeführten Bergarbeiterstreiks in Margaret Thatchers Großbritannien denken. Wie soll man sie verstehen: als vorwiegend wirtschaftlich und sozial motivierte Handlungen im Interesse der Bergarbeiter oder als politische Handlungen, die sich gegen die konservative Regierung richteten? Selbst wenn man, nach Wertfreiheit strebend, beide Deutungen zunächst gelten lässt, wird man sie in einer genaueren Analyse gewichten wollen. Und eine „Gewichtung ohne Wertung“ ist nicht möglich: Schon dieser Ausdruck enthält einen Widerspruch. Jedenfalls wurden die britischen Bergarbeiterstreiks der 1980er Jahre sowohl von Journalisten als auch von Sozialwissenschaftlern sehr unterschiedlich gedeutet und bewertet. Weber unterscheidet nicht zwischen alltäglichem Selbstverständnis der Akteure und wissenschaftlichem Fremdverstehen. Diese Lücke fiel schon seinem Schüler Alfred Schütz auf, der keineswegs versucht, ihn pauschal zu widerlegen: „Weber macht (…) zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied.“ 46 Er fügt hinzu, und er fasst eine der Grundthesen seines Buches Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932) zusammen: „Denn es handelt sich (…) um den wesensmäßigen Unterschied insbesondere zwischen der Selbstinterpretation der Erlebnisse durch das 45 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 350-351. 46 A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932), Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 15. <?page no="426"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 410 eigene Ich und der Interpretation fremder Erlebnisse durch das deutende alter ego.“ 47 Dieser Unterschied macht sich vor allem dann bemerkbar, wenn es in der Geschichts- oder Politikwissenschaft darum geht, etwa das Handeln und die Entwicklung der SED oder der KPdSU in der DDR bzw. der Sowjetunion verstehend nachzuvollziehen und „ursächlich zu erklären“. Freilich kann man jederzeit das Selbstverständnis beider Parteien und ihrer Führungen wertfrei wiedergeben. In diesem Fall verzichtet man auf eigene Wertung (auf Kritik oder wissenschaftliche Erklärung) und macht sich stillschweigend die Positionen, Erklärungen und Wertungen der Machthaber zu eigen. Der Versuch, auf Kritik und Werturteil zu verzichten, stößt spätestens dann an seine Grenze, wenn es um die „ursächliche Erklärung“ - etwa des Demokratiebegriffs der SED - geht, oder des Sowjetbegriffs in der Sowjetunion, in der schon in der Frühphase (nach der gescheiterten Revolte der Kronstädter Arbeiter und Matrosen) 48 die Sowjets (Räte: sovjet = Ratschlag, Rat, Beirat) der Parteidisziplin unterworfen wurden. Hier spielt im theoretisch-wissenschaftlichen Bereich die wertende Gewichtung, die die Relevanzkriterien und Selektionen des Diskurses begründet, eine entscheidende Rolle. Sie wird bei einer Feministin oder einem Marxisten ganz anders beschaffen sein als bei einem Liberalen wie Weber oder einem Eliten- Theoretiker wie Pareto. Aber schon im Falle der Jugendgruppe ist Wertfreiheit nur unter der Bedingung möglich, dass man auf einen bestimmten Sprachgebrauch, der durchaus zur Erklärung des Gruppenverhaltens beitragen könnte, verzichtet: etwa auf die Hypothese, dass sich die Jugendlichen als Kollektiv narzisstisch mit „ihrem“ Fußballverein identifizieren. Vertreter der empirischen (Sozial-)Psychologie, die die Psychoanalyse als unwissenschaftlich ablehnen, würden den freudianischen Narzissmusbegriff nicht als wertfreien Begriff akzeptieren - Weber selbst möglicherweise auch nicht. Jedenfalls wäre ihm die Auffassung der Jugendgruppe als eines Kollektivsubjekts, das sich mit „seinem“ Fußballklub als „Ichideal“ (Freud) narzisstisch identifiziert, nicht geheuer. (Kann es überhaupt eine Gruppensoziologie im Weberschen Sinne geben? ) Hier zeigt sich, dass Sprache nicht frei ist von ideologischen Wertungen, die aus wissenschaftlichen Gruppensprachen (Marxismus, Semiotik, Psychoanalyse) stammen. Zugleich werden die Grenzen der Wertfreiheit im Sinne von Weber sichtbar. Sie können auf den folgenden Ebenen gezogen werden: 1. Eine Diskrepanz zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen 47 Ibid., S. 16. 48 Vgl. G. Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1967, S. 67-73: „Die Kronstädter Kommune“. <?page no="427"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 411 beinhaltet oft Kritik und kann zu divergierenden Einschätzungen und Bewertungen sozialen Handelns im sozialwissenschaftlichen Bereich führen. 2. In diesem Bereich ist es schwierig, einen neutralen, wertfreien Sprach gebrauch jenseits der Ideologien zu finden. Als Beispiel kann der psychoanalytische Begriff Narzissmus dienen - aber auch Marx von Pareto heftig attackierter Mehrwertbegriff sowie Pierre Bourdieus Feldbegriff, der metonymisch die gesamte Soziologie Bourdieus umfasst und in anderen Soziologien als kritischer Wertbegriff nicht akzeptiert wird. 3. Auf sprachlicher Ebene gilt zugleich: Je kleiner eine diskursive Einheit ist - etwa ein Satz wie „Jugendgruppen neigen zu spontanem Handeln“, - desto größer sind die Chancen, dass sie in verschiedenen Wissenschaftlergruppen als neutral oder wertfrei akzeptiert wird; je komplexer ein sozialwissenschaftlicher Dis kurs wird, etwa ein Diskurs über die Rolle der SED in der Entwicklung der DDR oder der Sowjets (als „Räte“) in der UdSSR, desto schwieriger wird es (schon im Relevanzbereich), ihn von Werturteil und Kritik frei zu halten. Dies wird hier im vierten Abschnitt im Zusammenhang mit Webers Rationalisierungstheorie verdeutlicht. 4. Schließlich kommt hinzu, dass Soziologie zwar eine eher beschreibende als eine bewertende Funktion hat oder haben sollte, jedoch nicht auf Kritik verzichten kann, wie die Theorien von Durkheim, Tönnies und Simmel zeigen. Die Soziologie kann nicht Pathologien im Sinne von Durkheim oder Tönnies beschreiben, ohne über eine - stets wertende - Verbesserung der Zustände nachzusinnen (wie Stärkung der Solidarität, der Gemeinschaft bei Durkheim und Tönnies). Auch Webers Soziologie lässt Probleme erkennen, die im Zuge der Rationalisierung entstehen (vgl. Abschn. 4). Von einer Wissenschaft, die Probleme aufzeigt und analysiert, wird auch erwartet, dass sie stets wertende Lösungsvorschläge macht (wie die Wirtschaftswissenschaft, die Psychologie oder die Medizin). Bei Weber bleiben diese Vorschläge zwar oft implizit, aber sie sind durchaus vorhanden - und als Bestandteile einer komplexen Erzählung keineswegs wertfrei. In diesem zugleich sprachlichen und gesellschaftlichen Kontext ist es nun möglich, Webers These zu betrachten, der zufolge „Wertideen“ und Werturteile nur bei der Wahl eines wissenschaftlichen Gegenstandes als Wertbeziehung eine Rolle spielen, nicht jedoch in seiner Analyse. „Mit anderen Worten: was Gegenstand der Untersuchung wird (…), das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen (…).“ 49 Soweit also die Wertbeziehung, die das wertende Interesse des Forschers 49 M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, in: Soziologie. Uni versalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S., 227. <?page no="428"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 412 bezeichnet, „welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht“. 50 Das Wie der Untersuchung, die Art, wie der Gegenstand begrifflich untersucht wird, soll frei von Wertungen sein: „(…) Im Wie? , in der Methode der Forschung, ist der leitende ‚Gesichtspunkt‘ zwar für die Bedeutung der begrifflichen Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in der Art ihrer Verwendung aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.“ 51 Dazu ist in dem hier konstruierten Kontext Folgendes zu sagen: Weber trennt nach kantianischem Brauch das Was vom Wie, indem er annimmt, dass sich der Forscher einen Gegenstand aussucht, der ihn interessiert. Der Gegenstand wird jedoch nicht in Übereinstimmung mit rein individuellen Interessen als fertiger Gegenstand ausgesucht, sondern stets konstruiert, und zwar im Rahmen eines Soziolekts (einer Gruppensprache: etwa der des Liberalismus) und eines aus ihm hervorgehenden Diskurses. Dieser gründet auf wertenden Relevanzkriterien und erzählt die soziale Wirklichkeit auf eine besondere Art, die von den einen akzeptiert wird und von den anderen nicht. 52 Wenn sich jemand den Gegenstand „Kollektivbewusstsein“ oder „postmoderne Soziologie“ aussucht, so nimmt er eine Konstruktion in Kauf, die alles andere als wertfrei und konsensfähig, sondern aus sprachlichen Gründen heftig umstritten ist. Möglicherweise wird er diese Konstruktion umgestalten und mit seiner Umgestaltung auf - stets wertenden, interpretierenden - Widerspruch stoßen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts über Jugendgruppen wird jemand vorschlagen, den kollektiven Narzissmus dieser Gruppen, die sich mit einem Ichideal (Freud, Lacan) wie Nation, Fußballverein oder politische Partei identifizieren, zu untersuchen, und auf Ablehnung stoßen: weil die Begriffe „Narzissmus“ und „Ichideal“ aus „wissenschaftlichen“, in Wirklichkeit auch aus ideologischen Gründen, nicht akzeptiert werden. Das Problem besteht darin, dass es die wissenschaftliche Wahrheit, die Weber als homogene Einheit vorschwebt, nicht einmal, sondern vielfach 50 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 277. 51 M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik., op. cit., S. 227. 52 Johannes Weiß erklärt: „Um überhaupt ein Objekt seiner Untersuchungen zu besitzen, muß der Forscher die Wirklichkeit aus der Perspektive bestimmter Werte aufgefaßt haben.“ (J. Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München, Verlag Dokumentation, 1975, S. 34.) Dieses „Auffassen“ ist jedoch ein Konstruieren, in das ab einer bestimmten Komplexität des Gegenstandes Ideologeme als Werturteile eingehen. <?page no="429"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 413 gibt, weil etwa Durkheim und Weber einander ignorierten 53 und sicherlich nicht von „unserem Denken“ (s.o.) sprechen könnten - ebenso wenig wie Weber und Marx. Diesem Umstand will die dialogische Betrachtungsweise Rechnung tragen. Sie will daher auch die Wahrheitsmomente in Webers Diskurs hervortreten lassen: etwa die Möglichkeit, Werturteile kritisch zu reflektieren und ihre Rolle im wissenschaftlichen Diskurs so weit zu begrenzen, dass Tatsachen, die in der Wissenschaftlergemeinschaft konsensfähig sind, sichtbar bleiben und als Grundlage eines offenen Dialogs dienen können. Deshalb wurde hier nach den Möglichkeiten und Grenzen des Wertfreiheitspostulats gefragt. Seine Möglichkeiten (und Grenzen) sollen auch im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit Webers Begriff Idealtypus erörtert werden. 3. Idealtypen als Konstruktionen und Verständnishilfen: Handlungstypen und Herrschaftstypen Der Idealtypus ist eine begriffliche Hilfskonstruktion, die dadurch zustande kommt, dass bei einer sozialen Erscheinung wie der „protestantischen Wirtschaftsethik“ durch systematisches Abstrahieren von nebensächlichen und zufallsbedingten Faktoren das Wesentliche dieser Erscheinung so scharf wie möglich umrissen wird. Dieses systematische Abstrahieren von der mannigfaltigen, auch widersprüchlichen Wirklichkeit kann durch ein vergleichendes Verfahren unterstützt werden, in dessen Verlauf verschiedene Varianten der „protestantischen Wirtschaftsethik“ aufeinander bezogen werden, bis sich das Wesentliche, der ihnen gemeinsame Kern, herauskristallisiert. Je genauer und klarer die Definition des Idealtypus ist, desto ergiebiger wird seine Anwendung sein, weil er den gemeinsamen Nenner von Erscheinungen erfasst, die der flüchtige Blick als heterogen wahrnimmt. So könnte der gemeinsame Nenner der verschiedenen real existierenden Varianten der protestantischen Wirtschaftsethik als „Streben nach Heilsgewissheit durch innerweltliche, auf beruflichen Erfolg ausgerichtete Askese“ definiert werden. Weber unterscheidet den Idealtypus vom Durchschnitt und bezieht sich dabei auf die „Stadtwirtschaft des Mittelalters“: „Tut man dies, so bildet man den Begriff ‚Stadtwirtschaft‘ nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschafts- 53 Vgl. E. A. Tiryakian, „Ein Problem für die Wissenssoziologie: Die gegenseitige Nichtbeachtung von Emile Durkheim und Max Weber“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1981. <?page no="430"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 414 prinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus. Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandener Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“ 54 Das Wort „Gedankenbild“ deutet bereits darauf hin, dass es Idealtypen in der Wirklichkeit nicht gibt. Sie sind begriffliche Konstruktionen, die ein besseres Verstehen von Handlungen, Institutionen oder Herrschaftstypen ermöglichen sollen: und zwar durch die Annäherung real existierender sozialer Erscheinungen an theoretische „Modelle“, denen sie mehr oder weniger entsprechen. Dazu bemerkt Uta Gerhardt: „Der idealtypische Begriff wurde gebildet, so Weber, um bei den zu erklärenden Sachverhalten festzustellen, ob sie dem verursachenden Phänomen, dem sie zugerechnet werden sollten, vollständig, partiell oder gar nicht entsprachen.“ 55 Nahezu vollständig entspricht dem Idealtypus der „protestantischen Wirtschaftsethik“ das Denken und Handeln derer, von denen Weber sagt, sie hätten erst vor dem Hintergrund seiner Lehre ihre eigene Stellung in der Welt vollkommen verstanden (s.o.). Um Missverständnisse zu vermeiden, soll betont werden, dass in Webers Begriff des Idealtypus das Wort „Ideal“ nicht wie in der Umgangssprache etwas Erstrebenswertes bedeutet, sondern als werturteilsfreie Orientierungshilfe gedacht ist: „Der I[dealtyp] ist von dem Gedanken des Seinsollenden, des Vorbildlichen fernzuhalten.“ 56 Tatsächlich ist der Idealtypus mit dem geographischen Typ der „mediterranen Vegetation“ zu vergleichen, zu dessen wesentlichen Elementen der Olivenbaum gehört. Im Folgenden wird sich allerdings zeigen, dass die Frage nach dem „Wesentlichen“ in den Sozialwissenschaften nicht immer wertfrei zu beantworten ist, weil Definitionen und Klassifikationen in diesem Bereich von wertenden Relevanzkriterien und Selektionen abhängig sind. Dennoch kann behauptet werden, dass es Weber gelungen ist, Handlungstypen idealtypisch zu bestimmen, ohne in seine Definitionen Wertungen einfließen zu lassen. Er unterscheidet vier Handlungstypen: 1. traditionales Handeln, 2. wertrationales Handeln, 3. affektuelles Handeln und 4. zweckrationales Handeln. Auch diese Idealtypen kommen in ihren reinen Formen in der so- 54 M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 235. 55 U. Gerhardt, Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 235. 56 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 353. <?page no="431"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 415 zialen Wirklichkeit selten vor und koexistieren - oft als Mischformen - in fast jeder älteren und modernen Gesellschaft. Allerdings geht aus Webers Untersuchungen hervor, dass der traditionale Typus für vormoderne (z.B. feudale) Gesellschaften charakteristisch ist, während der zweckrationale Typus die Moderne prägt und zur Triebfeder des Rationalisierungsprozesses (vgl. Abschn. 4) wird. Das traditionale Handeln orientiert sich an tradierten Gewohnheiten und Bräuchen, über deren Ursprung und Daseinsberechtigung selten nachgedacht wird. Im europäischen Mittelalter waren diese Bräuche vorwiegend religiösen, manchmal auch heidnischen Ursprungs. Noch heute kauft man den Weihnachtsbaum, den vor etwas mehr als hundert Jahren die katholische Kirche als „heidnische Sitte“ verurteilt hat, ohne sich über seine Legitimität oder Sinnhaftigkeit den Kopf zu zerbrechen. Weber definiert „traditionales Handeln“ wie folgt: „(…) Es ist sehr oft nur ein dumpfes in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize.“ 57 Man könnte hinzufügen, dass es oft den Alltag beherrscht und uns das Leben erleichtert, weil wir nicht über jede einzelne Handlung nachdenken müssen. Das wertrationale Handeln ist zwar wie das traditionale an überlieferte Werte gebunden, unterscheidet sich aber von dem „dumpfen Reagieren“ durch das Nachdenken über die für den Handelnden oder die Handelnden verbindlichen Wertsetzungen. Jemand unterstützt eine Bewegung, politische Partei oder Vereinigung, weil er von den Wertsetzungen dieser Organisationen überzeugt ist. Webers eigene Definition lautet: „Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung (…).“ 58 Wertrational handelt z.B. der Künstler, der an seinem Stil festhält, obwohl er mit ihm beim Publikum keinerlei Erfolg (mehr) hat. Auch affektuelles Handeln ist nicht erfolgsorientiert oder auf einen eindeutig bestimmten Zweck gerichtet, sondern folgt jäh aufkommenden Emotionen oder Affekten, durch die der Handelnde auch in prekäre Situationen geraten kann: etwa wenn er in einem Wutausbruch etwas zerstört oder jemanden verletzt. Weber selbst sieht es so: „Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe (…) befriedigt.“ 59 Dem affektuellen Handeln fehlt in vielen Fällen eine klare Zielsetzung: Sowohl „aktueller Genuss“ als auch „aktuelle Hingabe“ können unvorhergesehene fatale Folgen haben. Eine Ausnahme bildet freilich die Rache, weil Rächer zumeist die Demütigung oder gar Vernichtung des 57 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 17. 58 Ibid. 59 Ibid. <?page no="432"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 416 wirklichen oder imaginären Feindes anstreben und in ihrer Planung durchaus zielstrebig („zweckrational“) sein können. In jeder Hinsicht zielstrebig ist jemand, der zweckrational handelt. Sein Handeln ist auf einen eindeutig bestimmbaren Zweck ausgerichtet, der durch den kalkulierten Einsatz geeigneter Mittel erreicht wird. Eine ausführliche Definition findet sich wieder in Webers Wirtschaft und Gesellschaft: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (…) noch traditional handelt.“ 60 Der Gegensatz zum traditionalen Handeln ist hier entscheidend, weil Weber in seiner Rationalisierungstheorie zeigt, wie sich das zweckrationale Handeln den anderen Handlungstypen, vor allem aber dem traditionalen Handeln gegenüber, durchsetzt. Insofern entspricht seine Einschätzung der sozialen Entwicklung den Beobachtungen eines Soziologen wie Tönnies, dessen Werk er kannte. In ihm wird die Entwicklung von einer auf Traditionen gründenden Gemeinschaft zu einer durchrationalisierten neuzeitlichen Gesellschaft nachgezeichnet (vgl. Kap. X). Die Verbindung zwischen Handlungstypen und Herrschaftstypen kommt bei Weber abermals auf der Handlungsebene zustande, weil Handlungen von Akteuren auf die Legitimität von Herrschaftsordnungen ausgerichtet sind: Sie können einer Autorität folgen, weil sie bestimmte Traditionen verkörpert, weil sie bestimmte Wertsetzungen wie nationale Unabhängigkeit, Freiheit oder Demokratie vertritt oder weil sie mit außergewöhnlichen („charismatischen“) Eigenschaften oder Fähigkeiten ausgestattet ist. Allgemein gilt, dass Legitimität bedeuten soll: „Rechtfertigung, Anerkennung einer Herrschaft durch die Beherrschten im Hinblick auf Herkunft, Bestellung, Ablösung, Inhalt und Aufgabe.“ 61 Weber unterscheidet insgesamt drei Herrschaftstypen als Idealtypen: 1. traditionale Herrschaft, 2. charismatische Herrschaft und 3. legale Herrschaft. In allen drei Fällen geht es um die Frage, wie sich Herrschaft aufgrund ihrer Anerkennung durch die Mehrheit der Handelnden erhält. Herrschaft allgemein wird von Weber definiert als „Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden“. 62 Im Unterschied zur Macht, die nach Weber darin besteht, dass jemand in der Lage ist, anderen seinen Willen aufzuzwingen, setzt Herrschaft Legitimität voraus, also eine Situation, in der „die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschafts- 60 Ibid. 61 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, op. cit., S. 492. 62 M. Weber, „Die drei Typen der legitimen Herrschaft“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 151. <?page no="433"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 417 beziehung als für sich ‚verbindlich‘ auch subjektiv ansehen“. 63 Im Prinzip, erläutert Weber den Sachverhalt, könnte Herrschaft auf reiner Zuneigung, auf zweckrationalem Kalkül (Vorteil für die Beherrschten) oder auf traditionsvermittelter Gewohnheit gründen. In diesen Fällen wäre sie jedoch labil geschichtet, etwa weil Zuneigung nachlässt oder das Kalkül zu neuen Ergebnissen führt. Für eine stabile, dauerhafte Herrschaft ist Legitimität als Anerkennung durch die Beherrschten unerlässlich. Im Falle der traditionalen Herrschaft gründet Legitimität auf überlieferter Autorität, die in religiös geprägten Gesellschaften auch die Aura des Heiligen annehmen kann. Zum Stichwort „traditionale Herrschaft“ bemerkt Weber in Wirtschaft und Gesellschaft: „Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (‚von jeher bestehender‘) Ordnungen und Herrengewalten.“ 64 Traditionale Herrschaft wird in den meisten Fällen durch eine Person verkörpert, die als Repräsentantin der Tradition auftritt. Als Beispiel könnte der zeitgenössische tibetanische Dalai Lama angeführt werden, der religiöse und weltliche Traditionen in sich vereinigt. Seine Legitimität leitet sich einerseits aus religiösen Traditionen ab, andererseits aus seinem weltlichen Prestige und seinem aktuellen politischen Auftreten. Der Prestigebegriff weist bereits auf einen anderen Herrschaftstypus in Webers Werk hin: auf die charismatische Herrschaft. Diese ist (nach Weber) zuerst von Rudolph Sohm „in seinem Kirchenrecht für die altchristliche Gemeinde“ 65 beschrieben worden. Ihr religiös-theologischer Ursprung (gr. chárisma = Gabe, Talent) wird von verschiedenen Ausdrücken in Webers Definition („Prophet“, „gottgesendet“) konnotiert: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ 66 Webers erweiterte Definition der charismatischen Persönlichkeit kann durchaus als wertfrei betrachtet werden, weil Weber nicht bestimmte Personen aufgrund bestimmter Eigenschaften für „charismatisch“ hält, sondern ausschließlich darauf achtet, wie ein charismatischer Führer „tat- 63 M. Weber, „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 470. 64 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 161. 65 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft, MWS, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 222. 66 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 173. <?page no="434"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 418 sächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern‘, bewertet wird“. 67 Hier wird deutlich, was Wolfgang Schluchter in seinem Kommentar zu Wirtschaft und Gesellschaft meint, wenn er schreibt: „Herrschaft ist die Eigenschaft einer sozialen Beziehung, nicht einer Person.“ 68 Zugleich zeichnet sich - wie im Zusammenhang mit der Jugendgruppe - die Möglichkeit der Soziologie ab, verstehend das Verhalten der Anhänger nachzuvollziehen und zu erklären, ohne es zu bewerten. Es wird auch klar, dass „Wertinterpretation“ nicht „Bewertung“ mit sich bringen muss, soweit sie ein Nachvollziehen des von den Handelnden intendierten Sinnes ist. Denn charismatische Persönlichkeiten trifft man sowohl in religiösen Gemeinden als auch in Gangsterbanden, sowohl im Faschismus (Mussolini) als auch in der frühen Sowjetunion (Lenin) an. In diesem Punkt nähert sich Weber Simmels Formensoziologie an, in der Begriffe wie „Unterordnung“ und „Überordnung“ (in der Kirche, beim Militär, in der Prostitution) ohne Wertung verwendet wurden. Im nächsten Abschnitt wird sich jedoch zeigen, dass der Charisma-Begriff seine Wertfreiheit verliert, sobald er in einen Diskurs als Erzählung eingefügt wird. Das Wertfreiheitspostulat wird auch dann problematisch, wenn der Begriff „Idealtypus“ auf größere (historische) Einheiten ausgedehnt wird, die als Begriffe - „Kapitalismus“, „Demokratie“, „Sozialismus“ - ideologisch umstritten sind. Hier kehrt das Problem wieder, das weiter oben im Zusammenhang mit den Anwendungsmöglichkeiten des Wertfreiheitspostulats kommentiert wurde: Je komplexer die Objekte, die der Diskurs erfassen, konstruieren will, desto wahrscheinlicher ist das Eindringen von Werturteilen als Ideologemen sowohl auf lexikalischer als auch auf semantischer und narrativer Ebene. Weber meint tatsächlich, „Kapitalismus“ wertfrei als Idealtypus erfassen zu können: „Sowohl der Begriff: ‚Kapitalismus‘ wie, erst recht, der andere: ‚Geist des Kapitalismus‘ sind nur als ‚idealtypische‘ Denkgebilde konstruierbar.“ 69 Der „Geist des Kapitalismus“ im Sinne von Weber könnte, wie sich gezeigt hat, auf diese Art konstruiert werden, zumal wenn er dem Selbstverständnis der Betroffenen entspricht. „Kapitalismus“ jedoch ist ein anderer Fall, weil bei der Konstruktion des Typus (des Objekts) aufgrund umstrittener Relevanzkriterien und ideologisierter Vokabeln Werturteile als Ideologeme in den Diskurs eingehen. Zu Recht fragt Andrew M. Koch in diesem Zusammenhang, ob (aus Webers 67 Ibid. 68 W. Schluchter, „Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1921/ 22)“, in: W. Erhart, H. Jaumann (Hrsg.), Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann, München, Beck, 2000, S. 100. 69 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 360. <?page no="435"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 419 Sicht) auch Aspekte wie „Mehrwert“ oder „Aneignung der Arbeitszeit der Arbeitskräfte durch die besitzende Klasse“ 70 in die Konstruktion des „Kapitalismus“ aufgenommen werden sollten. Marx und die Marxisten würden keine „Kapitalismus“-Konstruktion ohne „Klassenkampf“ akzeptieren. Mit vergleichbaren Problemen ist bei „Demokratie“ und „Sozialismus“ zu rechnen. Hier stößt die Wertfreiheit der Idealtypen an ihre Grenze - ähnlich wie die Konstruktion der „Rationalität“, von der im letzten Abschnitt noch die Rede sein wird. Der dritte Herrschaftstypus ist die legale oder rationale Herrschaft, die sich sowohl von der traditionalen als auch von der charismatischen Herrschaft durch den unpersönlichen (anonymen) Charakter der ihr zugrunde liegenden Gesetze und durch ihre rationale Organisation unterscheidet. Beide, sowohl rationale Organisation als auch gesetzliches, „vorschriftsmäßiges“ Verhalten, sollen irrationale Handlungen und Willkür vermeiden. Im Hinblick auf solche Verhaltensformen in legaler Herrschaft kann festgestellt werden, dass in diesem Bereich zweckrationales Handeln im Vordergrund steht, während wertrationale, traditionale und vor allem affektuelle Verhaltensweisen in den Hintergrund treten. Wertrationale Überlegungen bleiben insofern erhalten, als Werte wie „Gleichbehandlung“, „Transparenz“ und „Unbestechlichkeit“ gelten sollen. Webers Definition der legalen Herrschaft ist aufs Engste mit seinem Bürokratiebegriff verknüpft: „Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittelst bureaukratischen Verwaltungsstabs.“ 71 Dieser Typus ist deshalb so „rein“, weil der Beamte, der die legale Herrschaft verkörpert, gesetzlich zum unpersönlichen Verhalten angehalten wird und Menschen „ohne Ansehen der Person“ zu behandeln hat. Er hat seine Fachqualifikation oder „fachliche Kompetenz“ durch das Ablegen von Beamtenprüfungen erworben und richtet sich nach geltenden Gesetzen und Verfahrensregeln so, „daß also der typische legale Herr: der ‚Vorgesetzte‘, indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welcher er seine Anordnungen orientiert“. 72 Legale Herrschaft ist nicht auf Staat, Stadt und Gemeinde beschränkt, weil auch „das Herrschaftsverhältnis im privaten kapitalistischen Betrieb“ 73 unter diesen Typus fällt, der wesentlich zur Beschleunigung des Rationalisierungsprozesses beiträgt. 70 A. M. Koch, Romance and Reason. Ontological and Social Sources of Alienation in the Writings of Max Weber, Lanham-Oxford, Lexington Books, 2006, S. 87. 71 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 157. 72 Ibid., S. 155. 73 M. Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 152. <?page no="436"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 420 Weber weiß freilich, dass in der Bürokratie Bestechung gang und gebe ist, dass sich charismatische (oder charismatisch auftretende) Führer lächerlich machen können und dass in traditionalen Gesellschaften Zeremonien der Herrschenden hinter vorgehaltener Hand belächelt werden. Ihm geht es jedoch nicht um diese Abweichungen vom „Modell“, sondern um das Modell selbst und um die Frage, wie es funktioniert: als traditionale, charismatische oder legale Herrschaft. Es fragt sich jedoch, ob sich eine kritische Soziologie nicht eher (oder zumindest auch) auf die Abweichungen oder Pathologien konzentrieren sollte, die sogar der positivistisch denkende Durkheim nie aus dem Blick verlor - und die zeitgenössischen Gesellschaften zu schaffen machen. Weber weiß auch, dass die Idealtypen nie in reiner Form in der Wirklichkeit vorkommen, dass z.B. Charisma sowohl im traditionalen als auch im legalen Kontext zu finden ist und dass es sich „veralltäglichen“ kann, indem es von der charismatischen Persönlichkeit auf ihre Nachfolger oder Erben übertragen und so zum Erbcharisma wird. Er zeigt auch, wie charismatisches Handeln im wirtschaftlichen und vor allem finanziellen Bereich verhindert wird: „Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd.“ 74 Die Angehörigen profitorientierter, rationaler Unternehmen, die zweckrationales Handeln bevorzugen, versuchen oft, den Aufstieg charismatischer Individuen zu verhindern und bestätigen damit die Kohärenz und Aussagekraft des Idealtypus. Im nächsten Abschnitt soll der Gegensatz zwischen Charisma und Bürokratie verdeutlicht werden. 4. Rationalisierungsprozess und Bürokratie, Politik und Charisma: Webers Erzählung als Aktantenmodell In jeder Erzählung wird das soziale Geschehen gedeutet und bewertet, weil spätestens das Ende der Erzählung Protagonisten, Handlungen und Ereignisse in einem günstigen oder ungünstigen Licht erscheinen lässt: Im Märchen wird der arme Mann belohnt, die stolze Königin bestraft, der unternehmungslustige junge Held heiratet die Prinzessin. In Jane Austens Roman Pride and Prejudice (1813) wird Wickham als skrupelloser Heuchler entlarvt, während der anfangs als arrogant eingestufte Darcy als der wahre Held erscheint. Analog dazu siegen in Comtes Erzählung die rationalen Wissenschaftler über die irrationalen Theologen und Metaphysiker, und Marx verkündet den bevorstehenden Sieg des „Proletariats“, das die Klassenherrschaft aufheben wird. Wie der spätmoderne Franz Kafka, der seine Helden im Labyrinth der Bürokratie scheitern lässt, betrachtet der spätmoderne Max Weber sowohl die traditionellen als auch die modernen Erzählungen mit Skepsis und 74 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 175. <?page no="437"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 421 schließt - wie seine literarischen Zeitgenossen Kafka, Musil, Broch oder Thomas Mann - ein Scheitern des menschlichen Strebens nach Freiheit, Selbstbestimmung und Glück nicht mehr aus. Damit tritt er als Geistesverwandter Simmels und Tönniesʼ auf. Seine Erzählung mündet wie die der Schriftsteller in die „Entzauberung der Welt“ 75 durch Rationalisierung und Säkularisierung. Auch der Max-Weber-Kenner Dirk Kaesler fasst Webers Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (und sein Werk insgesamt) als eine groß angelegte Erzählung auf. In seinem Vorwort schreibt er: „Sie halten in Ihren Händen den Beginn einer der Großen Erzählungen der Soziologie (…)“ 76 - und fügt später hinzu: „Wer sich auf diese Große Erzählung des Max Weber beziehen möchte, wird nicht umhin kommen, sich diese aus seinen Texten zu rekonstruieren.“ 77 Dies soll im Folgenden - zumindest ansatzweise - versucht werden. Dabei wird ein wertvoller Hinweis von Dirk Kaesler zum roten Faden der Metaerzählung: „Wohin Max Weber auch griff, überall sah er die unwiderlegbaren Indizien des einen großen welthistorischen Prozesses der Rationalisierung.“ 78 Wer beobachtet Gesellschaft, und wie erzählt er sie im Anschluss an das Beobachtete und das als relevant Erachtete und Festgehaltene? Kaesler nennt die Relevanzkriterien und gibt auch die Richtung der Erzählung an: Die Indizien, die Weber für relevant hält, weisen alle auf den „Prozess der Rationalisierung“ hin. Dies bedeutet zugleich im dialogischen Kontext: Weber hält nicht den Klassenkampf, die Verwissenschaftlichung oder die Elitenbildung für relevant, sondern das sich allmähliche Durchsetzen eines bestimmten Typus von Rationalität, der weitgehend mit dem zweckrationalen Handeln übereinstimmt. Da Weber nicht nur Marx, sondern auch Comte und Spencer kannte 79 , ist seine soziologische Erzählung in ihrer Gesamtheit als eine kritisch-polemische Antwort 80 auf Marx, Comte, Spencer und Zeitgenossen wie Werner Sombart, Ferdinand Tönnies und Georg Simmel zu lesen. Als kritisch-polemische Antwort kann sie nicht wertfrei sein - und auch nicht als Erzählung, die sich als Alternative zu allen anderen mit ihr konkurrierenden Erzählungen präsentiert. 75 M. Weber, „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 433. 76 D. Kaesler, „Vorwort des Herausgebers“, in: M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 7. 77 Ibid., S. 44. 78 Ibid., S. 52. 79 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Recht, MWS, Bd. I/ 22-3, op. cit., S. 153 und S. 162. 80 Vgl. ibid., S. 153, wo außer Comtes „Entwicklungsschemata“ auch die „evolutionistische Dogmatik des Marxismus“ kritisiert wird. <?page no="438"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 422 Im Relevanzbereich fällt auf, dass Weber weiter ausholt als Marx, Comte und Spencer, indem er nicht nur die kapitalistische oder „industrielle“ (Saint-Simon, Comte, Spencer) Rationalisierung als Betriebsorganisation oder Arbeitsteilung anvisiert, sondern einen Rationalisierungsprozess beschreibt, der nahezu alle Bereiche des okzidentalen Lebens erfasst: (a) die Wirtschaft und den einzelnen Betrieb; (b) den Staat und seine Verwaltung; (c) das Rechtssystem; (d) die Kunst und ihre Verfahren; (e) die Wissenschaft. Die Rationalisierung aller dieser Bereiche bei Weber verknüpft Dieter Henrich mit der Tradition der Aufklärung: „Sie ist nun ein Stadium in dem umfassenden Rationalisierungsprozeß, der schon viel früher einsetzte und der zuerst die Betriebsorganisation, das Rechenwesen, die Weisen der Lebensführung und damit die ‚Ethik‘ und die Organisation der Verwaltung erreichte.“ 81 Es wird sich allerdings zeigen, dass Weber ein skeptischer Erbe der Aufklärung ist, weil er deren moderne Zuversicht in Bezug auf menschliche Emanzipation nicht mehr teilen kann. Im wirtschaftlichen und betrieblichen Bereich betrifft die Rationalisierung an erster Stelle die auch von Marx immer wieder kommentierte Freisetzung der Arbeitskräfte auf dem Markt. Der moderne Industriearbeiter ist kein an die Scholle gebundener Leibeigener mehr, sondern kann auf dem Arbeitsmarkt (scheinbar) frei über seine Arbeitskraft verfügen, indem er sie den Eigentümern der Produktionsmittel verkauft. Diese wirtschaftliche und soziale Mobilität trägt wesentlich zur Entwicklung des für Europa und Nordamerika charakteristischen Kapitalismus bei. Ein zweites Element wirtschaftlicher Rationalisierung ist die Orientierung der Betriebe an Marktgesetzen, vor allem am Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Rational im Vergleich zu vorkapitalistischen (feudalen) Wirtschaftsformen sind auch die Trennung von Haushalt und Betrieb sowie die systematische und durchrationalisierte Buchführung. Analog zur ökonomischen Rationalität verhält sich die staatlich-bürokratische. Sie überschneidet sich an vielen Stellen mit den Organisationskriterien der „legalen Herrschaft“, die weiter oben beschrieben wurden. Ihre Merkmale sind: durch Prüfungen nachgewiesene Fachkompetenz, Sachlichkeit statt persönlicher Beziehung und Rechtskonformität. Konkret bedeutet dies, dass der Beamte oder Angestellte (eines Betriebs) sich an Vorschriften und Gesetze hält, statt sich - wie z.B. im Feudalismus - an Personen (Patriarchen, Feudalherren, Geistlichen) zu orientieren. Weber hebt immer wieder die Rolle des Rechts im europäischen Rationalisierungsprozess hervor. In der folgenden Passage beschreibt er die Entwicklung des formalen, nach logischen Normen systematisierten 81 D. Henrich, „Beitrag zur Diskussion“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, op. cit., S. 159. <?page no="439"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 423 Rechts im Übergang von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: „Je mehr der Herrschaftsapparat der Fürsten und Hierarchen ein rationaler, durch ‚Beamte‘ vermittelter war, desto mehr richtete sich auch ihr Einfluß (…) darauf, der Rechtspflege nach Inhalt und Form rationalen (…) Charakter zu verleihen, irrationale Prozeßmittel auszuschalten und das materielle Recht zu systematisieren, und das bedeutete zugleich stets irgendwie: zu rationalisieren.“ 82 Der Rationalisierungsprozess erfasst auch die Kunst, deren Entwicklung Weber vor allem in der Musik untersucht hat. In diesem Bereich geht er der Frage nach „warum die harmonische Musik aus der fast überall volkstümlich entwickelten Polyphonie nur in Europa und in einem bestimmten Zeitraum entwickelt wurde, während überall sonst die Rationalisierung der Musik einen andern und zwar meist den gerade entgegengesetzten Weg einschlug (…).“ 83 Hier wird ein wesentlicher Aspekt der Weberschen Rationalisierungstheorie sichtbar: seine These, dass die vom Kapitalismus und der protestantischen Wirtschaftsethik ausgehende Rationalisierung für Europa und später auch für Nordamerika spezifisch war. Diesen spezifischen Charakter der okzidentalen Rationalisierung beobachtet er auch in der Wissenschaft, deren Entwicklung in Europa er kontrastiv mit den Entwicklungen in China und Indien vergleicht. Webers These fasst Richard Münch zusammen: „Eigengesetzlich rationalisierte Sphären gibt es auch in China und Indien, wie Weber selbst betont. Es gibt in China z.B. eine hochentwickelte Technologie und in Indien eine hochstehende, rationalisierte Philosophie und Mathematik, aber man findet weder in China noch in Indien das rationale Experiment als Wesensmerkmal moderner Wissenschaft, in dem Theorie und praktische Technologie, rationale Beweislogik und Empirie nicht getrennt sind, sondern sich gegenseitig durchdringen.“ 84 (In Webers vergleichender Kultursoziologie fällt auf, dass er Elemente hervorhebt, die in Europa vorhanden sind und in außereuropäischen Kulturen fehlen; er fragt selten nach Elementen, die in Europa fehlen und in China oder Indien vorhanden sind und möglicherweise die spezifische, sich gegenwärtig beschleunigende Entwicklung dieser Länder erklären könnten.) Zurück zu Webers Erzählung: Sie könnte auf der Ebene der „Rationalisierung“ und ausgehend von unterschiedlichen Relevanzkriterien verschiedene Richtungen einschlagen. Sie könnte sich beispielsweise auf den Rationalisierungsprozess in der Wirtschaft konzentrieren, den Gegenent- 82 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Recht, MWS, Bd. I/ 22-3, op. cit., S. 115. 83 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 288. 84 R. Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp (1982), 1988, S. 488. <?page no="440"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 424 wurf zu Marx weiterentwickeln und zeigen, wie der Kapitalismus durch gezielte Interventionen des Staates und eine rationale Sozialpolitik (Krankenversicherung, Altersvorsorge, Familienbeihilfe) in eine neue Phase übergeführt und „gerettet“ werden kann. Sie könnte auch an Comte anknüpfen und zeigen, wie durch eine Verwissenschaftlichung der Verwaltung soziale Konflikte im Vorfeld entschärft und Revolutionen vermieden werden können. Weber schätzt die Entwicklung ganz anders ein und lässt die Geschichte der Rationalisierung mit der Bürokratisierung der Gesellschaft zusammenfallen. Immer wieder kommt er auf die Bürokratisierung der Gesellschaft (und nicht auf deren Ökonomisierung oder Verwissenschaftlichung) als zentralen Aspekt des Rationalisierungsprozesses zu sprechen. So heißt es beispielsweise in Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Titel „Bürokratismus“: „Diese letztere Entwicklung speziell, welche die konkrete Sachkenntnis der Interessenten in den Dienst der rationalen Verwaltung fachgebildeter Beamter zu stellen sucht, hat sicherlich eine bedeutende Zukunft und steigert die Macht der Bürokratie noch weiter.“ 85 Die Steigerung dieser Macht ist es, die in Webers Augen die Zukunft der okzidentalen Gesellschaften überschattet. In einem Diskurs, in dem von der „Macht der Bürokratie“ die Rede ist, wird die „Bürokratie“ - ob das Diskurssubjekt es beabsichtigt oder nicht - zu einem kollektiven, möglicherweise sogar mythischen Aktanten, der mit einer in allen Erzählungen wesentlichen Modalität ausgestattet wird: mit „Macht“. Dieser Aktant wird in Webers Diskurs regelmäßig mit negativen Konnotationen versehen und auf dieser Ebene als ambivalentes Subjekt / Anti-Subjekt konstituiert, das zwar für die Rationalisierung der Gesellschaft unentbehrlich ist, dessen Herrschaft aber zur Errichtung eines „stählernen Gehäuses“ führen könnte, in dem individuelle Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wie bei Simmel macht sich hier die de-strukturierende Rolle der spätmodernen Ambivalenz bemerkbar: In dem Maße, wie die Aktanten ambivalent werden, wird eine lineare Erzählung im Sinne von Marx oder Comte schwieriger. Es kommt hinzu, dass Webers Diskurs, von zwei Aktantenmodellen strukturiert wird, von denen sich das erste auf den Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft bezieht, während das zweite die Auseinandersetzung zwischen „organisationskapitalistischem“ und „liberalem“ Bürgertum, zwischen „Bürokratie“ und „charismatischem Individuum“ inszeniert. Das ambivalente Subjekt „Bürokratie“ verwirklicht das narrative (historische) Programm seines Auftraggebers: des „kapitalistischen Bürgertums“, 85 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft, MWS, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 42. <?page no="441"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 425 das an einer kontinuierlichen Rationalisierung von Wirtschaft und Verwaltung interessiert ist. Dazu heißt es in Wirtschaft und Gesellschaft: „Das Bedürfnis nach Berechenbarkeit und Verläßlichkeit des Fungierens der Rechtsordnung und Verwaltung, ein vitales Bedürfnis des rationalen Kapitalismus, führte das Bürgertum auf den Weg des Strebens nach Beschränkung der Patrimonialfürsten und des Feudaladels durch eine Körperschaft, in der Bürger ausschlaggebend mitsaßen und welche die Verwaltung der Finanzen kontrollierte und bei Änderungen der Rechtsordnung mitwirken sollte.“ 86 In diesem Satz, der Webers erstes Modell zusammenfasst, treten fünf kollektive Aktanten auf: Das kapitalistische, rationalisierende „Bürgertum“ als Auftraggeber, die von ihm beauftragte „Bürokratie“ („Verwaltung“) als Subjekt und die „Körperschaft“ als Helferin des „Bürgertums“. Beiden stehen die kollektiven Antisubjekte „Patrimonialfürsten“ und „Feudaladel“ gegenüber. Die „Körperschaft“ soll dem „Bürgertum“ helfen, sein narratives Programm der Rationalisierung (Berechenbarkeit, Verlässlichkeit) gegen den Willen der traditionalistischen Antisubjekte („Patrimonialfürsten“, „Feudaladel“) zu verwirklichen. Dem „Feudaladel“ fällt hier außer der Rolle des Antisubjekts auch die des Gegenauftraggebers zu. Zu Webers Auffassung sozialer Ereignisse und sozialen Handelns bemerkt Rainer Greshoff: „Erklären solchen Geschehens ist für Weber nur möglich über das Verstehen der Handlungen, die dieses Geschehen ausmachen. Dieses Handeln gibt es für ihn nur als Handeln von einzelnen Personen.“ 87 Das ist zweifellos Webers Auffassung; sie wird jedoch von seinem eigenen Diskurs desavouiert, in dem Kollektivsubjekte wie „Bürgertum“ und „Feudaladel“ einander gegenüberstehen und in dem die „Körperschaft“, die stets als Einheit mehrheitlich, kollektiv entscheidet (oft gegen einzelne Mitglieder des Adels: „ausschlaggebend mitsaßen“), als unverzichtbare Helferin auftritt. Auf die Fragen „Was untersucht Weber? Einzelne Menschen (Individuen) oder Menschengruppen? “ 88 , antwortet Eduard Baumgarten: „In der Tat: Nicht sowohl Einzelmenschen als Menschen-Gruppen: Kaufleute, Soldaten, Honoratioren, Parteimitglieder, Kabinettskollegen und dgl. sind soziologische Gegenstände auch für Max Weber.“ 89 Die hier ansatzweise durchgeführte Diskursanalyse bestätigt diese Ansicht. Sie legt zugleich die 86 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Soziologie, MWS, Bd. I/ 23, op. cit., S. 212. 87 R. Greshoff, „‚Soziales Handeln‘ und ‚Ordnung‘ als operative und strukturelle Komponenten sozialer Beziehungen“, in: K. Lichtblau (Hrsg.), Max Webers „Grundbegriffe“. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 264. 88 E. Baumgarten, Max Weber. Werk und Person. Dokumente ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1964, S. 600. 89 Ibid., S. 601. <?page no="442"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 426 Vermutung nahe, dass eine Soziologie, die systematisch versucht, kollektive Handlungsinstanzen wie Organisationen, politische Parteien oder Gewerkschaften in individuelle Handlungen zu zerlegen, gar nicht möglich ist. An verschiedenen Stellen seines Werks wehrt sich Weber gegen „Kollektivbegriffe“, die seiner Meinung nach „Unsegen stiften“. Anhand des Beispiels „Landwirtschaft“ versucht er darzutun, dass diese heterogen ist und als handelnde Instanz nicht in Frage kommt. Er spricht vom „gewaltigen Knäuel von durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen“. 90 Das ist zweifellos richtig, und es wird stets prekär sein, in einem wissenschaftlichen Diskurs die „Landwirtschaft“ als kollektiven Aktanten auftreten zu lassen. Ein Landwirtschaftsminister mag es auf ideologischer Ebene tun, um etwa auf den Finanzminister Druck auszuüben: „Die Landwirtschaft braucht, verlangt dringend…“ Weber hat aber bewusst oder unbewusst ein fragwürdiges Beispiel gewählt: Die „Landwirtschaft“ ist kein kollektiver, höchstens ein mythischer Aktant. Kollektive Aktanten sind: politische Parteien, Körperschaften (s.o.), Gewerkschaften oder Universitäten, die - stets überindividuelle - Mehrheitsbeschlüsse fassen und zugleich verantwortliche, vertragsfähige und handlungsfähige Rechtspersonen sind (dem Rechtswissenschaftler Weber kann dies nicht entgangen sein). Webers erstes, „historisches“ Aktantenmodell wird durch ein zweites, „modernes“ ersetzt, sobald der eigentliche Subjekt-Aktant und Fokalisator seines Diskurses erscheint: das „charismatische Individuum“ als Politiker oder Unternehmer, das im Auftrag des „liberalen Bürgertums“ handelt, welches dem rationalisierenden und bürokratisch verwaltenden „(monopol-)kapitalistischen Bürgertum“ opponiert, weil es sich (wie bei Pareto und Mosca) von Massenbewegung, Konzernbildung und Bürokratisierung bedroht fühlt. Es wird in Webers Diskurs an entscheidenden Stellen der erstarkenden Bürokratie, die nun in ihrer Ambivalenz als Antisubjekt auftritt, als Gegenmacht entgegengesetzt. Weber stellt „das Charisma im Kampf gegen die Bürokratie“ 91 (den individuellen gegen den kollektiven Aktanten) dar, fasst zugleich aber die Möglichkeit ins Auge, dass der charismatische Politiker im Prozess der Rationalisierung unterliegt: „So geht mit der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdeckung das Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich und schränkt die Bedeutung des Charisma und des individuell differenzierten Handelns zunehmend ein.“ 92 90 M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 257. 91 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft, MWS, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 152. 92 Ibid., S. 169. <?page no="443"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 427 In der Verknüpfung von „Charisma“ mit dem eindeutig wertenden Ausdruck „individuell differenziertes Handeln“ (im semantischen Gegensatz zum „Umsichgreifen der Disziplinierung“) macht sich Webers liberal-individualistische Ideologie bemerkbar. Sie führt in seinem Diskurs zu einer Aufwertung individuellen Handelns und individueller Freiheit (Objekt- Aktant) in einer von der „Bürokratie“ bedrohten Gesellschaft. Der semantische Grundgegensatz, auf dem sein Diskurs gründet, ist der zwischen Bürokratie und Politik oder allgemeiner formuliert: zwischen Beharrung und Bewegung. Wie andere Soziologen der Spätmoderne, wie Simmel, Pareto und Mosca verteidigt Weber die Werte eines liberalen Individualismus, den er in einer bürokratischer werdenden Massendemokratie, deren Parteioligarchien für individuelle Anliegen immer unempfindlicher werden, für bedroht hält. Zugleich wird eine Spaltung des Bürgertums in zwei Gruppen sichtbar: in die Vertreter einer erstarkenden, bürokratisierten Konzernwirtschaft und die Vertreter eines geschwächten liberalen Unternehmertums, für das Weber Partei ergreift. Während der „Liberalismus“ (das liberale Bürgertum) in Webers Diskurs die Funktion des Auftraggebers erfüllt, fällt der übermächtigen „Konzernwirtschaft“ die Rolle der Gegenauftraggeberin zu. Vor diesem Hintergrund kann es nicht als reiner Zufall erscheinen, dass Nietzsche nicht nur in Simmels, sondern auch in Webers Werk Spuren hinterlassen hat und dass verschiedene Autoren diesen Spuren nachgehen. So spricht beispielsweise Georg Stauth von „Webers Abhängigkeit von Nietzsche“ 93 und fügt hinzu: „Nietzsche ist der große Verborgene in Webers Werk.“ 94 In der hier vorgeschlagenen Konstruktion erklärt sich seine Bedeutung für Weber im Zusammenhang mit dem individuellen Handeln und vor allem mit der individuellen Handlungsfähigkeit, die auch der Subjekt-Kritiker Nietzsche für bedroht hielt, weil fortschreitende Rationalisierung subjektive Freiheit einschränkt. „Der Mensch wurde mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht“ 95 , heißt es in der Genealogie der Moral. Das Wort „berechenbar“ weist auch auf den Rationalisierungsprozess hin, aus dem Nietzsche und seine Erben mit Hilfe des „Übermenschen“ ausbrechen möchten. Diesem Übermenschen ist das charismatische Individuum, das als mit „außergewöhnlichen Eigenschaften“ oder Modalitäten ausgestatteter Sub- 93 G. Stauth, „Kulturkritik und affirmative Kultursoziologie. Friedrich Nietzsche, Max Weber und die Wissenschaft von der menschlichen Kultur“, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 171. 94 Ibid. 95 F. Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 800. <?page no="444"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 428 jekt-Aktant dem kollektiven Aktanten „Bürokratie“ als Antisubjekt widerstehen soll, nicht unähnlich. In diesem Aktantemodell wird in Übereinstimmung mit Webers liberalen Präferenzen das Individuum dem Kollektiv gegenüber aufgewertet. Die diskursive Aufwertung wird dadurch verstärkt, dass Weber dieses Individuum immer wieder zu seinem Fokalisator macht, aus dessen Sicht er die gesellschaftliche Entwicklung erzählt. Diese ideologische Privilegierung der individuellen Perspektive ist auch dann nicht zu übersehen, wenn Weber auf „Wertfreiheit“ pocht. In Wirtschaft und Gesellschaft heißt es vom „Charisma“, es sprenge „in seinen höchsten Erscheinungsformen Regel und Tradition“, und dann folgt der entscheidende Satz: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘ revolutionäre Macht der Geschichte.“ 96 Im dialogischen Kontext wird man hinzufügen müssen: „und nicht die revolutionäre Klasse oder der Geschlechterkampf oder die Elite im Sinne von Pareto“. Dieses dialogische „Und nicht“, das sich unmittelbar auf Relevanz, Selektion und Klassifikation auswirkt, lässt die liberal-individualistischen Wertsetzungen zutage treten, die Webers Diskurs steuern, sowie die Grenzen der Wertfreiheit, an denen die Ideologie in Erscheinung tritt. Denn dieses „Und nicht“ evoziert auch all das, was im Diskurs als Möglichkeit aus ideologischen Gründen ausgeblendet wurde: z.B. das Proletariat als charismatische, revolutionäre Klasse. Denn auch Kollektive können eine charismatische Wirkung auf ihre Anhänger ausüben, wie Pop-Gruppen (Beatles, Rolling Stones) zeigen. Webers Identifizierung des Charisma mit individuellem Charisma erscheint in diesem Kontext als einseitige Festlegung und weckt Zweifel am Ausschließlichkeitsanspruch seiner „individualistischen Methodologie“: Denn eine Gruppe wie die Rolling Stones verdankt ihre nachweisbare charismatische Wirkung auf die Fans gerade ihrem kollektiven Auftreten. Solange das „Charisma“ im Sinne von Weber als ein Ensemble individueller Eigenschaften definiert wird, das von den Anhängern eines Anführers diesem zuerkannt wird, mag von einer wertfreien Auffassung die Rede sein; sobald aber das „Charisma“ im Diskurs als Erzählung zum positiv konnotierten Subjekt-Aktanten (zum Helden) avanciert, der der negativ konnotierten „Bürokratie“ Widerstand leistet und dadurch auf die Entwicklung der Gesellschaft einwirkt, wird das Wertfreiheitspostulat unglaubwürdig. Es verdeckt lediglich eine Ideologie, die als wissenschaftliche Theorie mit Marxismus, Feminismus und Paretos Elitentheorie um die Vorherrschaft im „wissenschaftlichen Feld“ (Bourdieu) konkurriert. 96 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft, MWS, Bd. I/ 22-4, op. cit., S. 139. <?page no="445"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 429 Weber hätte viel gewonnen, wenn er die Grenzen der keineswegs illusionären Wertfreiheit aufgezeigt und seine Ideologeme deklariert hätte. Denn sein Diskurs ist nicht wissenschaftlicher als der von Marx, Pareto oder Judith Butler - aber auch nicht weniger wissenschaftlich oder gar weniger wertvoll. 5. Protestantische Wirtschaftsethik: Der religiöse Faktor Von der protestantischen Wirtschaftsethik und ihrer sozialen Wirkung in der Entwicklung des Kapitalismus war bereits die Rede. Im Folgenden geht es um die konkrete Funktion dieser Ethik im Kapitalismus als Rationalisierungsprozess. Es geht somit um den „rationalisierenden Einfluss (…) einer Religiosität auf die Lebensführung“ 97 und um die Frage, welche spezifischen Komponenten der protestantischen oder puritanischen Wirtschaftsethik den Rationalisierungsprozess des Kapitalismus begünstigten. Analog zu seinen Untersuchungen der wissenschaftlichen Entwicklung in Europa, China und Indien (s.o.) vergleicht Weber Weltreligionen wie Christentum, Judentum, Islam, Konfuzianismus, Hinduismus und Buddhismus miteinander, um herauszufinden, was die Spezifizität dieser Religionen und vor allem die des puritanischen Protestantismus (Calvinismus, Methodismus) ausmacht. Die komparatistisch-kontrastive Methode gestattet es ihm, die verschiedenen Religionen als Kombinationen von Merkmalen wie „Askese“, „Aktivität“, „Passivität“, „Diesseitigkeit“, „Jenseitigkeit“ usw. näher zu bestimmen und das Fehlen eines oder mehrerer Merkmale in die Definition einzubeziehen. Da es hier primär um die protestantisch-puritanische Wirtschaftsethik geht, soll diese Methode nur an einigen Beispielen verdeutlicht werden, die in einer Konkretisierung der protestantischen Ethik konvergieren. Askese findet sich nicht nur in dieser Ethik, sondern auch in anderen Religionen: z.B. im Hinduismus. Dieser wird u.a. durch eine außerweltliche Askese geprägt, die einen Rückzug aus Alltag, Wirtschaft und Politik vorschreibt und das Streben nach sozialem Erfolg missbilligt. Obwohl der Hinduismus mit der protestantischen Ethik das Merkmal „Askese“ teilt, fehlt ihm das aktive, weltgestaltende Moment: Seine Askese ist nicht innerweltlich, sondern außerweltlich, eher auf das Jenseits gerichtet. Auch der Buddhismus ist eine weltabgewandte Religion, die aus Webers Sicht durch „außerweltliche Mystik“ geprägt ist. Im Gegensatz zur protestantischen Askese empfiehlt der Buddhismus Passivität und „Nichthandeln“: „Nichthandeln, jedenfalls aber Vermeidung jedes rationalen Zweckhandelns (‚Handeln mit einem Ziel‘) als der gefährlichsten Form der 97 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Religiöse Gemeinschaften, MWS, Bd. I/ 22-2, op. cit., S. 141. <?page no="446"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 430 Verweltlichung empfiehlt der alte Buddhismus als Vorbedingung der Erhaltung des Gnadenstandes.“ 98 Auch diese Einstellung steht in schroffem Gegensatz zur „innerweltlichen Askese“ des Protestantismus in seiner calvinistischen Ausprägung: Ihm zufolge wird man gerade durch innerweltliche (wirtschaftliche) Erfolge in den Gnadenstand versetzt. Aufgrund seines Rationalismus und Utilitarismus wäre der Konfuzianismus durchaus mit dem Protestantismus zu vergleichen, denn er ist „so rationalistisch und zugleich, im Sinne des Fehlens und der Verwerfung aller nicht utilitaristischen Maßstäbe, so nüchtern, wie kein anderes der ethischen Systeme außer etwa demjenigen J[eremy] Benthams“. 99 Doch auch ihm fehlt das aktive Moment des Protestantismus: Seine Rationalität besteht in der Einsicht in die Rationalität der bestehenden Ordnung und in der passiven Anpassung an sie. In seiner Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen fasst Weber den Unterschied zwischen dem Protestantismus und den außereuropäischen Weltreligionen zusammen, wenn er über die protestantische Askese schreibt: „Voll erreicht wurde beides: Entzauberung der Welt und Verlegung des Weges zum Heil von der kontemplativen ‚Weltflucht‘ hinweg in die aktiv asketische ‚Weltbearbeitung‘ (…) nur in den großen Kirchen- und Sektenbildungen des asketischen Protestantismus im Okzident.“ 100 Kurzum, der westeuropäische Protestantismus hat das passive, kontemplative Moment der außereuropäischen Weltreligionen durch eine aktive Einstellung zur Welt ersetzt. Ein Vergleich von Webers Beschreibung der religiösen mit seiner Beschreibung der wissenschaftlichen Entwicklung in Europa lässt diese aktive Einstellung als den gemeinsamen Nenner von Religion und Wissenschaft erkennen: Wie in der Religion ist auch in der Wissenschaft die Verknüpfung von Theorie und Praxis in Anwendung und Experiment für die europäische Entwicklung als Rationalisierung charakteristisch. Diese Verknüpfung trägt wesentlich dazu bei, dass in Europa neben der Wissenschaft rational organisierte Wirtschaftsformen und ein durchrationalisierter Verwaltungsapparat entstehen. Zugleich entsteht ein rationales Berufsethos, das im asketischen Protestantismus am prägnantesten zum Ausdruck kommt. In diesem besonderen Fall dehnt Weber die Bezeichnung „Protestantismus“ auf dessen lutherische Variante aus und verfolgt die Entstehung des Wortes „Beruf“ bis zu Luthers Bibelübersetzung zurück, in der es vom Übersetzer stammt und 98 Ibid., S. 100. 99 M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920 (Hrsg. H. Schmidt-Glintzer), MWS, Bd. I/ 19, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1991, S. 20. 100 Ibid., S. 18. <?page no="447"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 431 nicht auf das Original zurückgeführt werden kann. Romanisch-katholische Völker kennen dieses Wort (im Sinne von Lebenseinstellung, Berufung) nicht ebenso wenig wie die Völker der Antike: „Nun ist unverkennbar, daß schon im deutschen Worte ‚Beruf‘ ebenso wie in vielleicht noch deutlicherer Weise in dem englischen ‚calling‘, eine religiöse Vorstellung: - die einer von Gott gestellten Aufgabe - wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird.“ 101 Dieses protestantische Berufsethos ist es letztlich, das die besondere und besonders schnelle Entfaltung des Kapitalismus im Nordwesten Europas und später in Nordamerika erklärt. Vom Katholizismus und vom Judentum unterscheidet sich dieses Berufsethos durch die Ablehnung des „Feilschen und Schachern“ 102 und durch das Festhalten an Legalität: „Der feste Preis, die absolut sachliche, jeden Durst nach Geld verschmähende, bedingungslos legale Geschäftsgebarung jedermann gegenüber ist es, deren Bewährtheit vor den Menschen die Quäker und Baptisten es zugeschrieben haben, daß gerade die Gottlosen bei ihnen und nicht bei ihresgleichen kauften (…).“ 103 Mag sein, dass hier nicht nur der wertfrei denkende Wissenschaftler, sondern auch der Protestant Weber spricht, aber er steht mit seiner Einschätzung der drei Wirtschaftsethiken sicherlich nicht allein. Insgesamt wird deutlich, dass er nicht nur mit seiner verstehenden Methode, die konkrete Handlungen zum Gegenstand hat, sondern auch mit seinen vergleichenden Analysen religiöser Wirtschaftsethiken auf das Besondere und Spezifische gesellschaftlicher Erscheinungen zielt. Wie Durkheim und Simmel lehnt er die weit ausholenden und teleologisch strukturierten Diskurse moderner Denker wie Marx, Comte und Spencer ab, weil auch er der Meinung ist, dass sie sich zu eilfertig über das spezifisch Soziale, das bei Durkheim die soziale Tatsache, bei Simmel die Wechselbeziehung und bei Weber selbst die individuelle Handlung ist, hinwegsetzen, um ihren zukunftsweisenden Entwürfen Platz zu machen. Diese Entwürfe sind in der Spätmoderne nicht nur deshalb diskreditiert, weil der Fortschrittsglaube erschüttert ist, sondern auch deshalb, weil sich die Soziologie als arbeitsteilige Wissenschaft allmählich von der Philosophie ablöst. Sie distanziert sich von der philosophischen Spekulation und beginnt (wie die Linguistik und die Psychologie), nach der spezifischen Beschaffenheit ihrer Objekte zu fragen. 101 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 96. 102 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Religiöse Gemeinschaften, MWS, Bd. I/ 22-2, op. cit., S. 145. 103 Ibid. <?page no="448"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 432 6. Der Zerfall der protestantischen Askese in der „nachindustriellen Gesellschaft“: Daniel Bells Fortsetzung der Weberschen Erzählung Die Entwicklung des Kapitalismus hat nicht die „Verelendung des Proletariats“ (vgl. Kap. IV) zur Folge, sondern bringt in Europa und Nordamerika Wohlfahrtsstaaten hervor, in denen nahezu alle sozialen Gruppierungen wirtschaftlich abgesichert sind und - wenn auch mit Einschränkungen - am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben. Daniel Bell (1919-2011), ein amerikanischer Soziologe, der von 1969 bis 1990 an der Harvard Universität tätig war und vor allem mit seinem Buch The Coming of Post-Industrial Society“ (1973, dt. Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975) bekannt wurde, beobachtet, wie die auf wirtschaftliche Produktivität ausgerichtete Askese der protestantischen Ethik in der Wohlstandsgesellschaft allmählich von einem individualistischen, auf den Konsum ausgerichteten Hedonismus ausgehöhlt wird. Aus seiner Sicht unterscheidet sich die nachindustrielle Gesellschaft durch folgende fünf Merkmale von der Industriegesellschaft, die sowohl bei Marx als auch bei Weber im Vordergrund steht: (a) „Übergang von einer güterproduzierenden zu einer Dienstleistungswirtschaft“; (b) „der Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe“; (c) „die Zentralität theoretischen Wissens als Quelle von Innovationen (…)“; (d) „die Steuerung des technischen Fortschritts und die Bewertung der Technologie“; (e) „die Schaffung einer neuen ‚intellektuellen Technologie‘“ 104 (damit sind Versuche systematischer Bewältigung von Komplexität gemeint wie Informatik, Kybernetik, Entscheidungstheorie, stochastische Theorien). Während die vier letzten Punkte eine Zunahme technisch-wissenschaftlicher Organisation und Verwaltung (Bürokratie) erkennen lassen, die die Bedeutung des Unternehmers, bei Weber des Trägers der protestantischen Ethik, einschränkt, deutet der erste Punkt auf eine Gewichtsverschiebung zwischen Produktions- und Konsumsphäre zugunsten der letzteren. Denn das Anwachsen des Dienstleistungssektors, zu dem neben dem Versicherungswesen, der Bildung und dem Gesundheitswesen auch Marktforschung, Werbung, Verkauf und Kundenbetreuung gehören, zeugt von wachsenden Bedürfnissen im Konsumbereich, der auch all das umfasst, was zur „Lebensqualität“ und zur „Selbstverwirklichung“ in der Freizeit gehört. Diese von der wirtschaftlichen Entwicklung, vor allem der Kapitalakkumulation, bedingte Verschiebung vom Produktions- und Arbeitsethos zur persönlichen Bedürfnisbefriedigung und Entfaltung hat aus Bells Sicht eine 104 D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt-New York, Campus (1975), 1989, S. 32. <?page no="449"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 433 hedonistische Komponente, die der Soziologe mit gemischten Gefühlen betrachtet. Er erinnert an das Wertsystem des 19. Jahrhunderts, das auch Weber vor Augen hatte und in dem Werte wie individuelle Initiative, Verzicht auf unmittelbare Wunschbefriedigung, Ehrlichkeit und berufliche Askese dominierten, und kommentiert: „Die Ironie des Schicksals aber wollte es, daß all dies vom Kapitalismus selbst unterminieret wurde, der durch Massenproduktion und Massenkonsum die protestantische Ethik zerstörte und an ihrer Stelle eifrig eine hedonistische Lebensweise förderte.“ 105 Diese neue Lebensweise ist somit primär wirtschaftlich durch die kapitalistische Entwicklung bedingt. Bell widerspricht sich zumindest teilweise, wenn er in der folgenden Passage feststellt, dass die protestantische Ethik in säkularisierter Form nachwirkt (also keineswegs „zerstört“ ist) und sowohl „Fleiß“ als auch „Selbstdisziplin“ weiterhin gefordert werden: „Denn während das System im Hinblick auf die Organisation von Produktion und Arbeit nach wie vor Vorsorge, Fleiß und Selbstdisziplin, Hingabe an die Karriere und den Erfolg verlangt, fördert es im Konsumbereich die Haltung des carpe diem, d.h. Verschwendung, Angeberei und die zwanghafte Jagd nach Amüsement.“ 106 Zu Recht fügt er hinzu, dass die spätkapitalistische Gesellschaft im Gegensatz zur frühkapitalistischen (die Weber beschreibt) keine „transzendente Ethik mehr kennt“. 107 Der hier von Bell beobachtete Widerspruch zwischen einem asketischen Produktions- und Arbeitsethos einerseits und einem verschwenderischen Konsumverhalten andererseits ist in Wirklichkeit keiner. Denn in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, die er selbst gründlich erforscht, ergänzen Arbeitsmoral und Konsumverhalten als Hedonismus einander in jeder Hinsicht. Das Anwachsen des Dienstleistungssektors (des tertiären Sektors, der den primären Sektor der Landwirtschaft und den sekundären der Industrie ergänzt) trägt zusammen mit der Auslagerung der Produktion in „Billigländer“ wesentlich zur Rettung und Erhaltung des Kapitalismus bei. Immer wieder wird von Ökonomen auf die Bedeutung der „Nachfrage“ für die Konjunktur hingewiesen. Der Konsum - mit oder ohne „Verschwendung“, mit oder ohne „Angeberei“ - gehört gegenwärtig zu den „Motoren“ der kapitalistischen Wirtschaft. Dies ist der Grund, warum Unsummen in die Werbung investiert, Pseudobedürfnisse (etwa nach neuen Parfums) geweckt und Sehnsüchte nach bleibender Jugend mit fragwürdigen Anti- Aging-Mitteln befriedigt werden: Ohne Konsum keine Produktion und kein Profit. 105 Ibid., S. 363. 106 Ibid. 107 Ibid. <?page no="450"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 434 Diesen Nexus von Produktion und Konsum in der zeitgenössischen Gesellschaft übersieht auch John O’Neill, wenn er zu Bells Theorie der postindustriellen Gesellschaft bemerkt: „Kurzum, der Spätkapitalismus könnte außerstande sein, seine postmoderne Kultur mit seiner technologischen Basis zu vereinbaren. Denn die auf Effizienz ausgerichteten Werte der letzteren sind schwer mit einer Narzissmus-Kultur und einer Politik der Gleichheit zu versöhnen.“ 108 Das Gegenteil ist wahr: Der Kapitalismus als Produktionssystem lebt von dieser Kultur, in der in Apotheken, Body- Shops, Sportgeschäften und Drogerien Millionen für die Erhaltung und Entfaltung des Körpers ausgegeben werden und in der jeder und jedem suggeriert wird, dass die Produkte auch für sie, auch für ihn erschwinglich und unentbehrlich sind. Gerade der hier aufgezeigte Widerspruch in Bells Werk lässt jedoch die Einseitigkeit von Webers, Marxʼ und auch Bells Kapitalismus-Theorien erkennen: Alle drei konzentrieren sich auf den Produktionsprozess und das Produktionsethos und bringen die Bedeutung des Konsumbereichs für die Selbsterhaltung und die Dynamik des Kapitalismus nur selten zur Sprache. Weber postuliert einen schroffen Gegensatz zwischen protestantischer Ethik und unproduktivem Müßiggang: „Die innerweltliche protestantische Askese (…) wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein.“ 109 Er geht jedoch nicht der Frage nach, wie schon im 17. und 18. Jahrhundert die asketische Produktion durch den Konsum, und gerade den Luxuskonsum, als Nachfrage angefacht und in Gang gehalten wurde. Er vernachlässigt (wie Marx und Bell) die Funktion des von den Produzenten immer besser organisierten Konsumbereichs im kapitalistischen System. Nicht vernachlässigt hat sie der norwegisch-amerikanische Soziologe Thorstein Veblen (1857-1929), der in seinem bekannten Werk The Theory of the Leisure Class (1899, dt. Theorie der feinen Leute, 1958) zeigt, wie Kapitalkonzentration und Kapitalakkumulation die Entstehung einer Mußeklasse (leisure class) begünstigen, die im Gegensatz zum tätigen Bürgertum (im Sinne von Weber) nicht in, sondern von der Industriegesellschaft lebt: „Die müßige Klasse lebt nicht in, sondern von der industriellen Gesellschaft, und ihre Beziehungen zur Welt der Arbeit sind pekuniärer Natur.“ 110 Das Verhalten dieser Klasse bezeichnet Veblen als demonstrativen Konsum oder conspicuous consumption. Damit ist auch die „Angeberei“ gemeint, von der Bell spricht: Es geht darum, das soziale Umfeld mit teuren, 108 J. O’Neill, „Religion and Postmodernism: The Durkheimian Bond in Bell and Jameson“, in: Theory, Culture and Society, „Postmodernism“, Nr. 2-3, Juni 1988, S. 493. 109 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, op. cit., S. 193. 110 T. Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt, Fischer, 2011 (2. Aufl.), S. 236. <?page no="451"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 435 exklusiven, möglichst „unerschwinglichen“ Gebrauchsgegenständen (Kleidern, Kutschen, Autos, Wohnsitzen) zu beeindrucken. 111 Diese Klasse von Rentiers, die müßig ist und von ihren Renten (Aktien, Obligationen, Landrenten) lebt, gab es in einigen amerikanischen Großstädten, in Paris, Wien und London. Ihre Gewohnheiten schildern Schriftsteller wie Marcel Proust, Hugo von Hofmannsthal (Der Schwierige) und Oscar Wilde (z.B. in seinem Lustspiel The Importance of Being Earnest). Als Mußeklasse mit den von Veblen beschriebenen Konventionen und Gewohnheiten gibt es sie nicht mehr; aber ihre Stellung als konsumierende Schicht nehmen gegenwärtig andere, wesentlich bescheidenere, jedoch zahlenmäßig bedeutendere Gruppierungen ein: die immer zahlreicher werdenden Rentner und Frührentner (die man freilich nicht mit den Rentiers von 1900 verwechseln sollte), die in Massen auftretenden Touristen und alle anderen Konsumenten, die versuchen, sich in ihrer freien Zeit zu verwirklichen - in vielen Fällen auch durch demonstrativen Konsum wie Sportwagen, Jachten und Luxuswohnsitze. Sie alle tragen zur Kontinuität und Expansion der kapitalistischen Wirtschaft bei. 112 Sie alle könnten sich auf den Grafen Greffuhle, einen Pariser Rentier des ausgehenden 19. Jahrhunderts, berufen, der zunächst an seinem Nutzen für die Gesellschaft zweifelt, sich dann aber von seinem Gesprächspartner Ferdinand Bac überzeugen lässt, dass er als Rentier zu den Menschen gehört, die Geld ausgeben und sich selbst daher als „Wohltäter der menschlichen Gattung“ betrachten dürfen: „Er akzeptierte diese soziale Rolle als letzte Möglichkeit, nützlich zu sein und sich selbst auf diese Art ein Höchstmaß an Befriedigung zu sichern.“ 113 Wenn diese soziale Rolle Millionen zufällt, kann der Nutzen für den Kapitalismus und sein Umfeld beachtlich sein. Der kapitalistische Produktionsprozess, auf den sich Marx und Weber konzentrieren, ist nur die eine Seite des Kapitalismus; die andere Seite ist der von den Produzenten immer wieder angekurbelte, expandierende Konsum, der den Produktionsprozess in Gang hält. 111 Mit der Rolle des Luxus im Kapitalismus hat sich - nach Veblen - ausführlich auch der Soziologe Werner Sombart in seiner Sozialgeschichte des Kapitalismus befasst: Vgl. W. Sombart, Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, München, Duncker und Humblot, 1913, Bd. I, Kap. II, wo er auf die Bedeutung größerer Verbraucherschichten für die kapitalistische Wirtschaft - vor allem im 17. und 18. Jahrhundert (dem auch von Weber untersuchten Zeitraum) - zu sprechen kommt. 112 Vgl. F. G. Hill, „Veblen and Marx“, in: D. F. Dowd (Hrsg.), Thorstein Veblen: A Critical Reappraisal. Lectures and Essays Commemorating the Hundredth Anniversary of Veblen’s Birth, Westport, Greenwood Press, 1977, S. 132. 113 F. Bac, La Fin des temps délicieux. Intimités de la Troisième République, Paris, Hachette, 1935, S. 101. <?page no="452"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 436 7. Rationalisierung und instrumentelle Vernunft: Herbert Marcuses Weber-Kritik und Webers (mögliche) Antwort Ausgehend von Horkheimers und Adornos Kritik der instrumentellen Vernunft (vgl. Kap. VI), deren Herrschaft über die Natur in eine Herrschaft über die Menschen umschlägt, wirft Herbert Marcuse (1898-1979) Max Weber vor, dass er zwar die Entwicklung des Kapitalismus richtig und bis zu einem gewissen Grad sogar kritisch darstellt, schließlich aber nicht über die naturbeherrschende „instrumentelle Vernunft“ des kapitalistischen Systems hinausgeht. Statt ein Jenseits dieser Vernunft anzuvisieren, macht er sich deren Grundsätze zu eigen, weil er keine Alternative wahrnimmt. In seiner „Einleitung zur Diskussion“ über das Thema „Wertfreiheit und Objektivität“, das am 15. deutschen Soziologentag (1964) „Max Weber und die Soziologie heute“ erörtert wurde, kommentiert Horkheimer Webers Position und seinen Vernunftbegriff. Dieser fragt im Rahmen der instrumentellen Vernunft zwar nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck, nicht jedoch nach dem Zweck selbst und seiner Vernunft oder Unvernunft. Die stets wertende Frage nach dem vernünftigen oder unvernünftigen Charakter des Zwecks würde gegen Webers Wertfreiheitspostulat verstoßen: „Das Werturteil soll bei der Aufgabenstellung, nicht bei der Durchführung berechtigt sein. Unzählige soziologische Forschungen lassen tatsächlich vom Zweck, dem sie zu dienen haben, säuberlich sich trennen. Ist der fremde oder eigene Auftrag einmal gegeben, dann wird er nach den fortgeschrittensten, von ihm unabhängigen Regeln und Techniken durchgeführt. So will es die Webersche Konzeption. In der Theorie der Gesellschaft dagegen, der es um die richtige zu tun ist, spielt, was bei Weber mit dem inzwischen zum Klischee herabgesunkenen Begriff des Wertes gemeint ist, in jeden Schritt der Erkenntnis hinein.“ 114 In dieser Kurzdarstellung, die man als Ausgangspunkt von Marcuses Kritik an Weber auffassen könnte, lassen sich drei Kerngedanken unterscheiden: Die instrumentelle Vernunft, die Weber - aus Horkheimers und Marcuses Sicht - vertritt, fragt nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis, d.h. nach der Durchführbarkeit eines Vorhabens, aber nicht nach dessen Sinn und Wert. Der Ausdruck „der fremde oder eigene Auftrag“ bezieht sich auf den vorausgegangenen Satz und besagt, dass Theorie im Sinne von Weber für viele verschiedene, auch unvereinbare und irrationale Zwecke einsetzbar, „instrumentalisierbar“ ist, weil sie in allen Fällen der Naturbeherrschung dient (sie ist ein polyfunktionales Herrschaftsinstrument). Der letzte Satz in der zitierten Passage bezieht sich auf die Kritische Theorie (Horkheimers, Adornos, Marcuses) und unterscheidet die instrumentelle 114 M. Horkheimer, „Einleitung zur Diskussion“ („Diskussion zum Thema Wertfreiheit und Objektivität“), in: Max Weber und die Soziologie heute, op. cit., S. 66-67. <?page no="453"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 437 von der kritischen Vernunft, die nicht nur nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis, sondern auch nach dem vernünftigen oder unvernünftigen Charakter der Zwecke, der letzten Zielsetzungen, fragt. Diese Frage ist nicht von der nach der richtigen Gesellschaft zu trennen. In seinem Vortrag „Industrialisierung und Kapitalismus“, den Marcuse am 15. deutschen Soziologentag hielt und den er als eine radikale Kritik an Weber konzipiert hat, knüpft er an Horkheimers Auffassung der instrumentellen Vernunft als kapitalistischer Vernunft an. Deren drei wesentliche Komponenten sind: Mathematisierung und Quantifizierung, das rationale Experiment und die Entstehung der Bürokratie als „fachmännisch geschulte[r] Beamtenorganisation“. 115 Marcuses zentrales Argument lautet, dass Weber kapitalistische (instrumentelle) Rationalität zur Rationalität schlechthin erhebt: „In Max Webers Soziologie wird formale Rationalität bruchlos zur kapitalistischen Rationalität (…).“ 116 Er fügt hinzu: „In solcher ‚Bändigung‘ wird abendländische Vernunft zur ökonomischen Vernunft des Kapitalismus - zum Streben nach immer erneutem Gewinn im kontinuierlichen, rationalen, kapitalistischen Betrieb.“ 117 Er weist in diesem Zusammenhang auch auf die „Reduktion von Qualität auf Quantität“ 118 hin, die in letzter Zeit in zunehmendem Maße die Universität beschäftigt, an deren Leistungen immer häufiger rein quantitative Maßstäbe angelegt werden. 119 Analog zu Marxʼ Argument, dem zufolge Hegels historischer Vernunftbegriff sein eigenes System Lügen straft und über dieses System hinausweist, versucht Marcuse zu zeigen, dass Webers Analysen der kapitalistisch gesteuerten Rationalisierung kritische und selbstkritische Momente aufweisen, die Fragen nach Alternativen aufkommen lassen. Wenn Weber zeigt, wie das kapitalistische System aufgrund der ihm innewohnenden Ratio zu Bürokratie und Unbeweglichkeit erstarrt, übt er nolens volens wertende Kritik: „Der wertfreie Begriff der kapitalistischen Rationalität wird im Fortgang der Weberschen Analyse zum kritischen Begriff - kritisch 115 H. Marcuse, „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers“, in: ders., Kultur und Gesellschaft II, Frankfurt, Suhrkamp (1965), 1970, S. 110 (ursprünglich erschienen als Vortrag am 15. deutschen Soziologentag in: Max Weber und die Soziologie heute, op. cit.). 116 Ibid. 117 Ibid., S. 110-111. 118 Ibid., S. 111. 119 Vgl. Forschung und Lehre 5, 2017, S. 386: „Zu befürchten sei, dass wissenschaftliche Leistungsbereiche, die sich in Datenerfassungen nicht oder nur unzureichend abbilden ließen, zunehmend verkümmerten und bei Förderungsentscheidungen vernachlässigt würden.“ (Wiedergegeben werden hier die Gedanken des Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes Prof. Bernhard Kempen.) <?page no="454"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 438 nicht nur im Sinn ‚rein-wissenschaftlicher‘, sondern ‚wertender‘, zwecksetzender Kritik der Verdinglichung.“ 120 Marcuse erläutert diesen Sachverhalt: „Max Webers Analyse der Bürokratie durchbricht die ideologische Verschleierung (…).“ 121 Dies hängt, wie sich gezeigt hat, damit zusammen, dass ein werturteilsfreier Nachvollzug einzelner Handlungen (Gruppenverhalten) und Erscheinungen (charismatische Wirkung) durchaus möglich ist, Kritik und Wertung jedoch unvermeidlich werden, sobald im Diskurs als Erzählung soziale Entwicklung erklärt wird. Weber, behauptet Marcuse, bricht seiner eigenen (impliziten, nichtintendierten) Kritik die Spitze ab, wenn er das Bestehende als das einzig Mögliche darstellt: „Aber dann macht die Kritik halt, akzeptiert das angeblich Unabwendbare und wird zur Apologetik - schlimmer noch, zur Denunziation der möglichen Alternative: einer qualitativ anderen geschichtlichen Rationalität.“ 122 In der Kritischen Theorie nimmt diese Rationalität verschiedene Formen an, zielt aber in allen Fällen auf einen herrschaftsfreien Zustand. Bei Adorno und Horkheimer wird in der Dialektik der Aufklärung (vgl. Kap. VI. 5) eine Ausrichtung auf die herrschaftsfreie Mimesis der Kunst vorgeschlagen, Marcuse orientiert sich an der „neuen Sensibilität“ verschiedener gesellschaftlicher Randgruppen und an der Kunst 123 , Habermas fasst die Möglichkeit einer herrschaftsfreien Kommunikation ins Auge (vgl. Kap. XVI), und im vorliegenden Fall soll Dialogizität den herrschaftlichen Monolog durchbrechen. Parallel zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, in der die rationalistisch-positivistische Weltbeherrschung in Irrationalität und Gewalt umschlägt, versucht Marcuse zu zeigen, dass Webers Darstellung des Rationalisierungsprozesses ins Irrationale mündet, weil Weber es ablehnt, den Bereich der instrumentellen, kapitalistischen Rationalität zu verlassen: „Der Webersche Vernunftbegriff terminiert im irrationalen Charisma.“ 124 Es wird sich zeigen, dass diese Einschätzung nicht Webers 120 H. Marcuse, „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers“, in: ders., Kultur und Gesellschaft II, op. cit., S. 113. 121 Ibid., S. 123. 122 Ibid., S. 112-113. 123 Vgl. H. Marcuse, Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Frankfurt, Verlag Neue Kritik, 1980, S. 21: „(…) Hier scheue ich mich nicht, wiederum zu nennen die Opposition der Intellektuellen, besonders der Studenten.“ Vgl. auch, H. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 104-105: „(…) erschließt die Kunst eine andere Dimension der bestehenden Wirklichkeit: die der möglichen Befreiung“. 124 Ibid., S. 121. <?page no="455"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 439 Selbstverständnis entspricht und sogar das Gegenteil von dem behauptet, was Weber bezweckte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und im Anschluss an die europäischen Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus werden freilich auch die fragwürdigen Aspekte von Webers Charisma-Theorie sichtbar. Eine mögliche Nachkriegsreaktion fasst Jürgen Habermas zusammen: „Webers philosophische Antwort heißt: dezisionistische Selbstbehauptung inmitten einer rationalisierten Welt; seine politische Antwort: Spielraum für den willensintensiven und machtinstinktiven Führer - für den starken Politiker, der sich der Fachbeamten, und für den privaten Unternehmer, der sich seines Betriebes zugleich autoritär und rational bedient.“ 125 Habermas spricht von einem „Führer mit Maschine“. 126 In der heutigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation werden kaum jemandem die totalitären Konnotationen solcher Ausdrücke entgehen. Es wäre kurzsichtig, aufgrund von solchen Konnotationen, die man auch in Webers Werk fände, Weber als Vorläufer faschistischer oder nationalsozialistischer Führerschaft aufzufassen. Die Selbstbehauptung, von der Habermas spricht, ist weniger dem Dezisionismus als der Initiative verpflichtet. Angesichts einer zunehmenden Bürokratisierung der Gesellschaft setzt sich Weber - ganz im Sinne seiner liberalen und individualistischen Ideologie - für die Erhaltung der individuellen Initiative ein. Wie Simmel hätte auch er mit Musil sagen können: „Der Individualismus geht zu Ende (…), aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 127 Für Weber ist das Richtige diese Initiative der Verwaltung gegenüber. Aus der Sicht einer kritischen Gesellschaftstheorie würde diese Initiative eher die Form der Demokratisierung annehmen: als Bewegung (im Sinne der polnischen Gewerkschaft Solidarność), als wirtschaftliche Demokratie und Mitbestimmung. Als Jurist, der die Rechtsstaatlichkeit ernst nahm, als liberaler Demokrat hätte Weber (wie Mosca) die faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen wahrscheinlich abgelehnt. Über seine Einstellungen zu Politikern der Nachkriegszeit kann man nur Vermutungen anstellen. M. Rainer Lepsius meint, „wenn er die Nachkriegszeit erlebt hätte, müßte Adenauer ihm doch ganz gut gefallen haben, als Bundeskanzler“. 128 Georges Friedmanns Überlegungen weisen in eine ähnliche Richtung, wenn er in seinem Beitrag zum 15. Deutschen Soziologentag vermutet, „daß Max Webers 125 J. Habermas, Beitrag zur „Diskussion über ‚Wertfreiheit und Objektivität‘“, in: Max Weber und die Soziologie heute, op. cit., S. 79. 126 Ibid. 127 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A Frisé), Hamburg, Rowohlt, 1952, S. 1578. 128 M. R. Lepsius, Beitrag zur Diskussion: „Politik als Kampf - Politik als Beruf“, in: Max Weber. Ein Symposion, op. cit., S. 44. <?page no="456"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 440 Reaktionen auf die größten Persönlichkeiten unter den ‚charismatischen Demagogen‘ seit dem zweiten Weltkrieg im Westen günstig, wenn nicht gar enthusiastisch gewesen wären“. 129 Er weist indirekt auf De Gaulle hin. Tatsächlich hat De Gaulle durch seine Initiative, durch die Einführung eines Präsidialsystems und die Gründung der Fünften Republik nicht unwesentlich zur Stabilisierung der französischen Demokratie beigetragen (die damals freilich ein Sozialist wie Gaston Deferre als „permanenten Staatstreich“, „coup d’Etat permanent“ bewertete). 130 In diesem Kontext könnten Webers mögliche Antworten auf Marcuse rekonstruiert werden. Weber könnte geltend machen, dass er Charisma nicht als irrationale Reaktion auf den Rationalisierungsprozess auffasst, sondern als eine Möglichkeit, der Unbeweglichkeit der Bürokratie mit individueller Initiative und Kreativität zu begegnen. Er könnte tatsächlich auf jemanden wie De Gaulle hinweisen, der mit dieser Initiative etwas bezweckt und erreicht hat, das man in einem ersten Schritt wertfrei nachvollziehen und erst in einem zweiten Schritt bewerten sollte. Zugleich würde er betonen, dass jeder Initiative die Grenzen des Möglichen gesetzt sind. Der von Marcuse beschworenen nichtkapitalistischen Vernunft würde er im Hinblick auf diese Grenzen des Möglichen seine eigene Kritik der sich nach der Oktoberrevolution von 1917 schon abzeichnenden sozialistischen Herrschaftsverhältnisse entgegenhalten: Der sozialistisch organisierte Verwaltungsapparat als wirtschaftlicher Zentralplan und politischer Überwachungsmechanismus belastet die Menschen weitaus stärker als die kapitalistische Verwaltung, die zumindest sporadisch durch Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kontrolle im Zaum gehalten werden kann. Hätte er den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Europa erlebt, könnte er zu bedenken geben, dass die verschiedenen Modelle dieses Sozialismus (Sowjetunion, DDR, Jugoslawien) Versuche waren, die von Marcuse immer wieder evozierte Alternative und mit ihr eine andere, nichtkapitalistische Vernunft zu verwirklichen. Er könnte auf das Scheitern dieser Versuche hinweisen und dieses Scheitern als einen Beweis für die Unmöglichkeit der ganz anderen (utopischen) Vernunft deuten. 129 G. Friedmann, Beitrag zur „Diskussion über ‚Industrialisierung und Kapitalismus‘“, in: Max Weber und die Soziologie heute, op. cit., S. 204. 130 Vgl. dazu: W. J. Mommsen, „Robert Michels und Max Weber. Gesinnungsethischer Fundamentalismus versus verantwortungsethischen Pragmatismus“, in: W. J. Mommsen, W. Schluchter, Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen-Zürich, Vandenhoeck- Ruprecht, 1988, S. 211. Mommsen spricht von Webers „‚aristokratischer‘ Konzeption demokratischer Herrschaft“ und fügt hinzu: „Ausgehend von Beobachtungen über das Parteiensystem und die Veränderung der demokratischen Systeme unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts, die er weitgehend mit Michels teilte, gelangte Weber schließlich dazu, das Prinzip der Volkssouveränität endgültig in das Reich bloßer Fiktionen zu verweisen.“ <?page no="457"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 441 Aus der Sicht der Kritischen Theorie gilt jedoch weiterhin der folgende Satz aus Marcuses Vortrag, der sich auf die latente Gesellschaftskritik in Webers Diskurs bezieht: „(…) Die reinen, wertfreien wissenschaftlichen Begriffe enthüllen die in ihnen enthaltene Wertung - sie werden zu einer Kritik des Gegebenen im Lichte dessen, was das Gegebene den Menschen (und Dingen) antut.“ 131 Dies ist immanente Kritik im doppelten Sinne: Zunächst bezieht sie sich auf die in Webers Diskurs enthaltene, aber implizite Kritik der kapitalistischen Rationalisierung, Bürokratisierung und Verdinglichung; anschließend leitet sie ihre Daseinsberechtigung aus der Negativität des Bestehenden ab: aus dem, „was das Bestehende den Menschen antut“. Aus dieser Negativität schöpft sie zugleich ihre Hoffnung auf Veränderung. Zu dieser Hoffnung gibt ein Satz aus Wolfgang Schluchters Grundlegungen der Soziologie Anlass: „Wie für Marx, ist auch für Weber der Kapitalismus eine historisch gewordene Struktur, nicht für die Ewigkeit gemacht.“ 132 Da das Negative zeitlich begrenzt ist, besteht Hoffnung, dass es einst durch etwas ganz Anderes abgelöst wird. Zusammenfassung und Ausblick: Max Webers Soziologie kann aus vier Gründen als kantianische und neokantianische Antwort auf Hegelianismus und Marxismus betrachtet werden: 1. Sie ersetzt den dialektischen Gedanken, dass individuelles Denken, Sprechen und Handeln durch soziale, kollektive Faktoren (z.B. Ideologien) vermittelt ist, durch die idealistische Trennung; 2. sie gründet auf der individualistischen Annahme, dass alles Handeln individuell ist und dass es daher keine Kollektivsubjekte oder kollektiven Aktanten geben kann; 3. daraus folgt, dass gesellschaftliche Entwicklung nur mit Hilfe von individuellen Aktanten erzählt werden kann; 4. Webers kantianischer Idealismus ermöglicht zugleich seine Wahrnehmung ideeller Faktoren im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Aus seinem Trennungsdenken (1) geht das Postulat der Wertfreiheit hervor, dem zufolge eine verstehende Soziologie das Handeln sozialer Akteure werturteilsfrei beschreiben, verstehen und erklären kann. Dabei werden die Grenzen dieses Verfahrens übersehen: vor allem der Umstand, dass in nahezu jede komplexere Erklärung als Erzählung wertende Relevanzkriterien, semantische Unterscheidungen und ideologisierte Begriffe eingehen. Dies gilt auch für die von Weber konstruierten „Idealtypen“ - etwa für den Typus des „Kapitalismus“. In Webers Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung als Ratio- 131 H. Marcuse, „Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers“, in: ders., Kultur und Gesellschaft II, op. cit., S. 108-109. 132 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015, S. 201. <?page no="458"?> Die verstehende Soziologie Max Webers 442 nalisierungsprozess, in dem die Dominanz des zweckrationalen über das traditionale, das affektuale und das wertrationale Handeln gefestigt wird, macht sich eine liberal-individualistische und zugleich nietzscheanische Ausrichtung auf individuelle Aktanten (2-3) bemerkbar: vor allem in der These, dass nur der Politiker als „charismatisches Individuum“ in der Lage ist, der Bürokratisierung und drohenden Lahmlegung der Gesellschaft Widerstand zu leisten. Diesem „methodologischen Individualismus“ als Ausrichtung auf individuelle Aktanten widerspricht in Webers eigenem Diskurs die Gegenwart kollektiver Aktanten wie „Patrimonialfürsten“, „Bürgertum“, „Feudaladel“ und „Körperschaften“, die von ihm ebenfalls für die Dynamik der sozialen Entwicklung verantwortlich gemacht werden. Es ist Webers Verdienst (4), im Rahmen seiner Marxismus-Kritik, die Bedeutung ideeller - vor allem religiöser - Faktoren (z.B. des puritanischen Protestantismus) für die wirtschaftliche Dynamik untersucht zu haben. Diese Faktoren können nicht auf eine pauschal definierte wirtschaftliche „Basis“ (Marx) reduziert werden. Die beiden letzten Abschnitte befassen sich mit Daniel Bells These, dass die kapitalistische Entwicklung selbst die von Weber analysierte „innerweltliche Askese“ des Protestantismus aushöhlt, und mit Herbert Marcuses Kritik an Weber, in der der Vertreter der Kritischen Theorie Weber vorwirft, er lasse nur die zweckrationale, „instrumentelle“ Vernunft gelten und blende die Frage nach dem vernünftigen oder unvernünftigen Gesamtzusammenhang der Gesellschaft aus. Weber könnte die von Marcuse beschworene „Gesamtvernunft“ als gefährliche Utopie kritisieren und auf die gescheiterten Versuche, diese Utopie im „realen Sozialismus“ zu verwirklichen, hinweisen. Im nächsten Kapitel soll Norbert Eliasʼ Soziologie des Zivilisationsprozesses als Ergänzung zu Webers Prozess der Rationalisierung aufgefasst werden. Die Frage lautet: Inwiefern wird Rationalisierung durch die fortschreitende Zivilisierung der Gesellschaft ermöglicht? <?page no="459"?> 443 XIII. Figuration und Zivilisationsprozess, Engagement und Distanzierung: Norbert Elias ʼ Prozesssoziologie als Ergänzung zu Max Webers Rationalisierungstheorie - und Alfred Webers Replik Inhaltsverzeichnis 1. Autonomie, Teleologie und sozialwissenschaftliche Distanzierung: Von Comte, Spencer und Max Weber zu Norbert Elias 2. Figuration oder Gesellschaft als Interdependenz und Reziprozität: Eliasʼ Verknüpfung von Mikro- und Makrosoziologie, Psycho- und Soziogenese (Elias und Simmel) 3. Der Zivilisationsprozess als ambivalente Entwicklung und als Ergänzung zu Max Webers Rationalisierungstheorie: Eliasʼ Erzählung als Aktantenmodell 4. Der Zivilisationsprozess und Sigmund Freuds Psychoanalyse: Das Unbehagen in Kultur und Zivilisation 5. Zwei Kritiken an Eliasʼ Zivilisationstheorie: Anton Blok und Hans Peter Duerr 6. Zivilisation, Kultur und Rebarbarisierung: Alfred Webers Gegenentwurf Nicht nur in diesem Kapitel wird die Soziologie von Norbert Elias dialogisch als Reaktion auf die Rationalisierungstheorie Max Webers aufgefasst, die sie ergänzt und konkretisiert, sondern auch in Danilo Martuccellis Sociologies de la modernité (1999), wo die beiden theoretischen Konstruktionen als komplementäre Darstellungen der Moderne, als Rationalisierungs- und Zivilisationsprozess, betrachtet werden. Im Anschluss an Roger Chartier meint Martucelli, in Webers Theorie die institutionellen Bedingungen für die Entstehung von Eliasʼ Soziologie der Zivilisation zu erkennen. 1 Tatsächlich kannte Elias Webers Werk, auf das er teils zustimmend, teils kritisch reagiert (ähnlich wie auf Sigmund Freuds Psychoanalyse), und man kann mit Martuccelli annehmen, dass es ihm zu einer wichtigen Inspirationsquelle wurde. Im Folgenden (vor allem im dritten Abschnitt) wird versucht, den komplementären Charakter von Eliasʼ Soziologie in dem Sinne zu deuten, dass sie den sozialen Kontext konstruiert, in dem Webers 1 Vgl. D. Martuccelli, „Norbert Elias, la rationalisation comme autocontrôle“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 231-232 sowie R. Chartier, „Formation sociale et économie psychique: la société de cour dans le processus de civilisation“, préface à Norbert Elias, La société de cour (1969), Paris, Flammarion, 1985, S. VII. <?page no="460"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 444 Erzählung der Rationalisierung konkret verstanden und erklärt werden kann. Diese Betrachtungsweise, die in großen Zügen Eliasʼ eigener Einschätzung seines Ansatzes 2 entspricht und auch von den Kommentaren Georg W. Oesterdiekhoffs gestützt wird 3 , ist keineswegs konsensfähig, wie z.B. die Kritik Richard Münchs 4 erkennen lässt. Der dritte Abschnitt gründet indes auf der Überlegung, dass Formen der Rationalität nur im Rahmen einer bestimmten Kultur oder Zivilisation entstehen können, so dass Rationalisierung im Sinne von Weber einen soziokulturellen Kontext zur Voraussetzung hat. Je einfacher dieser Kontext als menschliche Interaktion oder Interdependenz ist, desto rudimentärer ist die Rationalisierung. Damit ist ein zentraler Begriff von Eliasʼ Soziologie angesprochen: der Begriff der Figuration, der hier im zweiten Abschnitt im Mittelpunkt der Betrachtungen steht. In Anlehnung an Elias, der in Was ist Soziologie? von „Interdependenzgeflechte[n] oder Figurationen mit mehr oder weniger labilen Machtbalancen“ 5 spricht, kann Figuration vorläufig als machtvermitteltes wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Individuen, Gruppen oder Staaten definiert werden, das nicht statisch, sondern historisch als sich ständig änderndes Gleichgewicht („Machtbalance“) aufzufassen ist. Aufgrund seines dynamischen und historischen Charakters ermöglicht der Figurationsbegriff einen Brückenschlag von individueller und kollektiver Interaktion zur Ebene der gesellschaftlichen Entwicklung (zum Zivilisationsprozess) und von der Mikrozur Makrosoziologie. (Davon wird im zweiten Abschnitt ausführlicher die Rede sein.) Im Unterschied zu den älteren Evolutionstheorien Comtes und Spencers, die der Beobachtung makrosozialer Abläufe oder Stadien dienten (theologisches, metaphysisches, positives Stadium im Falle von Comte, militärische Gesellschaften und Industriegesellschaften im Falle von Spencer) und die interindividuelle Ebene zusammen mit der Gruppenebene im Dunkeln ließen, richtet Elias sein Augenmerk auf den Nexus von interindividuellem Handeln und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung. Sein zugleich mikro- und makrosoziologischer Begriff der Figuration, der sowohl Geflechte von Individuen und Gruppen als auch Wechselbeziehungen 2 Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. II: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt, Suhrkamp, 1990 (15. Aufl.), S. 396-397. 3 Vgl. G. W. Oesterdiekhoff, Zivilisation und Strukturgenese. Norbert Elias und Jean Piaget im Vergleich, Frankfurt, Suhrkamp, 2000, S. 64. 4 Vgl. R. Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp (1982), 1988, S. 475. 5 N. Elias, Was ist Soziologie? , Gesammelte Schriften, Bd. V (Hrsg. A. Treibel), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 15. <?page no="461"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 445 zwischen Staaten bezeichnet, bürgt dafür, dass dieser Nexus stets gewahrt bleibt. Außerdem garantiert er, dass die Soziologie als autonome Wissenschaft einen eigenen, für sie spezifischen Gegenstand konstruiert, der nicht auf die Gegenstände der Naturwissenschaften (etwa der Biologie) reduziert werden kann. Der spezifische Gegenstand der Soziologie, der diese als autonome Wissenschaft begründet, geht aus der Erkenntnis hervor, „daß Beziehungen zwischen Individuen eine eigene Struktur und Gesetzmäßigkeit besitzen“. 6 Im Gegensatz zu Durkheim, der die soziale Tatsache als fait social, als vom Kollektivbewusstsein hervorgebrachte Gegebenheit betrachtet, die der Einzelne als „Ding“, Zwang oder Fremdkörper außerhalb seiner Subjektivität erfahren kann, vertritt Elias die Ansicht, dass Individuen vom Sozialen durchdrungen sind, so dass alle Versuche, das Individuum der Gesellschaft entgegenzusetzen, nur Missverständnisse zeitigen können. Zu Durkheim und seinen Weggefährten bemerkt Elias: „Sie können sich aufgrund dieser spezifischen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten die Gesellschaft nur als etwas Überindividuelles vorstellen.“ 7 Das spezifisch Soziale entsteht jedoch nicht über oder jenseits der Individuen, sondern zwischen ihnen, in ihrer Interaktion oder Figuration. In diesem Zusammenhang spricht Elias von der „Eigengesetzlichkeit des Menschengeflechts“. 8 Diese Eigengesetzlichkeit ist gleichermaßen von Spencers Reduktion des Sozialen auf das Individuum und von Durkheims Hypostasierung des Kollektivbewusstseins als fait social entfernt. Sie bildet laut Elias den eigentlichen Gegenstand der Soziologie und begründet deren Autonomie als Nichtreduzierbarkeit auf Physisches oder Biologisches. Sie ist am ehesten mit Georg Simmels Wechselbeziehung zu vergleichen, über die Simmel schreibt: „Als die Aufgabe der Soziologie verstehe ich die Beschreibung und historisch-psychologische Herleitung derjenigen Formen, in denen sich die Wechselwirkungen zwischen Menschen vollziehen.“ 9 Wie Simmel fasst Elias Gesellschaft nicht statisch, sondern dynamisch auf: als Prozess der Vergesellschaftung. Anders als Simmel konstruiert er jedoch keinen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft 6 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt, Suhrkamp (2001), 2003, S. 36. 7 Ibid., S. 35. Zu Durkheim bemerkt Elias in seinem Artikel „Figuration“: „Emile Durkheim (1858-1917) sah die Realität der F[igurationen], aber er sah sie wie etwas außerhalb der einzelnen Menschen Existierendes (…).“ (N. Elias, „Figuration“, in: B. Schäfers [Hrsg.], Grundbegriffe der Soziologie, Opladen, Leske-Budrich, 1986, S. 91.) 8 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, op. cit., S. 82. 9 G. Simmel, „Soziologie der Über- und Unterordnung“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. II, Gesamtausgabe, Bd. VIII (Hrsg. A. Cavalli, V. Krech), Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 180. <?page no="462"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 446 und betont den dynamischen Charakter des Figurationsbegriffs, der es ihm gestattet, die individuelle Mikroebene mit dem makrosoziologischen Prozess der Zivilisation zu verknüpfen. Freilich geht es in dieser Terminologie nicht um allgemein gültige und allerorten anerkannte Begriffe, die sich auf eindeutig feststellbare Sachverhalte beziehen (wie Begriffe der Physik oder Chemie), sondern um lexikalisch-semantische Konstruktionen, die für Elias spezifisch sind und die Grundlage seiner Erzählung als Konstruktion bilden. Wie sieht diese Erzählung aus? Sie hängt eng mit seiner Biografie und seiner Entwicklung als Soziologe zusammen und soll vorerst nur in großen Zügen skizziert werden. Elias wurde als Sohn deutsch-jüdischer Eltern im Jahre 1897 in Breslau geboren und starb 1990 in Amsterdam, wo er zahlreiche (mitunter kritische) Anhänger fand. Er studierte bei Heinrich Rickert, Martin Heidegger und in Heidelberg bei Alfred Weber, dem er ein Habilitationsprojekt vorlegte. Zu Eliasʼ Lebenslauf bemerkt Stefan Breuer: „Die ersten Stationen seines wissenschaftlichen Werdegangs führten Norbert Elias tief in die Welt Max Webers. Das Soziologiestudium in Heidelberg, der Vortrag im Salon Marianne Webers, das Habilitationsprojekt bei Alfred Weber - so beginnen Schulkarrieren. Dennoch ist Elias kein Weberianer geworden.“ 10 Er hat aber, wie sich hier vor allem im dritten Abschnitt zeigen wird, seine Soziologie in einem permanenten Dialog mit Max Weber (und wohl auch mit dessen Bruder Alfred) entwickelt. Er wurde 1930 Assistent bei Karl Mannheim in Frankfurt, wo er sich 1933 habilitierte. Die nationalsozialistische Machtergreifung zwang ihn zur Emigration nach Großbritannien, wo er schließlich Dozent an der Universität von Leicester wurde. Sein zweibändiges Hauptwerk - Über den Prozeß der Zivilisation (1939) - entstand in den 1930er Jahren und kann als eine Reaktion auf den von den Nationalsozialisten eingeleiteten Prozess der Rebarbarisierung gelesen werden: als Gegenentwurf und Gegenerzählung. Diese Erzählung ist in einen Humanismus eingebettet, der von der Hoffnung gespeist wird, dass sich der europäische Prozess der Zivilisierung trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge als irreversibel erweist. Elias untersucht diesen Prozess nicht europaweit (ein unmögliches Unterfangen), sondern richtet sein Augenmerk - sowohl in Über den Prozeß der Zivilisation als auch in Die höfische Gesellschaft (1969) - auf die Übergangszeit zwischen dem Feudalismus und dem absoluten Königtum Ludwigs XIV. Als zentrales Ereignis der Zivilisationserzählung erscheint die Domestizierung des Feudaladels (der noblesse d’épée) am Hof von Versailles: Nach dem 10 S. Breuer, „Gesellschaft der Individuen, Gesellschaft der Organisationen. Norbert Elias und Max Weber im Vergleich“, in: K.-S. Rehberg, Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 303. <?page no="463"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 447 Scheitern der Fronde, einer adeligen Rebellion, die sich gegen die Zentralisierungsbestrebungen des Königtums richtete, wurden die waffentragenden Ritter allmählich zu Höflingen (courtisans), sofern sie nach Einfluss und Geltung strebten. Wie das zentrale Ereignis über die Ausrichtung des Novellendiskurses entscheidet, so entscheidet dieses historische Ereignis über die Ausrichtung von Eliasʼ soziologischem Diskurs. Auch hier gilt der schon kommentierte Gedanke von Werner Schiffer, dass jede Erzählung „bereits als solche eine Form der Erklärung ist“. Fortschreitende Zivilisation wird hier durch das zentrale Ereignis der Unterwerfung des Feudaladels im Absolutismus erklärt. Es fragt sich, ob dieses historische Ereignis die Entwicklung der gesamten Moderne prägen und auf kontinuierliche Zivilisierung festlegen kann. Obwohl Elias die Fortschrittsskepsis anderer spätmoderner Soziologen wie Tönnies und Simmel durchaus teilt (der Glaube an einen unaufhaltsamen Fortschritt der Zivilisation ist ihm fremd), wird seine Erzählung von der Hoffnung getragen, dass der Prozess der Zivilisierung trotz aller Unterbrechungen letztlich fortgeführt wird. Carlo Mongardini spricht im Zusammenhang mit Elias von einem „unendlichen Prozess der Humanisierung“ 11 , und Michael Hinz kommt zu dem Schluss: „Gleichwohl sind die humanistischen Wunschbilder, die in Eliasʼ Zivilisationsbegriff mitschwingen, unübersehbar.“ 12 Doch Hoffnungen, Wunschbilder und Angstvisionen, die nahezu alle soziologischen Diskurse durchziehen, begründen noch keine Teleologie im Sinne von Comte oder Spencer, zumal Elias, wie sich im ersten Abschnitt zeigen wird, von dem Gedanken ausgeht, dass Langzeitentwicklungen wie der Zivilisationsprozess von niemandem geplant werden. 13 Seine Hoffnung mündet in eine Frage, die er als Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung seit der Aufklärung aufwirft: „Wie erklärt es sich dann - das ist das Problem -, daß in dieser Zeit die von niemandem geplanten oder kontrollierbaren Verflechtungsmechanismen sozusagen blind in die Richtung einer größeren Humanisierung der menschlichen Beziehungen gingen? “ 14 Diese Frage provoziert jedoch die skeptische Gegenfrage, ob das wirklich der Fall ist. 11 C. Mongardini, „‚Wie ist Gesellschaft möglich? ‘ Georg Simmel, Norbert Elias und die Aufgaben einer soziologischen Neuorientierung“, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, op. cit., S. 295. 12 M. Hinz, Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? Wissenschaftssoziologische Untersuchungen zur Elias-Duerr-Kontroverse, Opladen, Leske-Budrich, 2002, S. 120. 13 Selbstverständlich weiß Elias, dass Planung in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft eine wichtige Rolle spielt: „Würden Menschen aufhören zu planen und zu handeln, dann gäbe es auch keine sozialen P[rozesse] mehr.“ (N. Elias, „Prozesse, soziale“, in: B. Schäfers [Hrsg.], Grundbegriffe der Soziologie, op. cit., S. 238.) 14 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 208. <?page no="464"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 448 1. Autonomie, Teleologie und sozialwissenschaftliche Distanzierung: Von Comte, Spencer und Max Weber zu Norbert Elias Wie Durkheim, Simmel und Max Weber versucht Elias, die Soziologie als neue, autonome Wissenschaft aus dem Bann philosophischer und ideologischer Erzählungen zu lösen und deren teleologische Strukturierungen zu vermeiden. Obwohl er in mancher Hinsicht an Comtes und Spencers Evolutionstheorien anknüpft, zumal der von ihm beschriebene Zivilisationsprozess eine Evolution beinhaltet, übernimmt er weder Comtes Vorstellung von der sozialen Entwicklung als eines von Gesetzen gesteuerten Ablaufs noch Comtes und Spencers Teleologien. Zu Recht erinnert Artur Bogner daran, „daß Elias selbst das Konzept der Gesetzeswissenschaften als Gegenbild zu seiner eigenen Methode in Anspruch nimmt“. 15 Dennoch kann die Bedeutung Spencers und vor allem Comtes für Eliasʼ Soziologie kaum unterschätzt werden. Dazu bemerkt Georg W. Oesterdiekhoff: „Der einzige Soziologe, den Elias jemals wirklich hat gelten lassen, der einzige, den er wohlwollend diskutiert und einschätzt, und der einzige, auf den er sich massiv als Vorbild bezieht, ist Auguste Comte (…).“ 16 Diese Deutung wird u.a. im ersten Kapitel von Eliasʼ Schrift Was ist Soziologie? bestätigt, das den Titel trägt „Soziologie - Die Fragestellung Comtes“. Comte erscheint Elias als Vorläufer der modernen Soziologie, die danach strebt, sich von der metaphysischen Spekulation zu trennen, weil er ihre Autonomie den Naturwissenschaften gegenüber hervorhebt: „In der Erkenntnis der relativen Autonomie der Gesellschaftswissenschaft gegenüber den älteren Naturwissenschaften liegt der entscheidende Schritt, den Comte tat.“ 17 Obwohl in Comtes Augen die Naturwissenschaften im Rahmen der „Enzyklopädie“ durchaus eine Vorbildfunktion haben (vgl. Kap. V. 2), erblickt Comte - wie Elias - in der Soziologie eine autonome Wissenschaft, die schon wegen der Komplexität menschlicher Beziehungen nicht auf eine der Naturwissenschaften reduzierbar ist. Um diese nichtreduzierbare Komplexität ist es auch Elias zu tun, der immer wieder daran erinnert, dass sich eine Analyse des Sozialen nicht damit begnügen kann, dieses in seine Bestandteile zu zerlegen und es als eine Ansammlung von miteinander unverbundenen Individuen aufzufassen. Die schon von Comte ins Auge gefasste Verflechtung ist der eigentliche, der spezifische Gegenstand der Soziologie, den Elias am Ende des ersten, Comte gewidmeten Kapitels von Was ist Soziologie? programmatisch beschreibt: 15 A. Bogner, „Die Theorie des Zivilisationsprozesses als Modernisierungstheorie“, in: H. Kuzmics, I. Mörth (Hrsg.), Der unendliche Prozeß der Zivilisation. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Norbert Elias, Frankfurt-New York, Campus, 1991, S. 36. 16 G. W. Oesterdiekhoff, Zivilisation und Strukturgenese, op. cit., S. 31. 17 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 45. <?page no="465"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 449 „Es gilt zu zeigen, wie und warum die Verflechtung interdependenter Individuen eine Integrationsstufe bildet, deren Zusammenhangsformen, deren Prozesse und Strukturen sich nicht ableiten lassen aus den biologischen oder psychologischen Eigentümlichkeiten der sie bildenden Individuen.“ 18 Wie Durkheim, Tönnies und Simmel macht sich auch Elias Gedanken über den spezifischen Charakter der Soziologie und stellt trotz aller Differenzen, die ihn von seinen Vorgängern trennen, in Übereinstimmung mit ihnen fest, dass das Soziale im Interindividuellen zu suchen ist: in dem, was über das rein Individuelle, das Biologische oder Psychische, hinausgeht. Als fensterlose Monade jenseits aller Interdependenzen mit anderen Menschen ist der Einzelne nicht zu verstehen - jedenfalls nicht soziologisch. Über ihn schreibt Elias in Die Gesellschaft der Individuen, wo es u.a. um das gesellschaftlich Spezifische im Individuum geht: „Diese Geschichte, dieses Menschengeflecht ist in ihm gegenwärtig und durch ihn repräsentiert, ob er nun aktuell in Beziehung zu anderen steht oder ob er allein ist (…).“ 19 Auch der vereinsamte Robinson Crusoe, der nach einem Schiffbruch auf einer menschenleeren Insel landet, tritt dort - nach Elias - als Repräsentant seiner Gesellschaft auf. In dieser Hinsicht trifft sich Eliasʼ Argumentation mit der des polnischen Marxisten Jan Kot, der im Zusammenhang mit Crusoe vom „Kapitalismus auf einer öden Insel“ 20 spricht. Das Nachdenken über den spezifischen Charakter der Soziologie, das Comte und Elias verbindet, bringt ein Nachdenken über die gesamtwissenschaftliche Entwicklung in der Geschichte der Gesellschaft mit sich. In Übereinstimmung mit seiner Verflechtungs- und Figurationstheorie gelangt Elias zu der Einsicht, dass sich das Wissen im Rahmen menschlicher Interdependenzverhältnisse ständig ändert und nicht auf „etwas Unwandelbares“ 21 zurückgeführt werden kann. Die Wissenschaft ist, wie die Gesellschaft insgesamt, ein Prozess: „ein Aspekt der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen“. 22 Dieser Tatsache, meint Elias, sei sich Comte durchaus bewusst gewesen. Von Comte, Marx und Spencer distanziert sich Elias, sooft er den Determinismus ihrer Diskurse in Frage stellt und zusammen mit ihm die Teleologie, die dieser Determinismus beinhaltet. Über Comte und Marx schreibt er beispielsweise: „Sie beweisen sich selbst, und sie suchen uns zu beweisen, daß die geschichtlich-gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig in der 18 Ibid., S. 59. 19 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, op. cit., S. 48. 20 Vgl. J. Kott, „Kapitalismus auf einer öden Insel“, in: V. Žmegač (Hrsg.), Marxistische Literaturkritik, Frankfurt, Athenäum-Fischer (1970), 1972, S. 167: „Noch mehr, Robinson unterscheidet sogar auf seiner öden Insel den Gebrauchswert vom Tauschwert.“ 21 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 52. 22 Ibid., S. 56. <?page no="466"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 450 von ihnen gewünschten Richtung verlaufen muß.“ 23 (Diese deterministische Auffassung der Marxschen Theorie wird jedoch häufig in Frage gestellt.) 24 In seinem Werk Über den Prozeß der Zivilisation beschreibt er zwar auch eine Entwicklung und stützt sich dabei oft auf Comtes, Marxʼ und Spencers Begriff der Differenzierung (als Arbeitsteilung und funktionale Gliederung), er selbst geht aber nicht von einem teleologisch strukturierten Determinismus aus. Im Gegenteil, ihm erscheinen soziale Prozesse als ungeplante Bewegungen ohne Anfang und Ende, die auch reversibel sein können. Der Zivilisationsprozess, den er anhand des Übergangs von der feudalen zur absolutistischen Gesellschaftsordnung erzählt, bewegt sich auf kein klar definiertes Ziel zu und kann rückgängig gemacht werden, wie sich hier im dritten Abschnitt zeigen wird. Im Gegensatz zu den modernen Diskursen von Marx, Comte und Spencer, die eindeutig auf Ziele („klassenlose Gesellschaft“, „positives Stadium“, „Gesellschaft freier Individuen“) ausgerichtet sind, ist Eliasʼ Diskurs von einer spätmodernen Skepsis geprägt, die sowohl den Glücksfall als auch die stets mögliche Katastrophe im Auge behält. Ein solcher Diskurs kann, vor allem wenn er kontrastiv mit den Diskursen Marxʼ, Comtes und Spencers verglichen wird, nicht als teleologisch bezeichnet werden, weil Elias sich gerade vom ideologischen, auf ein Ziel ausgerichteten Engagement der modernen Denker kritisch distanziert. Diese Distanzierung von Ideologie und Teleologie wird von Elias reflektiert, indem er sich selbst als Sozialwissenschaftler stärker noch als Comte in seine Analysen einbezieht und versucht, sich vom eigenen Engagement selbstkritisch zu entfernen. 25 Seine Distanzierung vom eigenen ideologischen Wertsystem ist mit einer stets ideologisch motivierten Teleologie unvereinbar. Kenneth Anders ist anderer Meinung: „Wer einen humanistischen Gehalt als Entwicklungsmoment im geschichtlichen Terrain verankert, strukturiert dieses Terrain unweigerlich teleologisch (…).“ 26 Anders äußert sich auch zum Telos: „Das Ziel des Zivilisationsprozesses ist eindeutig be- 23 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, op. cit., S. 106. 24 Vgl. z.B. G. Lichtheim, Marxism. An Historical and Critical Study, London, Routledge and Kegan Paul, 1967 (3. Aufl.), S. 237. (Die deterministischen Komponenten sind bei Engels viel stärker ausgeprägt als bei Marx.) 25 N. Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 59-60. 26 K. Anders, „Fortgeschrittener Humanismus oder humanistischer Fortschritt? Norbert Elias und das Teleologieproblem“, in: A. Treibel, H. Kuzmics, R. Blomert (Hrsg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz. Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias, Opladen, Leske-Budrich, 2000, S. 56. <?page no="467"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 451 stimmbar: Verläuft er weiter im angegebenen Richtungssinn, steht an seinem Ziel die Weltgesellschaft.“ 27 Dazu ist Folgendes zu sagen: Jede Ideologie lebt von Zielvorstellungen: eine große Nation, eine freie Menschheit, ewiger Friede, soziale Gerechtigkeit usw. Im Gegensatz zu Marx, Comte und Spencer gibt Elias kein Ziel vor, auch nicht im Rahmen einer humanistischen Ideologie, sondern gibt wie G. H. Mead (vgl. Kap. III. 1) einer Hoffnung Ausdruck: der Hoffnung auf eine befriedete, zivilisierte Menschheit. Er weiß sehr wohl, dass diese Hoffnung enttäuscht werden kann - und nicht wie Comtes „positives Stadium“ zwangsläufig, gesetzmäßig in Erfüllung geht. Zur Teleologie gehört auch der Determinismus, der in Comtes Auffassung der Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen zum Ausdruck kommt. Davon zeugt die folgende Definition des Teleologiebegriffs aus dem Philosophischen Wörterbuch: „(…) die Lehre, wonach nicht nur das menschl. Handeln, sondern auch das geschichtl. und das Naturgeschehen im ganzen wie im einzelnen durch Zwecke (teleologisch) bestimmt und geleitet werde (…).“ 28 Der Ausdruck „bestimmt und geleitet“ weist auf den Determinismus hin. Dieser fehlt bei Elias, und Anders selbst bringt dieses Fehlen indirekt zur Sprache mit der Einschränkung „verläuft er weiter im angegebenen Richtungssinn“. In Eliasʼ Diskurs ist es keineswegs sicher, dass der Zivilisationsprozess „weiter so verläuft“. Dadurch unterscheidet sich dieser Diskurs von dem Spencers, mit dem er in einem wesentlichen Punkt übereinstimmt. Denn auch Spencer geht von dem Gedanken aus, dass die Gesellschaft im Übergang vom „militärischen“ zum „industriellen“ Stadium zivilisierter wird, weil sie als industrielle und liberale Marktgesellschaft weitgehend auf Gewalt und Zwang wird verzichten können: „(…) Der industrielle Typus ist deshalb der höher stehende, weil er, in jenem Zustande des dauernden Friedens, welchem die Civilisation entgegenstrebt, dem individuellen Wohlergehen besser dient als der kriegerische Typus.“ 29 Elias mag die folgenden Zeilen bei Spencer mit Zustimmung gelesen haben: „(…) The effects of living in the associated state have become greater than the effects of barbarizing antagonisms, and progress has resulted.” 30 Aber er hält diesen progress nicht länger für eine unaufhaltsame Bewegung. Ein Vergleich von Eliasʼ und Spencers Diskursen lässt eine Übereinstimmung und eine Abweichung zutage treten: Bei Spencer wird Industriali- 27 Ibid., S. 63. 28 G. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart, Kröner, 1978, S. 688. 29 H. Spencer, Die Principien der Sociologie (Hrsg. B. Vetter), Bd. II, Stuttgart, Schweizerbartʼsche Verlagsbuchhandlung, 1877, S. 180. 30 H. Spencer, On Social Evolution. Selected Writings (Hrsg. J. D. Y. Peel), Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1972, S. 21. <?page no="468"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 452 sierung einerseits als Zivilisationsprozess aufgefasst, der (ähnlich wie bei Elias) Befriedung und Wohlergehen begünstigt; andererseits macht sich im Postulat des „höheren Stadiums“ („höher stehende“) und vor allem im Verb „entgegenstrebt“ ein Determinismus bemerkbar, den man bei Elias vergeblich suchte. Der Unterschied zwischen Spencer und Elias fällt mit dem zwischen einer selbstsicheren und zuversichtlichen Moderne und einer verunsicherten oder skeptischen Spätmoderne zusammen. Obwohl Max Weber dieser Spätmoderne angehört, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, ist seine Skepsis prononcierter als die von Elias. Der Unterschied hängt mit dem zwischen den Begriffen Rationalisierung und Zivilisation zusammen. Während das Wort „Rationalisierung“ bei Weber bald positive, bald negative Konnotationen annimmt, ist das Wort „Zivilisation“ bei Elias vorwiegend positiv konnotiert: Es wird immer wieder mit der Vorstellung von einer humaneren (weniger repressiven, weniger gewalttätigen) Gesellschaft verknüpft. Bei Weber läuft Rationalisierung, wie sich gezeigt hat, auch auf die allmähliche Verdrängung des „Kulturmenschen“ durch einen hochspezialisierten „Fachmenschen ohne Geist“ 31 hinaus und auf eine Bürokratisierung der Gesellschaft, die jede Art von Initiative zu ersticken droht. Der von Elias beschriebene Zivilisationsprozess bringt zwar auch rationaleres Verhalten und komplexere Organisationsformen mit sich, bewirkt letztlich aber eine Mäßigung individueller Affekte und eine Befriedung der Gesellschaft als ganzer. Daher wirkt Eliasʼ Ansatz zuversichtlicher und „moderner“ (im Sinne von Comte und Spencer) als Max Webers skeptisch-spätmoderne Prognose. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Beobachtungen der beiden Soziologen besteht darin, dass Weber sein Augenmerk auf den makrosoziologischen Rationalisierungsprozess richtet, während sich Eliasʼ Argumentation zwischen den psychogenetischen und den soziogenetischen Entwicklungen, zwischen Mikro- und Makrosoziologie bewegt. Dazu bemerkt Annette Treibel: „Soziogenese und Psychogenese beeinflussen sich gegenseitig, beide sind ohne einander nicht zu denken.“ 32 Da sowohl Soziogenese als auch Psychogenese auf ein „Mehr“ an Zivilisiertheit und Humanität hinauslaufen, vermittelt Eliasʼ Diskurs mehr Zuversicht als der Diskurs Webers. Eine anthropomorphe Vereinfachung des Unterschieds könnte lauten: Während Weber die Vorherrschaft eines „Fachmenschen ohne Geist“ befürchtet, setzt Elias seine ganze Hoffnung auf den zivilisierteren, Zurückhaltung übenden Menschen. Hier zeigt sich, dass die Entwicklung der 31 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hrsg. D. Kaesler), München, Beck, 2013 (4. Aufl.), S. 201. 32 A. Treibel, Die Soziologie von Norbert Elias. Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 19. <?page no="469"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 453 Moderne auf sehr verschiedene Arten erzählt werden kann. Im dritten Abschnitt wird der Frage nachgegangen, wie sich Eliasʼ und Webers Erzählungen zueinander verhalten. Eine kurze Betrachtung zum Verhältnis von „Wertfreiheit“ und „Distanzierung“ soll diesen Abschnitt abschließen. Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass Webers Wertfreiheitspostulat zwar sinnvoll, aber nicht unproblematisch ist, weil jeder sozialwissenschaftliche Diskurs auf Relevanzkriterien gründet, die per definitionem (als Selektionsmechanismen) nicht frei von Werturteilen sein können: Es gibt im sozio-kulturellen Bereich keine wertfreie Auswahl. Klassenkampf, Geschlechterkampf, Bürokratie / Charisma, Zivilisation / Barbarei, Kultur / Zivilisation (A. Weber): Welcher dieser Gegensätze, die über die Ausrichtung des Diskurses entscheiden, ist relevant und warum? Es ist nicht möglich, diese Frage zu beantworten, ohne zu werten. In dem hier konstruierten Kontext scheint daher die von Elias in Engagement und Distanzierung skizzierte Alternative zu Webers Wertfreiheit sinnvoll zu sein: „Die Unterscheidung von heteronomen und autonomen Wertungen tritt an die Stelle der irreführenden Unterscheidung von ‚wertenden‘ und ‚wertfreien‘ Wissenschaften.“ 33 Diese von Elias vorgeschlagene Unterscheidung ist - wie er selbst sagt - nicht „statisch“, sondern ein Prozess, in dessen Verlauf das Diskurssubjekt versucht, sich von seinem eigenen Engagement zu distanzieren, um die Theorie nicht dem ideologischen Mechanismus zu opfern. Sein Vorschlag ergänzt die hier im zweiten Kapitel erläuterte Wechselwirkung von ideologischem und theoretischem Diskurs. In den Sozialwissenschaften braucht die Theorie zwar das durchaus fruchtbare ideologische (liberale, humanistische, konservative, feministische oder marxistische) Engagement; zugleich muss sie aber durch Distanzierung oder Ideologiekritik des Diskurssubjekts dafür sorgen, dass dieses Engagement den Diskurs nicht in eine dualistische und monologische Struktur verwandelt, die sich implizit oder explizit mit der Wirklichkeit identifiziert. 2. Figuration oder Gesellschaft als Interdependenz und Reziprozität: Elias ʼ Verknüpfung von Mikro- und Makrosoziologie, Psycho- und Soziogenese (Elias und Simmel) Der in der Einleitung schon ansatzweise definierte Begriff Figuration nimmt zusammen mit den Begriffen Zivilisationsprozess und Distanzierung eine zentrale Stellung in Eliasʼ Terminologie ein. Denn er verbindet als dynamischer Begriff, der sich wandelnde soziale Reziprozitätsverhältnisse 33 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 59. <?page no="470"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 454 bezeichnet, die interindividuelle mikrosoziologische Ebene mit der makrosoziologischen Ebene, auf der auch Staaten Figurationen bilden können. Im Folgenden soll in einem ersten Schritt dieser Begriff näher bestimmt werden; in einem zweiten Schritt wird seine Funktion als vermittelnde Instanz zwischen Mikro- und Makrosoziologie, Psychogenese und Soziogenese untersucht. Wenn Elias in Was ist Soziologie? feststellt, „daß Gesellschaften Figurationen interdependenter Menschen sind“ 34 , so definiert er nicht nur Gesellschaft als ein Ensemble von Figurationen, sondern wendet sich zugleich gegen eine rein individualistische Auffassung von Gesellschaft im Sinne von Spencer, die auf dem Postulat gründet, dass alles in seine Teile zerlegt und anhand dieser voneinander isolierten Teile verstanden und erklärt werden kann. Auf philosophischer Ebene, die Elias keineswegs vernachlässigt, weist er alle Versuche zurück, den Menschen aufklärerisch-individualistisch als fensterlose Monade, als homo clausus aufzufassen und der soziologischen Theoriebildung zugrunde zu legen. Ausgehend von einer Kritik an Descartes, der alle seine Einsichten in die Weltordnung aus dem einsamen cogito des isolierten Individuums ableitet 35 und nicht über dieses Individuum als geschlossene Einheit (als homo clausus) hinausgeht, plädiert Elias für ein offenes Menschenbild im Sinne der Interdependenz. Er setzt sich für eine „Überleitung vom Menschenbild des ‚homo clausus‘ zu dem der ‚homines aperti‘“ 36 ein. Komplementär zu dieser Kritik am „geschlossenen Menschen“ verhält sich die Darstellung der Figuration im ersten Band von Über den Prozeß der Zivilisation: „Es ist angemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild ein Bild vieler interdependenter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener Art, bilden.“ 37 Auf die Verwandtschaft zwischen Georg Simmels dynamischer, prozessualer Soziologie und Norbert Eliasʼ Figurationstheorie wurde in der Einleitung bereits hingewiesen. Man meint fast, einen Text von Simmel zu lesen, wenn man auf Eliasʼ Frage in Was ist Soziologie? stößt, „in welcher Weise sich die Anzahl der möglichen Beziehungen in einer Gruppe vermehrt, wenn die Anzahl der Menschen in dieser Gruppe zunimmt“. 38 Dies erinnert an Simmels Untersuchungen über die Bedeutung der Zahl - in der Zweierbeziehung, der Dreierbeziehung, der Gruppe von zehn Personen 34 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 194. 35 Vgl. N. Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (11. Aufl.), S. 31-32. 36 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 165. 37 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt, Suhrkamp, 1990 (15. Aufl.), S. LXVII. 38 N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit., S. 129. <?page no="471"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 455 oder der Hundertschaft 39 - für das Bewusstsein und die Handlungsfähigkeit der Mitglieder. Es erinnert auch an seine Hervorhebung der „gegenseitigen Bestimmung der Einzelnen“, der „Wechselbedeutung des Einzelnen für die Totalität der anderen und dieser Totalität für den Einzelnen“. 40 Auch Simmel erscheint Gesellschaft als ein Prozess der Vergesellschaftung, der durch Wechselbeziehung oder Interdependenz zustande kommt. Nicht zu Unrecht bemerkt Carlo Mongardini zu Elias: „Er ist unter einer ganzen Reihe von Aspekten der geistige Nachfolger Simmels.“ 41 Denn es geht nicht nur um die Auffassung des Individuums als interdependenter, aus Reziprozitäten hervorgehender Instanz, sondern auch um die Gesellschaft als Prozess sich wandelnder, machtvermittelter Wechselbeziehungen oder Interdependenzen. (Man denke etwa an Simmels soziologische Form der „Unter- und Überordnung“.) Während aber Simmel sein Augenmerk vorrangig auf Sozialisationsprozesse richtet, die zwischen Individuen und Gruppen stattfinden, bildet Eliasʼ Figurationsbegriff einen Übergang von der individuellen, mikrosoziologischen Ebene zum makrosoziologischen Zivilisationsprozess. Diesen wesentlichen Unterschied zwischen Simmel und Elias fasst Mongardini zusammen: „Während sich Simmel aber mehr der Untersuchung der Sozialisierungsformen im abstrakten Sinne zuwandte, war es für Elias die vorrangige Aufgabe der Soziologie, die historischen Formen der Sozialisierung herauszustellen und sie in ihren kulturhistorischen Kontext einzuordnen. Deshalb ersetzt er den Begriff ‚Sozialisierung‘ bald durch ‚Zivilisation‘.“ 42 Die Tatsache, dass „Sozialisierung“ ein vorwiegend neutraler Begriff ist (sie kann sowohl in Gangsterbanden als auch in Kindergärten und Klöstern stattfinden), während „Zivilisation“ eher positiv konnotiert ist, hat, wie sich zeigen wird, Folgen für die Rezeption von Eliasʼ Werk, in dem die ambivalente - befreiende und zerstörerische - Wirkung der Marktmechanismen und des Geldes kaum zur Sprache kommt (vgl. Abschn. 3 und 6). An Simmels Begriffe der Form und der Wechselbeziehung, die in ihrer Neutralität sowohl Konsens als auch Konflikt, sowohl konstruktives (institutionalisiertes) als auch destruktives (kriminelles) Verhalten bezeichnen können, erinnert auch Eliasʼ Auffassung der Figuration als eines neutralen, „distanzierten“ Begriffs, der alle Arten sozialer Interaktion bezeichnen kann. „Der Begriff der Figuration ist neutral“, erklärt Elias und fügt hinzu: 39 Vgl. G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. XI, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (8. Aufl.), S. 152-153. 40 Ibid., S. 60. 41 C. Mongardini, „Wie ist Gesellschaft möglich? “, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, op. cit., S. 294. 42 Ibid. <?page no="472"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 456 „Er kann sich auf harmonische, auf friedliche und freundliche Verhältnisse von Menschen, wie auf unfreundliche und spannungsreiche Verhältnisse beziehen.“ 43 Besonders anschaulich stellt Elias die Figuration als soziale Wechselwirkung anhand der Königsposition in der höfischen Gesellschaft dar. Während der König, vor allem Ludwig XIV, durch sein Bestreben, die Verwaltung des Landes zu zentralisieren und sein Machtmonopol abzusichern, den Feudaladel in einen der Verwaltung dienenden Hofadel verwandelte, machte er selbst einen Status- und Funktionswandel durch: Aus einem primus inter pares, der ursprünglich vor allem ein angehöriger des Adels war (etwa der „Ritter“ François I), wurde ein einsamer Herrscher. Ihm fiel mit der Zeit die Aufgabe zu, am Hof von Versailles die Machtbalance zu erhalten und Gruppierungen, von denen eine jede ihm gefährlich werden konnte, gegeneinander auszuspielen. 44 Zugleich stützte er sich auch auf das erstarkende Bürgertum (sein Finanzminister Colbert war bürgerlicher Herkunft), um den in der Provinz immer noch mächtigen Feudaladel in Schach zu halten. Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung des Bürgertums, das sich am Adel als Bezugsgruppe orientierte und mit ihm bisweilen wetteiferte (man kann heute noch den prunkvollen Palast des bürgerlichen Jacques Cœur in Bourges bewundern), trug zu Macht- und Statusverschiebungen innerhalb der Figuration bei, die Elias ausführlich kommentiert: „Die Lebensführung der Finanziers ihrerseits aber wirkt wieder zurück auf die der Grandseigneurs.“ 45 Hier tritt der innovative Charakter des Figurationsbegriffs zutage: Anders als Marx und Comte, die Gruppierungen wie Bourgeoisie und Proletariat, Theologen, Metaphysiker oder positive Wissenschaftler einander primär als Gegner gegenüberstellen, zeigt Elias, wie Individuen und Gruppen einander wechselseitig beeinflussen, ihr Handeln aufeinander abstimmen und dadurch die gesamte Figuration als Konstellation verändern. Anders als Marx interessiert er sich für die Frage, wie im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Hochkapitalismus, Bürgertum und Arbeiterschaft, Unternehmerverbände und Banken, Parteien und Gewerkschaften interagieren, bis das Proletariat, das sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Rechte erkämpft, dem Kleinbürgertum sowohl wirtschaftlich als auch statusmäßig immer ähnlicher wird. Dass Elias auch den Klassenantagonismus als Figuration betrachtet, lässt die folgende Passage erkennen, in der nahezu alle Figurationsebenen genannt werden: „Figurationen können Individuen miteinander bilden. 43 N. Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (13. Aufl.), S. 244. 44 Ibid., S. 254-255. 45 Ibid., S. 114. <?page no="473"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 457 Innerstaatlich können regionale Gruppierungen oder soziale Formationen durch funktionelle Interdependenzen auf die verschiedenste Weise miteinander verbunden sein, zum Beispiel Klassen in der Form von Klassenkonflikten. Aber auch Staaten bilden Figurationen miteinander.“ 46 Diese Passage ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie zeigt, wie mit Hilfe des Figurationsbegriffs eine Brücke von der Mikrosoziologie der Individuen und Gruppen zur Makrosoziologie der Klassenkonflikte und der zwischenstaatlichen Beziehungen, von der Psychogenese zur Soziogenese geschlagen wird. Elias betont immer wieder, dass die traditionelle Soziologie sich vorwiegend mit innerstaatlichen Beziehungen befasst, während er selbst zwischenstaatliche Beziehungen nicht der Politikwissenschaft überlassen, sondern in die Makrosoziologie einbeziehen möchte. 47 Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union mögen in aller Knappheit veranschaulichen, was gemeint ist und warum zwischenstaatliche Beziehungen innerstaatlich und sozialpsychologisch von Bedeutung sind. Die nationalistische Figuration, die die Völker Europas in zwei verheerende Kriege verwickelt und fast in den Ruin getrieben hat, zwang die europäischen Regierungen - auch angesichts der erdrückenden Präsenz der USA und der UdSSR in der Weltfiguration - umzudenken und ihre Interdependenz im Jahre 1957 in den Römischen Verträgen neu zu definieren. Der Einigungsprozess als neue Figuration wirkte sich nicht nur auf die zwischenstaatliche, sondern auch auf die innerstaatliche Ebene aus, auf der das nationale Recht schrittweise dem europäischen Recht angepasst wurde. Zugleich wurden im universitären Bereich (der freilich nur einer von vielen ist) Studiengänge und ihre Bewertungen im Rahmen des Bolognaprozesses und mit Hilfe der Erasmusprogramme bis zu einem gewissen Grad vereinheitlicht. Diese Entwicklungen bewirkten eine Schwächung nationalistischer Ideologien (nicht jedoch ihr Verschwinden) und eine neue psychische Einstellung zum Nachbarland: Jenseits des Rheins, der Pyrenäen, der Adria wird nicht länger der gefürchtete oder gehasste „Erbfeind“ vermutet, sondern der europäische Nachbar, der auf eine gemeinsame Zukunft hofft und Zusammenarbeit anbietet. Hier wird deutlich, dass der Figurationsbegriff nicht nur Makro- und Mikrosoziologie, sondern auch Soziogenese („Herausbildung bestimmter soziokultureller Erscheinungen […] aus […] gesellschaftl. Verflechtungszusammenhängen“) 48 und Psychogenese (als gesellschaftlich vermittelte Psyche) miteinander verknüpft. Das Beispiel „Europäische Union“ lässt 46 N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 75. 47 Vgl. N. Elias, Was ist Soziologie? , op. cit, S. 230., wo von der „wachsende[n] Durchdringung und Verschmelzung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Entwicklungsprozesse“ die Rede ist. 48 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 834. <?page no="474"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 458 auch den Prozesscharakter des Begriffs erkennen. Zu Recht fasst Annette Treibel zusammen: „Figurationen sind soziale Prozeßmodelle.“ 49 Dass konfliktreiche Figurationen, die vom Ausgrenzungswillen beherrscht werden, die Psyche auch deformieren können, zeigt Eliasʼ und John L. Scotsons Fallstudie Etablierte und Außenseiter (engl. Orig. The Established and the Outsiders, 1965), die eine „Etablierten- Außenseiter-Figuration“ 50 zum Gegenstand hat. Konkret geht es um eine britische Vorstadtgemeinde, in der Fallstudie „Winston Parva“ genannt, die von einer „scharfen Trennung zwischen einer alteingesessenen Gruppe und einer Gruppe von später Zugewanderten, die von den Etablierten als Außenseiter behandelt wurden“ 51 , geprägt ist. Die Abgrenzungsmechanismen der Etablierten, die ihrer Identitätssicherung dienen, sind Ausschluss und Stigmatisierung: „Ausschluß und Stigmatisierung der Außenseiter waren per se mächtige Waffen, mit deren Hilfe die Etabliertengruppe ihre Identität behauptete, ihren Vorrang sicherte und die anderen an ihren Platz bannte.“ 52 Aus figurationssoziologischer Sicht ist hier nicht nur der „Ausschluss“ als Aspekt eines Antagonismus wichtig, sondern auch und vielleicht vor allem seine identitätsbildende Funktion für die Etablierten. Auf eine vergleichbare Figuration stößt man im Frankreich des 19. Jahrhunderts, wo sich der alteingesessene Adel als Erbe des Feudaladels von der noblesse d’Empire abgrenzte, die Napoleon I schuf, um sich eine treue Gefolgschaft zu sichern. Auch in diesem Fall versuchten die Alteingesessenen, ihre unsicher gewordene Identität durch Ab- und Ausgrenzung zu festigen. Im Falle von Winston Parva geht es jedoch nicht um zwei gesellschaftlich oder ethnisch verschiedene Gruppen, sondern durchweg um Arbeiterfamilien. Angesichts dieser sozialen Homogenität des gesamten Stadtbereichs gelangen die Autoren zu der Einsicht, dass die einzige Ursache des Antagonismus der Ausgrenzungs- und Stigmatisierungswille der Etablierten ist. Dieser Wille bewirkt eine Trennung, die nicht nur soziale, sondern auch psychische Folgen hat. Von der Stigmatisierung sagen die Autoren, sie könne „auf machtschwächere Formationen eine lähmende Wirkung ausüben“ 53 , und fügen hinzu: „Wo im übrigen das Machtgefälle sehr steil ist, messen Gruppen in einer Außenseiterposition sich selbst am Maßstab 49 A. Treibel, „Die Gesellschaft der Individuen (Elias)“, in: dies., Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006 (7. Aufl.), S. 200. 50 N. Elias, J. L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (8. Aufl.), S. 10. 51 Ibid., S. 7. 52 Ibid., S. 12. 53 Ibid., S. 19. <?page no="475"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 459 ihrer Unterdrücker.“ 54 Dies bedeutet im psychogenetischen Kontext, dass die Außenseiter anfangen, sich selbst als minderwertig zu fühlen und sich entsprechend zu verhalten. (Im dritten Kapitel hat sich im Zusammenhang mit Erving Goffmans Untersuchungen über psychiatrische Kliniken gezeigt, dass dies auch für die stigmatisierten Patientinnen und Patienten gilt.) Insgesamt wird deutlich, dass sich sowohl Beziehungsgeflechte zwischen Staaten als auch zwischen Gruppen auf das Bewusstsein und Selbstbewusstsein von Individuen auswirken können, so dass Soziogenese und Psychogenese ineinander greifen. Im Folgenden wird sich zeigen, wie die figurativen Wechselbeziehungen von sozialen und psychischen Faktoren die Bewegung des Zivilisationsprozesses mitbedingen. Dieser Prozess ist zugleich Eliasʼ narrative Konstruktion, der ein Aktantenmodell zugrunde liegt, das im vierten Abschnitt mit dem der Freudschen Psychoanalyse verglichen wird. 3. Der Zivilisationsprozess als ambivalente Entwicklung und als Ergänzung zu Max Webers Rationalisierungstheorie: Elias ʼ Erzählung als Aktantenmodell Bevor gezeigt wird, aus welchen Gründen Eliasʼ Erzählung des Zivilisationsprozesses als Grundlage und Konkretisierung von Webers Rationalisierungstheorie aufgefasst werden könnte, soll sein Zivilisationsbegriff, der in der Erzählung eine wesentliche Funktion erfüllt, im sozialen Zusammenhang der Zwischenkriegszeit erläutert werden. Dabei geht es vorrangig um den stark ideologisierten Gegensatz Zivilisation / Kultur, den Elias bewusst meidet und dadurch seinen Diskurs gleichsam als ideologiekritische Replik auf alternative Relevanzkriterien, semantische Konnotationen und narrative Abläufe festlegt. (Hier wird abermals deutlich, warum dem Ausdruck „objektiver Diskurs“ Widersinn anhaftet: Eine auf Relevanzen, semantischen Selektionen und Interkationen von Aktanten gründende narrative Konstruktion kann per definitionem nicht objektiv sein.) Wie es zur Ideologisierung des Gegensatzes Zivilisation / Kultur im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kam, beschreibt im Zusammenhang mit Eliasʼ Werk ausführlich und anschaulich Michael Hinz in seinem Buch über den Zivilisationsprozess. Er zeigt, wie die wertende Unterscheidung von Zivilisation und Kultur aus dem Antagonismus zwischen deutschem Bildungsbürgertum und dem unter französischem Einfluss stehenden deutschen Adel hervorgeht. 54 Ibid., S. 22. <?page no="476"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 460 Über die deutsche mittelständische Intelligenz schreibt er: „Diese wendet sich im Namen der ‚Kultur‘ gegen die Arroganz, Künstlichkeit und Oberflächlichkeit der ‚Zivilisation‘ als Inbegriff des Wir-Bildes des höfischen Adels (…). Die französisch-höfische Zivilisation, die ‚Civilité‘ wird in Deutschland mit dem Makel der Äußerlichkeit belegt.“ 55 In diesem Kontext wurde der Kulturbegriff allmählich zum Ideologem, und so mancher Deutsche fühlte sich damals als Angehöriger einer „Kulturnation“ der sich in Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit erschöpfenden „westlichen Zivilisation“ überlegen. Vor diesem Hintergrund ist Eliasʼ Entscheidung für den Begriff Zivilisation und gegen den Kulturbegriff zu verstehen: „Elias hat seine an den französisch-englischen Begriffsgebrauch angelehnte Fassung des Zivilisationsbegriffs in kritischer Auseinandersetzung mit der wertgeladenen ‚Zivilisation-Kultur-Antithese‘ entwickelt, die in der Weimarer Republik die bildungsbürgerlichen Diskurse beherrscht.“ 56 Diese Entscheidung für den anglo-französischen Zivilisationsbegriff, die angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland nach 1933 und der Ideologisierung des Kulturbegriffs durchaus verständlich ist, hat freilich Folgen für die Relevanzkriterien und die semantischen Grundlagen des Diskurses. Denn im Gegensatz zu Simmel, der mit subjektiver Kultur (vgl. Kap. XI. 3) vor allem Wissen, intellektuelle Bildung und Kritikfähigkeit meint, beobachtet Elias vorrangig (aber nicht ausschließlich: vgl. Abschn. 6) die Zunahme zivilisierten Verhaltens oder Benehmens in aufeinanderfolgenden historischen Figurationen. Sein Hauptthema ist: „der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen Selbstregulierung“. 57 Die Frage, die sich bei einer Parallellektüre von Simmel und Elias aufdrängt lautet: ob der Zivilisationsprozess nicht zur Stagnation oder gar zum Scheitern verurteilt ist, wenn subjektive Kultur im Sinne von Simmel atrophiert. Diese Frage soll hier in abgewandelter Form im Zusammenhang mit Alfred Webers konstruierter „Replik auf Elias“ wieder aufgeworfen werden. Vorerst soll jenseits aller ideologischen Antagonismen der Vergangenheit festgehalten werden, dass auch im Englischen und Französischen „Zivilisation“ durchaus etwas Äußerliches, bisweilen leicht Nachahmbares ist, während „Kultur“ vom Subjekt als Fähigkeit und Wissen aufgenommen werden muss. In einem älteren englischen Wörterbuch wird civilization 55 M. Hinz, Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität? , op. cit., S. 130. 56 Ibid., S. 131. 57 N. Elias, „Zivilisation“, in: B. Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, op. cit., S. 383. <?page no="477"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 461 definiert als: „system, stage of, social development“ 58 ; in einem neueren Wörterbuch als „a society that is well organized and developed“. Komplementär dazu heißt es zum Adjektiv civilized: „behaving in a polite sensible way instead of getting angry“. 59 Dass es auch um leicht nachahmbare Äußerlichkeiten geht, zeigt das folgende Beispiel: „‚This is very civilized‘, she said, lying back in the sun with a gin and tonic.“ 60 Im Gegensatz dazu heißt es zu culture: „development of the body, mind and spirit by training and experience“. 61 Ähnlich wird culture im Petit Robert definiert: „Développement de certaines facultés de l’esprit par des exercices intellectuels appropriés.“ („Entwicklung bestimmter geistiger Fähigkeiten durch geeignete intellektuelle Übungen.“) 62 Civilisation wird dort zunächst mit den Synonymen „avancement, évolution, progrès“ assoziiert und anschließend als „ensemble des acquisitions des sociétés humaines (opposé à nature, barbarie)“ („Ensemble der Errungenschaften menschlicher Gesellschaften [im Gegensatz zu Natur, Barbarei])“ 63 definiert. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Der Begriff „Kultur“ bezieht sich unter anderem auf Sein, Wissen und Können des individuellen oder kollektiven Subjekts, während der Begriff „Zivilisation“ menschliche Interaktion („behaving in a polite sensible way“) und den Zustand der Gesellschaft meint: „stage of social development“. Eliasʼ Werk konzentriert sich auf diese beiden Schwerpunkte: die soziale Interaktion in der Figuration und den Zustand der Gesellschaft. Simmels „subjektive Kultur“ als Bildung und als Ensemble erworbener Fähigkeiten ist in diesem Werk sekundär - jedoch nicht abwesend. Auf dieser lexikalischen und semantischen Grundlage kann nun das Aktantenmodell (re)konstruiert werden, das Eliasʼ soziologischer Erzählung zugrunde liegt. Annette Treibel fasst Ambivalenz und Komplexität dieser Erzählung zusammen: „Zivilisierung und Entzivilisierung sieht Elias in einem engeren Zusammenhang, als man vermuten würde: es handelt sich um Prozess und Gegenprozess.“ 64 Das Aktantenmodell als heuristische Hilfskonstruktion soll sowohl der Bewegung als auch der Gegenbewegung Rechnung tragen. „Zivilisierung“ und „Entzivilisierung“ sind nicht nur Prozesse, die nahezu überall in Eliasʼ 58 Oxford Advanced Dictionary of Current English, Oxford, University Press, 1974, S. 151. 59 Longman Dictionary of Contemporary English, Harlow, Pearson Education Ltd., 2003 (7. Aufl.), S. 267. 60 Ibid. 61 Oxford Advanced Dictionary of Current English, op. cit., S. 212. 62 Le Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, Paris, SNL, 1976, S. 393. 63 Ibid., S. 288. 64 A. Treibel, Die Soziologie von Norbert Elias, op. cit., S. 66. <?page no="478"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 462 Werk zur Sprache kommen, sondern - aus semiotischer Sicht - zugleich narrative Programme. Für ihre Verwirklichung sind zwei voneinander in einer Figuration abhängige, zugleich aber gegnerische Instanzen verantwortlich: „Zivilisation“ und „Natur“, denen im Aktantenmodell die Funktionen von Auftraggeberin und Gegenauftraggeberin zufallen. Während die Auftraggeberin „Zivilisation“ für das narrative Programm „Zivilisierung“ zuständig ist, versucht die Gegenauftraggeberin „Natur“ das Programm „Entzivilisierung“ durchzusetzen. Während die „Zivilisation“ das vernunftbegabte Subjekt - Elias Fokali sator - beauftragt, Selbstkontrolle zu üben und eine zivilisierte, menschlichere Gesellschaft zu verwirklichen, beauftragt die Natur das Antisubjekt, seinen Affekten zu folgen und die Gesellschaft zu „entzivilisieren“. Die „umkämpfte Gesellschaft“ erscheint vor diesem Hintergrund als der Objekt Aktant. Während das Subjekt versucht, sich des Objekts mit Hilfe der Moda litäten „Vernunft“ und „Selbstkontrolle“ zu bemächtigen, verlässt sich das Antisubjekt auf „Affekt“ und „Gewalt“. Als Helfer des Subjekts tritt der moderne Staat mit seiner Monopolisie rung der Gewaltmittel auf, die Elias für eine entscheidende Phase im Zivilisationsprozess hält: „Erst mit der Herausbildung dieses differenzierten Herrschaftsapparats bekommt die Verfügung über Heer und Abgaben ihren vollen Monopolcharakter (…).“ 65 Durch die Erlangung des Gewaltmonopols, das (feudale) Gewalttätigkeiten auf ein Minimum beschränkt, hilft der Staat dem Zivilisationssubjekt, durch Fremdzwang Selbstkontrolle zu üben. Eine Kurzfassung von Elias Erzählung könnte lauten: vom Fremd zwang durch äußere Instanzen wie Feudalherrscher und Kirche zum Selbst zwang in der höfischen (absolutistischen) und modernen Staatsgesellschaft. Im Gegenzug schickt die „Natur“ als Gegenauftraggeberin das Antisub jekt aus, um sich von allen Zivilisationszwängen, von Fremdzwang und Selbstzwang, zu befreien. Als Helfer dieses Subjekts treten im französischen 17. Jahrhundert verschiedene Gruppierungen der Fronde auf (einer gegen die Zentralisierungsbestrebungen des Königs aufbegehrenden Bewegung): „So kommt es, daß zeitweilig zwar sich viele Adelsgruppen mit den Parlamenten gegen die Repräsentanten der Königsgewalt verbünden, 65 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, op. cit., S. 143. Vgl. auch N. Elias, Auf sätze und andere Schriften III, Gesammelte Schriften, Bd. XVI (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 327: „Die Monopolisierung der Orientierungs- und Gewaltmittel (…) sind für die Entwicklung von Gesellschaften ebenso wichtige unreduzierbare Faktoren wie die der Monopolisierung der Produktionsmittel und die daraus resultierenden Konflikte.“ Wie Max Weber betont Elias hier - gegen Marx - die Wirkung politischer Faktoren, die nicht auf die wirtschaftliche Entwicklung reduzierbar sind. <?page no="479"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 463 so z.B. zur Zeit der Fronde.“ 66 In der zeitgenössischen Gesellschaft stellen illegale Verbände aller Art, Mafien und terroristische Organisationen das Gewaltmonopol des Staates in Frage und zugleich auch seinen rechtlich verbürgten Zivilisationsauftrag. Obwohl Elias immer wieder auf die „Interdependenz von ‚Natur‘ und ‚Gesellschaft‘“ 67 hinweist und keineswegs vergisst, dass das Natürliche die Grundlage des Sozialen bildet, kristallisiert sich in allen Entwicklungsphasen und Varianten seines Diskurses die „Zivilisierung der Natur“, d.h. die Bändigung der Natur durch den Menschen, als sein Hauptanliegen heraus. Man könnte dieses zentrale Anliegen als umfassendes narratives Programm seiner Zivilisationstheorie in wenigen Worten wiedergeben: die Domestizierung oder Zivilisierung der Natur sowohl außerhalb als auch innerhalb des Individuums - außerhalb des Individuums durch zunehmende wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung, innerhalb des Individuums durch wachsende Selbstkontrolle. Die negativen Konnotationen des Naturbegriffs sind in der folgenden Passage kaum zu überhören: „Nicht allein das, was wir als Fortschritte der Technik bezeichnen, sondern überhaupt das außerordentliche Wachstum der Naturkontrolle, die zunehmende Absicherung der Menschen gegen die Bedrohung der Menschen durch nichtmenschliche Naturgewalten sind recht spürbare Beweise dafür, daß im Bereich der nichtmenschlichen Natur die wissenschaftliche Ausweitung realitätsgerechten Wissens bedeutende Fortschritte gemacht hat.“ 68 Der „Natur“ fällt in dieser Passage die Rolle der Gegenauftraggeberin zu, die im Laufe und im Auftrag der - vor allem technischen - Zivilisation gebändigt wurde. Bemerkenswert ist, dass Elias diese Bändigung für abgeschlossen und für relativ unproblematisch hält, während Adorno und Horkheimer in ihr das Kernproblem der modernen Gesellschaft erblicken. Wo Elias gezähmte, zivilisierte Natur beobachtet, nehmen sie eine unterdrückte und unversöhnte Natur wahr. Symmetrisch zu Eliasʼ Darstellung der „Naturkontrolle“ wird im folgenden Text die „Zivilisation“ als Auftraggeberin des „einzelnen Menschen“ (des Subjekts) mit positiven, nahezu euphorischen Konnotationen versehen: „Kennzeichnend für den Begriff der Zivilisation ist eine zunehmende, zunehmend stabilere und ausgewogenere Selbstregulierung der einzelnen Menschen im Sinne eines menschlichen Zusammenlebens, das die Chancen der Freude am Leben, der Lebensqualität für die Gesamtheit der Beteiligten und schließlich für die Menschheit, wie für jeden der sich selbst 66 N. Elias, Die höfische Gesellschaft, op. cit., S. 289. 67 N. Elias, Über die Zeit, op. cit., S. 61. 68 N. Elias, Aufsätze und andere Schriften III, Gesammelte Schriften, Bd. XVI (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 88. <?page no="480"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 464 regulierenden Einzelnen erhöht.“ 69 Dies klingt fast nach dem in Voltaires Roman Candide parodierten Vernunft- und Zivilisationsoptimismus. 70 Liest man die hier zitierten Textpassagen parallel zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, so drängt sich die Frage auf, ob der Zivi lisationsprozess nicht selbst durch seine fortschreitende Naturbeherrschung eine Entzivilisierungsbewegung hervorruft, die von der ausgebeuteten und unversöhnten Natur ausgeht. Bei Adorno und Horkheimer ist von „der Verleugnung der Natur im Menschen“ die Rede, die in Kauf genommen wird, „um der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen“. 71 Diese Selbstverleugnung, die Elias als „Selbstregulierung“ schätzt, erscheint in der Dialektik der Aufklärung als das irrationale Element des Zivilisationsprozesses: „Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität (…).“ 72 Diese ist es schließlich, die in fortdauernden Herrschaftsverhältnissen als Naturwüchsigkeit und Rache der unversöhnten Natur den Zivilisationsprozess in sein Gegenteil umschlagen lässt: in Entzivilisierung und Barbarei. Konkreter ausgedrückt: Wo die Herrschaft von Menschen über Menschen als Folge der Naturbeherrschung anhält, dort sind zivilisationsgefährdende Gewaltausbrüche und die auf sie reagierenden repressiven Maßnahmen seitens der „Ordnungskräfte“ jederzeit möglich: in Revolutionen, Bürgerkriegen und Kriegen. Diese selbstnegierende Ambivalenz des Zivilisationsprozesses scheint Elias nicht wahrzunehmen, und dies ist wohl der Grund, weshalb sich Adorno und Horkheimer in ihren Arbeiten nicht auf seine Zivilisationstheorie beziehen. In seiner „Adorno-Rede“ beschwert sich Elias, dass die Begründer der Kritischen Theorie „nichts von [ihm] lernen“ 73 konnten. Möglicherweise hatten sie gute Gründe für ihre skeptische Distanz … 69 Ibid., S. 187. 70 Eine zeitgenössische Gegendarstellung findet sich in: A. Bammé, „Transhumane Kommunikation. Zum Implikationsverhältnis von Sozialbiologie und Neurosoziologie“, in: Soziologie 3, 2017, S. 251: „Wenn man einen Blick in die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Menschheit wirft (…) oder in zeitgenössische Medienberichte über alltägliche Gräueltaten zwischenmenschlichen Zusammenlebens, die zunehmend als Normalgeschehen hingenommen werden (…), kann man an der Vernunft der Menschheit verzweifeln.“ 71 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 70. 72 Ibid. 73 N. Elias, „Adorno-Rede: Respekt und Kritik“, in: ders., Aufsätze und andere Schriften I (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 501. (Elias Rede hat einen narzisstisch-monologischen Einschlag, von dem unter anderem der folgende Satz zeugt: „Dementsprechend hatte er [Adorno] wenig Interesse und wenig Verständnis für <?page no="481"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 465 Elias selbst stellt jedoch eine Verbindung her zwischen der zivilisationsbedingten Fähigkeit zur Selbstkontrolle und der Fähigkeit, über andere (weniger zivilisierte Menschen und Menschengruppen) zu herrschen. 74 Dadurch bringt er - zumindest andeutungsweise - den Nexus von Zivilisation und Herrschaft, wie er in der Dialektik der Aufklärung postuliert wird, zur Sprache. Diese Fähigkeit, durch Selbstbeherrschung über andere zu herrschen, nimmt im Laufe des Zivilisationsprozesses zu. „‚Courtoisie‘, ‚Civilité‘ und ‚Civilisation‘ markieren drei Abschnitte einer gesellschaftlichen Entwicklung“ 75 , heißt es bei Elias, und Stefan Breuer beschreibt die allmähliche Verfestigung der Herrschaftsverhältnisse als Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge: „Auf die courtoisie der ritterlich-höfischen Welt folgt die civilité des höfischen Absolutismus und schließlich die civilisation des Nationalstaats, in dem sich die Fremdzwänge zunehmend in Selbstzwänge verwandeln (…).“ 76 Reiner Wild spricht treffend von „Verdrängungsprozessen (…), die den zivilisatorischen Prozessen zugehören“. 77 In diesem Zusammenhang drängt sich geradezu die Frage auf, was die Zwänge und die von ihnen ausgehende Verdrängung im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung bewirken. Jemand, dem über längere Zeiträume hinweg Gewalt angetan wird und dem beigebracht wird, sich selbst regelmäßig Gewalt anzutun, kann in einer bestimmten Situation gewalttätig werden - und vor lauter Selbstregulierung und Selbstkontrolle gar nicht viel dabei empfinden. Er kann (für viele unerwartet) in den Dienst der nichtmenschlichen Gegenauftraggeberin „Natur“ treten, die wie er beherrscht und reguliert wird. Auf diesen Jemand, der unzählige Andere vertritt, geht Elias recht ausführlich ein: Er heißt Adolf Eichmann und steht für das „kaltblütige, methodische Massentöten nach Plan“. 78 In dem hier entworfenen Zusammenhang erscheinen seine „Kaltblütigkeit und sein planmäßiges Verhalten“ als Aspekte der Selbstregulierung oder Selbstkontrolle im Zivilisationsprozess. Dieser Prozess ist ambivalent wie das musikalische Werk von Thomas Manns fiktivem Komponisten Adrian Leverkühn, in dem die strukturelle gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten wie die meinen, die jenseits des Spektrums der gegenwärtigen sozialen Glaubenssysteme liegen.“) 74 Vgl. N. Elias, Aufsätze und andere Schriften III, op. cit., S. 317. 75 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, op. cit., S. 138. 76 S. Breuer, „Gesellschaft der Individuen, Gesellschaft der Organisationen“, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, op. cit., S. 318. 77 R. Wild, „Literarischer Wandel und Zivilisationsprozeß. Bemerkungen zu den wechselseitigen Beziehungen“, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Norbert Elias und die Menschenwissenschaften, op. cit., S. 211. 78 N. Elias, Über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (Hrsg. M. Schröter), Frankfurt, Suhrkamp (1989), 1992, S. 395. <?page no="482"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 466 Ambivalenz der gesamten Spätmoderne (des Modernismus) zur Sprache kommt. Von diesem Werk sagt Manns Erzähler Zeitblom: „Denn das Höllengelächter am Schlusse des ersten Teils hat ja sein Gegenstück in dem so ganz und gar wundersamen Kinderchor (…).“ 79 Aber sogar dieser scheinbar unschuldige Chor ist mit Ambivalenz durchtränkt: „Und dieses Stück, das auch Widerstrebende gewonnen, gerührt, entrückt hat, ist für den, der Ohren hat, zu hören, und Augen, zu sehen, nach seiner musikalischen Substanz das Teufelsgelächter noch einmal! “ 80 Gerade im hochzivilisierten 20. Jahrhundert schlug der bei Elias euphorisch konnotierte Zivilisationsprozess („Chancen der Freude am Leben, der Lebensqualität für die Gesamtheit“, s.o.) in spätmodernes Höllengelächter um. Elias nimmt diese Ambivalenz erst in seinem Spätwerk, vor allem in seinen Studien über die Deutschen, wahr - und dort nur ansatzweise, ohne in ihr die Grundstruktur des Zivilisationsprozesses zu erkennen. Am nächsten kommt er dieser Struktur im folgenden Satz: „Statt sich von der Vorstellung trösten zu lassen, daß die Ereignisse, die im Eichmann- Prozeß zur Sprache kamen, exzeptionell waren, mag es nützlicher sein, die Bedingungen in Zivilisationen des 20. Jahrhunderts, die gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen, die Barbareien dieser Art begünstigt haben und auch in Zukunft begünstigen könnten.“ 81 Dieser Satz eröffnet neue Perspektiven und könnte als eine Selbstkritik Eliasʼ an seiner Erklärung des von den Nationalsozialisten organisierten Massenmordes gelesen werden. Denn Elias geht in seinen Studien über die Deutschen von der These aus, dass die besondere deutsche Entwicklung - die verspätete Staatsbildung, der aus ihr ableitbare Nationalismus sowie „die Verschiebung der Priorität von humanistischen, moralischen Idealen und Werten (…) zu nationalistischen Wertungen“ 82 - für die beispiellosen Verbrechen der 1930er und 40er Jahre verantwortlich ist. Obwohl diese Faktoren zweifellos eine Rolle spielen, reichen sie nicht aus, um die „Entgleisungen“ des Zivilisationsprozesses zu erklären. Denn diese sind keine Entgleisungen, sondern Aspekte einer von Natur- und Menschenbeherr- 79 Th. Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von seinem Freunde (1947). Die Entstehung des Doktor Faustus (1949), Frankfurt, Fischer, 2001 (2. Aufl.), S. 504. 80 Ibid. 81 N. Elias, Über die Deutschen, op. cit., S. 395-396. Vgl. auch N. Elias, Über die Zeit, op. cit., S. 166, wo es von der „Vergrößerung der Realitätskongruenz menschlichen Wissens“ heißt: „Sie erlaubte eine stetige Ausdehnung der Kontrolle von Menschen über die nicht-menschliche Natur und somit eine Herabsetzung des Gefahrenniveaus in diesem Bereich, auch wenn sie bei Gelegenheit dazu beitrug, die Gefahr, die Menschen selbst füreinander bilden, zu erhöhen.“ Dieser Satz zeigt, dass Elias den Nexus von Naturbeherrschung und Herrschaft über Menschen (Unterdrückung), der immer wieder zu Katastrophen führt, nicht wahrnimmt. 82 N. Elias, Über die Deutschen, op. cit., S. 174. <?page no="483"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 467 schung geprägten sozialen Entwicklung. Die Barbarei ist in der repressiven Zivilisation selbst angelegt. Davon zeugen andeutungsweise nicht nur der weiter oben zitierte Satz, sondern auch andere Ereignisse in und außerhalb von Europa: der seinerzeit von der türkischen Regierung organisierte Genozid an der armenischen Bevölkerung, die Konzentrationslager Stalins (Kolyma, Magadan), der jugoslawische Goli Otok („Kahle Insel“ in der Adria) und zuletzt der Massenmord an bosnischen Muslimen in Srebrenica. Es ist sonderbar, dass Elias den stalinistischen Staatsterror, der lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung einsetzte, nicht erwähnt. Diese Auslassung ist für seine Zivilisationstheorie symptomatisch, in der die Barbarei nicht als immanente Gegenbewegung, für die im Aktantenmodell die Gegenauftraggeberin steht, aufgefasst wird, sondern als eine Katastrophe, die sich auf dem deutschen „Sonderweg“ ereignet hat. Die hier aufgezählten neueren Katastrophen, zu denen auch die von Pol Pot und seiner Partei organisierten Verbrechen am kambodschanischen Volk gehören, zeigen indessen, dass der Zivilisationsprozess als Naturbeherrschung selbst zweigleisig ist und dass eine Fahrt in entgegengesetzter Richtung jederzeit möglich ist. Auf dieser Ebene überschneidet sich Max Webers Problematik mit der von Norbert Elias. Auch bei Weber schlägt Naturbeherrschung um in individuelle Selbstbeherrschung und Herrschaft über Menschen. Dazu bemerkt Herbert Marcuse: „Abstrakte Vernunft wird konkret in der berechenbaren und berechneten Herrschaft über die Natur und über den Menschen.“ 83 Die Herrschaft über die Natur, über das einzelne Individuum und über die Menschen insgesamt erscheint als der gemeinsame Nenner von Zivilisation und Rationalisierung. Das Problem, das - aus der Sicht der Kritischen Theorie - Elias und Weber verbindet, besteht in der Weigerung der beiden Denker, nach Alternativen zu einer von der Barbarei begleiteten Zivilisation und zu einer vom Irrationalen gesteuerten instrumentellen Vernunft zu fragen. Hätte Elias sein weiter oben skizziertes Vorhaben, „die Bedingungen in Zivilisationen des 20. Jahrhunderts, die gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen, die Barbareien dieser Art begünstigt haben“ (s.o.), verwirklicht, hätte er seine Theorie der Zivilisation möglicherweise im Sinne einer ambivalenten Struktur (wenn auch nicht im Sinne der Kritischen Theorie) revidiert. 84 83 H. Marcuse, „Industrialisierung und Kapitalismus“, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des fünfzehnten deutschen Soziologentages, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1965, S. 164. 84 Vgl. N. Elias, „Zivilisation“, in: B. Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, S. 385: „Im Zusammenhang mit dem schwankenden sozialen Gefahrenniveau werden oft <?page no="484"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 468 Indessen erscheint seine auf den Beobachtungen des Übergangs von der feudalen zur höfisch-absolutistischen Gesellschaft gründende Zivilisationssoziologie durchaus geeignet, Max Webers Rationalisierungstheorie zu ergänzen und zu begründen. Elias selbst erhebt einen Anspruch in diesem Sinn, wenn er in Über den Prozeß der Zivilisation schreibt: „Und schließlich gilt von der Rationalisierung, was oben bereits von den Wandlungen des Bewußtseins überhaupt gesagt wurde: In ihr zeigt sich nur eine Seite einer umfassenderen Wandlung des gesamten Seelenhaushalts. Sie geht Hand in Hand mit einer korrespondierenden Wandlung der Triebstrukturen. Sie ist, kurz gesagt, eine Zivilisationserscheinung unter anderen.“ 85 Diese Aussagen sollten relativiert werden, weil sich in der zitierten Passage eine bekannte diskursive Strategie durchsetzt, die darin besteht, den Schlüsselbegriff des kommentierten Diskurses (Webers „Rationalisierung“) dem eigenen Schlüsselbegriff „Zivilisation“ zu subsumieren und so den gesamten kommentierten Diskurs auf Metaebene zu vereinnahmen, dem eigenen Diskurs einzuverleiben. Die Relativierung besteht in der Feststellung, dass Webers Rationalisierung nicht „eine Zivilisationserscheinung unter anderen“ ist, sondern die Zivilisationserscheinung par excellence. Denn sie ist es, die das traditionale und vor allem affektgeleitete Handeln allmählich dem reflektierten, zweckrationalen Handeln unterordnet und dadurch Wissenschaft und Technik ermöglicht. Doch der Übergang von der Dominanz des traditionalen und „affektuellen“ Denkens zur Dominanz der Zweckrationalität kann nur erklärt werden, wenn die sich wandelnden Figurationen oder Interdependenzen und vor allem die komplexer werdenden „Interdependenzketten“ untersucht werden. Elias beschreibt den Aufstieg der Vernunft als Rationalisierung im Sinne von Weber auf zwei Ebenen: der soziogenetischen und der psychogenetischen. Auf der soziogenetischen Ebene zeigt er, wie sich allmählich begriffliches Denken bildet: „Die doppelte Bewegung zu immer größeren Einheiten der sozialen Integration und zu immer längeren Ketten der sozialen Verflechtung war auch eng mit bestimmten kognitiven Veränderungen verknüpft, darunter mit dem Aufstieg zu höheren Ebenen der begrifflichen Synthese.“ 86 Dieser Aufstieg geht einher mit einer stärkeren Affektbeherrschung im psychischen Bereich: „Im Laufe dieses Prozesses wird, um es wieder Gegenprozesse dominant. Aber trotz ihrer ist bisher der Z[ivilisationsprozeß] dominant geblieben.“ Diese Sätze zeigen, dass Elias die fundamentale Ambivalenz und Zweigleisigkeit des Zivilisationsprozesses nicht zur Kenntnis nimmt. 85 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, op. cit., S. 396-397. 86 N. Elias, Über die Zeit, op. cit., S. 166. <?page no="485"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 469 schlagwortartig zu sagen, das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig.“ 87 Hier wird soziologisch und sozialpsychologisch erklärt, wie sich begriffliches Denken als Rationalisierung aufgrund komplexer werdender sozialer Verflechtungen allmählich dem affektuellen Denken und Handeln gegenüber durchsetzt. Zugleich erscheint Webers Rationalisierung im Rahmen der Zivilisationstheorie in einem neuen Licht. Ein besonderer Aspekt dieser Theorie ist ihre systematische Hervorhebung der psychogenetischen Ebene, auf der der Rationalisierungsprozess im Sinne von Weber konkrete Gestalt annimmt, weil sich zeigt, was Rationalisierung für den psychischen Haushalt des Einzelnen bedeutet. Dazu bemerkt Georg W. Oesterdiekhoff: „Zivilisation psychischer Funktionen ist eine Bewegung von naturnahen, triebhaften, egozentrischen, kindlichen, undifferenzierten und primitiven Zuständen zu differenzierteren, rationaleren und intellektuelleren psychischen Zuständen.“ 88 Diese Darstellung bezieht sich auf die zugleich soziogenetische und psychogenetische Frage, wie Rationalität in der Gesellschaft zustande kommt und welche Prozesse sie vor allem auf psychischer Ebene voraussetzt. Zugleich kann sie als Beantwortung der Frage aufgefasst werden, wie die „sachliche Unpersönlichkeit“ entsteht, von der in Webers Kurzbeschreibung der Bürokratie die Rede ist: „Die Bürokratie ist ‚rationalen‘ Charakters: Regel, Zweck, Mittel, ‚sachliche‘ Unpersönlichkeit beherrschen ihr Gebaren.“ 89 Die Entstehung dieser „Unpersönlichkeit“ setzt außer sozialer Differenzierung komplexe Interdependenzketten (Figurationen) voraus, die der Einzelne nur bewältigen kann, wenn er über sein Handeln nachdenkt und seine Affekte (Spontaneität, Antipathie, Aggression) stets unter Kontrolle hat. Das systematische Nachdenken über die Entstehung von Rationalität im soziogenetischen und psychogenetischen Kontext ist ein Verdienst von Eliasʼ Zivilisationstheorie - und kein geringes. 4. Der Zivilisationsprozess und Sigmund Freuds Psychoanalyse: Das Unbehagen in Kultur und Zivilisation „Zivilisation“ und „Kultur“ sind, wie sich gezeigt hat, zwei verschiedene Begriffe, deren stets wiederkehrende Ideologisierung und ideologische Konfrontation kaum zu verhindern sind, weil sie in verschiedenen gesell- 87 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, op. cit., S. 390. 88 G. W. Oesterdiekhoff, Zivilisation und Strukturgenese, op. cit., S. 48. 89 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlaß, Teilband IV: Herrschaft, Studienausgabe, Bd. I/ 22-4 (Hrsg. E. Hanke), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 45. <?page no="486"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 470 schaftlichen und sprachlichen Situationen 90 von rivalisierenden Soziolekten (Gruppensprachen) und ihren Diskursen instrumentalisiert werden. Sie können einander entgegengesetzt werden (etwa in Alfred Webers Kultursoziologie: vgl. Abschn. 6), sie überschneiden sich aber auch, weil sich der Begriff „Zivilisation“ durchaus auf Religion, Wissenschaft und Kunst beziehen kann, während mit dem Kulturbegriff auch die „materielle Kultur“ im Sinne von Wirtschaft, Technik, Architektur und Stadtplanung gemeint sein kann. („Architektur“ mag als Symbol für die Einheit der beiden Begriffe fungieren.) Die semantische Überlappung dieser Begriffe ermöglicht einen Vergleich von Sigmunds Freuds Kulturtheorie, die er vor allem in seinem bekannten Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“ entwickelt, und Eliasʼ Zivilisationstheorie, die auch als Theorie der Kultivierung gelesen werden kann. So wird „kultiviert“ beispielsweise im Großen Duden definiert als „von vornehmer, gebildeter, zivilisierter Art“. Die „höfische Gesellschaft“, die Elias beschreibt, könnte auch als „kultiviert“ bezeichnet werden, und der Zivilisationsprozess wäre in diesem Licht auch als Prozess der Kultivierung aufzufassen. Vergleicht man Freuds relativ kurzen Text und seine Kulturauffassung mit Eliasʼ Theorie der Zivilisation, in der Freuds Psychoanalyse verarbeitet wird 91 , so fällt auf, dass Freud viel stärker als Elias den Konfliktcharakter des Kulturprozesses (er verwendet mehrmals das Wort „Kulturprozeß“) 92 betont und zugleich den gewalttätigen, rohen Aspekt der Kultivierung erkennen lässt, die der Einzelne über sich „ergehen“ lassen muss. Im Gegensatz zu Elias, der vor allem in Die Gesellschaft der Individuen den Sozialisierungsprozess als fortschreitende Verflechtung von Individuum und Gesellschaft auffasst und sich immer wieder gegen eine Trennung der beiden Instanzen ausspricht, stellt Freud die Auseinandersetzung von Individuum und Gesellschaft als schicksalsträchtigen Kampf zwischen Natur und Kultur dar. „Die Kulturentwicklung“, stellt er fest, „erscheint uns als ein eigenar- 90 Zum Begriff der sozio-linguistischen Situation vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Kap. II.1: „Sozio-linguistische Situation, Soziolekte und Diskurse“. 91 Vgl. z.B. N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. II, op. cit., S. 326. Vgl. dazu: F.-X. Kaufmann, in: E. Firnhaber, M. Löning (Hrsg.), Norbert Elias - Bielefelder Begegnungen, Münster, LIT Verlag, 2004, S. 16: „Und andererseits kam hinzu, dass seine Theorie des ‚gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang‘ deutliche Parallelen zur Psychoanalyse aufwies.“ 92 S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt, Fischer, 1982, S. 264. <?page no="487"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 471 tiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft (…).“ 93 Es ist, als würde der menschlichen Natur permanent Gewalt angetan. Im Zusammenhang mit Eliasʼ Theorem der Affektzügelung spricht Helmut Kuzmics zwar zu Recht von der „Vorstellung von der ‚unsichtbaren Mauer‘, die den Zivilisierten vom Ausdruck seiner Affekte trennt“ 94 , aber auch diese Darstellung lässt nichts von der Konfliktträchtigkeit und Gewalttätigkeit erahnen, die Freud im Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kultur, „Es“ und „Überich“ entdeckt. Er ist zwar weit davon entfernt, im Sinne von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung zu argumentieren, nähert sich aber dadurch der Position der Kritischen Theorie, dass er den Antagonismus zwischen Natur- und Kulturkräften in den Vordergrund treten lässt. So benennt er den Preis, den das individuelle Subjekt für seine Herrschaft über die Natur zu entrichten hat - und die Gefahr, die von dieser Herrschaft ausgeht. Elias spricht in seinem Buch Über die Zeit zwar von der „fast unerbittliche[n] Selbstregulierung, wie sie für Menschen charakteristisch ist, die in hoch zeitregulierten Gesellschaften aufgewachsen sind“ 95 , fragt aber nicht nach den Folgen dieser „fast unerbittlichen Selbstregulierung“: nach den Neurosen, Depressionen und Burnout-Symptomen. Zur Veranschaulichung dieser Problematik soll ansatzweise das Aktantenmodell rekonstruiert werden, das Freuds Text „Das Unbehagen in der Kultur“ (nicht der Psychoanalyse als ganzer) zugrunde liegt. Schon der Titel deutet an, dass es in diesem Text nicht wie bei Elias um eine kontinuierliche Verinnerlichung äußerer Zwänge geht, sondern um einen Konflikt mit ungewissem Ausgang. Anders als in Eliasʼ Diskurs, in dem auf individueller Ebene zwei antagonistische Subjekte einander gegenüberstehen, von denen das eine im Auftrag der „Zivilisation“, das andere im Auftrag der „Natur“ handelt, findet in Freuds Diskurs eine Konfrontation zwischen infra-individuellen Subjekten innerhalb des individuellen Subjekts (vgl. Kap. III. 1) statt: Dem von der „Kultur“ beauftragten „Über-Ich“ steht ein „Es“ gegenüber, das im Auftrag der „Natur“ handelt. Der Konflikt spielt sich teilweise im Inneren des individuellen Subjekts ab, und es geht um die Herrschaft über das „Ich“ als Objekt- Aktant (und zugleich soziales Subjekt). Der zweite - dem individuellen Subjekt äußerliche - Objekt-Aktant, um den es in der Auseinandersetzung zwischen den Auftraggeberinnen „Natur“ und „Kultur“ geht, ist eine „befriedete Gesellschaft oder Gemeinschaft 93 Ibid., S. 226. 94 H. Kuzmics, „Fragen an das Werk von Norbert Elias: Einige Kriterien zur kritischen Überprüfbarkeit der Zivilisationstheorie“, in: A. Treibel, H. Kuzmics, R. Blomert (Hrsg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz, op. cit., S. 277. 95 N. Elias, Über die Zeit, op. cit., S. 125. <?page no="488"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 472 domestizierter Individuen“, die im Gegensatz zu Hobbesʼ „Naturzustand“ als Krieg aller gegen alle steht. Man meint Hobbes zu lesen, wenn es bei Freud heißt: „Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als ‚Recht‘ der Macht des Einzelnen, die als ‚rohe Gewalt‘ verurteilt wird, entgegen.“ 96 Entscheidend ist, dass die Gemeinschaft oder Gesellschaft nur dann überleben und konsolidiert werden kann, wenn der Konflikt zwischen „Über-Ich“ und „Es“ innerhalb des individuellen Subjekts zugunsten des „Über-Ichs“ gelöst wird, so dass ein domestiziertes, sublimierendes 97 und gesellschaftsfähiges (zivilisiertes) „Ich“ als in der Gesellschaft agierendes Subjekt das Ergebnis ist. Dieses Ergebnis wird allerdings durch eine Niederlage des „Es“ und der „Natur“ im Krieg gegen das „Über-Ich“ und die „Kultur“ als dessen Auftraggeberin ermöglicht. Dass es sich um einen Krieg und nicht um friedliche Sozialisation als Synthese von Individuum und Gesellschaft handelt, wird in der folgenden Passage deutlich, in der die antisoziale oder antikulturelle Aggression des vom „Es“ beherrschten „Ich“ mit Hilfe des „Über-Ichs“ gegen dieses „Ich“ gewendet wird: „Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt.“ 98 Diese in Freuds Aufsatz zentrale Textstelle beschreibt drei Phasen einer gewaltsamen Sozialisierung: In der ersten Phase begegnet das von der „Kultur“ beauftragte „Über-Ich“ der Aggression des von der „Natur“ ausgesandten „Es-Ich“ („Lust-Ich“, Freud) 99 , indem es zum Gegenangriff übergeht. In der zweiten Phase zähmt es das „Ich“ mit Hilfe der Modalitäten „Gewissen“ und „Schuldbewusstsein“, die analog zu der Ideologie einer Besatzungsmacht aufgefasst werden könnten. Die dritte Phase ist die der Überwachung, und Freuds Wortwahl „Besatzung“, „eroberte Stadt“ und „überwachen“ deutet an, dass es sich um eine labil geschichtete Konstellation handelt, die möglicherweise nicht von Dauer ist. Augenfällig ist der Gegensatz zu Eliasʼ Zivilisationstheorie, die den selben Prozess ganz anders erzählt: Während Freud von „Aggression“, „Er- 96 S. Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe, Bd. IX, op. cit., S. 225. 97 Elias verknüpft seine Theorie der Selbstkontrolle oder des Selbstzwangs explizit mit dem Begriff der „Sublimierung“ in der Psychoanalyse: „Es ist kaum nötig, aber vielleicht nützlich zu sagen, daß bei dem Begriff der bildsamen, sublimationsfähigen menschlichen Triebimpulse Sigmund und Anna Freud Pate standen.“ (N. Elias, „Zivilisation“, in: B. Schäfers [Hrsg.], Grundbegriffe der Soziologie, op. cit., S. 382.) 98 Ibid., S. 250. 99 Ibid., S. 200. <?page no="489"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 473 oberung“ und „Besatzung“ spricht, schildert Elias eine Harmonisierung oder Verflechtung sozialer und individueller Ereignisse. Man vergleiche die folgende Darstellung aus Die Gesellschaft der Individuen mit der langen Textpassage aus Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“: „Aber wie immer man sie betrachtet, es sind nicht Spannungen zwischen außergesellschaftlichen Naturbedürfnissen des ‚Individuums‘ und den unnatürlichen Forderungen einer ‚Gesellschaft‘ außerhalb seiner, sondern Spannungen und Schwierigkeiten des einzelnen Menschen, die mit dem eigentümlichen Schema der Verhaltensnormen seiner Gesellschaft in Zusammenhang stehen (…).“ 100 Da „Gesellschaft“ Elias als eine dynamische Figuration mehr oder weniger sozialisierter oder zivilisierter Individuen erscheint, deren Individualität als Ergebnis von Interdependenz und Interaktion durch und durch sozial ist, nimmt er den anhaltenden Antagonismus zwischen Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft, den Freud so wortgewandt mit kriegerischen Metaphern beschreibt, nicht wahr. Im Rahmen des von ihm aufgezeigten Antagonismus zwischen Natur und Zivilisation beobachtet er nur die domestizierte, unterworfene, nicht die leidende, revoltierende Natur. Dies ist der Grund, weshalb er den Zusammenbruch der Zivilisation nicht im Zusammenhang mit den dem Zivilisations- oder Kulturprozess innewohnenden Widersprüchen (Naturbeherrschung, Herrschaft über Menschen, Herrschaft über den Einzelnen) erklären kann und den Nationalsozialismus als deutschen Sonderfall betrachten muss - ohne auf andere, frühere „Rebarbarisierungen“ wie den Stalinismus einzugehen. Aus diesem Grund neigt er dazu, die Psychoanalyse, auf die er sich immer wieder beruft, in jene „realistische ‚Richtung‘ zu drängen“ 101 , von der Adorno im Zusammenhang mit Karen Horney u.a. spricht: in die Richtung von sozialer Integration, Konsens und Zivilisation als Befriedung. Im Gegensatz dazu betont Adorno den unversöhnten Charakter der Freudschen Lehre: „Die Größe Freuds besteht wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, daß er solche Widersprüche unaufgelöst stehen läßt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist.“ 102 Freud lässt die von ihm aufgezeigten Widersprüche nicht nur stehen, sondern zeigt auch, wie sie den Zusammenbruch von Kultur und Zivilisation immanent bewirken können. In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ wird deutlich, dass die Unterwerfung des „Ichs“ durch das „Über-Ich“ eine 100 N. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, op. cit., S. 197. 101 Th. W. Adorno, „Die revidierte Psychoanalyse“, in: M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1973 (3. Aufl.), S. 94. 102 Ibid., S. 111. <?page no="490"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 474 unsichere Konstellation ist, die als schwer erträgliches Herrschaftsverhältnis jederzeit zusammenbrechen kann. In der Masse kann der Einzelne die ihm vom „Über-Ich“ anerzogenen Modalitäten „Gewissen“ und „Vernunft“ im Nu abwerfen und dem Massenwahn der ihn umringenden und mitreißenden Anderen verfallen: „Seine Affektivität wird außerordentlich gesteigert, seine intellektuelle Leistung merklich eingeschränkt, beide Vorgänge offenbar in der Richtung einer Angleichung an die anderen Massenindividuen (…).“ 103 Hier wird deutlich, dass der kulturelle oder zivilisatorische Firnis dünn ist und dass sich das von der „Natur“ beauftragte „Es“ mit seiner Modalität des „Affekts“ in bestimmten Situationen blitzschnell durchsetzen kann: vor allem wenn ein Duce oder Führer mit Hilfe einer straffen Organisation entscheidend zur Lockerung der Affektkontrolle beiträgt, diese Lockerung zugleich aber in einen systematisch, zweckrational verwalteten Genozid ausmünden lässt, der ein Produkt der Zivilisation ist. Vom „Es“ sagt Thomas Mann in seiner Rede zu Freuds 80. Geburtstag: „Denn das Unbewußte, das Es, ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht, kein Gut und Böse, keine Moral.“ 104 Die Revolte gegen Naturbeherrschung als Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle im Massenwahn kann als eine Befreiung der Affekte jenseits von Gut und Böse wirken. Freilich ist es eine illusorische Befreiung, die von falschen Verhältnissen zeugt, die schon in den Machtbalancen und Intrigen höfischer Gesellschaften zutage treten. 5. Zwei Kritiken an Elias ʼ Zivilisationstheorie: Anton Blok und Hans Peter Duerr Anfang der 1980er Jahre wurde in der niederländischen Zeitschrift Sociologische Gids Norbert Eliasʼ Zivilisationstheorie vorwiegend aus anthropologisch-ethnologischer Sicht diskutiert. Dabei wurde - vor allem von Anton Blok - der von Elias postulierte Gegensatz von „primitiv“ und „zivilisiert“ im postkolonialen Kontext in Frage gestellt. Sehr viel später reagierte der deutsche Anthropologe Hans Peter Duerr außerordentlich kritisch auf die Theorie der Zivilisation. Er stellte Eliasʼ These in Frage, der zufolge fortschreitende Zivilisierung zu einer stärkeren Regulierung und Selbstregulierung der Triebe führe und im Vergleich zu älteren (archaischen und mittelalterlichen) gesellschaftlichen Formationen den Sexual- 103 S. Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe, Bd. IX, op. cit., S. 83. 104 Th. Mann, „Freud und die Zukunft. Vortrag gehalten am 8. Mai 1936 zur Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag“, in: S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt, Fischer, 1953, S. 138. <?page no="491"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 475 trieb durch ein Anwachsen des Schamgefühls einschränke. Ohne an die niederländischen Debatten anzuknüpfen, warf auch Duerr Elias vor, durch eine positive Bewertung des europäischen oder „westlichen“ Zivilisationsprozesses die Eigenschaften und Fähigkeiten der ehemaligen Kolonialvölker ideologisch abzuwerten. Insgesamt herrschen in den Diskussionen und Kritiken drei Fragen vor: 1. Die Frage, wie brauchbar oder ideologisch belastet der Gegensatz von „primitiv“ und „zivilisiert“ sei. 2. Die Frage nach der ideologischen Funktion der Zivilisationstheorie als Apologie des Kolonialismus. 3. Schließlich spielte auch die Frage nach der Bewertung der Zivilisationstheorie als ganzer eine Rolle: bei Duerr vor allem im Hinblick auf die von Elias postulierte fortschreitende Zähmung von Sexualität und Gewalt. Zur ersten Frage nehmen vor allem die Autorinnen und Autoren der Sondernummer von Sociologische Gids 3-4, 1982 Stellung. 105 Eine Art Zusammenfassung der Bewertung von Eliasʼ Ansatz findet sich bereits im Vorwort von Anton Blok und Lodewijk Brunt: „Wird sie ihres Ethnozentrismus entledigt, ergänzt und korrigiert, kann Eliasʼ Zivilisationstheorie dennoch gute Dienste leisten.“ 106 Es muss allerdings klar sein, dass jede Theorie als Diskurs oder Erzählung in einer bestimmten Kultur und deren sprachlicher Situation entsteht und daher immer „ethnozentrisch“ (europäisch, deutsch, französisch, nordamerikanisch, südamerikanisch oder chinesisch) sein wird. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass Elias aus deutsch-europäischer Sicht den Übergang von der feudalen zur höfisch-absolutistischen Zivilisation in Frankreich erzählt. Dieser Übergang ist das „zentrale Ereignis“ seiner Erzählung, die aufgrund der geographisch-historischen Besonderheit nicht ohne Einschränkungen und Korrekturen auf andere Gesellschaften übertragbar ist: vor allem nicht auf außereuropäische. In seinem kritischen Artikel projiziert Anton Blok Eliasʼ Diskurs in einen völlig neuen (postkolonialen) Kontext und damit in eine neue soziale und linguistische Situation, wenn er schreibt: „In diesem Licht betrachtet gehören die Begriffe ‚primitiv‘ und ‚zivilisiert‘ zum Machtinstrumentarium der herrschenden und sich überlegen fühlenden Gruppierung. In vielerlei Abwandlungen dienten die Auffassungen von primitiv und zivilisiert der Legitimierung westlicher Hegemonie.“ 107 105 Vgl. dazu auf Deutsch: C. Wouters, Informalisierung. Norbert Eliasʼ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, vor allem Kap. VIII: „In Richtung auf eine Soziologie der Emotionsregulierung“ und Kap. IX: „Wie fremd sind uns unsere Überlegenheitsgefühle? “ 106 A. Blok, L. Brunt, „Marginaal: beschaving en geweld“, in: Sociologische Gids 3-4, 1982, S. 196. 107 A. Blok, „Primitief en geciviliseerd“, in: Sociologische Gids 3-4, op. cit., S. 200. <?page no="492"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 476 Es liegt auf der Hand, dass Eliasʼ Kernerzählung „von der feudalen zur höfisch-absolutistischen Gesellschaft in Frankreich“ von diesem Argument nicht berührt wird. Von ihm berührt werden lediglich „Nebenerzählungen“ in Über den Prozeß der Zivilisation, die sich auf die Ausbreitung der europäischen Zivilisation außerhalb von Europa beziehen. Es lohnt sich, sich Segmente dieser Nebenerzählungen näher anzusehen, um Missverständnisse und Verzerrungen zu vermeiden. Anlass zu Missdeutungen kann der folgende Satz aus Über den Prozeß der Zivilisation geben, sofern er hors contexte isoliert betrachtet wird: „Diese Zivilisation ist das unterscheidende und Überlegenheit gebende Kennzeichen der Okzidentalen.“ 108 Der Kontext aber zeigt, dass es dem Soziologen Elias nicht um die Frage nach der Überlegenheit einer Gruppierung zu tun ist, sondern um die Erklärung sozialer Entwicklung durch Wechselbeziehung, Interdependenz und Figuration. Von den Kolonisatoren sagt Elias: „Sie machen weite Teile der Welt von sich abhängig, und werden zugleich (…) von ihnen selbst abhängig.“ 109 Dies hat zur Folge, „daß sich die Unterschiede der gesellschaftlichen Stärke sowohl, wie die des Verhaltens zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten verringern“. Elias fügt hinzu: „Zum Teil schon in unserer Zeit beginnen die Kontraste spürbar kleiner zu werden.“ 110 Diese Bemerkungen, die auf eine Konvergenz fortgeschrittener und weniger fortgeschrittener Gesellschaften schließen lassen, deuten darauf hin, dass es Elias keineswegs auf den Nachweis irgendeiner „westlichen Überlegenheit“ ankam. Im Gegenteil, in Engagement und Distanzierung versucht er zu zeigen, dass auch die europäische Zivilisation den langen Weg über einfachere, primitivere Stadien zurücklegen musste, um das moderne Niveau zu erreichen. 111 Um seinen Argumentationszusammenhang zu verstehen, braucht man nur an die Zivilisierung Galliens, Germaniens und Britanniens durch die Römer zu denken, von der heute noch Straßen, Aquädukte und Thermen zeugen. Niemand käme auf den Gedanken, die Römer aufgrund ihrer damaligen wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Überlegenheit für ethnisch oder gar biologisch „höherstehend“ zu halten oder jemandem, der den zivilisierenden Einfluss Roms in Mittel- und Nordwesteuropa hervorhebt, eine Apologie des römischen Imperialismus vorzuwerfen. (Rom selbst wurde, wie Ciceros Studienreisen nach Athen und Rhodos und die Briefe an seinen in Athen studierenden Sohn zeigen, vom unterworfenen Griechenland zivilisiert.) 108 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. II, op. cit., S. 347. 109 Ibid. 110 Ibid., S. 348. 111 Vgl. N. Elias, Engagement und Distanzierung, op. cit., S. 89. <?page no="493"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 477 Auf den Gegensatz von „zivilisiert“ und „primitiv“ bezieht sich auch das zweite Argument von Anton Blok, das die Differenz zwischen einfachen und komplexen Gesellschaften in Frage stellt. Es verläuft nach dem bekannten Motto „was es hier gibt, gab es dort auch“: „Die Merkmale (mehr) ‚zivilisierter‘ Menschen - Überlegung, langfristige Berechnung, Selbstbeherrschung, genaueste Regulierung eigener Affekte, Argumentation, Arglist und Menschenkenntnis - fehlen keineswegs in sogenannten primitiven Gesellschaften, zu denen auch einige sehr gewalttätige gehören.“ 112 Die hier aufgezählten Merkmale sind allerdings so vieldeutig, dass sie auf nahezu alle Gesellschaften von der Steinzeit bis zur Postmoderne anwendbar sind. Es macht jedoch sehr viel aus, ob sich „langfristige Berechnung“ auf einen sozialistischen Fünfjahresplan, die Planung eines Großunternehmens oder die auf Jahreszeiten gründende Aufgabenverteilung eines nordsibirischen Stammes bezieht. Im letzten Fall ist die Einstellung zur Natur ganz anders geartet als in den ersten beiden Fällen und beruht daher auf einer völlig anderen Rationalität. Von einer Einengung der anthropologischen Sichtweise zeugt ein Satz in Bloks Schlussbetrachtung: „Das Thema der Zivilisation ist die Beherrschung von Körperfunktionen.“ 113 Diese programmatische Feststellung mag auf die Anthropologie zutreffen; im Hinblick auf Eliasʼ Zivilisationstheorie erscheint sie, wie vor allem der hier angestellte Vergleich mit Max Weber zeigt, der Zivilisationsprozess und Rationalisierung miteinander verknüpft, als unzulässige Engführung. Sie prägt auch Hans Peter Duerrs Kritik an Elias. Vor allem sein 1988 erschienenes Buch Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess bezieht sich hauptsächlich auf den Vergleich von Peinlichkeits- und Schamschwellen in Stammesgesellschaften, im Mittelalter und in der (auch zeitgenössischen) Neuzeit. Das Kernthema von Duerrs kenntnisreicher und gründlicher Untersuchung ist daher der Affekthaushalt und hier vor allem die Kontrolle der Sexualität als Fremdkontrolle und Selbstkontrolle. Diese Konzentration auf Affekt und Geschlecht erklärt, warum Duerr zentrale Aspekte von Eliasʼ Zivilisationstheorie wie Zeitbeherrschung, Verwissenschaftlichung durch Distanzierung und allgemein Rationalisierung (der Wirtschaft, des Verhaltens, der Verwaltung) ausklammern muss. Dies führt zu einer selektiven Lektüre von Eliasʼ Werk, die weiter oben im Zusammenhang mit Blok als Vernachlässigung des Kontexts kommentiert wurde. Schon in Duerrs „Einleitung“ wird das Hauptargument dieses Werks in dem Sinne wiedergegeben, „daß die Menschen des Mittelalters und die Angehörigen der letzten ‚primitiven‘ Gesellschaften im Vergleich 112 A. Blok, „Primitief en geciviliseerd“, in: Sociologische Gids, 3-4, op. cit., S. 203. 113 Ibid., S. 206. <?page no="494"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 478 zu uns heutigen Europäern ihre Triebe und Affekte noch wenig gebunden und geregelt hätten (…).“ 114 Von Duerrs Fokussierung auf Sexualität und Scham zeugt der folgende Satz, der sich auf Eliasʼ Vorstellung von größerer sexueller Freizügigkeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bezieht: „Dies bewiesen beispielsweise - so wird gesagt - das lockere Treiben entkleideter Frauen und Männer in den vor- und frühneuzeitlichen Badstuben und Wildbädern (…).“ 115 Diese Textpassagen zeigen, wie sehr ein Diskurs auf semantischer Ebene durch Relevanzkriterien und Selektionen begründet und in seinem Ablauf gesteuert wird. Denn es fällt auf, dass Duerr Eliasʼ Kernerzählung „von der feudalen zur höfisch-absolutistischen Gesellschaft und von der Fremdzur Selbstkontrolle“ auf „primitive Gesellschaften“ und auf die „heutigen Europäer“, die bei Elias nur am Rande vorkommen, ausdehnt. Dadurch ermöglicht er eine anthropologische Kritik an Elias auf metadiskursiver Ebene, auf der - wie bei Blok - die Zustände in Stammesgesellschaften stärker in den Blick geraten. Diskursstrategisch ausgedrückt: Er versucht, den kritisierten Gegner in einen ihm fremden Bereich zu drängen, in dem er unterliegen muss. Tatsächlich nimmt sich Duerr vor zu zeigen, dass Kontrolle und Selbstkontrolle der Sexualität sowohl im Mittelalter 116 als auch in Stammesgesellschaften aufgrund engmaschiger sozialer Verflechtungen (etwa im Sinne von Tönniesʼ „Gemeinschaft“) strenger war, als Elias es darstellt, „was bedeutet, daß die unmittelbare soziale Kontrolle, der man unterworfen war, viel unvermeidbarer und lückenloser gewesen ist“. 117 In Obszönität und Gewalt erklärt er im Zusammenhang mit „vorneuzeitlichen“, „traditionellen“ und „Stammesgesellschaften“, „daß die Einzelpersonen entgegen der Eliasschen Behauptung einer wesentlich effektiveren und unerbittlicheren sozialen Kontrolle unterworfen waren als heute (…).“ 118 Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen, wie Michael Schröter bemerkt 119 , und wird von den sexuell außerordentlich freizügigen Renaissance-Fresken im Palazzo del Té in Mantua konkretisiert, die aus der Zeit 114 H. P. Duerr, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 9. 115 Ibid. 116 Vgl. auch H. P. Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt, Syndikat, 1978, S. 69, wo der Autor zu zeigen versucht, wie zurückhaltend das Mittelalter in den Bereichen „Sexualität“ und „Erotik“ war: „Auch die hochmittelalterlichen Frauendarstellungen sind bemerkenswert unerotisch (…).“ 117 H. P. Duerr, Nacktheit und Scham, op. cit., S. 10. 118 H. P. Duerr, Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 27. 119 Vgl. M. Schröter, Erfahrungen mit Norbert Elias, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 87. <?page no="495"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 479 der Gonzaga stammen und im italienischen Mittelalter aus religiösen Gründen kaum möglich gewesen wären. Allerdings erweitert Duerr auch seine Argumentation auf das 20. Jahrhundert und spricht von „einer Senkung der Scham- und Peinlichkeitsschwellen (…) wie sie in unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu beobachten ist“. 120 Dadurch verlässt er endgültig den für Elias relevanten Bereich des Übergangs von der feudalen zur höfisch-absolutistischen Gesellschaft, in dem „Fremdzwang allmählich zum Selbstzwang“ wird. Er verlässt ihn auch - wie Blok - mit seinem Kolonialismus-Vorwurf, wenn er Eliasʼ Erzählung wie folgt wiedergibt: „Nachdem sich das Abendland schließlich selbst zivilisiert hätte, sei es darangegangen, auch den fremden Völkern die Botschaft der Zivilisation zu verkünden.“ 121 Es hat sich jedoch gezeigt, dass Elias mit seinen Hinweisen auf außereuropäische Gesellschaften keine ethnozentrische Aufwertung Europas bezweckt, sondern lediglich einen Prozess beschreibt, der auch innerhalb von Europa aufgrund eines technologisch-kulturellen Gefälles zwischen Griechenland und Rom einerseits und Nordwesteuropa andererseits stattgefunden hat. Duerr erläutert seinen Kolonialismus-Vorwurf in Obszönität und Gewalt, wo er zu Elias bemerkt: „Was ihn und seine Anhänger in die Nähe der Kolonialideologen rückt, ist vielmehr die Tatsache, daß sie die Überlegenheit der westlichen Gesellschaften gegenüber anderen nicht nur als eine technisch-militärische, sondern als eine Überlegenheit in der Modellierung der Triebstruktur sehen.“ 122 Die Schwäche dieses Arguments liegt in der unreflektierten Trennung der Triebstruktur vom technisch-militärischen Bereich: Eine Armee ist einer anderen durch Organisation, Zeitplanung und effiziente Anwendung der Technik überlegen. Diese Faktoren hängen aber aufs engste mit der „Modellierung der Triebstruktur“ als Selbstbeherrschung zusammen: etwa im Hinblick auf Disziplin, Pünktlichkeit und Präzision, die eine römische Legion gallischen oder germanischen Gegnern gegenüber auszeichneten und auch in modernen Kolonialkriegen entscheidend sein konnten. Im Zweiten Weltkrieg haben Japaner, im Vietnam-Krieg Vietnamesen gezeigt, dass diese Eigenschaften im Laufe des Zivilisationsprozesses erworben werden können - und kein Privileg des „Westens“ sind. Fragwürdig ist dieses Privileg der Selbstbeherrschung als solches, weil es Schatten auf den Zivilisationsprozess als ganzen wirft. Elias selbst verteidigt sich gegen den Kolonialismus-Vorwurf in seiner kurzen Replik auf Duerrs Kritik mit deren Erklärung: Mit diesem Vorwurf versuche Duerr, sich als Angehöriger der Nachkriegsgeneration und Erbe 120 H. P. Duerr, Nacktheit und Scham, op. cit., S. 11. 121 Ibid., S. 10. 122 H. P. Duerr, Obszönität und Gewalt, op. cit., S. 12. <?page no="496"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 480 der europäischen Kolonialherren von seinem Schuldgefühl zu befreien. Er habe Eliasʼ Entwurf nicht als Versuch einer „Weiterentwicklung des Zivilisationsbegriffs“ 123 verstanden. Zugleich distanziert er sich in dieser Replik von allen Fortschrittsideologien und meint, „ideologisch neutral“ 124 zu argumentieren, wenn er „von den langfristigen zivilisatorischen Veränderungen der Menschen in der einen oder anderen Richtung einer zunehmenden oder abnehmenden Zivilisation“ 125 spricht. Es hat sich jedoch gezeigt, dass Eliasʼ Zivilisationsbegriff vorwiegend positiv konnotiert ist, und Duerr bezeichnet die wunde Stelle der Zivilisationstheorie, wenn er bemerkt: „N. Elias (…) meint, daß diese neue Triebmodellierung im Vergleich zu denjenigen der ‚früheren Entwicklungsformen‘ als die ‚bessere‘ zu bezeichnen sei - eine Wertschätzung, die ihn von all jenen seiner Anhänger trennen wird, die der Auffassung sind, daß der von unserer Gesellschaft geforderte Triebverzicht unnötig hoch sei. Als Elias freilich einmal direkt gefragt wurde, ob er den Zivilisationsprozeß positiv bewerte, hielt er sich seltsamerweise bedeckt und antwortete: ‚Das ist eine Nullfrage‘.“ 126 Es ist keine „Nullfrage“, weil sie auf das Zentrum der Theorie zielt: auf die Ambivalenz des Zivilisationsprozesses, der Befreiung und Unterwerfung, Humanität und Barbarei gleichzeitig mit sich führt. Diese Ambivalenz, die Freud ansatzweise beschreibt, nimmt Elias, der in den 1930er Jahren den Zivilisationsbegriff in humanistischer Absicht gegen die sich abzeichnende nationalsozialistische Barbarei wandte, nicht wahr. In Duerrs Kommentar wird, wenn auch indirekt, dieses Grundproblem des Zivilisationsprozesses angeschnitten, weil Duerr die repressiven Mechanismen des von der Naturbeherrschung gesteuerten Prozesses beobachtet und sie in seiner Kritik immer wieder erwähnt. Leider konzentriert er sich auf die Trieb- und Affektkontrolle und verliert dabei den Zivilisationsprozess als globale Naturbeherrschung und Rationalisierung (im Sinne von Max Weber) aus dem Blickfeld. Michael Hinz verteidigt Elias gegen den Vorwurf einer „zu optimistischen“ Beschreibung des Zivilisationsprozesses und fasst zusammen: „Bei einer selektiven Lesart der ‚Prozess-Bände‘ lässt sich Eliasʼ Zivilisationstheorie gegen seinen Willen als hoffnungsfrohe Fortschrittsgeschichte lesen. Hieraus zieht Duerrs Elias-Kritik einen beträchtlichen Teil ihrer Legitimation.“ 127 123 N. Elias, „Was ich unter Zivilisation verstehe. Antwort auf Hans Peter Duerr (1988)“, in: ders., Aufsätze und andere Schriften III, op. cit., S. 336. 124 Ibid., S. 338. 125 Ibid., S. 339. 126 H. P. Duerr, Nacktheit und Scham, op. cit., S. 340. 127 M. Hinz, Der Zivilisationsprozeß: Mythos oder Realität? , op. cit., S. 123. <?page no="497"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 481 Es ist zwar richtig, dass Duerr selektiv verfährt und sich dadurch fragwürdige diskursive Strategien zunutze macht (semantische Einengung bzw. Ausdehnung); aber seine Kritik sollte nicht einseitig „zurückgewiesen“ werden, wie das politische Klischee lautet, weil sie den repressiven Charakter einer Entwicklung zur Sprache bringt, deren - möglicherweise verhängnisvolle - Dialektik Elias entgangen ist. 6. Zivilisation, Kultur und Rebarbarisierung: Alfred Webers Gegenentwurf In diesem Epilog kann es nicht darum gehen, die Soziologie Alfred Webers (1868-1958), des Bruders von Max Weber, umfassend darzustellen. Sie wird hier als mögliche Replik auf Norbert Eliasʼ Zivilisationssoziologie rekonstruiert. Der Rekonstruktionsversuch kann einen sonderbar anachronistischen Eindruck hervorrufen, weil der viel jüngere, 1897 geborene Elias bei Alfred Weber in Heidelberg studierte. Über Alfred Weber und Karl Mannheim schreibt Hermann Korte: „Auf diese beiden (…) traf Norbert Elias, als er Ende 1924, 27 Jahre alt, nach Heidelberg kam.“ 128 Im Folgenden kommt es jedoch nicht auf diesen Generationsunterschied, sondern auf die Argumentationsweise Webers an, die einerseits in Eliasʼ Diskurs Spuren hinterließ 129 , andererseits von diesem Diskurs stark abweicht und ihn bis zu einem gewissen Grad auch in Frage stellt. Grundsätzlich gilt hier, wie überall in diesem Buch, dass andere Relevanzkriterien andere Selektionen und Klassifikationen und die ihnen entsprechenden Begriffe mit sich bringen und dadurch einen anderen Diskurs als Erzählung entstehen lassen. Es gehört zu den Verdiensten A. Webers, dass er sich dieser Tatsache bewusst war. Im Zusammenhang mit den Fragestellungen Comtes und Marxʼ, die das Nacheinander von Religion, Philosophie und Wissenschaft oder „das Schicksal der jeweils sozial Benachteiligten und Enterbten“ 130 betreffen, geht er (zumindest implizit) auf den Nexus von Selektion und Diskursablauf ein. Er stellt fest, „daß sich für jede dieser Fragestellungen natürlich vermöge einer anderen Tatsachenauswahl ein anderes Strukturbild der Geschichte ergeben muß (…)“. 131 Anders 128 H. Korte, Über Norbert Elias. Das Werden eines Menschenwissenschaftlers, Opladen, Leske-Budrich, 1997, S. 65. 129 Eliasʼ Begriff „Figuration“ erinnert stark an A. Webers Begriff der „Konstellation“: Vgl. A. Weber, Einführung in die Soziologie (Hrsg. H. G. Nutzinger), Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV, Marburg, Metropolis-Verlag, 1997, S. 32: „Aber jene historisch soziologische konstellative Formung festzustellen, ist überall das Erste (‚Konstellationsanalyse‘).“ 130 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. VIII (Hrsg. R. Bräu), Marburg, Metropolis Verlag, 2000. S. 123. 131 Ibid. <?page no="498"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 482 gesagt, die auf besonderen Relevanzkriterien gründende „Tatsachenauswahl“ legt die Richtung der soziologischen Erzählung fest, die nie allgemein gültig oder „objektiv“ ist, sondern stets partikular und selektiv-wertend. Im Hinblick auf die miteinander konkurrierenden Diskurse kommt Weber zu dem Schluss, „daß sie also alle bis zu einem gewissen Grade recht haben können, ohne sich zu widersprechen“. 132 Freilich widersprechen sie einander auch, und aus dialogischer Sicht kommt es darauf an, Komplementarität und Widerspruch gegeneinander abzuwägen. Damit ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bezeichnet: Es geht um die Frage, wie sich Alfred Webers zivilisationskritische Soziologie zu Eliasʼ vorwiegend positiv konnotierter Erzählung des Zivilisationsprozesses verhält. Zunächst erscheint es sinnvoll, Eliasʼ und Webers Zivilisationsbegriffe gegeneinander abzugrenzen und zu zeigen, wie sie aufgrund ihrer semantischen Abweichungen verwandte, aber letztlich grundverschiedene Diskurse entstehen lassen. Ein Begriff ist nie isoliert zu verstehen, sondern stets in semantischen Feldern, in denen er als vieldeutiges Wort zumeist Verschiedenes bedeutet. 133 Eliasʼ Zivilisationsbegriff ist zwar breit angelegt, weil er als Rationalisierungsbegriff auch wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Komponenten aufweist, aber sein Kern konzentriert sich auf menschliche Einstellungen und Verhaltensweisen: auf den Übergang von Fremdzwängen zur Selbstkontrolle. Zu seinem wirtschaftlichen Aspekt heißt es etwa in Die höfische Gesellschaft: „Es gibt eine ganze Reihe von Belegen für Rationalisierungsschübe des aristokratischen Großhaushalts (…).“ 134 Solche Rationalisierungsschübe gehören demnach zum Zivilisationsprozess - ebenso wie die politisch-militärische Monopolisierung der Gewalt durch den Staat, von der bereits die Rede war. Im selben Buch ist im Hinblick auf die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und in Anlehnung an Comte vom „Übergang von einer theologischen zu einer wissenschaftlichen Form des Wissenserwerbs“ 135 die Rede - und auch von der Kultur als „höfischer Kultur“. 136 Die Technik als Zivilisierungsmodus steht im Mittelpunkt von Eliasʼ Buch Über die Zeit, wo die Erfindung der Uhr und später der Taschen- oder Armbanduhr als Mittel der Selbstkontrolle aufgefasst wird. Prozesse wie „Urbanisierung, Kommerzialisierung und Mechanisierung“ 137 werden dort 132 Ibid. 133 Zum Begriff des semantischen Feldes vgl. U. Eco, Trattato di semiotica generale, Mailand, Bompiani, 1975, S. 111-121. 134 N. Elias, Die höfische Gesellschaft, op. cit., S. 475. 135 Ibid., S. 423. 136 Ibid., S. 318. 137 N. Elias, Über die Zeit, op. cit., S. 6. <?page no="499"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 483 als Bestandteile des Zivilisationsprozesses aufgefasst und auf den Übergang vom Fremdzwang zum Selbstzwang bezogen. Als diffuser Begriff weist Eliasʼ „Zivilisation“ außer dem Kern „menschliches Verhalten“ folglich auch die semantischen Aspekte (Seme, Greimas) 138 „Wirtschaft“, „Politik“, „Kultur“, „Wissenschaft“, „Rationalisierung“ und „Technik“ auf. Ein Vergleich mit Alfred Webers Zivilisationsbegriff lässt beachtliche Abweichungen erkennen, die damit zusammenhängen, dass Weber das von den verwandten Begriffen „Gesellschaft“, „Wirtschaft“, „Politik“, „Wissenschaft“, „Zivilisation“ und „Kultur“ gebildete semantische Feld ganz anders einteilt oder konstruiert als Elias. In Übereinstimmung mit seiner Unterscheidung von „Gesellschaft“, „Zivilisation“ und „Kultur“ unterscheidet er drei teils komplementäre, teils widersprüchliche Entwicklungen: „Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung“. 139 Zugleich stellt er die durchaus plausible Überlegung an, dass sich die Kultur keineswegs linear und parallel zu Gesellschaft und Zivilisation entfaltet (daher spricht er von „Kulturbewegung“ und nicht von „Kulturprozess“) und von der Zivilisation als Wirtschaft und Technik sogar gefährdet werden kann. Es lohnt sich, Webers Konstruktion von Gesellschaftsprozess, Zivilisationsprozess und Kulturbewegung in dem hier umrissenen semantischen Feld und kontrastiv zu Elias näher zu betrachten. Zum „Gesellschaftsprozess“ als „sozialstruktureller Sphäre“ rechnet Weber u.a. „Wirtschaft“, „Politik“ sowie „Sozialstruktur im engeren Sinne“ 140 , zur „Zivilisation“ vor allem die (Natur-)Wissenschaften und die Technik und zur „Kultur“ alles Schöpferische und Einmalige: Religion, Kunst und Philosophie. Hier wird deutlich, dass Weber anhand einer anderen Klassifizierung trennt, was bei Elias als „Zivilisation“ eine Einheit bildet: Gesellschaft, Zivilisation und Kultur - wobei er allerdings dazu neigt, die Entwicklungen von Zivilisation und Kultur der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu subsumieren. Vom „Intellektualisierungs- und Rationalisierungsprozess“ heißt es in Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie: „Ich schlage vor, ihn den Zivilisationsprozeß zu nennen, und diesen und seine Sphäre gedanklich scharf und grundsätzlich von dem Gesellschaftsprozeß wie von der Sphäre der Kulturbewegung zu trennen. Letztere ist auch in den Gesellschaftsprozeß der großen Geschichtskörper eingebettet, steht aber in ganz anderer Beziehung zu diesem als der Zivilisationsprozeß, ist (…) von ganz anderen Entwicklungsgesetzen beherrscht, hat ein ganz anderes Wesen und eine 138 Zur Definition des Sems als „minimaler Sinneinheit“ vgl. A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 332. 139 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, op. cit., S. 147. 140 A. Weber, „Einführung in die Soziologie“, in: Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV (Hrsg. H. G. Nutzinger), Marburg, Metropolis Verlag, 1997, S. 33. <?page no="500"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 484 ganz andere Stellung im Geschichtsverlauf.“ 141 Worin besteht nun die Differenz, die bei Elias nicht vorkommt? Webers Differenzierung, die vor allem auf einen Gegensatz von Wirtschaft und Technik einerseits und Kultur andererseits hinausläuft, besteht zunächst darin, dass der Zivilisationsprozess als Prozess fortschreitender Naturbeherrschung erscheint: „Dieser Prozeß manifestiert sich am deutlichsten in seiner äußerlichsten Erscheinungsform als die fortgesetzte Erweiterung und Verbesserung der äußeren Beherrschung der Natur durch den Menschen, also als technischer Fortschrittsprozeß.“ 142 Im Laufe dieses Prozesses werden naturwissenschaftliche und technische Entdeckungen mit allgemein gültigem Charakter gemacht. Als nützliche Entdeckungen bewähren sie sich in allen Gesellschaften und Kulturen und werden deshalb umgehend angewandt und wirtschaftlich verwertet. Es herrscht das Prinzip der austauschbaren Allgemeinheit, die alles Besondere, Kulturspezifische negiert. Sie ist kulturindifferent: Wolkenkratzer in Singapur oder Schanghai unterscheiden sich kaum von Wolkenkratzern in Frankfurt oder Moskau. Für Weber ist diese Kulturindifferenz der Zivilisation ein Anlass, einen Gegensatz zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ sowie zwischen „Kulturbewegung“ und „Zivilisationsprozess“ zu postulieren. Es ist letztlich ein Gegensatz zwischen dem Einmaligen einerseits und dem rational Reproduzierbaren und Verwertbaren andererseits: „Alle Kulturemanationen sind eben immer ‚Schöpfung‘. Sie tragen damit das Kennzeichen jeder Schöpfung, den Charakter der ‚Ausschließlichkeit‘ und ‚Einmaligkeit‘ an sich, im Gegensatz zu allen Dingen, die der Zivilisationsprozeß herausstellt, die immer den Charakter der ‚Entdeckungen‘ und damit der logischen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, der Herausstellung von etwas schon Vorhandenem besitzen.“ 143 Die Gefahr, die sich aus Webers Sicht abzeichnet, ist eine Zerstörung der als unnütz erscheinenden Kultur durch die sich über die ganze Welt ausbreitende Zivilisation. Denn Kultur ist nur jenseits des Notwendigen und Nützlichen möglich: „Dann aber erst, wenn das erfolgt, wenn das Leben von seinen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten zu einem über diesen stehenden Gebilde geworden ist, erst dann gibt es Kultur.“ 144 Die Gefahr besteht darin, dass der Zivilisationsprozess in umgekehrter Richtung verläuft und die Zivilisation als Wirtschaft und Technik sich die Kultur unterwirft: sie zu einer 141 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, op. cit., S. 156. 142 Ibid., S. 130. 143 Ibid., S. 167. 144 A. Weber, „Ideen zur Staats- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, op. cit., S. 68. <?page no="501"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 485 Geldquelle macht, indem sie sie durch kommerzialisierte Stereotypen verflacht oder gar ersetzt. Diese Entwicklung als vollendete Ökonomisierung und Technisierung der Kultur beschreibt Adornos und Horkheimers Theorie der Kulturindustrie (vgl. Kap. VI und Kap. XI. 6). Es klingt wie eine Vorwegnahme dieser Theorie, wenn Weber im Zusammenhang mit „Aufstiegs-, Abstiegs- und Vollendungsepochen“ 145 bemerkt: , „daß man z.B. unsere Zeit als eine geradezu ungeheure, vielleicht in der Welt einzigartige tellurische Rebarbarisierungsepoche anzusehen hat (…)“. 146 Allerdings kommt es auch beim Wort Rebarbarisierung zu einer semantischen Verschiebung im Vergleich zu Elias: Während Weber primär die Zerstörung der Kultur durch Kommerz und Technik („Medien“) im Blick hat, denkt Elias vor allem an die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus. Aber auch er sieht diese Deshumanisierung im Zusammenhang mit der Absage des deutschen Bürgertums an seine humanistischen Ideale, und Weber stellt seinerseits die Entmenschlichung durchaus in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: „Ein Konflikt steigt gleichfalls auf, falls die kapitalistisch technisch fundierte Eigenevolution der Wirtschaft den Menschen, der ihr Zweck sein sollte, als eines ihrer Mittel auffrißt.“ 147 Längst hat der Zivilisationsprozess vom Kapitalismus über den Nationalsozialismus bis zum Stalinismus (als Staatskapitalismus) den Menschen zum Mittel gemacht: als verwertbare Arbeitskraft. Die ihm innewohnende Naturbeherrschung erweist sich letztlich als Herrschaft über den Menschen, der die zerstörerischen Fremd- und Selbstkontrollen täglich zu spüren bekommt. 148 Anders als Elias nimmt Alfred Weber den ambivalenten und widersprüchlichen Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung wahr. Indem er einen Widerspruch zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“ postuliert, hat er im Gegensatz zu Elias die Möglichkeit, die „Rebarbarisierung“ prozessimmanent zu erklären, statt sie aus dem deutschen „Sonderfall“ (der keiner war) abzuleiten. Obwohl er als liberal-konservativer Denker und „Vertei- 145 A. Weber, „Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie“, in: Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, op. cit., S. 138. 146 Ibid. 147 A. Weber, „Einführung in die Soziologie“, in: Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV, op. cit., S. 58. 148 Vgl. U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 32. Bröckling aktualisiert und konkretisiert Eliasʼ Theorie der Selbstkontrolle im sozio-ökonomischen Bereich, indem er zeigt, wie durch eine Wechselwirkung von Fremd- und Selbstkontrolle das werktätige Subjekt dazu angehalten wird, sich selbst zu „managen“, um den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu genügen. Er zeigt, wie „Subjektivierung sich in einem strategischen Feld vollzieht, in dem der Einzelne sich gezielten und planvollen Zurichtungsanstrengungen ausgesetzt sieht und sich zugleich gezielt und planvoll selbst zurichtet (…).“ <?page no="502"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 486 diger des humanistischen Gymnasiums“ 149 weit von den Positionen der Kritischen Theorie entfernt ist, stimmt er mit deren These überein, dass der Gesellschaftsprozess als Prozess fortschreitender Natur- und Menschenbeherrschung selbstzerstörerisch ist. Auf besonders prägnante Weise veranschaulicht sein Vortrag „Die Not der geistigen Arbeiter“ (1922/ 23) seine zivilisationskritische Denkart. In diesem Vortrag, in dem von der „alles durchdringenden Ökonomisierung“ 150 die Rede ist, warnt er vor der Gefahr einer Vereinnahmung der Kultur durch die Wirtschaft und beschreibt mit Engagement den Widerstand des Geistigen gegen die Ökonomisierung: „Die eigentliche wertvollste geistige Arbeit aber ist hier etwas gänzlich Individuelles. Für sie versagt alles. Sie ist unmeßbar. Und wie sie, das ist ja der Tenor alles dessen, was ich auszuführen suchte, sich in ihrem Wesen außerhalb des Ökonomischen bewegt, so ist sie auch nicht durch die Regeln des regulären ökonomischen Kampfes zu sichern und wird sich nicht nach ihnen richten.“ 151 Abermals wird hier - wie bei Simmel - das Unmessbare, Unaustauschbare und Besondere dem Quantifizierbaren, Ökonomischen entgegengesetzt. Wie aktuell dieser Gegensatz heute - gerade in der akademischen und wissenschaftlichen Welt - ist, lassen Aussagen des Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes aus dem Jahr 2017 erkennen, die unter dem vielsagenden Titel „Mehr wägen, weniger zählen“ wiedergegeben wurden. Eine von ihnen lautet: „Eine zahlengläubige und technokratische Steuerungspolitik braucht die Wissenschaft nicht.“ 152 Eine solche Politik wird zunehmend als eine Gefahr für Wissenschaft, Kunst und den gesamten Kulturbereich wahrgenommen. Aber Alfred Webers Name wird in diesem Zusammenhang kaum jemals genannt. Möglicherweise wirkt seine engagierte Soziologie in sachlich-technokratischer Zeit, die zu einer missverstandenen Wertfreiheit tendiert, peinlich. Sein konsequentes Plädoyer für Bildung und Kultur (durchaus auch im Sinne von Georg Simmel: vgl. Kap. XI) führt zwar zu der Feststellung, „daß die Soziologie diese Art der Wertfreiheit für sich nicht in Anspruch nehmen kann“ 153 , hindert Weber aber nicht daran, wie sein Nachdenken über die Auswahl der in der Theorie kommentierten Tatsachen (s.o.) erkennen lässt, über seine eigenen Klassifizierungen und Wertsetzungen distanziert 149 R. Bräu, „Einleitung“, in: A. Weber, Das Tragische und die Geschichte, Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. II (Hrsg. R. Bräu et al.), Marburg, Metropolis Verlag, 1998, S. 8. 150 A. Weber, „Die Not der geistigen Arbeiter“, in: Politische Theorie und Tagespolitik (1903-1933), Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. VII, Marburg, Metropolis Verlag, 1999, S. 608. 151 Ibid., S. 623. 152 B. Kempen, „Mehr wägen, weniger zählen“, in: Forschung und Lehre, 5/ 2017, S. 386. 153 A. Weber, „Einführung in die Soziologie“, in: Alfred Weber-Gesamtausgabe, Bd. IV, op. cit., S. 46. <?page no="503"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 487 nachzudenken. Diese Art der selbstkritischen Distanz mag Elias zu seiner dialektischen Verknüpfung von Engagement und Distanzierung angeregt haben. Webers „Gegenentwurf“ soll hier nicht nur Eliasʼ Position dialogisch konkretisieren, sondern auch die Aktualität seiner zivilisationskritischen Kultursoziologie in Erinnerung rufen. Zusammenfassung und Ausblick: In Anlehnung an Comte und Spencer entwickelt Norbert Elias den Prozess-Begriff, den er - ähnlich wie Simmel - mit individuellen und kollektiven Interaktionen verknüpft, aus denen „Figurationen“ hervorgehen. Diese sind als machtvermittelte wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse von Individuen, Gruppen oder Staaten aufzufassen, die sich ständig ändern und dadurch die soziale Evolution vorantreiben. Diese Evolution ist in ihrer Gesamtheit nicht geplant und findet oftmals „hinter dem Rücken der Akteure“ statt. Mit dem Begriff der „Figuration“ gelingt Elias ein Brückenschlag von der Mikrozur Makrosoziologie und von der Psychozur Soziogenese. Dieser Nexus von Psyche und Gesellschaft prägt das zentrale Ereignis von Eliasʼ Erzählung, die sich vor allem auf den Übergang vom Feudalismus zum Absolutismus in Frankreich bezieht: auf die Domestizierung des Feudaladels am Hof Ludwigs XIV. Dieser Prozess der „Domestizierung“ wird von Elias zugleich als ein Humanisierungsprozess aufgefasst, in dem der Fremdzwang zum Selbstzwang (zur Selbstbeherrschung) wird: Die Zwänge, die im Mittelalter von kirchlichen und weltlichen Mächten ausgingen, werden in der höfischen Gesellschaft des Absolutismus von den Individuen als Normen „verinnerlicht“, wodurch der Einzelne zivilisierter, beherrschter und rationaler wird. In diesem Zusammenhang könnte Max Webers Theorie der Rationalisierung in Eliasʼ Theorie der Zivilisierung eingebettet werden: Letztere könnte eine Erklärung für die sich konsolidierende Rationalität - vor allem als Zweckrationalität - bieten. In Eliasʼ Erzählung des Zivilisationsprozesses stehen einander als Auftraggeberin und Gegenauftraggeberin des „Individuums“, das zugleich als Fokalisator fungiert, zwei Instanzen gegenüber: „Zivilisation“ und „Natur“. Das „Individuum“ erscheint in Elias‘ Diskurs als gespaltener Aktant, der als Beauftragter der „Zivilisation“ zu Vernunft und Selbstkontrolle oder als Beauftragter der „Natur“ zu Affekt und Gewalt neigen kann. Als Helfer der Zivilisation sorgt der Staat seit dem Absolutismus dafür, dass sich zivilisiertes und vernünftiges Handeln durchsetzt. Bekanntlich war dies im Nationalsozialismus nicht der Fall, und es fragt sich, wie es zu dieser „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft kommen konnte. Im Gegensatz zu Elias, der diesen Rückfall in Naturwüchsigkeit im Zusammenhang mit dem „deutschen Sonderweg“ erklärt, wird hier die These vertreten, dass der Zivilisationsprozess selbst eine zweigleisige Entwicklung ist, weil er auf dem irrationalen Herrschaftsprinzip (der Naturbeherrschung) gründet, das einen Rückfall in Barbarei jederzeit <?page no="504"?> Norbert Elias’ Prozesssoziologie 488 ermöglicht: Die Barbarei ist in der repressiven Zivilisation selbst angelegt. Dies bestätigt der Exkurs zu Freuds Psychoanalyse, die das „Unbehagen in der Kultur“ als Folge der repressiven Sozialisierungsmechanismen erklärt. Diese Überlegungen spielen auch in den kritischen Kommentaren von Anton Blok und Hans Peter Duerr eine wichtige Rolle, die den normativen Status von Eliasʼ Zivilisationsbegriff im Kontext des Kolonialismus (zivilisiert / primitiv) und der heutigen Zeit in Frage stellen. Als Gegenentwurf zu Eliasʼ Zivilisationsprozess wird schließlich Alfred Webers Kultursoziologie kommentiert, in der „Zivilisation“ als Naturbeherrschung durch Wirtschaft und Technik mit negativen Konnotationen versehen und als akute Bedrohung der Kultur dargestellt wird, die jederzeit eine „Rebarbarisierung“ als Instrumentalisierung und Kommerzialisierung bewirken kann. Im „Dritten Teil“ des Buches und vor allem im Kapitel über Talcott Parsons ist die Frage nach der Bedeutung der Kultur für den sozialen Zusammenhalt zentral. <?page no="505"?> 489 Dritter Teil: Spätmoderne soziologische Theorien in der Postmoderne Der Titel „Spätmoderne soziologische Theorien in der Postmoderne“ könnte als eine Zusammenfassung der diesem Buch zugrunde gelegten Erzählung gelesen werden: Die im „Dritten Teil“ kommentierten soziologischen Theorien werden zwar nicht gegen den Willen ihrer Autoren - Parsons, Luhmann, Habermas, Touraine, Bourdieu, Giddens und Beck - als postmoderne Theorien aufgefasst, sehr wohl aber als Reaktionen auf eine postmoderne Problematik, die der Autor der spätmodernen Selbstkritik der Moderne folgen lässt. Freilich wäre es möglich, die gesellschaftliche Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg auch anders zu erzählen und mit Luhmann zu behaupten, „daß die Dynamik der modernen Gesellschaft unterschätzt worden war“ 1 und dass folglich alle Erscheinungen, die für postmodern gehalten werden, im Rahmen der modernen Dynamik zu erklären sind. Mit Touraine ließe sich gegen eine Konstruktion „postmoderner Verhältnisse“ einwenden, dass diese Zerfallserscheinungen der Moderne sind, die einer demokratischen Erneuerung bedarf. Mit Habermas, auf den sich Touraine bisweilen beruft, könnte die „Postmoderne“ als eine konservative Reaktion auf die von Habermas befürwortete ökologische, soziale und demokratische Vollendung des „modernen Projekts“ betrachtet werden. In allen drei Fällen - bei Luhmann, Touraine und Habermas - kommt es allerdings zu einer reduktionistischen Verzerrung der postmodernen Problematik, die weder in den modernen Verhältnissen aufgeht noch als konservative Reaktion auf soziale Reformen oder Demokratisierungstendenzen zu verstehen ist. Eine Alternative zu der hier konstruierten Erzählung zeichnet sich auch in den Diskursen von Anthony Giddens und Ulrich Beck ab, in denen nicht von „Postmoderne“, sondern von einer „reflexiven Moderne“ oder „high Modernity“ (Giddens) und von einer „Zweiten Moderne“ (Beck) die Rede ist. Diese „reflexive“ oder „Zweite Moderne“ setzt sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch, als vielen Menschen (nicht nur der Wissenschaftlergemeinschaft) klar wird, dass von Kernenergie, Umweltverschmutzung und Klimawandel unabschätzbare Risiken und Gefahren ausgehen, so dass der Gedanke aufkommt, dass die „Erste Moderne“ als fortschrittsgläubige 1 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 1143. <?page no="506"?> Spätmoderne Theorien in der Postmoderne 490 Industriegesellschaft nicht ohne weiteres fortgesetzt werden kann. Die Moderne wird reflexiv und tritt in eine selbstkritische Phase ein. Im „Zweiten Teil“ dieses Buches sollte allerdings deutlich geworden sein, dass das kritische Nachdenken über die Moderne als Modernisierungsprozess und Fortschritt bereits im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert einsetzt: als Pareto die linear-teleologischen Geschichtsauffassungen von Marx und Comte in Frage stellt, indem er mit Nietzsche den Gedanken an eine fortschreitende Emanzipation der Menschheit durch die zirkuläre Erzählung einer „ewigen Wiederkehr“ der Eliten ersetzt. Auch bei Durkheim und Tönnies kommen Zweifel an der Moderne als Fortschritt und Emanzipation auf. Während Durkheim den Zerfall der sozialen Solidarität und die Zunahme der Anomie beschreibt, stellt Tönnies eine Schwächung der Gemeinschaft und des Gemeinschaftssinns in der Moderne fest. Simmel spricht von einer „Tragödie der Kultur“, die dadurch entsteht, dass der Wissensvorrat der Gesellschaft stetig zunimmt, während die sich spezialisierenden modernen Individuen immer weniger imstande sind, sich „ihre“ Kultur anzueignen. Max Weber ahnt eine Ära zunehmender Bürokratisierung voraus, die individuelle (politische) Initiative im Keim ersticken könnte, und sein Bruder Alfred Weber spricht gar von einer „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft als Folge wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Von der Zuversicht moderner Denker wie Marx, Comte oder Spencer ist bei den „Klassikern“ der Soziologie wenig zu spüren. Ihre Theorien werden alle von Reflexivität und Skepsis geprägt: von einem kritischen Nachdenken über die Moderne und ihre Fortschrittsgläubigkeit. Insofern setzen die soziologischen Theorien von Habermas, Touraine, Giddens und Beck die von den „Klassikern“ initiierte Selbstkritik der Moderne, die auch bei Philosophen und Schriftstellern wie Nietzsche und Baudelaire anzutreffen ist, fort. Sie unterscheiden sich von den „Klassikern“ dadurch, dass sie nicht nur einzelne Aspekte der Moderne - wie Arbeitsteilung, Gemeinschaftsverlust oder „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft (Beck) - ins Visier nehmen, sondern die Moderne als ganze. Davon zeugen die Titel einiger ihrer Werke: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt (Habermas), Critique de la modernité (Touraine) oder The Consequences of Modernity (Giddens). Auch Luhmanns Beobachtungen der Moderne tragen dieser neuen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation Rechnung, in der die Moderne retrospektiv und prospektiv zum Thema wird und der (Selbst-)Kritik ausgesetzt werden muss. Obwohl alle im „Dritten Teil“ dieses Buches kommentierten Autoren den Postmoderne-Begriff ablehnen oder (wie Bourdieu) nicht benutzen, fällt bei der Lektüre ihrer Werke auf, dass sie sich mit ihm mehr oder weniger intensiv auseinandersetzen. Parsons lässt es bei einigen Bemerkungen in Das System moderner Gesellschaften (The System of Modern Societies, <?page no="507"?> Spätmoderne Theorien in der Postmoderne 491 1971) bewenden: „Daher ist es entschieden zu früh, irgend etwas über eine ‚postmoderne‘ Gesellschaft auszusagen.“ 2 Er plädiert wie Habermas, aber in einem völlig anderen Kontext, für eine „Vollendung“ der Moderne. Diese Argumentation setzt, wie bereits angedeutet, auch Luhmann fort, wenn er, radikaler als Parsons, die Ansicht vertritt, dass alle als „postmodern“ bezeichneten Tendenzen der Gegenwart der Moderne zuzurechnen und in ihrem Kontext zu erklären sind. Erzähltheoretisch besonders aufschlussreich sind Giddensʼ und Becks Auffassungen der Spätmoderne („high Modernity“, Giddens) als „reflexiver“ oder „Zweiter Moderne“ (Beck), weil sie sich mit den Konstruktionen der Postmoderne bei Jean-François Lyotard, Zygmunt Bauman und Wolfgang Welsch in wesentlichen Punkten überschneiden. Wie Lyotard verabschieden Giddens und Beck die modernen „Großerzählungen“ (Marxʼ, Comtes, Spencers), denen die Vorstellung zugrunde liegt, dass sich die Entwicklung der Menschheit auf immer höhere Stadien zubewegt. Wie Bauman distanzieren sie sich vom Universalismus (der universellen Gültigkeit) europäischer und amerikanischer Fortschrittsideologien, die unterstellen, dass alle Länder der Welt den gleichen Entwicklungsgesetzen unterliegen. Wie Wolfgang Welsch 3 insistieren sie auf der kulturellen, kosmopolitischen Vielfalt zeitgenössischer Gesellschaften, auf ihrem „pluralistischen“ Charakter und auf der Anerkennung von Alterität, die auch für Bauman wesentlich ist. Angesichts solcher Überschneidungen drängt sich die Frage auf, ob Giddensʼ „high Modernity“ und Becks „Zweite Moderne“ nicht weitgehend oder zumindest teilweise mit den hier genannten Postmoderne-Konstruktionen übereinstimmen. Die zusätzliche Frage lautet: warum diese Soziologen den Postmoderne-Begriff ablehnen. Im Falle von Giddens bietet sich die Antwort an, dass er die Postmoderne in eine ferne Zukunft verlegt und sie ganz anders konstruiert als Lyotard, Bauman oder Welsch. Er spricht von „Konturen einer postmodernen Ordnung“ und versteht darunter: ein „System nach der Knappheit“, „vielschichtige demokratische Partizipation“, „Entmilitarisierung“ und „Humanisierung von Technologie“. 4 Dies alles hat mit den Auffassungen von Lyotard, Bauman oder Welsch wenig zu tun, sondern ist eine Konstruktion von Giddensʼ persönlicher Utopie. Beck spricht pauschal vom 2 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Weinheim-München, Juventa, 1985, S. 181. 3 Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991 (3. Aufl.), S. 4: „Postmoderne wird hier als Verfassung radikaler Pluralität verstanden, Postmodernismus als deren Konzeption verteidigt.“ 4 A. Giddens, Kritische Theorie der Spätmoderne, Wien, Passagen, 1992, S. 52. <?page no="508"?> Spätmoderne Theorien in der Postmoderne 492 „postmodernen Untergangslamento“ 5 , ohne sich mit Lyotards, Baumans oder Welschs Theorien auseinanderzusetzen, in denen weniger von Untergang als von „Pluralismus“, „Öffnung zum Anderen“ und „Abkehr vom modernen Universalismus“ die Rede ist. Hier wird deutlich, dass die - stets narrative - Ablehnung der Postmoderne-Konstruktionen einerseits auf Missverständnissen, andererseits auf reduktionistischen Vorstellungen von einer neuen Epoche wie der Postmoderne gründet. Sie wird nicht als facettenreiche Problematik gedacht, in der verschiedene, auch unvereinbare Strömungen zusammenwirken, sondern wird als „konservative Ideologie“ (Habermas), „Zerfallsprodukt der Moderne“ (Touraine) oder schlicht „Untergangslamento“ (Beck) verabschiedet. Im Folgenden wird keine postmoderne, sondern in Übereinstimmung mit Adornos und Horkheimers Kritischer Theorie eine spätmoderne, dialo gisch erweiterte Perspektive eröffnet. Allerdings lässt sich der Autor von der Annahme leiten, dass wir sehr wohl in einer postmodernen Gesellschaft leben, in der die Kehrseite der Pluralisierung und des aus ihr hervorgehenden Partikularismus die Indifferenz als Austauschbarkeit von Par tikularitäten, Standpunkten und Wertsetzungen ist. Sie entspricht der sich verfestigenden Herrschaft des Tauschwerts. Dieser Gedanke wird im „Vierten Teil“ des Buches konkretisiert. 5 U. Beck, „Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven ‚reflexiver Modernisierung‘“, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (6. Aufl.), S. 292. <?page no="509"?> 493 XIV. Handlung und Struktur, funktionale Differenzierung und System: Talcott Parsons ʼ historisch-systematische Grundlegung der Soziologie Inhaltsverzeichnis 1. Handlung und Struktur: Zwischen Partikularismus und Universalismus, Gemeinschaft und Gesellschaft 2. Differenzierung als Entwicklung von der vormodernen zur modernen Gesellschaft: Parsonsʼ hegelianische Erzählung und sein erstes Aktantenmodell 3. Das funktionale Gesellschaftssystem: Interaktion und doppelte Kontingenz, Sozialisation, Rolle und Interpenetration 4. Parsonsʼ Systemtheorie als Erzählung im Stillstand: Sein zweites Aktantenmodell 5. Norbert Eliasʼ Kritik an Parsons und Parsonsʼ mögliche Replik 6. Alvin W. Gouldners Kritik an Parsons: Parsonsʼ Replik 7. Herrschaft, System, Monolog: Epilog und Ausblick Obwohl Talcott Parsonsʼ Soziologie ihrem Selbstverständnis nach und in nahezu allen Kommentaren als systematische Konstruktion erscheint, soll sie hier in Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen dieses Buches auch als historische Erzählung aufgefasst werden. Dies bedeutet zugleich, dass das eingeschliffene Klischee von ihrem unhistorischen Charakter grundsätzlich in Frage gestellt wird. Der Umstand, dass ein Soziologe wie Parsons sich vornimmt, die Gesellschaft als System zu begreifen, bedeutet nicht, dass er die Frage nach der Entstehung des Systems vorab ausklammert. Es soll gezeigt werden, wie das System als telos der Erzählung von dieser begründet und gebildet wird. Die Tatsache, dass Parsonsʼ Hauptwerke The Structure of Social Action (1937) und The Social System (1951) wesentlich älter sind als sein soziohistorisches Werk The System of Modern Societies (1971), bedeutet keineswegs, dass sich das hier vorgebrachte Argument einem Anachronismus verdankt. Es bedeutet lediglich, dass die Erzählung als narrativer Gedankengang immer schon präsent war und in den Arbeiten der 1930er und 50er Jahre implizit ist. In The System of Modern Societies erzählt Parsons, wie das moderne Gesellschaftssystem aus antiken und mittelalterlichen Gesellschaften hervorging. Das vierte Kapitel des Buches, das den Titel trägt „Die erste Kristallisierung des modernen Systems“, zeugt einerseits vom systematischen <?page no="510"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 494 Charakter der von Parsons ins Auge gefassten Soziologie, andererseits von der Genese des Systems und seinen historischen Komponenten. Anders als bei Norbert Elias ist bei Parsons Historizität kein Prozess mit ungewissem Ausgang, dessen Erzählung von der Hoffnung auf zunehmende Humanität getragen wird, sondern zeugt von der Zuversicht eines nordamerikanischen Denkers, der nach den katastrophalen Weltkriegen, die europäische Autokratien und Diktaturen zu Fall brachten, in der amerikanischen Demokratie das Modell der Moderne zu erkennen meint. Diesem Standpunkt, der sich durch seine moderne Zuversicht grundsätzlich von der Skepsis eines Ferdinand Tönnies oder eines Max Weber abhebt, fehlt es nicht an Plausibilität: vor allem, wenn man den institutionellen und kulturellen Kontext berücksichtigt, in dem Parsons zum Wissenschaftler und zum wichtigsten Vertreter der amerikanischen Soziologie wurde. Geboren in Colorado Springs, wuchs Parsons (1902-1979) in einer liberal-protestantischen Familie auf. Peter Hamilton charakterisiert diese Familie als „permeated by an ascetic Protestantism which had strong social reform overtones“. 1 Nach seinem Studium der Biologie und Wirtschaftswissenschaft am Amherst College (Massachusetts) studierte er Nationalökonomie an der London School of Economics (1924-25) und promovierte schließlich in Heidelberg, wo er u.a. Alfred Weber, Karl Mannheim und Karl Jaspers kennen lernte, mit einer Arbeit über Werner Sombart und Max Weber: Capitalism in Recent German Literature: Sombart and Weber (1927). Seine Karriere begann er an der Harvard Universität als „Instructor in Economics“ und schloss sie als „Full Professor“ 1973 mit der Emeritierung ab. Für die Ausrichtung von Parsonsʼ soziologischer Theorie sind vor allem drei Aspekte dieser Biografie von Bedeutung: die liberal-protestantische Erziehung, der Übergang von der vorwiegend utilitaristisch und positivistisch ausgerichteten Wirtschaftswissenschaft zur Soziologie und die Erfahrungen in Europa, vor allem in Deutschland. Diese Erfahrungen ermöglichten es ihm, das zeitweise Scheitern der Demokratie in Ländern wie Deutschland, Italien, Spanien und Russland mit der Konsolidierung der nordamerikanischen Demokratie kontrastiv zu vergleichen. 2 Nicht nur dieser Vergleich, sondern auch seine Beobachtung der amerikanischen Gesellschaft, die sich vor allem im Gegensatz zu den mittel-, ost- und südeuropäischen Gesellschaften nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg als zugleich dynamisch und stabil erwies, bestärkte Parsons in seiner Annahme, dass ihm das Gesellschaftssystem der USA als 1 P. Hamilton, „Introduction“, in: P. Hamilton (Hrsg.), Readings from Talcott Parsons, Chichester-London-New York, Horwood-Tavistock, 1985, S. 8. 2 Vgl. T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Weinheim-München, Juventa, 1985, Kap. VI und VII. <?page no="511"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 495 Modell der modernen Gesellschaft schlechthin dienen könnte. Dieses System, das nach 1945 vor allem im besetzten Deutschland, im postfaschistischen Italien und im besiegten Japan vielen als vorbildlich galt, galt auch ihm sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht als System der Zukunft. Im Rückblick erscheint seine Einschätzung der Sowjetunion und ihrer Entwicklung als durchaus realistisch. Aus seiner Sicht, die sich im Laufe der 1960er Jahre bildet, wirkt die UdSSR eher als Anachronismus denn als revolutionäres Experiment jenseits des Kapitalismus: „Dennoch hat es uns tief beeindruckt, wie wir heute mit der Weisheit der Zurückblickenden zugeben müssen, daß ‚die Revolution‘ im klassischen Sinne nicht in einem einzigen industriell fortgeschrittenen Land stattgefunden hat, sondern beschränkt geblieben ist auf verhältnismäßig ‚unterentwickelte‘ Gesellschaften, für die das Rußland von 1917 sicherlich ein Beispiel war, und unter deren militärischer Herrschaft stehende Gesellschaften wie Polen und die Tschechoslowakei nach 1945.“ 3 Dies ist ein Grund, warum Parsons in der Nachkriegszeit nicht daran zweifelte, dass das amerikanische Gesellschaftssystem keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten auf der Welt hatte und dass der sowjetische Anspruch auf innovative Überwindung des Kapitalismus eher dem Bereich ideologischer Illusionsbildung als der Realität zuzurechnen war. Er sagte mit realistischem Scharfsinn voraus, dass die Demokratieforderungen der Ungarn im Jahre 1956 sowie der Tschechen und Slowaken im Jahre 1968 „langfristig eine Liberalisierung“ 4 des Sowjetsystems begünstigen würden. Freilich konnte er nicht ahnen, dass diese Liberalisierung als Perestrojka unter Gorbatschow mit dem Zerfall der UdSSR und des Ostblocks einhergehen und dass Russland noch im anbrechenden 21. Jahrhundert seinen Weg in die Demokratie suchen würde. In seinem Glauben an das amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wurde Parsons auch durch seine liberal-protestantische Erziehung bestärkt, die (zumal, wenn man von Max Webers religionssoziologischen Prämissen ausgeht) nicht unwesentlich zur Dynamik des amerikanischen Wirtschaftssystems beigetragen hat. Dessen Leistungsstärke bietet auch eine Erklärung dafür, dass sowohl nach 1945 als auch nach dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus die USA von zahlreichen Intellektuellen und Politikern in Mittel- und Osteuropa als Wirtschafts- und Demokratiemodell betrachtet wurden. Hier gilt wohl, was Ian Craib zu Parsons Stellung in der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkt: „(…) Die Zeit, in der Parsons in der Soziologie dominierend war, 3 Ibid., S. 180. 4 Ibid., S. 163. <?page no="512"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 496 war eine Zeit verhältnismäßiger Stabilität und wirtschaftlicher Expansion.“ 5 Allerdings erwies sich diese Dynamik als ambivalenter Prozess. Er führte einerseits dazu, dass den USA nach dem Zweiten Weltkrieg und dem „Kalten Krieg“ als Demokratie und einziger noch verbleibender Weltmacht vielerorts eine Modellfunktion zufiel; er bewirkte andererseits aber, dass die amerikanische Gesellschaft einen Wandel durchmachte, der sie von Parsons Modell immer weiter entfernte. Heute wirkt sein System, das im Werte- und Normenbereich einen libe ral demokratischen Grundkonsens voraussetzt, als Anachronismus. Von Präsidentschaftswahl zu Präsidentschaftswahl bieten die USA das Bild einer sich verschärfenden Polarisierung, die Parsons auf sozialen Konsens ausgerichtete Gesamtdarstellung als wirklichkeitsfremd erscheinen lässt. Insofern hat Norbert Elias Kritik an Parsons, die genetisch-historisch an das „Gewordensein“ und das unaufhaltsame Werden aller Gesellschaften erinnert, durchaus ihre Berechtigung. Sie ist jedoch einseitig und soll hier im fünften Abschnitt erläutert werden. Dass Parsons systematische Betrachtungsweise, die stillschweigend (aber nicht ohne Grund, wie sich gezeigt hat) das nordamerikanische Zusammenleben als richtungsweisendes Modell zugrunde legt, auch als Apologie des amerikanischen Kapitalismus und seiner Herrschaftsverhältnisse aufgefasst werden kann, zeigt Alvin W. Gouldner, der im sechsten Abschnitt zu Wort kommt. Tatsächlich war es - nach William Buxton - Parsons erklärte (von Durkheim geerbte) Absicht, als Soziologe zur Konsoli dierung der von ihm analysierten gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen: „Die Soziologie könnte dazu beitragen, das System letzter Wertsetzungen zu stärken (…).“ 6 Sie würde so die Funktion einer „agency of social control“ 7 erfüllen. Diese Ausrichtung auf social control, die zugleich eine Ausrichtung auf herrschende Werte und Normen ist, hängt nicht nur mit Parsons liberalprotestantischer Einstellung, sondern auch mit seiner Entwicklung vom Ökonomen („Instructor in Economics“) zum Soziologen zusammen. Sie bestärkte ihn in der Meinung, dass eine rein utilitaristische (zweckrationale, M. Weber) Erklärung des sozialen Handelns unzureichend ist. Parsons versucht daher, alle Arten des Handelns als in Werte und Normensysteme ein gebettet zu verstehen. Mit diesem Versuch setzt er sich dem Vorwurf aus, 5 I. Craib, Modern Social Theory. From Parsons to Habermas, Brighton, Harvester-Wheatsheaf, 1984, S. 37. 6 W. Buxton, Talcott Parsons and the Capitalist Nation State. Political Sociology as a Stra tegic Vocation, Toronto-Buffalo-London, Univ. of Toronto Press, 1985, S. 51. 7 Ibid., S. 52. <?page no="513"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 497 mit seiner Soziologie zur Konsolidierung des bestehenden Systems und seiner Ideologien beizutragen. Kritische Einschätzungen dieser Art sollten jedoch nicht den Blick auf Parsons bahnbrechende Leistung verstellen, die mindestens vier Aspekte aufweist: 1. Seine Soziologie zeichnet den historischen Differenzierungspro zess nach, der zur Entstehung des modernen Gesellschaftssystems führt. 2. Sie stellt dieses System als differenzierte und sich weiter differenzierende Einheit dar, deren Funktionen einander durch Interdependenz und Inter penetration ergänzen. 3. Sie vermittelt individuelles und kollektives Handeln mit dem Gesellschaftssystem als Einheit. 4. Sie stellt dieses Handeln im Kon text der Sozialisierung dar, die mit Hilfe von Begriffen wie Institution, Status und Rolle konkretisiert wird. Im Zusammenhang mit Parsons zweibändigem Erstlingswerk The Structure of Social Action kann sie als ein Versuch aufgefasst werden, die großen Soziologien der Spätmoderne - die Theorien Vilfredo Paretos, Emile Durkheims und Max Webers - zusammen mit Alfred Marshalls Wirtschaftstheorie zu einem System zu bündeln, das die Zuversicht der Moderne (vor allem die Spencers) 8 in der Postmoderne wieder beleben würde. An diese Einstellung knüpft Luhmann an, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird. Die Zuversicht der Systematiker, die den Pessimismus Tönnies , Simmels und Max Webers zu überwinden scheint, verdeckt jedoch das destruktive Potenzial der von ihnen beschriebenen sozialen Systeme, das aus der sich steigernden Naturbeherrschung hervorgeht. Soziologen der Postmoderne, die ihrem Selbstverständnis nach keineswegs „postmodern“ sind, wie Jürgen Habermas, Alain Touraine, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens, reagieren daher kritisch auf eine systematische Soziologie, die sich vornimmt, das Bestehende zu konsolidieren und effizienter zu gestalten. Im letzten Teil dieses Buches wird deutlich, dass postmoderne Soziologen wie Zygmunt Bauman, Jean Baudrillard und Michel Maffesoli angesichts der Krisen des ausgehenden 20. Jahrhunderts an die spätmoderne Skepsis anknüpfen - und nicht an das sich erneuernde moderne Selbstbewusstsein der Systemsoziologen Parsons und Luhmann. 1. Handlung und Struktur: Zwischen Partikularismus und Universalismus, Gemeinschaft und Gesellschaft Peter Hamilton unterscheidet drei Phasen in Parsons Denken: 1. Die Entwicklung einer voluntaristischen Theorie des Handelns (voluntaristic theory 8 Zum Verhältnis von Spencer und Parsons vgl. J. H. Turner, „Talcott Parsons Analytical Approach“, in: ders., The Structure of Sociological Theory, Belmont (CA), Wadsworth, 1998, S. 39: „(…) Parsons’ work increasingly resembled Spencer’s.“ <?page no="514"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 498 of social action), die mit Parsonsʼ frühem Hauptwerk The Structure of Social Action (1937) zusammenfällt. 2. Die zweite Phase führt eine strukturfunktionalistische Synthese von Handlung und System herbei. Für sie ist vor allem Parsonsʼ Standardwerk The Social System (1951) repräsentativ. 3. In der dritten Phase wird die Weiterentwicklung der Systemtheorie von einem wachsenden Interesse für gesellschaftlichen Wandel begleitet, das vor allem in Societies (1967, dt. Gesellschaften, 1975) und The System of Modern Societies (1971, dt. Das System moderner Gesellschaften, 1972, 1985) zum Ausdruck kommt. 9 Im Folgenden wird aus argumentationstheoretischen Gründen die dritte, „historische“ Phase der zweiten vorgezogen, weil gezeigt werden soll, wie Parsons die Entstehung des modernen Gesellschaftssystems aus einfacheren Formen erzählt. Am Ende der Darstellung wird hier das funktionale Gesellschaftssystem als Aktantenmodell stehen. Vorerst geht es um die erste Phase und um Parsonsʼ Anliegen, soziales Handeln jenseits von Utilitarismus und positivistischer Reduktion auf das Faktische zu erklären. Das Hauptanliegen von Parsonsʼ zweibändigem Werk The Structure of Social Action kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Ausgehend von umfassenden und tiefschürfenden Analysen der Theorien von Marshall, Pareto, Durkheim und Weber (Bd. I), versucht Parsons zu zeigen, dass diese Theorien durch ihre Berücksichtigung nichtrationaler und wertorientierter Handlungen in Wirtschaft und Gesellschaft eine auf Werte und Normen ausgerichtete Handlungstheorie - wenn auch nur ansatzweise - vorwegnehmen. Parsons nimmt sich im zweiten Band seines Werks vor, diese bei den vier Denkern nur implizit enthaltene Theorie systematisch zu entfalten und nennt sie „voluntaristische Handlungstheorie“. Angesichts der Heterogenität der Theorien Paretos, Durkheims und Webers, die hier in den Kapiteln des „Zweiten Teils“ erkennbar ist, scheint an dieser Stelle eine Klärung notwendig zu sein. Parsons nimmt diese Heterogenität durchaus wahr, richtet jedoch sein Augenmerk auf einen gemeinsamen Gedanken der von ihm kommentierten Autoren: dass sich Akteure im sozialen Kontext nicht ausschließlich von rationalen (zweckrationalen, Weber), sondern auch von nichtrationalen, wertorientierten Überlegungen leiten lassen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einem interdiskursiven Theorem (vgl. Kap. II. 5) sprechen, das Marshall, Pareto, Durkheim und Weber - trotz der Heterogenität ihrer Theorien - miteinander verbindet. Insgesamt entsteht während der Lektüre von The Structure of Social Action der Eindruck, dass die Argumentationsrichtung eher von dem Konsenssoziologen Durkheim als von dem Rationalisten und Machttheoretiker Pareto vorgegeben wird. Tatsächlich charakterisiert Parsons in seiner 9 P. Hamilton, „Introduction“, in: P. Hamilton (Hrsg.), Readings from Talcott Parsons, op. cit., S. 16. <?page no="515"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 499 „Introduction to the Paperback Edition“ (1968) sein Werk als „more Durkheimian than Weberian“ 10 , was jedoch nicht bedeutet, dass Webers Betonung ideeller (z.B. religiöser) Faktoren für soziales Handeln und seine Analysen der „wertrationalen“ Handlungsorientierung in diesem Werk keine Rolle spielen - im Gegenteil. Mit seiner Hervorhebung sozialer Werte und Normen sowie ideeller Faktoren im Sinne von Weber reiht sich Parsons in die Tradition der spätmodernen Soziologen ein, die die Besonderheit oder Eigenständigkeit des Sozialen und die ihm entsprechende Autonomie der Soziologie - vor allem der Wirtschaftswissenschaft und der Psychologie gegenüber - begründet. Wie Durkheim, Tönnies und Max Weber erkennt Parsons, dass soziales Handeln nicht auf Nutzenkalkül und Mittel-Zweck-Rationalität als „rational adaptation of means to ends“ 11 oder auf Zweckrationalität im Sinne von Weber reduziert werden kann, weil im menschlichen Handeln auch Kollektivbewusstsein, Gemeinschaft und Wertorientierung eine entscheidende Rolle spielen. Freilich leugnet er nicht die Bedeutung der Zweckrationalität und des mit ihr einhergehenden sachlichen Abwägens von Mitteln und Zwecken. Er lässt sie in seine normative „voluntaristische Handlungstheorie“ eingehen. Alfred Schütz, ein Bekannter von Parsons und Kenner von dessen Soziologie, empfindet die Bezeichnung „voluntaristische Handlungstheorie“ als Rätsel: „Bedauerlicherweise hat Parsons nirgendwo erläutert, warum er seine Theorie ‚voluntaristisch‘ nennt.“ 12 Indessen zeigt eine aufmerksame Lektüre von The Structure of Social Action, dass sich das Adjektiv „voluntaristisch“ auf die Freiheit des Aktors (dessen freien Willen) bezieht, der sich zwar an Werten und Normen orientiert, sie jedoch nicht blindlings befolgt, sondern durchaus eine Zweck- Mittel-Rationalität zugrunde legt, sofern er diese mit dem sozialen Normensystem vereinbaren kann: „The freedom argument left the norm of intrinsic rationality as basic to action.“ 13 Dies bedeutet, dass Parsons die utilitaristisch-positivistische Zweckrationalität keineswegs tilgt, sondern sie in ein System von Normen und Werten einbettet. Wie dies geschieht, veranschaulicht anhand eines Beispiels aus der Fußballwelt Richard Münch. Einerseits erscheint das Fußballspiel („positivistisch-faktisch“) als reine Strategie oder Taktik, deren Schachzüge ausschließlich von Stärke, Schläue und Zweckrationalität diktiert werden; 10 T. Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Bd. II, New York-London, The Free Press- Collier Macmillan (1937), 1968, S. XI. 11 Ibid., S. 700. 12 A. Schütz, T. Parsons, Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 42. 13 T. Parsons, The Structure of Social Action, Bd. II, op. cit., S. 715. <?page no="516"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 500 andererseits stellt es sich als normatives System dar, in dessen Rahmen die Spieler ihre Talente unter Beweis stellen müssen. Für die Einhaltung der Normen als Spielregeln hat der Schiedsrichter zu sorgen: „Er wendet die Spielregeln, die idealistisch sind und einen kommunikativen Charakter haben, auf konkretes strategisches Handeln im Spiel an, das aus dem positivistischen Blickwinkel her erklärt werden kann. Der Schiedsrichter überträgt mit seinen Handlungen die kommunikativen Regeln in den Bereich von strategischem Handeln, das dadurch einen normativen Rahmen für seinen Ablauf erhält.“ 14 Münch spricht in diesem Zusammenhang von einer „Interpenetration von idealistischen und positivistischen Faktoren“ 15 und definiert anschließend den „Voluntarismus“ der voluntaristic theory of action wie folgt: „Voluntarismus heißt, dass Handlungen das Ergebnis eines Zusammenspiels von positivistischen und idealistischen Faktoren sind, die der Einzelne als Handelnder abzuwägen und zueinander in Beziehung zu setzen hat.“ 16 Darin besteht also der „Voluntarismus“ von Parsonsʼ Handlungstheorie, die die Möglichkeit des Aktors abzuwägen als ein Moment des freien Willens auffasst. Zugleich wird deutlich, wie sich Parsons eine Lösung des „Hobbesian problem“ 17 vorstellt, das sich aus der Frage ergibt, wie ein Gesellschaftssystem überhaupt möglich sei. 18 Bekanntlich versucht Hobbes, dieses Problem durch den „Gesellschaftsvertrag“ und die Beauftragung eines mächtigen Sovereign zu lösen (vgl. Kap. IX und Kap. X). Im Gegensatz zu dieser individualistisch-utilitaristischen Lösung, die sich über das eigentlich Soziale der Gesellschaft hinwegsetzt, fasst Parsons eine Lösung ins Auge, in der das Soziale als Werte- und Normensystem zum Hauptbezugspunkt des Handelns wird, weil es als stabilisierender und systemerhaltender Faktor wirkt. Von dieser Einstellung zeugt seine Auffassung des unit act als der kleinsten Handlungseinheit: des „smallest elementary unit of human action“. 19 Dieses Kernelement des Handelns setzt sich aus folgenden vier Komponenten zusammen: 1. dem Aktor; 2. einem Zustand oder Ziel, das der Handelnde erreichen will; 3. einer Situation, die aus ideellen und materiellen Faktoren besteht und als Bedingung des Handelns zu betrachten ist; 4. aus Normen, 14 R. Münch, „Vom Analytischen Funktionalismus zum Neofunktionalismus: Das Erbe von Talcott Parsons“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. III: Gesellschaftstheorie, Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 52. 15 Ibid. 16 Ibid., S. 53. 17 T. Parsons, The Social System, London, Routledge and Kegan Paul, 1951, S. 118. 18 Vgl. auch: T. Parsons, „Hobbes and the Problem of Order“, in: ders., On Institutions and Social Evolution. Selected Writings (Hrsg. H. Mayhew), Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1982, S. 96-98. 19 T. Parsons, The Structure of Social Action, Bd. II, op. cit., S. 743. <?page no="517"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 501 die die Relevanzkriterien und die Auswahl der Mittel regeln, die dem Aktor als legitime, gesellschaftlich anerkannte Mittel zur Verfügung stehen. Anders als Luhmann (vgl. Kap. XV. 6) hält Parsons an den Begriffen des Subjekts und der Subjektivität fest. Davon zeugt der folgende Satz aus The Structure of Social Action: „Es ist völlig unmöglich, sich Wissen als etwas vorzustellen, das nicht von einem Subjekt gewusst wird.“ 20 In Aktor, Situation und normative Muster wird der „Voluntarismus“ dieses Subjekts als Willensautonomie abermals bestätigt: „Der Aktor zeigt (…) eine gewisse Unabhängigkeit von seiner Umwelt bzw. von seiner Situation. Er ‚reagiert‘ nicht bloß auf deren Stimuli, sondern ‚nützt‘ die Situation, um seine Ziele und normative Tendenzen voranzubringen.“ 21 Nach Parsons bedeutet dies konkret, dass Handelnde im Rahmen einer Situation und des geltenden Werte- und Normensystems über genügend Spielraum verfügen, um ihren Willen durchzusetzen und ihre Zielvorgaben autonom zu bestimmen. In diesem Kontext, den er als „Ausrichtung auf gesellschaftliche Werte“ („social value orientation“) 22 umschreibt, unterscheidet Parsons verschiedene Handlungstypen als soziale Mustervariablen (auch: Strukturvariablen) oder pattern variables, die er in fünf Gegensatzpaare einteilt. Im Anschluss an Ferdinand Tönnies (vgl. Kap. X) und einen Kommentar von Wolfgang Schluchter 23 könnte man die Gegensätze in Übereinstimmung mit dem Grundgegensatz Gemeinschaft / Gesellschaft gruppieren: 1. Affektivität (affectivity) / affektive Neutralität (affective neutrality); 2. Kollektivorientierung (collective) / Ichbezug (self); 3. Partikularismus (particularism) / Universalismus (universalism); 4. Zuschreibung (ascription) / Leistung (achievement); 5. Ganzheitlichkeit (diffuseness) / Spezifizität (specificity) 24 . Allen diesen Handlungstypen liegen, wie bereits Parsonsʼ Ausdruck „social value orientation“ andeutet, Werte- und Normensysteme zugrunde. Während aber die hier an erster Stelle genannten Handlungstypen im semantischen Bereich „Gemeinschaft“ angesiedelt werden können, weisen die an zweiter Stelle angeführten Handlungstypen vorwiegend Charakteristika der „Gesellschaft“ (im Sinne von Tönnies) auf. Werden sie auf die beiden Institutionen „Familie“ und „Schule“ bezogen, wobei die Familie für „Gemeinschaft“, die Schule hingegen für „Gesellschaft“ steht, nehmen die Unterschiede zwischen ihnen eine konkretere Gestalt an. 20 Ibid., S. 745. 21 T. Parsons, Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 68. 22 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 105. 23 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 381. 24 Vgl. T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 105. <?page no="518"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 502 Während Eltern ihre Kinder vorwiegend mit Zuneigung oder Affektivität betrachten, auch wenn sie sie ermahnen oder strafen müssen, betrachten sie Lehrerinnen und Lehrer in der Schule vorwiegend mit affektiver Neutralität (zumindest wird diese Neutralität als institutionelle Norm vorausgesetzt). In der Familie - vor allem in der traditionellen Großfamilie als extended family - herrscht Kollektivorientierung, und ein Austreten aus der Gemeinsamkeit oder Familiengemeinschaft wird als Normverletzung geahndet. Im Gegensatz dazu herrscht in der Schule der Ichbezug vor, weil in entscheidenden Situationen - etwa bei der Klassenarbeit oder im Abitur - jeder auf sich selbst angewiesen ist. Anders als in der Familie, wo das Kind als das einmalige und besondere Kind (als „unser Kind“) behandelt wird (Partikularität), werden Kinder in der Schule universalistisch behandelt und haben im Prinzip (wie im Rechtssystem) alle den gleichen Status. Daraus ergibt sich die Betonung der Leistung als achievement, die in der sekundären, schulischen Sozialisation die in der Familie vorherrschende Zuschreibung als ascription ablöst. Daraus ist der letzte Gegensatz Ganzheitlichkeit / Spezifizität ableitbar: Während die Eltern ihr Kind als Ganzheit, als ein Ensemble von guten und schlechten Eigenschaften, von Stärken und Schwächen betrachten, ist es der Schule als Institution vor allem um die spezifisch intellektuellen Fähigkeiten des Kindes - und nicht etwa um sein Aussehen oder seine Liebenswürdigkeit - zu tun (obwohl solche Eigenschaften eine Schullaufbahn durchaus beeinflussen können). Im Zusammenhang mit Parsonsʼ Systemtheorie, die im übernächsten Abschnitt kommentiert wird, sollte auf die Interpenetration von Familien- und Schulsystem (Erziehungssystem) hingewiesen werden. Die hier angeführten Beispiele sind insofern unvollständig oder einseitig, als jeder weiß, dass vor allem ältere Kinder in der Familie auf die Schule vorbereitet und leistungsorientiert erzogen werden. „Wenn du so weitermachst, wird nichts aus dir“, lautet bekanntlich das erzieherische Stereotyp - sowohl zuhause als auch in der Schule. Nach Parsons und Bales sorgt schon die Familie dafür, dass die Kultur der Gesellschaft (der Schule) vom Kind verinnerlicht wird. Sie sprechen von der „Internalisierung der Gesellschaftskultur, in die das Kind hineingeboren wird“. 25 In mancher Hinsicht fungiert die Schule als eine Verlängerung der Familie im Bereich der sekundären Sozialisierung. Denn es ist bekannt, dass Lehrerinnen und Lehrer immer wieder Mutter- und Vaterrollen übernehmen müssen, um erzieherisch wirken oder Hilfe leisten zu können und um die Verinnerlichung von Werten und Normen fortzusetzen. Nicht zufällig ist immer wieder von der „Klassengemeinschaft“ die Rede, die auf gemeinschaftliche, familienähnliche Elemente in der Schule als „Gesellschaft“ 25 T. Parsons, R. Bales, Family, Socialization and Interaction Process, London-New York, Routledge (1956), 2000, S. 17. <?page no="519"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 503 hinweist. In Anlehnung an Richard Münch, der von einer „Interpenetration von Tausch und Gemeinschaft“ 26 , d.h. von einer Verflechtung von unpersönlichem, marktorientiertem und gemeinschaftlichem Handeln spricht, könnte daher von einer „Zone der Interpenetration“ (Münch) zwischen „gemeinschaftlicher“ Familie und „gesellschaftlicher“ Schule die Rede sein. Der Hinweis auf die traditionelle „Großfamilie“ als Gemeinschaft kommt nicht von ungefähr, sondern soll die Entwicklung der modernen Gesellschaft ins Gedächtnis rufen, in der, wie Tönnies wusste, die gemeinschaftlichen Strukturen schwächer werden. Die Großfamilie als Modell der Gemeinschaft gehört längst der Vergangenheit an, und in der Kleinfamilie setzt sich immer häufiger der „Ichbezug“ dem Kollektivbewusstsein gegenüber durch: als Streben nach Selbstverwirklichung, Eigenständigkeit oder Eigeninteresse. Insofern weisen Parsonsʼ pattern variables als Handlungsmuster durchaus auch eine historische Komponente auf: Sie evozieren den Übergang von einem auf das Kollektiv ausgerichteten gemeinschaftlichen Handeln zu einem stark individualisierten Handeln in einer leistungsorientierten modernen Gesellschaft. Wichtig ist schließlich der Gedanke, dass diese pattern variables alle Interaktionssysteme strukturieren, weil in jedem dieser Systeme eine der von Parsons untersuchten Variablen zur Geltung kommen kann. Es liegt jedoch auf der Hand, dass in Bereichen wie Freizeit und Familie eher die partikularistischen, in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft hingegen die universalistischen Einstellungen vorherrschen. 2. Differenzierung als Entwicklung von der vormodernen zur modernen Gesellschaft: Parsons ʼ hegelianische Erzählung und sein erstes Aktantenmodell Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, wie Parsons die Entwicklung von der vormodernen zur modernen Gesellschaft erzählt und wie er diese Erzählung in das von ihm so gründlich erforschte soziale System münden lässt. Es gehört zu den Struktureigenschaften des Erzählens, dass es sich auf einen Abschluss im positiven oder negativen Sinne zubewegt: auf ein happy end oder eine Katastrophe, auf einen Idealzustand (man denke an Goethes klassischen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre) oder eine Apokalypse (etwa im Sinne von Thomas Bernhards Auslöschung). Nicht nur Epen und Romane, sondern auch philosophische und soziologische Erzählungen folgen häufig diesem Schema. In dem hier konstruierten Zusammenhang braucht man nur an Hegels „Absolute Idee“, Marxʼ 26 R. Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp (1982), 1988, S. 102. <?page no="520"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 504 „klassenlose Gesellschaft“, Comtes „wissenschaftliches Stadium“ und Spencers freiheitliche „Industriegesellschaft“ zu denken. Warum Parsons zum narrativen Schema der Moderne zurückkehrt, statt an die spätmoderne Skepsis (Tönniesʼ, Simmels, Max Webers) anzuknüpfen, hängt, wie sich gezeigt hat, auch mit seiner Sozialisierung in den erstarkenden und sich international als Gesellschaftsmodell präsentierenden USA zusammen. Diese Rückkehr zum modernen Erzählen ist umso bemerkenswerter, als sie sich von einem spezifischen Vorbild leiten lässt: von Hegel (und weniger von Spencer). Dazu heißt es gleich am Anfang von Parsonsʼ Buch Das System moderner Gesellschaften: „Dieses Buch hat viele geistige Wurzeln. Den größten Einfluß hat vielleicht der deutsche Idealismus, wie er sich von Hegel auch über Marx zu Weber entwickelte. Obwohl es heute Mode ist, Hegels Verherrlichung des preußischen Staates zu bespötteln, muß doch erkannt werden, daß er eine hervorragende Theorie allgemeiner gesellschaftlicher Evolution und ihrer Kulmination im modernen Westen entwarf (…).“ 27 Es lohnt sich, den letzten Satz näher zu betrachten. Er weist drei Aspekte auf, von denen sich zwei auf die theoretische Erzählstruktur beziehen: 1. Zunächst werden Hegels Entwurf und seine Rechtfertigung des preußischen Staates - zumindest bis zu einem gewissen Grad - gegen seine Spötter verteidigt. 2. Seine Erzählung als „Theorie allgemeiner gesellschaftlicher Evolution“ wird als „hervorragend“ bezeichnet. 3. Diese Einschätzung betrifft auch die „Kulmination [dieser Evolution] im modernen Westen“. Damit bekennt sich Parsons nicht nur zum narrativen Schema der Moderne (Hegels, Marxʼ, Comtes, Spencers), sondern auch zu Hegels Gedanken, dass der „moderne Westen“ das telos (happy end) der Erzählung bilden soll. Geht man, ausgehend vom sozio-historischen Kontext, sinnvollerweise davon aus, dass für Parsons der „moderne Westen“ nicht länger vom alten Preußen, sondern von den USA des 20. Jahrhunderts vertreten wird, erscheint seine soziologische Erzählung als eine aktualisierte Variante der Hegelschen. Vor allem ihre Teleologie als Ausrichtung auf den „modernen Westen“ ist mit der Hegels vergleichbar. Welche ideologische Bedeutung dieser strukturellen Übereinstimmung zukommt, soll am Ende dieses Abschnitts und im nächsten Abschnitt näher erläutert werden. Die Strukturanalogie sollte nicht über Differenzen hinwegtäuschen, die mindestens so wichtig sind wie diese Analogie selbst. In Parsonsʼ Erzählung fällt die Rolle der treibenden historischen Kraft nicht mehr dem „Weltgeist“ als Auftraggeber zu, sondern der funktionalen Differenzierung, die als Auftraggeberin der Erzählung aufgefasst werden könnte, welche als Prozess die Handlungsabläufe einfasst und Handlungsmuster vorgibt. Hier 27 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 9. <?page no="521"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 505 wird deutlich, wie Handlung und Prozess als Ereignisabfolge ineinander greifen. Tatsächlich beschreibt Parsons die Entwicklung einfacher, „primitiver“ 28 , nur rudimentär differenzierter Gesellschaften, die von Magie, Religion und Verwandtschaft geprägt sind 29 , zu komplexen Gesellschaften, deren funktionale Differenzierung in der Moderne ein Maximum erreicht: „Wie die organische Evolution, so schritt auch die soziokulturelle Evolution durch Variation und Differenzierung von einfachen zu immer komplexeren Formen fort.“ 30 In Societies (1966, dt. Gesellschaften 1975) unterscheidet Parsons drei gesellschaftliche Entwicklungsstufen: „die primitive, die intermediäre und die moderne“. 31 Die im Diskurs konstruierte Gegenauftraggeberin tritt als „Entdifferenzierung“ im Übergang von der römischen Antike zur feudalen (mittelalterlichen) Gesellschaft auf: „Als Begleiterscheinungen dieser Veränderungen traten ein starker Rückgang der Geld- und Marktwirtschaft und eine Rückkehr zu lokaler Selbstversorgung und Tauschhandel ein.“ 32 Dies beinhaltet, dass Wirtschaft, Finanzen und Handel stark entdifferenziert wurden und das Finanzsystem (als Subsystem) zeitweise sogar verschwand. Dennoch ist auch die feudale Gesellschaft von Differenzierung geprägt: „Innerhalb dieses institutionellen Rahmens wurde die große mittelalterliche ‚Synthese‘ durch die Differenzierung zwischen Kirche und Staat charakterisiert (…).“ 33 Es bleibt jedoch nicht bei dieser rudimentären Differenzierung von „Religion“ und „Politik“, und es ist Parsonsʼ Hauptanliegen zu zeigen, wie der Differenzierungsprozess fortschreitet. Allerdings kommt es auch zu Rückschlägen und rückläufigen Entwicklungen, für die institutionelle und kollektive Instanzen verantwortlich sind, die als Antisubjekte im Auftrag der „Entdifferenzierung“ handeln: „Die Gesellschaften der Gegenreformation versuchten in drastischer Weise, den Differenzierungsprozeß ‚einzufrieren‘.“ 34 Dies bedeutet, dass der strukturell-funktionale Prozess, den Parsons beschreibt oder erzählt, kein Prozess ohne Subjekt ist, sondern von individuellen und überindividuellen Subjekten („Reformation“, „Gegenreformation“ als Subjekt und Antisubjekt) vorangetrieben oder behindert wird. Hier wird deutlich, dass Parsons nicht nur von anderen Relevanzkriterien ausgeht als etwa Marx oder Comte, sondern auch ein ganz anderes 28 T. Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 54. 29 Ibid., S. 59. 30 Ibid., S. 10. 31 Ibid., S. 12. 32 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 49. 33 Ibid. 34 Ibid., S. 93. <?page no="522"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 506 Aktantenmodell zugrunde legt: Nicht der Klassenantagonismus oder der Gegensatz zwischen „Theologen“ und „Wissenschaftlern“ erscheint ihm relevant, sondern der zwischen „Differenzierung“ und „Entdifferenzierung“. Aus ihm geht ein anderer Gegensatz zwischen Subjekt-Aktanten hervor: zwischen „differenzierenden“ und „entdifferenzierenden“ Subjekten, zwischen „Reformation“ und „Gegenreformation“ sowie zwischen deren Akteuren. Frappierend sind allerdings nicht nur die Abweichungen von Marx und Comte, sondern auch die Übereinstimmungen: Die „entdifferenzierenden“ Kräfte entsprechen zumindest teilweise den „reaktionären“ Kräften bei Marx und den „Theologen“ bei Comte, während den „differenzierenden“ Kräften durchaus eine fortschrittliche oder gar „revolutionäre“ Rolle zugesprochen wird. Es geht hier nicht darum, Parsons als Revolutionär darzustellen (das war er sicherlich nicht), sondern darum, auf Punkte hinzuweisen, in denen sich wichtige soziologische Theorien als Erzählungen der Evolution überschneiden und in denen sich ein interdiskursiver Konsens 35 herauskristallisiert. Parsonsʼ Erzählung gipfelt schließlich in dem ausdifferenzierten modernen Gesellschaftssystem, das an die Stelle von Hegels Staat tritt. In Übereinstimmung mit Marx und Max Weber geht Parsons auf den entscheidenden Differenzierungsmodus der modernen Gesellschaft ein, nämlich auf die Differenzierung der Arbeit: „Die entscheidende Entwicklung war die Differenzierung der Arbeit (oder technischer ausgedrückt, der Dienstleistungen) vom diffusen Hintergrund, in dem sie eingebettet gewesen war.“ 36 Wie seine soziologischen Vorgänger weist er auf die Trennung von Haushalt und Arbeitsplatz 37 und auf die Herausbildung spezialisierter, aber interdependenter Berufe hin sowie auf Distributionsorganisationen, die zwischen dem Arbeiter als Produzenten und den Verbrauchermärkten vermitteln. Zur sozialen Differenzierung gehört auch die „Entwicklung eines autonomen Rechtssystems“. 38 Parallel zu ihm entwickeln sich die Subsysteme der Wirtschaft, der Politik, der Erziehung usw. Am Ende dieser Erzählung steht die moderne Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, die durch ihre Ausdifferenzierung alle älteren Gesellschaftssysteme an Komplexität übertrifft. Parsons selbst gibt in seiner zeitgeschichtlichen Darstellung zu verstehen, dass er das US-amerikanische System für das avancierteste hält. Es ist für die Moderne schlechthin repräsentativ: „Die Kräfte und Prozesse, die die gesellschaftliche Gemeinschaft der Vereinigten Staaten verwandelt 35 Vgl. Kap. II. 5. 36 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 100. 37 Vgl. T. Parsons, Gesellschaften, op. cit., S. 39-40. 38 Ibid., S. 44. <?page no="523"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 507 haben und vermutlich auch weiterhin verwandeln werden, sind nicht dieser einen Gesellschaft eigen, sondern durchziehen das gesamte moderne - und ‚sich modernisierende‘ - System.“ 39 Dies bedeutet zugleich, dass die USA das Ende der Erzählung bilden, weil mit der amerikanischen Gesellschaft der Höhepunkt der erzählten Entwicklung erreicht wurde. Diese Art, die Weltgeschichte einem - stets glücklichen - Ende zuzuführen, erinnert, wie anfangs angedeutet, an die „Großerzählung“ Hegels. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gelangt sie bis „an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage“. 40 Am Ende beruhigt sich der Geist bei sich selbst, weil er in der (sozialen) Wirklichkeit des beginnenden 19. Jahrhunderts seine Wirklichkeit erkannt hat: „Dem formellen Prinzip der Philosophie in Deutschland nämlich steht die konkrete Welt und Wirklichkeit mit innerlich befriedigtem Bedürfnis des Geistes und mit beruhigtem Gewissen gegenüber.“ 41 Im Widerspruch dazu steht allerdings eine Bemerkung Hegels in einer der einführenden Vorlesungen über Amerika als „Land der Zukunft“: „Amerika ist somit das Land der Zukunft (…).“ 42 Aber als „Land der Zukunft“ erscheint es Hegel letztlich nur als „Widerhall der Alten Welt“, so dass er zu dem Schluss kommt: „(…) Und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an.“ 43 Unüberhörbar klingt hier der Wunsch des Systemdenkers an, durch den Ausschluss der Zukunft und jeder Art von Offenheit für Vollständigkeit, Vollkommenheit und Geschlossenheit des theoretischen Systems zu sorgen. Doch der soziale Prozess lässt sich nicht aufhalten: Das von Hegel zum Staatsmodell erhobene Preußen gibt es als Staat nicht mehr, und sein Gesellschaftsmodell erscheint heute bestenfalls als historisches Kuriosum. Wie Hegel, der versucht, seine systematische Erzählung gegen die hereinbrechende amerikanische Zukunft abzuschirmen, bemüht sich auch Parsons, etwa anderthalb Jahrhunderte später, sein auf die Moderne ausgerichtetes soziologisches System gegen die sich abzeichnende Postmoderne abzusichern: „Daher ist es entschieden zu früh, irgend etwas über eine ‚postmoderne‘ Gesellschaft auszusagen. Auch wenn wir die unleugbar gegebene Möglichkeit einer alles vernichtenden Katastrophe in Betracht ziehen, erwarten wir dennoch, daß der Haupttrend des nächsten, vielleicht 39 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 155. 40 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt, Suhrkamp, 1995 (4. Aufl.), S. 524. 41 Ibid., S. 526. 42 Ibid., S. 114. 43 Ibid. <?page no="524"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 508 auch übernächsten Jahrhunderts auf die Vollendung jenes Gesellschaftstyps zusteuern wird, den wir ‚modern‘ nennen.“ 44 Wie bei Hegel soll die Gegenwart perpetuiert werden: in beiden Fällen wider besseres Wissen. Denn Hegel erkennt mit Weitblick in Amerika die Gesellschaft der Zukunft, und Parsons vermutet in der weiter oben zitierten Passage, dass die USA sich „auch weiterhin verwandeln werden“. Möglicherweise verlief der modern-postmoderne Wandel schneller als Hegel und Parsons ahnen konnten. Davon zeugt Parsonsʼ Einschätzung in Societies: „Die am weitesten ‚entwickelten‘ dieser Gesellschaften sind die USA und die UdSSR (…)“. 45 Die USA gibt es zwar noch, aber die UdSSR und ihre Gesellschaft, so entwickelt sie auch sein mochte, nicht mehr. In diesem Zusammenhang bemerkt Hartmut Rosa: „Die Erfahrung der Modernisierung (…) ist geradezu äquivalent mit der Erfahrung der Beschleunigung.“ 46 Der postmoderne Wandel hängt nicht so sehr mit der weiterhin drohenden „vernichtenden Katastrophe“ zusammen: vielmehr mit der Polarisierung und Fragmentierung („Pluralisierung“) europäischer und amerikanischer Gesellschaften, mit der tendenziellen Vereinnahmung aller sozialen Bereiche durch die Wirtschaft, die Parsons, wie sich zeigen wird, noch schlicht als eine Funktion (nicht Dysfunktion) der Gesamtgesellschaft definiert, und mit dem Niedergang der Subjektivität, deren Begrifflichkeit Luhmann scheinbar ersatzlos streicht und Foucault nietzscheanisch in Frage stellt. Versucht man heute, Parsonsʼ soziologisches System auf die amerikanische Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts anzuwenden, so macht man ähnliche Erfahrungen wie beim Versuch, das zeitgenössische Europa aus Hegels Sicht zu betrachten - wenn auch die Abweichungen nicht ganz so krass sind. Tatsache ist aber, dass das von Parsons entworfene System zunehmend anachronistisch wirkt, zumal er immer wieder von „gemeinsamen Wertmustern“ oder „common value patterns“ 47 spricht, die nicht nur in den USA, sondern in den meisten nachmodernen Gesellschaften zerfallen sind oder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt problematischer werden. Aber wie sieht sein System als Endpunkt seiner eindrucksvollen Erzählung aus? 44 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 181. 45 T. Parsons, Gesellschaften, op. cit., S. 13. 46 H. Rosa, Beschleunigung. Zur Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2005, S. 460. 47 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 42. <?page no="525"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 509 3. Das funktionale Gesellschaftssystem: Interaktion und doppelte Kontingenz, Sozialisation, Rolle und Interpenetration Während Parsons davon ausgeht, dass zwischen seiner Handlungstheorie, wie er sie in The Structure of Social Action entwickelt, und seiner Systemtheorie, die in The Social System vollständig dargestellt wird, Kontinuität herrscht, vertritt Wolfgang Schluchter die Meinung, „daß Parsons hier [in The Social System] mit der Handlungstheorie bricht“. 48 Ähnlich argumentiert Harald Wenzel, der nicht von einem Bruch, sondern von einem Dilemma spricht, wenn er die These aufstellt, „daß das eigentliche Dilemma von Parsonsʼ Theorieansatz im Verhältnis von Handeln und Ordnung besteht“. 49 Nun hängen „Kontinuitäten“, „Dilemmata“ und „Brüche“ auch davon ab, ob und wie sie im Rahmen einer Theorie als Erzählung konstruiert werden. (So kann etwa Sartres Versuch in Critique de la raison dialectique, seinen frühen Existenzialismus als Ausrichtung auf das Besondere, Einzelne in den Marxismus zu integrieren, sowohl als Bruch als auch als Kontinuität konstruiert werden.) Parsonsʼ Soziologie wurde hier bisher als „hegelianische Erzählung“, aus der ein System hervorgeht, konstruiert - nicht „objektiv“ abgebildet. Eine „objektive“ Wiedergabe ist ebenso unmöglich wie eine „objektive“ Wiedergabe der „Gesellschaft als solcher“, als „Ding an sich“ im Sinne von Kant. Das lassen die verschiedenen soziologischen Theorien erkennen, die hier miteinander verglichen werden; davon zeugen auch die z.T. stark divergierenden Kommentare zu diesen Theorien, die sich jedoch durchaus in wesentlichen Punkten interdiskursiv überschneiden und schon dadurch voreiligen relativistischen Schlüssen entgegenwirken. Parsons selbst konstruiert eine Kontinuität zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie, wenn er in The Social System den Begriff „social systems of action“ 50 verwendet und in The Structure of Social Action von einem „shift“ spricht: „a shift in theoretical level from the analysis of the structure of social action as such to the structural-functional analysis of social systems“. 51 Es scheint in diesem Fall aus Kohärenzgründen und im dialogischen Kontext 52 sinnvoller zu sein, dem Selbstverständnis des Autors zu folgen, als einen dekonstruktivistischen Weg einzuschlagen und die Theorie durch 48 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, op. cit., S. 334. 49 H. Wenzel, Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsonsʼ Theorie des allgemeinen Handlungssystems, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 69. 50 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 3. 51 T. Parsons, The Structure of Social Action, Bd. I, op. cit., S. XVIII. 52 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), S. 252: zur Rekonstruktion, Übersetzung und Kritik fremder Diskurse im Dialog. <?page no="526"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 510 das Aufzeigen von Widersprüchen, die oftmals konstruiert sind 53 , zerfallen zu lassen. Die Autoren des Bandes Handlungstheorie werfen die Frage auf: „Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? “ - und stellen fest: „Auf diese Frage liefert Parsons von Anfang an eine systemische Antwort (und der Begriff des Systems fällt auch schon in The Structure of Social Action).“ 54 Im Folgenden soll diese Einschätzung gelten. Dass Parsons zwischen Handlung und System keinen Gegensatz sieht, sondern die beiden Größen als komplementär betrachtet, bestätigt seine Terminologie in The Social system, wo von „human action systems“ 55 die Rede ist und wo das Gesellschaftssystem als „Bezugsrahmen des Handelns“, als „action frame of reference“ 56 , aufgefasst wird. Die Frage, die wie ein roter Faden dieses Werk durchzieht, lautet: Wie kommt individuelles und kollektives Handeln im Gesellschaftssystem zustande? Parsons geht jedoch nicht immer vom System aus, sondern kehrt an verschiedenen Stellen seiner Abhandlung die Perspektive um und geht der Frage nach, wie Systeme durch Handlungen als Interaktionen begründet werden. In diesem Zusammenhang prägt er den (auf Aristoteles zurückgehenden) Begriff der doppelten Kontingenz. Dieser bezeichnet eine von Unwägbarkeit und Unsicherheit geprägte Situation, in der zwei Akteure, Alter und Ego, die einander zunächst nur unzureichend kennen, ihre Erwartungen, Aussagen und Handlungen so aufeinander abstimmen müssen, dass eine erfolgreiche Kommunikation entsteht, aus der schließlich ein gemeinsames Handeln hervorgehen kann. Diese stufenweise Annäherung kann nach Parsons nur gelingen, wenn sich die Beteiligten an gemeinsamen Werten und Normen orientieren. Die doppelt kontingente Situation, in der Ego nicht wissen kann, wie Alter reagieren wird, und umgekehrt, beschreibt Parsons wie folgt: „the orientation of one actor to the contingent action of another“. 57 Er fügt hinzu: „Im Falle eines bestimmten Aktors Ego wird in Bezug auf einen anderen, auf Alter, bald ein System von Erwartungen aufgebaut. Im Hinblick auf Alters Handlung bedeutet dies für Ego sowohl Hoffnungen als auch Ängste (…).“ 58 Man braucht nur an den Annäherungsversuch eines jungen Mannes zu denken, der das von ihm bewunderte Mädchen kaum kennt: Er wird versuchen, die Kontingenz schrittweise zu reduzieren, indem er beispielsweis 53 Vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (2. Aufl.), S. 104: zur Konstruktion von Widersprüchen in dekonstruktivistischen Diskursen. 54 W. Bonß et al., Handlungstheorie. Eine Einführung, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 81. 55 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 11. 56 Ibid., S. 12. 57 Ibid., S. 37. 58 Ibid. <?page no="527"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 511 Interessen und Vorlieben anspricht, von denen er im Rahmen des (hoffentlich gemeinsamen) kulturellen oder subkulturellen Systems annehmen kann, dass sie von seinem Gegenüber geteilt werden. In diesem Fall findet das Handeln, so könnte man folgern, im Rahmen des bestehenden Systems statt. Umgekehrt begründet aber das Handeln auch ein neues System, wie Parsons Beispiel zeigt, das an das hier angeführte Beispiel anschließbar ist, weil es zwei Liebende betrifft, die - nach erfolgreichem Annäherungsversuch - ein eigenes System entwerfen: „So entwickelt sich zwischen zwei Liebenden eine beiden gemeinsame erotische Symbolik, die ein wesentlicher Aspekt der Beziehung und eine Bedingung von deren Integration ist.“ 59 „Symbolik“ und „Integration“ sind in diesem Fall Aspekte des entstehenden Systems, von dem Parsons sagt, es „bestehe aus einer Vielzahl individueller Akteure, die miteinander interagieren“. 60 Bewährt sich diese Integration, wird die Geschichte fortgesetzt, und die Symbolik wird auf Haushalt und Familie ausgedehnt. Dabei kommt es auch zu einer für diese Beziehung spezifischen Differenzierung von Aufgaben und Rollen, so dass bald feststeht, wer in der Früh den Kaffee kocht, die Kinder in den Kindergarten bringt oder das Dach repariert. Zugleich wird die doppelte Kontingenz immer weiter reduziert, und das Handlungssystem wird eindeutiger - ohne jedoch Kontingenz völlig verschwinden zu lassen. Sie kann jederzeit wieder ausbrechen und sogar Konflikte verursachen. Mikrosysteme dieser Art sind von Familie zu Familie verschieden, und die Unterschiede können beträchtlich sein. Sie veranschaulichen die Kreativität der Akteure, die stets der Systembildung zugute kommt. Das Beispiel der Zweierbeziehung und der Familie sollte zeigen, wie sich - nach überwundener Kontingenz - Differenzierung durchsetzt. Stärker rechtlich formalisiert als in der Familie ist die Differenzierung an einem Uni versitätsinstitut, an dem die statusmäßige Unterscheidung von wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Personal gilt, die verschiedene, aber stets komplementäre Rolleneinteilungen mit sich bringt, von denen die meisten Kontakte zu den Studierenden, zu übergeordneten Institutionen wie Fakultät und Universität, Verwaltung, Lehre und Forschung betreffen. Auch die Verantwortung für Bibliotheksangelegenheiten oder e learn ing bringt eine spezifische, zumeist in Universitätsgremien institutio nalisierte Rolle mit sich. Trotz aller rechtlichen Vorgaben werden an einem Institut Rollen - ähnlich wie in der Familie - auch durch die Interaktion der Beteiligten definiert oder bei wiederkehrender Kontingenz umgedeutet. Dominant ist in diesem Bereich allerdings die kognitive Funktion, weil die Universität als Subsystem im Hinblick auf kognitive Funktionen dif- 59 Ibid., S. 77. 60 Ibid., S. 5. <?page no="528"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 512 ferenziert ist, wie es Parsons und Platt in Ihrem Band The American Univer sity ausdrücken: „differentiated with respect to the primacy of cognitive functions“. 61 Auf die hier skizzierte Universitätssituation trifft zu, was Parsons in The Social System über das Verhältnis von Status und Rolle schreibt: „Auf der einen Seite haben wir den positionellen Aspekt - der bestimmt, welche Stellung der betreffende Akteur im sozialen System im Hinblick auf andere Akteure ‚einnimmt‘. Das nennen wir seinen Status, womit seine Stellung im Beziehungssystem als Struktur, als geordnetes System von Teilen, gemeint ist. Andererseits haben wir den prozesshaften Aspekt, der sich auf das bezieht, was der Akteur im Verhältnis zu anderen tut, und zwar im Zusammenhang mit seiner funktionalen Bedeutung für das Gesellschaftssystem. Das bezeichnen wir als seine Rolle.“ 62 Die Institution betrachtet Parsons als eine der Rolle übergeordnete Einheit und definiert sie als eine „Vielzahl zusammenhängender Rollenmuster oder ihrer Bestandteile“ („plurality of interdependent role-patterns or components of them“). 63 Da sich das Gesellschaftssystem aus zahlreichen Institutionen zusammensetzt, könnte es auch als funktionales System aufgefasst werden, dessen kleinster struktureller Bestandteil die Rolle ist, die Anthony Giddens für „das Grundelement der [Parsonsschen] Gesellschaftssysteme“ 64 hält. Primäre und sekundäre Sozialisierung findet in Institutionen wie Familie, Schule, Firma oder Universität statt, wo Rollen und Rollenmuster in Interaktionen eingeübt werden: etwa indem der Schüler sich daran gewöhnt, Fragen der Lehrerin möglichst zusammenhängend und genau zu beantworten. Die Lehrerin tritt in diesem Fall als socializing agent, der Schüler als socializee auf. 65 Parsons trägt dem dynamischen Charakter der Sozialisierung Rechnung, wenn er erklärt: „Der Erwerb der für das Funktionieren in einer Rolle erforderlichen Orientierungen ist ein Lernprozess (…). Dieser Prozess soll als Sozialisationsprozess bezeichnet werden.“ 66 Status und Rolle sind keine isolierten Fakten, sondern sind in ein umfassendes System von Werten und Normen eingebettet. Dies bedeutet, dass die Sozialisierung durch Einübung in Rollen und Rollenmuster sowohl auf Seiten der Lehrerin als auch auf Seiten des Schülers eine Verinnerlichung (internalisation) von Werten und Normen mit sich bringt, die in der Schul- 61 T. Parsons, G. M. Platt, The American University, Cambridge (Mass.), Harvard Univ. Press, 1973, S. 93. 62 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 25. 63 Ibid., S. 39. 64 A. Giddens, Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London, Macmillan, 1979, S, 117. 65 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 215. 66 Ibid., S. 205. <?page no="529"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 513 welt vorwiegend pädagogischen, didaktischen und kognitiven Charakter haben. Parsons spricht in diesem Zusammenhang von „mechanisms of value acquisition“ 67 und von einer „acquisition of value-orientation patterns“. 68 Sofern diese Werte und die aus ihnen ableitbaren Normen verinnerlicht werden, findet sowohl während der primären (Familie) als auch während der sekundären (Schule) Sozialisation eine allmähliche und kaum wahrnehmbare Integration der Subjekte in das System als Rollensystem statt. In diesem Kontext können Rollenkonflikte entstehen: etwa wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer in einer Dorfschule oder einer kleineren Auslandsschule die eigenen Kinder unterrichten muss. In dieser Situation kann die Rolle der Lehrkraft, die auf Leistung als achievement 69 ausgerichtet ist, mit der Elternrolle kollidieren, die den ascribed status des Kindes in den Vordergrund stellt. Dadurch kann es aufgrund unvereinbarer Erwartungen und Verhaltensmuster zu Störungen im Schulsystem oder Familiensystem kommen. Nach dieser Kurzdarstellung der Systembildung durch Interaktion stellt sich die Frage, die Parsons in The Social System in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rücken lässt: Wie ermöglicht das Gesellschaftssystem Handlung, und wie funktioniert es als differenzierte Einheit? Das System, von dem Parsons ausgeht, betrifft den individuellen Aktor, der auch in The Structure of Social Action sein Ausgangspunkt war. Dabei wird der Aktor in vier Teilsysteme eingeteilt, die, wie sich zeigen wird, Parsons auch für die Darstellung anderer, überindividueller Systeme verwendet. Es hat sich international eingebürgert, diese Darstellung mit Hilfe der Formel AGIL wiederzugeben, welche die grundsätzlichen Funktionen zusammenfasst, die Teilsysteme erfüllen müssen, damit das Gesellschaftssystem als Ganzes erhalten bleibt: Adaptation (Anpassung), Goal attainment (Zielerreichung), Integration (Kohärenzbildung) und Latency (latente Wert- und Normerhaltung). Dabei wird Funktion als „Leistung eines sozialen Elements [für] den Stabilitätszustand eines gesellschaftl[ichen] Systems“ 70 definiert. Im Falle des individuellen Aktors sorgt das biologische System oder Verhaltenssystem (biological system) für die Anpassung (Adaptation) an die Umwelt. Das Persönlichkeitssystem (personality system) ist für die Ziel- 67 Ibid., S. 213. 68 Ibid., S. 226. 69 Die Unterscheidung von ascribed und achieved status übernimmt Parsons von Ralph Linton: Vgl. R. Linton, The Study of Man, New York, Appleton-Century-Crofts, Inc., 1936, S. 113-119. 70 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner, 2007 (5. Aufl.), S. 255 (Kursivsetzung der Definition durch den Autor). <?page no="530"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 514 erreichung (Goal attainment) verantwortlich, das soziale System (social system) für Integration als innere Kohärenz im Hinblick auf Interaktionen mit anderen Instanzen und das Kultursystem (Latency) als Wertsystem für die Orientierung an latenten oder impliziten Werten, von denen angenommen wird, dass sie allen handelnden Instanzen einer Gesellschaft gemeinsam sind. Im Zusammenhang mit dem individuellen Aktor können die hier genannten Systemfunktionen wie folgt veranschaulicht werden: Die Anpassung an die Umwelt als Adaptation kann durch Ernährung, Kleidung und bestimmte Arten der Fortbewegung erreicht werden. Die Zielerreichung als Goal attainment wird von der Persönlichkeit als Zusammenwirken bestimmter Eigenschaften (Zielstrebigkeit, Klugheit, Klarheit) gewährleistet. Die Integration bezieht sich auf die innere Verfassung des Aktors, die eine zusammenhängende und zielführende Interaktion mit anderen ermöglicht. Das Kultursystem als Latency ist in Form von Wertungen stets „latent“ vorhanden und entscheidet über die obersten Zielsetzungen des Aktors: etwa über den kulturellen Stellenwert der von ihm angepeilten Karriere im medizinischen, pädagogischen oder wirtschaftlichen Bereich. Die Beispiele lassen zwei verschiedene Ausrichtungen der Teilsysteme und ihrer Funktionen erkennen: Während Adaptation als Anpassung an die Umwelt und Zielerreichung als Goal attainment externe Funktionen erfüllen, weil sie auf die „Außenwelt“ des Aktors ausgerichtet sind, erfüllen das soziale System als Integrationsinstanz und das Kultursystem als Repertoire von verinnerlichten Werten interne, konsolidierende Funktionen. Parsons unterscheidet diese Teilsysteme und ihre Funktionen auch auf kybernetischer Ebene, und zwar in dem Sinne, dass das soziale und das kulturelle System über einen hohen Informationsgrad und wenig Energie, das biologische und das Persönlichkeitssystem hingegen über einen hohen Energievorrat und wenig Information verfügen. Parsons selbst sieht es so: „Dazu gehört der kybernetische Aspekt der Kontrolle, durch welchen Systeme mit hohem Informationsgehalt, aber geringer Energie andere Systeme mit stärkerer Energie, aber geringerem Informationsgehalt zu regulieren vermögen.“ 71 Anders gesagt: Integrationssystem und Kultursystem vermitteln den beiden anderen Systemen die nötigen Informationen, die die Anpassung an die Umwelt (Adaptation) und die Zielerreichung (Goal attainment) ermöglichen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die beiden nach außen gerichteten Systeme (Adaptation und Zielerreichung) die Energie für das Handeln liefern, während die beiden nach innen gerichteten Systeme 71 T. Parsons, Gesellschaften, op. cit., S. 20. <?page no="531"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 515 (Integration und Kultur / Latency) über die nötigen Informationen verfügen. Beide Diagramme sind insofern für Parsonsʼ Soziologie charakteristisch, als sie im „internen“ Bereich (vgl. weiter unten) - d.h. in „Kultursystem“ und „Sozialsystem“ - von der Dominanz der Begriffe „kulturelle Norm“ und „soziale Integration“ zeugen. Für den individuellen Kontext bedeutet dies, dass sich der Aktor primär an kulturellen Werten und Normen orientiert, wenn er bestimmte Handlungen und Ziele ins Auge fasst. Parsons geht davon aus, dass die Zielerreichung der Handelnden primär der sozialen Integration dient oder sie zumindest nicht in Frage stellt. Im systemischen Kontext gilt dies auch für „Wirtschaft“ (Adaptation) und „Politik“ (Goal attainment). Von beiden wird stillschweigend angenommen, dass ihnen das kulturelle Wertsystem stets gegenwärtig ist und ihr Handeln in letzter Instanz steuert. Im Luhmann-Kapitel, das hier u.a. als eine Antwort auf Parsonsʼ Funktionalismus konzipiert wurde, soll deutlich werden, dass in der Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts diese Dominanz der Kultur als einer für alle verbindlichen Wertskala oder „Latency“ nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Dies ist der Grund, warum Luhmann an der Anwendbarkeit von Parsonsʼ Koordinatensystem zweifelt und nach Alternativen sucht. Das in dieses Koordinatensystem eingebettete Handeln weist zwei Aspekte auf: einen „instrumentellen“, der sich auf die anwendbaren Mittel bezieht, und einen „konsumatorischen“ (consummatory), der sich auf das erreichte Ziel (etwa das bestandene Examen oder das geplante Wirtschaftswachstum) bezieht, das als befriedigender Zustand konsumiert oder „genossen“ werden kann. Niklas Luhmann erklärt: „Damit ist nicht die bloße Vorstellung eines Zweckes gemeint, sondern konsumatorisch ist das, was eintritt, wenn der Zweck erreicht ist, wenn eine befriedigende Lage, fast sollte man sagen: eine Perfektion des Systems zustande gekommen ist.“ 72 Aus terminologischen Gründen entspricht das folgende Diagramm nicht der Buchstabenreihenfolge in AGIL. Insofern muss es entgegen dem Uhrzeigersinn gelesen werden: 72 N. Luhmann, „Parsons“, in: Einführung in die Systemtheorie (Hrsg. D. Baecker), Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 2017 (7. Aufl.), S. 22. <?page no="532"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 516 Abb. 1: Verhaltenssystem des Aktors Mit etwas Übertreibung ließe sich sagen, dass das Kultursystem bei Parsons die Grundlage sowohl der einzelnen Systemfunktionen als auch des individuellen und kollektiven Handelns bildet. Parsons, der sich immer wieder sowohl von Hobbesʼ und Benthams Utilitarismus als auch von Marxʼ Materialismus distanziert, versucht in Anlehnung an Durkheim, Gesellschaft als integriertes Kultur- und Wertsystem zu denken. Dabei beantwortet er die Hobbessche Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, mit Hinweisen auf das umfassende Wertsystem, das im Sinne von Tönniesʼ Gemeinschaft gedeutet wird. (Parsons spricht immer wieder von „gesellschaftlicher Gemeinschaft“.) 73 Hier zeigt sich, dass in Parsonsʼ Soziologie - wie in anderen Gesellschaftstheorien - Relevanzkriterien als semantische Basis des Diskurses von entscheidender Bedeutung sind, weil sie die Argumentation als Erzählung der Gesellschaft steuern. Für das gesellschaftliche Handeln sind in erster Linie kulturelle Werte relevant - und nicht das individuelle Nutzenkalkül der Utilitaristen oder materielle Interessen im Sinne von Marx. Davon zeugt die folgende Passage aus Gesellschaften: „Das Kernstück einer Gesellschaft, als System, ist die geformte normative Ordnung, welche 73 Vgl. beispielsweise: T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 26-28. Latency Kultursystem (Normerhaltung) Integration Sozialsystem (Integration) Persönlichkeitssystem (Zielerreichung) Goal attainment instrumentell konsumatorisch intern extern Verhaltenssystem (Anpassung) Adaptation <?page no="533"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 517 das Leben einer Population kollektiv organisiert. Als Ordnung enthält es Werte sowie differenzierte und partikularisierte Normen und Regeln, die sämtlich, um sinnvoll und legitim zu sein, kultureller Bezüge bedürfen.“ 74 Nicht zufällig bezeichnen Johnson, Dandeker und Ashworth Parsons in diesem Zusammenhang als „cultural determinist“: „Parsonsʼ Voluntarismus, der ‚Wille‘ oder die ‚Energie‘ des Aktors, wird der Kontrollfunktion der Kultur untergeordnet.“ 75 Freilich ist alles Denken und Handeln durch Kultur und Sprache vermittelt oder gar bedingt. Hier kam eingangs die sozio-kulturelle Bedingtheit von Parsonsʼ Soziologie zur Sprache, und es gibt wohl keine sozialwissenschaftliche Theorie, die man unabhängig von ihrem kulturellen Entstehungszusammenhang verstehen könnte - wie sich hier in den Kapiteln über Pareto, Durkheim oder Tönnies gezeigt hat. Parsonsʼ spezifisches Problem besteht darin, dass er die Vereinnahmung der Kultur (auch der Wissenschaft) durch die Wirtschaft und den Markt nicht wahrnimmt und in Übereinstimmung mit seinen Relevanzkriterien das Wirtschaftssystem als „Subsystem“ der Gesellschaft gleichberechtigt neben die anderen Subsysteme stellt. Dieser Gedanke soll im Folgenden veranschaulicht werden. Es geht um die Anwendung des AGIL-Schemas auf die Gesellschaft als System von Subsystemen und Funktionen. Der zugrunde liegende Gegensatz, der auch bei Luhmann den Ausgangspunkt der Systemtheorie bildet, ist der zwischen System und Umwelt, wobei jedes System die anderen Systeme als seine Umwelt betrachtet und behandelt. In Übereinstimmung mit dem individuellen Handlungssystem kann das Gesellschaftssystem in vier Subsysteme eingeteilt werden: Wirtschaftssystem, politisches System, soziales System (auch: gesellschaftliche Gemeinschaft) und Kultursystem (auch: Treuhandsystem). Während dem Wirtschaftssystem die Funktion der Anpassung (Adaptation) u.a. an die natürliche Umwelt der Gesellschaft zufällt, sorgt das politische System für die Zielerreichung der Gesellschaft (Goal attainment), das soziale System für Integration und das Kultursystem für latente Wert- und Normerhaltung (Latency). Diese Systemfunktionen soll das folgende Diagramm veranschaulichen: 74 T. Parsons, Gesellschaften, op. cit., S. 21. 75 T. Johnson, Ch. Dandeker, C. Ashworth, The Structure of Social Theory. Dilemmas and Strategies, Basingstoke, Macmillan (1984), 1987, S. 60. <?page no="534"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 518 Abb. 2: Gesellschaftssystem und seine Subsysteme Die letztgenannte Funktion (Wert- und Normerhaltung = Latency), der, wie sich gezeigt hat, eine besondere Bedeutung zukommt, definiert Parsons selbst wie folgt: „Wir definieren sie erstens als die Erhaltung des grundlegenden Musters der in der Gesellschaft institutionalisierten Werte und zweitens als die Formung und Erhaltung der angemessenen motivationellen Verpflichtungen des Individuums in der Gesellschaft.“ 76 In dieser Definition ist der Gedanke der Interpenetration, den Richard Münch für den Kern von Parsonsʼ Handlungstheorie hält 77 , insofern enthalten, als von einzelnen Individuen als Akteuren Werte und Motivationen verinnerlicht werden und dabei in das „Persönlichkeitssystem“ eingehen. Zu dieser Art von Interpenetration zwischen individuellem System und Sozialsystem bemerkt Parsons in seinem Artikel „Social Systems“: „Verinnerlichung kultureller und sozialer Objekte durch die Persönlichkeit des Individuums ist sicherlich der prototypische Fall von Interpenetration (…).“ 78 Ein Interpenetrationsverhältnis herrscht allerdings zwischen allen Subsystemen der Gesellschaft schon aufgrund ihrer Funktionen: Während das 76 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 125. 77 Vgl. R. Münch, Theorie des Handelns, op. cit., S. 472. 78 T. Parsons, „Social Systems“, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York-London, The Free Press-Collier Macmillan, 1977, S. 181. Latency Kultursystem (Cultural system) Integration Sozialsystem (Social community) Politisches System (Polity) Goal attainment instrumentell konsumatorisch intern extern Wirtschaftssystem (Economy) Adaptation <?page no="535"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 519 Sozialsystem und das Kultursystem als nach innen gerichtete Systeme sowohl Wirtschaft als auch Politik mit Informationen versorgen, verfügen die beiden nach außen gerichteten Systeme Wirtschaft und Politik über die nötige Energie, die es ihnen gestattet, sowohl auf Kultur und Gesellschaft als auch auf die internationale wirtschaftliche und politische Umwelt einzuwirken, um Veränderungen herbeizuführen. Die Interpenetration zwischen Systemen, vor allem zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft als Teil des Kultursystems, wird durch die Wechselwirkungen veranschaulicht, die zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik stattfinden. Die Industrie versucht immer wieder, ihre Interessen im politischen System geltend zu machen, und die Politik stützt sich regelmäßig auf Informationen aus der Wissenschaft, um ihre Zielvorgaben zu erreichen. So war beispielsweise der britische Soziologe Anthony Giddens, dessen Soziologie im neunzehnten Kapitel kommentiert wird, eine Zeit lang im Think Tank der britischen Labour Partei tätig. Talcott Parsons selbst gehörte als Deutschlandkenner unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einer amerikanischen Kommission an, die sich zur politischen und wirtschaftlichen Neuorganisation Deutschlands äußern sollte. Den zwischen Systemen herrschenden Zustand der Interpenetration beschreibt Parsons auch auf kybernetischer Ebene: „Ein Sozialsystem ist, wie alle lebenden Systeme, ein grundsätzlich offenes System, das in Austauschprozesse (oder ‚input-output-Beziehungen‘) mit seiner Umwelt involviert ist und zugleich aus Austauschhandlungen zwischen seinen eigenen Einheiten besteht.“ 79 Hier wird in Anlehnung an die Kybernetik als „Steuermannskunst“ auf die Steuerungs- und Regulierungseinrichtungen angespielt, die das Funktionieren eines Gesellschaftssystems gewährleisten. Die Interpenetration der Teilsysteme veranschaulichen auch ihre Medien als Kommunikationsmittel und Wertübertragungen. Während das Wirtschaftssystem vorwiegend das Medium Geld als Kommunikationsmittel verwendet, funktioniert Politik mit Hilfe des Mediums Macht, das Sozialsystem reagiert auf Einfluss und das Kultursystem auf Wertsetzungen. Die Interpenetration besteht darin, dass das Medium Geld auch in den anderen Systemen gern akzeptiert wird: Davon zeugt im politischen Bereich die Parteienfinanzierung, die aufgrund mangelnder Transparenz zu erheblichen Störungen und Pathologien führen kann. Dass Geld - etwa über Privatstiftungen - gesellschaftlichen Einfluss sichern kann, ist bekannt, und Ehrendoktorate, mit denen sich Universitäten für Schenkungen erkenntlich zeigen, veranschaulichen die Konvertierbarkeit von Geld in kulturelle 79 Ibid., S. 180. <?page no="536"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 520 Wertschätzung. Umgekehrt kann kulturelle Leistung mit Stipendien der Wirtschaft oder des Staates (für Künstlerinnen und Künstler) honoriert werden oder den sozialen und politischen Einfluss eines Schriftstellers wie André Malraux, der Kultusminister unter De Gaulle war, steigern. Allerdings stellt die Käuflichkeit von Macht, Einfluss und Ehre ein wachsendes soziales Problem dar. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Tatsache zu berücksichtigen, dass nach Parsons alle Teilsysteme der Gesellschaft die hier kommentierten vier Funktionen (AGIL) enthalten. So stellen beispielsweise Ditmar Brock, Matthias Junge und Uwe Krähnke die AGIL-Funktionen anhand eines Wirtschaftsunternehmens dar. Ein solches Unternehmen kann „nur überleben, wenn es auf Veränderungen des Marktgeschehens, wie steigende oder sinkende Nachfrage, angemessen reagiert und die Mittel zur Erzeugung seiner Produkte bereitstellt (A) und die Unternehmensleitung die wirtschaftlichen Ziele des Unternehmens vorgibt (G). Weiterhin muss dafür Sorge getragen werden, dass eine Art ‚Unternehmenskultur‘ existiert, die die wesentlichen Grundsätze einer Unternehmung zum Ausdruck bringt (L). Schließlich müssen noch alle diese Aufgaben so aufeinander abgestimmt werden, dass sie nicht miteinander in Konflikt geraten (I).“ 80 Einerseits veranschaulicht dieses Beispiel die Anwendung des AGIL- Schemas auf die mikrogesellschaftliche Ebene, andererseits stellt es die Konkretheit von Parsons Systemtheorie unter Beweis, der man bisweilen sterile Abstraktheit vorgeworfen hat. Das Beispiel zeigt, dass diese Theorie auch für die Betriebswirtschaft, die es stets mit konkreten Problemen zu tun hat, von Bedeutung ist. Die Tatsache, dass im sozialen System auf allen Ebenen (auf Mikro- und Makroebene) auch Störungen auftreten, berücksichtigt Parsons durchaus: vor allem im siebenten Kapitel von The Social System, das den Titel trägt „Deviant Behavior and the Mechanisms of Social Control“. Der Titel fasst insofern die Argumentation in nuce zusammen, als es tatsächlich darum geht zu zeigen, wie abweichendes Verhalten in einer Gesellschaft entsteht und durch welche soziale Mechanismen es unter Kontrolle gebracht wird. Im Wesentlichen geht es um die Frage, wie das Gleichgewicht des Systems trotz aller Störungen erhalten werden kann und wie „deviance as a disturbance of the interactive sytsem“ 81 wieder in das System integriert werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage verlässt sich Parsons auf das „Kultursystem“ als übergreifendes „common value system“ 82 , das auch in der 80 D. Brock, M. Junge, U. Krähnke, Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons, München, Oldenbourg, 2012 (3. Aufl.), S. 198-199. 81 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 250. 82 Ibid., S. 302. <?page no="537"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 521 Zusammenfassung der Kernargumente eine entscheidende Rolle spielt: „Die Konformität-Abweichung-‚Dimension‘ wohnt als funktionales Problem gesellschaftlich strukturierten Systemen sozialen Handelns inne, und zwar in einem Kontext kultureller Werte, wie sie in diesem Band analysiert wurden.“ 83 In diesem Satz schwingt noch die kulturalistisch-konsensuelle Antwort auf den Utilitarismus mit sowie auf Hobbesʼ Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung. Die von Durkheim inspirierte Antwort, die von Parsonsʼ Relevanzentscheidungen vorgegeben wird, lautet: Gesellschaft ist möglich, weil sie durch Kultur, durch ein latentes System von Werten und Normen, zusammengehalten wird, das auch die Subsysteme „Wirtschaft“ und „Politik“ durchdringt. Das Problem von Parsonsʼ Soziologie besteht nicht so sehr darin, dass sie abweichendes Verhalten, Konflikt und sozialen Wandel nicht erklären kann, wie ihr von Alvin W. Gouldner und anderen vorgeworfen wird (vgl. Abschn. 6), sondern darin, dass sie in Anlehnung an kybernetische Modelle die Gesellschaft als Maschine betrachtet, deren Störungen letztlich - mit Hilfe von Kultursystem und Wertekonsens - behoben werden können. So wird „Gesellschaft“, deren destruktive Tendenzen Tönnies untersuchte, tendenziell zur „Gemeinschaft“. Die Frage der Kritischen Theorie, die hier vorerst nur andeutungsweise aufgeworfen wird, lautet: Könnte es nicht sein, dass der Maschine ein selbstzerstörerischer Mechanismus innewohnt, der für viele der von Durkheim bis Parsons kommentierten Pathologien verantwortlich ist und schließlich zum Zusammenbruch des Geräts führen wird? Ist der Wertekonsens, auf den sich Durkheim und Parsons verlassen, nicht längst zerfallen, weil Gesellschaft gerade im kulturellen Bereich zunehmend polarisiert und fragmentiert ist? Ist die Wirtschaft - nicht als Subsystem, sondern als umfassendes System - nicht dabei, die Gesellschaft, für deren Anpassung (Adaptation) an die natürliche Umwelt sie sorgen sollte, durch die Unterwerfung aller Lebensbereiche mitsamt der Umwelt unter die Marktgesetze zugrunde zu richten? In den 1930er Jahren, also in der Zeit, als Parsons an seinem Werk The Structure of Social Action arbeitete, stellte der Romancier Hermann Broch das Verhältnis der „Subsysteme“ in einem ganz anderen Licht dar. Sie werden nicht durch Interpenetration, sondern durch monomanes Autonomiestreben und wechselseitige Entfremdung gekennzeichnet: „(…) Gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines ‚Geschäftemachens an sich‘ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem 83 Ibid., S. 320. <?page no="538"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 522 sportlichen, jedes autonom, jedes ‚an sich‘, ein jedes in seiner Autonomie ‚entfesselt‘, ein jedes bemüht, mit aller Radikalität seiner Logik die letzten Konsequenzen zu ziehen und die eigenen Rekorde zu brechen. Und wehe, wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält, emporwachsend über allen anderen Werten, emporgewachsen wie das Militärische jetzt im Kriege oder wie das ökonomische Weltbild, dem sogar der Krieg untertan ist, - wehe! Denn es umfaßt die Welt, es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht.“ 84 Man braucht nur die Relevanzkriterien (die Diskurssemantik) umzuschichten und die Dominanz der „Wirtschaft“ zu postulieren, um eine ganz andere Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung entstehen zu lassen. Freilich ist Brochs Gegendarstellung einseitig: Hat Parsons nicht die Interpenetration der Systeme an zahlreichen Beispielen veranschaulicht und plausibel gemacht? Aber er hat ihre Ambivalenz nicht bedacht: Denn Interpenetration kann auch Vereinnahmung - etwa durch das Wirtschaftssystem - bedeuten, sooft beispielsweise eine Regierung den Interessen eines übermächtigen Weltkonzerns entgegenkommt oder nachgibt, sooft die natürliche Umwelt oder die Gesundheit der Bevölkerung, an die sich die Wirtschaft anpassen sollte (Adaptation), dem Gewinn geopfert wird - auf Kosten der Gesellschaft. Es wäre voreilig, dem Schriftsteller, der bekanntlich (wie Plato wusste) zu Übertreibungen neigt, monologisch Recht zu geben. Aber in einem dialogischen Kontext erscheint es sinnvoll, sich stets die Gegenstimme anzuhören, die uns ermahnt, sich auch die Kehrseite der Medaille anzusehen. 4. Parsons ʼ Systemtheorie als Erzählung im Stillstand: Sein zweites Aktantenmodell Es besteht eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Algirdas J. Greimasʼ Strukturaler Semiotik und Parsonsʼ Systemtheorie: nicht nur weil sich beide Autoren von der Symmetrie des Diagramms faszinieren lassen, sondern auch und vor allem deshalb, weil ihre Theorien systemisch konzipiert sind. Wie Parsons, der das soziale System als ein Ergebnis fortschreitender Differenzierung betrachtet, knüpft Greimas an die systematische Linguistik von Ferdinand de Saussure (Genfer Schule) und Louis Hjelmslev (Kopenhagener Schule) an, um zu zeigen, dass auch die Sprache als ausdifferenziertes System zu verstehen ist, dessen Funktionen nicht isoliert, sondern nur in Wechselbeziehung zu einander betrachtet werden sollten. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Beziehungssystem“ 84 H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/ 32), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 498. <?page no="539"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 523 („système de relations“) und fügt hinzu, dass die Beziehungen in diesem Sytem zugleich „differentiellen und oppositionellen“ („différentielles et oppositives“) 85 Charakter haben. Es hat sich hier in der Einleitung und in verschiedenen Kapiteln gezeigt, dass Greimas im Bereich der Aktanten Auftraggeber und Gegenauftraggeber, Subjekte und Antisubjekte unterscheidet und sie mit verschiedenen Modalitäten als „Zuständen der handelnden Instanz“ wie „sein“, „sollen“, „wissen“, „wollen“ oder „können“ ausstattet, die sie zum Handeln befähigen. 86 Sowohl Handlungsfunktionen als auch Modalitäten sind differentiell und oppositionell (als Gegensätze) konzipiert. Analog dazu betrachtet Parsons die Systeme als handelnde Instanzen, die mit Modalitäten wie „nach außen“ oder „nach innen gerichtet“, „Information“ („wissen“) oder „Energie“ („wollen“, „können“) ausgestattet sind. Auch sie sind komplementär aufgrund ihrer Differenzierung und ihrer partiellen Gegensätzlichkeit, die z.B. im Gegensatz von „Information“ (Passivität) und „Energie“ (Aktivität) zum Ausdruck kommt. Aber sind soziale Systeme tatsächlich handelnde Instanzen, Akteure oder Subjekte? Diese Frage ist von prinzipieller Bedeutung und wird auch im Zusammenhang mit Niklas Luhmanns Systemtheorie aufgeworfen. Die allgemeine Frage nach dem Subjekt (seiner Existenz oder Nichtexistenz, seinem Verschwinden) mündet in eine komplexe Problematik, die hier nicht erörtert werden kann. 87 Tatsache ist jedoch, dass in der Strukturalen Semiotik das Subjekt als Aktant aufgefasst wird: „Das Subjekt erscheint daher als Aktant.“ 88 Da es sowohl individuelle als auch überindividuelle (etwa kollektive) Aktanten gibt, muss es auch individuelle und kollektive Subjekte (letztere als Organisationen, Institutionen oder Systeme) geben. Im Rahmen der Strukturalen Semiotik können alle handelnden Instanzen als Aktanten und Subjekte definiert werden. Greimas und Courtés sprechen in diesem Zusammenhang vom Subjekt-Aktanten (actant-sujet). 89 In Parsonsʼ Soziologie herrschen in diesem Bereich einige Unklarheiten und Widersprüche, zumal Parsons zwar von Aktoren und ihren Handlungen, nicht jedoch von Subjekten spricht. In Aktor, Situation und normative Muster stellt er kategorisch fest: „‚Handeln‘ ist immer eine Sache individuellen Verhaltens, Kollektive stellen nie 85 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 384. 86 Ibid., S. 230-231. 87 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), Kap. I: „Theorien des Subjekts: Begriffsbestimmung und Diskussionsstand“. 88 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 370. 89 Ibid., S. 4. <?page no="540"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 524 eine handelnde ‚Einheit‘ dar; was gewöhnlich als Einheit kollektiven Verhaltens bezeichnet wird, ist das komplexe Ergebnis der verschiedenen Handlungen der das Kollektiv bildenden Aktoren.“ 90 Er scheint hier an Max Webers Argumentation anzuknüpfen, in der der Gedanke an kollektives Handeln als Schimäre zurückgewiesen wird (vgl. Kap. XII. 4). Vom Durkheimianer Parsons hätte man etwa anderes erwartet. Tatsächlich wird diese Erwartung nicht ganz enttäuscht. Denn Parsons schreibt in dem schon erwähnten Artikel „Social Systems“ (maßgebend ist der Originaltext): „The actor may be either an individual or some kind of collective unit.“ 91 Diese recht eindeutige Aussage wird durch komplementäre Behauptungen in The Social System bestätigt: „Finally, cutting across the individual actor as a composite unit is the collectivity as actor and as object.“ 92 Also ist Handeln doch nicht immer „eine Sache individuellen Verhaltens“. Wesentlich später - im dritten Kapitel - knüpft Parsons an diesen Gedankengang mit der Feststellung an „dass Kollektive in bestimmten Kontexten als Aktoren zu behandeln sind“ („that collectivities must in certain contexts be treated as actors“). 93 Dieses Schwanken zwischen zwei widersprüchlichen Positionen hängt u.a. damit zusammen, dass Parsons - außer im Zusammenhang mit Descartes und der idealistischen Philosophie 94 - den Subjektbegriff kaum verwendet und die Beziehung zwischen (individuellem, kollektivem) Aktor und Subjekt nicht klärt. Dadurch bleibt einiges implizit. Vor diesem Hintergrund werfen Johnson, Dandeker und Ashworth ihm vor, er behandle das System, das auf seine Umwelt reagiert, analog zum Aktor, der sich auf eine Situation bezieht: „Eine unakzeptable Folge ist, dass Parsons das System mit seinen Zielen und Motivationen so behandelt, als wäre es ein Aktor.“ 95 Das ist keine „unakzeptable Folge“, sondern liegt in der Logik der Dinge: Denn ein System, das für Information oder Anpassung sorgt, das sich Ziele setzt und mit Hilfe bestimmter Modalitäten wie „Information“ und „Energie“ auch erreicht, ist eine handelnde Instanz - ähnlich wie ein Computer, der anhand von Informationen eine mit Energie gefüllte 90 T. Parsons, Aktor, Situation und normative Muster, op. cit., S. 174. 91 T. Parsons, Social Systems and the Evolution of Action Theory, op. cit., S. 179. 92 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 26. 93 Ibid., S. 138. 94 Vgl. T. Parsons, Social Systems and the Evolution of Action Theory, op. cit., S. 157. 95 T. Johnson, Ch. Dandeker, C. Ashworth, The Structure of Social Theory, op. cit., S. 58. Vgl. auch E. C. Devereux, „Parsons’ Sociological Theory“, in: M. Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons. A Critical Examination, Carbondale-Edwardsville, Southern Illinois Univ. Press, 1976, S. 28: „When he is dealing with more complex systems, Parsons treats as components not individuals but various sub-systems which are now regarded, analytically, as the actors.“ <?page no="541"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 525 Rakete auf ein Ziel zusteuern lässt. Er übernimmt die Funktion eines Jägers, der seinen Pfeil auf ein Beutetier abschießt. Hier kann die Strukturale Semiotik, die das Verhältnis von Subjekt, Aktant und Akteur weitgehend geklärt hat, für mehr Klarheit sorgen, weil sie „Subjekt“ nicht mit dem Individuum des Alltags, dem denkenden Subjekt der idealistischen Philosophie (Kants „Ich denke“) oder dem Romanhelden identifiziert, sondern den Subjektbegriff auf kollektive, abstrakte oder mythische Aktanten ausdehnt, denen in ihrem Namen agierende Akteure angehören können. Dem kollektiven Aktanten „Partei“ gehören Parteimitglieder als Akteure an 96 , dem politischen System, das als kollektive oder abstrakte Instanz konstruiert werden kann, gehören die für die „Zielerreichung“ zuständigen Politiker an, und im Namen einer Gottheit können Geister oder mythische Tiere handeln. Kollektive oder abstrakte Subjekt Aktanten (z.B. Parteien) können als Auftraggeber fungieren und ein Parteimitglied oder einen Minister mit einem Heilsauftrag (mission de sa lut, Greimas) betrauen. Dabei herrscht ein Vertragsverhältnis zwischen Auftraggeber und Beauftragtem. Parsons argumentiert durchaus im Sinne der Strukturalen Semiotik, wenn er die „politische Kollektivität“ (als Aktanten) zu deren einzelnen und kollektiven Mitgliedern (als Akteuren) in Beziehung setzt: „(…) The relation of this overall political collectivity to the ‚private‘ spheres of the constituent actors, both individual and collective, constitutes a principal area of the structural features of any social system.“ 97 Es ist nicht sinnvoll, der „realistischen“ Frage nachzugehen, ob ein System wirklich „handelt“ bzw. „handeln kann“ und ein Aktant oder Akteur (Aktor) ist. Diese Frage führt auf einen Holzweg, weil einzig der theoreti sche Diskurs als Erzählung (in diesem Fall Parsons Diskurs) darüber ent scheidet, welche Funktionen Begriffe erfüllen. In einer Gebrauchsanweisung, die seinen Mechanismus erläutert, muss ein Computer nicht als Aktant (als handelnde Instanz) erscheinen; er wird jedoch zu einem Subjekt Aktanten, sobald es in einem Text heißt: „Der Computer wird die Rakete mit Hilfe dieser in ihm gespeicherten Informationen ans Ziel steuern.“ In diesem Satz fungiert der Computer als „künstliche Intelligenz“ und als Ver- 96 Vgl. J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et ap plication, Paris, Hachette, 1976, S. 95: „(…) Wenn ein Aktant (A1) sich im Diskurs in mehreren Akteuren manifestieren kann, so ist eine Umkehrung des Verhältnisses ebenso denkbar, da ein einziger Akteur (a1) ein Synkretismus verschiedener Aktanten (A1, A2, A3) sein kann.“ In die Sprache von Parsons Systemtheorie übersetzt bedeutet dies, dass eine politische Partei als System-Aktant von verschiedenen Akteuren (Funktionären, Mitgliedern) vertreten wird und dass umgekehrt ein Parteifunktionär als Rollenträger verschiedenen System-Aktanten (Partei, Familie, Ministerium, Regierung) angehören kann. 97 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 175. <?page no="542"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 526 längerung menschlicher Subjektivität und Intentionalität. Dies gilt auch für „das System“ oder „Subsystem“ in Parsonsʼ Diskurs. In diesem Diskurs kann es als kollektiver oder abstrakter Subjekt-Aktant (je nach Kontext) aufgefasst werden. Der folgende Satz aus einem Artikel von Parsons veranschaulicht, was gemeint ist (entscheidend ist stets das Original): „In carrying out analysis at any level of the social system, the concept ‚actor‘ is extended to define not only individual personalities in roles but other types of acting units - collectivities, behavioral organisms, and cultural systems.“ 98 Dies bedeutet konkret, dass in Parsons’ Diskurs Systeme als Aktoren oder Subjekt-Aktanten im Sinne der Strukturalen Semiotik fungieren. Das Problem besteht nun darin, dass diese Perspektive (System als Aktor oder Subjekt-Aktant) in Parsonsʼ Diskurs umkehrbar ist, weil in diesem Diskurs das individuelle Subjekt (das Individuum) in Systeme zerlegt wird, wie sich in der Anwendung des AGIL-Schemas auf den individuellen Handlungsbereich gezeigt hat: Während das biologische System (Verhaltenssystem) mit Energie für Anpassung an die physische Umwelt sorgt und das Persönlichkeitssystem Energie für die Zielerreichung liefert, wird die für das Handeln benötigte Information vom Sozialsystem und Kultursystem bereitgehalten. Markus Schroer erklärt: „In seiner Systemtheorie ersetzt Parsons die Vorstellung eines handelnden Subjekts durch die Annahme eines sich analytisch in einzelne Systeme auflösenden Subjekts.“ 99 Führt man die beiden Perspektiven („System als Subjekt“ und „individuelles Subjekt als Ensemble von Systemen“) zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Individuelle Subjekte als Aktoren (Akteure) werden im Denken und Handeln von den mit Information ausgestatteten Systemen „Kultur“ und „Gesellschaft“ (oder wie Parsons häufig sagt: „gesellschaftliche Gemeinschaft“) gesteuert. Ihre Objekte oder Objekt-Aktanten werden von den für „Kultur“ und „Integration“ zuständigen Systemen vorgegeben. In Anlehnung an das Computer-Beispiel könnte man auch sagen, dass sie wie die mit Energie geladene Rakete von den Informationssystemen sicher ans Ziel geleitet werden. Für Abweichungen gibt es wenig Spielraum - außer bei Blindgängern (mit deviant behaviour). Anders als in Parsonsʼ historischer Erzählung (vgl. Abschn. 2), in der „Differenzierung“ und „Entdifferenzierung“ als Auftraggeberin und Gegenauftraggeberin oder „Reformation“ und „Gegenreformation“ als antagonistische Subjekte einander unversöhnlich gegenüberstanden und für Bewe- 98 T. Parsons, „Pattern Variables Revisited: A Response to Robert Dubin“, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York-London, The Free Press-Collier-Macmillan, 1967, S. 194. 99 M. Schroer, Soziologische Theorien. Von den Klassikern bis zur Gegenwart, Paderborn, Fink-UTB, 2017, S. 134. <?page no="543"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 527 gung in der Gesellschaft sorgten, ist in seinem soziologischen System für systemsprengende, zukunftsweisende Kräfte und Konflikte kein Platz. Im System beherrscht die Kultur als Wertsystem und oberste Auftraggeberin die Szene. Antisubjekte, die ihren sozialisierten Subjekten Widerstand leisten könnten, treten nicht auf. Das abweichende Verhalten einiger Individuen und Gruppen mag Veränderungen bewirken, stellt das System aber nicht grundsätzlich in Frage. Symptomatisch für diesen Zustand ist das halbierte Aktantenmodell, in dem die Gegenkräfte fehlen, die Bewegung und Wandel bewirken könnten. In Parsonsʼ The Social System erscheint die Kultur als unangefochtene Auftraggeberin und das für Wertorientierungen zuständige Kultursystem als zentraler Steuerungsmechanismus, dessen Werte von Individuen und Gruppen verinnerlicht („internalisiert“) wurden. Parsonsʼ Konsenssoziologie gründet auf dem Kulturbegriff und auf dem Gedanken an gemeinsame Werte und Normen. Immer wieder stößt man in seinem Werk auf Ausdrücke wie „a common belief system shared by ego and alter“ 100 oder auf Hinweise auf „this integrative function of common beliefs“. 101 Die Bedeutung des Kultursystems für seine Gesellschafts- und Handlungstheorie kann kaum überschätzt werden. So heißt es beispielsweise im elften Kapitel von The Social System, das dem sozialen Wandel („social change“) gewidmet ist: „Kultur ist integraler Bestandteil des Handelns, wie es hier aufgefasst wird.“ 102 Im Kontext der Strukturalen Semiotik bedeutet dies, dass die beiden für Information zuständigen Systeme „Kultur“, „Gesellschaft“ in allen Fällen mit Hilfe der Modalität „Internalisierung“ als Auftraggeber aller Subjekt- Aktanten und ihrer Akteure auftreten. Indem sie das für die Handlung benötigte „Wissen“ liefern, legen sie die Lebensentwürfe oder narrativen Programme (Greimas) aller handelnden Instanzen fest. Entwürfe, die über die Systemgrenzen hinausgehen, werden buchstäblich undenkbar. „Alles Handeln findet in Systemen statt“ 103 , bemerkt Edward C. Devereux zu Parsons, und Paul Kellermann kommt zu dem Schluss: „Letztlich ist also nach Parsons die Struktur des Handelns nichts anderes als die Struktur des sozialen Systems, das heißt nichts anderes als das Kultursystem.“ 104 Hier trifft sich die Analyse des Aktantenmodells mit der Kurzdarstellung von Parsonsʼ „hegelianischer Erzählung“ im zweiten Abschnitt des Kapi- 100 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 328. 101 Ibid. 102 Ibid., S. 490. 103 E. C. Devereux, „Parsonsʼ Sociological Theory“, in: M. Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, op. cit., S. 23. 104 P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg, Rombach, 1967, S. 127. <?page no="544"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 528 tels: Parsonsʼ Diskurs ist - wie der Hegels - teleologisch auf die Gesellschaft und das politische System seiner Zeit ausgerichtet. Diese Gesellschaft wird angesichts des deutschen und japanischen Scheiterns in der Diktatur und angesichts der sowjetischen Sackgasse, die Parsons mit Scharfsinn und Weitblick als solche erkannt hat 105 , als das non plus ultra der Demokratie dargestellt. Das Gesellschfatssystem der USA wird zu Parsonsʼ Fokalisator, aus dessen Sicht er beobachtet und erzählt. So mündet seine soziologische Erzählung in eine Konstruktion des historischen Stillstands, die sich im elften Kapitel von The Social System in dem folgenden merkwürdigen Satz abzeichnet: „Die Theorie der Veränderung innerhalb der Struktur sozialer Systeme muss daher eine Theorie besonderer untergeordneter Veränderungsprozesse innerhalb solcher Systeme (sub-processes of change within such systems) sein und nicht der Veränderungsprozesse der Systeme als Systeme.“ 106 Am Ende des Kapitels gelangt der Autor zu der resignierenden Erkenntnis, dass es eine „vollständige Theorie des gesellschaftlichen Wandels“ 107 wohl nie geben wird. Diese Einschätzung hängt mit der Einbettung aller kollektiven und individuellen Handlungen in einen affirmativen Kulturkonsens zusammen, dessen ideologische, rechtfertigende Komponenten kaum zu übersehen sind. Zu Recht bemerkt Edward C. Devereux: „Parsons erblickte seine Aufgabe zunächst in Versöhnung und Integration.“ 108 Diese Ausrichtung auf gemeinsame Werte („shared values“), die in keiner der stark polarisierten und fragmentierten Gesellschaften der Nachmoderne mehr vorausgesetzt werden kann, hat Parsons daran gehindert, die Gesellschaft als Herrschaftssystem wahrzunehmen, das auf Naturbeherrschung gründet. Seine auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaft ist weit davon entfernt, die Gesellschaft der natürlichen Umwelt anzupassen (Adaptation), sondern zerstört diese Umwelt. Zugleich wirkt sie sich destruktiv auf die anderen Systeme aus: vor allem auf Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit, die von den Marktgesetzen und der allgegenwärtigen Vermittlung durch den Tauschwert allmählich zugrunde gerichtet werden. Hermann Broch (1886-1951), ein älterer Zeitgenosse von Parsons, hat diese Entwicklung erkannt und den Systembegriff kritisch mit negativen Vorzeichen versehen. 105 Vgl. T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 515. 106 Ibid., S. 486. 107 Ibid., S. 534. 108 E. C. Devereux, „Parsonsʼ Sociological Theory“, in: M. Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, op. cit., S. 8. <?page no="545"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 529 5. Norbert Elias ʼ Kritik an Parsons und Parsons ʼ mögliche Replik Norbert Eliasʼ Kritik wird nicht nur deshalb an dieser Stelle kommentiert, weil das vorige Kapitel seine Soziologie des Zivilisationsprozesses zum Gegenstand hatte, sondern vor allem deshalb, weil in dieser Kritik der Gegensatz von historischer und systematischer, dynamischer und statischer Betrachtungsweise im Mittelpunkt steht. Da die Kritik, die Elias vor allem in seiner 1969 erschienenen (1968 verfassten) „Einleitung“ zur zweiten Auflage von Über den Prozeß der Zivilisation vorbringt, in dem Vorwurf gipfelt, Parsonsʼ Systemsoziologie sei statisch und könne Gesellschaft als Prozess, als Dynamik und permanente Genese nicht erklären, ist sie an die Schlussbetrachtungen des vorigen Abschnitts anschließbar. Zunächst geht Elias von der Unterscheidung zweier theoretischer Traditionen in der Soziologie aus: Während im 19. Jahrhundert Autoren wie Marx, Comte und Spencer zugleich historisch und teleologisch argumentierten und ihre „Erzählungen“ in verschiedene - stark divergierende - „Idealzustände“ münden ließen, sei die Soziologie der Nachkriegszeit vom systematischen und funktionalen Denken beherrscht. Als Reaktion auf die teleologisch strukturierten und als ideologisch diskreditierten Entwürfe des 19. Jahrhunderts gehe die von Parsons und seinen Schülern vertretene Systematik davon aus, „daß es die Aufgabe jeder wissenschaftlichen Theorie sei, alles Wandelbare begrifflich auf etwas Unwandelbares zu reduzieren und alle komplexen Erscheinungen durch Zerlegung in ihre einzelnen Komponenten zu vereinfachen“. 109 Diese Vereinfachung kritisiert Elias als „Zustandsreduktion“. 110 Durch sie werde die Gesellschaft nicht länger als Prozess, als historisches Kontinuum wahrgenommen, in dem sich in jedem Stadium schon das nächste Stadium, in jeder Gegenwart die Zukunft ankündigt, sondern als statische Einheit, deren Veränderungen rein zufallsbedingt sind und auf externe Einwirkungen zurückgeführt werden müssen: „Der gesellschaftliche Wandel erscheint dementsprechend als eine gleichsam zufällige, von außen herangetragene Störungserscheinung eines normalerweise wohl ausbalancierten gesellschaftlichen Systems.“ 111 In einer Anspielung auf Parsonsʼ Hauptwerk The Social System behauptet Elias, Parsons müsse sozialen Wandel als eine Ausnahme behandeln, „als etwas, das zu den Problemen des normalerweise unveränderlichen Systems noch hinzukommt“. 112 Als Alternative zu dieser statischen Syste- 109 N. Elias, „Einleitung“, in: ders., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt, Suhrkamp, 1990 (15. Aufl.), S. XVII. 110 Ibid., S. XX. 111 Ibid. 112 Ibid., S. XXII. <?page no="546"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 530 matik schlägt Elias seine eigene Theorie der Figuration vor, die, wie sich gezeigt hat, ein sich ständig wandelndes dynamisches Interdependenzverhältnis von Individuen und Gruppen zum Gegenstand hat und den Gesellschaftsprozess aus dessen Dynamik ableitet. Diese Dynamik der Figuration als Interdependenz vermisst Elias bei Parsons, dessen Theorie der Interpenetration ihm als eine Hilfskonstruktion erscheint, deren Aufgabe darin besteht, das Individuum als isolierte Einheit, als homo clausus mit der Gesellschaft und ihren Systemen zu vermitteln. Aus Eliasʼ Sicht ist dieser Vermittlungsversuch zum Scheitern verurteilt, weil letztlich Einzelperson und Sozialsystem zwei „verschiedene Wesenheiten“ bleiben: „Wie man sich auch eine solche ‚gegenseitige Durchdringung‘ vorstellen mag, was kann diese Metapher anderes bedeuten, als daß es sich hier um zwei verschiedene Wesenheiten handelt, die zunächst getrennt existieren und die sich dann gewissermaßen nachträglich ‚interpenetrieren‘? “ 113 Elias meint, in der „Interpenetration“ einen Aspekt der systemischen Statik zu erkennen, die darin besteht, dass Parsons die Gesellschaft als System in isolierte Einheiten zerlegt, die er anschließend aufeinander bezieht, ohne die Dynamik wahrzunehmen, die diese Beziehung als „Interdependenz“ im Sinne von Elias auslöst. „Interdependenz“ oder „Interpenetration“? Elias deutet bereits an, dass es sich hier um Metaphorik handelt - und diese ist stets mit Vieldeutigkeit befrachtet. Allerdings könnte man in seinem Sinn argumentieren, dass „Interdependenz“ - wie Simmels „Wechselbeziehung“ - für Dynamik und Prozesshaftigkeit steht, während „Interpenetration“ Kommunikation zwischen Systemen ermöglichen und das Gesellschaftssystem als ganzes stabilisieren, in einen Zustand des permanenten Gleichgewichts versetzen soll. Man kann jedoch nicht ohne weiteres mit Elias behaupten, dass der Begriff „Interpenetration“ gleichsam nachträglich isolierte Einheiten miteinander vermittelt. Denn Parsonsʼ (und Balesʼ) Analysen der Familie und der Sozialisation zeigen recht deutlich, dass die Verinnerlichung oder Internalisierung von Werten und Normen (d.h. die Interpenetration von Individuum und Institution) ein Prozess ist. Er beginnt mit der Geburt eines Kindes, das von Anfang an Familien- und Gesellschaftsnormen aufnimmt, so dass das erwachsene Individuum aus einem Sozialisationsprozess hervorgeht, der ihm in keinem Stadium seiner Entwicklung äußerlich ist. Von einem homo clausus kann in diesem Fall daher nicht die Rede sein. Parsons und Bales sprechen von einem „Prozess“: „process of socialization in a nuclear family“. 114 Interpenetration als Sozialisierung, könnten sie einwenden, ist alles andere als statisch. Denn sie bezeichnet eine Entwicklung, 113 Ibid., S. XIX. 114 T. Parsons, R. F. Bales, Family Socialization and Interaction Process, op. cit., S. 17. <?page no="547"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 531 die im frühesten Kindesalter einsetzt, unbewusst ist und keineswegs als Zusammenführung isolierter Einheiten (von Individuen und Institutionen oder Systemen) aufgefasst werden kann. Hier setzt Parsonsʼ mögliche Replik ein. Die Tatsache, dass er sich vor allem in The Social System für eine systematische und synchorne (nichthistorische) Darstellung der Gesellschaft ausspricht, bedeutet nicht, dass er die soziale Evolution nicht wahrnimmt oder ausblendet. Sein Buch Societies (1966), das den Untertitel trägt: Evolutionary and Comparative Perspectives, und die soziologisch-historische Studie The System of Modern Societies (1971) sind alles andere als statische Darstellungen. In ihnen fällt, wie schon in Spencers Evolutionstheorie, dem dynamischen Differenzierungsbegriff eine zentrale Rolle zu. Dies deutet bereits ein Untertitel im fünften Kapitel von Das System moderner Gesellschaften (The System of Modern Societies) an: „Die Differenzierung Europas im Zeitalter der Revolutionen“. Das Kapitel selbst beginnt mit der schon erwähnten Feststellung, dass die Gegenreformation versuchte, den Differenzierungsprozess „einzufrieren“. 115 Ausgespart werden weder Widersprüche noch die aus ihnen hervorgehenden Umwälzungen der Gesamtgesellschaft. Parsons beschreibt die Entfaltung der „freien Städte“ und des Bürgertums in England und Frankreich und stellt fest: „Keine dieser Formen struktureller Differenzierung war mit einer vorwiegend feudalen Organisation vereinbar.“ 116 Hier wird auf fast hegelianisch-marxistische Art im Zusammenhang mit der Differenzierung auf einen Widerspruch hingewiesen, der als Interessengegensatz und Konflikt den sozialen Prozess vorantreibt. Etwas weiter wird dieser Gedankengang fortgesetzt, und den folgenden Satz, der sich wieder auf England und Frankreich bezieht, könnte man auch in Eliasʼ Werk Über den Prozeß der Zivilisation finden: „Tatsächlich stellten die Verbindungen zwischen Königen und Bourgeoisie, vor allem der großen Städte, unter bestimmten Umständen sehr wichtige Gegengewichte zum Landadel dar, besonders als nach-feudale Bedingungen entstanden.“ 117 Diese Darstellung fügt sich problemlos in die Tradition der historischen Soziologie oder Sozialgeschichte ein. Elias könnte freilich einwenden, dass er Parsons’ The System of Modern Societies (1971) in seiner Kritik nicht berücksichtigen konnte, weil das Buch nach der Entstehung seiner „Einleitung“ zur zweiten Auflage von Über den Prozeß der Zivilisation (1969) erschien. Immerhin hätte er aber Societies (1966), eine Studie, in der ebenfalls historische Prozesse im Zusammenhang mit der sozialen Differenzierung untersucht werden („Ein 115 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 93. 116 Ibid., S. 59. 117 Ibid., S. 61. <?page no="548"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 532 Paradigma der evolutionären Veränderung“ lautet ein Untertitel) 118 , zur Kenntnis nehmen können, zumal er den Anspruch auf eine globale Kritik an Parsonsʼ Soziologie erhob. Als Ergebnis dieser skizzenhaften Replik kann festgehalten werden, dass Parsonsʼ Soziologie keineswegs unhistorisch oder statisch ist. Nicht zufällig wurde sie hier mit Hegels Philosophie verglichen. Der Vergleich ließ aber - neben der historischen - noch eine andere Affinität erkennen: die Aufhebung aller systemsprengenden Widersprüche in der (preußischen) Staatsgesellschaft. Wie Hegel lässt auch Parsons den von Widersprüchen angetriebenen sozio-historischen Prozess in ein von Statik geprägtes zeitgenössisches Gesellschaftssystem münden: in das amerikanische. Von ihm könnte er sagen, was Hegel am Ende seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sagt: „Wenn das Objektive an sich vernünftig ist, so muß die Einsicht dieser Vernunft entsprechend sein, und dann ist auch das wesentliche Moment der subjektiven Freiheit vorhanden.“ 119 Die amerikanische Demokratie ist im Vergleich zu den gescheiterten faschistischen Diktaturen und zur Sowjetunion vernünftig, könnte Parsons, Hegel paraphrasierend, feststellen, und das Individuum, das in Übereinstimmung mit dem Wertsystem dieser Demokratie handelt, ist auch frei. Strukturell stimmt dieses Argument teilweise mit Hegels Apologie des preußischen Staates überein. In beiden Fällen läuft die Argumentation auf eine Festschreibung des Bestehenden hinaus. An dieser Stelle hakt Elias mit seiner Ideologiekritik an Parsons ein. Wie die zahlreichen Hegel-Kritiker, die Hegel vorwerfen, seine Gesellschaft idealistisch zu verbrämen, wirft Elias Parsons vor, das „Idealbild einer Nation“ 120 zu konstruieren und die „Unterscheidung zwischen dem, was eine Nation ist, und dem, was die Nation sein soll“ 121 , verschwimmen zu lassen. Er kommt wieder auf den Unterschied zwischen den Soziologien des 19. Jahrhunderts und den Systemtheorien des 20. Jahrhunderts zu sprechen und stellt fest: „Aber im ersteren Fall ist es die Zukunft, im letzteren die Gegenwart, die hier und jetzt bestehende nationalstaatliche Ordnung, die man idealisiert.“ 122 Er selbst nimmt sich vor, „das Studium der Gesellschaft aus der Knechtschaft der gesellschaftlichen Ideologien zu befreien“. 123 Im vorigen Kapitel wurde jedoch klar, dass auch Eliasʼ Denken von den Hoffnungen einer humanistischen Ideologie getragen wird, die sich vom 118 T. Parsons, Gesellschaften, op. cit., S. 39. 119 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, op. cit., S. 540. 120 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, op. cit., S. XL. 121 Ibid. 122 Ibid., S. XLI. 123 Ibid., S. XLIII. Siehe auch: N. Elias, „Über den Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart (II)“, in: ders., Aufsätze und andere Schriften III, Gesammelte Schriften, Bd. XVI (Hrsg. H. Hammer), Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 299-300. <?page no="549"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 533 Zivilisationsprozess eine menschlichere Gesellschaft verspricht. Solche Hoffnungen sind legitim, zumal sie dazu beitragen, dass ein Autor wie Elias den Zivilisationsbegriff mit neuen Bedeutungen anreichert. Dass dieser Begriff nicht „wertfrei“ oder ideologisch neutral ist, haben indessen die verschiedenen Kritiken an Elias gezeigt. Von dieser Warte aus wäre auch das Verhältnis von Ideologie und Theorie in Parsonsʼ Soziologie zu betrachten: Die Theorie enthält sicherlich eine Apologie der amerikanischen Verhältnisse der Nachkriegszeit. Sie hat aber mit ihrer nuancierten Terminologie ebenfalls die Soziologie bereichert und entwickelt. Davon zeugen Begriffe wie „System“, „Funktion“, „Interpenetration“, „Status“, „Rolle“ und „Rollenkonflikt“, die nicht (wieder aus rein ideologischen Gründen) zurückgewiesen werden sollten. Die Ideologie als (feministisches, liberales, konservatives) Wertsystem versorgt die Theorie mit Engagement im Sinne von Elias und ist daher unentbehrlich. Auch die Kritische Theorie, die hier vertreten wird, geht von Wertungen wie „individuelle Autonomie“, „Gesellschaftskritik“ und „Emanzipation“ aus. Die Ideologie im kritischen Sinne, die Ideologie als dualistisch strukturierter Monolog, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert, kann noch am ehesten in einem dialogischen Ansatz vermieden werden, der stets auch die Gegenseite zu Wort kommen lässt oder sie zumindest berücksichtigt, ohne dem Relativismus nachzugeben. Hier gilt Adornos schon erwähnte Definition der Dialektik: „gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben“. 124 In dieser Definition ist dialogisches Denken angelegt, das allen Beteiligten Gelegenheit gibt, sich selbst mit Engagement auf die Suche nach Wahrheitsmomenten zu begeben. 6. Alvin W. Gouldners Kritik an Parsons: Parsons ʼ Replik Nach der Veröffentlichung von Parsonsʼ The Social System (1951) wurde seine Soziologie sowohl in den USA als auch international diskutiert, so dass es sinnvoll erscheint, Alvin Gouldners Kritik (1970) im Kontext der damaligen Auseinandersetzungen zu betrachten, an die Gouldner zum Teil anknüpft. Es ist möglich, etwas schematisch drei Kritikpunkte zu unterscheiden: 1. Vernachlässigung von Konflikt und sozialer Dynamik; 2. Überbetonung von Sozialisation und Konsens; 3. Entwurf einer zur Statik tendieren konservativen Utopie ohne individuellen und kollektiven Handlungsspielraum. Alle drei Punkte wurden hier bereits angesprochen; es lohnt sich aber, sie im Zusammenhang mit den spezifischen Argumenten einzelner Autoren noch einmal zu betrachten. 124 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 142. <?page no="550"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 534 Zum ersten Punkt äußerte sich schon im Jahre 1956 Lewis Coser in seinem Buch The Function of Social Conflict, in dem er im Anschluss an Georg Simmel den produktiven Aspekt von Konflikten betont. Wie ein Gewitter kann der Konflikt innerhalb einer Gruppe die Atmosphäre klären und zur Stabilisierung der sozialen Beziehungen beitragen: „Der Konflikt innerhalb von einer Gruppe (…) kann dazu beitragen, dass Einheit hergestellt wird oder dass Einheit und Zusammenhalt wiederhergestellt werden, wo sie durch feindselige und antagonistische Gefühle der Mitglieder bedroht wurden.“ 125 Dies kann als eine Reaktion auf Parsonsʼ Deviance-Kapitel (VII) in The Social System gelesen werden, wo abweichendes Verhalten oder deviance etwas einseitig als „disturbance of the equilibrium of the interactive system“ 126 aufgefasst wird. Parsons ist freilich - wie Hegel - klar, dass das System in der Lage ist, Negativität ins Positive zu wenden, so dass Konflikt durchaus im Sinne von Coser funktional erklärt und sogar bejaht werden kann. Es ist übrigens nicht ganz richtig, wie Coser und andere Kritiker (etwa Gouldner) suggerieren, dass Parsons abweichendes Verhalten, Konflikt und Pathologie ausschließlich aus integrativer Sicht betrachtet und die systemsprengende Wirkung sozialer Pathologien übersieht. Dazu heißt es recht eindeutig und nuanciert in The Social System: „Eine Gesellschaft, die ein hohes Maß an ‚Desorganisation‘ und ‚Pathologie‘ aufweist, ist mit Sicherheit der Preis, der für dynamische Offenheit in Bezug auf ständigen Wandel zu entrichten ist. Die Balance zwischen Flexibilität und Desorganisation ist delikat.“ 127 Dieser Text wäre auch als Replik auf Eliasʼ Vorwurf zu lesen, Parsonsʼ Soziologie sei der „Statik“ verpflichtet. Den zweiten Kritikpunkt, den Dennis Wrong zum Hauptthema seines Artikels „The Oversocialized Conception of Man“ (1961) macht, fasst Neil J. Smelser zusammen. Dennis Wrong, so Smelser, „kritisierte Parsons als kulturellen und/ oder sozialstrukturellen Deterministen, der den individuellen Akteur als einen durch Normen, Werte und Institutionen der sozialen Kontrolle ‚übersozialisierten‘ begreift“. 128 Diese Kritik wurde im vorigen Abschnitt weitgehend bestätigt. Dazu heißt es im letzten Kapitel von The Social System, die Kulturmuster oder cultural patterns seien durch das „Persönlichkeitssystem internalisiert“ („internalized in the personality system“). 129 Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigen nicht nur rebellische 125 L. A. Coser, The Functions of Social Conflict, Glencoe (Ill.), The Free Press, 1956, S. 151. 126 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 250. 127 Ibid., S. 309. 128 N. J. Smelser, „Die Beharrlichkeit des Positivismus in der amerikanischen Soziologie“, in: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 38, Nr. 1, 1986, S. 141. 129 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 551. <?page no="551"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 535 Avantgarden und Randgruppen der Gesellschaft, sondern auch einflussreiche Politiker, die den von Parsons vorausgesetzten Wertekonsens immer öfter offen negieren. Den dritten Kritikpunkt spricht vor allem Ralf Dahrendorf an, wenn er Parsonsʼ System mit den repressiven Utopien Platos und Marxʼ sowie mit George Orwells Nineteen Eighty-four und Aldous Huxleys Brave New World vergleicht, die alle zur Statik neigen: „Durch keine Meisterleistung der Phantasie, nicht einmal durch die Residualkategorie der ‚Dysfunktion‘ kann das integrierte und im Gleichgewicht verharrende System dazu gebracht werden, ernste und anhaltende Konflikte in seiner Struktur zu produzieren.“ 130 Diese Einschätzung wird von dem weiter oben zitierten Satz aus The Social System relativiert, in dem von einer „dynamischen Offenheit in Bezug auf ständigen Wandel“ die Rede ist. Sie trifft insofern zu, als Parsons das hier im dritten Abschnitt erwähnte Zerstörungspotenzial des Wirtschaftssystems nicht wahrnimmt, das die anderen Systeme - „Kultur“ und „Gesellschaft“ - permanent zersetzt. Dahrendorfs Konservatismus-Vorwurf wird durch Parsonsʼ Konsensideologie und seine Theorie der Steuerung individueller und kollektiver Aktanten durch „Kultur“ und „Gesellschaft“ größtenteils bestätigt. Dieser Vorwurf findet sich in abgewandelter Form auch bei dem amerikanischen Soziologen Alvin W. Gouldner (1920-1980), der von Marx, der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und C. Wright Mills beeinflusst wurde. In mancher Hinsicht knüpft er an Millsʼ Parsons-Kritik an, wenn er einen von Millsʼ Grundgedanken in The Sociological Imagination (1959) aufgreift: dass Parsonsʼ Wertsystem, an dem sich Akteure orientieren, von den Ideen und Wertsetzungen der Herrschenden abgekoppelt und hypostasiert wird. 131 Ausgehend von Marxʼ Kritik an Hegel, stellt Mills im Zusammenhang mit Parsons fest: „So werden die ‚Ideen‘, nicht die Schichten oder Personen, die diese Ideen verwenden, als herrschend aufgefasst.“ 132 Gouldner geht wohl zu Recht davon aus, dass sich Parsons als Marx-Kenner (wie Max Weber) vornahm, eine groß angelegte Antwort auf Marx zu konzipieren, indem er das herrschende Ideensystem von den Herrschenden als „Kultursystem“ ablöste. In seinem zweibändigen Werk The Coming 130 R. Dahrendorf, „Out of Utopia: Toward a Reorientation of Sociological Analysis“, in: L. A. Coser, B. Rosenberg, Sociological Theory. A Book of Readings, New York-Toronto, Collier-Macmillan (1957), 1966, S. 216. 131 Zur Kontroverse zwischen C. Wright Mills und Parsons vgl. U. Gerhardt, The Social Thought of Talcott Parsons. Methodology and American Ethos, London-New York, Routledge, 2011, Kap. V: „Beyond Sociological Imagination: The Controversy with C. Wright Mills“. 132 C. W. Mills, The Sociological Imagination (1959), Harmondsworth, Penguin, 1980, S. 47. <?page no="552"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 536 Crisis of Western Sociology (1970, dt. Die westliche Soziologie in der Krise, 1974) heißt es dazu unmissverständlich: „Um die volle kulturelle Bedeutung von Parsonsʼ Werk zu begreifen, muß man es in einigen seiner Teile als eine amerikanische Antwort auf den Marxismus verstehen.“ 133 In seinem ausführlichen Kommentar zu Parsons (S. 210-410) und zum amerikanischen Funktionalismus entwirft Gouldner eine kritische Replik auf diese Antwort. Seinen Ausgangspunkt bildet die Welt von Harvard, in der Parsons als Dozent und Wissenschaftler sozialisiert wurde (und nicht wie hier Parsonsʼ internationale Erfahrungen). Gouldner behauptet zunächst, Parsons habe die soziale Welt von der Warte des von der Gesellschaft abgeschirmten Campus aus betrachtet und weder die sozialen Antagonismen noch die aus ihnen hervorgehenden Konflikte wahrgenommen. In seinem Kommentar zu dem von Parsons herausgegebenen Band American Sociology (1968) 134 dominiert Polemik: „Der Tenor dieses Bandes, veröffentlicht mitten im Vietnamkrieg, geschrieben in einer Zeit, als die Feindseligkeiten zwischen Schwarzen und Weißen in den amerikanischen Städten von Sommer zu Sommer Höhepunkte der Gewalt und des Aufruhrs erreichten, ist der einer Stimmung zufriedener Selbstbeweihräucherung.“ 135 Es geht hier nicht nur um Parsons, sondern, wie der Titel von Gouldners Buch andeutet, um die gesamte amerikanische Soziologie der 1960er Jahre. Gouldner ändert und konkretisiert später seine Argumentation mit der Zusatzhypothese, dass Parsons das wachsende Konfliktpotenzial der amerikanischen Gesellschaft zwar wahrnimmt, diese Gesellschaft jedoch aus der Sicht des Establishment, der Herrschenden betrachtet. Der Fokalisator seiner Erzählung, könnte man erzähltheoretisch ergänzen, sind nicht die Beherrschten, sondern die Herrschenden: „Er antwortet weniger auf das Leiden der Menschen als auf die sich daraus ergebende Bedrohung der etablierten Kultur; in dieser Hinsicht ist The Structure [gemeint ist: The Structure of Social Action, 1937] eine konservative Reaktion auf eine gesellschaftliche Krise.“ 136 Diese „konservative Reaktion“ liefert eine Erklärung für Parsonsʼ Konsensideologie, deren Grundlage die gemeinsamen Werte und Wertorientierungen bilden, die soziales Handeln motivieren und das Gesellschaftssystem als Kultursystem zusammenhalten. Abermals fällt Relevanzkriterien, die bewirken, dass bestimmte Fragen im Vordergrund stehen, während 133 A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, Reinbek, Rowohlt, 1974, S. 221. 134 Vgl. T. Parsons (Hrsg.), American Sociology, New York, Basic Books, 1968. 135 A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, op. cit., S. 64. 136 Ibid., S. 245. <?page no="553"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 537 andere ausgeklammert werden, eine entscheidende Rolle zu. Bei Parsons, bemerkt Gouldner, wird die Frage nach der „Selbsterhaltung des Systems“ in den Mittelpunkt gerückt: „Der Hauptakzent liegt also auf der Frage, wie sich das System selbst erhält; es besitzt keine Widersprüche, sondern nur gelegentliche Spannungs- oder ‚Stör‘-Faktoren von eher marginaler Bedeutung.“ 137 Hier wird deutlich, wie wichtig Relevanzentscheidungen und Selektionen als diskursive Grundlagen sind: Werden die Widersprüche, Antagonismen und Konflikte einer Gesellschaft hervorgehoben (für relevant erklärt) entsteht ein ganz anderes Bild, als wenn ihre stabilisierenden Faktoren und Kontinuitäten in den Vordergrund treten. Über Relevanz, Selektion und Definition entscheidet aber das ideologisch engagierte Subjekt. In der Auseinandersetzung zwischen Gouldner und Parsons prallen nicht nur zwei Theorien, sondern auch zwei Ideologien als theoretische Engagements aufeinander. Während sich Parsons für amerikanische Marktwirtschaft und Demokratie engagiert, engagiert sich Gouldner gegen den amerikanischen Kapitalismus und die ihn verwaltende power elite (im Sinne von Mills). Ihm und den eingangs erwähnten Kritikern wird man wohl Recht geben müssen, wenn sie Parsons eine einseitige Deutung des Machtfaktors vorwerfen. Parsons, erklärt Gouldner, vernachlässigt das Machtproblem keineswegs, schränkt jedoch Macht auf „das ‚institutionalisierte Machtsystem‘“ 138 ein, d.h. auf ein „politisches System“, das sich für die Zielerreichung (goal attainment) der Gesamtgesellschaft einsetzt. Übergangen wird dabei - wie bei Hegel - die massive Präsenz partikularer Gruppeninteressen, die Macht auf legale (durch Beeinflussung der Gesetzgebung) oder illegale Art usurpieren: „Parsons geht es also primär um moralisch sanktionierte Macht und ganz und gar nicht um die Art von Macht, wie sie bislang von den meisten Politikwissenschaftlern und Soziologen üblicherweise verstanden worden ist.“ 139 Es geht hier - wie schon bei Mills - um die Frage nach dem sich ändernden Machtkomplex, der aus der Interaktion wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gruppierungen hervorgeht und als Machtelite auftritt (vgl. Kap. VIII. 4). Dieser Machtkomplex ist nicht mit dem identisch, was Parsons scheinbar wertfrei als political system bezeichnet. Denn nicht dieses soziale Teilsystem hat seinerzeit den Vietnamkrieg als goal attainment im Interesse der amerikanischen Gesamtgesellschaft ausgelöst, sondern partikulare Interessen verfolgende Gruppen, die zudem unzureichend informiert waren. 137 Ibid., S. 285. 138 Ibid., S. 354. 139 Ibid. <?page no="554"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 538 Dies bedeutet, dass Parsons wie Hegel das Partikulare ins Universelle sublimiert und sich über den partikularen Charakter der Zielerreichungen hinwegsetzt. Im Zusammenhang mit seiner Soziologie könnte man wiederholen, was der junge Marx über Hegels Staatsphilosophie schrieb: „Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, bewegt sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit (…).“ 140 Für diese „unvernünftige Wirklichkeit“ steht im amerikanischen Kontext der Vietnam-Krieg, von dem niemand wird behaupten können, er sei im Interesse der gesamten amerikanischen Gesellschaft (oder der Bevölkerungsmehrheit) geführt worden. Es ist jedoch nicht ganz richtig, dass Parsons den partikularen Charakter bestimmter gesellschaftlicher Interessen nie zur Sprache bringt. Gouldner weist darauf hin, dass er die Dominanz der Wirtschaftsinteressen hervorhebt und zitiert Parsonsʼ Satz aus Structure and Process in Modern Societies „Es ist nicht möglich, das amerikanische Volk gegen die Führer der Welt des Business zu führen (…).“ Gouldner kommentiert: „Parsons begreift die Wirtschaftselite im wesentlichen so, daß sie in der amerikanischen Gesellschaft die Macht hat, ein Veto einzulegen.“ 141 Hiermit kehrt die Argumentation zurück zu Hermann Brochs Systemkritik, die in Gouldners Darstellung korrigiert und konkretisiert wird: Nicht das Wirtschaftssystem als abstrakte Einheit unterwirft sich die anderen Bereiche, sondern die Machteliten, die das Wirtschaftssystem beherrschen und ihre Herrschaft auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen. Sie sind nicht so sehr an einem universellen, gesamtgesellschaftlichen, sondern viel eher an ihrem partikularen goal attainment interessiert - und ihre Interessen orientieren sich primär an Macht und Geld und an kulturellen Werten nur insofern, als sie diese Interessen decken. Diese These, die C. Wright Mills und Gouldner gemeinsam ist, wird von Talcott Parsons grundsätzlich in Frage gestellt. Sein Argument ist relativ einfach: Er bestreitet die Existenz einer power elite im Sinne von Mills und suggeriert, dass Macht in der Regel, die von Ausnahmen nur bestätigt wird, im Interesse der Gesamtgesellschaft ausgeübt wird. Den Begriff „Machtelite“ verwendet er nur mit Anführungszeichen: „(…) Bei C. Wright Mills wird nun eine ‚Machtelite‘ für die meisten sozialen Übel verantwortlich gemacht. Die Mitglieder der ‚Machtelite‘ werden weniger als Amtsinhaber denn als finstere Drahtzieher hinter den Kulissen defi- 140 K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 74. 141 A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, op. cit., S. 388. <?page no="555"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 539 niert.“ 142 Die parodistischen Konnotationen des Ausdrucks „finstere Drahtzieher“ deuten bereits an, dass Parsons Millsʼ Machttheorie in den mythischen Bereich der Verschwörungsideologien relegiert: „Nun sind ideologische Komplexe mit paranoiden Themen in der Tat sehr alt, dennoch erhebt sich die Frage, was hinter diesem ganz besonderen steckt.“ 143 Parsons gelangt zu der Einsicht, dass so gut wie gar nichts dahinter steckt, denn: „In bezug auf Macht und Autorität ist die Gesellschaft heute stärker dezentralisiert statt konzentriert und hat einen stärkeren Vereinigungscharakter bekommen.“ 144 So entsteht das Bild einer pluralistischen Gesellschaft ohne „finstere Drahtzieher“, in der das politische System für ein goal attainment im Interesse der Gesamtgesellschaft sorgt. Für die Existenz oder Nichtexistenz von Eliten oder Machteliten gibt es in der Soziologie keinen Lackmustest, der in der Chemie eindeutig Säuren oder Laugen nachweist. Allerdings bleibt vor diesem Hintergrund die Frage unbeantwortet, warum amerikanische Regierungen einen langwierigen, verlustreichen und letztlich (auch für die USA) katastrophalen Krieg gegen Vietnam führen konnten, der nur bei einer abenteuerlichen Überdehnung der Fantasie als „im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegend“ gedeutet werden kann. Auf dieser Ebene kann man mit James J. Chriss versuchen, Gouldners Kritik an Parsons im Zusammenhang mit der Friedensbewegung, den antikapitalistischen Protesten der 1960er Jahre und der „psychedelischen“ Jugendkultur dieser Zeit zu verstehen. Im Gegensatz zu Gouldner glaubt Parsons nicht, dass diese Bewegungen und Proteste eine bevorstehende Umwälzung der etablierten Verhältnisse und eine Zerstörung der protestantischen Berufsethik ankündigen. Chriss fasst Parsonsʼ Standpunkt in einem Satz zusammen: „Parsonsʼ Kernargument ist, dass trotz des extremen Antiutilitarismus der Anhänger einer psychedelischen Kultur der protestantische Arbeitsethos sicherlich nicht tot ist.“ 145 In dieser Hinsicht hat Parsons zweifellos Recht, weil (wie sich im zwölften Kapitel gezeigt hat) kapitalistische Produktivität vom Streben nach Selbstverwirklichung, von Freizeit, Kultur und Konsum lebt. Dieser Nexus von Produktivität und Konsum sorgt dafür, dass das System nicht untergeht, weil die Proteste lediglich „disturbances in certain pockets of society” 146 bewirken, wie Chriss sagt. Damit ist jedoch Gouldners Pole- 142 T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, op. cit., S. 148. 143 Ibid. 144 Ibid. 145 J. J. Chriss, „Gouldner, Parsons, and the New Left“, in: ders., Alvin W. Gouldner: Sociologist and Outlaw Marxist, Aldershot-Brookfield, Ashgate, 1999, S. 117. 146 Ibid. <?page no="556"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 540 mik gegen Parsonsʼ System als ideologische Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen keineswegs widerlegt - im Gegenteil. Der Parsonianer Richard Münch bricht eine Lanze für Parsonsʼ Systemtheorie, wenn er feststellt: „Es gibt in der Soziologie bis heute keine vergleichbare Theorie, die ein ähnlich breites und tiefes Verständnis gerade von Wandel, Konflikt, Macht, Herrschaft und anderen von einer ‚kritischen‘ Soziologie bevorzugten Gegenstandsbereichen vermittelt hätte, wie Parsonsʼ Theorie des Handelns.“ 147 Allgemeine Behauptungen dieser Art sind schwer zu widerlegen; allenfalls kann ihre Reichweite eingegrenzt werden. Im Zusammenhang mit Eliasʼ Kritik an Parsons hat sich gezeigt, dass Parsonsʼ Theorie keineswegs unhistorisch ist, weil gesellschaftlicher Wandel zu ihren Hauptthemen gehört. Insofern ist Münch Recht zu geben. „Konflikt“ wird von Parsons zwar immer wieder zur Sprache gebracht, in den meisten Fällen aber auf eine „Systemstörung“ reduziert und nicht als systemsprengender, zukunftsweisender Widerspruch oder Antagonismus aufgefasst. Er wird vor allem nicht zur Herrschaft im Sinne der Kritischen Theorie in Beziehung gesetzt, zumal Herrschaft (domination, dominance) in The Social System vorwiegend auf individueller Ebene („domination through love“, „dominant role within the group“) 148 behandelt wird. Auch Macht und Geld werden eher als Kommunikationsmittel denn als Herrschaftsinstrumente aufgefasst. Für Parsonsʼ Soziologie spricht eher der Gedanke, dass es in vielen Fällen nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig erscheinen mag, eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit darzustellen, um (in Goethes Worten) zu erfahren, „was die [soziale] Welt im Innersten zusammenhält“ - und nicht sprengt oder zerfallen lässt. Schließlich möchten wir wissen, wie es kommt, dass wir unserer Alltagsroutine folgen und uns darauf verlassen können, dass von der Post über die Bank bis zum Standesamt alles mehr oder weniger funktioniert, so dass es einen berechenbaren Alltag ohne destruktive Antagonismen und lebensbedrohende Konflikte gibt. Kurzum, Parsons antwortet auf die Frage, warum und wie Gesellschaft funktioniert - und nicht zerfällt. Diese Frage ist ebenso legitim wie die analoge Frage des Sprachwissenschaftlers und Systemtheoretikers Saussure: Warum und wie funktioniert Sprache? Auch Saussure wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, sein System sei unhistorisch. Es ist jedoch durchaus sinnvoll, eine synchrone, systematische Linguistik zu entwickeln, die Einsichten in die Sprache als System von Funktionen, von Gegensätzen und Differenzen (etwa zwischen stimmhaftem und stimmlosem „s“, zwischen langen und kurzen Vokalen: etwa „Sucht“ und „sucht“) vermittelt. Dass sich Sprache und Gesellschaft ändern, 147 R. Münch, Theorie des Handelns, op. cit., S. 230-231. 148 T. Parsons, The Social System, op. cit., S. 263 und S. 284. <?page no="557"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 541 war sowohl Saussure als auch Parsons klar. Sie wollten sich aber einen systematischen Zugang zu Sprache und Gesellschaft verschaffen, um über Theorien hinauszugelangen, die nur einzelne Aspekte des Systems (in der Soziologie: Kapital / Arbeit, Arbeitsteilung / Solidarität, Gemeinschaft / Gesellschaft usw.) zum Gegenstand hatten. Man meint Saussure zu lesen, wenn es in The Structure of Social Action im Zusammenhang mit der Sprache heißt: „Das einzige intrinsische Element, das Symbolen und ihren Bedeutungen gemeinsam ist, ist die Ordnung. Und diese kann niemals durch eine isolierte Untersuchung besonderer Symbole erfasst werden, sondern nur über ihre Beziehungen in Systemen.“ 149 Im linguistischen Kontext bedeutet dies, dass ein Wort wie „Anhöhe“ nur kontrastiv zu Wörtern wie „Hügel“ und „Berg“ (also in Beziehungen) bedeutet; analog dazu kann im soziologischen Bereich „Rolle“ nur im Zusammenhang mit sozialer „Differenzierung“ und sozialem „Status“ verstanden und erklärt werden. Sowohl Saussure als auch Parsons haben wesentlich zu einem besseren Verständnis von Sprache und Gesellschaft beigetragen. Mit seinen Untersuchungen über das Verhältnis von Handlung und System, Wert und Norm, Status und Rolle brachte Parsons soziale Bereiche ans Licht, die früher im Dunkeln lagen. Im Zusammenhang mit der „doppelten Kontingenz“ hat sich gezeigt, dass scheinbar abstrakte Begriffe konkrete soziale Situationen und Prozesse beschreiben und erklären. Parsonsʼ System erschöpft sich nicht in obskuren Abstraktionen, wie Gouldner suggeriert 150 , sondern reicht weit ins Konkrete hinein und bietet Erklärungen für mikrosoziologische Vorgänge wie Sozialisation, Internalisierung von Normen und Rollenkonflikt. Dennoch ist sein systematischer Zugang nicht unproblematisch. 7. Herrschaft, System, Monolog: Epilog und Ausblick Wer ein System entwirft, der erhebt implizit oder explizit den Anspruch auf totale Erkenntnis. Wer im Rahmen des Herrschaftsprinzips totale Erkenntnis anstrebt, behauptet, nichts Wesentliches auszulassen und eine „realistische“ Theorie zu konzipieren, die der Wirklichkeit weitgehend entspricht, mit ihr identisch ist. Dadurch entsteht ein Monolog, der Gegendarstellungen oder Alternativkonstruktionen dieser Wirklichkeit prinzipiell ausschließt. Dies bedeutet, in einem Satz zusammengefasst, dass System, Identitätsanspruch und Monolog aufs Engste zusammenhängen. Systemdenken schließt Dialogizität grundsätzlich aus, weil es im Dialog zugeben müsste, nicht alles erfasst zu haben - also kein System zu sein. 149 T. Parsons, The Structure of Social Action, op. cit., S. 484. 150 Vgl. A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, S. 212 und S. 259. <?page no="558"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 542 Hegel macht aus der Geschlossenheit seines philosophischen Systems und aus dem Ausschluss von Gegenstimmen kein Hehl. So heißt es beispielsweise in seiner Phänomenologie des Geistes zum Verhältnis eines philosophischen Werks zu anderen Werken und deren Alternativkonstruktionen: „So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu anderen Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges Interesse hereingezogen und das, worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt, verdunkelt.“ 151 Es gilt also, alle „fremdartigen Interessen“ oder Gegenstimmen, alles Heterogene aus dem System auszuschließen, um dessen Homogenität zu wahren. Durch diesen Ausschluss alles „Fremdartigen“ entsteht eine geschlossene Totalität als „Wahrheit“. In diesem Sinne visiert auch Parsons ein System an, das als geschlossene und homogene Totalität konzipiert ist: als „logically closed system“. 152 In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer „logical closure“ 153 , die wie bei Hegel alle „fremdartigen Interessen“ ausschließt. Geschlossenheit und Homogenität sind zwei komplementäre Aspekte des Systems, weil nur der systemische Abschluss garantieren kann, das nichts „Fremdartiges“ eindringen kann, das die Homogenität in Heterogenität auflösen würde. Aus diesem Streben nach Geschlossenheit und Homogenität auf diskursiver Ebene ist Parsonsʼ Betonung der Integration auf gesellschaftlicher Ebene ableitbar. Integration (Integration = „Wiederherstellung eines Ganzen“, Duden) zielt sowohl auf Totalität als auch auf Homogenität. Zu dem „Fremdartigen“ innerhalb der Totalität gehören sowohl Widersprüche als auch Konflikte, die jedoch vorwiegend als systemimmanente Erscheinungen gedacht werden, welche die Homogenität und den Systembestand nicht grundsätzlich in Frage stellen. Aus dem Primat der Integration ergibt sich bei Parsons gleichsam von selbst das Insistieren auf dem sozialen Gleichgewicht und seiner Erhaltung: „In gewissem Sinn neigt ein soziales System zu einem ‚stabilen Gleichgewicht‘, zu einer dauerhaften Erhaltung seiner selbst als System und zur Bewahrung eines bestimmten, entweder statischen oder dynamischen strukturellen Musters. (…) Stabilität in diesem Sinn ist nur möglich, wenn es in hinreichendem Maß zu einer ‚Integration‘ der verschiedenen Systemkomponenten kommt, welche in diesem Fall die individuellen Aktoren sind.“ 154 151 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 12. 152 T. Parsons, The Structure of Social Action, Bd. II, op. cit., S. 727. 153 Ibid. 154 T. Parsons, Aktor, Situation und normative Muster, op. cit., S. 160. <?page no="559"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 543 Insgesamt zeigt sich, dass bei Parsons der systematische Diskurs, der nach Geschlossenheit und Homogenität strebt, eine Konstruktion der Gesellschaft entstehen lässt, die von Integration, Gleichgewicht und Konsens im Werte- und Normenbereich geprägt ist. Wie im diskursiven Bereich, wo vor allem in The Structure of Social Action andersartige Soziologien (Marshalls, Paretos, Durkheims und M. Webers) in das entstehende System integriert werden, herrscht im sozialen Bereich das Integrationsprinzip vor, das dafür sorgt, dass das destruktive Potenzial von Machtansprüchen, Widersprüchen und Konflikten als sekundär erscheint (es wird nicht übersehen). Abermals wird hier die Bedeutung von Relevanzkriterien für die theoretische Konstruktion deutlich: Sind Widerspruch, Dissonanz und Dissens relevant oder Einheit, Übereinstimmung und Konsens? In den meisten Gesellschaften lässt sich beiderlei beobachten. Entscheidend ist, wer beobachtet, die seinen Beobachtungen entsprechende Relevanz festlegt und anhand dieser Relevanz eine Theorie (als Diskurs und Erzählung) konstruiert. Vor dem amerikanischen Sezessionskrieg war kein Wertekonsens gegeben, und Desintegration war die Folge. Es ist nicht gesagt, dass der von Parsons beobachtete (von Mills und Gouldner als ideologische Schimäre kritisierte) Konsens anhält. Das Problem des theoretischen Systems besteht darin, dass es eine Momentaufnahme ist und aufgrund seiner Geschlossenheit einen Blick in die Zukunft eher erschwert. Die Beobachtung dessen, was auf uns zukommt, ermöglichen eher Theorien des sozialen Widerspruchs, denen aufgrund ihrer diskursiven Beschaffenheit Offenheit eigen ist. Diese Theorien hat Parsons - wie Hegel - als „fremdartige Interessen“ aus seinem diskursiven System monologisch ausgeschlossen. Konsequent hat er - wie Hegel - die Gesellschaft als vom Konsens getragenes, integriertes System im Gleichgewicht konstruiert. Sein hegelianischer Anspruch, eine realistische, allumfassende Darstellung der Gesellschaft vorgelegt zu haben, die mit der Wirklichkeit identisch ist, ist eine vom Herrschaftsprinzip durchwirkte Fantasie. Davon zeugen nicht nur die Kritiken an Parsons, sondern auch und vor allem neuere Systementwürfe, etwa die Systemsoziologie Luhmanns, die ähnliche, aber neuartige Totalitätsansprüche erheben und dadurch die Totalitätsansprüche ihrer Vorgänger relativieren. Ältere Systemtheorien erscheinen in diesem Kontext als das, was sie sind: als nur mögliche, kontingente Konstruktionen, die weit davon entfernt sind, alle Aspekte der sozialen Wirklichkeit (z.B. Polarisierung, Globalisierung und Digitalisierung) erfasst zu haben. Die soziale Evolution ist über sie hinweggegangen, hat sie relativiert. Dieser Tatsache versucht ein Soziologe wie Niklas Luhmann Rechnung zu tragen, indem er zeigt, ohne expressis verbis darauf hinzuweisen, dass Parsonsʼ Streben nach sys- <?page no="560"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 544 temischer Vollständigkeit illusorisch war, weil die sich beschleunigende soziale Evolution alle Systemschranken durchbricht. Im dialogischen Kontext können jedoch alle soziologischen Theorien als stets offene, unfertige, aber innovative Ansätze, die besondere Aspekte der Gesellschaft zutage treten lassen - bei Parsons: Differenzierung, doppelte Kontingenz, Sozialisierung, Status- und Rollenmuster -, aktualisiert werden. Eine dialogische Metatheorie lebt von dieser Aktualisierung, weil sie auch zeigen will, warum das Alte bisweilen aussagekräftiger ist als das Allerneueste. Sie will im kritischen Dialog das alte Wort neu beleben: von neuem frag-würdig machen. Zusammenfassung und Ausblick: Im Anschluss an Thomas Hobbes geht Talcott Parsons der Frage nach, wie Gesellschaft überhaupt möglich sei. Während sich Hobbes auf den Utilitarismus egoistischer Individuen beruft und einen Gesellschaftsvertrag vorschlägt, der alle Autorität einem allmächtigen Sovereign überträgt, der für Ordnung und Sicherheit sorgen soll, bringt Parsons im Anschluss an Durkheim soziale Werte und Normen ins Spiel, die jenseits von Utilitarismus, Egoismus und Rationalismus für Ordnung bürgen. In seinem ersten großen Werk The Structure of Social Action (1937) stellt er fest, dass so verschiedene Soziologen wie Pareto, Durkheim und Max Weber (zusammen mit dem Ökonomen Alfred Marshall) nichtrationale Beweggründe (Glaubenssätze, Vorurteile, Werte) für soziales Handeln verantwortlich machen und gelangt zu dem Schluss, dass soziales Handeln stets in Werte und Normen eingebettet ist. Daher sollte es nicht einzig im Hinblick auf Nutzen und Erfolg betrachtet werden. Aus seiner Sicht führt gesellschaftliche Entwicklung als Differenzierung und Modernisierung nicht zu einer uneingeschränkten Herrschaft von Ökonomismus, Utilitarismus und Rationalismus, sondern lässt ein Gesellschaftssystem entstehen (The Social System, 1951), in dem sich im Rahmen eines latent wirkenden Kultursystems (Latency) und im Prozess der sozialen Integration (Integration) das Verhaltenssystem der Individuen (Adaptation) und ihre Zielsetzungen (Goal attainment) an konsensfähigen und allgemein gültigen Werten und Normen orientieren. Vor diesem Hintergrund hat man Parsons einen Sozial- oder Kulturdeterminismus vorgeworfen. Er besteht darin, dass die Subsysteme „Gesellschaft“ und „Kultur“ stets als Auftraggeber der durch Status und Rollen vernetzten individuellen Subjekte fungieren, indem sie die für alles Handeln benötigten Modalitäten des „Wissens“, „Wollens“ und „Könnens“ liefern und dadurch die narrativen Programme der Handelnden festlegen. Parsons Entgegnung auf diesen Vorwurf lautet, dass er der Freiheit der Handelnden durchaus Rechnung trägt, indem er einen voluntaristischen Faktor einführt: die Zweckrationalität als Eigeninteresse. Der zweite Vorwurf (Elias) betrifft den ahistorischen, rein systematischen Charakter von Parsonsʼ <?page no="561"?> Parsons’ Grundlegung der Soziologie 545 Soziologie. Dieser Vorwurf lässt sich jedoch im Zusammenhang mit Parsonsʼ Arbeiten wie Societies. Evolutionary and Comparative Prespectives (1966) entkräften: Während die „Differenzierung“ als Auftraggeberin der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint und dabei die „Reformation“ als eines ihrer Subjekte beauftragt, fällt der „Entdifferenzierung“ die Rolle der Gegenauftraggeberin und der „Gegenreformation“ die Rolle des Antisubjekts zu. Parsons stellt nicht nur ein Gesellschaftssystem dar, sondern auch seine Entstehung im Rahmen einer Entwicklung von der „primitiven über die intermediäre zur modernen Gesellschaft“. Hingegen erscheint die Kritik, die Alvin W. Gouldner an seine Adresse richtet, vor allem im Lichte der neuesten Entwicklungen, als größtenteils gerechtfertigt: Gouldner wirft Parsons vor, er setze einen sozialen Wertekonsens voraus, den es angesichts der in der amerikanischen Gesellschaft herrschenden Widersprüche, Klassen- und Rassenantagonismen nicht mehr gibt. Insofern kann Parsonsʼ Systemdenken durchaus mit dem Hegelschen (auf das sich Parsons selbst beruft) verglichen werden, das in eine Apologie bestehender Verhältnisse im Königreich Preußen mündet und Parsonsʼ Apologie der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft vorwegnimmt. Im folgenden Kapitel wird sich zeigen, dass Parsonsʼ Ausrichtung der Soziologie auf einen umfassenden Wertekonsens von Luhmann einer grundsätzlichen Kritik ausgesetzt wird. <?page no="563"?> 547 XV. Differenzierung und Systembildung, Kommunikation und Autopoiesis: Niklas Luhmanns Parsons-Kritik und seine Umformulierung der Systemtheorie Inhaltsverzeichnis 1. Theoriebegriff: Die „Supertheorie“ zwischen Hegel, Husserl und dem Radikalen Konstruktivismus 2. Luhmanns Antwort auf Parsons: Abschied vom Wertekonsens 3. Von segmentärer und hierarchischer Gesellschaft zur Weltgesellschaft: Luhmanns Erzählung der Differenzierung als Evolution 4. Autopoiesis und Kommunikation, doppelte Kontingenz und Systembildung: System und Umwelt 5. Vier Modelle: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst 6. Die Ambivalenz der Differenzierung: Subjektverzicht, Aktantenmodell und Gesellschaftskritik 7. Jürgen Habermasʼ Antwort auf Luhmann: Die Habermas-Luhmann-Debatte I Der Weg, der von Durkheim und Parsons zu Luhmann führt, überquert die Grenze zwischen einer Spätmoderne, die sich noch der Vorstellung von allgemein gültigen Werten und Normen verpflichtet weiß, und einer Postmoderne, der angesichts der Fragmentierung des Wertesystems diese Vorstellung als Anachronismus erscheint. Dennoch ist Luhmann seinem Selbstverständnis nach kein postmoderner Soziologe, sondern, wie sich zeigen wird, ein Kritiker des Postmoderne-Begriffs. Er ist insofern ein spätmoderner Denker, als er auf die postmoderne Fragmentierung und Pluralisierung nicht mit einem nachmodernen Plädoyer für die zahlreichen koexistierenden Partikularitäten im Sinne von Lyotard oder Zygmunt Bauman (vgl. Kap. XX. 2) antwortet, sondern einen modernen Universalismus vertritt, der ihn befähigt, am universellen Anspruch der Systemtheorie festzuhalten, auf alle Erscheinungen anwendbar und allgemein gültig zu sein. Modern ist außerdem seine Großerzählung - von der segmentären Gesellschaft zur Weltgesellschaft (vgl. Abschn. 6) -, die nachmoderne Denker wie Lyotard mit Skepsis betrachten würden, zumal „Weltgesellschaft“ eine Einheit über den Partikularitäten bezeichnet. Dennoch kann seine Soziologie - wie die Soziologien Habermasʼ, Touraines und Bourdieus - als Reaktion auf bestimmte Aspekte der nachmodernen Problematik aufgefasst werden: auf die funktionale Pluralisierung oder Fragmentierung der sozialen Welt, die immer intensiver werdende Vermittlung aller sozialen Bereiche durch den Tauschwert (Jean <?page no="564"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 548 Baudrillards Hauptthema: vgl. Kap. XXI) und die wachsende Skepsis dem Subjektbegriff gegenüber, die so verschiedenen nachmodernen Autoren wie Baudrillard, Michel Foucault und Michel Maffesoli gemeinsam ist. Luhmanns Abkehr von der gesamten humanistischen oder, wie er selbst sagt, „alteuropäischen“ Tradition, die auf Begriffen wie „Subjekt“, „Kritik“, „Engagement“ oder „Emanzipation“ gründet, kann als Antwort auf bestimmte Probleme der Postmoderne aufgefasst werden, in der humanistische Wertsetzungen (zusammen mit vielen anderen) als diskreditiert erscheinen, weil sie für ideologische Zwecke ausgeschlachtet wurden und in den Wortschlachten, die sich Ideologen seit Jahrzehnten liefern, zu Worthülsen verkamen. Es kommt hinzu, dass Begriffe wie „Subjekt“ und „Kritik“ nicht weiterentwickelt wurden, so dass es nicht schwer fällt, Luhmanns Ablehnung des idealistischen Subjektbegriffs, der auf dem individuellen Subjekt gründet (vgl. Abschn. 5), nachzuvollziehen. Seine Kritik der „Kritik“ weist hingegen hegelianische Aspekte auf und läuft bisweilen auf eine Komplizenschaft mit dem Geist der Gegenwart hinaus. Sie wird jedoch nicht durchgehalten, und im fünften Abschnitt dieses Kapitels soll gezeigt werden, dass Luhmanns Differenzierungstheorie (sein Gedanke, dass soziale Evolution durch die funktionale Ausdifferenzierung von Teilsystemen angetrieben wird) in eine Kritik bestehender Verhältnisse mündet. Diese ist eher zwischen den Zeilen zu lesen, weil der Autor radikale Rhetorik meidet und es bei der sein Gesamtwerk durchziehenden ironischen Skepsis bewenden lässt. Seine Ironie geht wie die Robert Musils aus Ambivalenz und Paradoxie hervor und gleicht zumindest streckenweise die schwerfällige, mit abstrakter Terminologie befrachtete Argumentation aus, deren Beziehungen zur Welt der Erfahrung nicht immer feststellbar sind. Bisweilen widersprechen die Argumente sogar den Tatsachen, wie sich im Zusammenhang mit dem Begriff der „Weltgesellschaft“ zeigen wird (vgl. Abschn. 3). Dieses Spannungsverhältnis zwischen abstrakter Systematik und Empirie wird jedoch durch die panoramaartige Darstellung der Gesellschaft kompensiert, die Luhmann seiner Leserschaft bietet und die weit über Parsonsʼ Gesamtansicht hinausgeht: Nicht nur das Gesellschaftssystem als ganzes, sondern nahezu alle seine Teilsysteme - Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Wissenschaft, Kunst - werden in ihren wesentlichen Aspekten analysiert und aufeinander bezogen. Luhmanns systematische Soziologie ist alles andere als statisch: Sein Differenzierungsbegriff enthält eine Theorie sozialer Evolution, welche die Entwicklung der Gesellschaft „von segmentärer zu stratifizierender und von stratifizierender zu funktionaler Differenzierung“ 1 erzählt, um sie 1 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft (Hrsg. D. Horster), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (4. Aufl.), S. 88. <?page no="565"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 549 schließlich im Konzept einer im Werden begriffenen Weltgesellschaft ausmünden zu lassen. Hegels und Parsonsʼ Systementwürfen gegenüber ist Luhmanns „Metaerzählung“ insofern im Vorteil, als man ihr nicht vorwerfen kann, eine vergangene Gesellschaft (die preußische oder die amerikanische der Nachkriegszeit) als ein non plus ultra in einer Apologie verabsolutiert zu haben: Jenseits der „Weltgesellschaft“ zeichnet sich nichts Neues ab. Nur ihr Untergang ist noch denkbar, und der Totalitätsdenker Luhmann geht auch auf ihn ein, wenn er in Beobachtungen der Moderne die an Foucault erinnernde Prognose wagt, „daß die Menschen als Lebewesen wieder verschwinden werden“. 2 Wie bei Durkheim, Tönnies und Simmel wird diese spätmoderne Skepsis immer wieder durch ein modernes Vertrauen in die Lernfähigkeit der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche ausgeglichen. „Denn heute hat man von der Voraussetzung auszugehen, daß die Gesellschaft auch und gerade dann, wenn sie ihre ökologischen Probleme ernst nimmt, nicht in Wesensformen, Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten, Arten und Gattungen festliegt, sondern sich ändern wird, ja sich ändern muß, wenn es gut gehen soll.“ 3 Die Mischung aus Zuversicht und Skepsis, die aus diesen Zeilen herauszulesen ist, ist für die Spätmoderne als Selbstkritik der Moderne kennzeichnend und verbindet Luhmann mit anderen Vertretern der Spätmoderne wie Durkheim oder Tönnies. Wie sie verabschiedet er sich von der Euphorie, die die modernen „Metaerzählungen“ von Marx, Comte oder Spencer durchwirkt und teleologisch die „klassenlose Gesellschaft“, das „wissenschaftliche Stadium“ oder die Befreiung des Individuum in der „Industriegesellschaft“ anvisiert. An ihre Stelle tritt die spätmoderne (modernistische) Ambivalenz, die Heil und Unheil gleichzeitig ins Blickfeld projiziert. Luhmann leugnet, „daß die Evolution Systeme in Richtung auf stabile Zustände prozessiert“, und fügt hinzu: „Die Gesellschaft hält sich eine Zukunft offen, die transformierende Reproduktion oder Destruktion in Aussicht stellt.“ 4 Im Gegensatz zu Adorno, dessen negative Dialektik in der antihegelianischen Behauptung gipfelt „Das Ganze ist das Unwahre“ 5 , ist Luhmann bereit, beide Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen: die Rettung der Weltgesellschaft durch systemische Anpassung an ihre Umwelt und ihre Selbstzerstörung durch chronische Unangepasstheit. In einigen seiner Be- 2 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 149. 3 Ibid., S. 160. 4 N. Luhmann, Die Politik, der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp (2000), 2002, S. 432. 5 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 57. <?page no="566"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 550 schreibungen der immer autonomer werdenden Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Politik) setzt sich allerdings ein skeptischer Ton durch, der trotz der Distanz, die Luhmann von der Kritischen Theorie trennt, an Adornos Negativität erinnert (vgl. Abschn. 5 und 6). Von ihr unterscheidet sich Luhmanns Position vor allem durch den Willen des Systemtheoretikers, alle denkbaren Möglichkeiten ins Auge zu fassen, die es dem Gesellschaftssystem und seinen Subsystemen gestatten, sich der Umwelt anzupassen und dadurch die drohende Katastrophe abzuwenden. Im Gegensatz zu französischen Denkern wie Pierre Bourdieu und Alain Touraine, deren Theorien in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation entstanden, die von Revolten gegen Staatsbürokratie, Wirtschaftsunternehmen und Klassenstruktur geprägt war, entwickelte Luhmann seine Theorie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die von Wirtschaftserfolg, demokratischer Erneuerung und Konsenssuche nach amerikanischem Vorbild, dem Vorbild der dominierenden Besatzungsmacht, beherrscht wurde. Luhmann kam 1927 in Lüneburg zur Welt, studierte Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg, war kurze Zeit in der öffentlichen Verwaltung tätig und studierte von 1960 bis 1961 Soziologie und Verwaltungswissenschaft an der Harvard Universität, wo er Talcott Parsons kennen lernte. „Gelernt habe ich in Harvard, mich in die Architektur der Parsonsschen Theorie einzuarbeiten, von der ich viel gelernt habe“ 6 , kommentiert Luhmann seinen Aufenthalt in den USA. 1966 war er Privatdozent in Münster, wo er innerhalb von einem Jahr promovierte und sich habilitierte. Von 1968 bis 1993 war er ordentlicher Professor für Soziologie in Bielefeld, wo er 1998 starb. Luhmann, der zu den wenigen deutschen Soziologen gehört, die französische, italienische und spanische Texte lesen (vorwiegend Philosophen und Historiker), orientiert sich dennoch hauptsächlich an der amerikanischen Soziologie: nicht nur an Parsons, sondern auch an anderen Funktionalisten wie Robert K. Merton, Neil Smelser und Edward Shils. Diese Soziologie wird seit ihren Anfängen bei Albion Small, William Graham Sumner und Lester Ward von Positivismus und Szientismus, später von der Kybernetik geprägt, d.h. von einer Ausrichtung auf die „hard sciences“ und ihre Methoden. 7 In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass auch der radikale biologische Konstruktivismus Humberto Maturanas und 6 N. Luhmann, Archimedes und wir. Interviews (Hrsg. D. Baecker, G. Stanitzek), Berlin, Merve, 1987, S. 133. 7 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, 1880- 1940, Chapel Hill-London, The Univ. of North Carolina Press, 1987, Kap. VII: „The Authority of Fact“. <?page no="567"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 551 Francisco Varelas zu den Ausgangspunkten von Luhmanns Systemtheorie gehört. Im Anschluss an diese Betrachtungen wird im ersten Abschnitt Luhmanns Theorieauffassung im Dreiecksverhältnis von Hegel, Husserl und dem Konstruktivismus Humberto Maturanas, Francisco Varelas erläutert. Dabei soll deutlich werden, dass Luhmanns Systemtheorie - wie die systematische Philosophie Hegels, wie die meisten systematischen Ansätze - eine starke monologische Tendenz aufweist, die durch ihre konstruktivistischen Elemente nicht ausgeglichen wird. Dennoch ist diese Theorie nicht dialogfeindlich, weil Luhmann (im Gegensatz zu Habermas) nicht primär den Konsens anvisiert, sondern dem Dissens eine wesentliche Rolle im Erkenntnisprozess einräumt: „Aber Kommunikation findet ja überhaupt nur da und deswegen statt, weil und wenn es Differenzen gibt. Bei völlig gleichen Interessenlagen erübrigt sich Kommunikation.“ 8 Hier wird in aller Knappheit eines der Hauptanliegen der Dialogischen Theorie zusammengefasst: Es geht darum, heterogene theoretische Standpunkte aufeinander zu beziehen, um in der Wechselwirkung von Dissens und Konsens Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Im Folgenden wird Luhmanns Systemtheorie sporadisch mit Positionen der Kritischen Theorie (Adornos, Habermas ) konfrontiert in der Hoffnung, dass auch (und gerade) im Dissens Wahrheitsmomente zutage treten. Am Ende wird sich zeigen, dass Luhmann zwar einen ganz anderen Weg einschlägt als die Vertreter der Kritischen Theorie, schließlich aber zu einer ähnlichen Sozialdiagnose gelangt wie sie. Dieser Teilkonsens in Dialog und Dissens ist es, der hier zählt. 1. Theoriebegriff: Die „Supertheorie“ zwischen Hegel, Husserl und dem Radikalen Konstruktivismus Es ist gegenwärtig kaum möglich, totalisierend zu verfahren und sich eine Gesamtdarstellung der sozialen Welt vorzunehmen, ohne sich einige Probleme des Hegelianismus einzuhandeln, die in Hegels bekannter Maxime „Das Wahre ist das Ganze“ 9 enthalten sind (das wurde im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit Parsons deutlich). Zu diesen Problemen gehört eine monologische Tendenz, die in der Vereinnahmung oder Disqualifizierung des Anderen und Andersartigen besteht. Dass diese Tendenz sogar bei einem systemfeindlichen Denker wie Adorno aufgezeigt werden kann, wurde bereits erwähnt (vgl. Kap. VI). Die Ausrichtung auf die künst- 8 N. Luhmann, „Ist Kunst codierbar? - Ausschnitte aus der Diskussion“, in: ders., Schrif ten zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 97. 9 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. <?page no="568"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 552 lerische Mimesis scheint eine verzerrende Vereinnahmung des Anderen (bei Adorno etwa die Definition Poppers als „Positivisten“) nicht auszuschließen. Deshalb geht die Dialogische Theorie außer von Bachtins Dialogizität auch von Adornos dialogischem Essayismus und nicht von seiner Mimesis-Theorie aus. 10 Luhmann erklärt gleich im Vorwort zu Soziale Systeme, dass ihm eine Theorie vorschwebt die „Universalität der Gegenstandserfassung“ anstrebt, die „als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte (wie zum Beispiel Schichtung und Mobilität, Besonderheiten der modernen Gesellschaft, Interaktionsmuster etc.)“. 11 Er erklärt zugleich, dass mit „Universalitätsanspruch“ keine Exklusivität, keine Ausgrenzung konkurrierender Theorien intendiert ist: „Statt Exklusivität zu behaupten, verfahren Supertheorien totalisierend.“ 12 Was bedeutet das genau? Es bedeutet, dass Luhmann weder den Anspruch erhebt, das Fach Soziologie als „kohärentes Ganzes“ 13 zu vertreten, noch eine undifferenzierte Vielfalt akzeptiert, die es bei der Feststellung bewenden lässt, „es herrsche Pluralismus im Sinne einer Mehrzahl konkurrierender, unvergleichbarer theoretischer Orientierungen“. 14 Es gilt, zwischen diesen beiden Extremen einen dritten Weg zu finden denn: „Pluralismus macht geschwätzig. Aber Totalitarismus macht stumm.“ 15 Die von Luhmann angepeilte Lösung heißt „Supertheorie“, die in den Sozialen Systemen wie folgt definiert wird: „Supertheorien sind Theorien mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einbeziehenden) Ansprüchen.“ 16 Etwas weiter folgt die Ergänzung: „Systemtheorie ist eine besonders eindrucksvolle Supertheorie.“ 17 Die „Supertheorie“, die Luhmann vorschwebt, ist ein nahezu hegelianischer Versuch, Einheit und Verschiedenheit zusammenzuführen und die Verschiedenheit in der Einheit darzustellen. Luhmann erklärt sogleich, wie das geht: „Das kann geschehen, wenn es gelingt, für den Gegner einen berechtigten Platz im eigenen theoretischen Rahmen zu finden.“ 18 Es folgt der Zusatz: „Totalisierungsstrategien rekonstruieren also mit eigenen Be- 10 Vgl. Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. VI. 5: „Essay, Parataxis und Dialog: Drei Wege der Kritischen Theorie (Ausblick)“. 11 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 9. 12 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 67. 13 Ibid. 14 Ibid. 15 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 390. 16 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 19. 17 Ibid. 18 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 68. <?page no="569"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 553 griffen sogar ihren Gegner und machen verständlich, weshalb er opponiert.“ 19 Das weiß der Gegner aber wesentlich besser als der ihn vereinnahmende Theoretiker der Totalität - und hält eigene Begriffe parat. Nicht zufällig beruft sich Luhmann einige Zeilen weiter auf Hegels Totalitätsbegriff, denn Hegels Phänomenologie des Geistes ist ein groß angelegter Versuch, allen (potenziellen) Gegnern des Hegelschen Denkens „einen berechtigten Platz im eigenen theoretischen Rahmen“ zuzuweisen. Stoizismus, Skeptizismus, unglückliches Bewusstsein und Aufklärung nehmen alle ihren Platz in Hegels Phänomenologie ein 20 , werden aber ihres Selbstverständnisses als von Hegels Philosophie unabhängige Denkmuster beraubt: Sie fungieren als Etappen des Hegelschen Denkens. Ähnliches gilt für Spinoza, zu dessen Vereinnahmung durch Hegel Pierre Macherey bemerkt: „Alles war so angelegt, dass Hegel, um über Spinoza ‚hinausgehen‘ zu können, die Möglichkeit bekam, diesen zurechtzustutzen, herabzusetzen, indem er ihn unterhalb der Positionen ansiedelte, die er wirklich vertrat.“ 21 Die scheinbare Stärke des Systemdenkens, sein Anspruch, alle Positionen zu erfassen und über sie hinauszugehen, erweist sich letztlich als seine Schwäche: als seine Unfähigkeit, die Gesprächspartner oder „Gegner“ (Luhmann) in ihrer wahren, ihrer eigenen Bedeutung zu verstehen. Analog dazu neigt Luhmanns systematischer Diskurs dazu, „Gegner“ oder potenzielle Gesprächspartner zu eliminieren, zu disqualifizieren oder seinem System einzuverleiben. In Die Wissenschaft der Gesellschaft ist beispielsweise recht pauschal vom „Zusammenbruch des Marxismus“ 22 die Rede, und in Protest wird ein „strukturbewußtes Vorgehen“ empfohlen „das zunächst einmal die Frage zu klären hätte, in welchem Sinne die Unterscheidung von Männern und Frauen (= Frauen und Männern? ) überhaupt eine Theoriebildung steuern kann“. 23 Es gehörte zu einem der Hauptanliegen des siebenten Kapitels zu zeigen, dass der relevante semantische Gegensatz männlich / weiblich, von dem feministische Theorien ausgehen, als Grundlage neuer soziologischer Erzählungen dienen kann, die als Alternativen zum Marxismus, zur Kritischen Theorie und auch zur Systemtheorie in Frage kommen. Gerade Luhmanns Auffassung theoretischer Beobachtung ermöglicht eine konkrete Darstellung dieser Alternativen, in denen es darum geht, auf Metaebene Aspekte der sozialen Evolution zu beobachten, die Marxismus, Kritische 19 Ibid. 20 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, op. cit., S. 137-177. 21 P. Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris, Maspero, 1979, S. 91. 22 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 342. 23 N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (Hrsg. K.-U. Hellmann), Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 109. <?page no="570"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 554 Theorie und Systemtheorie nicht in den Blick bekommen, weil die Erzählungen, die von den Gegensätzen Kapital / Arbeit, Natur / Herrschaft oder System / Umwelt ausgehen, das für die Evolution möglicherweise entscheidende Geschlechterproblem ausblenden. Luhmann könnte nun auf metadiskursiver Ebene einwenden, dass das Geschlechterproblem und die feministische Erzählung „einen berechtigten Platz“ in der Systemtheorie finden. Eine Feministin wie Françoise Gaspard oder Judith Butler würde jedoch den globalen Anspruch der feministischen Erzählung geltend machen und behaupten, dass die ungelösten sozialen und ökologischen Probleme, mit denen sich auch die Systemtheorie auseinanderzusetzen hat, nur im Rahmen des Gegensatzes männlich / weiblich auf sinnvolle Art angegangen werden können. In solchen Fällen lautet die Frage: Wer umfasst wen? Welcher Diskurs nimmt die privilegierte Position des umfassenden Metadiskurses ein? (Von diesem Problem war im dritten Kapitel im Zusammenhang mit Goffman die Rede.) Die Dialogische Theorie löst dieses Problem dadurch, dass sie Luhmanns Grundsatz Verschiedenheit in der Einheit (s.o.) umkehrt und versucht, die Einheit in der Verschiedenheit darzustellen: d.h. heterogene theoretische Diskurse ihrem Selbstverständnis 24 nach zu rekonstruieren und sie so miteinander zu konfrontieren, dass an ihren Schnittstellen neue Erkenntnisse oder Wahrheitsmomente zutage treten. Dies schließt Kritik keineswegs aus, setzt aber voraus, dass die Hauptanliegen einer Theorie unverzerrt wiedergegeben werden. Wenn Luhmann bereit wäre, dialektisch „gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben“ (Adorno), könnte er als „Beobachter zweiter Ordnung“ fragen: Was sehen wir, wenn wir den semantischen Gegensatz männlich / weiblich zugrunde legen und nicht den Gegensatz System / Umwelt, der (wie alle Gegensätze) im Diskurs blinde Flecken entstehen lässt? Es geht hier nicht darum, den eigenen Standpunkt aufzugeben und sich zu einer feministischen Theorie (welcher auch immer) zu bekehren, sondern darum, den „Gegner“ seinem Selbstverständnis nach zu erhalten, um einen sinnvollen Dialog zu ermöglichen, in dem die eigenen „blinden Flecken“ (Luhmann) stets mitgedacht werden - statt in Vergessenheit zu geraten. 24 Freilich geht es in solchen Fällen nicht um alle Einzelheiten und um kritische Punkte, die stets umstritten sind, sondern um Grundsätzliches: etwa die Relevanzkriterien (z.B. die strukturierenden Gegensätze männlich / weiblich, Arbeit / Kapital oder System / Umwelt). Da alles Konstruktion und engagierte Konstruktion ist, ist eine „objektive“ oder allseits konsensfähige (Fremd-)Darstellung einer Theorie nicht möglich. <?page no="571"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 555 Im optischen Bereich trifft zwar Maturanas und Varelas These „Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen“ 25 , zu, auf theoretischer Ebene wissen wir aber aus Erfahrung allzu gut, dass wir vieles übersehen, weil unsere Perspektive als Perspektive „blinde Flecken“ zeitigt - und wir wissen manchmal auch welche. (Jeder, der fotografiert, weiß genau, was ihm entgeht, wenn er die Kamera um ein paar Zentimeter wendet.) 26 Da die positive Totalität aller Perspektiven, wie Luhmann weiß, nicht vergegenwärtigt werden kann, soll wenigstens die negative Totalität ermöglicht werden, die von einem offenen Dialog gewährleistet wird, in dem die unverzerrte Stimme des Anderen stets präsent ist und zur Korrektur der eigenen Position und ihrer Wahrnehmung einlädt. Man würde Luhmanns Theorie verzerren, wollte man sie auf eine Variante des Hegelianismus festlegen. Denn Luhmann ist kein Dialektiker im Sinne von Hegel oder Marx, weil sein Denken die dialektische Vermittlung nicht kennt. Sie wird von Karel Kosík im Zusammenhang mit dem dialektischen Totalitätsbegriff als „Prozeß gegenseitigen Durchdringens und Erleuchtens“ 27 definiert und bedeutet, dass etwa Alltagsverhalten (individuelle Reaktionen, Gebärden, Ausrufe) von der Gesellschaft als Sozialisation durchdrungen ist: z.B. das Auftreten von Werbefachleuten, Maklern und Händlern von der Ausrichtung auf den Markt als Tauschwert. Im Gegensatz zu dieser dialektischen Auffassung des wechselseitigen „Durchdringens“ gesellschaftlicher Erscheinungen gründet Luhmann seine Theorie auf der phänomenologischen Trennung und beruft sich regelmäßig auf Edmund Husserl (er spricht von der „phänomenologischen Einstellung“) 28 , um das Trennungsdenken in der Soziologie plausibel zu machen: etwa die Trennung zwischen psychischen und sozialen Systemen, die hier im vierten Abschnitt ausführlicher zur Sprache kommt. Zur Trennung des Psychischen von seinem „natürlichen“ Umfeld bemerkt Husserl in Philosophie als strenge Wissenschaft: „Alles Psychische, das so Erfahrenes ist, hat dann (…) Einordnung in einen umfassenden Zusammenhang, in eine ‚monadische‘ Einheit des Bewußtseins, eine Einheit, 25 H. R. Maturana, F. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Bern-München, Scherz-Goldmann, 1987, S. 23. 26 Zur Möglichkeit, den eigenen „blinden Fleck“ zu reflektieren, bemerkt M. Füllsack: „Dennoch kann die Systemtheorie den eigenen ‚blinden Fleck‘, auch wenn sie ihn reflektiert, nicht selbst auflösen.“ (M. Füllsack, „Geltungsansprüche und Beobachtungen zweiter Ordnung. Wie nahe kommen sich Diskurs- und Systemtheorie? “, in: Soziale Systeme 1, 1998, S. 197. Tatsächlich befähigt die Reflexion des eigenen blinden Flecks nicht immer zu dessen Tilgung.) 27 K. Kosík, Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt, Suhrkamp (1967), 1971, S. 44. 28 N. Luhmann, „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution“, in: G. Burkart, G. Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 246. <?page no="572"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 556 die in sich gar nichts mit Natur, mit Raum und Zeit, Substanzialität und Kausalität zu tun, sondern ihre ganz einzigen ‚Formen‘ hat.“ 29 Analog dazu heißt es in Luhmanns Soziale Systeme vom individuellen Bewusstsein und vom sozialen System: „Beide verwenden ein je verschiedenes Medium ihrer Reproduktion: Bewußtsein bzw. Kommunikation.“ 30 Die beiden Medien werden streng getrennt: „Kein Bewußtsein geht in einer Kommunikation auf und keine Kommunikation in einem Bewußtsein.“ 31 Konsequent werden auch Bewusstsein und Sprache getrennt: „Psychische Prozesse sind keine sprachlichen Prozesse, und auch Denken ist keineswegs ‚inneres Reden‘ (…).“ 32 Luhmann versucht, die Trennung von Psyche und Sprache durch einen Hinweis auf Husserls Logische Untersuchungen zu rechtfertigen. Dabei setzt er sich gleichsam en passant über Jacques Lacans These hinweg, das Unbewusste sei eine Sprache 33 , sowie über Roman Jakobsons Aphasie-Studien, in denen ein Nexus von Psyche und Sprache postuliert wird. 34 Das Trennungsdenken findet sich schon bei Spinoza und wird durch ein Spinoza-Zitat prägnant zusammengefasst, das Luhmann seinem Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft voranstellt: „Id quod per aliud non potest concipi, per se concipi debet“ („Was nicht durch Anderes zu verstehen ist, muss aus sich selbst verstanden werden.“ Spinoza, Ethica I.) 35 Das dialektische Denken neigt dazu, diese Maxime umzukehren: Was nicht aus sich selbst zu verstehen ist, muss durch Anderes verstanden werden (d.h. als durch Anderes vermittelt). Für das Verständnis von Luhmanns Theoriebegriff ist die Affinität zwischen der phänomenologischen und der radikal-konstruktivistischen Trennung von Bedeutung, weil Luhmann „Theorie“ auch im Anschluss an 29 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt, Klostermann, 1965, S. 36- 37. 30 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 367. 31 Ibid. 32 Ibid. 33 Vgl. J. Lacan, „Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse“, in: ders., Ecrits, Paris, Seuil, 1966, S. 258. 34 Vgl. R. Jakobson, „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen“, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik (Hrsg. W. Raible), München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1974, S. 137-138: zum Nexus zwischen Unbewusstem und Aphasie. 35 B. de Spinoza, Die Ethik - nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg, Meiner (s.d.), S. 85: „Lehrsatz 37: Was allen Dingen gemein (…) und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, macht nicht die Wesenheit eines Einzeldinges aus.“ Es ist kein Zufall, dass dieses Trennungsdenken auch Louis Althussers Werk durchzieht: seine Trennung von Ideologie und Wissenschaft, von Marxʼ „humanistischen“ Frühschriften und seinem „wissenschaftlichen“ Spätwerk. Denn auch Althusser geht von Spinozas Philosophie aus. Vgl. L. Althusser, Eléments d’autocritique, Paris, Hachette, 1974: „Sur Spinoza“, S. 69: „(…) Wir sind den Umweg über Spinoza gegangen, um die Philosophie von Marx besser zu verstehen.“ <?page no="573"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 557 den Radikalen Konstruktivismus der chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela definiert, von denen er den Autopoiesis-Begriff übernimmt. „Theorie“ wird als selbstreferentielles, autopoietisches System aufgefasst, wie der folgende Satz aus Die Wissenschaft der Gesellschaft zeigt: „Nicht der Gegenstand garantiert die Einheit der Theorie, sondern die Theorie die Einheit des Gegenstandes gemäß dem Diktum, daß alles, was für ein autopoietisches System Einheit ist, durch das autopoietische System Einheit ist.“ 36 Wie Husserl, von dem sie nachhaltig beeinflusst wurden, gehen Maturana und Varela von dem Gedanken aus, dass biologische und psychische Systeme autonom sind, und zwar im Sinne einer Autopoiesis, die bedeutet, dass sie die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren. Auch von diesen Systemen gilt, dass sie nur als voneinander getrennte Einheiten zu verstehen sind. In Maturanas und Varelas Buch Der Baum der Erkenntnis findet sich eine anschauliche Definition des Autopoiesis-Begriffs im biologischen Kontext, wo er auf „Lebewesen [als] autonome Einheiten“ 37 angewandt wird: „Die eigentümliche Charakteristik eines autopoietischen Systems ist, daß es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert.“ 38 Das System bildet nicht seine Umwelt ab und nimmt auch nicht Elemente der Umwelt auf; es reagiert lediglich auf Reize der Umwelt, indem es sie in seine „Sprache“ übersetzt, denn, sagt Maturana, „was im Inneren abläuft, hat begrifflich gesprochen nichts mit den äußeren Vorgängen zu tun“. 39 Komplementär dazu verhält sich Luhmanns Bemerkung in Die Gesellschaft der Gesellschaft, wo er den Autopoiesis-Begriff auf soziale Systeme anwendet, „daß operative geschlossene Systeme nur die Möglichkeit haben, sich intern an internen Problemen zu orientieren“. 40 Autopoietische Systeme werden von ihm als „operative geschlossene Systeme“ aufgefasst, weil alle ihre Operationen von ihrem spezifischen Kode oder ihrer „Sprache“ bestimmt werden. Insofern sind sie selbstreferentiell, weil sie sich an diesem besonderen Kode orientieren und alle Reize der Umwelt in diesen Kode übertragen müssen, um sie verarbeiten zu können. 36 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit. S. 407: Allerdings ist dies noch keine Garantie für eine adäquate und intersubjektiv konsensfähige Darstellung des Gegenstandes. 37 H. R. Maturana, F. Varela, Der Baum der Erkenntnis, op. cit., S. 55. 38 Ibid., S. 54. 39 H. Maturana, Was ist Erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Betrachters (Hrsg. R. zur Lippe), München, Goldmann, 2001, S. 208. 40 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 134. <?page no="574"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 558 Damit ist bereits angedeutet, dass Luhmann psychische oder soziale Systeme keineswegs als fensterlose Monaden auffasst, die keinerlei Beziehungen zu ihrer Umwelt unterhalten. Denn die Autopoiesis geht einher mit der auch bei Parsons (vgl. Kap. XIV. 3) wichtigen Interpenetration, der Luhmann in Soziale Systeme ein ganzes Kapitel widmet. Dort heißt es zum Verhältnis von Autopoiesis und Interpenetration: „Interpenetration setzt Verbindungsfähigkeit verschiedener Arten von Autopoiesis voraus - in unserem Falle: organisches Leben, Bewußtsein und Kommunikation.“ 41 Allerdings nimmt Interpenetration eine andere Bedeutung an als bei Parsons, weil ihr bei Luhmann durch Autopoiesis und Selbstreferenz enge Grenzen gesetzt sind: Sie kann nicht länger als Ineinandergreifen der Systeme aufgefasst werden, weil autopoietische Systeme trotz ihrer Kopplung an die Umwelt keine systemfremden Elemente aufnehmen. Entscheidend in dem hier entworfenen Kontext ist nun Luhmanns Anwendung der Begriffe Autopoiesis und Selbstreferenz auf die Theorie als System. Die Frage nach der „Richtigkeit soziologischer Theorie“ beantwortet er ganz im Sinne der Autopoiesis als Selbstreferenz: „Die Richtigkeit einer soziologischen Theorie liegt in ihrer Richtung, und die einzig haltbare Richtung ist die Richtung auf sich selbst.“ 42 Diese „Innenorientierung“, die mit „operativer Schließung“ 43 oder „selbstreferentieller Geschlossenheit“ 44 einhergeht, hindert sie als autopoietisches System zwar nicht daran, auf andere Theorien in ihrer „Umwelt“ zu reagieren; sie tut es aber, wie sich gezeigt hat, auf monologische Art: indem sie ihnen in ihrem Kode und ihrer Sprache einen „Platz“ zuweist. So werden fremde Theorien schließlich zu Bestandteilen des eigenen Diskurses. In dieser Hinsicht erweist sich die hier vertretene Dialogische Theorie als Gegenspielerin der Systemtheorie: Sie geht nicht nur von einer dialogischen Subjektivität aus, die sich in permanenter Auseinandersetzung mit dem Anderen und Andersartigen bildet (mit den Stimmen der Anderen im Sinne von Bachtin), sondern auch von einer dialogischen Auffassung des theoretischen Diskurses, der stets als Reaktion auf den „fremden Horizont“ (Bachtin) 45 zu verstehen ist. Selbst Luhmanns Soziologie ist nur als Dialog mit dem fremden Wort der Feministinnen, der Hegelianer und Marxisten 46 zu lesen. Auch sein Diskurs nimmt die z.T. unvereinbaren Gedanken des Hegelianismus, der 41 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 297. 42 N. Luhmann, „Die Richtigkeit soziologischer Theorie“, in: Merkur 1, Januar 1987, S. 39. 43 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 44. 44 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 302. 45 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 175. 46 Vgl. N. Luhmann, Archimedes und wir, op. cit., S. 44-45 (zu den Beziehungen Luhmann- Marx). <?page no="575"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 559 Phänomenologie, des Radikalen Konstruktivismus und des Funktionalismus auf. Die Dialogizität der Dialogischen Theorie besteht darin, dass sie für die Offenheit des theoretischen Diskurses sorgt, die dafür bürgt, dass sich zu jeder Wahrheit eine Gegenwahrheit gesellt (z.B. Vermittlung zur Trennung), die das Denken in Bewegung hält. Eine der im Folgenden aufgeworfenen Kernfragen lautet daher: Was beobachten wir, wenn wir den Standpunkt von Luhmanns soziologischer Autopoiesis einnehmen, und was geschieht, wenn wir den Standpunkt wechseln und die Perspektive der dialektischen Vermittlung - des „gegenseitigen Durchdringens“ (Karel Kosík) - einnehmen? Es wird sich zeigen, dass im Übergang von Parsons zu Luhmann trotz aller Affinitäten zwischen den beiden Ansätzen ein Perspektivenwechsel stattfindet und dass sich Luhmanns Theorie dialogisch am „fremden Horizont“ bildet (etwa an der von Marx ausgehenden Kritik an Durkheim), den sie jedoch monologisch verdeckt. 2. Luhmanns Antwort auf Parsons: Abschied vom Wertekonsens Zu den zahlreichen Paradoxien von Luhmanns Theorie, der von vielen Seiten „Hermetik“ vorgeworfen wird 47 , gehört wohl der von Luhmann an Parsons Adresse gerichtete Vorwurf, er weiche „immer stärker vom üblichen Sprachgebrauch“ ab und verliere „immer mehr den Kontakt mit dem soziologieüblichen Jargon“. 48 Der systematische Diskurs verdankt seinen sprachlichen Hermetismus seiner monologischen Struktur, die implizit behauptet, eine sich selbst genügende, vom Anderen und Andersartigen unabhängige Totalität zu sein. Zu ihr findet man noch am ehesten einen Zugang, der auch ihr gerecht wird, wenn man ihre hermetische Schale aufbricht und versucht, sie als intertextuelle 49 , dialogische Reaktion auf andere Diskurse zu verstehen. Luhmann knüpft nicht bloß an Parsons ʼ funktionalistische Handlungstheorie an, sondern holt noch weiter aus, wenn er Durkheims Theorie der Arbeitsteilung kommentiert. Denn das Kernproblem der Differenzie- 47 Vgl. G. Kneer, A. Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, München, Fink- UTB, 1997 (3. Aufl.), S. 7: „(…) daß Luhmann einen Denk- und Schreibstil pflegt, der den Zugang zu seiner Theorie sicher nicht leicht macht“. Vgl. auch W. Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg, Junius, 2011 (6. Aufl.), Kap. II: „Über die Unverständlichkeit“. 48 N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie (Hrsg. D. Baecker), Heidelberg, Carl-Auer Verlag, 2017 (7. Aufl.), S. 39. 49 Zum Begriff der „Intertextualität“ vgl. J. Kristeva, „L’acte de naissance de l’intertextualité ou l’espace de la signification“, in: S. Rabau, L’intertextualité, Paris, Flammarion, 2002 sowie M. Juvan, History and Poetics of Intertextuality, West Lafayette, Purdue Univ. Press, 2008. <?page no="576"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 560 rungssoziologie, auf das er im Zusammenhang mit Talcott Parsons zu sprechen kommt, zeichnet sich bereits bei Durkheim ab. Es ist Hobbes ʼ Frage, wie gesellschaftliche Ordnung möglich sei. Durkheim beantwortet sie, wie sich im neunten Kapitel gezeigt hat, indem er einen auf kollektiven Werten gründenden normativen Grundkonsens postuliert. Nach Luhmann geht Durkheim von der Prämisse aus, „daß Kontakte Moral generieren“. 50 Er fügt hinzu: „Moral wird in dieser Theorie als Solidarität konzeptualisiert.“ 51 Paradoxerweise beruft sich der Marxismus-Kritiker Luhmann, der vom „Zusammenbruch des Marxismus“ spricht (s.o.), auf Marx, um in Durkheims Soziologie einen fundamentalen Fehler nachzuweisen: die Vernachlässigung des „Geldmechanismus“ (also des Tauschwerts), der die Bedeutung von Norm, Moral und Solidarität radikal in Frage stellt: „Am meisten erstaunt vielleicht, erstaunt vor allem bei einer nach Karl Marx entworfenen Theorie, daß die Effekte des Geldmechanismus, Moral in der Interaktion zu neutralisieren, außer acht bleiben.“ 52 Luhmann verfährt dialogischkritisch, indem er zwei heterogene Theorien kollidieren lässt und zu dem Schluss kommt, dass „im Übergehen der strukturellen Auswirkungen des Geldwesens, also gerade des Ausgangspunktes der Marxschen Theorie (…), tatsächlich eine Blindstelle [liegt]“. 53 Hier wird deutlich, dass Theorien keine auf „autopoietischer Schließung“ gründende Systeme sind, die sich ausschließlich auf „sich selbst“ richten, sondern Intertexte: dialogische Strukturen, die andere, auch „fremde“ Theorien verarbeiten, indem sie sie gegeneinander ausspielen. Luhmann ist alles andere als Marxist, aber er entdeckt einen „blinden Fleck“ bei Durkheim, der in mancher Hinsicht als sein Vorläufer gelten kann, indem er ein Argument der Marxschen Theorie gegen den eigenen Vorläufer ins Feld führt. Seine Kritik an Durkheim ist ein wichtiger Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit Talcott Parsons, der in einer wesentlichen Hinsicht Durkheimianer ist, weil seine Theorie auf der These gründet, dass die Gesellschaft von einem Wertekonsens zusammengehalten wird, der für ein einheitliches Normensystem bürgt. Indem er einen Werte- und Normenkonsens postuliert, versucht Parsons, auf die von ihm immer wieder aufgeworfene Hobbessche Frage zu antworten, wie gesellschaftliche Ordnung möglich sei. Während Hobbes diese Frage mit dem Auftreten eines all- 50 N. Luhmann, „Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie“, in: E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp (1977), 1992, S. 34. 51 Ibid., S. 24. 52 Ibid., S. 35. 53 Ibid., S. 35. <?page no="577"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 561 mächtigen Sovereign beantwortet, der die Gesellschaft der konkurrierenden Egoisten bändigt, knüpft Parsons an Durkheims Wert- und Solidaritätstheorie an. Es sei in diesem Zusammenhang an die schon im Parsons-Kapitel zitierte Passage aus Gesellschaften erinnert: „Das Kernstück einer Gesellschaft, als System, ist die geformte normative Ordnung, welche das Leben einer Population kollektiv organisiert. Als Ordnung enthält es Werte sowie differenzierte und partikularisierte Normen und Regeln, die sämtlich, um sinnvoll und legitim zu sein, kultureller Bezüge bedürfen.“ 54 In diesem Text evozieren die Hinweise auf Kollektivität, Werte und Normen den Ursprung von Parsonsʼ Gesellschaftstheorie in der Durkheim-Schule. Luhmann setzt in seiner Antwort auf Parsons seine Kritik an Durkheim fort, indem er den von Parsons vorausgesetzten sozialen Konsens grundsätzlich in Frage stellt. Das kommt im folgenden Kommentar recht deutlich zum Ausdruck: „Auch heute halten viele Soziologen, vor allem Talcott Parsons, an einem normativen Gesellschaftsbegriff fest. Danach wird die Einheit der Gesellschaft auf die gemeinsame Anerkennung eines Mindestbestandes an Normen bzw. Werten konstituiert. Dabei wird jedoch der strukturell erforderliche ebenso wie der faktisch bestehende Konsens überschätzt.“ 55 Wie sieht nun Luhmanns Alternative aus? Luhmann geht wider Erwarten nicht mehr von Marxʼ Gedanken aus, dass das Geld als Tauschwert und abstraktes Bindemittel alle kulturellen Werte und Normen sekundär werden oder gar verschwinden lässt, um an ihre Stelle zu treten. Stattdessen verweist er auf die Systemdifferenzierung, die bewirkt, dass in jedem Teilsystem der Gesellschaft andere Werte und Normen gelten, so dass ein globaler Konsens im Sinne von Parsons nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Aus der Sicht einer Soziologie der Soziologie reagiert er so auf die zeitgenössische (er würde nicht sagen: postmoderne) Fragmentierung der sozialen Welt, die nicht nur auf die Differenzierung zurückzuführen ist, sondern auch auf die zahlreichen ideologischen Konflikte, die in Wortschlachten Werte wie „Gleichheit“, „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Demokratie“, „soziale Marktwirtschaft“ und „Sozialismus“ zu Worthülsen verkommen lassen. Ein weiterer Faktor ist die wirtschaftlich und politisch bedingte Migration, die zumindest tendenziell in einen Kulturpluralismus mündet, der die Allgemeingültigkeit von Werten in Frage stellt. In dieser gesellschaftlichen und sprachlichen Situation konzentriert sich Luhmann auf die Zersplitterung der Gesellschaft durch systemische Differenzierung. Angesichts einer „Mehrzahl von Funktionssystemen“ er- 54 T. Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 21. 55 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 213. <?page no="578"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 562 scheint ein Wertekonsens als Moralkonsens im Sinne von Parsons immer problematischer: „Diese Entwicklung macht es schwierig, die Gesellschaft auch heute noch als durch Moral integriert zu beschreiben.“ 56 Es kommt hinzu, „daß die Werte der verschiedenen Funktionssysteme keine moralischen Werte sind“. 57 Die von Luhmann beschriebene Entwicklung weist zwei Aspekte auf: die Pluralisierung der Werte durch Systemdifferenzierung und die Tatsache, dass die in den verschiedenen Systemen (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft) geltenden Wertsetzungen keinen moralischen Charakter haben, obwohl ihre Verletzung durchaus moralisch relevant sein kann. Während in der Wirtschaft (wie sich im vierten Abschnitt zeigen wird) das Geld die Hauptrolle spielt, in der Politik die Macht und in der Wissenschaft die Suche nach Wahrheit oder Erkenntnis, ist in der Medizin Gesundheit das entscheidende Kriterium. Das Streben nach Gesundheit, Erkenntnis, legitimer Macht oder legitimem Gewinn ist jedoch nicht moralisch konnotiert: weder im negativen noch im positiven Sinn. Erst wenn sich Missbrauch bemerkbar macht, kommen moralische Werte zum Tragen. 58 Das Schwinden von Wertkonsens und Moral als Garantien sozialer Ordnung führt dazu, dass Luhmann für Parsonsʼ „Kultursystem“ (cultural system oder latent pattern maintenance: vgl. Kap XIV. 3) keine Verwendung mehr hat. Zu Luhmann bemerkt Wil Martens: „Bei ihm verschwindet aber das Kultursystem als ein eigenständiges System (…).“ 59 Da Parsonsʼ Schema in allen seinen Varianten die vier Komponenten Adaptation, Goal attainment, Integration und Latent pattern maintenance (= Kultur, cultural system) aufweist (AGIL), kann es als Fragment nicht beibehalten werden. Aus diesem Grunde gelangt Luhmann in einem Artikel mit dem Titel „Warum AGIL? “ zu dem folgenden Schluss: „Da ich an dieser Stelle keine Lösung sehe, leuchtet es mir eher ein, das AGIL-Schema als umfassende Theorie aufzulösen und statt dessen verschiedenartige autopoietische Systeme anzunehmen (…).“ 60 Konsequent legt er die Beziehungen zwischen autonomen, autopoietischen Systemen dem Verständnis der Gesellschaft zugrunde und nicht die bei Parsons als Grundlage der Gesellschaft vorausgesetzte wertorientierte 56 Ibid., S. 166. 57 Ibid., S. 167. 58 Vgl. ibid., S. 172: „Und eben deshalb gibt es ein moralisches Urteil über die Praktik des Doping, die den Sportcode und seine Kriterien unterläuft, ja zerstört.“ 59 W. Martens, „Die kulturelle und soziale Ordnung des Handelns: Eine Analyse der Beiträge Parsonsʼ und Luhmanns“, in: R. Greshoff, G. Kneer (Hrsg.), Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive. Ein diskursives Buchprojekt, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 108. 60 N. Luhmann, „Warum AGIL? “, in: Kölner Zs. Für Soziologie und Sozialpsychologie, 40. Jg. 1988, S. 138. <?page no="579"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 563 Handlung. Zugleich lehnt er Parsonsʼ Verwendung des Subjektbegriffs ab, mit dessen Hilfe der amerikanische Soziologe den Handelnden und seine Handlungen erklärt. 61 (Zur Kritik des Subjektbegriffs bei Luhmann wird im sechsten Abschnitt ausführlich Stellung genommen.) Hier stellt sich die Frage, was die heterogenen Systeme zusammenhält und den Zerfall der Gesellschaft im Differenzierungsprozess verhindert. Auch Luhmann wirft in Soziale Systeme diese Frage auf, wenn er von der Theorie sagt: „Sie kann die Haltbarkeit sozialer Ordnung weder auf Natur gründen noch auf a priori geltende Normen oder Werte“ - und fragt: „Was tritt an deren Stelle? “ 62 Seine Antwort lautet: die Zeit. In einem Vergleich von Parsonsʼ und Luhmanns Systemtheorien stellt Harald Wenzel fest: „Mehr und mehr gewinnt die Zeitdimension Bedeutung gegenüber der Sozialdimension von Sinn.“ 63 Wie ist das zu verstehen? Knapp zusammengefasst kann die Antwort lauten: Konsens und Akzeptanz sind nicht auf Werte und geltende Normen angewiesen, sondern können im Laufe der Zeit in Interaktionen, Prozessen und Verfahren formalstrukturell hergestellt werden. Verfahren (etwa Gerichtsverfahren) benötigen weder Wertorientierungen noch normative Grundlagen, weil sie als Prozesse „Sequenzen irreversibel werdender Ereignisse“ 64 zeitigen, die als solche Konsens erzwingen. In Gerichtsverfahren beispielsweise wird die von Parsons zugrunde gelegte wertende Norm durch Prozessmechanismen ersetzt, durch formale Elemente, die im zeitlichen Ablauf des Verfahrens zustande kommen: „Szene und Zeremoniell des Verfahrens werden so zur Norm, wenn nicht gar zur Falle für Beteiligte, die sich gar nicht so weit engagieren wollten.“ 65 Die Kommunikation zwischen den Beteiligten lässt im Laufe des Verfahrens Strukturen entstehen, die sich zu einem System verdichten und alle Beteiligten binden. Sie nehmen dadurch die Stelle ein, die bei Parsons die soziale Norm besetzte: „Protokollierte Aussagen dokumentieren gelungene Verständigungen (…) - und werden dadurch zur Norm (…).“ 66 Hier wird deutlich, dass es - anders als bei Parsons - nicht um eine „innerliche Bindung“ der Beteiligten geht, die auf eine Verinnerlichung so- 61 Vgl. N. Luhmann, „Talcott Parsons - Zur Zukunft eines Theorieprogramms“, in: Zs. Für Soziologie, Jg. 9, 1, Januar 1980, S. 14. 62 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 173. 63 H. Wenzel, Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsonsʼ Theorie des allgemeinen Handlungssystems, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 38. 64 N. Luhmann, „Temporalstrukturen und Handlungssystem. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie“, in: W. Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System. Talcott Parsonsʼ Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (2. Aufl.), S. 46. 65 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt, Suhrkamp, 2013 (9. Aufl.), S. 93. 66 Ibid. <?page no="580"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 564 zialer Werte und Normen (internalisation im Sinne von Parsons) zurückgeführt werden könnte. Die für Parsons so wichtige Verinnerlichung wird durch formale Verfahren und Zwänge ersetzt, die für faktische Legitimation und Konsens sorgen. Kurzum, dem Einzelnen bleibt nichts anderes übrig, als das Ergebnis des Verfahrens zu akzeptieren: „Es scheint mithin, daß eine Legitimation durch Verfahren nicht darin besteht, den Betroffenen innerlich zu binden, sondern darin, ihn als Problemquelle zu isolieren und die Sozialordnung von seiner Zustimmung oder Ablehnung unabhängig zu stellen.“ 67 Dieser Satz ist deshalb wichtig und für Luhmanns Gesamtwerk symptomatisch, weil er indirekt das Fazit der gesellschaftlichen Fragmentierung und des Wertezerfalls beschreibt. Anders als bei Parsons erscheint die Gesellschaft nicht mehr als auf Wertsystem und Konsens gebaut, sondern als ein indifferentes Nebeneinander komplementärer Funktionen, die der Einzelne zur Kenntnis zu nehmen hat, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Ihrer Indifferenz, die wertende Zustimmung durch formale Verfahren ersetzt, entspricht individuelle Gleichgültigkeit, die Durkheims „organische Solidarität“ prägt und auch als Entfremdung darstellbar ist. Luhmann hält nichts von Entfremdungstheorien 68 , beschreibt aber individuelle Entfremdung recht anschaulich, wenn er feststellt, dass es im Verfahren darum geht, den „Betroffenen (…) als Problemquelle zu isolieren“ (s.o.). Hier erübrigt sich fast die Frage, wie diesem Betroffenen zumute ist. Interessanter ist die Frage, was in einer Gesellschaft geschieht, in der viele „Betroffene“ dieser Art zusammenkommen. Vor diesem Hintergrund drängt sich auch die Frage auf, was die wert- und konsensindifferenten Teilsysteme einer fragmentierten Gesellschaft zusammenhält. Luhmann hält keine umfassende Antwort parat und begnügt sich mit Hinweisen auf Verfahren und andere Formen. Eine Hypothese wagt Danilo Martuccelli: „Die von Luhmann bis zum Extrem getriebene Differenzierung verweist letztlich vielleicht auf den Markt als letztes Integrationsprinzip der Gesellschaft.“ 69 Nach der Verabschiedung der Kulturwerte als Konsensgrundlage bleibt tatsächlich nur noch der Tauschwert als vermittelnde Instanz zwischen den Teilsystemen der nachmodernen Gesellschaft. Das Geld, dessen wertindifferente Sprache in allen Systemen verstanden wird - im Gegensatz zu den wertenden Sprachen der Religion, der Moral, der Politik oder der Ästhetik -, ist das letzte Universalmedium, 67 Ibid., S. 121. 68 Vgl. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 134. 69 D. Martuccelli, „Niklas Luhmann, la contingence par la différentiation“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 183. <?page no="581"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 565 das für einen stets prekären Zusammenhalt des Gesellschaftssystems sorgen kann. Als Tauschwert liegt es auch der Abstraktion von Luhmanns Systemtheorie zugrunde, die zwar alle Aspekte der Gesellschaft erfasst, jedoch von ihren Besonderheiten auf eigentümliche Weise abstrahiert. Ihr wohnt „die gesellschaftliche Realabstraktion des Warentausches“ 70 inne, von der bei Alfred Sohn-Rethel die Rede ist. Zum Nexus von theoretischer Abstraktion und dem Geld als Tauschwert bemerkt Sohn-Rethel: „Das Geld ist eben nicht nur Kapital, es ist auch das Apriori der abstrakten Verständigkeit.“ 71 Diese erreicht in der wertindifferenten Postmoderne ihren Höhepunkt, weil die zeitgenössische Gesellschaft - stärker noch als Parsonsʼ nordamerikanische der 1950er Jahre - von Warentausch und Tauschwert durchdrungen ist. Sie ist als Wirtschaftsgesellschaft eine Welt der radikalen Abstraktion. Von ihr zeugt in Luhmanns Erzählung der sozialen Evolution der Begriff „Weltgesellschaft“, der alle Besonderheiten globalisierend negiert. 3. Von segmentärer und hierarchischer Gesellschaft zur Weltgesellschaft: Luhmanns Erzählung der Differenzierung als Evolution Luhmann zufolge weist soziale Evolution zwei wesentliche Aspekte auf, die schon bei Spencer zu beobachten sind: „Zunahme von Komplexität“ und „zunehmende funktionale Differenzierung“. 72 Beide Aspekte beschreibt Luhmann, wenn er in seiner Erzählung der Evolution Übergänge von der segmentären zur stratifizierten Gesellschaft und von dieser zur funktional differenzierten modernen Gesellschaft konstruiert. Bei jedem Übergang nehmen Komplexität und Differenzierung der Gesellschaft zu: „Im Übergang von segmentärer zu stratifizierender und von stratifizierender zu funktionaler Differenzierung erreicht das Gesellschaftssystem zugleich höhere Grade an Systematizität und Ausdifferenzierung (…).“ 73 Zu diesen drei Formen der Differenzierung gesellt sich eine vierte Form, auf die Luhmann u.a. in Die Gesellschaft der Gesellschaft eingeht: die „Differenzierung nach Zentrum und Peripherie“. 74 So entstehen insgesamt vier Differenzierungsformen: 1. segmentäre Differenzierung in Stammesgesellschaften; 2. Differenzierung nach Zentrum und Peripherie; 3. stratifikatorische Differenzierung in Adels- und Kastengesellschaften; 4. funktionale Differenzierung in der Moderne. 70 A. Sohn-Rethel, Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin, Wagenbach (1976), 1989, S. 28. 71 Ibid., S. 76. 72 N. Luhmann, „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Revolution“, in: G. Burkart, G. Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, op. cit., S. 275. 73 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 88. 74 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 613. <?page no="582"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 566 In segmentären Gesellschaften herrscht Gleichheit der Familien und Haushalte, sofern das Gesellschaftssystem nicht gleichzeitig von einer Differenzierung nach Zentrum und Peripherie strukturiert wird. In diesem Fall kann es zu einer Überlagerung der Gleichheit durch Ungleichheit kommen, weil eine Familie oder ein Clan eine zentrale Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Luhmann führt als Beispiel die „strongholds“ schottischer Clans an. 75 Das Gleichheitsprinzip segmentärer Gesellschaften kann auch durch Urbanisierung eingeschränkt werden, in deren Verlauf eine Stadt zum Mittelpunkt der Gesellschaft wird und das Gefälle zwischen Stadt und Land sich im Alltag bemerkbar macht. Zu einer eindeutig hierarchischen Differenzierung kommt es in stratifizierten Standes- und Kastengesellschaften, in denen Stände oder Klassen (Adel, Bürgertum, Bauern) einander gegenüberstehen. „Alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden Gesellschaften sind Adelsgesellschaften gewesen“ 76 , bemerkt Luhmann und trägt dem Umstand Rechnung, dass von der Antike bis zum Spätmittelalter die europäische Gesellschaft von Aristokratien angeführt wurde, denen in außereuropäischen Gesellschaften vergleichbare Gruppierungen (etwa die Samurai in Japan) entsprachen. Auch in diesem Fall könnte eine Überlagerung der Klassenhierarchie durch die Differenz von Zentrum und Peripherie beobachtet werden: Nicht zufällig ließ sich Karl der Große vom Papst in Rom zum Kaiser krönen. Feudale Hierarchien konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass um das Jahr 800 Rom trotz aller Verwüstungen während der Völkerwanderung immer noch als historisches, kulturelles und religiöses Zentrum Europas galt. Während sich Luhmanns Darstellung der stratifikatorischen Differenzierungsphase in wesentlichen Punkten noch mit Marxʼ Auffassung der Klassengesellschaft überschneidet, weichen seine Analysen der funktionalen Ausdifferenzierung in der modernen Gesellschaft stark vom Marxschen Modell ab. Der in dieser Hinsicht entscheidende Satz in Die Gesellschaft der Gesellschaft lautet: „Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch einen Primat funktionaler Differenzierung aus.“ 77 Luhmann fügt an anderer Stelle hinzu, dass „die funktional differenzierte Gesellschaft sich gegen Schichtung als Differenzierungsprinzip“ 78 wendet und bestreitet zumindest implizit, dass die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne auch eine Klassen- oder (wie die indische) Kastengesellschaft sein kann. Hier setzt sich das eingangs erwähnte (von Spinoza und Husserl geerbte) Trennungsprinzip durch, das die Überlagerung und das Ineinandergreifen von Strukturen tendenziell ausschließt. 75 Vgl. ibid. 76 Ibid., S. 678. 77 Ibid., S. 963. 78 Ibid., Bd. I, S. 169. <?page no="583"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 567 Diese Kurzdarstellung beinhaltet dreierlei: 1. Die Gesellschaft besteht aus verschiedenen autonomen, autopoietischen Systemen (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion), von denen ein jedes eine so spezifische Funktion erfüllt, dass es durch keines der anderen Systeme ersetzt werden kann: In der Wirtschaft gelten ganz andere Regeln als in der Politik, in der Wissenschaft gelten andere Werte, und es wird völlig anders argumentiert als in Kunst oder Religion. 2. Die Systeme sind als funktionale Einheiten gleichwertig. In diesem Zusammenhang spricht Niels Werber von einer Gesellschaft, „die aus verschiedenen, gleichwertigen, autonomen, nicht aufeinander zu reduzierenden Sozialsystemen besteht“. 79 Dies entspricht zwar Luhmanns Auffassung; es ist jedoch keineswegs sicher, dass die Teilsysteme der Gesellschaft gleichwertig sind. (Von diesem Problem wird im nächsten Abschnitt ausführlicher die Rede sein.) 3. Die moderne, von der funktionalen Differenzierung geprägte Gesellschaft unterscheidet sich auch dadurch von der stratifizierten Standes- oder Klassengesellschaft, dass sie - im Prinzip und ihrem (ideologischen) Selbstverständnis nach - allen Individuen den Zugang zu allen Teilsystemen gewährt: In der Wirtschaft kann jeder am Marktgeschehen partizipieren, in der Politik kann jeder sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht in Anspruch nehmen, und auch das Bildungssystem steht jedem zur Verfügung. Luhmann spricht von Inklusion: „Individuen können jetzt nicht mehr in der Gesellschaft sozial placiert werden, weil jedes Funktionssystem auf Inklusion aller Individuen reflektiert, aber die Inklusion sich nur noch auf die eigenen Operationen bezieht.“ 80 Dies bedeutet konkret, dass jeder in das Bildungs- und Wissenschaftssystem „inkludiert“ werden kann, solange er die entsprechenden Qualifikationen vorweisen kann; dass jeder am Wirtschaftssystem teilnehmen kann, solange er über die entsprechende Kaufkraft verfügt. Dass Millionäre diese Art von Inklusion anders erleben als Obdachlose, versteht sich von selbst, und Luhmann ist sich der Exklusion großer Teile der Bevölkerung vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern durchaus bewusst. 81 Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass er die Entwicklung der Gesellschaft anders erzählt als Marx oder Max Weber. Indem er die ihm bekannten Relevanzkriterien dieser Soziologen negiert und die für sie relevanten Gegensätze Kapital / Arbeit bzw. Bürokratie / Charisma durch den semantischen Gegensatz System / Umwelt ersetzt, konstruiert er eine ganz 79 N. Werber, „Niklas Luhmanns Kunst der Gesellschaft - Ein einführender Überblick“, in: N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 446. 80 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 765. 81 Vgl. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. II, op. cit., S. 146, wo zu Recht auf den komplementären Charakter der Begriffe „Inklusion“ und „Exklusion“ hingewiesen wird. <?page no="584"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 568 andere Geschichte, in der kollektiven und individuellen Aktanten oder Akteuren bestenfalls eine untergeordnete Rolle zufällt. Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint ihm nicht länger als eine „Geschichte der Klassenkämpfe“ oder als Auseinandersetzung zwischen Bürokratie und Charisma, sondern als ein Differenzierungsprozess, d.h. als Evolution, die von der Dif ferenz zwischen System und Umwelt angetrieben wird. Wie sieht diese Evolution genau aus? In einem Aufsatz mit dem Titel „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution“ stellt Luhmann die allgemeinen Bedingungen der Evolution dar: „Evolution ist nur möglich, wenn aus einem laufend reproduzierten Überschuß an Möglichkeiten immer wieder Geeignetes ausgewählt werden kann.“ 82 Den Überschuss an Möglichkeiten (etwa durch die Entdeckung des Feuers, des Schießpulvers oder der Dampfmaschine) nennt Luhmann in Anlehnung an Charles Darwin 83 und Herbert Spencer Variation, die „Auswahl des Geeigneten“ Selektion und die systematische Anwendung (in diesem Fall einer Erfindung) Retention oder Restabilisierung 84 : „Evolution ist jetzt zu begreifen als Zusammenwirken (Synthesis) einer Mehrheit von Mechanismen, nämlich solchen für Variation, Selektion und Retention (…).“ 85 Armin Nassehi verdeutlicht diesen Sachverhalt durch ein Beispiel: „Luhmanns angedeutetes Beispiel in diesem Zusammenhang ist etwa die durch Variation erfolgreiche Entdeckung der Landwirtschaft und ihre durch Selektion erwartbar gemachte Strukturierung.“ 86 Diese Strukturierung könnte als „Retention“ oder „Restabilisierung“ bezeichnet werden. Ein weiteres Beispiel wäre das Internet, dessen Entdeckung zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten bietet, von denen einige selektiert und durch routinemäßige Verwendung „stabilisiert“ werden. Aus erzähltheoretischer Sicht ist entscheidend, dass Luhmann in seinem Diskurs (als semantisch-narrativer Struktur) weder individuelle noch kollektive Aktanten auftreten lässt, sondern die soziale Evolution eher im 82 N. Luhmann, „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution“, in: G. Burkart, G. Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, op. cit., S. 246. 83 Vgl. M. Miller, „Evolution und Planung - einige kritische Bemerkungen zu Luhmanns Theorie soziokultureller Evolution“, in: H.-J. Giegel, U. Schimank, Beobachter der Mo derne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Frankfurt, Suhrkamp (2001), 2003, S. 161: „Evolution kann für Luhmann nur dann hinreichend wahrscheinlich sein, wenn die evolutionären Mechanismen Variation, Selektion und Re tention unabhängig voneinander operieren. Auch in diesem zentralen Grundprinzip seiner Evolutionstheorie folgt Luhmann getreulich dem darwinschen Paradigma.“ 84 In Soziale Systeme beruft sich Luhmann auf S. 19 auf Darwins Evolutionstheorie. 85 N. Luhmann, „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution“, in: G. Burkart, G. Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, op. cit., S. 284. 86 A. Nassehi, „Systemtheorie als Evolutionstheorie“, in: Luhmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung (Hrsg. O. Jahraus et al.), Stuttgart-Weimar, Metzler, 2012, S. 49. <?page no="585"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 569 Sinne von Comte und Spencer (vgl. Kap. V und Kap. IX) als Prozess ohne Subjekte erzählt. Die Frage, ob es möglich sei, auf den Subjektbegriff und die von ihm ableitbaren Begriffe Aktant und Akteur zu verzichten, ohne theoretische Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, soll nicht hier, sondern erst im sechsten Abschnitt aufgeworfen werden: nach einer gründlicheren Auseinandersetzung mit Luhmanns Differenzierungs- und Systemtheorie. Denn die Frage, welche Funktion der Systembegriff (das vieldeutige Wort „System“) in Luhmanns Diskurs erfüllt, kann erst nach einer Begriffsbestimmung seines Systembegriffs und einer Analyse der funktionalen Systembildung beantwortet werden. Zum Abschluss soll hier das Telos von Luhmanns Evolutionstheorie zur Sprache kommen: die Weltgesellschaft als das von seiner Erzählung angepeilte Ziel. Grundsätzlich distanziert sich Luhmann von modernen soziologischen Theorien (Marx, Comte, Spencer), deren Erzählungen auf ein Telos oder Ziel ausgerichtet sind: „Man kann nicht davon ausgehen, daß die Welt selbst schon kausal disponiert, etwa auf ein télos hin eingerichtet ist.“ 87 Dennoch argumentiert er an anderer Stelle so, dass sein Diskurs die Weltgesellschaft als Telos konstruiert: „Dies widerspricht nicht den Grundannahmen, ohne die es keine Weltgesellschaft und keine Globalisierungen geben würde, daß alle Funktionssysteme zur Globalisierung tendieren und daß der Übergang zu funktionaler Differenzierung (…) nur in der Etablierung eines Weltgesellschaftssystems seinen Abschluß finden kann.“ 88 Das unscheinbare Wörtchen „nur“ bekräftigt die teleologische Ausrichtung des Diskurses. Es lohnt sich, diese Textpassage näher zu betrachten, weil in ihr Tatsachenfeststellungen und Prognosen (Trendbeschreibungen) ineinander greifen. Es wird nicht behauptet, dass es eine Weltgesellschaft schon gibt, sondern dass die gegenwärtig existierenden „Funktionssysteme zur Globalisierung tendieren“ und dass der Differenzierungsprozess mit der „Etablierung eines Weltgesellschaftssystems“ abgeschlossen wird. Niemand wird bestreiten, dass sich seit Jahrzehnten (vielleicht schon seit Jahrhunderten: seit dem Römischen Imperium, seit den Conquistadores) Globalisierungstendenzen in allen Ländern der Welt bemerkbar machen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sie zwangsläufig in eine Weltgesellschaft als Einheit münden. Es bedeutet sicherlich nicht, dass es eine Weltgesellschaft bereits gibt, wie der folgende lapidare Satz aus Die Wissenschaft der Gesellschaft suggeriert: „Gesellschaft ist Weltgesellschaft.“ 89 Eine ausführlichere Darstellung aus Die Politik der Gesellschaft bietet eine Erklärung dafür, warum Luhmann die Weltgesellschaft für eine Tat- 87 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp (2000), 2002, S. 23. 88 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 809. 89 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 618. <?page no="586"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 570 sache hält oder für ein Telos in greifbarer Nähe. Er definiert das Gesellschaftssystem durch Kommunikation: „Will man die Funktion von ‚Staaten‘ am Ende dieses Jahrtausends abschätzen, empfiehlt es sich, vom Begriff der Weltgesellschaft auszugehen. Die Tatsache eines weltweiten Kommunikationssystems kann nicht bestritten werden.“ 90 Das trifft zweifellos zu. Der Kommunikationsbegriff reicht jedoch für eine Definition von „Gesellschaft“ nicht aus, zumal er sich ohne die komplementären Begriffe „Interesse“ und „Handlung“ in der Abstraktion auflöst. Individuen, Organisationen oder Systeme kommunizieren nicht jenseits aller Kontexte, sondern weil sie sich füreinander interessieren und in Übereinstimmung mit ihren Interessen handeln. Wenn meine Uhr stehen bleibt, frage ich jemanden nach der Uhrzeit: d.h. ich interessiere mich für ihn als Besitzer einer Uhr und handle entsprechend, indem ich eine Kommunikation in die Wege leite. Kommunikationen sind nie freischwebend: Sie zeugen von Interesse und werden durch Handlungen (ansprechen, anrufen, anschreiben) verwirklicht. Wird „Kommunikation“ von Interesse und Handlung abgelöst, büßt sie ihre Bedeutung ein und verkommt zu einer vieldeutigen Abstraktion. Auf die „Weltgesellschaft“ angewandt bedeutet dies, dass Zunahme von Kommunikation als wachsender Vernetzung oder Globalisierung nicht mit zunehmender Homogenität einhergeht, wenn Interessen und Handlungen von Gruppen und Staaten auseinanderstreben, so dass Kommunikation auch oder vorwiegend antagonistisch verläuft. Sie kann nach dem Zerfall der europäischen Kolonialreiche und der Sowjetunion sogar eine Zunahme der Heterogenität zur Folge haben, weil sich Staatsgesellschaften aus kulturellen (religiösen), ideologischen und wirtschaftlichen Gründen immer stärker voneinander unterscheiden oder gegeneinander abgrenzen und weil durch die Proliferation von Atomwaffen ein Staat für den anderen zu einer akuten Bedrohung wird. Veranschaulicht wird diese Entwicklung durch die Konflikte zwischen Indien und Pakistan (früher Britisch Indien) und zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbeidschan. Vor diesem Hintergrund ähnelt die „Weltgesellschaft“ eher Hobbesʼ „Naturzustand“ (state of nature) als seiner befriedeten Zivilgesellschaft (dem Commonwealth). In einem ganz anderen Kontext spricht Jürgen Habermas von dem „noch unbewältigte[n] Naturzustand zwischen den Völkern“. 91 Die Staaten der Gegenwart befinden sich - wie eh und je - im „Naturzustand“, wie die Besetzung der Krim durch Russland zeigt, und dieser Zustand wird eher von 90 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 220. 91 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Luchterhand, 1978 (9. Aufl.), S. 277. <?page no="587"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 571 wachsender politischer Heterogenität, d.h. von divergierenden politischen und militärischen Interessen geprägt als von Verständigung. Luhmann geht jedoch von einer wachsenden Homogenität oder Verflechtung durch Kommunikation aus, wenn er vom „Empfang der Nachrichten ausländischer Provenienz“, von der „Bemühung um internationale Kredite“ und vom „Copieren von Schul- und Universitätssystemen der fortgeschrittenen Länder“ 92 spricht. Er widerspricht sich zugleich, wenn er zu diesen vereinheitlichenden Tendenzen auch „politisch-militärische Vorkehrungen für Ereignisse jenseits der eigenen Grenzen“ 93 rechnet, die von Antagonismus und Heterogenität als „Naturzustand“ zeugen. In eine ähnliche Argumentationssituation geraten Kneer und Nassehi, wenn sie „Kapitalflucht ins Ausland“ als Symptom für Globalisierung und Vereinheitlichung auffassen: „Es ist soziologisch kaum sinnvoll, dies so zu beschreiben, das Kapital flüchte von einer Wirtschaft in die andere.“ 94 Gerade dies ist aber der Fall: weil das Kapital (d.h. die verantwortlichen Individuen und Gruppen) in ein anderes - eben ausländisches - Wirtschafts- und Rechtssystem flüchtet, in dem andere Gesetze und Regeln gelten. Eine Flucht von Hannover nach Berlin (d.h. innerhalb eines sozio-ökonomischen Systems) wird selten sinnvoll sein, sehr wohl aber eine Flucht in die USA, die Schweiz oder nach Singapur. Kapitalflucht ist kein Zeichen zunehmender Homogenität der „Weltgesellschaft“: eher zeugt sie von deren Heterogenität oder Nichtexistenz. In einer einheitlichen Gesellschaft oder Wirtschaft wäre Kapitalflucht sinnlos. Denn Flucht ist stets Flucht über eine Grenze, die zugleich Systemgrenze ist. Da er die Weltgesellschaft als Telos der Evolution anvisiert (ohne es zuzugeben), muss Luhmann trotz seiner Hinweise auf ihre Differenziertheit von einer zunehmenden Homogenität dieser Gesellschaft ausgehen, denn eine Gesellschaft, die von Antagonismus, wachsender Heterogenität und Zerfall geprägt ist, ist keine. Er treibt in seiner Erzählung (und es handelt sich um eine kontingente Erzählung als Konstruktion) die Globalisierungs- und Homogenitätsthese so weit, dass er sich in dem folgenden Satz aus Die Politik der Gesellschaft über allgemein bekannte Tatsachen hinwegsetzt: 92 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 809. Vgl. auch N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 160, wo behauptet wird, dass „das, was überhaupt gemeint ist, wenn man von ‚Staat‘, Schulen usw. spricht, durch die moderne, weltweite ‚Kultur‘ vorgegeben ist“. An der Existenz einer einheitlichen „weltweiten Kultur“ ist füglich zu zweifeln, und von einem einheitlichen Schulwesen ist die Welt noch sehr weit entfernt, zumal sogar innerhalb der EU Studierende bisweilen Mühe haben, ihre nationalen Diplome im „Ausland“ anerkennen zu lassen. 93 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 809. 94 G. Kneer, A. Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, op. cit., S. 153. <?page no="588"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 572 „Bürgerkriege in einzelnen Ländern werden international nicht mehr toleriert, Menschenrechtsverletzungen kritisiert (…).“ 95 Dass Menschenrechtsverletzungen kritisiert werden (zumeist ohne Folgen), soll nicht bestritten werden, aber die Behauptung, dass „Bürgerkriege international nicht mehr toleriert“ werden (tolerieren = dulden, geschehen lassen), widerspricht der Tatsache, dass Luhmann in den 1980er und 90er Jahren die beiden verheerenden Bürgerkriege im Libanon und in Jugoslawien beobachten konnte. Er konnte auch beobachten, wie die Vereinten Nationen als ohnmächtige Zuschauer und nicht als Vertreter eines politischen Weltsystems vergeblich mahnten, kritisierten, verurteilten. Es kommt hinzu, dass er sich widerspricht, wenn er an anderer Stelle ganz zu Recht von der „Unfähigkeit der Staatenwelt“ spricht, „die Kriegsgefahr wirksam zu bannen“. 96 Es fragt sich, wie es zu dieser Tatsachenverzerrung, die Widersprüche zeitigt, kommt. Es wäre zu einfach und zu billig, sie auf eine Unaufmerksamkeit des Autors zurückzuführen. Ihre Ursache geht weit über derlei Trivialitäten hinaus: denn sie ist ein Aspekt des „autopoietischen Diskurses“, dessen Erzählung auf das Telos „Weltgesellschaft“ zustrebt und deshalb - trotz aller Hinweise auf Konflikte als Bestandteile der Kommunikation - auf Homogenität aus ist. Die Homogenität nimmt in diesem Diskurs die Stelle ein, die in Parsonsʼ Diskurs der soziale Konsens der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft besetzte. Wie bei Hegel wird schließlich alles getilgt, auch die eine oder andere unbequeme Tatsache, was sich der diskursiven Kohärenz der Erzählung als System in den Weg stellt. Der von allem Besonderen abstrahierende, totalisierende Diskurs zwingt letztlich sein Aussagesubjekt, sich über Tatsachen hinwegzusetzen. Nach einer aufmerksamen Lektüre des „Vorwortes“ zu den Sozialen Systemen war nichts anderes zu erwarten. In diesem Vorwort vergleicht Luhmann seine Theoriebildung mit einem Flug über den Wolken: „Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen.“ 97 Diese Metaphorik zeugt nicht nur von „Selbstreferenz“, „Autopoiesis“ und „operativer Schließung“, sondern auch von einer monologischen Abstraktion aus der Vogelperspektive, die alles Besondere, Spezifische weit unter sich lässt. Die Folge ist nicht nur eine Vernachlässigung des Empirischen, sondern auch eine (wenn auch implizite) Ablehnung der Wissenschaften, die Besonderheiten, Unterschiede und Nuancen zu ihrem Hauptanliegen machen, 95 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 245. 96 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 200. 97 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 13. <?page no="589"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 573 indem sie vergleichend und kontrastiv zu Werk gehen: der Komparatistiken. Luhmann beruft sich auf sein weltgesellschaftliches Konzept, wenn er Ländernamen aus dem Bereich wissenschaftlicher Theorie verbannt: „Trotz der unübersehbaren weltweiten Zusammenhänge in der modernen Gesellschaft leistet die Soziologie nachdrücklichen Widerstand, wenn es darum geht, dieses globale System als Gesellschaft anzuerkennen. Wie im alltäglichen Sprachgebrauch ist es auch in der Soziologie ganz üblich, von italienischer Gesellschaft, spanischer Gesellschaft usw. zu sprechen, obwohl Namen wie Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten.“ 98 Die Soziologie weiß sehr wohl, weshalb sie „Widerstand leistet“: Als Vergleichende Soziologie 99 weiß sie sich allen anderen vergleichenden Wissenschaften - der Vergleichenden Politikwissenschaft, Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft, Literaturwissenschaft 100 - verbunden, die ohne Ländernamen, die zugleich Bezeichnungen für Sprachen wie Deutsch, Italienisch, Spanisch sind, nicht auskommen. Luhmanns Vernachlässigung des Empirischen und Besonderen führt somit zu einer Anomalie im wissenschaftlichen, institutionellen Bereich: Indem er versucht, Ländernamen in der Theorie zu tilgen (sie aber immer wieder verwendet) 101 , leugnet er die Daseinsberechtigung aller vergleichenden Wissenschaften, die stets Besonderheiten und Unterschiede anvisieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass seine Systemtheorie zwar eine einmalige Übersicht über nahezu alle Bereiche der Gesellschaft bietet, zugleich aber dazu neigt, sich über die besonderen sozialen Zusammenhänge und Vermittlungen hinwegzusetzen, ohne die Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst nicht konkret zu verstehen sind. 4. Autopoiesis und Kommunikation, doppelte Kontingenz und Systembildung: System und Umwelt Da Kritik geübt wurde und weiterhin geübt wird, soll zunächst Luhmanns Verdienst um die soziologische Theorie und um die Soziologie als Fach hervorgehoben werden. Im Gegensatz zu „Klassikern“ wie Durkheim, Max We- 98 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 158. 99 Vgl. z.B. I. Srubar, J. Renn, U. Wenzel (Hrsg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden, VS Verlag, 2005 sowie J. Matthes, „Vergleichen“, in: A. Wierlacher, A. Bogner (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2003. 100 Vgl. P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000 sowie die Kritik an Luhmann in: P. V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2011 (2. Aufl.), S. 15. 101 Vgl. N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 101,190, 309. <?page no="590"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 574 ber, Simmel und sogar Parsons, die bestimmte Aspekte der Gesellschaft beleuchteten und andere im Dunkeln ließen, erfasst Luhmann in seinem System fast die gesamte soziale Welt von der Wirtschaft bis zur Kunst, von der Moral bis zum Vertrauen und der Liebe. Seine Darstellung sozialer Teilsysteme als autopoietischer Einheiten, die von binären Kodes wie zahlen / nicht zahlen (Wirtschaft), Recht / Un recht (Rechtssystem) oder Wahrheit / Unwahrheit (Wissenschaft) strukturiert werden, bietet eine analytische Übersicht über die Gesellschaft, die eine Diskussion über konstruktivistische Autopoiesis und dialektische Vermittlung, Autonomie und Heteronomie der Systeme erst ermöglicht und lohnend macht. Dialogische Kritik sollte nie vergessen, dass sie ihre Da seinsberechtigung und ihren Erkenntnisgewinn dem kritisierten Gegenstand verdankt. Dieser Gegenstand ist komplex und kann hier nur in großen Zügen wiedergegeben werden. Von der Evolution als Differenzierungsprozess, der in der Moderne ausdifferenzierte soziale Systeme mit komplementären, aber nicht austauschbaren Funktionen entstehen lässt, war bereits die Rede. Luhmann ist insofern ein Theoretiker der späten Moderne, als er primär die ausdifferenzierte moderne Gesellschaft als „Weltgesellschaft“ ins Auge fasst. Am Anfang von Soziale Systeme geht er über den sozialen Bereich hinaus, um verschiedene soziale und nichtsoziale Systeme zu unterscheiden: Maschi nen, Organismen (lebende Systeme), soziale Systeme und psychische Sys teme (menschliches Bewusstsein). Die sozialen Systeme, die stets im Vordergrund stehen, unterteilt er in Interaktionen, Organisationen und Gesell schaften. In diesem Zusammenhang ist ein Ergänzungsvorschlag von Rainer Greshoff hilfreich, welcher der Tatsache Rechnung trägt, dass Luhmann psychische und soziale Systeme als Sinnsysteme auffasst 102 und sie so gegen Maschinen und organische (biologische) Systeme abgrenzt, deren Funktionieren nicht auf Sinn zurückgeführt werden kann. Zu den Begriffen „psychisches System“ und „soziales System“ bemerkt Greshoff: „‚Sinnsystem‘ ist Oberbegriff zu diesen Konzepten.“ 103 Im Anschluss an diese Ergänzung kann nun festgestellt werden: Psychische und soziale Systeme (Interaktio nen, Organisationen und Gesellschaften) sind sinnbildende und sinnverwen dende Systeme. 102 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 44. 103 R. Greshoff, „Wie vergleichbar ist Luhmanns Theorie des Sozialen? Exemplarische Überlegungen zu Luhmanns grundlegendem Konzept ‚Sinn(system)‘, in: Sociologia In ternationalis 2, 1997, S. 227. Vgl. dazu G. Kneer, A. Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, op. cit., S. 75: „Psychische und soziale Systeme konzipiert Luhmann als Sinn konstituierende und verwendende Systeme (…).“ <?page no="591"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 575 Trotz aller Unterschiede ist allen hier genannten Systemen eines gemeinsam: Autopoiesis. Dieser von Maturana und Varela eingeführte Begriff wurde im Zusammenhang mit Luhmanns Theorieauffassung eingangs kommentiert: Er besagt, dass Systeme welcher Art auch immer die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst hervorbringen. Wie der Körper seine Zellen, so bringen soziale Systeme ebenfalls die sie konstituierenden Elemente hervor: Kommunikationen. Das heißt: Ihre Autopoiesis hat kommunikativen Charakter. „Gesellschaft ist das autopoietische Sozialsystem par excellence“ 104 , heißt es in Soziale Systeme. Wie ist das zu verstehen? Es ist so zu verstehen, dass nicht nur die Gesellschaft als ganze, sondern auch alle ihre Subsysteme oder Teilsysteme autopoietischen Charakter haben. Wil Martens erklärt: „Autopoiesis besagt, daß soziale Systeme ihre Strukturen selbst anfertigen; sie tun das, indem ihre Kommunikationen sich aufeinander beziehen und aneinanderreihen und dadurch von der Umwelt des Systems abgrenzen.“ 105 Damit ist Kommunikation als das Element angesprochen, aus dem soziale Systeme bestehen. Sie ist aber auch das Element, aus dem sie hervorgehen. Insofern unterscheiden sie sich von psychischen Systemen als Bewusstseinsformen, Gefühlen und Emotionen, die diesseits oder jenseits von Kommunikation angesiedelt werden und zur Umwelt des Sozialsystems gehören (vgl. weiter unten). Laut Luhmann entstehen soziale Systeme in und durch Kommunikation: „Wir gehen davon aus, daß soziale Systeme entstehen, wenn immer Personen zueinander in Beziehung treten.“ 106 Dies bedeutet zugleich, dass ein soziales System in einer Situation zustande kommt, die von doppelter Kontingenz geprägt ist: „Sobald personale Systeme als Ego und Alter zueinander in Beziehung treten, entsteht ein als doppelte Kontingenz bezeichnetes Problem. Ego und Alter müssen sich wechselseitig als kontingent handelnd interpretieren.“ 107 Der wesentliche Unterschied zu Parsonsʼ Auffassung dieser Situation der doppelten Kontingenz besteht darin, dass Parsons das Handeln von Ego und Alter in der doppelten Kontingenz als in ein Werte- und Normensystem eingebettet betrachtete, während Luhmann, wie sich gezeigt hat 104 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 555. 105 W. Martens, „Die kulturelle und soziale Ordnung des Handelns: Eine Analyse der Beiträge Parsonsʼ und Luhmanns“, in: R. Greshoff, G. Kneer (Hrsg.), Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive, op. cit., S. 84. Vgl. auch N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 71: „Autopoiesis heißt: für das System selbst unbeendbares Weiterlaufen der Produktion von Elementen des Systems durch Elemente des Systems.“ 106 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 97. 107 Ibid., S. 99-100. <?page no="592"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 576 (Abschn. 2), nicht mehr von der Annahme ausgeht oder ausgehen kann, dass die Gesellschaft auf einem aus gemeinsamen Werten und Normen bestehenden Kulturkonsens gründet. Stattdessen nimmt er an, dass sich in einem System, das aus Interaktionen hervorgeht, im Laufe der Zeit Handlungsmuster, Formen und Normen bilden. 108 Im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung der drei Sozialsysteme - Interaktionssystem, Organisationssystem und Gesellschaftssystem - geht Luhmann zunächst auf das Interaktionssystem ein und definiert Interaktionssysteme wie folgt: „Interaktionssysteme kommen dadurch zustande, daß Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen.“ 109 Als Beispiele führt er „das gemeinsame Mittagessen in der Familie“, „die einzelne Kabinettssitzung“, „eine Skatrunde“ und „das Schlangestehen an der Theaterkasse“ 110 an. Problematisch ist in diesem Zusammenhang sein Vorschlag, auch „Schlägerei“ 111 als Interaktionssystem aufzufassen. Im Gegensatz zu den anderen als Beispiele angeführten Interaktionen kennt eine Schlägerei zwar Regelmäßigkeiten (Beleidigungen, Drohungen usw.), aber weder Normen noch Regeln, nach denen sie ablaufen soll, und kann deshalb nicht als System aufgefasst werden. Denn so mancher wird in eine Schlägerei verwickelt, ohne zu wissen, worum es geht. Er kann nach Belieben aus dieser Interaktion ausbrechen, das Messer zücken oder mit einem Stuhl zuschlagen. Eine Schlägerei gehorcht der Willkür, nicht der von allen anerkannten und reflektierten Regel. Das Fußballspiel, das sehr wohl ein System von Regeln und Normen ist, wird vom Schiedsrichter unterbrochen, sobald eine Schlägerei ausbricht, die nur als Systemstörung wahrgenommen werden kann. (Saussure betrachtet die Sprache als System, weil sie auf bestimmten Regeln und Normen gründet und vergleicht sie auf dieser Grundlage mit dem Schachspiel. Das heißt: Systeme setzten Regeln, Normen und Regelmäßigkeiten voraus.) Hier wird der Systembegriff überdehnt, zumal Luhmann „Kommunikation“ in drei Komponenten einteilt: Information, Mitteilung, Verstehen. In einer „Schlägerei“ werden selten Informationen ausgetauscht, es wird kaum etwas mitgeteilt und wenig verstanden (Schlägereien brechen oft wegen fehlender verbaler Kommunikation aus). Im Gegensatz dazu werden auf einer Tagung als Interaktion systematisch Informationen verbreitet, nehmen als Mitteilungen mündliche oder schriftliche Formen an („Mitteilung“ bezieht sich auf die Form der Information) und werden richtig oder falsch verstanden. Luhmann rechnet ganz zu Recht auch Missver- 108 Vgl. N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, op. cit., S. 252. 109 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 211. 110 Ibid. 111 Ibid. <?page no="593"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 577 ständnisse zur Kommunikation - zumal es produktive, weiterführende und auch erheiternde Missverständnisse geben kann. Außer der Interaktion, die zwischen Anwesenden stattfindet und eher zwanglos abläuft, ist auch die Organisation ein aus Kommunikationen bestehendes Sozialsystem. Ihre Existenz hängt von formalen Bedingungen ab, zu denen an erster Stelle die Mitgliedschaft gehört. Deren Bedeutung kommt in der folgenden Definition zum Ausdruck: „Als organisiert können wir Sozialsysteme bezeichnen, die die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen, also Eintritt und Austritt von Bedingungen abhängig machen.“ 112 Luhmann übergeht den Begriff Institution, den er in seinem zweibändigen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft nur einmal erwähnt, und setzt an seine Stelle den schon erwähnten Begriff Sozialsystem. Es fragt sich allerdings, ob Sozialsystem nicht ein der Institution und der Organisation übergeordneter Begriff sein könnte oder sollte, weil sich ein Gesellschaftssystem wie „Wirtschaft“ bei näherer Betrachtung nicht nur aus Interaktionen und Organisationen (etwa Gewerkschaften oder Berufsverbänden), sondern auch aus Institutionen wie Versicherungen und Handelskammern zusammensetzt. Es wird sich zeigen, dass ein ähnliches Problem bei Bourdieu auftritt, der den Institutionsbegriff nur sporadisch und unabhängig von seinem Feld-Begriff verwendet, obwohl er in der Soziologie einen zentralen Platz einnimmt. 113 Luhmanns „Sprung“ von der recht konkret definierten „Organisation“ zum außerordentlich abstrakten Gesellschaftssystem als „Weltgesellschaft“ lässt vermuten, dass in seinem Theoriesystem eine Lücke klafft, die durch das Auslassen der „Institution“ verursacht wurde. Das Gesellschaftssystem wird, wie bereits angedeutet, ebenfalls als Ensemble von Kommunikationen definiert: „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen.“ 114 Konsequent fügt Luhmann hinzu: „In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft.“ 115 Von ihr soll hier nicht mehr die Rede sein, sondern vom Gesellschaftssystem, das Luhmann in diesem Fall zwar mit Hilfe der Begriffe „Kommunikation“ und „Handlung“ beschreibt, an anderer Stelle jedoch versucht, den Handlungsbegriff zu disqualifizieren: „Ich glaube nicht, dass der Handlungsbegriff sich dazu eignet, in unserem Zusammenhang an die Stelle des 112 Ibid., S. 214. 113 Vgl. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1950), Wiebelsheim, Aula-Verlag, 2009 (15. Aufl.) sowie A. C. Zijderveld, Institutionalisering: een studie over het methodologisch dilemma der sociale wetenschappen, Meppel, Boom, 1974 und V. Tournay, Sociologie des institutions, Paris, PUF, 2011, dies., Penser le changement institutionnel, Paris, PUF, 2014. 114 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 212. 115 Ibid. <?page no="594"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 578 Kommunikationsbegriffs zu treten (…).“ 116 In Gesellschaftsstruktur und Semantik spricht er wieder von „kommunikative[n] Handlungen“ 117 , so dass angenommen werden kann, dass „Kommunikation“ (eventuell als „Handlung“) der Schlüsselbegriff ist. Als System von Kommunikationen wird das Sozialsystem im Rahmen des binären Gegensatzes System / Umwelt definiert. Diese Differenz wird von Luhmann konkretisiert, wenn er erklärt, dass die Umwelt eines jeden Teilsystems der Gesellschaft aus der Gesamtheit der restlichen Systeme besteht und „daß das Gesellschaftssystem für alle Systeme in ihm immer auch differenzierte Umwelt ist“. 118 Das heißt, dass z.B. für das Wirtschaftssystem die anderen Teilsysteme („Politik“, „Recht“, „Wissenschaft“) Umwelt sind. Für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sind organische und anorganische Natur sowie der Mensch als Bewusstsein oder Psyche Umwelt. Der Mensch als psychisches System, das aus Wahrnehmung, Gefühl und Emotion besteht, gehört nicht zum sozialen System. Daher kann Luhmann im Zusammenhang mit den in der „doppelten Kontingenz“ interagierenden Personen sagen: „Die Einzelpersonen bleiben im Verhältnis zueinander, aber auch im Verhältnis zu dem sich bildenden Sozialsystem Umwelt.“ 119 Das ist nicht so sonderbar, wie es klingt: Vincent Descombes unterscheidet eine innerliche Subjektivität „mentaler Zustände“ und eine „expressive Subjektivität“, die kommuniziert. 120 Luhmann, der den Subjektbegriff ablehnt, könnte im Anschluss an diese Unterscheidung nur die „expressive“, die kommunizierende Person zum Sozialsystem rechnen, die Person als Ensemble von „mentalen Zuständen“ oder Bewusstseinsformen hingegen zur Umwelt dieses Systems. Diese Betrachtungsweise oder Konstruktion mag analytisch sinnvoll sein, zeugt zugleich aber von der phänomenologisch-konstruktivistischen Trennung, von der hier im ersten Abschnitt die Rede war. Ausgehend von der dialektischen Vermittlung, könnte man die stets sozialisierte Psyche auch als Teil des Sozialsystems auffassen und zeigen, wie psychische Zustände in Kommunikationen wirken (etwa in psychoanalytischen Therapien: in Fehlleistungen usw.). Rainer Greshoff, dessen Ausgangspunkt eher Max Webers Handlungssoziologie als Dialektik ist, versucht zu zeigen, dass Luhmann das „Verstehen“ als Bestandteil der Kommunikation sowohl im psychischen als auch im sozialen Sinne verwendet und dadurch die von ihm postulierte Tren- 116 N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, op. cit., S. 76. 117 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I, op. cit., S. 245. 118 Ibid., S. 69 119 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 97. 120 V. Descombes, Les Embarras de l’identité, Paris, Gallimard, 2013, S. 96. <?page no="595"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 579 nung selbst unterläuft, so dass „die strikte Trennung zwischen Psychischem und Sozialem illusionär ist“. 121 Durchgehalten wird die Trennung in Luhmanns Darstellung des Verhältnisses von autopoietischem System und seiner Umwelt. Diese Umwelt ist durch eine Komplexität gekennzeichnet, die in der modernen Gesellschaft stetig zunimmt. Ein System wie „Wirtschaft“, „Politik“ oder „Wissenschaft“ sieht sich daher genötigt, die Umweltkomplexität in Übereinstimmung mit seinem binären Kode (zahlen / nicht zahlen, Macht / Machtverlust, Wahrheit / Unwahrheit) und dem aus ihm ableitbaren Sinngefüge zu reduzieren. Schon in seinem ersten größeren Werk Zweckbegriff und Systemrationalität geht Luhmann auf diese notwendige Reduktion der Komplexität durch das System und auf deren Risiken ein: „Durch Zwecksetzung macht sich ein System mithin von zahllosen Aspekten seiner Umwelt frei, setzt Grenzen, gewinnt Autonomie, setzt sich eben dadurch aber auch der Gefahr aus, bestandswichtige Fakten oder Veränderungen in der Umwelt zu verkennen.“ 122 Für ein autopoietisches System wie die Wirtschaft, dessen Sinnstruktur vom Kode zahlen / nicht zahlen bestimmt wird, bedeutet dies, dass es immer wieder die Frage zu beantworten hat, ob Entscheidungen in anderen Systemen wirtschaftlich relevant sind und in seine „Sprache“ übersetzt werden können. Wird beispielsweise ein neues Umweltgesetz verabschiedet, stellt sich im Wirtschaftssystem die Frage, ob es mit Kosten (neuen Auflagen, Filtern, Katalysatoren usw.) verbunden ist. Wenn nicht, ist es für den Kode irrelevant und bleibt in der Umwelt, so dass eine Steigerung der systemeigenen Komplexität in Form von organisatorischen oder technischen Ergänzungen unterbleiben kann. Freilich sind auf dieser Ebene Irrtümer möglich, so dass „bestandswichtige Fakten“ (etwa die Reichweite des neuen Gesetzes) aufgrund von Autopoiesis als Selbstreferenz übersehen werden und die Komplexität unzulässig reduziert wird. Die autopoietische Geschlossenheit oder Schließung eines Systems bringt daher Gefahren mit sich, wird jedoch durch die Irritabilität des Systems, durch seine Fähigkeit, auf Veränderungen in seiner Umwelt zu reagieren, wettgemacht. Die Reduktion von Umweltkomplexität wird durch Kommunikationsmedien wie Sprache, Liebe und Vertrauen, Geld, Macht und Wahrheit erleichtert. Während die ersten drei Medien unspezifisch sind und in allen Systemen zur Anwendung kommen, sind die drei letztgenannten für die Systeme „Wirtschaft“, „Politik“ und „Wissenschaft“ spezifisch. 121 R. Greshoff, Die theoretischen Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann im Vergleich, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 250. 122 N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität (1968), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 199. <?page no="596"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 580 Luhmann spricht vom „Vertrauen als Reduktion der Komplexität“ 123 und meint damit beispielsweise die Möglichkeit, Vertrauenspersonen zu beauftragen, statt selbst (etwa im fernen Ausland) zu intervenieren. Auf ganz andere Art ermöglicht das Geld, das im Laufe der Evolution den umständlichen Tauschhandel ablöst, eine Reduktion von Komplexität: „Wer Geld besitzt, verfügt über ein generelles Problemlösungsmittel (…).“ 124 Sofern die Kommunikationsmedien „Geld“, „Macht“ und „Wahrheit“ für die Sinnkonstitution der Systeme „Wirtschaft“, „Politik“ und „Wissenschaft“ wesentlich sind, begründen sie deren Autopoiesis und operative Schließung (Grenzziehung zur Umwelt), ermöglichen aber zugleich ihre Kopplung an die Umwelt, in der diese Medien Geltung haben. Operative Schließung des Systems als Folge von Autopoiesis und Selbstreferenz besagt: „eigene Rekursivität, Orientierung an selbstproduzierten Eigenwerten, Selbstversorgung mit Gedächtnis (…). Sie besagt nicht: Unabhängigkeit von der Umwelt.“ 125 Wie das Verhältnis von System und Umwelt konkret aussieht, schildert Luhmann in Die Wirtschaft der Gesellschaft, wo er betont, dass die Wirtschaft nicht „ignorieren kann, welche Verhaltensweisen vom Rechtssystem als rechtmäßig und welche als rechtswidrig eingestuft werden“. 126 Kein System kann sich „auf eine Position radikaler Indifferenz zurückziehen“. 127 Luhmann beschreibt die Beziehung zwischen den verschiedenen Systemen als strukturelle Kopplung. Diese wird von Richard Münch veranschaulicht: „Recht und Politik werden durch die Verfassung aneinander gekoppelt, Recht und Wirtschaft durch Eigentum und Vertrag, Wissenschaft und Erziehungssystem durch Universitäten, Politik und Wissenschaft durch politische Beratung.“ 128 Es wird sich jedoch zeigen, dass Systeme auch ganz anders ineinander greifen können, als es Luhmann mit seinem Begriff der strukturellen Kopplung darstellt, und dass ihre Neigung zur Indifferenz der Umwelt gegenüber zu einem nicht zu unterschätzenden Problem werden kann (vergl. Abschn. 6). Die Reaktionen eines Systems auf die Komplexität seiner Umwelt erfolgt stets durch Rückbesinnung auf seinen binären Kode und auf den von diesem Kode strukturierten Sinn. Die Frage lautet: Ist ein Element oder ein Problem aus der Umwelt für unseren Kode und uns als Sinnsystem relevant? So wird 123 N. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (1968), Stuttgart, Enke, 1989, S. 23. 124 Ibid., S. 54. 125 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 111. 126 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 86. 127 Ibid. 128 R. Münch, „Systembildung und Systemdifferenzierung. Niklas Luhmanns Systemtheorie“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. III: Gesellschaftstheorie, Frankfurt, Campus, 2004, S. 213. <?page no="597"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 581 etwa die Frage, ob es mehrere Götter gibt oder nur einen Gott, vom Wissenschaftssystem als irrelevant betrachtet, weil sie als wissenschaftliche Frage nicht wahrheitsfähig ist: Antworten auf sie sind auf empirischer Ebene nicht überprüfbar. Die Frage gehört in das Religionssystem 129 , wo sie von Polytheismus und Monotheismus klar beantwortet wird - wenn auch widersprüchlich. Luhmann bezeichnet diese Rückbesinnung des Systems auf seinen binären Kode im Anschluss an den amerikanischen Philosophen George Spencer Brown als re entry: wörtlich als Wiedereintritt des Kodes und seiner Bedeutung in das System. „‚Re-entry‘“, erläutert Luhmann diesen Sachverhalt, „ist der Wiedereintritt einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (…)“ 130 , also „der Unterscheidung von System und Umwelt“ 131 in das System und seine Sinnstruktur. Rückbesinnung als reflexives Verhalten beinhaltet zugleich Selbstbe obachtung. „Denn“, sagt Luhmann, „Kommunikation kann auf sich selbst angewandt, kann reflexiv werden (…).“ 132 Das heißt, dass die am Sinnsystem Beteiligten ihre eigenen Relevanzkriterien beobachten: etwa ihre Zuständigkeit oder Nichtzuständigkeit für einen bestimmten Sachverhalt oder ein bestimmtes Problem im Rahmen ihres binären Kodes und des auf ihm gründenden Sinnsystems. So können beispielsweise Vertreter des Rechtssystems entscheiden, dass sie nicht tätig werden können, wenn jemand die Regierung als „inkompetent“ kritisiert, weil Kritik in einem demokratischen System legitim ist. Wird jedoch eine Politikerin oder ein Politiker beleidigt oder verleumdet, können sie sich für zuständig erklären, weil „Beleidigung“ und „Verleumdung“ im Rahmen des Kodes Recht / Unrecht relevante Tatbestände sind. In diesem Kontext bemerkt Helga Gripp-Hagelstange: „Sinn stellt eine Möglichkeit zur Verfügung, innerhalb derer Beobachtungsoperationen stattfinden können.“ 133 Anders gesagt: Zuständigkeit und Handlungsbedarf 129 Zur Unterscheidung des Sakralen und des Profanen vgl. N. Luhmann, Funktion der Re ligion, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 194. 130 N. Luhmann, „Die Richtigkeit soziologischer Theorie“, op. cit., S. 39. 131 Ibid. Vgl. auch Th. Hölscher, „Niklas Luhmanns Systemtheorie“, in: T. Schönwälder, K. Wille, Th. Hölscher, George Spencer Brown. Eine Einführung in die „Laws of Form“, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 254: „Luhmann fasst das ‚Reentry‘ lediglich als Wiedereintritt der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene bzw. als Wiedereintritt der Form in die Form (…).“ 132 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I, op. cit., S. 98. Vgl. auch Luhmanns Darstellung der Selbstbeobachtung als „Reflexion“ in Die Wissenschaft der Ge sellschaft, op. cit., S. 84. 133 H. Gripp-Hagelstange, Niklas Luhmann. Eine Einführung, München, Fink, 1997 (2. Aufl.), S. 53. <?page no="598"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 582 werden anhand von Beobachtungen des eigenen Sinnsystems entschieden: anhand von Selbstbeobachtungen. Diese Beobachtungen beziehen sich aber immer auch auf die Art, wie andere Systeme das eigene System - gleichsam von außen, aus der „Umwelt“ heraus - beobachten. So kommt eine Beobachtung zweiten Grades zustande, die der Frage nachgeht, wie man selbst als beobachtendes System (etwa als „Politik“) von den anderen Systemen (etwa „Medien“ oder „Wissenschaft“) im Rahmen ihrer Kodes beobachtet wird, wobei die eigenen „blinden Flecken“ sichtbar werden können. Deshalb ist es notwendig, außer dem eigenen Kode auch die Kodes der anderen Systeme gleichsam „mitzudenken“, in deren Kontext die eigenen Vorgehensweisen beobachtet und beurteilt werden: als gesetzeskonform oder gesetzeswidrig, als kompetent oder inkompetent usw. Daher weist Rainer Greshoff zu Recht darauf hin, dass zu der kodifizierten System-Umwelt-Unterscheidung des eigenen Systems die Unterscheidung „eines anderen Systems“ 134 hinzutritt, weil man als Beobachter zweiten Grades gern wissen möchte, wie man selbst beobachtet wird (etwa die „Politik“ von den „Medien“), um entsprechend reagieren zu können. 5. Vier Modelle: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst Im Anschluss an diese knappe Übersicht soll nun die Funktionsweise der Systeme anhand von vier Modellen konkretisiert werden: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst. Dabei geht es nicht nur darum, Autopoiesis, Selbstreferentialität, systemische Kopplung und wechselseitige Beobachtung zu veranschaulichen. Es geht auch darum, eine Vorgehensweise in Frage zu stellen, die Gesellschaft aus der Sicht der phänomenologisch-konstruktivistischen Trennung betrachtet und dabei die dialektische Vermittlung als Ineinandergreifen der Systeme und als ihre gelegentliche Verschmelzung durch die Einwirkung subjektiver Gruppeninteressen nicht wahrnimmt. Luhmann, der sich an den Argumentationsmustern der Phänomenologie und der Kybernetik orientiert, neigt dazu, das eigentlich Soziale der Gesellschaft zu übersehen: Subjektivität, Interesse, Herrschaft. (Diesen blinden Fleck hat Gouldner schon bei Parsons beanstandet: vgl. Kap. XIV. 6.) In Luhmanns Die Wirtschaft der Gesellschaft fällt im dialogischen Kontext als Erstes auf, dass das „Geld“ die Stelle besetzt, die in Marxʼ Diskurs 134 R. Greshoff, „Theorienentscheidung und Theorienvergleich. Niklas Luhmanns Auseinandersetzung mit Max Weber“, in: F. Benseler, B. Blanck, R. Greshoff, W. Loh (Hrsg.), Alternativer Umgang mit Alternativen. Aufsätze zu Philosophie und Sozialwissenschaften, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1994, S. 169. <?page no="599"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 583 „Arbeit“ einnahm. Als Tauschmittel ist Geld wie schon bei Parsons 135 „Kommunikationsmedium“ 136 , und Arbeit als materielle Tätigkeit löst sich in Kommunikation auf oder wird dieser untergeordnet: „Die folgenden Überlegungen zielen darauf ab, den Faktor Arbeit (…) durch den Begriff der Codierung von Kommunikation zu ersetzen. Man kann das Geld als Codierung wirtschaftlicher Operationen begreifen und Codierung als Duplikation von Knappheit.“ 137 Daraus ergibt sich der strukturierende Kode des Wirtschaftssystems, der im semantischen Gegensatz zahlen / nicht zahlen zum Ausdruck kommt. Als autopoietisches System wird das Sinnsystem „Wirtschaft“ von diesem kodebildenden Gegensatz strukturiert. Es „versteht“ folglich nur die Sprache des Geldes, das als privilegiertes Kommunikationsmedium des Teilsystems „Wirtschaft“ in allen seinen Subsystemen - Haushalten, Unternehmen und Märkten - die Komplexität reduziert. Auch hier gilt die von Roland Merten geprägte Formel: „Ohne Code keine Autopoiesis, ohne Code kein System! “ 138 In seinen Schlüsselbegriffen der Systemtheorie bestätigt Johann Dieckmann die Unterordnung materieller Faktoren wie „Produktion“ und „Arbeit“ unter das Geld als Kommunikationsmedium: „Zahlungen als Ereignisse und damit als Teileinheiten des Systems sind die Grundoperationen des Systems. Produktion, Tausch, Verteilung, Kapital, Arbeit sind ‚derivative Sachverhalte‘.“ 139 Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier Marx auf neohegelianische Manier „auf den Kopf gestellt“ wird. Denn ohne Produzenten und ihre Produktion gäbe es weder Markt noch Waren, und Geld wäre wertlos. (Vom Primat der Produktion zeugt der geldlose Markt in der Tauschwirtschaft.) Hier zeigt sich auch, dass Luhmann durch seinen Verzicht auf den Begriff des Interesses Gefahr läuft, die Kohärenz seiner Theorie zu opfern. Es wurde weiter oben schon angemerkt, dass Kommunikation ohne den subjektiven Faktor „Interesse“ nicht zu verstehen ist. Selbst der Systemkode zahlen / nicht zahlen bleibt als Variante der Kommunikation abstrakt und unverständlich, wenn nicht klar wird, dass Zahlungen stets von individuellen und kollektiven Interessen geleitet werden: für Arbeitskräfte, Objekte (z.B. bei Firmenübernahmen) und Machtzuwachs als Marktbeherrschung (z.B. bei „feindlichen Übernahmen“). 135 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 68. 136 Ibid., S. 48. 137 Ibid., S. 46. 138 R. Merten, „Soziale Arbeit aus einer (erweiterten) Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns“, in: H. Hollstein-Brinkmann, S. Staub-Bernasconi (Hrsg.), Systemtheorien im Vergleich. Was leisten Systemtheorien für die Soziale Arbeit? Versuch eines Dialogs, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 39. 139 J. Dieckmann, Schlüsselbegriffe der Systemtheorie, München, Fink-UTB, 2006, S. 321. <?page no="600"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 584 Selbst wenn man sich keine der in Frage kommenden marxistischen Perspektiven zu eigen macht, wird man sich nicht über Christian Sigrists kritische Bemerkung zu Luhmanns Differenzierungstheorie hinwegsetzen wollen: „Die zentrale These, daß mit der Steigerung funktionaler Differenzierung die objektive Klassenproblematik entfällt, ist eindeutig falsch.“ 140 Der im 19. Jahrhundert dominierende Klassengegensatz ist im Laufe des 20. Jahrhunderts sicherlich entschärft worden, aber dies bedeutet nicht, dass wir es gegenwärtig nur noch mit funktionaler Differenzierung zu tun haben. Herrschaftsstrukturen als soziale Faktoren durchziehen die Wirtschaft und stellen sie als autopoietisches (autonomes) System radikal in Frage, indem sie sie unentwirrbar mit Politik, Recht, Medien und Familie verflechten Um zu veranschaulichen, was gemeint ist und um die Abstraktion von Luhmanns Theorie auszugleichen, sei der Fall des hoch verschuldeten kroatischen Staatsunternehmens „Agrokor“ erwähnt, dessen Schuldenberg den kroatischen Staat jahrelang (2016-18) belastete. Dieser Fall, in den die russische „Sberbank“ als Hauptgläubigerin involviert war und trotz ihres Rechtsstreits mit „Agrokor“ mit diesem Unternehmen gemeinsam gegen den kroatischen Staat vorging, steht hier für unzählige andere solche Fälle in fast allen Ländern der Welt. Er ist deshalb theoretisch von Bedeutung, weil der Journalist, der im Večernji list über ihn berichtet, nicht zufällig Gaetano Moscas Begriff der herrschenden Klasse (vgl. Kap. VIII. 3) verwendet, um das unentwirrbare Interessengeflecht zu beschreiben, das der scheidende Direktor des Unternehmens als eine der zentralen Figuren dieser Klasse geknüpft hat (es muss nicht immer die „Klasse“ im Sinne von Marx sein). Der Journalist Nino Raspudić kommentiert: „Die Probleme mit Agrokor sind nicht von gestern, und obwohl Todorić der Hauptverantwortliche ist, trägt er nicht als Einziger die Schuld.“ Er erklärt: „Die Oligarchie kann, um die Interessen der Mehrheit ihrer Angehörigen zu wahren, in Krisensituationen auch die Mächtigsten aus ihren Reihen opfern. Es ist klar, dass Todorić zu einer untragbaren Last wurde und dass er nicht mehr zu retten war. Davon zeugt die Tatsache, dass ihn heute am heftigsten die Medien attackieren, die ihm gestern aus der Hand aßen.“ 141 Dieser Bericht ist deshalb von Belang, weil er zeigt, wie die Systeme „Wirtschaft“, „Politik“, „Recht“ und „Medien“ jenseits oder unterhalb von Autopoiesis und Selbstreferenz unmerklich und unentwirrbar miteinander verschmelzen. Und ihre Verschmelzung findet in der herrschenden politischen Klasse als Oligarchie, als Interessenverband statt, den Luhmann, der 140 Ch. Sigrist, „Das gesellschaftliche Milieu der Luhmannschen Theorie“, in: Das Argument 6, November/ Dezember 1989, S. 845. 141 N. Raspudić, „Slučaj Todorić - kad blogeri propjevaju“, in: Večernji list, 29.09.17, S. 15. <?page no="601"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 585 sogar soziale Bewegungen als Systeme auffasst 142 , auch wieder als „System“, das aus Interaktionen und Organisationen hervorgeht, darstellen müsste: aber als ein System, das aus kompakten kollektiven Interessen hervorgeht und die Autonomie (Autopoiesis) der vereinnahmten Systeme „Wirtschaft“, „Politik“, „Medien“ negiert, weil die Oligarchie als neues System nur einen Kode kennt (wir / sie) und nur eine Sprache spricht, die sich aus den Semantiken der vereinnahmten Systeme zusammensetzt. Fazit: Nicht nur Differenzierung lässt Systeme entstehen; sie kommen auch in Herrschaftsstrukturen zustande. Damit ist der Übergang zur „Politik“ freigelegt, den auch die Gewerkschaften bilden, die Wirtschaft und Politik gleichsam hinter dem Rücken der Autopoiesis zusammenführen. Von Luhmann werden sie aber in Die Wirtschaft der Gesellschaft nur zweimal en passant erwähnt: als Anachronismus, der aus der überholten „Dichotomie von Kapital und Arbeit“ 143 hervorgeht. Den Übergang von der Wirtschaft zur Politik stellt Luhmann selbst als formalen Prozess der Kopplung dar, wenn er erklärt: „Die Wirtschaft zum Beispiel zahlt Steuern und ermöglicht damit Politik.“ 144 Dies gilt - rein formal oder juristisch betrachtet - auch für ein Unternehmen wie „Agrokor“; aber man versteht die in Kroatien entstandene Krisensituation überhaupt nicht, solange man sich auf die schlichte Anwendung dieser Regel beschränkt. Von einer Soziologie sollte erwartet werden, dass sie hinter die formalen Kulissen blickt und das eigentlich Soziale zur Sprache bringt: in diesem Fall das Funktionieren einer Machtelite (power elite, Mills: vgl. Kap. VIII. 4), deren Konturen und Grenzen auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind. Luhmann schlägt nicht diesen Weg ein, sondern betrachtet das Phänomen „Macht“ ausschließlich aus systemischer Sicht, in der „Macht“ wie bei Parsons formal als legale und legitime Macht erscheint: „Ohne Systembildung läßt sich Macht nicht auf Dauer stellen. Erst durch Ausdifferenzierung eines politischen Systems wird Macht politische Macht.“ 145 Wie das „Geld“ im Wirtschaftssystem, so ist „Macht“ im politischen System das Kommunikationsmedium, das als binärer Kode für die Sinnkohärenz des Systems bürgt, und zwar als Gegensatz von Macht und Machtverlust. Diesem Gegensatz entspricht in demokratisch verfassten politischen Gesellschaften der Gegensatz zwischen Regierung und Opposition: „Der positive Wert ‚Regierung‘ ist der Designationswert des Systems, der negative 142 Vgl. N. Luhmann, Protest, op. cit., S. 17. 143 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 171. 144 Ibid., S. 50. 145 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 69. <?page no="602"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 586 Wert ‚Opposition‘ ist der Reflexionswert des Systems.“ 146 Im Rahmen dieses „Wertgegensatzes“ fällt auch dem Konflikt eine Funktion zu: „Konflikte sind durch die Codierung Regierung / Opposition geradezu vorgeschrieben.“ 147 Es trifft also nicht zu, dass Luhmann Konflikte und Konfliktpotenziale in seine Analysen nicht einbezieht. Er setzt sich aber über systembildende Gruppeninteressen und die von ihnen verursachten Konflikte und Krisen hinweg. Da das Medium „Macht“ nicht nur in der „Politik“, sondern auch in der Umwelt des Systems vorkommt, erscheint es Luhmann notwendig, diffuse „Macht“ von systemspezifischer, politischer „Macht“ zu unterscheiden. Er schlägt vor, die politische Macht durch „das Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ 148 zu definieren. Dies bedeutet, dass politische Macht nicht immer und überall präsent und sichtbar sein muss, dass aber in der Umwelt des politischen Systems allgemein verstanden wird, dass diese Macht jederzeit mobilisierbar ist und Entscheidungen auch gegen Widerstände herbeiführen kann. Dadurch kann Macht, ähnlich wie das Geld, das „künftige Möglichkeiten“ bietet, als Mittel zur Reduktion von Komplexität eingesetzt werden: Wenn bekannt ist, dass Macht über Verwaltung, Polizeiapparat und Heer stets einsetzbar ist, kann sich der Staat darauf verlassen, dass die Entscheidungen der Regierung jederzeit (oder meistens) zügig umgesetzt werden. Die „Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ wird von Luhmann sowohl in Soziale Systeme als auch in Die Politik der Gesellschaft dem Staat zugesprochen: „In jedem Falle ermöglicht die Orientierung am Staat jene Geschlossenheit der Selbstreferenz, die im Wirtschaftssystem schon durch das Medium Geld gesichert ist, und koppelt sie zugleich an Entscheidungsanliegen, Interessen und Strukturveränderungen in der Umwelt des politischen Systems.“ 149 Hier drängt sich die Frage auf, wie diese Orientierung am Staat, der stets National- und Territorialstaat ist, mit Luhmanns Konzept der „Weltgesellschaft“ vereinbart werden kann. Selbstverständlich hat Luhmann an dieses Problem gedacht, aber seine Versuche, das Globale und das Regionale (Territorialstaatliche) auf einen Nenner zu bringen, lassen Ungereimtheiten entstehen. Abermals setzt er sich über beobachtbare Tatsachen (Konflikte, Handelskriege, Kriege) hinweg, um nachweisen zu können, dass die Weltgesellschaft schon ein homogenes System ist. Angesichts der überall diskutierten Globalisierungstendenzen weist er auf die Existenz „eines weltweiten Kommunikations- 146 Ibid., S. 99. 147 Ibid., S. 132. 148 Ibid., S. 84. 149 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 627. <?page no="603"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 587 systems“ 150 hin. Anscheinend bürgt der abstrakte Kommunikationsbegriff, der bei ihm nirgends als durch partikulare, subjektive Interessen und Antagonismen vermittelt erscheint, für globale Einheit. Diese Einheit wird durch fragwürdige Argumente eher beschworen als nachgewiesen: „Die Abhängigkeit einzelner Staaten von bestimmten anderen Staaten nimmt ab und ihre Abhängigkeit vom politischen System der Weltgesellschaft nimmt zu.“ 151 Bisweilen ist aber das Gegenteil der Fall: Die EU lässt eine immer stärkere Abhängigkeit ihrer Mitgliedstaaten voneinander erkennen (etwa im Bereich der Gesetzgebung, der Außenpolitik, der Finanzpolitik, der wirtschaftlichen Verflechtung, neuerdings auch der Verteidigungspolitik) und ihre relative Unabhängigkeit vom Rest der Welt. Am fragwürdigsten ist wohl die folgende Behauptung: „Im weltpolitischen System der Gegenwart ist Politik eine weltgesellschaftlich notwendige Funktion kollektiv bindenden Entscheidens.“ 152 Den Weltstaat, der „kollektiv bindende Entscheidungen“ treffen und auch durchsetzen könnte, gibt es aber nicht - und wird es nicht so bald geben. Das Zustandekommen bindender Entscheidungen seitens einer weltpolitischen Organisation wie der UNO ist sicherlich ein lobenswertes Desiderat - aber leider nicht die Wirklichkeit (wie die Fälle Nordkorea, Syrien und Russland-Ukraine zeigen). Behauptungen dieser Art werden vor allem von Luhmanns abstrakt-idealistischer Verwendung des Begriffs „Kommunikation“ ermöglicht, die Kommunikation von „Interesse“, „Subjektivität“ und „Herrschaft“ trennt. Eine Umstellung von „Kommunikation“ auf „Interesse“ würde neue Perspektiven eröffnen und ganz andere Machtverhältnisse sichtbar machen: etwa die Netzwerke der sizilianischen Mafia, der kalabrischen ʼNdrangheta oder der neapolitanischen Camorra, in denen jenseits aller Systemgrenzen die Fäden aus Wirtschaft, Politik, Recht und Religion (Aberglauben) geknüpft werden, so dass die Autopoiesis aller dieser Teilsysteme im Machtamalgam einer illegalen Organisation, die als „intersystemisches System“ aufzufassen wäre, aufgehoben wird. Die phänomenologische Trennung wird so durch die Vermittlungsmechanismen einiger Gruppeninteressen in Frage gestellt, die große Teile der Welt umspannen. Man denke an den amerikanischen „Ableger“ der Mafia: die Cosa Nostra. Es kommt hinzu, dass Mafia oder Camorra nur Extremformen solcher Gruppeninteressen sind: Kartelle, Seilschaften sowie legale und illegale Absprachen beherrschen den Alltag und erklären, wie Systeme wirklich funktionieren: nämlich durch „Vermittlung“ in Herrschaftsstrukturen und Machtkonstellationen. 150 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 220. 151 Ibid., S. 221. 152 Ibid., S. 227. <?page no="604"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 588 Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden: dass Systeme nicht nur durch Differenzierung, sondern auch durch Machtausübung in Herrschaftsstrukturen zustande kommen, die durchaus entdifferenzierend und dysfunktional wirken. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu beobachten, wie Luhmann - ganz im Gegensatz zu Bourdieu (vgl. Kap. XVIII) - auch die Wissenschaft als autopoietisches System gegen alle denkbaren Vermittlungsmechanismen abschirmt: gegen Wirtschaftsinteressen, Gruppeninteressen, Ideologien. Von diesem Zugang zeugen die folgenden Bemerkungen am Ende von Soziale Systeme: „Auch in dieser Hinsicht ist die Wissenschaft autonom; man kann sagen: weltautonom und erst recht gesellschaftlich autonom. Sie erläßt ihre Gesetze selbst (…).“ 153 Luhmann setzt die konstruktivistische Tradition, die in der spätmodernen Philosophie (Nietzsche) und Literatur (etwa Musil) durch die Kritik an der realistischen Mimesis begründet wurde 154 , fort, wenn er feststellt, dass das Wissenschaftssystem Wirklichkeit nicht widerspiegelt, sondern seine Einsichten und Erkenntnisse systemimmanent produziert: „Es handelt sich also nicht um ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen Denken und Sein oder System und Umwelt, sondern um eine Selbstprägung, eine Selbststrukturierung des Systems.“ 155 Die „Wissenschaft“ wird somit wie die anderen Teilsysteme als ein autopoietisches System aufgefasst, dessen Sinnstrukturen und Operationen sich ausschließlich nach dem binären Kode wahr / unwahr richten. Wie die anderen Systeme ist es als Kommunikationssystem autonom und homogen, weil es nur seine „Sprache“ verwendet und Aussagen oder Kommunikationen in anderen „Sprachen“ systemintern nicht zulässt. Diesen Sachverhalt stellt Wolfgang Ludwig Schneider besonders anschaulich dar: „Solange im Medium Wahrheit kommuniziert wird, muss man nicht damit rechnen, dass eine Behauptung als unschön oder geschmacklos, als unmoralisch, häretisch, rechtswidrig, lieblos etc. abgelehnt wird.“ 156 Sie kann höchstens als „unwahr“ abgelehnt werden: etwa weil sie nachweisbaren Fakten und deren Beobachtungen im Wissenschaftssystem widerspricht. 153 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 647. 154 Vgl. Vf., „Theorie als Erzählung. Die Geburt des Konstruktivismus aus dem Geiste der Spätmoderne“, in: M. Arnold, G. Dressel, W. Viehöfer (Hrsg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden, Springer VS, 2012, S. 312-317. 155 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 188. 156 W. L. Schneider, „Was erklärt die Systemtheorie? Systemtheoretische Analyse als Beitrag zur Aufdeckung ‚sozialer Mechanismen‘“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? Methodologien, Modelle, Perspektiven, Berlin, Lit-Verlag, 2005, S. 265. <?page no="605"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 589 Als Beispiel für die auf Relevanzkriterien gründende Autopoiesis des Wissenschaftssystems mögen die Aussagen des Präsidenten der FU Berlin, Prof. Günter Ziegler, dienen: „Die Basis für alles, was auf unserem Campus organisiert wird, muss sein, dass es wissenschaftlich relevant ist. Das heißt: Parteipolitische Veranstaltungen gibt es nicht.“ 157 Das von Luhmann übergangene Problem besteht indes darin, dass Kultur- und Sozialwissenschaften auf diskursiver Ebene stets von einem ideologisch-politischen Engagement motiviert und in Bewegung gehalten werden. Dadurch dringen politische Ideologien in das Wissenschaftssystem ein, das ohne sie - zumindest in den Humanwissenschaften - seine Dynamik verlöre. Stärker noch als die anderen Systeme ist das Wissenschaftssystem durch Beobachtung zweiter Ordnung gekennzeichnet: „Wissen und Wahrheit unterscheiden zu wollen, hat nur Sinn, wenn man einen Beobachter zweiter Ordnung voraussetzt: einen Beobachter, der Beobachter beobachtet.“ 158 Dieser Beobachter, der Beobachtungen und Kommunikationen im Sinnsystem „Wissenschaft“ beobachtet, hat allgemeinen Charakter und steht für alle wirklichen und potenziellen Beobachter. Wir haben es somit - wie in „Wirtschaft“ und „Politik“ - mit einer homogenen Einheit zu tun, die nicht von rivalisierenden Gruppeninteressen und ihren divergierenden Zielsetzungen durchschnitten wird. Luhmanns Vorstellung vom Wissenschaftssystem ist noch am ehesten auf die Naturwissenschaften anwendbar, in denen z.B. Physiker seinerzeit beobachteten, dass es sich bei der „Entdeckung von N-Strahlen“ durch den französischen Physiker R. Blondlot um eine Pseudoentdeckung handelte, weil es „N-Strahlen“ nicht gibt. Zu Blondlot und seinen Mitarbeitern bemerkt David Bloor: „They fell short of common and standardised procedures.“ 159 In diesem Fall haben wiederholtes Experimentieren und Beobachten zweiter Ordnung zur Aufdeckung eines Fehlers geführt und den Konsens innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft wiederhergestellt. Innerhalb der Soziologie und der Sozialwissenschaften insgesamt ist ein solcher Konsens eher die Ausnahme, weil die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien und ihre Theoreme nicht widerlegbar, nicht „falsifizierbar“ sind im Sinne von Popper. 160 Luhmann scheint diesen Standpunkt einzu- 157 G. Ziegler, in: Der Tagesspiegel, 22. Oktober 2019 - zitiert nach: Forschung und Lehre 11/ 19, S. 981. 158 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 167. 159 D. Bloor, Knowledge and Social Imagery, Chicago-London, Univ. of Chicago Press (1976), 1991, S. 30. 160 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Kap. IV: „Wertfreie, falsifizierbare Theorie? Zur Beziehung von Wertfreiheit, Intersubjektivität und Falsifizierbarkeit“. <?page no="606"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 590 nehmen, wenn er zu Parsons bemerkt: „Die Parsonssche Theorie ist selten angemessen begriffen und nie angemessen widerlegt worden.“ 161 Es ist auch nicht möglich, eine so komplexe Theorie, deren Diskurs mit spätliberalen Ideologemen versetzt ist, global zu widerlegen. Es ist auch nicht sinnvoll, sich eine globale Widerlegung vorzunehmen, zumal im vorigen Kapitel gezeigt wurde, wie sehr es sich trotz aller Kritik lohnt, diese Theorie kennen zu lernen, weil sie eine neue Betrachtungsweise der Gesellschaft ermöglicht. Dialogische Theorie ist nicht auf Widerlegung aus, sondern auf Erschütterung (Neurath: vgl. Kap. II. 5) um der besseren Erkenntnis willen. Das gilt auch für Luhmanns Soziologie: Hinweise auf Fehleinschätzungen und Fehler werden sie nicht einstürzen lassen, weil sie paradoxerweise auch die Theorien konkretisiert, etwa die Theorien der „Machtelite“, die gegen sie ins Feld geführt werden: indem sie die Beobachtung ermöglicht, dass die Machteliten und Mafien die als autopoietisch konstruierten Systeme vereinnahmen und verschmelzen lassen. (Gäbe es die Konstruktion der autopoietischen Systeme nicht, könnte auch deren Verschmelzung als Grenzaufhebung nicht beobachtet werden.) An diesen Gedankengang lässt sich im Zusammenhang mit dem Wissenschaftssystem anknüpfen. Denn auch in diesem Fall wird deutlich, dass Luhmann (wie in allen anderen Fällen) die Trennung der Vermittlung vorzieht und die Frage nach wirtschaftlichen und ideologischen Interferenzen, d.h. die Frage nach Gruppeninteressen im wissenschaftlichen System, entweder umgeht oder gar nicht aufkommen lässt. In den Sozialwissenschaften besteht das Problem darin, dass Gruppen im Rahmen von Soziolekten (Systemtheorie, Feminismus, Kritische Theorie, Kritischer Rationalismus) an Probleme und an die Beurteilung von Theorien herangehen, die nicht nur wissenschaftliches, sondern auch ideologisches Engagement artikulieren. Das lassen beispielsweise die marxistischen Kritiken an Luhmann erkennen, die aus wissenschaftlichen und ideologischen Gründen von Anhängern der Systemtheorie nicht akzeptiert werden. Dies bedeutet, dass Sozialwissenschaft auf sprachlicher Ebene durch ideologische Interessen vermittelt ist. Diese Vermittlung nimmt Luhmann nicht wahr, wenn er in Die Wissenschaft der Gesellschaft das Verhältnis von Politik und Wissenschaft kommentiert. Zum Einfluss der „Politik“ schreibt er: „Sie kann bevorzugte Nomenklaturen vorgeben (Frieden, Frauen, Umwelt, Technikfolgen, Kultur) und die Wissenschaft anregen, in Anträgen oder Darstellungen entsprechende Terminologien zu übernehmen. Aber damit sind noch keine 161 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 240. <?page no="607"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 591 Begriffe gebildet, geschweige denn Forschungsresultate an die Hand gegeben.“ 162 Es gehört schon sehr viel Vertrauen in die phänomenologische Trennung, um an der Behauptung festhalten zu können, dass es möglich sei, „Terminologie“ und Begriffsbildung sauber zu scheiden. Wo eine Terminologie als lexikalisches Repertoire, aus dem Begriffe hervorgehen, vorgegeben ist, wird der gesamte Diskurs (seine semantische Basis) von dieser Terminologie affiziert. Wo statt der Begriffe „System“ und „Umwelt“ Termini wie „System“ und „Lebenswelt“, „Gender“ und „Sex“, „Arbeit“ und „Kapital“ oder „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ vorgegeben werden, sind der Begriffsbildung enge Grenzen gesetzt. Auch die Ausrichtung des Diskurses wird durch die Fixierung eines Lexikons und einer auf ihm gründenden Semantik (Relevanz) zumindest ansatzweise festgelegt. Davon sind Fragestellungen und die von ihnen abhängigen Forschungsresultate betroffen. Schon deshalb sind Zweifel an der Autopoiesis des Systems „Wissenschaft“ angebracht. Solche Zweifel werden auch während der Lektüre von Bourdieus Werk geweckt, in dem immer wieder heteronome Faktoren zur Sprache kommen, die die Autonomie eines Feldes wie „Wissenschaft“ in Frage stellen. Anders als Luhmann unterscheidet Bourdieu verschiedene Autonomiegrade und vergleicht die autonome Mathematik mit der (eher) heteronomen Soziologie: „Ein sehr autonomes Feld, das der Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produzenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben (…). Mein Traum ist, daß es in der Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein (…).“ 163 Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ist die Soziologie in die ideologischen Auseinandersetzungen um die „richtige“ Auffassung der Gesellschaft verstrickt („lutte pour la vérité sur le monde social“). 164 Es kommt hinzu, dass nicht „die Politik“ als System die von Luhmann erwähnten Vorgaben macht, sondern die machtausübenden Gruppen, die im Iran oder in der Volksrepublik China möglicherweise „Technikfolgen“ und „Umwelt“ auf die Tagesordnung setzen würden, nicht jedoch „Frieden“ und „Frauen“. Vergleichbare Gruppen agieren und kommunizieren auch innerhalb des Wissenschaftssystems, das - zumindest in den Sozialwissenschaften - von ideologischen Engagements aller Art (Liberalismus, Konservatismus, Feminismus, Marxismus) und von entsprechenden Gruppenkonflikten geprägt ist. Daher kann auch Luhmanns Behauptung angezweifelt werden, „daß nur wissenschaftliche Aussagen wissenschaftliche Aussagen produzieren 162 Ibid., S. 639. 163 P. Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 88. 164 P. Bourdieu, Choses dites, Paris, Minuit, 1987, S. 114. <?page no="608"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 592 können“. 165 Denn die Aussage, dass der für die gesellschaftliche Entwicklung relevante Gegensatz Kapital / Arbeit ist, ist nicht (wie Luhmann weiß) rein wissenschaftlich - ebenso wenig wie die auf ihn dialogisch-polemisch reagierende Aussage, dass der Gegensatz System / Umwelt entscheidend ist. Von den wirtschaftlichen Interferenzen in allen Teilsystemen wird am Ende dieses Abschnitts die Rede sein. Als viertes und letztes Modell soll hier die Kunst kommentiert werden, der Luhmann ein umfangreiches Buch und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Auch in diesem Fall steht die Frage nach kollektiven Interessen und ihrer Auswirkung auf das Kunstsystem im Mittelpunkt. Es soll deutlich werden, dass ohne Bezugnahme auf diese Interessen als subjektive Faktoren die Kunstentwicklung nicht zu verstehen ist. Auch die Kunst erscheint Luhmann als autopoietisches, selbstreferentielles System, das alle „Fremdreferenzen“ zur Umwelt meidet und sich zur Gänze auf sein Sinngefüge verlässt, das vom binären Kode schön / hässlich strukturiert wird. Der soziale Differenzierungsprozess, der Kunst in modernen Demokratien mit rechtsstaatlicher Grundlage aus der Bevormundung durch Religion und Politik herausführte, hat die Entstehung künstlerischer Autopoiesis zur Folge: „Die Ausdifferenzierung eines Systems für Kunst läßt sich am besten an der internen Blockierung externer Referenzen erkennen.“ 166 Kunst, erläutert Luhmann seine Auffassung, „kann nur dadurch kommunizierbar bleiben, daß man Referenzen auf unsere eingeübte Welt kappt“. 167 In dieser Hinsicht kann man Luhmann durchaus folgen, denn vor allem in der neueren Kunst und Literatur kommt es häufig vor, dass ästhetischpoetische Autonomie im Werk selbst zur Sprache kommt und die Differenz von System und Umwelt im Bild oder Text thematisch wird. Ein bekanntes Beispiel ist der Anfang von Italo Calvinos experimentellem Roman Wenn ein Reisender in der Winternacht (Se una notte d’inverno un viaggiatore, 1979): „Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in der Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen.“ 168 Dies ist ein Beispiel für re-entry: Die Differenz von System und Umwelt wird als literaturkonstituierende Differenz in den literarischen Text selbst projiziert, wobei sowohl der „Roman“ als Fiktion als 165 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 672. 166 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1998 (2. Aufl.), S. 244. 167 Ibid., S. 247. 168 I. Calvino, Wenn ein Reisender in der Winternacht, München, Süddeutsche Zeitung-Bibliothek, 2004, S. 7. <?page no="609"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 593 auch die „Umwelt“ genannt werden. Der „Leser“ („lettore“) wird aufgefordert, den Schritt von der Umwelt in das autopoietische System zu wagen. Engagierte, avantgardistische Kunst (etwa die Bertolt Brechts oder André Bretons), die sich scheinbar direkt auf die Wirklichkeit bezieht, kann nicht als Indiz für die Aufhebung der Systemautonomie oder Autopoiesis geltend gemacht werden. Pater Bürger hat im Zusammenhang mit der Avantgarde gezeigt, dass alle ihre Versuche, aus der „Institution Kunst“ 169 auszubrechen und Kunst mit dem Alltag verschmelzen zu lassen, vergeblich waren. Ihre Experimente wurden als Ereignisse innerhalb der Institution bzw. des Systems (System oder Institution? ) gedeutet: Selbst das berühmt gewordene, von Marcel Duchamp als Provokation ausgestellte Pissoir wurde als Kunstwerk ins System integriert. 170 Veränderungen im Kunstbereich verlaufen folglich nach systemeigenen Regeln und können nicht unmittelbar aus Entwicklungen in der Umwelt (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft) abgeleitet werden. Bürgers Kerngedanken bestätigt Luhmann im Rahmen seiner Systemtheorie, wenn er schreibt: „Letztlich ist die Einführung der Negation des Systems in das System die radikale Konsequenz der gesellschaftlichen Autonomie.“ 171 Insofern mag er durchaus Recht haben, wenn er im Hinblick auf die Selbstreferentialität des Systems sein Augenmerk auf die systeminternen Mechanismen der ästhetischen Innovation richtet. Seine beiden Schlüsselbegriffe sind Innovation und Negation (des Alten): „Die Kunst lebt innovativ, lebt in hohem Maße von der Negation ihrer eigenen Vergangenheit.“ 172 Wo der Akzent auf der ästhetischen Innovation liegt, gerät gleichsam von selbst die Form ins Blickfeld. Konsequent achtet Luhmann primär auf „die Formen der Systembildung“ 173 und fasst zusammen: „Form ist unausgesprochene Selbstreferenz.“ 174 Kunstevolution erscheint somit als formaler Prozess, als „Stilwechsel“: „Während jedes Kunstwerk so gut wie möglich zu sein sucht, zielt der Stilwechsel nicht auf Besseres, sondern auf Anderes.“ 175 Dies ist eine ziemlich genaue Wiedergabe der Kernthese des Russischen Formalismus, der zufolge literarische Evolution ein Prozess ist, in dessen 169 P. Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 72-74. 170 Vgl. ibid., S. 70. 171 N. Luhmann, „Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems“, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur (Hrsg. N. Werber), Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 330. 172 N. Luhmann, „Ist Kunst codierbar? “, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 34. 173 N. Luhmann, „Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems“, op. cit., S. 318. 174 N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: H. U. Gumbrecht, K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 629. 175 Ibid., S. 644. <?page no="610"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 594 Verlauf alte, „automatisierte“ (verbrauchte) Formen durch neue Formen abgelöst werden, die nicht zum „Wiedererkennen“, sondern zum „neuen Sehen“ einladen. „Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen (…)“ 176 , erklärt der Formalist Viktor Šklovskij und fügt an anderer Stelle hinzu: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“ 177 Vergleicht man diese Aussagen mit Luhmanns Beschreibungen des Kunstsystems, in denen eine Auseinandersetzung mit dem Formalismus fehlt, kommt man zu dem Schluss, dass er in einem systemtheoretischen Kontext die Hauptthesen der russischen Formalisten wiederholt. Es kommt hinzu, dass er die von den Formalisten untersuchten Vermittlungen zwischen Literatur und Gesellschaft - die „Literarisierung“ von Textsorten wie Brief (im Briefroman), Alltagssprache und Tagebuch - nicht berücksichtigt: ebenso wenig wie die vor allem in der zeitgenössischen Literatur übliche intertextuelle Verarbeitung außerliterarischer Diskurse wie Werbung, Propaganda und Wissenschaft, die eine Brücke von der Gesellschaft zur Literatur schlägt. 178 Auch hier geht es um ein Problem der Vermittlung von Gesellschaft und Kunst. Wie in seinen anderen Systemdarstellungen klammert Luhmann vor allem aber die Gruppeninteressen aus, die bewirken können, dass sich Kunst- und Gattungssysteme ändern, entwickeln. In diesem Zusammenhang ist der Versuch des Romanisten und Literatursoziologen Erich Köhler anregend, die Interessen von Gruppen mit der Entstehung und Veränderung von Gattungen im literarischen System zu verknüpfen. Dieses System, erklärt er in seinem Aufsatz „Gattungssystem und Gesellschaftssystem“, in dem er an Parsons und Luhmann anknüpft, reagiert auf die Komplexität der Umwelt und steigert seine Eigenkomplexität „durch Schaffung neuer Gattungen, die speziell auf die Bedürfnisse neu entstandener sozialer Gruppen oder auf deren jetzt erst emanzipiertes Bewußtsein, ihr Mündigwerden, zugeschnitten sind“. 179 Sein anschaulichstes Beispiel ist wohl das Verschwinden des feudalen Epos aus dem französischen Gattungssystem, das dem Niedergang des feu- 176 V. Šklovskij, „Kunst als Verfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB, 1969, S. 15. 177 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit., S. 51. 178 Vgl. Vf., Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart, Metzler, 1980, Kap. III: „Gesellschaft als Text“. 179 E. Köhler, „Gattungssystem und Gesellschaftssystem“, in: ders., Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze (Hrsg. H. Krauss), Heidelberg, Winter, 1982, S. 22. <?page no="611"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 595 dalen Adels (der noblesse d’épée) und dem Aufstieg des höfischen Adels Rechnung trägt, sowie der Tatsache, dass „eine Gattung nicht zu retten ist, die nicht darauf verzichten kann, Krieg und heroische Existenz einer Klasse zu feiern, deren parasitäre Existenz und Funktionslosigkeit trotz ihres gesellschaftlichen Prestiges allzu offenkundig war“. 180 Das Epos weicht allmählich neuen Gattungen wie Tragödie, Tragikomödie und Komödie, und es wird deutlich, dass Innovation kein rein formaler Prozess ist, sondern aus Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur hervorgeht. Köhler ergänzt - durchaus in partieller Übereinstimmung mit Luhmann - den sozialen Faktor, der in Luhmanns Analysen des Kunstsystems fehlt: den kollektiven Aktanten (den höfischen Adel), der für die Erneuerung des Gattungssystems sorgt. Vergleicht man Luhmanns Rekonstruktionen der Systeme „Wirtschaft“, „Politik“, „Wissenschaft“ und „Kunst“, zeigt sich, dass in allen vier Fällen die Teilsysteme zwar durch „Kopplung“ miteinander verknüpft werden (die Wirtschaft zahlt Steuern und ermöglicht Politik), dass aber die Wirkung kollektiver Interessen in den Systemen ausgeblendet wird. Übergangen wird auch die vermittelnde Wirkung solcher Interessen, die dazu führt, dass die von Luhmann konstruierten autopoietischen Systeme in legalen, halblegalen und illegalen Organisationen wie Gewerkschaften, Machteliten und Mafien (also „hybriden Systemen“) ineinander greifen, wodurch ihre Autopoiesis in Frage gestellt wird. Schließlich vernachlässigt Luhmann noch eine andere Vermittlung: die Vermittlung durch den Tauschwert, die vom Wirtschaftssystem ausgeht. Auf die Frage von William Rasch nach dem Primat des Wirtschaftssystems antwortet er eher ausweichend („Well, this is a question of the point of view.“) 181 , macht aber geltend, dass das Wirtschaftssystem die anderen Teilsysteme braucht: „Es kann nicht ohne ausreichende Ausbildung anderer Systeme, ohne eine Rechtsordnung, ohne Erziehung und ohne politische Macht, rechtliche Entscheidungen durchzusetzen, funktionieren.“ 182 Das ist zweifellos richtig, aber Rasch wendet auch zu Recht ein, dass das Wirtschaftssystem dazu neigen könnte, die anderen Systeme zu beherrschen, gerade weil es sie braucht: „but precisely because it needs these systems it determines these systems; it determines their type of operation.“ 183 Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, wie sich diese Überdeterminierung als intersystemische Kommunikation auswirkt. 180 Ibid., S. 18. 181 W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation, Stanford, Univ. Press, 2000, S. 207: „Answering the Question: What is Modernity? An Interview with Niklas Luhmann“. 182 Ibid. 183 Ibid. <?page no="612"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 596 6. Die Ambivalenz der Differenzierung: Subjektverzicht, Aktantenmodell und Gesellschaftskritik Luhmann, der sich dem Universalismus der Moderne verpflichtet weiß, reagiert dennoch auf ein Problem der Postmoderne: auf den Niedergang des individuellen Subjekts, der schon in der Spätmoderne beobachtet wurde (vor allem von Simmel und in der Kritischen Theorie) und der bei postmodernen Autoren wie Baudrillard, Foucault und Maffesoli zu einem der Hauptthemen der Soziologie avanciert. Luhmann weiß um den Niedergang des liberalen Individualismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Er beobachtet, wie nach dem Zweiten Weltkrieg der Handlungsspielraum des individuellen Subjekts in Wirtschaft, Politik und strategisch-militärischer Planung inmitten von Sach- und Systemzwängen weiter schrumpft. Im Gegensatz zur Kritischen Theorie, die als kritische Erbin des Liberalismus 184 die Autonomie des individuellen Subjekts zu einem ihrer Hauptanliegen macht, zieht er daraus ganz andere theoretische und terminologische Konsequenzen: „Die Systemtheorie (…) hat daher keine Verwendung für den Subjektbegriff. Sie ersetzt ihn durch den Begriff des selbstreferentiellen Systems.“ 185 Mit dieser Substitution reagiert er auf den Niedergang des Individuums und des Individualismus in der Postmoderne (vgl. Teil IV). Eine Substitution dieser Art hat jedoch Folgen, weil die Syntax der indoeuropäischen Sprachen dem Schema Subjekt-Prädikat-Objekt gehorcht, für das kein Ersatz zur Verfügung steht. Luhmann ist sich dieses Problems durchaus bewusst und versucht, die Prinzipien seiner Systemtheorie (Abstraktion, Verallgemeinerung, Desanthropomorphisierung) gegen die Sprachregeln durchzusetzen. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die folgende Passage aus Soziale Systeme: „Es gehört zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache (und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um ‚Dinge‘ gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden.“ 186 Luhmann kann sich den 184 Vgl. Vf., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris (1974), L’Harmattan, 2005, Kap. I: „Libéralisme et Théorie critique“. 185 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 51. 186 Ibid., S. 115. Zur Unhintergehbarkeit von Subjektivität und Handlung in der Sprache vgl. auch: I. Srubar, „Sprache und strukturelle Kopplung. Das Problem der Sprache in Luhmanns Theorie“, in: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 57, Dezember 2005, S. 617: „Sind aber die Spuren des Handelns aus der Sprache nicht zu tilgen, <?page no="613"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 597 in diesem Text beschriebenen Sprachzwängen nicht entziehen, und es wird sich zeigen, dass er immer wieder subjektive Kategorien und sogar Bezeichnungen wie „Subjekt“ und „subjektiv“ verwendet. Es geht jedoch nicht nur um syntaktische Zwänge, die in dieser Passage im Vordergrund stehen, sondern auch um ein grundsätzliches semantisches Problem: Die natürliche Sprache (Deutsch, Englisch, Französisch) 187 kann als autonomes Zeichensystem aufgefasst werden, in dem jedes Zeichen eine bestimmte Funktion erfüllt, die im Hinblick auf die Nachbarfunktionen bestimmt wird. Dies bedeutet: Wenn ein Zeichen ausfällt, wird seine Funktion von den benachbarten Zeichen übernommen. Saussure konzentriert sich auf den lexikalisch-semantischen Bereich, wenn er erklärt: „Innerhalb einer und derselben Sprache begrenzen sich gegenseitig alle Worte, welche verwandte Vorstellungen ausdrücken: Synonyma wie denken, meinen, glauben haben ihren besonderen Wert nur durch ihre Gegenüberstellung; wenn ‚meinen‘ nicht vorhanden wäre, würde sein ganzer Inhalt seinen Konkurrenten zufallen.“ 188 Dies gilt auch - vor allem angesichts der von Luhmann erwähnten syntaktischen Zwänge - für das Wort „Subjekt“: Fällt es aus, wird es „ersetzt“, übernehmen die benachbarten Wörter seine semantische und syntaktische Funktion. Über die „Nachbarschaft“ entscheidet einerseits das Deutsche als natürliche Sprache, andererseits (und wesentlich konkreter) der Diskurs. In der Alltagssprache wären die „natürlichen“ Nachbarn des „Subjekts“ „Mensch“ und „Individuum“. Da Luhmann diese beiden Wörter als systemtheoretische Begriffe meidet (nicht als Begriffe allgemein: etwa als historische Termini), wird in seinem Diskurs als semantisch-narrativer Struktur das Wort „System“ zum „Nachbarn“ und Ersatz für „Subjekt“. Davon zeugen verschiedene Textpassagen in seinem Werk, von denen die folgende charakteristisch ist: „Der Begriff des selbstreferentiellen Systems ist weniger gut eingeführt, aber auch weniger mißbrauchsanfällig als der Begriff des Subjekts.“ 189 Komplementär dazu verhält sich die wesentlich konkretere erkenntnistheoretische Beschreibung aus Die Wissenschaft der Gesellschaft: „Erkenntnistheoretisch gesehen tritt mithin die Annahme eines rekursiv operierenden, eigene Beobachtungen prozessierenden Syssondern offensichtlich für das Funktionieren der Sprache als eines Zeichensystems mitkonstituierend, so stellt sich die Frage nach diesen.“ 187 Zum linguistischen Begriff der natürlichen Sprache vgl. U. Wandruszka, „Über den Nutzen formaler Modelle der natürlichen Sprache“, in: Papiere zur Linguistik 1, 1999, S. 37. 188 F. de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, de Gruyter, 1967 (2. Aufl.), S. 138. 189 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 596. <?page no="614"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 598 tems an die Stelle, wo früher das Subjekt die Funktion hatte, sich selbst über a priori geltende Bedingungen des Erkennens zu versichern.“ 190 An Luhmanns Willen, den Subjektbegriff durch den Systembegriff zu ersetzen besteht daher kein Zweifel, zumal er in älteren Schriften aus den 1960er Jahren den Subjektbegriff noch verwendet und z.B. in Vertrauen (1968) von „Subjekt und Objekt“ sowie von „Bezugsobjekte[n] des Vertrauens“ 191 spricht. Diese Substitution des Subjektbegriffs durch den Systembegriff muss - nach Saussure - dazu führen, dass der Systembegriff in Luhmanns Diskurs die Funktionen erfüllt, die der Subjektbegriff in der Alltagssprache und in der idealistischen Philosophie von Kant und Fichte bis Hegel zu erfüllen hatte. So mündet der Versuch, anthropomorphe Begriffe wie „Subjekt“ und „Handlung“ zu vermeiden, in eine Anthropomorphisierung abstrakter Begriffe wie „Differenzierung“ und „System“. Zu klären ist noch die Frage, welcher Subjektbegriff genau durch den Begriff des „autopoietischen Systems“ ersetzt wird. Luhmann verwendet das Wort „Subjekt“, das er aus „humanistischen Prämissen“ 192 ableitet, zumeist in zweifacher Bedeutung: Es bezieht sich auf das „Individuum“ und auf das „Subjekt“ des Idealismus - etwa im Sinne von Kants abstraktem „Ich“ („Ich denke“). 193 In einem Kommentar zur Geschichte des Subjektbegriffs heißt es kurz und bündig: „Deshalb tritt das Subjekt sogleich als Individuum auf.“ 194 An anderen Stellen ist von einer „subjektiv-transzendentalen Perspektive“ 195 die Rede, die sich auf die idealistische Philosophie von Kant und Fichte 196 bezieht. Einer der Gründe, weshalb Luhmann den idealistischen Subjektbegriff ablehnt, ist die von ihm postulierte Unfähigkeit des subjektiven Idealismus zu entscheiden, wo es beim Beobachten steht: „Die klassische Figur würde es eigentlich nicht erlauben, dem Subjekt Entscheidungen vorzulegen, ob es im System, das es beschreibt, oder außerhalb sei.“ 197 Das mag sein, aber der hier in Anlehnung an die Strukturale Semiotik und Bachtin vorgeschlagene Subjektbegriff hat wenig mit dieser klassischidealistischen Tradition zu tun. Seine Definition lautet: Das Subjekt ist eine individuelle oder überindividuelle Instanz, die sich im permanenten Dialog mit vergleichbaren sozialen Instanzen (Individuen, Kollektiven, Institutionen) bildet und sich in Diskursen als narrativen Programmen handelnd ver- 190 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit. 690-691. 191 N. Luhmann, Vertrauen, op. cit., S. 90. 192 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 1033. 193 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1998, S. 452. 194 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 1025. (Vgl. auch S. 868.) 195 N. Luhmann, Archimedes und wir, op. cit., S. 161. 196 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 326. 197 N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, op. cit., S. 147. <?page no="615"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 599 wirklicht. 198 Das Diskurssubjekt kann in diesem Fall entweder den eigenen Diskurs reflektieren oder als Beobachter zweiter Ordnung (Luhmann) andere Diskurse und ihr Funktionieren beobachten (oder als Beobachter dritter Ordnung den Dialog zwischen heterogenen Diskursen verfolgen). Es weiß also, wo es steht. Von diesem Standort aus soll nun - wenn auch skizzenhaft - Luhmanns Aktantenmodell rekonstruiert werden. Dabei wird im Anschluss an Saussure vorausgesetzt, dass das „System“ in Luhmanns Diskurs aus sprachfunktionalen Gründen die Stelle besetzt, die das getilgte „Subjekt“ innehatte, das in Luhmanns Frühschriften noch vorkam. Vorab muss noch geklärt werden, dass das Aktantenmodell der Strukturalen Semiotik auf Luhmanns Diskurs anwendbar ist. Armin Nassehi äußert Bedenken, wenn er einwendet: „Systeme [sind] keineswegs Aktanten, wie Zima meint.“ 199 Natürlich geht es hier nicht um die Frage, ob Systeme als solche Aktanten sind oder nicht, sondern um die Frage, welche Funktionen sie in Luhmanns Diskurs nach der Tilgung des Subjektbegriffs erfüllen. Aus der Sicht der Strukturalen Semiotik erscheinen sie als Aktanten und die in ihnen agierenden Individuen als Akteure. Nassehi hätte nun die Möglichkeit, die Anwendbarkeit der Strukturalen Semiotik auf wissenschaftliche Texte zu leugnen; aber das ist nicht sehr sinnvoll, zumal diese Semiotik auf verschiedenste Textsorten angewandt wurde: vom Küchenrezept bis zum juristischen Diskurs. 200 Ihre Anwendung setzt freilich voraus, dass sich der Begriff Subjekt-Aktant nicht einfach auf Individuen oder Menschen, sondern auf individuelle, kollektive, abstrakte und auch mythische Aktanten (wie das Schicksal, die Vorsehung, das Volk usw.) als diskursive Instanzen bezieht. Luhmanns Texte sind zweideutig, wenn es um Begriffe wie „Subjekt“, „Akteur“ und „Handlung geht. Im Zusammenhang mit Max Weber und Parsons distanziert sich der Autor von Soziale Systeme von „Handlung“ und „Subjekt“, wenn er bemerkt: „und über Handlung kommt sozusagen das Subjekt ins System“. 201 Im darauffolgenden Kapitel spricht er jedoch von „kollektive[m] Handeln“ 202 , das auf jeden Fall Subjekt-Aktanten voraussetzt, wenn Luhmanns eigene Aussage zutrifft, dass „über Handlung“ das „Subjekt ins System“ kommt. In Die Politik der Gesellschaft ist sogar von „Akteuren“ die Rede: „Aber wie andere gesellschaftliche Systeme oder auch andere Akteure im System der Massenmedien darauf reagieren, bleibt 198 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), S. 88. 199 A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2006, S. 300. 200 Vgl. A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976, S. 9-42. 201 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 191. 202 Ibid., S. 273. <?page no="616"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 600 einer prinzipiell intransparenten Zukunft vorbehalten.“ 203 Hier ist einiges unklar: Entweder werden Begriffe wie „Akteur“ und „Handlung“ zusammen mit dem Subjektbegriff beibehalten - oder alle subjektiven Kategorien werden getilgt (wenn das möglich ist). Aus der Sicht der Strukturalen Semiotik ist jedenfalls klar, dass dort, wo Akteure vorkommen, auch Aktanten als komplementäre Instanzen auftreten. Dazu erklärt Joseph Courtés: „(…) Ein Aktant kann sich im Diskurs durch verschiedene Akteure manifestieren.“ 204 Natürlich kann auch umgekehrt ein individueller Akteur an verschiedenen kollektiven Aktanten (etwa Organisationen oder Systemen wie Gewerkschaft, Partei, Sportverein) teilhaben. Insofern kann man Rainer Greshoff folgen, der in einem Artikel über Luhmann mit dem sehr eindeutigen Titel „Ohne Akteure geht es nicht! “ zu den Selektionsmechanismen in autopoietischen Systemen bemerkt: „Denn angesichts der skizzierten Beschaffenheit der sozialen Selektionen muss man letztere als sehr subjekthafte - weil intentionalinteressenbasierte - Vorgänge einschätzen.“ 205 Er fügt hinzu, „dass die Selektionen kommunikativer Prozesse als von Akteuren produzierte Selektionen zu begreifen sind“. 206 Hier wird abermals deutlich, wie sehr „Interesse“, „Handlung“ und „Subjektivität“ miteinander verquickt sind. Luhmann, der, wie sich gezeigt hat, selbst den Begriff „Akteur“ verwendet, stellt Systeme immer - vor allem auf der Ebene der Modalitäten (sein, wissen, können) - als subjektive, handelnde Instanzen dar: „Wenn ein beteiligtes System eine Situation als doppelkontingent erfährt, hat das Auswirkungen auf sein Verhalten.“ 207 Genauso wird das Verhalten von „Personen“ 208 oder „psychischen Systemen“ beschrieben, die durch kommunikatives Verhalten ein Sinnsystem bilden. In Legitimation als Verfahren stößt man gar auf das Adjektiv „subjektiv“: „Zur systemeigenen Ordnung gehört auch ein selektiver Umweltentwurf, eine ‚subjektive‘ Weltsicht (…).“ 209 Die Anführungszeichen verweisen auf das Sprachproblem, das in der Unhintergehbarkeit der Subjektivität besteht. Schließlich ist in Soziale Systeme von der „kollektiven Handlungsfähigkeit“ 210 von Gesellschaftssys- 203 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 285. 204 J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 205 R. Greshoff, „Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Warum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie nicht tragen“, in: Zs. für Soziologie, Jg. 37, Nr. 6, Dezember 2008, S. 456. 206 Ibid., S. 465. 207 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 169. 208 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 210. 209 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, op. cit., S. 41. 210 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 274. <?page no="617"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 601 temen die Rede, so dass die Annahme, dass Systeme in Luhmanns Diskurs Aktanten sind, kaum mehr zu vermeiden ist. Dennoch wäre Luhmann, der alles Anthropomorphe mit Misstrauen betrachtet, von der Darstellung seines Diskurses als Aktantenmodell nicht angetan. Das Modell verdeutlicht indes einiges, was bisher möglicherweise nicht ganz deutlich wurde: vor allem die Ambivalenz der Differenzierung, die einerseits als janushafte Auftraggeberin die Systeme in eine immer vollkommenere Autopoiesis als Hauptmodalität treibt und auf den Objekt- Aktanten (das Telos) „Weltgesellschaft“ zusteuern lässt; andererseits die autopoietische Vollkommenheit zu einer bedrohlichen Abschottung werden lässt, die in eine Katastrophe münden kann, in der der Objekt-Aktant „Weltgesellschaft“ zerfällt. Das Aktantenmodell soll die Ambivalenz von Luhmanns Erzählung verdeutlichen und zugleich zeigen, weshalb sie ein gesellschaftskritisches Potenzial enthält. Luhmann spricht von der „Dominanz funktionaler Differenzierung“ 211 , die in seinem Diskurs als Auftraggeberin und Gegenauftraggeberin zugleich auftritt. Ihr Heilsauftrag (mission de salut, Greimas) an die sich ausdifferenzierenden Systeme als Subjekt-Aktanten lautet: Verwirklichung der funktionalen Differenzierung in der modernen Weltgesellschaft, die in ihrer Entwicklung alle segmentären und stratifizierten Gesellschaften hinter sich lässt. Sie lässt auf theoretisch-narrativer Ebene auch Hegels preußischen Staat und Parsonsʼ auf Konsens gründende amerikanische Gesellschaft hinter sich, weil sie zukunftsweisend ist und von keinem neuen historischen oder evolutionären Stadium überboten werden kann. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es die „Weltgesellschaft“ (noch) nicht gibt, so dass der Heilsauftrag möglicherweise ins Leere zielt, weil der Objekt-Aktant des Diskurses als empirisch überprüfbare Tatsache fehlt. Luhmann nimmt häufig die Systemperspektive ein, so dass das System immer wieder als sein Fokalisator erscheint, dessen Modalitäten (wissen, können, wollen) der Erzähler so gut kennt wie der Romancier die Eigenschaften eines Protagonisten: „Nimmt das System sich selbst die Freiheit, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, operiert es im Modus der Kognition (…).“ 212 In anderen Fällen „begreift es sich, in klassischer Terminologie, als Wille“. 213 Luhmann ist sichtlich bemüht, sich von der klassischhumanistischen Terminologie zu distanzieren; es will ihm aber nicht so recht gelingen, weil das System als Subjekt-Aktant auftritt und aus diesem Grunde subjektive Prädikate an sich zieht. 211 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, op. cit., S. 155. 212 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 108. 213 Ibid., S. 109. <?page no="618"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 602 Im Diskurs wird der Objekt-Aktant (wie in fast allen theoretischen Diskursen) schließlich in Besitz genommen und kann als ausdifferenzierte moderne Weltgesellschaft besichtigt werden. Deren Charakter ist von Ambivalenz geprägt, weil die autopoietischen Systeme einerseits für optimales Funktionieren der sozialen Welt sorgen, andererseits durch ihr hohes Ausmaß an Spezialisierung und Selbstreferenz die Welt bedrohen, so dass der „Heilsauftrag“ auch als „Unheilsauftrag“ erscheinen kann. Luhmann spricht von „einem Abreißen der gesamtgesellschaftlichen Koordination der Funktionssysteme“ 214 und fügt hinzu: „Ihre [der Systeme] Eigendynamik wird freigesetzt, und was sie in ihrer gesellschaftlichen Umwelt anrichten, wird nur noch insoweit berücksichtigt, als es auf dem jeweils eigenen Bildschirm zurückgemeldet wird (…).“ 215 Es sei hier nochmals - wie im vorigen Kapitel - an Hermann Brochs Darstellung der „entfesselten“ Funktionssysteme oder „Wertgebiete“ in seiner Romantrilogie Die Schlafwandler erinnert: „Gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines ‚Geschäftemachens an sich‘ neben einem künstlerischen des l’art pour l’art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes ‚an sich‘, ein jedes in seiner Autonomie ‚entfesselt‘ (…).“ 216 Man wird an Brochs Darstellung erinnert, wenn Luhmann auf ähnliche Art die einzelnen „entfesselten“ Systeme beschreibt: „Nur für das Erziehungssystem ist dann die Funktion der Erziehung wichtiger als alle anderen; nur für das Rechtssystem kommt es in erster Linie auf Recht und Unrecht an; nur die Wirtschaft stellt alle anderen Erwägungen hinter ökonomisch formulierten Zielen (…).“ 217 Das Endergebnis ist, dass nur noch „Rationalitätsbemühungen auf der Ebene der Teilsysteme“ 218 möglich sind, weil die Instanz, die für eine umfassende Universalvernunft sorgen könnte (etwa Hegels „Weltgeist“ oder Marxʼ „Proletariat“) von der Weltbühne verschwunden ist. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass dies eines der Kernargumente ist, die Habermas gegen Luhmann ins Feld führt. Indessen wird auch klar, dass Luhmanns Gesellschaftsanalyse keineswegs unkritisch oder „affirmativ“ ist, wie der Vergleich mit Brochs Beschreibung der entfesselten Systeme zeigt. Luhmann sieht zwar „keinerlei Anhaltspunkte“, die es rechtfertigen würden, „einen Übergang von der 214 Ibid., S. 136. 215 Ibid. 216 H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/ 32), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 498. 217 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. I, op. cit., S. 28. 218 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 696. <?page no="619"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 603 modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten“ 219 , stellt aber auf durchaus kritische Art eine der wichtigsten postmodernen Partikularisierungstendenzen dar: die Verselbständigung der Systeme im Differenzierungsprozess (die er selbst jedoch zur Dynamik der Moderne rechnet). In dieser Hinsicht können sich Versuche einiger Autoren des Sammelbandes Kritische Systemtheorie, die gesellschaftskritischen Komponenten von Luhmanns Soziologie auszuarbeiten, als fruchtbar erweisen: etwa Thore Priens Vorschlag, „von einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft“ 220 auszugehen. Denn die Teilsysteme sind durch den Tauschwert vermittelt und kommunizieren miteinander vorwiegend über das Geldmedium, wie eingangs bereits angemerkt wurde. Luhmann, der die Vorherrschaft der Wirtschaft durchaus in Erwägung zieht 221 , würde diese kritisch-theoretische Wende sicherlich nicht nachvollziehen. Sein eigener Vorschlag lautet: Steigerung der „Systemirritabilität“: „Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie (…).“ 222 Abermals wird hier der hohe Abstraktionsgrad der Systemtheorie zum Problem, wie die folgende Konkretisierung zeigt: Das strategisch-militärische System der NATO hat im Laufe der Zeit seine Irritabilität gesteigert, indem es die Doktrin der massive retaliation durch die der flexible response ersetzte, zu der auch die Einführung taktischer Kernwaffen, etwa der Neutronengranate, gehörte, die ohne allzu große „Kollateralschäden“ gegen vorrückende Panzerverbände eingesetzt werden kann. Die Zunahme dieser Flexibilität als „Irritabilität“ erleichtert einen begrenzen Einsatz von Atomwaffen und macht daher einen atomaren Konflikt wahrscheinlicher. Luhmann hat beim Stichwort „Irritabilität“ sicherlich an andere Entwicklungen gedacht: etwa an die Reduktion von Emissionen in der Wirtschaft (die in der Wirtschaft freilich so flexibel gehandhabt werden kann, dass sie zunichte gemacht wird) oder an eine Reform des Weltwährungsfonds zugunsten der Entwicklungsländer (die ebenfalls flexible Bandbreiten zulässt). Das Beispiel aus dem militärischen Bereich zeigt indes, wie sehr die Ambivalenz der Differenzierung auch die Steigerung der „Systemirritabilität“ erfasst. Es kommt hinzu, dass diese Steigerung partikular 219 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, op. cit., S. 1143. 220 T. Prien, „Kritische Systemtheorie und materialistische Gesellschaftstheorie“, in: M. Amstutz, A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 94. 221 Vgl. N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, op. cit., S. 216-217 sowie S. 385. 222 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, S. 185. <?page no="620"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 604 bzw. systemspezifisch ist und daher nicht an die Stelle der von Habermas geforderten Universalvernunft treten kann. In der Auseinandersetzung zwischen Systemtheorie und Kritischer Theorie steht daher die Frage nach der Vernunft des Ganzen im Mittelpunkt, die auf der Überlegung gründet, dass die Systeme als solche das Problem sein könnten und dass die Steigerung ihrer Effizienz als „Irritabilität“ nur zur Beschleunigung einer fatalen Entwicklung führen würde. 7. Jürgen Habermas ʼ Antwort auf Luhmann: Die Habermas-Luhmann- Debatte I Mit Absicht wurde am Ende des vorigen Abschnitts die Aufmerksamkeit auf das kritische Potenzial von Luhmanns Theorie gelenkt, um vorab den für jeden Dialog ruinösen Eindruck zu vermeiden, die Kritische Theorie habe einen Monopolanspruch auf Kritik und alles, was ihr widerspreche, sei „affirmativ“. In „Luhmanns Antwort auf Habermas“, die das nächste Kapitel abschließt, soll deutlich werden, dass einige systemtheoretische Argumente durchaus Schwachstellen dieser Variante der Kritischen Theorie treffen. Da die eigentliche Habermas-Luhmann-Debatte 1971 veröffentlicht wurde und mehrere „Supplemente“ nach sich zog, die Anfang der 70er Jahre erschienen, sollen im Folgenden auch Argumente aufgegriffen werden, die wesentlich später vorgebacht wurden: etwa in Habermasʼ Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) und in seinem Buch Die Einbeziehung des Anderen (1996). Es erscheint auch sinnvoll, mit den neueren Texten zu beginnen, weil sich die Argumente der ursprünglichen Debatte nur auf Luhmanns Frühschriften beziehen konnten: u.a. auf Zweckbegriff und Systemrationalität (1968) und auf Legitimation durch Verfahren (1969). Erst in der Retrospektive, die von den neueren Schriften ermöglicht wird, nehmen sie klare Konturen an. Habermas, so könnte man im Rahmen der hier vorgenommenen Konstruktion feststellen, lässt seine Kritik dort beginnen, wo Luhmanns Kritik der Ausdifferenzierung und des „Abreißens der gesamtgesellschaftlichen Koordination der Funktionssysteme“ (s.o.) innehält: bei der Frage nach einer universellen, die ganze Gesellschaft umfassenden Vernunft, die schon in Adornos und Horkheimers Werken zentral war. „Zentral ist der Begriff der Vernunft“ 223 , schreibt Horkheimer, erklärt aber auch, dass es ihm um die universelle, nicht die partikulare, für besondere Zwecke einsetzbare Vernunft geht: „Später wird der Inhalt der Vernunft willkürlich auf den Umfang bloß eines Teils dieses Inhalts reduziert, 223 M. Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt, Fischer, 1970, S. 7. <?page no="621"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 605 auf den Rahmen nur eines ihrer Prinzipien; das Besondre tritt an die Stelle des Allgemeinen.“ 224 Vor diesem Hintergrund wirft Habermas Luhmann vor, im Rahmen eines neuen Nominalismus, „das Allgemeine aufs Besondere zu reduzieren“ 225 und es gleichsam beim „Abreißen der gesamtgesellschaftlichen Koordination“ bewenden zu lassen. Konkret beanstandet er das „eindimensionale Denken“ (Marcuse) der Systemtheorie, die den von Marx beschriebenen Zerfall der Gesellschaft in arbeitsteiliger Entfremdung für den unabänderlichen Endzustand hält: „Der Systemfunktionalismus geht ungerührt davon aus, daß dieser Zustand bereits eingetreten ist, und zwar nicht nur im Einzugsbereich der kapitalistischen Ökonomie, sondern in den Vorhöfen aller Funktionssysteme.“ 226 Tatsächlich wird hier die Vermutung geäußert, dass in der Systemtheorie die Teilsysteme vorwiegend über das Geld als Tauschwert naturwüchsig und nichtrational miteinander kommunizieren. Luhmann würde wahrscheinlich einwenden, dass seine Soziologie den Istzustand beschreibt und nicht darauf aus ist, utopische Alternativen zu entwerfen. Er würde sicherlich das Wort „ungerührt“ beanstanden, denn in seinem Buch Ökologische Kommunikation heißt es unmissverständlich: „Gleichwohl bleibt Habermasʼ Hinweis beachtlich, daß eine azentrische Gesellschaft sich nicht ihrer eigenen Rationalität versichern könne, sondern sich den Teilsystemrationalitäten ihrer Funktionssysteme ausliefern müsse.“ 227 An dieser Stelle setzt Habermas seine Argumentation als Kritik an der „instrumentellen“ (Horkheimer) oder „zweckrationalen“ (M. Weber) Vernunft fort. Er hält Luhmann vor, dass er die instrumentelle, zweckorientierte Vernunft der Teilsysteme als die einzige Vernunft betrachtet: „Die Systemtheorie läßt allein den Typus zweckrationalen Handelns zu (…).“ 228 Diese Form der Vernunft erscheint ihm im Anschluss an Adorno und Horkheimer (vgl. Kap. VI) als ein Herrschaftsdenken, das auf Naturbeherrschung gründet: „Hinter dem Versuch, Reduktion von Weltkomplexität als 224 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Fischer, 1974, S. 30. 225 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 396. 226 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 409. 227 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? , Opladen, Westdeutscher Verlag, 1988 (2. Aufl.), S. 251. 228 J. Habermas, „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 250. <?page no="622"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 606 obersten Bezugspunkt des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus zu rechtfertigen, verbirgt sich die uneingestandene Verpflichtung der Theorie auf herrschaftskonforme Fragestellungen, auf die Apologie des Bestehenden um seiner Bestandserhaltung willen. (…) Damit wird sie [die Gesellschaftstheorie] für den technokratischen Gebrauch reserviert.“ 229 Konkreter beschreibt diese „instrumentelle“ oder „technische“ Vernunft Klaus Grimm, wenn er ausdrücklich auf die miteinander liierten Komponenten von „Zweck“, „Mittel“ und „Erfolg“ in Luhmanns Denken hinweist und sie dem „technischen Bezug“ unterordnet: „Luhmanns Problem besitzt einen solchen technischen Bezug. Auch ihm geht es um Fragen des Erfolgs von Handlungen, um Beziehungen zwischen Zwecken und den Mitteln, die zu ihrer Realisierung erforderlich sind.“ 230 Ein „instrumentelles“ zweck- und erfolgsorientiertes Denken dieser Art ist letztlich genötigt, auch den Wahrheitsbegriff zu partikularisieren, ihn zu „verkürzen“. Dabei verschwindet das gesellschaftliche Ganze, von dem Adorno behauptet, es sei „das Unwahre“, aus dem Blickfeld. In diesem Kontext spricht Habermas von einer „pragmatischen Verkürzung“ von Luhmanns Wahrheitsbegriff: „Auf der Grundlage eines pragmatisch verkürzten Wahrheitsbegriffs ist die Möglichkeit einer reflexiven Vergewisserung der Welt im ganzen undenkbar.“ 231 Bei Walter Reese-Schäfer ist in diesem Zusammenhang von einer „Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs“ 232 die Rede. Hier kehrt die Argumentation zu ihrem Ausgangspunkt zurück: zu der Frage nach dem vernünftigen und wahren oder unvernünftigen und unwahren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Dieser Zusammenhang, meint Habermas, wird durch die Einengung des Wahrheitsbegriffs auf den instrumentellen Nexus von „Zweck“, „Mittel“ und „Erfolg“ ausgeblendet. Tatsächlich betrachtet Luhmann wissenschaftliche Erklärungen als „die Form, in der Wahrheiten ausgewertet werden“ 233 , und verweist damit auf seine umfangreiche Analyse des vom Kode wahr / unwahr strukturierten Wissenschaftssystems, die rund zwei Jahrzehnte nach der Debatte in Buchform erschien. Im Rahmen dieses Kodes wird nach der Wahrheit oder Unwahrheit empirisch überprüfbarer Aussagen gefragt, nach der „Erzeugung von Gewißheit“ 234 , wie Habermas es ausdrückt. Nicht gefragt wird nach der wahren, 229 Ibid., S. 170. 230 K. Grimm, Niklas Luhmanns „soziologische Aufklärung“ oder Das Elend der aprioristi schen Soziologie. Ein Beitrag zur Pathologie der Systemtheorie im Licht der Wissen schaftslehre Max Webers, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1974, S. 19. 231 J. Habermas, „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? “, op. cit., S. 232. 232 W. Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, op. cit., S. 148. 233 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. IV, op. cit., S. 151. 234 J. Habermas, „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? “, op. cit., S. 241. <?page no="623"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 607 herrschaftsfreien Gesellschaft, in der nicht länger „entfesselte“ Teilsysteme als Instrumente der Naturbeherrschung einander und ihre gesamte Umwelt existentiell bedrohen (man denke etwa an das strategisch-militärische System und seine Formen der Irritabilität: s.o.). Im Anschluss an seine Kritik von Luhmanns Wahrheitsbegriff stellt Habermas auch die funktionalistische Auffassung des Ideologiebegriffs in Frage, die Ideologiekritik von ihrem „Wahrheitsanspruch“ trennt: „Wissenschaftlich relevant ist dann nur noch die Funktion, die ein geistiges Gebilde für bestimmte Teilsysteme übernehmen kann.“ 235 Zusammen mit dem Wahrheitsbegriff wird in der Systemtheorie - Habermas zufolge - der Ideologiebegriff instrumentalisiert: Teilsysteme der Gesellschaft (etwa das politische System) stützen sich auf Ideologien als Weltbilder, um ihre soziale Funktion und ihre einzelnen Operationen zu erklären und zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu betrachtet Habermas Ideologie gesellschaftskritisch als ein Hemmnis im Erkenntnis- und Verständigungsprozess. Ihm erscheint die gesamte Systemtheorie Luhmanns als ein Herrschaftsinstrument, das sowohl revolutionäre (sozialistische) als auch kapitalistische Technokratien legitimieren kann. Als Vertreter der Kritischen Theorie beruft er sich nicht nur auf Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung sowie auf Horkheimers Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, sondern auch auf Herbert Marcuses „Grundthese, daß Technik und Wissenschaft heute auch die Funktion von Herrschaftslegitimationen übernehmen (…)“. 236 In Luhmanns Theorie legitimieren sie die Funktionen und Interessen einzelner Teilsysteme. Als Alternative zur Systemtheorie schlägt Habermas, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, eine „Theorie des kommunikativen Handelns“ vor, die nicht im Partiellen und Besonderen (der Teilsysteme) verharrt, sondern den sozialen Gesamtzusammenhang im Auge behält. Die Terminologie dieser Theorie wurde hier mit Absicht gemieden (soweit es ging), um dem nächsten Kapitel nicht vorzugreifen und um die Kohärenz und Verständlichkeit dieses Abschnitts zu wahren. Gerade um der Kohärenz willen scheint es aber zum Abschluss sinnvoll zu sein, auf die Funktion der „Kommunikation“ und des „kommunikativen Handelns“ in Habermasʼ Kritik an Luhmann einzugehen. Wiederum bezieht sich Habermasʼ Argument auf die Gesamtvernunft, die den gesellschaftlichen Zusammenhang als ganzen zu erfassen sucht, statt sich mit den Partialperspektiven der Teilsysteme zu begnügen. Eine der Grundlagen dieser aufs Ganze zielenden Vernunft ist die öffentliche Kommunikation. Zum Gemeinbewusstsein bemerkt Habermas: „(…) 235 Ibid., S. 245. 236 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt, Suhrkamp, 1974 (7. Aufl.), S. 74. <?page no="624"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 608 In den höherstufigen und verdichteten Kommunikationsprozessen einer Öffentlichkeit gelangt es zu größerer Klarheit.“ 237 Dass diese von den Medien begünstigte Kommunikation auf das Ganze zielt, das zur Vernunft kommen soll, lässt der folgende Satz erkennen: „Alle Teilöffentlichkeiten verweisen auf eine umfassende Öffentlichkeit, in der die Gesellschaft im ganzen ein Wissen von sich ausbildet.“ 238 Habermas bezieht sich auf das Projekt der Aufklärung, dessen Ziel eine mündige, zur Verständigung und zum demokratischen Handeln fähige Öffentlichkeit war. Im Übergang zum nächsten Kapitel sei vorsichtshalber darauf hingewiesen, dass wir es bei Luhmann und Habermas mit zwei grundverschiedenen Kommunikationsbegriffen zu tun haben. Dazu bemerkt Manfred Füllsack: „Die Kommunikationsbegriffe als zentrale Schlüsseltermini in den Konzeptionen von Habermas und Luhmann sind also inkompatibel.“ 239 Sie sind es, weil Luhmanns Begriff in einen instrumentellen oder zweckrationalen Kontext eingebettet ist und primär Informations- oder Nachrichtenübermittlung meint, während Habermasʼ Begriff auf Verständigung, Konsenssuche und das gesellschaftliche Ganze ausgerichtet ist. Da Habermas und Luhmann während ihrer Debatte und im Laufe ihrer gegenseitigen Kritiken, die ihre Werke durchziehen, immer wieder versuchten, einander zu widerlegen und ihre Systeme „auszuhebeln“, scheint am Ende noch eine Bemerkung zur Bedeutung der Dialogizität und der Dialogischen Theorie angebracht. Ihr geht es, wie bereits bemerkt, nicht um Widerlegung, sondern um Erschütterung heterogener Theorien in der kritischen Konfrontation. Die Erschütterung unterscheidet sich insofern von der Widerlegung, als sie nicht nur in destruktiver Absicht die Schwächen, sondern auch die Stärken der beteiligten Theorien zutage treten lässt und vor allem den Konsens im Dissens - in der Heterogenität - aufzeigt. In diesem Kapitel sollte deutlich geworden sein, dass sich Systemtheorie und Kritische Theorie in mindestens einem wesentlichen Punkt überschneiden: Beide lassen die Gefahren erkennen, die der Differenzierungsprozess mit sich bringt und die seit Durkheim und Parsons gewachsen sind. Aus dialogischer Sicht ist wichtig, dass es sich um zwei ideologisch heterogene Theorien handelt und nicht etwa um zwei Varianten der Kritischen Theorie, die (wie manche sagen würden) von der ihnen gemeinsamen Doxa ausgehen, um einander zu bestätigen. Eine alles umfassende Gesellschaftstheorie wird es nie geben; sehr wohl aber eine dialogische Konfrontation von 237 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, op. cit., S. 417. 238 Ibid., S. 418. 239 M. Füllsack, „Die Habermas-Luhmann-Debatte“, in: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt, Suhrkamp, 2010, S. 173. <?page no="625"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 609 Theorien, die Erkenntnisse testet, anzweifelt oder bestätigt - oder zu neuen Erkenntnissen führt. Zusammenfassung und Ausblick: Wie Hegel und Parsons konstruiert Luhmann eine „Supertheorie“ mit Universalanspruch, die nicht einzelne Aspekte der Gesellschaft, sondern das Gesellschaftssystem in seiner Gesamtheit darstellen und als differenzierten Funktionszusammenhang erklären soll. Im Gegensatz zum Dialektiker Hegel, der zeigt, wie einzelne Bereiche der Gesellschaft ineinander greifen, miteinander vermittelt sind, geht Luhmann im Anschluss an Husserl und den Radikalen Konstruktivismus (Maturanas, Varelas) von dem Gedanken aus, dass die Gesellschaft und ihre Subsysteme als autonome, „autopoietische“ Einheiten aufzufassen sind: als Einheiten, die selbst die Elemente herstellen, aus denen sie bestehen. Daraus resultiert eine systemische Geschlossenheit und Selbstreferentialität, die auf einem spezifischen sprachlichen Kode gründet, in den Nachrichten anderer Systeme, die stets die Umwelt eines Systems bilden, übersetzt werden müssen, um verstanden zu werden: So reagiert beispielsweise die Wirtschaft nur auf Nachrichten, die in ihren vom Gegensatz zahlen / nicht zahlen strukturierten Kode übersetzt werden können. Der Autopoiesis-Begriff hindert Luhmann daran, Interferenzen zwischen Systemen wahrzunehmen: etwa die Vereinnahmung der „Politik“ oder der „Wissenschaft“ durch die „Wirtschaft“ und durch das „Geld“ als deren Medium. Unberücksichtigt bleibt auch die Entstehung sozialer Systeme in Herrschaftsstrukturen und Machtkonstellationen, in denen ihre Autonomie in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zu Parsons, der den Wertekonsens für den Zusammenhalt der Gesellschaft verantwortlich macht, geht Luhmann davon aus, dass Gesellschaft vom Differenzierungsprozess, der von der grundsätzlichen Differenz System / Umwelt seinen Ausgang nimmt, zusammengehalten wird. Diese Annahme liegt seiner Erzählung der sozialen Entwicklung zugrunde, die „von der segmentären über die hierarchische zur differenzierten Weltgesellschaft“ verläuft. Letztere ist von der „Dominanz funktionaler Differenzierung“ geprägt. In dieser Erzählung als Diskurs fällt abstrakten (mythischen) Aktanten wie „Differenzierung“, „System“ und „Weltgesellschaft“ die Funktion von handelnden Subjekten oder Aktanten zu, die Luhmann durch die Tilgung des Subjektbegriffs eliminiert hat. Der Versuch, anthropomorphe Termini zu vermeiden, hat die Anthropomorphisierung abstrakter Begriffe zur Folge: Die „Differenzierung“ als Auftraggeberin beauftragt die „Systeme“ als Subjekt-Aktanten, sich autopoietisch auszudifferenzieren und eine „Weltgesellschaft“ als Objekt-Aktanten des Diskurses zu bilden. Als ambivalente Instanz ist sie zugleich Gegenauftraggeberin, weil die angestrebte autopoietische Vollkommenheit der Systeme zu deren Abschottung und zu einem Zerfall der (Welt-)Gesellschaft führen kann. Luhmann ist sich dieser Gefahr durchaus bewusst, und seine Hinweise auf die negativen Konsequenzen systemischer Eigengesetzlichkeit und Abschottung gehören zu den kritischen Komponenten seiner Theorie. Dennoch wirft ihm Habermas in der Habermas-Luhmann-Debatte <?page no="626"?> Luhmanns Umformulierung der Systemtheorie 610 vor, nur die „instrumentelle“ oder „technische Vernunft“ anzuerkennen und die Frage nach einer universellen, die ganze Gesellschaft und ihre Zielsetzungen umfassenden Vernunft auszublenden. Im nächsten Kapitel wird Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns, die nicht vom Gegensatz System / Umwelt, sondern vom Gegensatz System / Lebenswelt ausgeht und eine von Luhmann stark abweichende Erzählung der Gesellschaft hervorbringt, als Alternative zur Systemtheorie dargestellt. <?page no="627"?> 611 XVI. Systeme und Lebenswelt, instrumentelle und kommunikative Vernunft: Jürgen Habermas ʼ Alternative zur Systemtheorie Inhaltsverzeichnis 1. Soziale Differenzierung von Luhmann zu Habermas: Der Kampf um die Lebenswelt als Aktantenmodell 2. Der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit: Eine Erzählung in der Erzählung 3. Drei Erkenntnisinteressen: technisch, praktisch, emanzipatorisch - Habermasʼ Antwort auf Marx, Adorno und Horkheimer im Übergang zum kommunikativen Ansatz 4. Die „Theorie des kommunikativen Handelns“: Darstellung und Kritik 5. Zwischen Moderne und Postmoderne: Habermas als spätmoderner Soziologe 6. Der „Positivismusstreit“: Habermasʼ Kritik des Kritischen Rationalismus und Hans Alberts Antwort 7. Niklas Luhmanns Einwände: Die Habermas-Luhmann-Debatte II In Übereinstimmung mit dem hier vertretenen dialogischen Ansatz soll auch in diesem Kapitel gezeigt werden, dass eine Theorie in einem bestimmten gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext dialogisch-polemisch auf andere Theorien als Diskurse (semantisch-narrative Strukturen) antwortet. In dem hier konstruierten Zusammenhang erscheint Habermasʼ Theorie als eine Antwort auf Luhmanns systematische Soziologie. Die Konfrontation der beiden heterogenen Ansätze soll erkennen lassen, dass beide auf die systemische Ausdifferenzierung der Gesellschaft reagieren, die Probleme, die sich im Laufe dieser Entwicklung abzeichnen, mit ähnlichen Begriffen beschreiben, letztlich aber mit stark divergierenden und bisweilen unvereinbaren Lösungsvorschlägen aufwarten (vgl. Abschn. 1). Dieser Gesamtdarstellung liegt auch der Gedanke zugrunde, dass alle wissenschaftlichen Theorien in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation oder Problematik entstehen, in der sie auf verwandte und ihnen gemeinsame Probleme reagieren, diese Probleme aber unterschiedlich einschätzten - d.h. konstruieren - und daher grundverschiedene Lösungen anbieten. Wie Parsons, auf den sich beide beziehen, beobachten Habermas und Luhmann den Differenzierungsprozess, stellen ihn aber in zwei voneinander abweichenden Erzählungen dar: Während Habermas als Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung den Grundgegensatz Kapitalismus / Demokratie sowie den komplementären Gegensatz System(e) / Lebenswelt für <?page no="628"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 612 relevant hält, geht Luhmann, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, vom Gegensatz System / Umwelt aus. Anders als Luhmann, der im Rahmen des Differenzierungsprozesses und der Systemrationalität Korrekturvorschläge macht (die „Irritabilität der Systeme“ steigern), konstruiert Habermas ein aus Marxʼ Philosophie sowie der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers ableitbares Aktantenmodell. In ihm versuchen die vom „Kapital“ abhängigen „sprachlosen“ Systeme „Geld“ und „Macht“, die Lebenswelt (Husserl, Schütz) als allen Individuen gemeinsame, aus Werthaltungen, Normen und Interaktionsmustern bestehende Alltagswelt zu kolonisieren. An diesem Vorhaben werden sie von sprachbegabten individuellen und kollektiven Akteuren gehindert, die im Namen der Kommunikation als Verständigung handeln, um ihre Lebenswelt vor der „Kolonialisierung“ zu bewahren. Es ist zwar nicht möglich, ein wissenschaftliches oder literarisches Werk aus der Biografie einer Autorin oder eines Autors abzuleiten, aber biografische Daten gehören stets zum sozialen Kontext, in dem eine Theorie in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Theorien entstanden ist. Anders als Luhmann, der sich schon als junger Wissenschaftler an Parsonsʼ Systemtheorie orientierte und seiner Zusammenarbeit mit Parsons in Harvard wesentliche Impulse verdankte, begann Habermas seine wissenschaftliche Laufbahn am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Er wurde 1929 in Düsseldorf geboren, studierte u.a. Philosophie, Psychologie, Geschichte und Deutsche Literatur an den Universitäten Göttingen, Zürich und Bonn. Er promovierte an der Universität Bonn bei Erich Rothacker mit einer Arbeit über Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (1954), die den Anfang seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus markiert. Von 1955 bis 1959 war er Forschungsassistent bei Adorno und Horkheimer am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo er Gelegenheit hatte, sich das Denken und die Argumentationsmuster dieser Variante der Kritischen Theorie anzueignen. Da Max Horkheimer, damals Direktor des Instituts, Habermasʼ Forschung mit Skepsis betrachtete, habilitierte sich Habermas an der Universität Marburg bei dem Marxisten Wolfgang Abendroth mit einer Arbeit über den Strukturwandel der Öffentlichkeit, die 1962 im Luchterhand Verlag erschien, zahlreiche Auflagen (später beim Suhrkamp-Verlag) erreichte und im wissenschaftlichen Bereich intensiv diskutiert wurde. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit in Heidelberg wurde Habermas zum ordentlichen Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt ernannt. Er war von 1980 bis 1982 Direktor des Max- Planck-Instituts für Sozialwissenschaften in Starnberg und schließlich - von 1983 bis 1994 - Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt. <?page no="629"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 613 Habermas, der im Jahre 1961 zusammen mit Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz die Studie Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein von Frankfurter Studenten veröffentlichte, setzte sich im Jahre 1968 und auch später mit den Anliegen der kritischen Studierenden auseinander: „Am 1. Juni, Pfingstsamstag, dem ersten Tag des Frankfurter Studenten- und Schülerkongresses, sprach abends Habermas in der Mensa außerhalb der von Polizei besetzten Universität abermals in einer angespannten politischen Situation zu oppositionellen Studenten. Thema war laut Programm: der Aktionsspielraum für Protest und Widerstand.“ 1 Obwohl Habermas das Vorhaben der Studentinnen und Studenten, die Gesellschaft durch Ungehorsam und Revolte zu verändern, für illusorisch hielt, ließ er ihre Anliegen in seine Theorie eingehen, indem er zu zeigen versuchte, wie sprachbegabte, mündige Akteure ihre Lebenswelt gegen die Vereinnahmung („Kolonialisierung“) durch Geldwirtschaft und politische Macht als „kommunikativ Handelnde“ verteidigen (vgl. Abschn. 1 und 2). Diese Hinweise auf wissenschaftlichen Werdegang und Politik sollen zeigen, dass eine Theorie in einem besonderen sozialen Kontext entsteht, der von den persönlichen Erfahrungen eines Individuums wie Habermas oder Luhmann geprägt ist. Obwohl beide den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatten, reagierten sie sehr unterschiedlich auf den Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Ereignisse der Nachkriegszeit. Während Luhmann die funktionale Rationalität autopoietischer Systeme erforschte, um sie transparenter und beherrschbarer zu machen, engagierte sich Habermas für eine demokratische Kontrolle der Systeme. Deren ausschließlich erfolgsorientierte, instrumentelle Rationalität sollte durch das kommunikative Handeln der von der systemischen Differenzierung betroffenen Individuen und Gruppen gesteuert werden. In dieser Hinsicht knüpft er nicht nur - wie Luhmann - an die Differenzierungsproblematik von Herbert Spencer und Talcott Parsons an, sondern auch an die von Marx geerbte Problematik der Kritischen Theorie (Adornos, Horkheimers), deren Argumente in der Frage konvergieren, wie das kapitalistische System überwunden oder zumindest menschlicher Kontrolle unterworfen werden kann. Während Adornos Abkehr von Marx und vom Marxismus auf seinen Bruch mit einer Dialektik der historischen Immanenz als Klassenkampf und Revolution zurückzuführen ist (vgl. Kap. VI), distanziert sich Habermas von der marxistischen Orthodoxie, indem er Marxʼ (seiner Meinung nach) erfolgsorientierten und letztlich zweckrationalen Arbeitsbegriff 1 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte - Theoretische Entwicklung - Politische Erfahrung, München, DTV, 1989 (2. Aufl.), S. 696-697. <?page no="630"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 614 durch den auf Verständigung ausgerichteten Begriff des kommunikativen Handelns ersetzt (vgl. Abschn. 3). Durch diese Umstrukturierung der Theorie verzichtet er zwar sowohl auf Marxʼ Vision einer „klassenlosen Gesellschaft“ als auch auf Horkheimers „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ 2 , die in Adornos kritischer Kunst als „Statthalter[in] des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts“ 3 fortlebt, nicht jedoch auf eine Eindämmung kapitalistischer Naturwüchsigkeit durch demokratische Kontrolle. Durch diese Umorientierung der Kritischen Theorie auf Demokratie und kommunikatives Handeln nimmt er ihr zwar ihre kompromisslose Radikalität (das „ganz Andere“ des Kapitalismus wird nicht mehr angepeilt), hält aber an der Kapitalismus-Kritik fest, indem er im Kampf um die „Lebenswelt“ eindeutig Partei für die kommunikativ Handelnden und gegen die „sprachlosen“ Systeme „Geld“ und Macht“ Partei ergreift. Im ersten Abschnitt soll diese Parteilichkeit als Aktantenmodell und soziologische Erzählung rekonstruiert werden. Vergleicht man diese Erzählung kontrastiv mit dem Marxschen Modell, so fällt als erstes ihr defensiver Charakter auf: Wie Durkheim, der sich angesichts der Zunahme marktwirtschaftlich bedingter sozialer Pathologien von der Schaffung neuer Berufsverbände eine Stärkung gesamtgesellschaftlicher Solidarität verspricht, wie Tönnies, der kapitalistische („neuzeitliche“) „Naturzustände“ (Hobbes) durch eine Intensivierung gemeinschaftlicher Bindungen bändigen möchte, hofft Habermas, die systemisch induzierten Pathologien der Gesellschaft durch eine kommunikativ konzipierte Verteidigung der Lebenswelt (als Alltagskultur, Familie, Schule usw.) einzudämmen. Es wird sich zeigen, dass bei Habermas Schlüsselbegriffe wie Lebenswelt und kommunikatives Handeln (vgl. Abschn. 4) gemeinschaftliche Züge im Sinne von Tönnies aufweisen: vor allem in Kontexten, in denen sie im Gegensatz zu den zweckrational organisierten Systemen „Geld“ und „Macht“ betrachtet werden. In diesem soziologischen Zusammenhang erscheint Habermas’ Ansatz - wie der Durkheims oder Tönniesʼ - als spätmoderne Reaktion auf moderne Unwägbarkeiten und als spätmoderne Selbstkritik der Moderne, an deren aufklärerischen Idealen Habermas gegen alle Vertreter postmodernen Denkens festhält (vgl. Abschn. 5). Seine Kritik der Moderne mündet nicht in einen Bruch mit dieser Ära als Problematik, sondern in ein Plädoyer für zeitgemäße Aufklärung als kommunikative Vernunft und Gesellschaftskritik. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich wesentlich von Adorno und Horkheimer, die vor allem in der Dialektik der Aufklärung (1947) dazu neigen, 2 Vgl. M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg, Furche (1970), 1971. 3 Vgl. Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 194. <?page no="631"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 615 das Denken der Aufklärung mit Rationalismus, Positivismus und Naturbeherrschung zu identifizieren und als Herrschaftsdenken abzuwerten. Dem Begriff „Macht“ subsumiert Habermas nicht nur die vom „strategischen Handeln“ dominierte Politik, sondern auch die Bürokratie, die er mit Max Weber für eine Bedrohung der Gesellschaft als Lebenswelt hält. Auch in diesem Punkt knüpft er an die spätmoderne Soziologie als Selbstkritik der Moderne an. Im Gegensatz zu Weber 4 , der seiner Erzählung als Aktantenmodell ganz andere Relevanzkriterien zugrunde legt, indem er den charismatischen Politiker dem unbeweglichen Bürokraten gegenüberstellt (vgl. Kap. XII. 4), meint Habermas, in der Macht der kommunikativ Handelnden ein Gegengewicht sowohl zu den Herrschaftsansprüchen der Politik als auch zu denen der Bürokratie zu erkennen, und richtet seine Erzählung entsprechend ein (vgl. Abschn. 1). Mit Weber verbindet ihn auch der defensive Charakter seiner Theorie, die eher auf die Vermeidung drohenden Unheils aus ist als auf die Verwirklichung moderner Zielsetzungen oder Utopien im Sinne von Marx, Comte und Spencer. Diese haben sich in der spätmodernen Konstellation als überzogen und unrealistisch erwiesen. Als kritischer Realist trifft sich Habermas trotz aller Unterschiede und Gegensätze (vgl. Abschn. 7) mit seinem Kontrahenten Luhmann, der wie Habermas mit Sorge die autopoietisch entfesselten Subsysteme der Gesellschaft beobachtet und eine Lösung für deren indifferentes Nebeneinander sucht. Während sich der Systemtheoretiker keine Rationalität jenseits des systemischen Funktionszusammenhangs vorzustellen vermag, erblickt Habermas in einer lebensweltlich fundierten kommunikativen Vernunft eine Alternative zur instrumentellen (Horkheimer) oder funktionalistischen Vernunft (Parsons, Luhmann) der Systeme. Hier wird deutlich, dass Theoretiker aufgrund divergierender Sozialisationen und Erfahrungen die soziale Entwicklung unterschiedlich beobachten und mit Hilfe grundverschiedener Relevanzkriterien erzählen. Während Luhmann vom Gegensatz System / Umwelt ausgeht, wählt Habermas als Ausgangspunkt den Gegensatz System(e) / Lebenswelt, dem der umfassende Gegensatz Kapitalismus / Demokratie entspricht. Beide Autoren erzählen jedoch die Entwicklung der Gesellschaft als systemischen Differenzierungsprozess, so dass ihre Theorien durchaus vergleichbar sind und dort, wo sie voneinander abweichen, Fragen aufwerfen, die neue Erkenntnisse zeitigen können. 4 Vgl. J. Habermas, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des fünfzehnten deutschen Soziologentages, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1965, S. 74-81. <?page no="632"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 616 1. Soziale Differenzierung von Luhmann zu Habermas: Der Kampf um die Lebenswelt als Aktantenmodell Luhmann fasst soziale Evolution nicht nur (wie schon Spencer: vgl. Kap. IX. 1) als „Zunahme von Komplexität“, sondern auch und vor allem als „zunehmende funktionale Differenzierung“ 5 auf. Anders als Stammesgesellschaften, die segmentär und feudale Gesellschaften, die hierarchisch strukturiert sind, gehorchen moderne Gesellschaften dem Prinzip der funktionalen Differenzierung: „Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch einen Primat funktionaler Differenzierung aus.“ 6 Das Problem, das Luhmann - ähnlich wie Habermas - beobachtet, ist die Kommunikation in einer Gesellschaft, die von wachsender systemischer Autonomie geprägt und genötigt ist, sich in zunehmendem Maße auf das Geld (den Tauschwert) als Kommunikationsmedium zu verlassen. Luhmann sieht es so: „Was auffällt und sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht nach kommunikativer Behandlung ruft, sind die Autonomieprobleme der neuen Funktionssysteme, die sowohl den Essenzkosmos als auch die Moralcodierung des Mittelalters sprengen.“ 7 Abermals verläuft hier die Erzählung - wie schon bei Marx, Comte und Spencer - von der christlich integrierten mittelalterlichen Gesellschaft (dem Feudalismus, dem „theologischen Stadium“, „der militanten Gesellschaft“) zu einer ausdifferenzierten modernen Welt ohne umfassendes Kommunikationssystem, ohne sinnkoordinierendes Zentrum. Luhmanns Lösungsvorschlag läuft auf eine Steigerung der systemischen Irritabilität hinaus, die eine bessere Kommunikation zwischen den autopoietischen Einheiten ermöglichen könnte (vgl. Kap. V. 6). Auf diesen Vorschlag reagiert Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns (1981: Bd. II) mit einer „Kritik der funktionalistischen Vernunft“, die in dem Vorwurf gipfelt, Luhmann versuche, Probleme der modernen Gesellschaft ausschließlich mit den Mitteln der instrumentellen oder funktionalistischen Vernunft zu lösen, die im Wesentlichen auf Max Webers Zweckrationalität zurückzuführen sei. In dieser Hinsicht knüpft er, wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, an die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers an, die nach Alternativen zur „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) sucht. Zumindest indirekt setzt er auch Marcuses Kritik des eindimensionalen Denkens fort, das nicht über die für den Kapitalismus als Herrschaftssystem charakteristische Zweckrationalität (vgl. Kap XII. 3) hinausweist. 5 N. Luhmann, „Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution“, in: G. Burkart, G. Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 275. 6 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 963. 7 Ibid. <?page no="633"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 617 Luhmanns Denken erscheint aus der Sicht der gesamten Kritischen Theorie als „eindimensional“, weil es nur den instrumentellen Vernunfttypus als Zweckrationalität gelten lässt. Jenseits dieser mit Herrschaftsmechanismen verquickten Rationalität entdeckt Habermas eine aus der Lebenswelt hervorgehende kommunikative Vernunft, die Marcuses zweite Dimension evoziert, weil sie nicht der Natur- und Menschenbeherrschung dient, sondern der Verständigung und zugleich der Emanzipation von Machtansprüchen. Aus diskurssemiotischer und erzähltheoretischer Sicht kann nun beobachtet werden, wie Habermas einerseits mit Luhmann übereinstimmt, indem er sein Differenzierungstheorem als narrative Einheit übernimmt, andererseits aber von Luhmann abweicht, indem er den für Luhmann relevanten Gegensatz System / Umwelt durch seinen Gegensatz System(e) / Lebenswelt (indirekt: Kapitalismus / Demokratie) ersetzt. Der Ausdruck „Entkoppelung von System und Lebenswelt“ 8 deutet an, dass Habermas auf dem von ihm als relevant postulierten semantischen Gegensatz beharrt und einen „Differenzierungsvorgang zweiter Ordnung“ 9 beobachtet. Dieser führt einerseits zur Rationalisierung der Lebenswelt, andererseits zur Entkoppelung der Systeme „Geld“ und „Macht“ vom lebensweltlichen Bereich und zu deren Hypertrophie in der Lebenswelt, die von den Systemen „instrumentalisiert“ oder „kolonisiert“ wird. (Wie etwas, das von der Lebenswelt „abgekoppelt“ ist, in der Lebenswelt hypertrophieren kann, ist auch auf metaphorischer Ebene nicht klar.) Die folgende Passage zeigt, wie Habermas, ausgehend vom gemeinsamen Theorem der systemischen Differenzierung, Luhmanns Erzählung im Rahmen des Gegensatzes System(e) / Lebenswelt umdeutet und den soziologischen Diskurs eine ganz andere, gesellschaftskritische Richtung einschlagen lässt: „Wenn man diesen Trend der Entkoppelung von System und Lebenswelt auf die Ebene einer systematischen Geschichte der Verständigungsformen abbildet, verrät sich die unaufhaltsame Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses: die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen.“ 10 Diese „Großerzählung“ („Metaerzählung“, Lyotard) kann in folgende narrative Sequenzen zerlegt werden: (1) Im Laufe der frühmodernen Aufklärung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft als Lebenswelt wird diese rationalisiert. (2) Ihre Rationalisierung und Säkularisierung (Comte) 8 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 232. 9 Ibid. 10 Ibid., S. 232-233. <?page no="634"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 618 führen zur Differenzierung gesellschaftlicher Bereiche und zur Entstehung autonomer Systeme wie „Wirtschaft“, „Politik“, „Wissenschaft“ und „Recht“, die sich allmählich der Dominanz des im Feudalismus alles umfassenden Religionssystems entziehen. 3. Die immer autonomer werdenden Systeme - vor allem „Wirtschaft“ („Geld“) und „Politik“ („Macht“) - „hypertrophieren“ und beginnen, die „Lebenswelt“ zweckrational zu instrumentalisieren: zu „kolonisieren“. Während sich die ersten beiden Erzähleinheiten mit Luhmanns Erzählung der systemischen Differenzierung (bis auf den Schlüsselbegriff „Lebenswelt“) überschneiden, kommt es in der dritten Einheit zur entschei denden Abweichung: An dieser Stelle setzt sich der als relevant postulierte semantische Gegensatz System(e) / Lebenswelt durch und lässt das „zentrale Ereignis“ der Erzählung entstehen: die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die Systeme „Geld“ und „Macht“ sowie den Kampf um die Le benswelt, den dieser Kolonialisierungsversuch entfacht. Was ist auf diskurssemiotischer Ebene geschehen? Entscheidend ist, dass Habermas mit seiner Erzählung der Differenzierung nicht nur von Luhmann abweicht, sondern auch versucht, Luhmanns Differenzierungsdiskurs im Rahmen seiner Relevanzkriterien umfassend umzudeuten. Die Metapher „umfassend“ ist hier mehr als eine Stilfigur: Sie soll andeuten, dass sich Habermas Diskurs der Diskurse von Parsons und Luhmann als semantisch-narrativer Strukturen auf metasprachlicher Ebene bemächtigt, um ihnen als Differenzierungsdiskursen eine andere Ausrichtung zu geben und sie in den emanzipatorischen Kampf um die Lebenswelt münden zu lassen. Wie Luhmann auf diese Umstrukturierung und Umfunktionierung seines Diskurses reagiert, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt. Vorerst soll die semiotische Umstrukturierung als solche näher betrachtet werden. Eine Metasprache ist stets eine Sprache, die eine andere Sprache zum Gegenstand hat: Gegenstand der Linguistik ist eine natürliche Sprache (Deutsch, Englisch, Spanisch) oder ein Vergleich verschiedener natürlicher Sprachen; Gegenstand der Diskurssemiotik sind u.a. Diskurse als transphrastische, über den Satz hinausgehende Einheiten. 11 Der Metasprache wohnt oft ein nicht immer beachteter Machtanspruch inne, der in der Frage gipfelt, wer wen darstellt, wer von wem dargestellt wird (vgl. Erving Goffmans Analysen in Kap. III. 4). Der umfassende, darstellende Diskurs ist stets im Vorteil, weil er dem dargestellten Diskurs seine Relevanzkriterien und die von ihnen ableitbaren Selektionen und Definitionen aufzwingen kann. 11 Vgl. J. Blomaert, Discourse, Cambridge, Univ. Press (2005), 2007, S. 28-31. <?page no="635"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 619 In diesem Sinne kann die gesamte Diskussion zwischen Habermas und Luhmann - ähnlich wie der „Positivismusstreit“ - als ein bisweilen unerquickliches Alternieren von Darstellung und metasprachlicher Gegendarstellung erlebt werden. Wie in einem Ringkampf geht es immer wieder um die Frage, wer wen „umfasst“ bzw. im Rahmen seiner Relevanzkriterien darstellt, rekonstruiert. Diese Überlegungen sind nicht nur für ein besseres Verständnis der Habermas-Luhmann-Debatte von Bedeutung, sondern auch für eine diskurskritische Einschätzung von Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns, in welcher der Begriff der idealen Sprechsituation zentral ist (vgl, Abschn. 4). Im Folgenden geht es noch nicht um diesen Begriff, sondern um das Aktantenmodell, das Habermasʼ Diskurs als Erzählung (als semantischnarrativer Struktur) zugrunde liegt. Zunächst soll deutlich werden, dass der in der Sekundärliteratur immer wieder zitierte 12 semantische Gegensatz von System(en) und Lebenswelt in den umfassenden Gegensatz Kapitalismus / Demokratie eingebettet ist und dass man die Struktur von Habermasʼ Diskurs nicht vollständig erfasst, solange man diesem Gegensatz nicht Rechnung trägt. Er nimmt in der folgenden Passage klare Konturen an: „(…) Die sozialintegrative Gewalt der Solidarität soll sich über weit ausgefächerte demokratische Öffentlichkeiten und Institutionen gegen die beiden anderen Gewalten, Geld und administrative Macht, behaupten können.“ 13 Das Wörtchen „soll“ deutet darauf hin, dass es sich hier um ein narratives Programm (programme narratif, Greimas) handelt, welches das Diskurssubjekt „Habermas“ im Namen der Demokratie als kommunikativer Vernunft verwirklichen möchte. In Habermasʼ Erzählung entwickeln die Akteure, die als Subjekte im Namen ihrer Auftraggeberin „Demokratie“ auftreten, ein eigenes, von Habermasʼ Diskurs eingefasstes narratives Programm, das Habermas mit dem Ausdruck „alternative Praxis“ zusammenfasst: „Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen 12 Vgl. z.B. H. Gripp, Jürgen Habermas, Paderborn, Schöningh, 1984, S. 92: „Lebenswelt und System“. 13 J. Habermas, „Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute? “, in: ders., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt, Suhrkamp, 2003, S. 145. <?page no="636"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 620 und persönlichen Lebensstilen.“ 14 Habermas spricht in diesem Zusammenhang von „systemisch induzierte[n] Lebensweltpathologien“. 15 Die „alternative Praxis“, die er beschreibt, richtet sich als narratives Programm gegen die Systeme „Geld“ (Wirtschaft) und „Macht“ (Politik), die als Antisubjekte die Modalität „instrumentelle Vernunft“ („Instrumentalisierung“) einsetzen, um die Lebenswelt den komplementären Prozessen der Kommerzialisierung („Monetarisierung“) und des Machtstrebens („Leistungsdruck“) zu unterwerfen. In diesem Kampf um die Lebenswelt widersetzen sich die „kommunikativ Handelnden“ als Subjekte individuell und kollektiv (etwa als Bewegungen) der „Kolonialisierung“ ihrer Lebensbereiche durch die beiden Systeme mit Hilfe der „kommunikativen Vernunft“ als Kernmodalität. Das dieser Erzählung der spätmodernen Gesellschaft zugrunde liegende Aktantenmodell verdeutlicht die funktionale Distribution der narrativen Rollen in Habermasʼ Diskurs: Der „Demokratie“ fällt in Übereinstimmung mit den Relevanzkriterien die Rolle der Auftraggeberin zu, deren narratives Programm - die Verteidigung oder Befreiung der „Lebenswelt“ - mit Hilfe der „kommunikativen Vernunft“ von den „kommunikativ Handelnden“ als Subjekt-Aktanten verwirklicht werden soll. Diese Subjekt-Aktanten oder Subjekte erfüllen in Habermasʼ Diskurs, in dem es um die Verteidigung der Lebenswelt geht, zugleich die Funktion von Fokalisatoren, aus deren Sicht der Erzähler Habermas die Entwicklung der Gesellschaft darstellt. Ihnen stehen die Systeme „Geld“ und „Macht“ als kollektive oder abstrakte - stets vom Diskurs konstruierte - Antisubjekte gegenüber, die im Auftrag des „Kapitalismus“ (Gegenauftraggeber / antidestinateur, Greimas) und mit Hilfe der „instrumentellen Vernunft“ als „Zweckrationalität“ und Grundmodalität das von Habermas beschriebene Unheil in der Lebenswelt anrichten. Im Diskurs als Erzählung wird die „Lebenswelt“ zum umkämpften Objekt-Aktanten. Weniger kämpferisch klingt Habermasʼ Wiedergabe dieser Auseinandersetzung zwischen Systemen und kommunikativ agierenden Aktanten in Zur Logik der Sozialwissenschaften: „(…) Das bedeutet für den heutigen Kapitalismus: die Ergänzung und Ersetzung der beschränkten administrativen Formen der Konfliktregelung durch die Rückkoppelung der Planungsinstanzen an diskursive Willensbildung.“ 16 Im Wesentlichen reproduziert diese Passage aber das hier konstruierte Aktantenmodell: Es gilt, die systemisch-funktionale (instrumentelle) Rationalität der in der Lebenswelt 14 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 581. 15 Ibid., S. 293. 16 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt, Suhrkamp (1982), 1985, S. 537. <?page no="637"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 621 verankerten kommunikativen Vernunft als „Willensbildung“ unterzuordnen. Da diese Unterordnung des Kapitalismus unter die Spielregeln der Demokratie selten verwirklicht wird, kommt es, so Habermas, zu „Legitimationskrisen“ im Spätkapitalismus. Sie hängen u.a. damit zusammen, dass es der Staatsmacht trotz der koordinierenden Funktion, die sie in zunehmendem Maße ausübt, nicht immer gelingt, ein „krisenfreies Wirtschaftswachstum“ 17 zu sichern. Dies hängt damit zusammen, dass sich im Spätkapitalismus politische und wirtschaftliche Prioritäten „nicht von verallgemeinerungsfähigen Interessen der Bevölkerung, sondern von privaten Zielen der Gewinnoptimierung herausbilden“. 18 Hauke Brunkhorst spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verkehrung des demokratischen Kapitalismus in kapitalistische Demokratie“. 19 Habermas selbst erklärt: „Die Prioritätenmuster, die Galbraith unter dem Gesichtspunkt ‚privater Reichtum vs. öffentliche Armut‘ analysiert hat, ergeben sich aus einer wie immer latent gehaltenen Klassenstruktur: sie ist in letzter Instanz Ursache des Legitimationsdefizits.“ 20 Seine Antwort auf dieses Defizit ist nicht der Marxsche Klassenkampf mit seiner Ausrichtung auf den Objekt-Aktanten „klassenlose Gesellschaft“, sondern eine Verteidigung der Lebenswelt durch kommunikatives Handeln und demokratische Willensbildung: „Den kommunikativ angelegten Planungstheorien (…) liegt ein Begriff von praktischer Rationalität zugrunde, der am Paradigma willensbildender Diskurse gewonnen (…) werden kann.“ 21 Zu diesem „Paradigma“ gehört auch eine demokratisch verfasste und handlungsfähige Öffentlichkeit. 2. Der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit: Eine Erzählung in der Erzählung Von Habermasʼ Habilitationsschrift, die 1962 unter dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit erschien, war bereits die Rede. In Theorie und Praxis (1963) fasst der Autor das Kernargument dieser Schrift in wenigen Worten zusammen. Es gehe um „den historischen Zusammenhang der kapitalistischen Entwicklung mit Entstehung und Zerfall der liberalen Öffentlichkeit“. 22 Habermas konkretisiert diese narrative Sequenz, wenn er 17 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 103. 18 Ibid. 19 H. Brunkhorst, Habermas, Stuttgart, Reclam (2006), 2013, S. 113. 20 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, op. cit., S. 103. 21 Ibid., S. 191. 22 J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt, Suhrkamp, 1972 (erw. Aufl.), S. 11. <?page no="638"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 622 hinzufügt: „Einerseits ist die Fiktion einer Herrschaft auflösenden diskursiven Willensbildung zum ersten Mal im politischen System des bürgerlichen Rechtsstaates wirksam institutionalisiert worden; andererseits zeigt sich die Unvereinbarkeit der Imperative des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit Forderungen eines demokratisierten Willensbildungsprozesses.“ 23 In einem neuen Kontext wird hier, wenn auch skizzenhaft, das soziologische Hauptthema von Habermasʼ späteren Werken entworfen: Der Antagonismus von Demokratie und Kapitalismus, der sich auf aktantieller Ebene im Konflikt zwischen Systemen und den kommunikativ Handelnden fortsetzt. Die Erzählung des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ kann insofern als Bestandteil der sie umfassenden Erzählung „Ausdifferenzierung von Systemen und Lebenswelt“ gelesen werden, als sie am Beispiel des Öffentlichkeitswandels zeigt, wie sich die Systeme „Geld“ und „Macht“, die in der liberalen Ära einer - wenn auch begrenzten - Kontrolle lebensweltlicher Instanzen unterlagen, im Zeitalter kommerzialisierter Massenmedien der demokratischen Kontrolle - zumindest tendenziell - wieder entziehen. Habermasʼ Erzählung kann in drei Sequenzen eingeteilt werden: 1. In der ersten Phase ihrer Entwicklung beschränkt sich „Öffentlichkeit“ auf den fürstlichen oder königlichen Hof und hat so gut wie nichts mit einer politisch aufgeklärten und am politischen Leben partizipierenden bürgerlichen Öffentlichkeit zu tun: „Solange der Fürst und seine Landstände das Land ‚sind‘, statt es bloß zu ‚vertreten‘, können sie repräsentieren; sie repräsentieren ihre Herrschaft, statt für das Volk, ‚vor‘ dem Volk.“ 24 (Man denke an den Hof von Versailles in der Zeit Ludwigs XIV, als angesehene Personen zu Fragen des Geschmacks, der Moral und der Mode durch Verhaltenskodex und Kleidung, in Festveranstaltungen und Theateraufführungen normbildend Stellung nahmen.) 2. In der zweiten Entwicklungsphase entsteht eine bürgerliche Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“. 25 Sie gründet auf dem liberalen Bürgertum, das insofern eine öffentliche Kontrollfunktion ausübt, als es Ereignisse in Politik und Wirtschaft der Kritik aussetzt. 3. In der spätkapitalistischen Gesellschaft als Massen- und Mediendemokratie atrophiert diese Kontrollfunktion, weil von Staaten und Großkonzernen verwaltete Medien die Meinungen autonomer Individuen und Gruppen, die in der liberalen Ära die Öffentlichkeit prägten, marginal werden lassen. 23 Ibid. 24 J. Habermas, „Öffentlichkeit“ (Ein Lexikonartikel), in: ders., Kultur und Kritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 63. 25 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand, 1978 (9. Aufl.), S. 42. <?page no="639"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 623 In Habermasʼ Untersuchung steht der Übergang von der liberal-bürgerlichen zur massenmedialen Gesellschaft im Mittelpunkt. Denn erst seit der Entstehung des lesenden und diskutierenden Bürgertums kann von einer kritischen Öffentlichkeit, die in den Bereichen Politik und Wirtschaft auf ein Mitspracherecht pocht, die Rede sein. Dieser Übergang ist für die umfassende Erzählung insofern wichtig, als er im Zusammenhang mit dem Öffentlichkeitsbegriff die „Kolonialisierung“ oder Vereinnahmung der Lebenswelt durch die Systeme „Geld“ und „Macht“ als Massenmedien veranschaulicht. Zu den gesellschaftlichen Grundlagen des kritikfähigen und am öffentlichen Leben teilnehmenden liberalen Bürgertums gehörten Besitz und Bildung, denen der Wirtschaftsbürger als Bourgeois und der politische Bürger als Citoyen entsprachen. Da innerhalb der bürgerlichen Schicht sowohl Besitz als auch Bildung breit gestreut waren, war die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen nicht auf eine relativ kleine, homogene Gruppe beschränkt. Es kam nicht zur Cliquenbildung, weil sich das bürgerliche Publikum „niemals ganz abriegeln“ konnte, „denn stets schon verstand und befand es sich inmitten eines größeren Publikums all der Privatleute, die als Leser, Hörer und Zuschauer, Besitz und Bildung vorausgesetzt, über den Markt der Diskussionsgegenstände sich bemächtigen konnten“. 26 Indirekt bezieht sich Habermas auf die Entstehung des Bildungsbürgertums im ausgehenden 18. Jahrhundert, wenn er daran erinnert, dass schon Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) „dem öffentlichen Konsensus der Räsonierenden untereinander die Funktion einer pragmatischen Wahrheitskontrolle zugeschrieben“ 27 hat. Es soll hier nicht der Frage nachgegangen werden, ob es diesen „öffentlichen Konsensus“ in vorrevolutionären und nachrevolutionären Zeiten in einer der europäischen Gesellschaften gab oder geben konnte. Wichtiger scheint der Hinweis zu sein, dass Habermasʼ Diskurs seit seinem Frühwerk auf den sozialen Konsens ausgerichtet ist und zumindest in dieser Hinsicht an die konsensorientierte Soziologie von Durkheim und Parsons anknüpft. Zu der neu entstehenden bürgerlichen Schicht der „Räsonierenden“ rechnet Habermas vor allem die Beamten und die „liberalen“ Berufe: „Ihr Kern sind die Beamten der landesherrlichen Verwaltung, vornehmlich Juristen (…). Hinzu kommen Ärzte, Pfarrer, Offiziere und Professoren, die ‚Gelehrten‘, deren Stufenleiter sich über Schulmeister und Schreiber zum ‚Volk‘ hin verlängert.“ 28 Es ist eine Öffentlichkeit, die, wie Habermas später erklärt, „vom Publikum einer vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter 26 Ibid., S. 53. 27 Ibid., S. 133. 28 Ibid., S. 37. <?page no="640"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 624 Bürger getragen wird“. 29 Für das Funktionieren dieser Öffentlichkeit als deliberatives Forum und kritisches Instrument, das die politischen und wirtschaftlichen Mächte überwacht und im Zaum hält, bürgen die „nichtvermachteten Kommunikationsstrukturen“ 30 , die Verständigung nach innen und Kritik nach außen fördern. Die liberal-bürgerliche Öffentlichkeit fällt weitgehend mit dem lesenden Publikum zusammen, das sich über Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher bildet und verständigt. Letztlich sind es diese „Printmedien“, die Bildung ermöglichen, deren Voraussetzung allerdings der Besitz ist: „(…) Bildung ist das eine Zulassungskriterium - der Besitz das andere.“ 31 Freilich ist die „öffentliche Meinung“, die von diesem relativ kleinen Teil der Bevölkerung getragen wird, zugleich Ideologie. Denn ihre scheinbar universelle Vertretung der Menschlichkeit als solcher verdeckt die Tatsache, dass in Wirklichkeit ein restringiertes, partikulares Klasseninteresse als verallgemeinerungsfähiges, allgemein menschliches Anliegen dargestellt wird. Zum Ursprung dieser Ideologie bemerkt Habermas: „Ihr Ursprung wäre die Identität der ‚Eigentümer‘ mit dem ‚Menschen‘ schlechthin.“ 32 Noch prägnanter und einprägsamer drückt Jean-Paul Sartre diesen Sachverhalt aus: „Jeder Mensch ist Bürger, jeder Bürger ist Mensch - und dies nennt sich: bürgerlicher Humanismus.“ 33 Das Zusammenfallen dieser „bürgerlichen Öffentlichkeit“ mit einem partikularen Interesse als Herrschaftsanspruch ist möglicherweise der Hauptgrund, warum sie in einer sich demokratisierenden Gesellschaft, in der immer mehr Gruppierungen in die öffentliche Sphäre drängen (Gewerkschaften, Berufsverbände, Frauenbewegungen), an Bedeutung verliert und im ausgehenden 19. Jahrhundert allmählich einer massenmedial organisierten Öffentlichkeit als „öffentlicher Meinung“ weicht. Damit beginnt die von Habermas beschriebene dritte Phase des Strukturwandels, in der die entscheidenden Veränderungen stattfinden. Auf sozio-ökonomischer Ebene stellt Habermas fest, dass die liberale Ära nach 1871, nach der Gründung des Deutschen Reiches, zu Ende geht: „Seit der großen Depression, die 1873 beginnt, geht die liberale Ära, mit einem sichtbaren Umschwung auch in der Handelspolitik, zu Ende.“ 34 Dies bedeutet konkret, dass sich eine international vernetzte Konzernwirtschaft entwickelt und der individuelle Unternehmer des Liberalismus (der 29 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1996), 1997 (2. Auf.), S. 204. 30 Ibid., S. 257. 31 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S. 108. 32 Ibid., S. 111. 33 J.-P. Sartre, Plaidoyer pour les intellectuels, Paris, Gallimard, S. 24. 34 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S. 173-174. <?page no="641"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 625 tycoon) an Bedeutung verliert. Zugleich mit seinem Verschwinden gehen individuelle Stimmen im Chor der massenmedial von Konzernen organisierten öffentlichen Meinung unter. Das Vordringen der Massenmedien in alle Lebensbereiche hat u.a. zur Folge, dass die Grenze zwischen der bürgerlichen „Sphäre der zum Publikums versammelten Privatleute“ (s.o.) und der sie umfassenden breiten, oft bildungsfernen Öffentlichkeit immer durchlässiger wird, bis sie verschwindet. Schließlich dringen die kommerzialisierten Medien mit Werbung und Meinungsmache in die Privatsphäre ein und heben die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit vollends auf: „Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute bloß vermitteln und verstärken konnte, wird dieses nun umgekehrt durch die Massenmedien erst geprägt.“ 35 Habermas spricht im Anschluss an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung von „kulturindustriell gesteuerten Meinungsinhalten“ 36 und stellt eine „Desintegration der Wählerschaft als Publikum“ 37 fest. Die Aktualität seiner Diagnosen wird sowohl von den Ereignissen in Silvio Berlusconis Italien als auch von denen in Rupert Murdochs Großbritannien bestätigt: Während in Italien ein Medienmagnat jahrzehntelang die öffentliche Meinung manipulieren konnte, hat in Großbritannien die Murdoch- Presse („Zeitungen“ wie The Sun oder News of the World) die negative Einstellung eines beträchtlichen Teils der Öffentlichkeit zur Europäischen Union entscheidend verstärkt. Trotz der Skepsis, die in seiner Erzählung des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ hindurchschimmert, resigniert Habermas nicht und untersucht das „ambivalente Potential von Massenmedien und Massenkultur“ 38 , das einerseits mediale Manipulation, andererseits Kritik und Protest ermöglicht. Er schildert die Situation einer rationalisierten Lebenswelt, „in der Systemimperative mit eigensinnigen kommunikativen Strukturen zusammenprallen“. 39 Es geht nicht mehr um den im Spätkapitalismus „stillgelegten“ Klassenkonflikt, sondern um die Verteidigung der Lebenswelt gegen ihre Kolonialisierung durch die „Systeme“: „Aber die Protestpotentiale entstehen nun an anderen Konfliktlinien, nämlich dort, wo sie, wenn die These der Kolonialisierung der Lebenswelt stimmt, auch zu erwarten sind.“ 40 Konkret gemeint sind die sozialen Bewegungen, die sich für die Umwelt, für Frauenemanzipation oder Friedenserhaltung einsetzen. 35 Ibid., S. 225. 36 Ibid., S. 289. 37 Ibid., S. 257. 38 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 575. 39 Ibid. 40 Ibid., S. 576. <?page no="642"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 626 Hier schließt sich der narrative Kreis, und die „Öffentlichkeitserzählung“ wird in die sie umfassende Erzählung integriert, die von den Gegensätzen Demokratie / Kapitalismus und Lebenswelt / System(e) ausgeht. In der Sekundärerzählung nimmt der Kampf um die Lebenswelt die konkretere Gestalt eines Kampfes um die Öffentlichkeit als Sphäre der Manipulation oder der Kritik und des Widerstandes an. Habermasʼ Arbeiten werden durch einige Untersuchungen aus dem Bereich der Cultural Studies ergänzt, die sich mit der Bildung „widerspenstiger“ Subkulturen in öffentlichen Räumen und im Internet befassen. Sie werden als kritische Ergänzung zur Kultursoziologie präsentiert, „weil sie Kultur nicht nur als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen bzw. als Medium der Integration, sondern als alltäglichen produktiven, widerständigen und umkämpften Prozeß in den Blick nehmen“. 41 Zum Abschluss soll auf das dreibändige Werk von Daniel Halévy hingewiesen werden, auf das Habermas nicht eingeht. In ihm wird aber in minutiösen Untersuchungen der französischen Gesellschaft der Jahrhundertwende gezeigt, wie im Übergang von einer liberalen Gesellschaft der notables (der Bildungsbürger) zu einer von Großkonzernen dominierten Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert die vom Individuum ausgehende Kritik allmählich verstummt. Der Übergang, den auch Habermas beschreibt, wird in einem zweibändigen Werk mit den vielsagenden Titeln La Fin des Notables und La République des Ducs (Das Ende der Notabeln; Die Republik der Herzöge, 1930/ 37) analysiert. In einer komplementären Studie mit dem Titel Décadence de la liberté (1931) heißt es etwa zur Herrschaft der Wirtschaft über die Presse: „Hier ist ein weiteres Beispiel für die von uns erlittene Unterdrückung durch die mit den mächtigen Wirtschaftsinteressen verquickte Presse: Sie steckt mit den Alkoholhändlern unter einer Decke und widersetzt sich einer jeden Bewegung, die sich gegen sie richtet.“ 42 In mancher Hinsicht könnte Habermasʼ viel später erschienene Studie als eine Antwort auf Halévy gelesen werden: Die Freiheit als individuelle und kollektive Autonomie, als Kritikfähigkeit und Möglichkeit von Kritik ist noch nicht verloren. Der Kampf um die Lebenswelt, den auch Halévy beschreibt, selbst wenn er den Lebenswelt-Begriff nicht verwendet, geht weiter unter radikal veränderten Bedingungen der Mediengesellschaft. 41 K. H. Hörning, R. Winter, „Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung“, in: K. H. Hörning, R. Winter (Hrsg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S. 11. 42 D. Halévy, Décadence de la liberté, Paris, Grasset, 1931, S. 223. <?page no="643"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 627 3. Drei Erkenntnisinteressen: technisch, praktisch, emanzipatorisch - Habermas ʼ Antwort auf Marx, Adorno und Horkheimer im Übergang zum kommunikativen Ansatz In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde bereits angedeutet, dass Habermas angesichts der „sozialstaatliche[n] Pazifizierung des Klassenantagonismus“ 43 das Marxsche Klassenkampfmodell aufgibt. Den für Marx relevanten Gegensatz Kapital / Arbeit ersetzt er durch die komplementären Gegensätze Kapitalismus / Demokratie und System(e) / Lebenswelt. Dadurch kommt eine neue Erzählung zustande, in der die „kommunikativ Handelnden“ als Subjekt-Aktanten an die Stelle der „arbeitenden Proletarier“ treten. Dies hat zur Folge, dass in Habermasʼ Diskurs die historische Praxis des Proletariats als erfolgsorientiertes Handeln durch die kommunikative Praxis der Verteidiger der Lebenswelt (Habermasʼ Fokalisatoren) ersetzt wird. Die „historische Praxis“, die aus Marxʼ hegelianischem Schlüsselbegriff der Arbeit ableitbar ist, betrachtet Habermas als einen Aspekt der „instrumentellen Vernunft“, die unsensibel ist für die Bedeutung der kommunikativen, auf Verständigung ausgerichteten Interaktion. Obwohl Marx durchaus kommunikative Elemente in seine Klassentheorie aufnimmt, bleibt - nach Habermas - seine Geschichtsphilosophie auf das strategisch-instrumentelle Denken fixiert, das der „Arbeit“ und der aus dem Produktionsprozess resultierenden revolutionären Strategie des Proletariats eine zentrale Stellung einräumt. Zur Gesellschaftsanalyse des Marxismus bemerkt Habermas: „Die Analyse blieb auf Erscheinungen fixiert, die sich innerhalb des Horizonts der Arbeitsgesellschaft erschließen.“ 44 Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „produktivistischen Ansatz“ 45 , der das instrumentelle Denken privilegiert. Dieses am Arbeitsprozess orientierte Denken, meint er, vernachlässige die Möglichkeiten hermeneutischer Reflexion: „In der Dimension der Arbeit, als eines Prozesses von Hervorbringung und Aneignung, verwandelt sich Reflexionswissen in Produktionswissen.“ 46 Damit wird auch das aus Reflexion und Selbstreflexion hervorgehende kommunikative Wissen im instrumentellen Wissen und Handeln aufgelöst - oder wird diesem untergeordnet. Tom Rockmore bietet eine knappe Zusammenfassung von Habermasʼ Kritik an Marx, wenn er feststellt, Marx 43 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, op. cit., S. 144. 44 J. Habermas, „Nachholende Revolution und linker Revsionsbedarf (…).“, in: Zeitdiagnosen, op. cit., S. 134. 45 Ibid., S. 135. 46 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 1973, S. 65. <?page no="644"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 628 „reduzier[e] kommunikatives auf instrumentelles Handeln oder Arbeit“ („reduces communicative action to instrumental action or labor“). 47 Es fragt sich allerdings, ob „Arbeit“ und das aus ihr hervorgehende revolutionäre Bewusstsein des Proletariats ohne Kommunikation als Verständigung vorstellbar seien: Ohne Reflexion und Verständigung kann sich eine „Klasse an sich“ nicht in eine revolutionäre „Klasse für sich“ verwandeln. Zugleich stellt sich die Frage, ob Emanzipation oder „emanzipatorisches Interesse“, das bei Marx aus der Stellung der Arbeiterklasse im Produktionsprozess abgeleitet wird, auf „kommunikatives Handeln“ beschränkt werden könne. Zur Trennung von kommunikativem und strategischem Handeln bemerkt Lucio Cortella: „Die Dichotomie Interaktion-Arbeit hindert Habermas daran, den autonomen Bereich emanzipatorischer Praxis wahrzunehmen, die entweder durch die Parameter der Kommunikation oder durch die des strategischen Handelns eingegrenzt wird.“ 48 Im Anschluss an seine Marx-Kritik versucht Habermas, die Vorbildfunktion der Naturwissenschaften in Marxʼ Diskurs zu erklären, die, wie er meint, für den szientistischen und „instrumentellen“ Einschlag dieses Diskurses verantwortlich ist: „Obwohl er selbst die Wissenschaft vom Menschen in Form der Kritik und nicht als eine Naturwissenschaft etabliert hat, neigte er stets dazu, sie den Naturwissenschaften an die Seite zu stellen.“ 49 Vor diesem Hintergrund kann analog zum „szientistischen Selbstmißverständnis“ 50 der Psychoanalyse, von dem Habermas spricht, auch von einem „szientistischen Selbstmissverständnis des Marxismus“ die Rede sein. 51 In diesem Fall gilt, was Hans-Joachim Giegel über die Funktion einer kritischen Wissenschaft im Sinne von Habermas schreibt: „Die Wissenschaft ist Beobachtung eines falschen Selbstbewußtseins, also reflexive Beobachtung.“ 52 47 T. Rockmore, Habermas on Historical Materialism, Bloomington-Indianapolis, Indiana Univ. Press, 1989, S. 47. Vgl. auch: Th. McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, Kap. III. 6: „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ sowie A. Heller, „Habermas and Marxism“, in: J. B. Thompson, D. Held (Hrsg.), Habermas. Critical Debates, London, Macmillan, 1982, S. 27: „To put it briefly, the gist of the matter is whether class struggle as action can be replaced by rational argumentation. According to Habermas’ theory and his supreme value (partiality for reason), it has to be replaced; but Habermas knows that it cannot be.“ 48 L. Cortella, Crisi e razionalità. Da Nietzsche ad Habermas, Neapel, Guida, 1981, S. 127. 49 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, op. cit., S. 62. 50 Ibid., S. 300. 51 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 10. 52 H.-J. Giegel, „Normative Orientierungen und sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Rückblick auf Erkenntnis und Interesse“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der <?page no="645"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 629 Der Gedanke der „reflexiven Beobachtung“ liegt Habermasʼ viel diskutiertem Werk Erkenntnis und Interesse (1968) zugrunde, in dem die Frage nach den historischen und gesellschaftlichen Zielsetzungen verschiedener Erkenntnismodi oder Erkenntnisinteressen aufgeworfen wird. Sie lautet konkret: Welche Zwecke oder Ziele verfolgen Interessen, die verschiedene Erkenntnisarten steuern? In Technik und Wissenschaft als „Ideologie“ fasst Habermas Relevanzkriterien und Programmatik von Erkenntnis und Interesse zusammen: „In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein, das schon den traditionellen Theorien uneingestanden (…) zugrunde lag.“ 53 Besondere Bedeutung kommt in dieser Textpassage dem Wort „uneingestanden“ zu, das darauf hindeutet, dass in „traditionellen Theorien“ die verschiedenen erkenntnisleitenden Interessen nicht kritisch und selbstkritisch reflektiert wurden. In diesem Fall könnte auch der Marxismus zu diesen „traditionellen Theorien“ gerechnet werden, weil Marx und die Marxisten die Beziehungen zwischen technischem (instrumentellem und naturwissenschaftlichem), praktischem (verständigungsorientiertem) und emanzipatorischem (gesellschaftskritischem) Erkenntnisinteresse nicht systematisch reflektierten und spontan für eine erfolgsorientierte historische Praxis optierten. Habermasʼ triadische Einteilung der Erkenntnisinteressen hat eine Vorgeschichte, die hier nicht ausgespart werden sollte, weil sie nicht nur zur Klärung des sozialphilosophischen Kontexts, sondern auch zu einem besseren Verständnis der von Habermas eingeführten Terminologie beiträgt. Gemeint ist das Werk von Max Scheler (1874-1928) Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), dessen Autor analog zu Habermasʼ Triade drei Wissensformen unterscheidet: „Herrschafts- und Leistungswissen“, das als erfolgsorientiertes Wissen den Naturwissenschaften innewohnt, „Bildungswissen“, das auf Personen und auf Verständigung ausgerichtet ist, und schließlich das „Erlösungswissen“ der Religion als Gottessuche. Damit sind auch die „obersten Werdensziele“ benannt, von denen bei Scheler die Rede ist. Sie kehren bei Habermas als „Erkenntnisinteressen“ wieder. Wie Habermas, aber lange vor ihm, stellt Scheler dem negativ konnotierten Herrschaftswissen das Bildungs- und das Erlösungswissen gegenüber: „Es ist - sage ich - ein neuer Wille zur Herrschaft über Natur und Seele - in schärfstem Gegensatz zu liebevoller Hingabe an sie und zu bloß begriff- Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit „Erkenntnis und Interesse“, Frankfurt, Suhrkamp, 2000, S. 44. 53 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt, Suhrkamp, 1974 (7. Aufl.), S. 155. <?page no="646"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 630 licher Ordnung ihrer Erscheinungen -, der jetzt den Primat in allem erkennenden Verhalten gewinnt. Das Streben nach Bildungswissen und Erlösungswissen wird diesem Willen untergeordnet.“ 54 Wie Ferdinand Tönnies und vor allem Alfred Weber (vgl. Kap. X und XIII. 6) ahnt Scheler eine Entwicklung voraus, an deren Ende Wirtschaft, Technik und Verwaltung in alle Sphären der Gesellschaft als „Lebenswelt“ (Habermas) eindringen und sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Dabei werden „Bildungswissen“ („praktisches Erkenntnisinteresse“, Habermas) und „Erlösungswissen“ („emanzipatorisches Erkenntnisinteresse“, Habermas) dem erfolgsorientierten „Herrschaftswissen“ („technisches Erkenntnisinteresse“, Habermas) untergeordnet. Hier wird deutlich, dass Habermasʼ Terminologie und Argumentation der Problematik einer spätmodernen Soziologie im Sinne von Max Scheler, Ferdinand Tönnies und Alfred Weber angehören. Deren Vertreter beobachten, wie Kultur, Bildung und Verständigung von Markt, Macht und Technik vereinnahmt oder „kolonisiert“ werden. Obwohl jeder dieser Soziologen auf die Problematik anders reagiert, stimmen sie in der Ansicht überein, dass das wirtschaftlich-technische Herrschaftswissen Kultur und Bildung als Grundlagen der Verständigung zerstört. Wie Habermasʼ hermeneutische Soziologie ist auch Schelers Sozialphilosophie auf Verständigung und Kommunikation ausgerichtet. Davon zeugt der folgende Satz aus Die Wissensformen und die Gesellschaft: „Die ‚Du-heit‘ ist die fundamentalste Existenzkategorie des menschlichen Denkens.“ 55 Dies bedeutet, dass das „Bildungswissen“ im Sinne von Scheler - ähnlich wie Habermasʼ „praktisches Erkenntnisinteresse“ - eine dialogische, kommunikative Struktur aufweist. In dieser Hinsicht kündigt Erkenntnis und Interesse vor allem mit den Begriffen des „praktischen“ und des „emanzipatorischen Erkenntnisinteresses“ die kommunikative Vernunft an, die Habermasʼ zweibändigem Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) zugrunde liegt. Der Begriff des Erkenntnisinteresses setzt Reflexion als Nachdenken über die Zielsetzungen von Interessen - sowohl der eigenen als auch der fremden - voraus, und dieses Nachdenken hat kommunikativen Charakter, weil es eine Diskussion über die Rationalität von Zielsetzungen (Zwecken) als unvermeidlich erscheinen lässt. Dabei fällt der Unterscheidung zwischen instrumentellem und kommunikativem Handeln, zwischen instrumentellem und reflexiv-kommunikativem Wissen eine strukturierende Rolle in Habermasʼ Diskurs zu, die Albrecht Wellmer kommentiert: „Daher repräsentieren die erkenntnis- 54 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern-München, Francke, 1980 (3. Aufl.), S. 125. 55 Ibid., S. 57. <?page no="647"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 631 theoretischen Kategorien des ‚instrumentalen‘ und ‚kommunikativen‘ Handelns die Unterscheidung zwischen nomologischem und instrumentalem Wissen einerseits, hermeneutischem und reflexivem Wissen andererseits.“ 56 In dieser Darstellung fällt auf, dass Habermas - ähnlich wie Adorno und Horkheimer - von einer Kritik der instrumentellen Vernunft als Herrschaftswissen ausgeht, ihr aber nicht die herrschaftsfreie Mimesis der Kunst entgegensetzt, die vor allem in Adornos Ästhetischer Theorie im Vordergrund steht (vgl. Kap. VI. 5), sondern das verständigungsorientierte, kommunikative Handeln, das im selbstreflexiven, auf Hermeneutik und Verständigung ausgerichteten „praktischen Erkenntnisinteresse“ angelegt ist. Diesem liegt auch der Wille zur Emanzipation zugrunde, weil es als reflektierendes und vom Verständigungswillen geleitetes Interesse die „Auflösung dogmatischer Lebensformen“ 57 , wie Stefan Müller-Doohm es ausdrückt, zu einem seiner Hauptanliegen macht. Vor diesem Hintergrund ist Habermas Kritik an Adornos und Horkheimers Variante der Kritischen Theorie zu verstehen. Ihr wirft Habermas vor, die modernen Sozialwissenschaften mit der instrumentellen Vernunft (Horkheimer) zu identifizieren und ihren kommunikativen und kritischemanzipatorischen Charakter aus dem Blickfeld zu verlieren. In der folgenden Passage zeichnet sich Habermas Alternative zu Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung ab, in der die Aufklärung als Rationalismus und Positivismus mit dem Herrschaftsdenken der „instrumentellen Vernunft“ identifiziert wird: „Die Dialektik der Auf klärung wird dem vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idealen festgehalten (und mit ihnen auch instrumentalisiert) worden ist, nicht gerecht. Ich meine die theoretische Eigendynamik, die die Wissenschaften, auch die Selbstreflexion der Wissenschaften, über die Erzeugung technisch verwertbaren Wissens immer wieder hinaustreibt; ich meine ferner die universalistischen Grundlagen von Recht und Moral, die in den Institutionen der Verfassungsstaaten, in Formen demokratischer Willensbildung, in individualistischen Mustern der Identitätsbildung auch eine (wie immer verzerrte und unvollkommene) Verkörperung gefunden haben (…).“ 58 Die hier skizzierte Alternative zur Kritischen Theorie der Nachkriegszeit kann konkret im Rahmen von Habermas Erzählung der Gesellschaft und des ihr zugrunde liegenden Aktantenmodells verstanden werden: 56 A. Wellmer, zitiert nach: J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, op. cit., S. 588. 57 S. Müller-Doohm, „Kritik in kritischen Theorien oder: Wie kritisches Denken selbst zu rechtfertigen sei“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft, op. cit., S. 87. 58 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 137-138. <?page no="648"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 632 Anders als Adorno und Horkheimer, die schon in der Dialektik der Aufklärung der kapitalistischen Naturbeherrschung die herrschaftsfreie mimetische Vernunft der Kunst entgegensetzten, argumentiert Habermas im Kontext des von ihm für relevant gehaltenen Gegensatzes Kapitalismus / Demokratie bzw. System(e) / Lebenswelt. Im Anschluss an diesen zweifachen Gegensatz werden die „Formen demokratischer Willensbildung“ (als „kommunikatives Handeln“) aufgewertet. Zugleich erfahren die Sozialwissenschaften eine Aufwertung, weil sie durch Selbstreflexion und kommunikative Einstellung, durch praktisches und emanzipatorisches Erkenntnisinteresse über die instrumentelle Vernunft und das mit ihr liierte „technische Erkenntnisinteresse“ hinausweisen. Hier geht es freilich um zwei verschiedene Arten, die soziale Wirklichkeit zu beobachten und anhand von Relevanzkriterien und Selektionen zu konstruieren. Adorno und Horkheimer könnten einwenden, dass in der zitierten Passage allzu allgemein von „Wissenschaften“ die Rede ist und dass nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Wirtschaftswissenschaft als Nationalökonomie und Betriebswirtschaft, die empirische Soziologie und die Psychologie in der zeitgenössischen Gesellschaft der instrumentellen Vernunft unterworfen sind. Kritische Sozialwissenschaft im Sinne von Habermas, Bourdieu oder Touraine, könnten sie hinzufügen, sei eine Randerscheinung und mache sich bestenfalls sporadisch als lästiger Störfaktor im instrumentell durchrationalisierten Betrieb bemerkbar. An dieser Stelle könnte man der gesamten Kritischen Theorie ihren hohen Abstraktionsgrad und ihre Ferne von der Erfahrungswelt vorwerfen. (Eine empirische Untersuchung über die Rolle der kritischen oder erfolgsorientierten, „nützlichen“ Sozialwissenschaften könnte die Diskussion konkretisieren und auch weiter bringen.) 59 Habermasʼ zusätzliche Kritik, die er an Adornos Adresse richtet, gipfelt in der Behauptung, man müsste „so etwas wie ein Poststrukturalist werden“ 60 , wenn man theoretisch an Adornos Negative Dialektik und seine Ästhetische Theorie anknüpfen wollte. Dass dies nicht der Fall ist, sollte in verschiedenen Arbeiten über den Theoriebegriff sowie über die dialogischen Momente in Adornos Essayismus gezeigt werden, in denen die hier angewandte Dialogische Theorie auch als Fortsetzung von Adornos essayistischer Dialogizität entworfen wurde (vgl. Kap. II. 4 und weiter unten). 61 59 Vgl. A. Bammé, Wissenschaft und Wissenschaftsdidaktik. Gesellschaft und Wissenschaft in der Technologischen Zivilisation, München-Wien, Profil, 2003, S. 617-665: „Auf dem Weg zur Interventionswissenschaft“. 60 J. Habermas, „Dialektik der Rationalisierung“, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 172. 61 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), darin vor allem Kap. XI: „Kritische Theorie als Dialog: Ambivalenz und Dialektik, Nichtidentität und <?page no="649"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 633 In dem hier konstruierten Kontext ist es wichtig, zum Abschluss darauf hinzuweisen, dass Habermas Kritik an Adorno und Horkheimer Begriffe von Moderne (als Neuzeit) und Aufklärung zugrunde liegen, die weniger negativ konnotiert sind als die der Begründer der Kritischen Theorie (vgl. Abschn. 5). Anders als sie versucht Habermas, das kommunikative Potenzial der Moderne als Aufklärung herauszuarbeiten und dieses Potenzial mit den Demokratisierungstendenzen in einer spätkapitalistischen Gesellschaft zu verknüpfen. In ihr betrachtet er den Kampf um die Lebenswelt nicht als vergebliches Rückzugsgefecht, sondern als Anlass, die Chancen der im Auftrag der Demokratie agierenden kommunikativen Vernunft theoretisch und praktisch zu steigern. 4. Die „Theorie des kommunikativen Handelns“: Darstellung und Kritik Im Anschluss an das bisher Gesagte ist es leichter, eines von Habermas philosophischen Hauptanliegen besser zu verstehen: seinen Vorschlag, die Subjektphilosophie des Idealismus (Kants, Fichtes, Hegels), an der auch noch Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung festhalten, indem sie das Subjekt als Geist dem Objekt oder den Objekten gegenüberstellen, durch Intersubjektivität als kommunikativen Ansatz zu ersetzen. An die Stelle des beobachtenden und registrierenden Subjekts, das eine bestimmte Haltung der Objektwelt gegenüber annimmt, tritt schon in Habermas Theorie und Praxis (1963) „eine partizipierende Beziehung des verstehenden Subjektes zu einem Gegenüber (Alter ego)“. 62 Diese Überlegungen führen zur Konstruktion einer „kommunikativen Vernunft“ in der Theorie des kommunikativen Handelns und den sie ergänzenden Vorstudien. Zu wahren Erkenntnissen können wir nur auf kommunikativem Wege gelangen: „Die postempiristische Wissenschaftstheorie hat gute Gründe dafür beigebracht, daß der schwankende Boden des rational motivierten Einverständnisses unter Argumentationsteilnehmern unser einziges Fundament ist - in Fragen der Physik nicht weniger als in Fragen der Moral.“ 63 Anders ausgedrückt: Erkenntnisfortschritt und Wahrheitsfindung sind nur als intersubjektiver Prozess denkbar - und nicht als subjektive Beobachtung, Introspektion oder Wesensschau. 64 Alterität“ sowie: Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. VI. 5: „Essay, Parataxis und Dialog: Drei Wege der Kritischen Theorie (Ausblick)“. 62 J. Habermas, Theorie und Parxis, op. cit., S. 18. 63 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 1986 (2. Aufl.), S. 504. 64 Vgl. G. Kiss, Paradigmawechsel in der Kritischen Theorie: Jürgen Habermas intersub jektiver Ansatz, Stuttgart, Enke, 1987, S. 26-27. <?page no="650"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 634 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorab angemerkt, dass Intersubjektivität selbstverständlich Subjektivität als Wechselbeziehung zweier oder mehrerer Subjekte voraussetzt und dass diese Subjektivität nur als gesellschaftlich und sprachlich (diskursiv) geformte Instanz denkbar ist. Da Habermas für einen kommunikativen oder dialogischen Ansatz optiert, setzt er sich nicht nur mit der Subjektphilosophie, sondern auch mit Hans-Georg Gadamers Hermeneutik auseinander, die Subjektivität aus dem Gespräch mit dem Anderen, aus der „Ursprünglichkeit des Gesprächs“ 65 , hervorgehen lässt. In gewisser Hinsicht geht seine Theorie des kommunikativen Handelns aus einer Kritik an Gadamer hervor. Diese zielt vornehmlich auf Gadamers Orientierung an der Tradition und an dem von ihr sanktionierten Vorurteil. Der Tradition fällt eine Autorität zu, die nicht autoritär aufzutreten braucht und durchaus produktiv sein kann. Daher gilt es Gadamer zufolge, „das Moment der Tradition im historischen Verhalten zu erkennen und auf seine hermeneutische Produktivität zu befragen“. 66 Habermas teilt zwar Gadamers Ansicht, dass die Überlieferung kultureller Verhaltensmuster und Denkgewohnheiten wesentlich zur intersubjektiven Verständigung beiträgt; er stellt jedoch Gadamers Aufwertung der Tradition als unreflektiertes Vorurteil in Frage: „Gadamers Vorurteil für das Recht der durch Tradition ausgewiesenen Vorurteile bestreitet die Kraft der Reflexion, die sich doch darin bewährt, daß sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann.“ 67 Die kritische Reflexion, die, wie sich gezeigt hat, in der Lage ist, die Zielsetzungen der verschiedenen Erkenntnisinteressen zu hinterfragen, vermag auch die Ansprüche der Tradition als Vorurteile zu relativieren. Zu dieser Relativierung kommt es vor allem in der stets reflektierenden intersubjektiven Kommunikation, die Normen und Geltungsansprüche der Tradition auf ihre Stichhaltigkeit und aktuelle Legitimität hin überprüfen kann. Trotz dieser Kritik an Gadamers Konservatismus als Traditionsverbundenheit und Apologie des Vorurteils bleibt Habermas dem hermeneutischen Denken im Sinne von Gadamer verhaftet. In einem neueren Kommentar zu Erkenntnis und Interesse stellt er unmissverständlich fest: „Dabei zehre ich unverändert von Einsichten der Gadamerschen Hermeneutik, die ich mir 65 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1975 (4. Aufl.), S. 351. 66 Ibid., S. 267. 67 J. Habermas, „Zu Gadamers Wahrheit und Methode“, in: K.-O. Apel et al., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1980, S. 49. <?page no="651"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 635 mit gewissen kritischen Vorbehalten zueigen gemacht habe.“ 68 Zugleich erläutert er seine eigene Position und bemerkt, er habe sich im Anschluss an Gadamer die „Strukturen der Lebenswelt und der kommunikativen Alltagspraxis klargemacht“. 69 Tatsächlich verbindet ihn mit Gadamer der Gedanke, dass Menschen zu ihrer intersubjektiven Verständigung eine gemeinsame Sprache zur Verfügung steht, die Konsens ermöglicht. Dazu heißt es in Gadamers Wahrheit und Methode: „Jedes Gespräch setzt eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser: es bildet eine gemeinsame Sprache heraus.“ 70 Komplementär dazu erklärt Habermas in Nachmetaphysisches Denken: „Man muß dieselbe Sprache sprechen und gleichsam in die von einer Sprachgemeinschaft intersubjektiv geteilte Lebenswelt eintreten, um aus der eigentümlichen Reflexivität der natürlichen Sprache Vorteil zu ziehen (…).“ 71 An dieser Stelle ergänzt er Gadamers Begriff einer gemeinsamen Sprache durch seinen im Anschluss an Husserl und Schütz eingeführten Begriff der Lebenswelt (vgl. Abschn. 1). Die Komplementarität der beiden Begriffe gründet auf dem ihnen gemeinsamen semantischen Merkmal (Sem, würde Greimas sagen) „Homogenität“. Habermas ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die Vorstellung einer von allen Subjekten kommunikativ (intersubjektiv) geteilten Lebenswelt eine Idealisierung ist: „Der Entwurf einer kollektiv geteilten homogenen Lebenswelt ist gewiß eine Idealisierung; aber aufgrund ihrer familialen Gesellschafts- und mythischen Bewußtseinsstrukturen nähern sich archaische Gesellschaften diesem Idealtypus mehr oder weniger an.“ 72 Insofern übertreibt Antje Linkenbach kaum, wenn sie zu Habermasʼ Auffassung der (idealen) Lebenswelt bemerkt: „Das Konzept der Lebenswelt scheint für Habermas seine Stütze am ehesten in den archaischen Gesellschaften zu finden (…).“ 73 Es fragt sich, ob es sinnvoll sei, ein solches Konzept auf die ausdifferenzierte, arbeitsteilige und ideologisch fragmentierte postmoderne Gesellschaft anzuwenden. In der Vergangenheit wurde dieses Konzept kontrovers diskutiert, weil seine Anwendung auf das Kommunikationssystem einer stark differenzierten und fragmentierten spätmodernen oder postmodernen Gesellschaft 68 J. Habermas, „Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft, op. cit., S. 17. 69 Ibid. 70 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., S. 360. 71 J. Habermas, „Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt“, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 65. 72 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 234. 73 A. Linkenbach, Opake Gestalten des Denkens. Jürgen Habermas und die Rationalität fremder Lebensformen, München, Fink, 1986, S. 268. <?page no="652"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 636 nicht unmittelbar einleuchten wollte. 74 In diesem Stadium kommt es nicht so sehr auf Kritik, sondern auf Klärung an. Zur Klärung gehört zweifellos Habermas Unterscheidung zwischen idealer und realer Lebenswelt. Insofern ist es wichtig, mit Habermas die Missverständnisse auszuräumen, die die Kritik an seinem Lebensweltbegriff im Laufe der Debatten gezeitigt hat. Der Kritik an seiner Auffassung einer homogenen Lebenswelt und den sie ergänzenden Hinweisen auf die Heterogenität unserer Kulturwelt begegnet Habermas mit einer Unterscheidung von formalpragmatischer (idealer) und soziologischer (realer) Lebenswelt: „Das Mißverständnis, ich sei kategorial genötigt, Dissens- und Machtphänomene aus der Lebenswelt auszuschließen, geht, wie ich vermute, wiederum auf die Verwechslung des formalpragmatischen mit dem soziologischen Lebensweltbegriff zurück.“ 75 Habermas erklärt, dass in der realen oder soziologisch betrachteten Lebenswelt durchaus Dissens, Konflikt und strategisches Handeln vorkommen können. Nicht die reale oder soziologische, sondern die ideale oder formalpragmatische Lebenswelt ist gemeint, wenn er sie als Grundlage des kommuni kativen Handelns und der Verständigung darstellt: „Diese intersubjektiv geteilte Lebenswelt bildet den Hintergrund fürs kommunikative Handeln.“ 76 Regelmäßig kehrt in seinem Werk der Ausdruck „intersubjektiv geteilte Lebenswelt“ 77 wieder, von dem komplementäre Ausdrücke wie „gemeinschaftlicher Besitz eines Symbolsystems“ oder „Teilnahme an dersel ben Kultur“ 78 ableitbar sind. Man wird an Durkheim und Parsons erinnert, wenn etwa in Faktizität und Geltung von einem „massiven Hintergrundkonsens“ 79 die Rede ist, der die lebensweltliche Grundlage des kommunikativen Handelns bildet. Auf dieser Grundlage konstruiert Habermas eine ideale Sprechsituation, die seiner Meinung nach in allen Gesprächen oder Kommunikationen 74 Vgl. J. Alexander, „Habermas neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme“, in: A. Honneth, H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas „The orie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 95: „Bei der Gleichsetzung Kommunikation = Einverständnis ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Der in sie gesetzten ideologischen Hoffnungen beraubt, bedarf die Kommunikation als Kommunikation nicht der Kooperation. Ebensowenig beinhalten Konflikt und Strategie notwendig einen Mangel an Verständigung.“ 75 J. Habermas, „Entgegnung“, in: A. Honneth, H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, op. cit., S. 372. 76 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, op. cit., S. 123. 77 J. Habermas, „Edmund Husserl über Lebenswelt, Philosophie und Wissenschaft“, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt, Suhrkamp, 1991, S. 47. 78 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S. 329. 79 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des de mokratischen Rechtsstaats, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (6. Aufl.), S. 38. <?page no="653"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 637 vorausgesetzt werden muss, auch wenn sie nicht realisiert wird. Diese Sprechsituation soll kein abstraktes Ideal sein, das nach idealistischem Brauch einer „schlechten Realität“ entgegengesetzt wird, sondern ein Vorbild oder Modell, das von den Kommunizierenden (oft unbewusst) kontrafaktisch unterstellt wird: „Kontrafaktisch“ bedeutet, dass sie sich so verhalten, „als ob“ 80 das Ideal oder Modell realisierbar wäre. In den Vorstudien erklärt Habermas, „daß Argumentationsteilnehmer gemeinsam so etwas wie eine ideale Sprachsituation unterstellen“. 81 Später fügt er ergänzend hinzu: „Die ideale Sprechsituation ist weder ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern in Diskursen unvermeidliche, reziprok vorgenommene Unterstellung.“ 82 Es mag sein, dass die „ideale Sprechsituation“, falls sie wirklich vorausgesetzt werden muss, was jemand wie Hans Albert bezweifelt 83 , kein „bloßes“ Konstrukt ist, aber ein Konstrukt ist sie auf jeden Fall, denn auch weniger umstrittene Erscheinungen wie das „magnetische Feld“ der Physiker sind nur als menschliche (wissenschaftliche) Konstrukte aufzufassen. Als stets unterstelltes oder vorausgesetztes Ideal bezeichnet die „ideale Sprechsituation“ keinen anzustrebenden empirischen Endzustand, den reale Kommunikationen teleologisch anpeilen sollten. Habermas, der in seinen späteren Schriften den Ausdruck „ideale Sprechsituation“ nicht mehr verwendet 84 , hält dennoch an dem Ideal, das sie bezeichnet, fest und versucht in Die Einbeziehung des Anderen (1996) Missverständnisse auszuräumen: „Als störender empfinde ich den Umstand, daß der Ausdruck der idealen Sprechsituation, den ich vor Jahrzehnten einmal als Abkürzung für das Ensemble allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen eingeführt habe, einen - im Sinne einer regulativen Idee - anzustrebenden Endzustand suggeriert.“ 85 Störend ist auch, dass Habermas, der in seinem Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) den Ausdruck „ideale Sprechsituation“ als Schlüsselbegriff verwendet, an dieser Stelle diesen Ausdruck als beiläufig benutzte „Abkürzung“ an die Peripherie seines Werks relegiert. 80 Vgl. H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Paderborn, Aischines, 2014, in der im Anschluss an Kant eine Philosophie des Kontrafaktischen entwickelt wird (kontrafaktisch = nachahmend). 81 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S. 118. 82 Ibid., S. 180. 83 Vgl. H. Albert, Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1975, S. 63-64. 84 Vgl. W. Schluchter, „Die sprachtheoretische Wende - George Herbert Mead und Jürgen Habermas“, in: ders., Grundlegungen der Soziologie, Tübingen, Mohr-Siebeck-UTB, 2015 (2. Aufl.), S. 481. 85 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, op. cit. S. 354. <?page no="654"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 638 Aber wie sieht die „ideale Sprechsituation“ als „Ensemble allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen“ konkret aus? Aus welchen sprachlichen und sprachtheoretischen Komponenten setzt sie sich zusammen? Im Folgenden soll vor allem die Bedeutung der Sprechakte und der Sprechakttheorie für Habermasʼ Konzept näher betrachtet werden. Die vier allgemeinen Bedingungen, die jede gelingende Kommunikation zur Voraussetzung hat, sind nach Habermas: 1. Verständlichkeit, 2. Wahrheit, 3. Wahrhaftigkeit und 4. Richtigkeit. Während sich „Verständlichkeit“ auf die Klarheit oder Unklarheit des vom Sprecher gewählten Ausdrucks bezieht, meint „Wahrheit“ die unproblematische oder problematische Beziehung zwischen Aussage und objektiver Wirklichkeit. Der „Wahrhaftigkeit“ wohnt die Frage inne, ob der Sprecher ehrlich meint, was er behauptet, und der „Richtigkeit“ die Frage, ob seine Behauptung mit den herrschenden Werten und Normen im Einklang steht. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll vorsichtshalber Habermasʼ eigene ausführliche Darstellung dieses Sachverhalts zitiert werden: „Der Sprecher muß einen verständlichen Ausdruck wählen, damit Sprecher und Hörer einander verstehen können; der Sprecher muß die Absicht haben, einen wahren propositionalen Gehalt mitzuteilen, damit der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann; der Sprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer an die Äußerung des Sprechers glauben (ihm vertrauen) kann; der Sprecher muß schließlich eine im Hinblick auf bestehende Normen und Werte richtige Äußerung wählen, damit der Hörer die Äußerung akzeptieren kann, so daß beide, Hörer und Sprecher, in der Äußerung bezüglich eines anerkannten normativen Hintergrunds miteinander übereinstimmen können.“ 86 Es fällt auf, dass in dieser Passage Ausdrücke wie „einander verstehen“, „teilen“, „glauben“ und „miteinander übereinstimmen“ einen Konsens konnotieren, der für archaische Gesellschaften und Gemeinschaften im Sinne von Tönnies (vgl. Kap. X. 2) kennzeichnend ist - nicht jedoch für Diskussionen zwischen Habermas und Luhmann oder zwischen Vertretern der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus. Den vier Kriterien „Verständlichkeit“, „Wahrheit“, „Wahrhaftigkeit“ und „Richtigkeit“ entsprechen vier Sprechakttypen: die Kommunikativa, die Konstativa, die Repräsentativa und die Regulativa. Die Kommunikativa setzen die Verständlichkeit von Aussagen, etwa die Vollständigkeit von Sätzen voraus. Ein unvollständiger Satz wie „Er ist so…“, der eine Charakterbeschreibung einleiten soll, ist unverständlich. Die Konstativa, die sich auf die Wirklichkeit oder eines ihrer Objekte beziehen, 86 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S. 354-355. <?page no="655"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 639 sollen intersubjektiv überprüfbar sein: Wenn jemand sagt „Es regnet“, dann behauptet er etwas, was der Gesprächspartner durch einen Blick nach draußen überprüfen kann. Zugleich setzt der Satz „repräsentativ“ Wahrhaftigkeit des Sprechers voraus: Sein Gesprächspartner muss annehmen können, dass er die Wahrheit sagt und nicht Regen meldet, weil er keine Lust hat, einen Ausflug zu machen. Regulativen Charakter hat die Aussage: „Es regnet, wir müssen die Kinder vom Bahnhof abholen.“ Sie ist richtig, weil die verlangte Handlung normativ nachvollziehbar ist. Von diesen Sprechakten behauptet Habermas, „daß sie und genau sie die zureichenden Konstruktionsmittel für den Entwurf der idealen Sprechsituation sind“. 87 Habermasʼ im Anschluss an John L. Austin und John R. Searle formulierte Sprechakttheorie ist nicht nur auf Konsens ausgerichtet, sondern setzt auch eine gemeinsame Sprache von Sprecher und Hörer voraus. In Die Einbeziehung des Anderen ist - ähnlich wie bei Gadamer - von „einer gemeinsam beherrschten Sprache“ 88 die Rede, und komplementär dazu in Wahrheit und Rechtfertigung von „einer als identisch und unabhängig unterstellten objektiven Welt“. 89 Die Verwendung einer gemeinsamen Sprache bedeutet, - in Habermasʼ Diskurs - dass die Kommunizierenden vor dem Hintergrund einer „intersubjektiv geteilten Lebenswelt“, die aus allgemein anerkannten Werten und Normen besteht, Wörter und Ausdrücke mit identischen Bedeutungen versehen: „Die Idealität der Bedeutungsallgemeinheit prägt die Zusammenhänge kommunikativen Handelns insofern, als die Beteiligten gar nicht die Absicht fassen können, sich miteinander über etwas in der Welt zu verständigen, wenn sie nicht auf der Basis einer gemeinsamen (oder übersetzbaren) Sprache unterstellen, daß sie den verwendeten Ausdrücken identische Bedeutungen beilegen.“ 90 Mit anderen Worten: Die „ideale Sprechsituation“ wird in realen Kommunikationen von allen Beteiligten bewusst oder unbewusst unterstellt und zusammen mit ihr die Übereinstimmung von Wortbedeutungen. Dazu heißt es in Erläuterungen zur Diskursethik: „Wir schreiben Ausdrücken identische Bedeutungen zu (…).“ 91 Die Gemeinsamkeit der Sprache, die für identische Bedeutungen von Wörtern und Ausdrücken bürgt, gründet auf der gemeinsamen und im 87 J. Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (Vorlage für Zwecke einer Seminardiskussion)“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S. 122. 88 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, op. cit., S. 361. 89 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 2004 (erw. Aufl.), S. 98. 90 J. Habermas, Faktizität und Geltung, op. cit., S. 35. 91 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt, Suhrkamp, 1991, S. 161. <?page no="656"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 640 Idealfall homogenen Lebenswelt. Anders ausgedrückt: Die Homogenität von Lebenswelt und Sprache bildet die Grundlage der von Habermas vertretenen kommunikativen Rationalität. Diese „drückt sich in der einigenden Kraft der verständigungsorientierten Rede aus, die für die beteiligten Sprecher gleichzeitig eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt (…) sichert“. 92 Was geschieht nun, wenn es trotz aller idealisierenden Unterstellungen nicht zu dem erhofften Konsens kommt - etwa weil sich die reale Sprechsituation dem Ideal nicht fügt? Für diesen Fall, den John L. Austin möglicherweise als „infelicity“ bezeichnen würde 93 , hält Habermas den Diskurs als klärendes Gespräch bereit. Er definiert ihn als Versuch, kontroverse Wahrheitsansprüche zu klären: als „Form der Argumentation, in der kontroverse Wahrheitsansprüche zum Thema gemacht werden“. 94 Man könnte hier von einer Kommunikation zweiter Ordnung oder einer Metakommunikation sprechen. Wie soll aber eine Klärung als Verständigung herbeigeführt werden, wenn sich herausstellt, dass die „kontroversen Wahrheitsansprüche“ mit unvereinbaren Beobachtungen und Interessen zusammenhängen, die sich in unvereinbaren Sprachen als Semantiken und Erzählungen niederschlagen? - „Dann“, kommentiert Wolfgang Schluchter, „treten freilich dieselben Schwierigkeiten wie bei der Kommunikation erster Ordnung auf. Es droht also ein infiniter Regress.“ 95 Der Hermeneutiker und Kantianer Karl-Otto Apel, der ähnlich wie Habermas, der sich immer wieder auf ihn bezieht, eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ 96 voraussetzt, schwankt zwischen Verzweiflung und Hoffnung angesichts der Schwierigkeiten, die sich bei der Verwirklichung des Ideals abzeichnen. Der Sprecher weiß zwar, „daß (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft einschließlich seiner selbst weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gleichen. Aber der Argumentation bleibt, aufgrund ihrer transzendentalen Struktur, keine andere Wahl, als dieser verzweifelten und hoffnungsvollen Situation ins Auge zu sehen“. 97 Die Situation ist deshalb eher verzweifelt als hoffnungsvoll, weil Apel und Habermas trotz ihrer Annahme, dass die „ideale Sprechsituation“ oder „Kommunikationsgemeinschaft“ wirklichen Kommunikationen innewohnt, einen kantianischen Dualismus reproduzieren, der letztlich Ideal und 92 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S. 110. 93 Vgl. J. L. Austin, How to do Things with Words, Oxford, Univ. Press, 1962, Vorlesung II. 94 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, op. cit., S. 39. 95 W. Schluchter, Grundlegungen der Soziologie, op. cit., S. 481. 96 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt, Suhrkamp (1973), 1976, S. 429. 97 Ibid. <?page no="657"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 641 Wirklichkeit einander unvermittelt gegenüberstellt. Diese Idealisierung bewirkt, dass sie in ihren Analysen die sprachliche Ebene auslassen, die für Semiotik und Textlinguistik wesentlich ist: die Ebene des Diskurses. Diskurs bezeichnet in diesem Fall kein klärendes Gespräch, sondern die Rede als semantisch-narrative Konstruktion (wie sie in allen Kapiteln dieses Buches definiert wurde). Wie im Deutschen bedeutet im Englischen, Französischen und Italienischen das Wort Diskurs, discourse, discours, discorso sowohl „Rede“ als auch „Gespräch“ (auch im Sinne von Habermas). (Diskurs = methodisch aufgebaute Abhandlung über ein [wissenschaftliches] Thema; Gedankenaustausch, Unterhaltung [Duden]; Discourse = speech, lecture, sermon, treatise; (old use) conversation [Oxford Advanced Dictionary].) Die Semiotik als Diskurssemiotik (sémiotique du discours, discourse analysis) befasst sich fast ausschließlich mit dem Diskurs als Rede, als semantisch-narrativer Struktur - im Unterschied etwa zur conversation analysis. 98 Sie wendet sich gegen ältere Versuche, etwa eines Zelig Harris 99 , den Diskurs empiristisch als Verkettung von Sätzen aufzufassen, weil dabei die semantische Basis und die narrative Struktur des Diskurses aus dem Blickfeld verschwinden. Sie ist eine transphrastische, über einzelne Sätze hinausgehende Betrachtungsweise. Hinter diese Erkenntnisse fällt die Sprachanalyse von Habermas zurück, wenn sie den Diskurs im semiotischen Sinne, d.h. als transphrastische, über den Satz hinausgehende Ebene, unberücksichtigt lässt und sich auf den Sprechakt als Satz konzentriert. Dazu heißt es unmissverständlich bei Habermas: „Ein Sprechakt erzeugt die Bedingungen dafür, daß ein Satz in einer Äußerung verwendet werden kann; aber gleichzeitig hat er selbst die Form eines Satzes.“ 100 Komplementär dazu heißt es in den Vorstudien: „Wahrheit ist eine Relation zwischen Sätzen und der Realität, über die wir Aussagen machen (…).“ 101 Das Problem besteht darin, dass Wahrheiten (im Plural) nicht einfach in Sätzen zustande kommen, sondern in Diskursen als semantisch-narrativen Strukturen, die über die Bedeutung einzelner Sätze entscheiden. Der Satz „Im Jahre 1917 brach in Russland zum zweiten Mal eine Revolution aus“ ist sowohl wahr (intersubjektiv überprüfbar) als auch fungibel, denn er kann 98 Vgl. K. Aijmer, Conversational Analysis in English. Convention and Creativity, London- New York, Longman, 1996. 99 Vgl. Z. Harris, „Discourse Analysis“, in: Language, Bd. 28, 1952. 100 J. Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, op. cit., S. 103. 101 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S. 111. <?page no="658"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 642 grundverschiedenen historischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen Diskursen angehören, die unvereinbare Wahrheiten produzieren. Solche Diskurse können meistens Gruppensprachen oder Soziolekten zugeordnet werden, von denen ein jeder von einem bestimmten ideologischen (liberalen, konservativen, feministischen, nationalistischen, sozialistischen) Engagement geprägt ist. Entscheidend ist nun, dass diese Soziolekte und ihre Diskurse als konkrete Verwirklichungen sowohl „Lebenswelt“ als auch Alltagssprache durchschneiden und deren von Habermas vorausgesetzte Homogenität bei näherer Betrachtung zerfallen lassen, so dass die Idealisierung der „Lebenswelt“ zu einem abstrakten kantianischen Postulat wird. Hier gilt, was Bachtins Mitarbeiter Valentin N. Vološinov schreibt: „Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit und Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angenehmes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.“ 102 Dies bedeutet, dass es nicht sinnvoll ist, von einer „idealen Sprechsituation“ auszugehen, in der sich Subjekte mit Hilfe von neutralen Sprechakten verständigen, weil dieses Ideal der gegenwärtigen sozio-linguistischen Wirklichkeit in keiner Weise gerecht wird und sie daher nicht erklären kann. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass die sich verständigenden Subjekte im Laufe ihrer Sozialisierung in Soziolekten und Diskursen entstehen und sich ständig weiter bilden. Sie müssen in jeder Kommunikationssituation als gesellschaftlich und sprachlich geformte und sich kritisch und selbstkritisch bildende Instanzen vorausgesetzt werden. Wenn sie aber vorausgesetzt werden, und das ist aus soziologischer Sicht nicht zu vermeiden, dann können eine gemeinsame Sprache und eine „ideale Sprechsituation“ nicht vorausgesetzt werden, weil die Subjekte als Subjekte, als sozialisierte Individuen heterogene Sprachen oder Diskurse sprechen und in ihnen als Subjekte konstituiert werden bzw. sich selbst aktiv-kreativ konstituieren. (Die Dialektik zwischen Determinismus und Voluntarismus wird hier nicht ausgeblendet.) 103 In diesem Kontext wird Intersubjektivität zum Problem, weil auch sie unterschiedlich sozialisierte Subjekte und ihre Diskurse und nicht abstrakte Subjekte im Sinne des Idealismus (etwa im Sinne von Kants „Ich denke“) voraussetzt. Die Dialogische Theorie, die dieser Argumentation zugrunde liegt, geht daher von einer realen Kommunikationssituation aus, wie sie Vološinov skizziert, versucht aber, über die Partikularitäten der am Dialog partizi- 102 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S. 126. 103 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017, S. 16-18. <?page no="659"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 643 pierenden individuellen und kollektiven Subjekte universalistisch hinauszugehen. Sie ist daher nicht als Apologie eines postmodernen Partikularismus 104 oder der von Habermas im Anschluss an John Rawls kritisierten „kontextualistischen Positionen“ 105 zu verstehen. Vielmehr ist sie ein Versuch, zwischen dem Universellen und dem Partikularen dialektisch und dialogisch zu vermitteln, statt wie Habermas das Partikulare dem Universellen zu opfern. Habermas könnte auf diese Kritik antworten, dass er in einer Gesellschaft, die von zunehmender Partikularisierung geprägt ist, nach allgemein gültigen Regeln sucht, die Verständigung ermöglichen und dass der Autor dieser Zeilen diese Suche durch Partikularisierung oder Kontextualisierung ad absurdum führt, weil er sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren lässt. Dass Habermas bestrebt ist, durch die Aufstellung abstrakter Regeln den Differenzen, Partikularitäten und Eigentümlichkeiten der zeitgenössischen Gesellschaft Rechnung zu tragen, lässt der folgende Satz aus Erläuterungen zur Diskursethik erkennen: „Und je größer diese Vielfalt, eine umso abstraktere Gestalt müssen die Regeln und Prinzipien annehmen, welche die Integrität und gleichberechtigte Koexistenz der füreinander immer fremder werdenden, auf Differenz und Andersheit beharrenden Subjekte und Lebewesen schützen.“ 106 Dieses Abstrahieren von der konkreten gesellschaftlichen und sprachlichen Subjektivität liegt auch der „idealen Sprechsituation“ zugrunde, deren abstrakte „Regeln und Prinzipien“ die intersubjektive Beurteilung von Gründen, Begründungen und Argumenten ermöglichen sollen. In dieser Sprechsituation, die auch die „Öffentlichkeit des Zugangs, gleichberechtigte Teilnahme, Wahrhaftigkeit der Teilnehmer“ sowie „Zwanglosigkeit der Stellungnahme“ 107 voraussetzt, sind zustimmende oder ablehnende Reaktionen ausschließlich „durch den Zwang des besseren Arguments“ 108 motiviert. In der Theorie des kommunikativen Handelns ist von einer „Konsensbildung“ die Rede, „die sich letztlich auf die Autorität des besseren Arguments stützt“. 109 Ergänzend werden auch Begründungen oder „gute Gründe“ vor dem Hintergrund dieser in der „idealen Sprechsituation“ herrschenden abstrakten Rationalität betrachtet: „In der Argumentation hängt es einzig 104 Vgl. Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 283. 105 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, op. cit., S. 65. 106 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 202. 107 Ibid., S. 132. 108 Ibid. 109 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 218. <?page no="660"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 644 von guten Gründen ab, ob sich eine problematisch gewordene Überzeugung als rational akzeptabel erweist.“ 110 So kann Habermas argumentieren, weil er von den realen Subjekten und ihren Diskursen, die in jeder Kommunikationssituation vorausgesetzt werden müssen, abstrahiert: Er bringt sie nicht zur Sprache. Zusammen mit ihnen blendet er auch die Soziolekte oder Gruppensprachen aus, in denen sich Subjektivitäten diskursiv (semantisch, syntaktisch, narrativ) bilden und die zusammen mit den Subjekten aus empirischen Gründen vorausgesetzt werden müssen. Denn wenn man davon ausgeht, dass Subjektivität in Soziolekten als Gruppensprachen (Religionen, Ideologien, Fachsprachen, Theorien) durch Sozialisierung zustande kommt, muss man zusammen mit der Subjektivität auch diese kollektiven Faktoren voraussetzen, wenn man Kommunikation als genuinen Dialog verschiedener Sprecher verstehen will. Dies hat Folgen für die Beurteilung von „guten Gründen“ oder „Argumenten“. Eine Begründung, die vom Subjekt Ego in seinem Soziolekt als „gut“ akzeptiert wird, kann vom Subjekt Alter im Rahmen seines Soziolekts abgelehnt werden. Dies gilt auch für Argumente: Der „Zwang des besseren Arguments“ variiert von Subjekt zu Subjekt und von einem Soziolekt zum anderen. 111 Als Beispiel kann das kritisch-rationalistische, von Popper stammende Argument dienen, „(sozial)wissenschaftliche Theorien müssen falsifizierbar sein“. In den Soziolekten des Marxismus, der Kritischen Theorie und der Soziologie Pierre Bourdieus wird dieses Argument nicht akzeptiert - ebenso wenig wie der Hinweis auf die Falsifizierbarkeit naturwissenschaftlicher Theorien, der als Begründung („guter Grund“) dienen soll. Ein Mitarbeiter von Bourdieu, Jean-Claude Passeron, vertritt die Meinung, dass das Falsifizierbarkeitskriterium auf die soziologische Argumentation („raisonnement sociologique“) 112 nicht anwendbar ist. Im Marxismus, in der Kritischen Theorie, in Bourdieus Soziologie - aber auch in der Systemtheorie Luhmanns 113 - gilt Passerons Argument als das „bessere“ (mitsamt seinen Begründungen). Nicht zufällig spricht Luhmann im Zu- 110 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S. 321. 111 Dies bedeutet, dass der „Wettbewerb um das ‚bessere‘ Argument“, von dem Habermas spricht, zwischen Gruppensprachen (etwa im „Positivismusstreit“) und nicht einfach zwischen isolierten Individuen stattfindet. Die Frage lautet: Wer ist der Schiedsrichter in diesem Wettbewerb? Eine analoge Frage stellt sich im Zusammenhang mit Poppers Postulat der „Falsifizierbarkeit“. Vgl. J. Habermas, „Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik“, in: P. Niesen, B. Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 413. 112 Vgl. J.-Cl. Passeron, Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonnement naturel, Paris, Nathan, 1991, S. 371. 113 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt Suhrkamp, 1990, S. 429- 432. <?page no="661"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 645 sammenhang mit dem Kritischen Rationalismus von einer „quasi sektenhafte[n] Geschlossenheit“ 114 und bezieht sich indirekt auf die Partikularität des Soziolekts. An das „bessere Argument“ wird in einem Soziolekt aufgrund eines bestimmten ideologischen Engagements eben geglaubt - und im anderen nicht. Dies ist der Grund, warum Habermasʼ Forderung, Gesprächsteilnehmer sollten zur „Übernahme der Perspektiven (…) aller Anderen“ 115 bereit sein, nicht realistisch ist, weil sie sich abermals über die diskursive Subjektivität der Teilnehmer hinwegsetzt. Sie negiert ihre besondere sprachliche Identität durch abstrahierende Universalisierung. Habermas ist sich dieses Problems der sozialen und sprachlichen Heterogenität durchaus bewusst, wie sich weiter oben gezeigt hat, und reagiert nicht nur mit der Steigerung des theoretischen Abstraktionsniveaus, sondern auch mit Vorschriften, die Vereinheitlichung, Regulierung und Konsensbildung zum Ziel haben. So heißt es etwa in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln im Anschluss an Robert Alexy: „Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.“ 116 Aus folgenden Gründen wird hier Unmögliches verlangt: 1. Man muss kein Anhänger von Derridas Dekonstruktion sein, um zu wissen, dass in einer Rede oder einem durchgehenden Text ein Wort wie „Demokratie“ verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Jenseits aller verbalen Akrobatien der Dekonstruktion hat beispielsweise Margaret Masterman im Verlauf der Popper-Kuhn-Debatte gezeigt, dass das Wort paradigm in Kuhns Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962) 21 verschiedene Bedeutungen annimmt - „possibly more, not less“ 117 , stellt sie lakonisch fest. In Habermasʼ eigenem Werk ist das Wort „Lebenswelt“, das semantisch zwischen der „realen“ und der „idealen Lebenswelt“ oszilliert 118 , alles andere als eindeutig. Kurzum, semantische Verschiebungen kann niemand im eigenen Diskurs oder Text vermeiden - wohl aber eingrenzen. 2. In einer Diskussion können daher verschiedene Bedeutungen nicht vermieden werden. Im Gegenteil: Sie werden bisweilen sogar vorausgesetzt. Während einer Tagung mit dem Titel „Demokratie heute“ wird stillschweigend angenommen, dass jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer einen etwas anderen Begriff von Demokratie hat. Wenn alle die gleiche Auffassung von 114 Ibid., S. 430. 115 J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, op. cit., S. 334. 116 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 97. 117 M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Univ. Press (1970), 1982, S. 61. 118 Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 218-219. <?page no="662"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 646 Demokratie hätten, verlöre die Diskussion ihre Dynamik und ihren Sinn. 3. Dieser Einwand führt zurück zu den schon angestellten Überlegungen zur Rolle von Soziolekten und Diskursen: Die an einer Diskussion teilnehmenden Subjekte werden Begriffe wie „Paradigma“, „Demokratie“ oder „Lebenswelt“ im Rahmen ihrer Diskurse (Soziolekte) mit verschiedenen Bedeutungen versehen. Dies gilt auch und gerade für den Fall, dass sich jemand auf Habermasʼ Begriff der „Lebenswelt“ beruft: Er wird versuchen, diesen Begriff in seinem Diskurs weiterzuentwickeln, umzudeuten, zu ergänzen - und das wird von ihm auch erwartet, sonst könnte er einfach einen Text von Habermas vorlesen (in dem „Lebenswelt“ auch verschiedene Bedeutungen annimmt, die wieder unterschiedlich rezipiert werden). Man stelle sich - komplementär dazu - ein Symposion über den Paradigma-Begriff bei Kuhn vor, der schon im Originaltext 21 verschieden Bedeutungen aufweist, wobei zu bedenken ist, dass Übersetzungen weitere Vieldeutigkeiten zeitigen können… Nicht zufällig weisen Habermasʼ Regulierungsversuche und Vorschriften in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln einen präskriptiven und repressiven Charakter auf. Denn sein gesamter Diskurs ist auf Vereinheitlichung, Universalisierung und Konsens ausgerichtet. 119 Es hat sich gezeigt, dass seine Anwendung der Sprechakttheorie diesen drei Desiderata dienen soll. Doch diese Sprechakttheorie ist selbst partikular und umstritten, wie der folgende Einwand von Henri Meschonnic erkennen lässt: „Wenn ein so wichtiges Element wie die Sprechakttheorie der traditionellen Theorie verpflichtet ist, dann kippt das gesamte Konzept in die traditionelle Theorie.“ 120 Traditionell ist an dieser Theorie u.a. ihre Fixierung auf den Sprechakt als Satz. Entscheidend ist hier jedoch nicht die Kritik an dieser Theorie, sondern die Tatsache, dass sie, die im Idealfall den Konsens stiften soll, selbst nicht konsensfähig ist. Davon zeugt auch die polemische Diskussion zwischen Searle und Derrida, in deren Verlauf Derrida die gesamte Sprechakttheorie von Austin und Searle dekonstruktivistisch in Frage stellt. 121 Jürgen Habermasʼ Widerspruch besteht darin, dass er diese Theorie trotz ihrer Partikularität einsetzt, um den Universalitätsanspruch seiner 119 Vgl. H. Quéré, „Vers une anthropologie alternative pour les sciences sociales? “, in : Ch. Bouchindhomme, R. Rochlitz (Hrsg.), Habermas, la raison, la critique, Paris, Les Editions du Cerf, 1996, S. 132 : „Andererseits reproduziert er in seiner Theorie, ohne sie zu kritisieren, die klassische Annahme der Soziologie, dass ein kognitiver und normativer Konsens zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft besteht (…).“ 120 H. Meschonnic, „Le Langage chez Habermas ou Critique, encore un effort“, in: H. Meschonnic (Hrsg.), Critique de la Théorie Critique. Langage et histoire, Paris, PUV, 1985, S. 160. 121 Vgl. J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée,1990, S. 109-144. <?page no="663"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 647 Kommunikationstheorie als „Universalpragmatik“ zu begründen. Dadurch gerät er in eine ähnliche Argumentationssituation wie Hegel, der den partikularen preußischen Staat als allgemein gültigen Ausdruck der Vernunft darstellt. Zu Hegels Vernunft bemerkt Adorno, „ihre Allgemeinheit [sei] Produkt partikularen Interesses“. 122 Wie bei Hegel hat auch bei Habermas die Emporhebung einer Partikularität zur Allgemeinheit repressiven Charakter. Dieser kommt anders als bei Hegel nicht durch historisierende Aufhebungen (im Rahmen einer historischen Erzählung) zustande, sondern durch eine kantianische Entgegensetzung von Ideal und Wirklichkeit: Der von Dissens und Konflikt geprägten sozialen Wirklichkeit wird sprachtheoretisch der ideale Konsens verordnet. Schon Luhmann stellte aber fest (vgl. Kap. XV und Einleitung), dass der Konsens nicht produktiv ist: „Aber Kommunikation findet ja überhaupt nur da und deswegen statt, weil und wenn es Differenzen gibt. Bei völlig gleichen Interessenlagen erübrigt sich Kommunikation.“ 123 Noch konkreter formuliert diesen Gedanken im Zusammenhang mit Habermas Thorsten Bonacker: „In der idealen Kommunikationsgemeinschaft wäre keine Kommunikation mehr nötig.“ 124 Tatsächlich besteht die Gefahr, dass das Insistieren auf lebensweltlicher Gemeinsamkeit, begrifflicher Homogenität und kommunikativem Konsens in gedankliche Sterilität mündet - und in das Verstummen der Gesprächspartner. Im Gegensatz dazu zielt die hier skizzierte Dialogische Theorie auf eine Wechselwirkung von Konsens und Dissens in realen Kommunikationssituationen, wobei dem Dissens als Kritik die eigentliche Kontrollfunktion im Dialog zufällt. Gesucht wird das „fremde Wort“ (Bachtin), an dem sich zwischen Subjekten und ihren heterogenen Diskursen in einer Dialektik von Fremdverständnis und Selbstverständnis Kritik und Selbstkritik entzünden. Ich kann meinen eigenen Ansatz besser verstehen, korrigieren und vor allem entwickeln, wenn ich mit den mir anfangs fremden Argumenten des Andersdenkenden konfrontiert werde, der von einem anderen Soziolekt aus spricht und meine Art zu denken grundsätzlich in Frage stellt: „erschüttert“ im Sinne von Otto Neurath (vgl. Kap. II. 5). In der Konfrontation heterogener Gruppensprachen und ihrer Diskurse und im Alternieren von Konsens und Dissens werden neue Erkenntnisse und Wahrheitsmoment gesucht - nicht primär in der Übereinstimmung als Konsens. In diesem Kontext zeichnet sich ein wesentlicher Unterschied zwi- 122 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 20. 123 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 97. 124 T. Bonacker, „Ungewißheit und Unbedingtheit. Zu den Möglichkeitsbedingungen des Normativen“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft, op. cit., S. 127. <?page no="664"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 648 schen dem Konsens oder Dissens innerhalb einer Wissenschaftlergruppe und zwischen heterogenen Gruppen ab. Dass die Auseinandersetzung zwischen heterogenen Diskursen und ihren Soziolekten ergiebiger ist als Diskussionen innerhalb eines Soziolekts, lässt der offene Dialog zwischen Habermas und Luhmann erkennen. Es ist erstaunlich, dass Habermas nie versucht hat, diesen Dialog im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns stattfinden zu lassen - zumal er in dem Band, in dem 1971 seine Diskussion mit Luhmann erschien, auch seine „Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“ abdrucken ließ. Man geht wohl nicht fehl mit der Annahme, dass Luhmann die Prämissen nicht akzeptiert hätte: Seine Diskurssemantik (Relevanzkriterien, Klassifikationen, Definitionen) schließt sie aus (vgl. Abschn. 7). Und warum sollte er sich den Regeln und Vorschriften eines fremden Diskurses fügen? Dennoch kann gezeigt werden, dass diese Diskussion zwischen zwei heterogenen Diskursen, die von grundverschiedenen Relevanzkriterien ausgehen, ergiebig war. „Heterogenität der Diskurse“ bedeutet nicht, dass sie inkommensurabel sind und einander „nichts zu sagen“ haben - wie Lyotard annehmen könnte. 125 Als sekundäre modellierende Systeme (Lotman) 126 gehen sie stets aus dem primären modellierenden System einer natürlichen Sprache (hier dem Deutschen) hervor und können im Rahmen dieser sie umfassenden Sprache kommentiert, erklärt und kritisiert werden. Auf dieser Grundlage fand die Diskussion zwischen Habermas und Luhmann statt. In ihrem Verlauf kristallisierte sich ein gemeinsames Theorem heraus: „die Ausdifferenzierung der Systeme“. Dieses Theorem wurde in zwei verschiedene Erzählungen integriert, von denen die eine von dem für sie relevanten Gegensatz System / Umwelt ausging, während die andere von dem Gegensatz System(e) / Lebenswelt strukturiert wurde. Schließlich mündeten jedoch beide Erzählungen in die gemeinsame Frage, wie mit den autopoietisch ausdifferenzierten Systemen, die einander immer fremder werden, umzugehen sei. Die Antworten auf diese Frage gehen wieder auseinander: Während Luhmann in der Steigerung der systemischen Irritabilität eine mögliche Problemlösung sieht, plädiert Habermas für eine demokratische (lebensweltliche) Kontrolle der Systeme „Geld“ und „Macht“. Dies könnte zu der die beiden theoretischen Erzählungen wieder vereinigenden Frage führen: ob die Irritabilität der Systeme nicht durch demokratische Kontrolle gesteigert werden könnte. 125 Vgl. J.-F. Lyotard, Le Différend, Paris, Minuit, 1983, S. 51-52. 126 Vgl. J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 81. <?page no="665"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 649 Diese Wechselwirkung von gemeinsamen Einschätzungen oder Fragen und divergierenden Antworten, die zeitweise, aber nie endgültig zu einer gemeinsamen Antwort führen könnte, fasst eine Dialogische Theorie ins Auge, für die Dissens ebenso wichtig ist wie Konsens. Für sie ist auch die Heterogenität der Sprachen und Denkweisen entscheidend, die bewirken kann, dass der Konsens, der sich als eingeschliffene Meinung oder Doxa in einer Wissenschaftlergruppe bildet, erschüttert oder gesprengt wird. Diese Theorie schreibt den Kommunizierenden keinen besonderen Sprachgebrauch vor, weil sie von der Umgangssprache als letzter Metasprache, in die alle besonderen Sprachen (Theorien, Fachsprachen) eingebettet sind, ausgeht. Darin stimmt sie mit Apels und Habermasʼ modern-universalistischen Kommunikationstheorien überein. 127 5. Zwischen Moderne und Postmoderne: Habermas als spätmoderner Soziologe In der Darstellung von Habermasʼ Kommunikationstheorie sollte die Bedeutung des Universalismus für diese Theorie deutlich geworden sein. Sie ist in ihrer Gesamtheit auf die Verallgemeinerungsfähigkeit von Argumentationen, Geltungsansprüchen und Definitionen ausgerichtet. Ihre Modernität ist unzertrennlich mit der Aufklärung verwachsen und besteht darin, dass sie die Bindung des Denkens und Argumentierens an unreflektierte Traditionen und Partikularismen lockern will. Die Autonomie des Individuums verknüpft sie mit der Fähigkeit zum reflektierenden, kritischen Denken in Begriffen mit universeller Geltung. Ausgehend von diesen Prämissen, erscheint es möglich, Habermasʼ Kritik an der Postmoderne in drei Argumentationstypen einzuteilen: 1. ein historisches Argument, das sich gegen konservative Aspekte der Postmoderne richtet; 2. ein erkenntnistheoretisches Argument, das sich kritisch mit der postmodernen Partikularisierung (Fragmentierung) der Vernunft auseinandersetzt und 3. ein Plädoyer für die Fortsetzung des „unvollendeten modernen Projekts“ im Sinne einer lebensweltlich und kommunikativ erneuerten Aufklärung. (Habermas‘ Versuch, die ästhetische Moderne als Modernismus [etwa 1850 bis 1950] im Sinne von Nietzsche, Dostoevskij und Baudelaire auf die Moderne als Neuzeit und Aufklärung zu beziehen, soll hier nicht erörtert werden, um die Klarheit zu wahren. Denn die Moderne als ästhetischer Modernismus ist eine spätmoderne, radikal- 127 Vgl. Vf., Was ist Theorie? , op. cit., Kap. XIII: „Der interdiskursive Dialog: Theorie“. <?page no="666"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 650 selbstkritische Reflexion der Moderne, die - wie Nietzsches Philosophie zeigt - bei Lyotard, Deleuze und Derrida in postmoderne Kritik übergeht.) 128 Vor allem in seinem bekannten Aufsatz „Die Moderne - ein unvollendetes Projekt“ (1980) wendet sich Habermas gegen Tendenzen innerhalb der postmodernen Problematik, das aus der Aufklärung hervorgegangene „Projekt der Moderne“ aufzugeben und zu vormodernen Traditionen zurückzukehren. In diesem Zusammenhang unterscheidet er drei postmodern-konservative Reaktionen auf die Probleme der Moderne: Jungkonservatismus, Altkonservatismus und Neukonservatismus. Die Jungkonservativen knüpfen an die gesellschaftskritischen und ästhetischen Revolten des von Nietzsche beeinflussten Modernismus an und konfrontieren den bürgerlichen Utilitarismus und die mit ihm einhergehende „instrumentelle Vernunft“ (Zweckrationalität) mit „Selbsterfahrung“, „Imagination“ und „Affektivität“: „Sie verlegen die spontanen Kräfte der Imagination, der Selbsterfahrung, der Affektivität ins Ferne und Archaische, und setzen der instrumentellen Vernunft manichäisch ein nur noch der Evokation zugängliches Prinzip entgegen, ob nun den Willen zur Macht oder die Souveränität, das Sein oder eine dionysische Kraft des Poetischen.“ 129 Habermas assoziiert diese Einstellung mit von Nietzsche beeinflussten Denkern wie Bataille, Foucault und Derrida. Er hätte eher den frühen Lyotard nennen sollen, der in Des Dispositifs pulsionnels (1973) und in Dérive à partir de Marx et Freud (1973) für eine von Nietzsche inspirierte antikapitalistische Revolte plädiert. Es ist nicht auf Anhieb einzusehen, warum Autoren wie Bataille, Foucault und Derrida dem Sammelbegriff „Jungkonservatismus“ subsumiert werden sollten. In ihrem Denken halten sich gesellschaftskritische und konservative Momente möglicherweise die Waage - jedenfalls fällt es schwer, etwa Foucaults Kritik der Disziplinierung als Machtausübung umstandslos als „jungkonservativ“ zu bezeichnen (vgl. Kap. XXIII. 1). Plausibler scheint Habermasʼ Kommentar zu den in der Postmoderne agierenden Altkonservativen zu sein, die auf die systemische Ausdifferenzierung von „Wissenschaft, Moral und Kunst“ mit einer pauschalen Verabschiedung des modernen Rationalisierungsprozesses reagieren, indem sie „eine Rückkehr zu Positionen vor der Moderne“ 130 empfehlen. Habermas 128 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), Kap. IV: „Modernismus und Postmoderne: Die literaturwissenschaftliche Debatte“. 129 J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig, Reclam, 1990, S. 52. 130 Ibid. <?page no="667"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 651 nennt u.a. Robert Spaemann, der sich eine Rehabilitierung der teleologischen Naturphilosophie vornahm, geht aber auf seine für die Postmoderne relevanten Argumente nicht ein (seine Darstellung weist wie immer einen sehr hohen Abstraktionsgrad auf). Schließlich empfehlen - Habermas zufolge - die Neukonservativen eine „Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne“: „Eine These lautet, daß die Wissenschaft, wenn man sie recht versteht, für die Orientierung in der Lebenswelt ohnehin bedeutungslos geworden ist. Eine weitere ist, daß die Politik tunlichst von Forderungen moralisch-praktischer Rechtfertigung freizuhalten ist.“ 131 Dadurch, so Habermas, werde die Abkoppelung der Systeme von der Lebenswelt besiegelt, so dass „von der kulturellen Moderne nur noch zurück[bleibt], was von ihr unter Verzicht auf das Projekt der Moderne zu haben ist“. 132 Diese Kritik ist ohne weiteres als Bestandteil von Habermasʼ soziologischer Erzählung zu erkennen, in der für die Anbindung der Systeme „Geld“ und „Macht“ an die Lebenswelt zwecks lebensweltlich-kommunikativer (demokratischer) Kontrolle der Systemdifferenzierung plädiert wird. Im Rahmen dieser Erzählung ist auch das erkenntnistheoretische Argument zu verstehen, das auf die postmoderne Partikularisierung (Fragmentierung) der Vernunft bei Philosophen wie Lyotard und Soziologen wie Zygmunt Bauman reagiert. Habermas zeigt durchaus Verständnis für die postmoderne Kritik der (hier im „Ersten Teil“ kommentierten) modernen Großerzählungen und ihrer Teleologien: „An dem heilsamen Einfluß des Postmodernismus auf die gegenwärtigen Debatten habe ich keinen Zweifel. Die Kritik an einer Vernunft, die dem Ganzen der Geschichte eine Teleologie unterschiebt, ist ebenso überzeugend wie die Kritik an der lächerlichen Prätention, aller gesellschaftlichen Entfremdung ein Ende zu bereiten.“ 133 An dieser Stelle sollte deutlich werden, weshalb Habermas hier als spätmoderner Theoretiker bezeichnet wird: Er geht klar auf Distanz zu den teleologisch strukturierten Diskursen der Moderne und zu ihren fantastischen Utopien, die eine Befreiung der Menschheit in der „klassenlosen Gesellschaft“ (Marx), im „wissenschaftlichen Stadium“ (Comte) oder in der „industriellen Gesellschaft“ der freien Individuen (Spencer) schildern. Indem Habermas diese Moderne verabschiedet und die postmoderne Kritik der „Metaerzählungen“ und ihrer Teleologien begrüßt, erweist er sich als Denker einer selbstkritischen Spätmoderne, die die Übertreibungen und blinden Flecken der Moderne reflektiert. 131 Ibid., S. 53. 132 Ibid. 133 J. Habermas, Zeitdiagnosen, op. cit., S. 192. <?page no="668"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 652 Zugleich verharrt er aber in der Moderne und wendet sich gegen eine postmoderne Fragmentierung oder Pluralisierung der Vernunft, die deren Kontextgebundenheit postuliert: „Aber diese Sicht der Dinge setzt immer noch stillschweigend das Bild einer fragmentierten Vernunft voraus, deren Splitter über viele inkommensurable - oder zum Teil überlappende - Diskurse verstreut sind.“ 134 Diese Argumentation enthält jedoch eine Ungereimtheit, weil Inkommensurabilität als Unvergleichbarkeit auch partielle Überlappungen ausschließt: Was sich überlappt oder überschneidet ist vergleichbar - also gerade nicht inkommensurabel. Auf dieser Tatsache gründen alle Theorienvergleiche und alle vergleichenden Wissenschaften von der Vergleichenden Sprach- und Literaturwissenschaft bis zur Vergleichenden Politikwissenschaft. Ähnlichkeiten als „Überlappungen“ sind der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaften, die sich weder beim Identischen noch beim Inkommensurablen aufhalten. „Inkommensurabel“ und „überlappend“ sollten daher nicht in einem Atemzug als Fast-Synonyme genannt werden. Die Dialogische Theorie geht nicht von der Inkommensurabilität der Vernunfttypen aus, sondern von deren „Überlappungen“, die Vergleiche und dialogische Konfrontationen ermöglichen: etwa zwischen Luhmanns Systemtheorie und Habermas Theorie des kommunikativen Handelns - oder zwischen Marx Klassentheorie und Paretos Elitentheorie sowie zwischen Elias und Alfred Webers Zivilisationstheorien. Insofern unterscheidet sie sich wesentlich von postmodernen Theorien der Inkommensurabilität - etwa von Lyotards Theorie der hermetischen „Sprachspiele“. Sie will universalistisch dialogisch über die besonderen Kontexte hinausge hen: diese aber dialogisch kritisch fruchtbar machen, statt sie zu übersprin gen. Im Gegensatz dazu schlägt Habermas als Alternative zum postmodernen Kontextualismus oder Partikularismus seinen kommunikativen Ansatz vor, der an den Universalismus der Aufklärung anknüpft, ohne deren abstrakten Rationalismus und die von ihm ableitbaren Utopien zu übernehmen. Als kritischer Gadamer-Leser möchte er die Rationalisierungsprozesse der Moderne mit den kritisch reflektierten und daher erhaltenswerten Traditionen der Lebenswelt versöhnen: „Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne, die Vorstellung also, daß man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in [denen] wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis 134 Ibid., S. 196. <?page no="669"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 653 treten; daß man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substantieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat.“ 135 Anders als die von ihm kritisierten konservativen Modelle der Postmoderne plädiert hier Habermas im Rahmen seiner Erzählung, die vom Gegensatz System(e) / Lebenswelt ausgeht, für eine kritisch reflektierte, mit sich selbst versöhnte Moderne, in der die systemische Differenzierung in die kommunikative Vernunft mündiger Subjekte integriert ist. Dieser Entwurf einer neuen Moderne ist insofern der Aufklärung verpflichtet, als er auf die Autonomie und Rationalität sich vernünftig verständigender Individuen ausgerichtet ist. Von der Aufklärung weicht er ab durch sein Plädoyer für die Einbettung der kommunikativen und der instrumentellen Vernunft in lebensweltliche Traditionen. Habermasʼ Erzählung der Postmoderne als einer multiplen konservativen Reaktion auf die Modernisierungsprozesse ist - aus semiotischer Sicht - nur eine mögliche Konstruktion. Wie der Philosoph-Schriftsteller Diderot und der Schriftsteller-Philosoph Calvino wussten, kann man alles auch anders erzählen. Wolfgang Welsch beispielsweise erzählt die Postmoderne nicht als vergebliche oder gefährliche konservative Gegenoffensive, sondern als „Vollendung der Moderne“: „Postmoderne ist so der Zustand, in dem die Moderne nicht mehr reklamiert werden muß, sondern realisiert wird. (…) Die Romantik hat noch für Einheit plädiert oder ihr zumindest nachgetrauert. Die Postmoderne folgt einem anderen Leitbild: Sie setzt radikal auf Vielheit.“ 136 Hier wird im Anschluss an Lyotard eine ganz andere Geschichte erzählt: Die Postmoderne erscheint als radikalisierende Fortsetzung der Moderne, die den in der Moderne angekündigten Pluralismus realisiert. Diese Erzählung könnte kontrapunktisch durch eine weniger euphorische Erzählung ergänzt werden. In ihr wird beobachtet, wie die miteinander in der Vielfalt konkurrierenden Standpunkte, Subkulturen, Ideologien, Ethiken und Ästhetiken als kontingente Partikularitäten austauschbar werden, so dass Indifferenz zum hervorstechenden Merkmal der Postmoderne wird. Es ist letztlich die Indifferenz des Tauschwerts, der jenseits aller unvereinbaren und unverständlichen Wertsetzungen Individuen und Gruppen als Produzenten und Konsumenten einander ohne Verständigung näher bringt. Die Postmoderne ist keine konservative oder fortschrittliche Ideologie, sondern eine Problematik, auf deren Probleme Individuen und Gruppen mit heterogenen Diskursen und Soziolekten reagieren. 137 135 J. Habermas, „Dialektik der Rationalisierung“, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, op. cit., S. 202. 136 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991 (3. Aufl.), S. 36. 137 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne, op. cit., S. 255-274. <?page no="670"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 654 6. Der „Positivismusstreit“: Habermas ʼ Kritik des Kritischen Rationalismus und Hans Alberts Antwort Es geht hier nicht um eine Gesamtdarstellung des „Streits“, sondern - da „Habermas“ und „soziologische Theorie“ die Hauptthemen sind - um das Gespräch zwischen Habermas und Hans Albert, das sehr weit davon entfernt ist, den Anforderungen der „idealen Sprechsituation“ zu genügen. An eine ihrer Komponenten erinnert Habermas in einem Text, der aus der Zeit des „Positivismusstreits“ stammt: „Die kommunizierten Bedeutungen sind für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft grundsätzlich identisch.“ 138 Dass dies nicht der Fall ist und auch nicht sein kann, wird schon am „Positivismus“-Begriff deutlich, der sich in der Gruppe der kritischen Rationalisten (Popper, Albert) auf den Logischen Positivismus des von Popper radikal kritisierten Wiener Kreises bezieht 139 , während er in den Diskursen Adornos und Habermasʼ den Kritischen Rationalismus meint. Angesichts dieses semantischen Missverständnisses, das als böses Omen am Anfang der Diskussion stand, ist Adornos Einschätzung der sprachlichen Probleme, die in philosophischen und sozialwissenschaftlichen Debatten auftreten, durchaus realistisch: „(…) Auch wo die gleichen Begriffe verwandt werden, ja selbst wo darüber hinaus Übereinstimmung sich herstellt, dürften die Kontrahenten in Wahrheit so Verschiedenes meinen und anstreben, daß der Konsens Fassade von Antagonismen bleibt.“ 140 Diese Passage könnte auch als eine Kritik an Habermasʼ Kommunikationstheorie gelesen werden: vor allem der Ausdruck „Konsens als Fassade von Antagonismen“. Es wäre allerdings unbefriedigend, Habermasʼ auf Konsens ausgerichtete Theorie unvermittelt mit Adornos Skepsis aller Kommunikation gegenüber zu konfrontieren. Deshalb soll der im ersten Teil dieser Betrachtung in großen Zügen rekonstruierten Diskussion zwischen Habermas und Hans Albert eine - durchaus rudimentäre - Rekonstruktion der gesellschaftlichen und sprachlichen (diskursiven) Prämissen des Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie folgen. Wären diese Prämissen vor dem „Positivismusstreit“ wenigstens thesenhaft zusammengefasst worden, hätte man klären können, warum die „Kontrahenten (…) so Verschiedenes meinen und anstreben“ und wie dieses „Verschiedene“ beschaffen 138 J. Habermas, „Der Universalanspruch der Hermeneutik“ (1970), in: ders., Kultur und Kritik, op. cit., S. 283. 139 Vgl. H. Albert, „Kleines verwundertes Nachwort zu einer großen Einleitung“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1972, S. 336. 140 Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 79. <?page no="671"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 655 ist. Im letzten Teil dieser Betrachtung soll es ansatzweise rekonstruiert werden. Um Habermasʼ Kritik am Kritischen Rationalismus (fälschlich: „Positivismus“ oder „Neopositivismus“) zu verstehen, erscheint es sinnvoll, auf eine Textpassage hinzuweisen, die am Beginn von Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung steht und schon im sechsten Kapitel eine wichtige Rolle spielte: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn.“ 141 An anderer Stelle heißt es: „Technik ist das Wesen dieses Wissens.“ 142 Die Autoren nehmen sich eine kritische Umdeutung der Aufklärung vor, und Jürgen Habermas folgt ihnen auf seine Art, indem er versucht, die „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer) und das mit ihr liierte „technische Erkenntnisinteresse“ der mit der Lebenswelt verbundenen „kommunikativen Vernunft“ unterzuordnen. Aus dieser Position ist das erste Argument ableitbar, das er gegen die kritischen Rationalisten Popper und Albert ins Feld führt. Wie schon 1968 in Erkenntnis und Interesse (einem Buch aus der Zeit des „Positivismusstreits“) nimmt er ein Bündnis zwischen „Positivismus“ und dem aus der instrumenteller Vernunft hervorgehenden technischen Erkenntnisinteresse wahr. Den Vertretern des Kritischen Rationalismus wirft er vor, dass sie die Verschiedenheit der Erkenntnisinteressen (technisch, praktisch, emanzipatorisch: s.o.) nicht reflektieren und die Vernunft einseitig auf instrumentelle Vernunft und technisches Erkenntnisinteresse festlegen. Deshalb spricht er in einem seiner Beiträge zum „Positivismusstreit“ von einem „positivistisch halbierten Rationalismus“. In seinem Kommentar zum „Positivismusstreit“ resümiert Jürgen Ritsert den Argumentationszusammenhang: „(…) Und genau deswegen spricht Habermas des Öfteren von einer positivistisch halbierten Vernunft, die zu einer Reduktion zulässiger Erkenntnis auf strikte Erfahrungswissenschaften und damit zu einer Eliminierung von Fragen der Lebenspraxis aus dem Horizont der Wissenschaften überhaupt zwinge.“ 143 Habermas selbst spricht in einem seiner Beiträge von „einer Reduktion zulässiger Erkenntnis auf strikte Erfahrungswissenschaften“ und wirft den kritischen Rationalisten „Szientismus“ (Orientierung an den Naturwissenschaften) vor. 144 141 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 20. 142 Ibid. S. 14. 143 J. Ritsert, „Der Positivismusstreit“, in: G. Kneer, S. Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen, Berlin, Suhrkamp, 2010, S. 122. 144 J. Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno“, in: Th. W. Adorno, et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 171. <?page no="672"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 656 An anderer Stelle nimmt er zu der Ideologiekritik des Kritischen Rationalismus Stellung, die seiner Meinung nach das Ziel verfolgt, Theorien zu diskreditieren, die jenseits technischer Zielsetzungen anzusiedeln sind und nicht als erfolgsorientierte, zweckrationale Argumentationen aufgefasst werden können: „Sie [die Ideologiekritik der kritischen Rationalisten] beschäftig sich damit, das praktische Bewußtsein sozialer Gruppen von jenen Theorien zu reinigen, die sich nicht auf technisch verwertbares Wissen zurückführen lassen und gleichwohl einen theoretischen Anspruch behaupten.“ 145 Gemeint sind gesellschaftskritische Theorien, die nicht nur zweckrational nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis, sondern auch nach dem rationalen oder irrationalen Charakter der Zwecke und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen fragen. Als Beispiel sei das ressourcenverzehrende Wettrüsten verschiedener Großmächte und „Kleinmächte“ erwähnt. Dieses kann nur wertrational oder kommunikativ kritisiert werden, indem der Zweck mit seinen Auswirkungen auf Gesellschaft und internationale Politik zur Sprache gebracht wird. Damit ist das Problem der Wertfreiheit oder Werturteilsfreiheit angesprochen (vgl. Kap. I. 2 und Kap. XII. 1). Habermas wendet sich gegen „die Trennung von Erkennen und Werten“ 146 und erklärt: „Die positivistisch bereinigte Grenze zwischen Erkennen und Werten bezeichnet freilich weniger ein Resultat als ein Problem.“ 147 Das Problem besteht darin, dass es möglich sein muss, über Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Wertsetzungen kritisch zu diskutieren. Eine solche Diskussion gehört zu den vordringlichsten Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie, die nicht auf eine werturteilsfreie Betrachtung von Zwecken und Wertsetzungen eingeschränkt werden kann. Zu Habermasʼ Position in diesem Bereich bemerkt Michael Sukale: „Gegen die wertende Trennung Webers wollte er doch immer schon die wertende Einheit setzen! “ 148 Man könnte hinzufügen, dass in den Sozialwissenschaften der Werturteilsfreiheit enge Grenzen gesetzt sind, weil schon die Relevanzkriterien sozialwissenschaftlicher Diskurse auf Wertungen gründen: Der Gegensatz Kapital / Arbeit beinhaltet eine ganz andere Beobachtung, Bewertung und Erzählung der Wirklichkeit als die durchaus vergleichbaren Gegensätze System / Umwelt oder System(e) / Lebenswelt. 145 J. Habermas, „Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 262. 146 J. Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 171. 147 Ibid. 148 M. Sukale, „Jürgen Habermas und Max Weber. Eine Studie über Wert und Rationalität“, in: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft, op. cit., S. 357. <?page no="673"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 657 Solche Gegensätze haben einen qualitativ anderen Status als werturteilsfreie und allgemein gültige Gegensätze wie Lauge / Säure oder organisch / anorganisch. Habermasʼ „Positivismus“-Kritik gipfelt in dem Argument, „daß mit den strikten Verfahrensweisen der wertfreien Sozialwissenschaften ein technisches Erkenntnisinteresse zum Zuge kommt, welches der Lebenspraxis unangemessen bleibt (…)“. 149 Als Alternative zu diesem Erkenntnisinteresse, das aus der instrumentellen Vernunft hervorgeht, plädiert er im Anschluss an Hegels Totalitätsbegriff für eine dialektische Gesamtbetrachtung der Gesellschaft, die das Einzelne nicht empiristisch isoliert, sondern als Teil des Ganzen wahrnimmt, „weil der gesellschaftliche Kontext buchstäblich ein Lebenszusammenhang ist, in dem das unscheinbarste Teilchen so lebendig und das heißt gleichermaßen verletzbar ist wie das Ganze (…)“. 150 Dies bedeutet zugleich, dass Theoretiker und Theorie in diesen Lebenszusammenhang eingebunden sind und wertend Stellung beziehen müssen zu der Vernunft oder Unvernunft sozialer Zielsetzungen und Zwecke. An dieser Stelle setzt Hans Alberts Kritik ein. In einem Beitrag zum „Positivismusstreit“, der unter dem Titel „Der Mythos der totalen Vernunft“ erschien, stellt er Habermasʼ Plädoyer für eine Gesamtbetrachtung der Gesellschaft in Frage. Er kann sich unter der von Habermas postulierten „umfassenderen Rationalität“ nichts vorstellen und nimmt die kritischen Rationalisten in Schutz, deren „partikulare“ (instrumentelle, technische) Rationalität Habermas beanstandet: „Aber was er an Positivem ihrer ‚partikularen‘ Rationalität entgegensetzt, sind eher Metaphern als Methoden.“ 151 Der „Positivismusstreit“ wird hier aus der Sicht der Dialogischen Theorie dargestellt, so dass Einseitigkeiten zugunsten von Habermas wohl nicht zu vermeiden sind. Aber die kritische Bemerkung, dass Albert mehr Verständnis für Habermasʼ Gesamtbetrachtung hätte aufbringen können, ist nicht auf einseitige Polemik reduzierbar. Denn auch der Strukturalismus von Saussure bis zum Prager Linguistischen Zirkel setzt sich mit ähnlichen Argumenten wie Habermas für ein totalisierendes Verständnis ein, das das Einzelphänomen oder die einzelne sprachliche Funktion im Gesamtzusammenhang erklärt. 152 Das totalisierende Verfahren beinhaltet zugleich, dass 149 J. Habermas, „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 188-189. 150 Ibid., S. 188. 151 H. Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1975 (2. Aufl.), S. 302. 152 Vgl. K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus. Theorie und Geschichte, München, Fink, 1981, S. 90: „Die Struktur ist eine solche Beziehung des Ganzen und der <?page no="674"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 658 die verschiedenen Vernunfttypen im sozialen Kontext reflektiert und aufeinander bezogen werden. Schließlich führte auch Max Weber, der mit Dialektik nichts im Sinn hatte und auf den sich Albert immer wieder bezieht, die Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Wertrationalität in einem diese Vernunfttypen umfassenden Zusammenhang ein. Wenn nun Habermas an diese Unterscheidung anknüpft und - im Gegensatz zu Weber - meint, dass auch letzte Wertsetzungen und Zwecke der Rationalitätsprüfung ausgesetzt werden sollten, so ist das kein vages oder gar unverständliches Argument. Habermas, dem es um die rationale Beurteilung von Werten und Interessen (um ihre Verallgemeinerungsfähigkeit) geht, stellt die idealistische Trennung von Sein und Sollen, die Albert (wie Weber) befürwortet, grundsätzlich in Frage. Er trägt dadurch der Tatsache Rechnung, dass in den Sozialwissenschaften, wie sich hier immer wieder gezeigt hat, keine einzige Theorie diese Trennung durchzuhalten vermag - auch Webers eigene Theorie nicht. Irritierender als dieses Unverständnis ist Alberts Versuch, Habermasʼ Ganzheitskonzept in die Nähe des Totalitarismus zu rücken, sowie sein Hinweis auf die „Tatsache“, „daß dialektische Deutungsversuche der Realität im Gegensatz zu dem von Habermas kritisierten ‚Positivismus‘ in totalitären Gesellschaften häufig nicht unbeliebt sind (…)“. 153 Diese „Tatsache“ (die freilich empirisch zu belegen wäre) führt er auf die „Eigenart des dialektischen Denkens“ 154 zurück. Tatsache ist jedoch, dass die Dialektiken des Neomarxismus und der Kritischen Theorie in der UdSSR, der DDR und der ČSSR mit wesentlich größerem Misstrauen betrachtet wurden als empirische Methoden der Soziologie, die problemlos angewandt werden konnten, weil sie sich auch im „Sozialismus“ als nützlich erwiesen. 155 Plausibler erscheint Alberts Kritik an Habermasʼ und Apels Versuch, Argumentation und Kritik in der „idealen Sprechsituation“ (Habermas) bzw. der „idealen Kommunikationsgemeinschaft oder Interpretationsgemeinschaft“ (Apel) als Letztbegründung zu verankern. Was Albert zu Apels Ideal bemerkt, gilt weitgehend auch für Habermasʼ „Ideale Sprechsituation“: „In diesem Falle habe ich die Vermutung, daß die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft jedenfalls ein Apelsches Ideal ist, eine normative Idee, zu der Teile, in der das Ganze den Teilen übergeordnet ist und zugleich durch die Teile geschaffen wird.“ 153 H. Albert, Konstruktion und Kritik, op. cit., S. 294. 154 Ibid. 155 Vgl. J. Lieber, Philosophie - Soziologie - Gesellschaft. Gesammelte Studien zum Ideologieproblem, Berlin, de Gruyter, 1965, S. 210. <?page no="675"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 659 er sich bekennt. Die Frage, ob andere Leute sie in irgendeiner Weise ‚voraussetzen‘, wollen wir dahingestellt sein lassen.“ 156 Das Problem dieser „Voraussetzung“ hat schon Wolfgang Schluchter angeschnitten (vgl. Abschn. 4), als er darauf hinwies, dass eine Letztbegründung doch wieder begründet werden muss, so dass es zu einem infiniten Regress kommt. Albert fügt hinzu, dass manche Argumente, die zur Begründung herangezogen werden, schon in den Behauptungen enthalten sind, die es zu begründen gilt - so dass ein Zirkelschluss droht. Schließlich bleibt nur noch der Ausweg der Dogmatisierung offen, den, Albert zufolge, Apel und Habermas wählen müssen, wenn sie am Ideal der „Sprechsituation“ oder „Kommunikationsgemeinschaft“ festhalten wollen. Daher wirft Albert sowohl Apel als auch Habermas vor, sie hätten durch die Dogmatisierung eines Ideals ihre Theorie gegen Kritik immunisiert. Hier wird deutlich, dass „Kritik“ im Kritischen Rationalismus und in der Kritischen Theorie Verschiedenes bedeutet: Während Albert mit „Kritik“ primär die Aufdeckung ideologisch-theoretischer Immunisierungsverfahren meint, richtet sich Habermasʼ „Kritik“ gegen die Ausblendung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und die sich daraus ergebende einseitige Festlegung der Vernunft auf Zweckrationalität. Albert wehrt sich auch gegen Apels und Habermasʼ Behauptung, „daß das Prinzip der Begründung nicht durch das der Kritik ersetzt werden kann, sondern von ihm vorausgesetzt wird“. 157 Er ist zu Recht der Meinung, dass Kritik keiner Begründung oder Letztbegründung bedarf. Diese Meinung vertritt auch Adorno, sooft er darauf hinweist, dass sich Kritik am Widerspruch entzündet, etwa an der Diskrepanz zwischen ideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit: Wenn ich die Bahn kritisiere, weil ihre Züge unpünktlich sind und ihre Abfahrten und Ankünfte nicht dem Fahrplan entsprechen, brauche ich meine Kritik nicht durch Hinweise auf letzte Prinzipien zu begründen. Dies gilt auch für einen gesellschaftskritischen Hinweis darauf, dass die von Regierungen gepriesene „soziale Marktwirtschaft“ angesichts von zahlreichen Armen, Arbeits- und Obdachlosen nicht besonders sozial sein kann. Im Anschluss an Hans Alberts Kritik an Apels und Habermasʼ Idealisierungen könnte man erwarten, dass Albert das Problem der Wertfreiheit auf soziologisch-realistische Art betrachtet und die engen Grenzen der Werturteilsfreiheit wahrnimmt. Trotz seiner Kritik am hermeneutischen Idealismus, die aus soziologischer Sicht plausibel ist, hält er an Max Webers Postulat der Wertfreiheit (Werturteilsfreiheit) fest, das er durch eine Zusammenführung von Natur- und Sozialwissenschaften zu untermauern 156 H. Albert, Transzendentale Träumereien, op. cit., S. 63-64. 157 H. Albert, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1982, S. 61. <?page no="676"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 660 sucht. Aus sozio-semiotischer Sicht durchaus realistisch und vielversprechend klingt der folgende Satz: „Unsere Unterscheidungen und unsere Entscheidungen hängen eng miteinander zusammen, auch im Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit.“ 158 Das ist sicherlich der Fall: Wenn eine Feministin entscheidet, dass der semantische Gegensatz männlich / weiblich relevant ist, beobachtet und bewertet sie die soziale Wirklichkeit anders als der Systemtheoretiker Niklas Luhmann und erzählt eine andere Geschichte. Sodann setzt Albert jedoch seinen Gedankengang mit Argumenten fort, die vom idealistischen (kantianischen) Trennungsdenken zeugen: „Dennoch sind die Wissenschaften dadurch gekennzeichnet, daß sie diesen Zusammenhang bis zu einem gewissen Grade suspendieren, daß sie von natürlichen Wertungen abstrahieren, daß sie ihre Sprache, ein relativ künstliches Zuchtprodukt einer kritisch-reflektierenden Denkhaltung, neutralisieren und sie vom praktisch-normativen Hintergrund der allgemeinen Weltorientierung ablösen. Die Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen Denkens beruht auf dieser kritischen Distanz, sie wird durch das Prinzip der Wertfreiheit nicht beeinträchtigt, sondern gefördert.“ 159 In den Naturwissenschaften, in denen kein innovativer Diskurs, der vom Gegensatz organisch / anorganisch ausgeht, grundsätzlich beanstandet wird, mag das der Fall sein. In der Soziologie hingegen sind diskurssteuernde semantische Gegensätze wie System / Umwelt, System(e) / Lebens welt oder männlich / weiblich umstritten, weil sie als wertende Gegensätze von einem ideologischen Engagement zeugen. Im Verlauf des „Positivismusstreits“ wirft Albert den „Dialektikern“ vor, „die Sozialwissenschaften mit ideologischen Aussagen und Funktionen zu belasten“. 160 Dabei übersieht er die Funktion des ideologischen Engage ments für diese Wissenschaften, die ohne ihr Engagement - für die Revolution (Marx), das wissenschaftliche Stadium (Comte) oder die Gesellschaft freier Individuen (Spencer) - gar nicht entstanden wären. Wie sieht nun Alberts eigenes ideologisches Engagement aus, wie wirkt es sich auf seine Argumentation aus, und wie unterscheidet es sich von Habermas gesellschaftskritischem Engagement auf diskursiver Ebene? Zum Abschluss sollen zwei heterogene Diskurse verglichen werden, die sich in wesentlichen Punkten überschneiden, letztlich aber so stark divergieren, dass sich zwischen ihnen Missverständnisse häufen. 158 H. Albert, Aufklärung und Steuerung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1976, S. 161. 159 Ibid., S. 161-162. 160 H. Albert, Konstruktion und Kritik, op. cit., S. 320. <?page no="677"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 661 Kritischer Rationalismus und Kritische Theorie gehen beide vom liberalen Individualismus 161 aus, der ihren gemeinsamen Ursprung bildet. Wie Menschen, die im vorgerückten Alter über ihre Herkunft kritisch nachdenken und sie dann eher bejahen oder eher verneinen, schätzen die beiden kritischen Theorien den liberalen Individualismus unterschiedlich ein: Während der Kritische Rationalismus Poppers und Alberts ihn grundsätzlich bejaht, nehmen Vertreter der Kritischen Theorie eine ambivalente Haltung an: Sie halten zwar am Desiderat der individuellen Autonomie und Freiheit fest, kritisieren zugleich aber den Individualismus der liberalen Ära als kapitalistisches Herrschaftsprinzip und stellen Verbindungen zwischen diesem Prinzip und dem „autoritären Charakter“ 162 als einer der Grundlagen des Faschismus her. An dieser Stelle scheiden sich die kritischen Geister: Während der Kritische Rationalismus - auch angesichts des sowjetischen Totalitarismus - am Ideal des liberalen Individualismus festhält und den Kapitalismus mit Vorbehalten grundsätzlich bejaht, weil er alle historisch getesteten (sozialistischen) Alternativen mit Skepsis betrachtet, geht die Kritische Theorie - jenseits des Marxismus und als kritische Antwort auf ihn (vgl. Kap. VI. 4) - von einer radikalen Kapitalismus-Kritik aus, die bei Habermas, wie sich gezeigt hat, einen eher defensiven Charakter annimmt (als Verteidigung der Lebenswelt). Zwei charakteristische Textpassagen sollen die beiden divergierenden Standpunkte veranschaulichen. Die erste stammt von Hans Albert, der sich gegen die Ideologisierung von Wissenschaft Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre wendet: „Vor allem das totalitäre Denken aller Schattierungen hat aus dieser Entwicklung seinen Nutzen gezogen. Liberales Denken dagegen und die Ideale und Institutionen, die aus ihm hervorgegangen sind, liegen seit langem unter Beschuß, weil sie die quasi-theologischen Ansprüche und Zumutungen von dieser Seite her nicht honorieren können.“ 163 Der ideologische Kontrast zwischen den beiden Positionen tritt in Adornos langer „Einleitung“ zum „Positivismusstreit“ zutage: „Ob, wie Marx lehrte, die kapitalistische Gesellschaft durch ihre eigene Dynamik zu ihrem Zusammenbruch getrieben wird oder nicht, ist nicht nur eine vernünftige Frage, solange man nicht schon das Fragen manipuliert: es ist eine der 161 Vgl. Vf., „Libéralisme et Théorie critique“, in: ders., L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.). 162 Vgl. Th. W. Adorno et al., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 353-357. 163 H. Albert, Konstruktion und Kritik, op. cit., S. 376-377. <?page no="678"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 662 wichtigsten, mit denen der Sozialwissenschaft sich zu beschäftigen anstünde.“ 164 Aus diesen beiden Texten sind die Relevanzkriterien ableitbar, die den Diskursen oder Erzählungen des Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie zugrunde liegen: Während der Kritische Rationalismus vom Gegensatz Liberalismus / Totalitarismus (bei Popper auch: offene / geschlossene Gesellschaft) ausgeht, gründet der Diskurs der Kritischen Theorie auf dem Gegensatz herrschaftsfreie Gesellschaft / kapitalistische Herrschaft (bei Habermas auch: Lebenswelt / System[e]). Aus diesen Gegensätzen sind die Hauptanliegen der beiden theoretischen Diskurse ableitbar: Während der Kritische Rationalismus seine Kritik vor allem auf totalitäre Systeme (Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus) richtet und auf Ideologien oder Theorien, die ihnen aus der Sicht Alberts und Poppers den Weg bereiten (von Plato bis Marx) 165 , kehrt sich die Kritik Adornos, Horkheimers und Habermasʼ vornehmlich gegen einen Spätkapitalismus, der sich anschickt, den Individualismus und das gesamte liberale Erbe zu liquidieren. Dass der Kritische Rationalismus die Zerstörung des bürgerlichen, liberalen Individualismus durch den Spätkapitalismus (die Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit beschreibt) nicht wahrnimmt, wäre als Kernargument die geeignte Grundlage einer kritisch-theoretischen Kritik an Popper und Albert. Der von Popper und Albert hartnäckig verteidigte, aber nicht problematisierte liberale Individualismus, dem ein Kantischer Idealismus entspricht, hindert die beiden Denker daran, die von Marx und Durkheim entdeckten kollektiven Faktoren wahrzunehmen. Sie bewirken, dass Individuen nicht freischwebend sind, sondern in Kollektiven und Gruppensprachen (Familien, Institutionen, Organisationen und Ideologien) sozialisiert werden und als sozialisierte Individuen am wissenschaftlichen Geschehen teilnehmen. Von dieser Sozialisation zeugen ihre sozialwissenschaftlichen Diskurse durch wertendes, ideologisches Engagement: Sie können daher nicht frei von Werturteilen sein, sofern es um gesellschaftliche Probleme und ihre Lösungen geht - und nicht um Gesteine, Algen oder Gase. Von diesem Tatbestand zeugt auch der Diskurs des Kritischen Rationalismus, der aufgrund seines Engagements für eine offene, liberale Gesellschaft mit der Forderung 164 Th. W. Adorno, „Einleitung“, in: Th. W. Adornos et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 53. 165 Vgl. K. R. Popper, Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern-München, Francke, 1958. <?page no="679"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 663 nach Falsifizierbarkeit (Widerlegbarkeit von Theorien) das liberale Konkurrenzprinzip bis in die Wissenschaftstheorie hineinträgt. 166 Doch auch die Kritische Theorie hält an einem durch Hegel und Marx vermittelten liberalen Individualismus fest, den sie jedoch als historische Größe mit Skepsis betrachtet. Mit Robert Musil könnten ihre Vertreter sagen: „Der Individualismus geht zu Ende. (…) Aber das Richtige wäre hinüberzuretten.“ 167 Was ist nun das Richtige? In der Beantwortung dieser Frage treffen sich wieder Kritische Theorie und Kritischer Rationalismus, denn beider Antwort lautet: die Autonomie des Individuums und seine Kritikfähigkeit. 7. Niklas Luhmanns Einwände: Die Habermas-Luhmann-Debatte II Die Komplexität der ohnehin vielschichtigen Habermas-Luhmann-Debatte wird dadurch gesteigert, dass die Kontrahenten noch viele Jahre später, noch in den 1990er Jahren, Stellung nahmen zu den in der Debatte vorgebrachten Argumenten, die sie vervollständigten und präzisierten (wie sich bereits im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels gezeigt hat). Es kommt hinzu, dass Luhmann am Ende der ursprünglichen Diskussion „keine Möglichkeit eines einfachen Resümees“ 168 sah. „Dazu ist die Diskussion zu facettenreich“ 169 , erklärte er. Die folgende Darstellung wird sich daher auf drei Schritte beschränken, in denen das Verhältnis der beiden Diskurse zueinander zentral ist: 1. Luhmanns Kritik an Habermasʼ Auffassung der Kommunikation als „Diskurs“, als klärendes Gespräch; 2. sein Versuch, Habermasʼ Diskurs als semantischnarrative Struktur im Kontext der Systemtheorie darzustellen; 3. schließlich sein Vorschlag, Habermasʼ in der Lebenswelt verankerten herrschaftsfreien „Diskurs“ durch den Begriff des Wissenschaftssystems zu ersetzen. Auf allen drei Ebenen wird - gleichsam nebenbei - der hier gegen Habermas vorgebrachte Einwand verdeutlicht: dass die an einem Dialog teilnehmenden Individuen stets sozialisierte Subjekte sind, deren Subjek- 166 Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2002 (10., erw. Aufl.), S. 16: „Nach unserem Vorschlag kennzeichnet es diese Methode, daß sie das zu überprüfende System in jeder Weise einer Falsifikation aussetzt; nicht die Rettung unhaltbarer Systeme ist ihr Ziel, sondern: in möglichst strengem Wettbewerb das relativ haltbarste auszuwählen.“ In der zweiten Hälfte dieses Satzes braucht man nur den Ausdruck „Rettung unhaltbarer Systeme“ durch „Rettung unrentabler Unternehmen“ zu ersetzen, um den Diskurs einer liberalen Wirtschaftsideologie entstehen zu lassen. 167 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1952, S. 1578. 168 N. Luhmann, „Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, op. cit., S. 398. 169 Ibid. <?page no="680"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 664 tivität sich in besonderen Diskursen lexikalisch, semantisch und syntaktisch artikuliert und nicht neutralisiert werden kann. Als Beispiel kann das folgende Argument aus Luhmanns postum erschienenem Buch Die Moral der Gesellschaft (2008) angeführt werden. Es geht dort um die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Habermasʼ „Diskursbegriff“: „Es ist im übrigen ein behebbarer Defekt, wenn Habermas bereits innerhalb von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die von ihm aus gesehen Diskurse sein könnten, dem Teilnehmer ein Monologisieren vorwirft, nur weil dessen Theorie das Konzept des Diskurses nicht akzeptiert.“ 170 Ein analoges Argument wurde hier im vierten Abschnitt im Anschluss an die Kritiken von Henri Meschonnic und Jacques Derrida gegen Habermasʼ normative Einsetzung der Sprechakttheorie vorgebracht. Wenn sie nicht als verallgemeinerungsfähig akzeptiert wird, kann die gesamte Theorie des kommunikativen Handelns verworfen werden. In diesem Sinne argumentiert auch Luhmann, wenn er Habermasʼ Vorstellung von einer allen gemeinsamen homogenen Sprache und der aus ihr hervorgehenden, von allen geteilten Vernunft in Frage stellt: „Der Diskurs darf nicht so laufen, wie Habermas es sich vorstellt. Es darf nicht zugelassen werden, daß am Ende die Vernunft triumphiert. Denn die Frage ist und bleibt ja doch: wessen Vernunft? “ 171 Es ist merkwürdig, dass der Universalist Luhmann, dessen Theorie auf alle sozialen Erscheinungen anwendbar sein soll, dem Universalisten Habermas vorwirft, den Universalismus gegen die Partikularitäten durchsetzen zu wollen. Dabei argumentiert er durchaus postmodern-partikularistisch, wenn er im selben Zusammenhang auf die „Unterschiedlichkeit der Weltkonstruktionen in einer auf ‚Polykontexturalität‘ angewiesenen Gesellschaft“ 172 hinweist. Er knüpft an Habermasʼ Konzept des „nachmetaphysischen Denkens“ 173 an, wenn er feststellt, dass es in der zeitgenössischen Gesellschaft keine von allen akzeptierte Gesamtschau mehr geben kann, sondern nur noch partikulare Perspektiven: „Lyotard sagt, es gibt heute keinen Gesamtbericht, keine Gesamterzählung mehr, es gibt keine verbindliche Darstellung der Welt mehr. Aber an die Stelle scheint genau dies getreten zu sein: daß man verschärfte Sensibilität entwickelt hat für die Beobachtung anderer Beobachter.“ 174 170 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft (Hrsg. D. Horster), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (4. Aufl.), S. 72. 171 Ibid., S. 359. 172 Ibid., S. 360. 173 Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, op. cit., S. 35-46. 174 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 314. <?page no="681"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 665 Wie sieht nun Luhmanns Beobachtung von Habermasʼ Position und des von ihr ausgehenden Diskurses aus? Die knappe Antwort kann lauten: Sie wird durch die Dominantsetzung der eigenen Relevanzkriterien und der von ihnen gesteuerten diskursiven Verfahren und Argumentationen gekennzeichnet. Insofern setzt sie eine philosophische Tradition fort, die darin besteht, die eigene Partikularität der kritisierten Partikularität vorzuordnen. Gleich am Anfang von Luhmanns „Entgegnung“ auf Habermas heißt es: „Ich verwende die Optik der Systemtheorie auch in diesem Versuch, bleibe also in dem von mir artikulierten Denkzusammenhang.“ 175 Diese Perspektive wird in Protest durch die Abwertung der gegnerischen Relevanzkriterien und die indirekte Dominantsetzung der eigenen Relevanzen konkretisiert: „Die Differenz zwischen System und Lebenswelt ist mir einfach zu grob. Sie wird den Möglichkeiten der Systemtheorie nicht gerecht. Das geht auch vom Lebensweltbegriff her nicht. Es ist ganz unmöglich zu sagen, ein System operiere außerhalb der Lebenswelt. Es ist doch Alltag überall, in jeder Bürokratie, in jeder Börse, bei jedem Aktionskauf.“ 176 (Hier zeigt sich, wie problematisch die Metapher „Entkoppelung der Systeme von der Lebenswelt“ ist, zumal diese Systeme - nach Habermas - die Lebenswelt „kolonisieren“.) Dazu zwei Anmerkungen: Habermas könnte erwidern, dass er System(e) und Lebenswelt keineswegs trennt, weil er auf verschiedenen Ebenen ausführlich die „Kolonisierung der Lebenswelt“ beschreibt, also Interferenzen zwischen den beiden Bereichen voraussetzt. Wenn jemand Kolonialherren und Kolonisierte unterscheidet, deutet er damit nicht an, dass er die beiden Gruppen trennt, sondern setzt im Gegenteil Interaktion und Interferenz voraus. Es ist auch merkwürdig, dass der Trennungsdenker Luhmann, der gern von „geschlossen operierenden autopoietischen Systemen“ spricht, diese Systeme nun den direkten Einwirkungen des Alltags („Systeme sind doch überall“, könnte man ihn paraphrasieren) öffnet. Seinem Versuch, Habermasʼ Relevanzkriterien (System(e) / Lebenswelt) durch die der Systemtheorie (System / Umwelt) zu ersetzen, folgt eine systematische Unterordnung von Habermasʼ Gesellschaftstheorie unter den systemtheoretischen Diskurs. Abermals geht es hier um die diskurssemiotische Machtfrage, die schon im dritten Kapitel aufgeworfen wurde: Wer stellt wen dar, wer umfasst wen? Luhmann wendet gegen Habermas ein, dass es nicht möglich sei, „gesellschaftliche Evolution auf soziale Konflikte als Ursache zurückzu- 175 N. Luhmann, „Systemtheoretische Argumentationen“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, op. cit., S. 291. 176 N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (Hrsg. K.-U. Hellmann), Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 71. <?page no="682"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 666 führen“ 177 , und meint wohl den strukturierenden Konflikt zwischen den Systemen „Geld“ und „Macht“ einerseits und der „Lebenswelt“ andererseits. Er stellt auch Habermasʼ sekundären Gegensatz Herrschaft (der Systeme) / Emanzipation (durch die Lebenswelt) in Frage. Anschließend wird der Maßstab der Systemtheorie an Habermasʼ Variante der Kritischen Theorie angelegt: „Diese Zentralstellung des Emanzipationsproblems ist systemtheoretisch natürlich nicht nachkonstruierbar; die evolutionären Bedingungen des modernen personalen Individualismus und des Abbaus von Statusvorgaben für elementare Kontakte sind es sehr wohl. Diese Phänomene sind als Folgeerscheinungen zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung oft genug analysiert worden.“ 178 Es folgen eher ideologische als theoretisch-empirische Bemerkungen, die darauf hinauslaufen, dass das Streben nach „Emanzipation“ eigentlich überflüssig ist, weil Gesellschaft gegenwärtig „weit mehr Raum für Personalität bereitstellt, als psychisch ausfüllbar ist“. 179 Dabei wird etwa die drastisch eingeschränkte Freiheit von Touristen übersehen, die von einem event zum anderen transportiert werden, wobei von ihnen erwartet wird, dass sie sich (nie unentgeltlich) an den absurdesten Ritualen beteiligen, die zwecks Gewinnmaximierung die Programme füllen. Ein weiteres Beispiel ist die reglementierte Universität, in der die Freiräume in Studium, Lehre und Forschung immer stärker eingeschränkt werden - u.a. durch Quantifizierung aller Bereiche. 180 Dies sind Beispiele für die „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch „Geld“ als Tauschwert und die ihm entsprechenden Organisationsformen. Einem Argument, das Luhmann in einer Fußnote gegen Habermas vorbringt, wird man sich jedoch nicht verschließen wollen. Es betrifft die konkreten Maßnahmen, die das Streben nach Emanzipation erfordern würde: „Und im Übrigen: wieviel Handlung wäre erforderlich, um eine herrschafts- und handlungsfreie Sphäre diskursiver Kommunikation herzustellen! oder gar Gesellschaft diskursiv zu emanzipieren! “ 181 Dies ist tatsächlich ein Problem: Marx konnte auf die geballte Macht des revolutionären Proletariats hinweisen; aber welche gesellschaftliche Kraft soll für Emanzipation im Sinne von Habermas sorgen? Dazu bemerkt Luhmann: „Auch Habermas braucht einen nicht an die diskursiven Bedingungen gebundenen zweiten Wahrheitsbegriff - oder 177 N. Luhmann, „Systemtheoretische Argumentationen“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, op. cit., S. 374. 178 Ibid., S. 375. 179 Ibid. 180 Vgl. M. Osterloh, B. S. Frey, „Absurde Mess-Manie. Der fragwürdige Impact des Impact- Faktors“, in: Forschung und Lehre 10, 2017, S. 876-878. 181 N. Luhmann, „Systemtheoretische Argumentation“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie des Gesellschaft, op. cit., S. 391. <?page no="683"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 667 Macht für die Ausführung des erreichten Konsenses“ 182 , der nach Luhmann aufgrund der Heterogenität und „Kontextualität“ der Sprachen ohnehin nicht zu erreichen ist. Die von ihm vorgeschlagene Alternative liegt, wie nicht anders zu erwarten war, im Bereich der Systemtheorie. Die Zunahme gesellschaftlicher Komplexität, meint er, erfordere die Unterbringung der Wahrheitssuche im „Handlungssystem Wissenschaft“: „Im Kontext des Wissenschaftssystems wird der Erlebnisbezug von Wahrheit rekonstruiert als Forderung entsprechender Komplexität theoretischer Strukturen und Methoden des Forschungshandelns.“ 183 In diesem Kontext, könnte Habermas einwenden, werde der gesellschaftskritischen Wahrheitssuche die Spitze abgebrochen und der Nexus von Wahrheit und Emanzipation gelöst. Denn durch die Verbannung von Kritik und Wahrheit ins System werde „die Selbstreflexion der Wissenschaften“, die Habermas in Der philosophische Diskurs der moderne Adorno und Horkheimer gegenüber geltend macht und die „über die Erzeugung technisch verwertbaren Wissens immer wieder hinaustreibt“ 184 , dem technischen Erkenntnisinteresse unterworfen. Tatsächlich gerät das Wissenschaftssystem immer stärker unter die Imperative des Utilitarismus, der Quantifizierung und der empirisch-technischen Relevanz, so dass kritische Reflexion im philosophischen Sinne an die Peripherie seines Geschehens abgedrängt wird. In diesem Kontext könnte Habermas an seine im vorigen Kapitel kommentierte Argumentation anknüpfen und Luhmann eine Einengung des Wahrheitsbegriffs auf instrumentelle Vernunft und „Sozialtechnologie“ vorwerfen. Darauf könnte Luhmann freilich mit der Frage reagieren, warum denn gesellschaftskritisches Denken im Wissenschaftssystem nicht möglich sein sollte. An dieser Stelle könnte eine dritte Instanz als Beobachterin dritten Grades beide Denker bitten, ihre abstrakten Argumentationen durch empirische Forschung - etwa im Wissenschaftsbereich - zu veranschaulichen und zu untermauern. Zusammenfassung und Ausblick: Wie Luhmann geht Habermas als spätmoderner Kritiker der Postmoderne vom Begriff der sozialen Differenzierung aus, in der er ein Merkmal der Moderne erkennt. Er stellt den Prozess der Differenzierung jedoch im Rahmen eines anderen semantischen Gegensatzes dar als Luhmann: Während Luhmann seinem Diskurs den Gegensatz System / Umwelt zugrunde legt, geht Habermas vom Gegensatz System(e) / 182 Ibid., S. 396. 183 Ibid., S. 398. 184 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, op. cit., S. 138. <?page no="684"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 668 Lebenswelt aus. Dadurch entsteht eine andere Erzählung der Gesellschaft, in der die Systeme „Macht“ (Politik) und „Geld“ (Wirtschaft) die „Lebenswelt“ bedrohen, die sich mit Hilfe der „kommunikativen Vernunft“ gegen ihre „Kolonialisierung“ zur Wehr setzt. An die Stelle von Luhmanns Erzählung der sozialen Ausdifferenzierung tritt die Erzählung „Kampf um die Lebenswelt“, in der die „kommunikativ Handelnden“ (als Subjekte und Fokalisatoren) mit Hilfe der „kommunikativen Vernunft“ (Hauptmodalität) versuchen, ihre Lebenswelt (umkämpfter Objekt-Aktant) gegen die „Systeme Macht und Geld“ (Antisubjekte) zu verteidigen. Im Rahmen dieser Primärerzählung ist Habermas Sekundärerzählung „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zu verstehen, in der gezeigt wird, wie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die liberal-bürgerliche Öffentlichkeit einer von „Macht“ und „Geld“ dominierten massenmedialen Öffentlichkeit weicht, in der die demokratische Kontrolle der Kommunikation erheblich erschwert wird. Zugleich stellt Habermas eine „Desintegration der Wählerschaft als Publikum“ fest. Sein Plädoyer für die „kommunikative Vernunft“ kann im Anschluss an Horkheimers und Adornos Kritik der „instrumentellen Vernunft“ verstanden werden, die er mit dem „technischen Erkenntnisinteresse“ verknüpft. Als gesellschaftskritische Alternativen zu diesem auf Naturbeherrschung zielenden Interesse schlägt er - in Übereinstimmung mit Max Scheler - das auf Verständigung ausgerichtete „praktische“ („Bildungswissen“, Scheler) und das auf Befreiung ausgerichtete „emanzipatorische Erkenntnisinteresse“ („Erlösungswissen“ Scheler) vor. Diese beiden Erkenntnisinteressen zielen auf Verständigung, deren Möglichkeiten Habermas in seinem Hauptwerk, der Theorie des kommunikativen Handelns, untersucht. Anders als Adorno und Horkheimer, die vom Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt ausgehen, legt Habermas seiner Theorie das Konzept der Intersubjektivität zugrunde. Sie ist auf Verständigung ausgerichtet und hat die Vorstellung von einer „intersubjektiv geteilten Lebenswelt“ zur Grundalge, die eine Konsenssuche begünstigt, welche Habermas mit Parsons verbindet. Die hier vorgebrachte Kritik an Habermas gibt zu bedenken, dass jede Art von Intersubjektivität kommunizierende Subjekte voraussetzt, die in bestimmten Soziolekten und Diskursen sozialisiert (zu Subjekten gemacht) wurden, aus denen sie nicht heraustreten können, ohne ihre Subjektivität aufzugeben. Dadurch werden Heterogenität und Dissens als kritische Kontrollfunktionen in die Kommunikationssituation wieder eingeführt, die nicht - wie bei Habermas - als eine auf lebensweltlicher und sprachlicher Homogenität gründende „ideale Sprechsituation“ vorstellbar ist. Daher wird der Vorschlag gemacht, stets von der „realen Sprechsituation“ auszugehen. Wie in seiner Kritik der „Systeme Macht und Geld“ geht Habermas auch in seinen Repliken auf den Kritischen Rationalismus Poppers und Hans Alberts und auf Luhmanns Systemtheorie von einer Kritik der „instrumentellen Vernunft“, dem „technischen Erkenntnisinteresse“, aus. Sowohl den kritischen Rationalisten als <?page no="685"?> Habermas’ Alternative zur Systemtheorie 669 auch Luhmann wirft er vor, nur diese Art von instrumentellem oder technischem Erkenntnismodus anzuerkennen, der den gesellschaftlichen „Gesamtzusammenhang“ unberücksichtigt lässt. Während Hans Albert Habermas Plädoyer für eine totale Erkenntnis in die Nähe des marxistisch-leninistischen Totalitarismus rückt, gibt Luhmann zu bedenken, dass in einer ausdifferenzierten Gesellschaft eine Gesamtdarstellung kaum mehr möglich ist. Touraines Antwort auf Marxismus, Habermas und Luhmann, die Gegenstand des nächsten Kapitels ist, gipfelt in einer Aktualisierung des Subjekt-Begriffs, der sich sowohl auf das Individuum als auch auf die Bewegung als Kollektiv bezieht. <?page no="687"?> 671 XVII. Subjekt, Handlung und Bewegung, postindustrielle Gesellschaft und das „Ende der Gesellschaften“: Alain Touraines Handlungssoziologie als Antwort auf Marxismus, Habermas und die Systemtheorie Inhaltsverzeichnis 1. Handlungssoziologie als Antwort auf Marxismus und Systemtheorie: Nähe zu Habermas 2. Subjekt, Handlung und soziale Bewegung: Touraines Aktantenmodell 3. Postindustrielle Gesellschaft und „das Ende der Gesellschaften“: Touraines Stellung zwischen Moderne und Postmoderne 4. Eine engagierte Soziologie: Intervention statt Wertfreiheit? 5. Soziale Bewegung: Otthein Rammstedts, Michel Croziers und Niklas Luhmanns Antworten auf Touraine Alain Touraines Soziologie der individuellen und kollektiven Subjektivität, des Handelns und der Akteure distanziert sich kritisch-polemisch von den Systemtheorien Parsonsʼ und Luhmanns, denen sie eine Reduktion des Handelns auf Systemfunktionen vorwirft. Sie überschneidet sich in wesentlichen Punkten mit der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, weil sie die nach Freiheit strebenden Subjekte den Systemen „Macht“ und „Geld“ gegenüberstellt (vgl. Abschn. 1). Von Habermasʼ Ansatz unterscheidet sie sich wesentlich dadurch, dass sie in ihrer neuesten Phase den Kampf um die Lebenswelt durch einen Kampf für die Durchsetzung subjektiver Rechte als „Menschenrechte“ ersetzt. Dadurch kommt es zu einer Modifizierung der soziologischen Erzählung als Aktantenmodell (vgl. Abschn. 2 und 3). Innerhalb der gesamtsoziologischen Entwicklung steht Touraine als Handlungssoziologe, der den Sinn verstehen will, mit dem Akteure ihre Handlungen versehen, Max Webers verstehender Soziologie wesentlich näher als Durkheims systematischer Gesellschaftstheorie des Kollektivbewusstseins und der Arbeitsteilung, die das Handeln dem sozialen Entwicklungsprozess unterordnet. Anders als Weber knüpft er jedoch an Marxʼ Klassentheorie an, indem er Klassen und soziale Bewegungen als Kollektivsubjekte auftreten lässt, deren Handeln darauf abzielt, die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung zu beeinflussen oder zu ändern. Von Marx erbt er auch das politische Engagement, das im Entwurf einer intervenierenden Soziologie gipfelt, die soziale Bewegungen nicht nur „verstehend erklären“ (M. Weber), sondern ihnen auch mit Rat und Tat beistehen will. <?page no="688"?> Touraines Handlungssoziologie 672 Dadurch desavouiert er Webers Forderung nach Werturteilsfreiheit (vgl. Abschn. 4). Von Marx weicht er als Soziologe der Subjektivität und des Handelns ab, weil er - wie Habermas - den von den Naturwissenschaften geerbten Szientismus und Determinismus der Marxschen Lehre ablehnt und dabei die Entscheidungsfreiheit individueller und kollektiver Subjekte hervorhebt (vgl. Abschn. 1). Es wird sich zeigen, dass sein Freiheitsbegriff, den er im Zusammenhang mit den Handlungsspielräumen der Akteure immer wieder geltend macht, dem Freiheitsbegriff von Jean-Paul Sartres Existenzphilosophie gar nicht unähnlich ist. Tatsächlich verweist Touraine des Öfteren auf seine frühen Erfahrungen mit dieser Philosophie, die in der französischen Nachkriegszeit intensiv rezipiert und diskutiert wurde. Diese Kurzdarstellung von Touraines Position im philosophisch-soziologischen Koordinatensystem kann nun in aller Knappheit durch Hinweise auf seine Biografie und seinen wissenschaftlichen Werdegang konkretisiert werden. Touraine wurde 1925 in Hermanville-sur-Mer (Dépt. Calvados, Normandie) geboren, katholisch erzogen und studierte von 1945 bis 1947 an der Ecole Normale Supérieure. Er war von 1952 bis 1953 Rockefeller-Stipendiat an der Harvard-Universität, wo er auch an den Veranstaltungen von Talcott Parsons teilnahm, dessen systematischen Funktionalismus er von Anfang an ablehnte (vgl. Abschn. 1). Im Gegenzug begründete er eine aktionistische Soziologie (sociologie oder analyse actionnaliste) 1 , die er auch in den Institutionen verankerte. Als Studiendirektor (Directeur d’études) an der EHESS (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, VI e section) gründete er nach jahrelanger, intensiver Tätigkeit im Bereich der Arbeitssoziologie ein Zentrum für die Erforschung sozialer Bewegungen (Centre d’étude des mouvements sociaux, 1970), später (1981) das CADIS (Centre d’analyse et d’intervention sociologiques). Als Handlungssoziologe, der jeglichen Determinismus ablehnt und individuelle Handlungsfreiheit in den Vordergrund stellt, lehnt Touraine zwar den historischen Materialismus ab, macht jedoch aus seiner Sympathie für engagierte Marxisten kein Hehl: „Aber ich werde noch mehr von den Konservativen an der Universität angegriffen. Und ich, der ich kein Marxist bin, ermutige und unterstütze im Rahmen meiner Möglichkeiten die mehrheitlich marxistischen Forscher.“ 2 Dieser Positionierung in der Universitätswelt entspricht Touraines Selbstdarstellung in der politischen Landschaft Frankreichs, wo er sich im Jahre 2016 als Vertreter der „moralischen Linken“ präsentiert: „Auf der anderen Seite stehen die, die an dem Gedanken an eine moralische Linke 1 Vgl. A. Lebel, Alain Touraine. Sociologie de l’action. Pour une sociologie des mouvements sociaux, Paris, Ellipses, 2012, S. 44-48. 2 A. Touraine, La Société invisible. Regards 1974-1976, Paris, Seuil, 1977, S. 79. <?page no="689"?> Touraines Handlungssoziologie 673 festhalten, den Pierre Mendès France, Jacques Delors oder Michel Rocard verkörpern. Zu ihnen zählen auch der leider schon verstorbene Claude Lefort und Edgar Morin, der glücklicherweise noch sehr gegenwärtig ist. Ich gehöre dieser Tradition an.“ 3 Subjektivität, soziales Handeln, Gesellschaftskritik. - Die aus diesen Kernbegriffen hervorgehende Frage lautet: Wie kann, soll eine kritische Soziologie beschaffen sein, die sich vornimmt, bessere soziale Verhältnisse herbeizuführen, ohne sich auf Marx revolutionäres Proletariat oder die Arbeiterbewegung des Industriezeitalters verlassen zu können? Dieser Frage geht Touraine in einer Gesellschaft nach, die er gemeinsam mit Daniel Bell als postindustrielle Gesellschaft (société post industrielle, post in dustrial society) 4 bezeichnet. In dieser Gesellschaft, von der im dritten Abschnitt ausführlich die Rede sein wird, sind revolutionäre Veränderungen im Sinne von Marx nicht mehr zu erwarten - auch nicht Veränderungen im Sinne der frühen Sozialdemokratie der 1920er und 30er Jahre. Vor diesem Hintergrund erscheint die Arbeiter- und Studentenrevolte des Jahres 1968 als ein Wendepunkt in Touraines Leben, der auch eine theoretische Wende bewirkte: von der Arbeiterbewegung zu den neunen - kulturellen - Bewegungen, deren Erstarken die gesellschaftliche Entwicklung nach 1968 prägte. Das Jahr 1968 zwingt nicht nur Denker wie Jean- François Lyotard, Jean Baudrillard und Herbert Marcuse, sondern auch Alain Touraine zum Umdenken: Soziale Bewegungen, Proteste und Bürgerinitiativen weisen neue Wege und führen dazu, dass sich gesellschaftskritisches Denken immer öfter vom revolutionären Proletariat, von Marxismus und Sozialismus verabschiedet. 5 Es hält Ausschau nach neuen Akteuren, denen es eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft zutraut: nach ökologischen Bewegungen, nach Frauenbewegungen oder Friedensbewegungen. Freilich hat dieses Denken vorwiegend defensiven, nicht offensiv-revolutionären Charakter: Es geht eher darum, das Schlimmste (die Umweltkatastrophe, den Atomkrieg oder die Epidemie) zu verhüten, als hehre Ziele im Sinne von Marx, Comte oder Spencer anzupeilen. Von diesen Zielen und dem sie rechtfertigenden Fortschrittsglauben der Moderne distanziert sich Touraine wie alle anderen Vertreter der soziologischen Spätmoderne. Wie Habermas, dessen Hauptanliegen der Schutz der Lebenswelt gegen die Systeme „Geld“ und „Macht“ ist, nimmt sich Touraine vor, Subjekt, Subjek- 3 A. Touraine, Le Nouveau siècle politique, Paris, Seuil, 2016, S. 189. 4 Vgl. A. Touraine, La Société post industrielle, Paris, Denoël, 1969 und D. Bell, The Com ing of Post Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York, Basic Books, 1973. 5 Vgl. A. Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Köln-Wien, Europäische Verlagsanstalt, 1980. <?page no="690"?> Touraines Handlungssoziologie 674 tivität und subjektive Rechte (als „Menschenrechte“) gegen die übermächtigen Systeme des „Geldes“ und der politischen, staatlichen „Macht“ zu verteidigen. Seine engagierte, „interventionistische“ Soziologie ist für die Darstellung im Rahmen eines Aktantenmodells geradezu prädestiniert. Denn ihr liegt eine vom Katholizismus geprägte individualistische Ideologie zugrunde, in deren Rahmen ein polemisches Verhältnis zwischen dem (individuellen) Subjekt einerseits und den wirtschaftlichen und politischen Mächten andererseits konstruiert wird. Einem Soziologen wie Max Weber wären die ideologischen Interferenzen in Touraines Diskurs sicherlich ein Dorn im Auge, und Norbert Elias würde Touraine möglicherweise vorwerfen, er habe die wissenschaftliche Distanzierung dem ideologischen Engagement geopfert (vgl. Kap. I. 2-6 und Kap. XIII). Indessen zeigt seine Soziologie der Intervention, dass die Frage nach der richtigen Gesellschaft, die Adorno und Horkheimer zur Kernfrage erheben, der soziologischen Theorie keine Ruhe lässt und sie immer stärker zum Engagement drängt, je klarer sich die Konturen einer möglichen Katastrophe abzeichnen. 1. Handlungssoziologie als Antwort auf Marxismus und Systemtheorie: Nähe zu Habermas Wie die meisten anderen soziologischen Theorien kann auch die Touraines am ehesten als Auseinandersetzung mit älteren und neueren philosophischen und soziologischen Diskursen konkret verstanden werden, von denen sie zehrt oder sich kritisch-polemisch distanziert. Dabei entfaltet sie sich als Theorie, als Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung. Hier gilt, was Julia Kristeva in einem Kommentar zu Michail M. Bachtin über den Prozess der Intertextualität schreibt, der stets ein dialogischer Prozess ist: „Bachtin stellt den Text in den Zusammenhang der Geschichte und der Gesellschaft, die selbst als Texte betrachtet werden, die der Schriftsteller liest, in denen er aufgeht, indem er sie umschreibt.“ 6 Was für den Schriftsteller gilt, gilt auch für den Soziologen, der seinen theoretischen Diskurs konstruiert, indem er mit Zustimmung oder polemisch-kritisch auf andere - nicht nur soziologische, sondern auch philosophische, ideologische und literarische - Diskurse reagiert und sie in seinen eigenen Diskurs eingehen lässt. Dabei setzt er sie für seine Zwecke ein und gestaltet sie entsprechend um. Der Ausdruck „für seine Zwecke“ deutet an, dass es hier nicht um ein interesseloses Spiel mit Texten geht, sondern dass in die textuelle Umgestaltung gesellschaftliche Interessen eingehen, welche 6 J. Kristeva, Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969, S. 144. <?page no="691"?> Touraines Handlungssoziologie 675 für die Struktur des Aktantenmodells und der gesamten Erzählung entscheidend sind. Chronologisch betrachtet bildet Touraine seinen Diskurs, der in den frühen Phasen seiner Entwicklung vom Klassenbegriff und der Rolle der Arbeiterbewegung ausging, zunächst in einer kritischen Auseinandersetzung mit Marx. Er wirft Marx und dem Marxismus vor, die Akteure und ihre Handlungen aus dem Blickfeld zu verlieren, das schon beim späten Marx vom Evolutionsprozess des Gesellschaftssystems beherrscht wird: „Das ist es, was ein bestimmter Marxismus, der historisch dominant war, uns lehren wollte: Verhaltensmuster verstehen bedeutet, sie einer Logik unterwerfen, die nicht die der Akteure ist, sondern die positive oder negative des Gesellschafts- und vor allem des Wirtschaftssystems.“ 7 In Critique de la modernité (1992) behauptet Touraine, die Marxisten hätten kaum jemals eine Theorie des „kollektiven Handelns“ 8 entworfen, und kritisiert Georg Lukács, der seiner Meinung nach das Handeln des Proletariats der „historischen Notwendigkeit“ 9 unterwirft: „Das Proletariat hingegen entwickelt ein Klassenbewusstsein, das aus Lukácsʼ Sicht keine Klassensubjektivität ist, sondern deren Gegenteil: die Identifikation seiner Interessen mit der historischen Notwendigkeit.“ 10 Schließlich, meint Touraine (nicht zu Unrecht) 11 , werde das revolutionäre Klassenbewusstsein bei Lukács von der „revolutionären Partei“ usurpiert. Dadurch werde die Arbeiterschaft als revolutionäre Bewegung entmündigt (vgl. Kap. IV. 4). Die Tatsache, dass wir es mit einer deterministischen Deutung des Marxschen Werks und des Marxismus insgesamt zu tun haben, die sicherlich nicht konsensfähig ist 12 , soll hier nicht vom Hauptargument ablenken, das 7 A. Touraine, F. Khosrokhavar, La Recherche de soi. Dialogue sur le Sujet, Paris, Fayard, 2000, S. 250. 8 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 103. 9 Ibid. 10 Ibid. 11 Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 480: „Dieser bewußte Gesamtwille ist die kommunistische Partei.“ Von ihr heißt es etwas später (S. 498), sie sei „zuweilen gezwungen, gegen die Massen Stellung zu nehmen; ihnen den richtigen Weg durch Negation ihres gegenwärtigen Wollens zu zeigen“. So wird in dieser ideologisch-theoretischen Erzählung die „Diktatur des Proletariats“ durch die der Partei abgelöst. Denn: Wer definiert den „richtigen Weg“? Seine Richtung wird wie immer in einer Erzählung festgelegt: in diesem Fall in der Erzählung des Parteipräsidiums oder Politbüros. 12 Vgl. A. Schaff, Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, Frankfurt, Fischer, 1966, S. 82: „Die Existenz der objektiven Gesetze der Geschichte und der Notwendigkeit der historischen Prozesse eliminiert also weder die Tätigkeit der Menschen, noch tut sie ihrer Freiheit Abbruch.“ Hier tritt die Einseitigkeit von Touraines Marx-Deutung zutage. Freilich ist auch Schaffs Rekonstruktion der Marxschen Lehre <?page no="692"?> Touraines Handlungssoziologie 676 lautet: Touraine entwickelt seine Theorie, indem er Marx und den Marxismus einseitig-deterministisch liest, um die Entscheidungsfreiheit individueller und kollektiver Subjekte (der Bewegungen) in seinem Diskurs umso klarer hervortreten lassen zu können. Das ist es auch, was Bachtin und Kristeva mit Intertextualität meinen: Der im eigenen Diskurs verarbeitete Text dient oftmals als Kontrastfolie zur Rechtfertigung und Verdeutlichung der eigenen Position. Zu einer intertextuellen Kontrastfolie ganz anderer Art wird in Touraines Diskurs die funktionalistische Systemtheorie von Talcott Parsons. Man meinst fast, eine ödipale Reaktion vor sich zu haben, wenn Touraine über seine Einstellung zu Parsons schreibt: „Fünfzehn Jahre lang war meine Gegnerschaft ihm gegenüber eine Obsession; ich hatte Lust, mich in sein Werk zu vertiefen, um das Gegenteil denken zu können. Mein Antifunktionalismus ging zum Teil aus meinem Widerstand gegen die amerikanische intellektuelle Hegemonie der Nachkriegszeit hervor, im Wesentlichen aber aus meinem Temperament und meiner intellektuellen Erfahrung.“ 13 Zu dieser Erfahrung gehört nicht nur die Nähe zur marxistischen Gesellschaftskritik, sondern auch der institutionsfeindliche Existenzialismus Sartres und vor allem die anarchistische Tendenz, die das französische Kulturleben nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu dem für Touraine so wichtigen Mai 68 beherrschte. 14 Mit welchen Argumenten distanziert sich Touraine von Parsonsʼ Funktionalismus, und wie sieht seine Alternative aus? Touraine vereinfacht abermals, wenn er zu Parsonsʼ Soziologie bemerkt: „Als Parsons eine groß angelegte allgemeine Theorie des Handelns entwickelte, nannte er Handlung das Funktionieren eines Sozialsystems, das in den modernen Gesellschaften von der Rationalität beherrscht wird.“ 15 Diese Kurzdarstellung ist bestenfalls auf Parsonsʼ The Social System (1951) anwendbar - und auch nur dann, wenn man bereit ist, Vereinfachungen und Verkürzungen in Kauf zu nehmen: denn auch in Parsonsʼ zweitem Hauptwerk spielt individuelles Handeln eine wichtige Rolle. Auf Parsonsʼ erstes großes Werk - The Structure of Social Action (1937) - trifft sie überhaupt nicht zu, weil in diesem zweibändigen Werk individuelles Handeln in einer voluntaristic theory of action (vgl. Kap. XIV. 1) zentral ist. Der „Voluntarismus“ dieser Theorie besteht darin, dass der Aktor stets die Möglichkeit hat, im Spannungsfeld von Utilitarismus und Moral Zwecknicht „objektiv“, weil sie sich eher auf die für die Existenzialismus-Debatte relevanten Frühschriften als auf Das Kapital stützt. 13 A. Touraine, F. Khosrokhavar, La Recherche de soi, op. cit., S. 54. 14 Vgl. P. Ansart, Naissance de l’anarchisme. Esquisse d’une explication sociologique du proudhonisme, Paris, PUF, 1970. 15 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 332. <?page no="693"?> Touraines Handlungssoziologie 677 rationalität und Wertrationalität gegeneinander abzuwägen, und dass diese Möglichkeit ein Aspekt seines freien Willens ist, der auch in Parsons Buch Actor, Situation and Normative Patterns (1939) im Vordergrund steht. Diese Freiheit des Willens ist genau das, worauf Touraines eigene Handlungstheorie ausgerichtet ist. Sie wird in einem neueren Werk - Nous, su jets humains (2015) - in ihrer Entwicklung wie folgt charakterisiert: „Ich habe immer von Akteuren gesprochen. Mein erstes theoretisches Buch trägt den Titel Sociologie de l’action [dt. 1974, Soziologie als Handlungswis senschaft]. Während meines ganzen ersten Lebensabschnitts (…) habe ich verlangt, dass man meine Soziologie als aktionistisch (actionnaliste) bezeichnet, um sie dem herrschenden Strukturfunktionalismus entgegenzusetzen.“ 16 Auch hier wird deutlich, dass eine grob vereinfachte Systemtheorie (vor allem die Parsons ) Touraine als intertextuelle Kontrastfolie dient, von der sich seine eigene Handlungssoziologie abheben soll. In dieses Kontrastierungsverfahren wird auch Niklas Luhmann einbezogen, der allerdings durchgehend mit nur einem „n“ geschrieben wird und in der Bibliografie nicht vorkommt. Er tritt malgré lui als postmoderner Soziologe auf: „Der Postmodernismus behauptet die vollständige Trennung von System und Akteur: Das System ist autoreferentiell, autopoietisch, sagt Luhman [sic! ] (…).“ 17 Dieses Kontrastierungsverfahren ist insofern erfolgreich, als es Touraine erlaubt, stärker als Parsons (und natürlich Luhmann) die Freiheit individueller und kollektiver Akteure hervortreten zu lassen und diese Akteure gleichzeitig - ähnlich wie Habermas, aber im Gegensatz zu Parsons - den Systemen (Aktanten) „Geld“ und „Macht“ gegenüberzustellen. Zugleich spricht er ähnlich wie Parsons (vor allem in Pour la sociologie, 1974) von „Handlungssystemen“ („systèmes d’action“) 18 , „Aktorensystemen“ („systèmes d’acteurs“) und „Entscheidungssystemen“ („systèmes de décision“). 19 Die Bedeutung des Systembegriffs, der kaum jemals definiert wird, nimmt in seinen späteren Publikationen im Kontext der Handlungssoziologie zusehends ab, während der Subjektbegriff, vor allem in seinem späteren Hauptwerk La Fin des sociétés (2013) und in Nous, Sujets humains (2015), ins Zentrum der Theorie rückt. In diesem Kontext formuliert Touraine sein theoretisches Programm als „neues Paradigma“ im Gegensatz zu Parsons Systemtheorie: „Die Sozio- 16 A. Touraine, Nous, Sujets humains, Paris, Seuil, 2015, S. 179. 17 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 290. 18 A. Touraine, Pour la sociologie, Paris, Seuil, 1974, S. 39. 19 Ibid., S. 108. <?page no="694"?> Touraines Handlungssoziologie 678 logie der Systeme soll einer Soziologie der Akteure und Subjekte weichen.“ 20 Zu Recht bemerkt Pierre Ansart, dass dieses Programm von Max Webers verstehender Soziologie ausgeht, die „den Sinn“ 21 zum Gegenstand hat, den Akteure ihrem Handeln geben. Obwohl der Systembegriff für die Erklärung sozialen Handelns in Touraines Spätwerk kaum herangezogen wird, wird er weiterhin den Begriffen „Subjekt“, „Akteur“ und „Bewegung“ entgegengesetzt und wie bei Habermas mit negativen Konnotationen befrachtet. Im nächsten Abschnitt soll deutlich werden, dass sich Touraines Modell stark mit dem von Habermas konstruierten überschneidet, jedoch die für Habermas so wichtigen Begriffe „Lebenswelt“, „Intersubjektivität“ und „kommunikatives Handeln“ vemissen lässt. An diesen Begriffen stört Touraine (wohl zu Recht) ihre Nähe zu Parsonsʼ Konsensideologie, die dort Homogenität postuliert, wo Heterogenität herrscht. Dies ist wohl der Grund, weshalb Touraine den Lebensweltbegriff, auf dessen Entwicklung von Husserl bis Alfred Schütz 22 er allerdings nicht eingeht, ablehnt, wenn er im Zusammenhang mit Habermas von den „klassischen Ideen von Gesellschaft und Kultur“ spricht, die Habermas mit dem Begriff der „Lebenswelt wieder einführt“. 23 In diesem Kontext spielt er auch den von Habermas kritisierten Subjektbegriff gegen die Begriffe „Intersubjektivität“ und „Kommunikation“ aus: „Das Subjekt ist es, nicht das Intersubjektive, die Selbstproduktion, nicht die Kommunikation, die die Grundlage der Staatsbürgerschaft (citoyenneté) bilden und die Demokratie mit einem positiven Inhalt füllen.“ 24 Diese Kritik an Habermas ist dürftig, weil eine Auseinandersetzung mit seiner Subjektkritik, die die intersubjektive und kommunikative Wende begründet, fehlt und weil lebensweltliche Kommunikation als Alternative zur wirtschaftlichen und politischen (sprachlosen) Machtausübung gar nicht diskutiert wird. So wird das sprachliche und sprachkritische Moment, das für Habermasʼ Gesellschaftstheorie konstitutiv ist, schlicht übergangen. Touraines Auseinandersetzung mit Marxismus, Systemtheorie und der Theorie des kommunikativen Handelns ist zwar ein intertextueller Prozess, in dem deutlich wird, wie sehr sich eine Theorie in einer besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation dialogisch-polemisch bildet; 20 A. Touraine, Un Nouveau paradigme. Pour comprendre le monde aujourd’hui, Paris, Fayard, 2005, S. 100. 21 P. Ansart, Les Sociologies contemporaines, Paris, Seuil, 1990, S. 56. 22 Vgl. A. Schütz, „Strukturen der Lebenswelt“, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag, Nijhoff, 1971, S. 153-170. 23 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 391. 24 Ibid. <?page no="695"?> Touraines Handlungssoziologie 679 aber sie ist kein genuiner Dialog. Im theoretischen Dialog wird Kritik keineswegs unterdrückt, aber sie erscheint nur dann als sinnvoll und ergiebig, wenn die kritisierten Diskurse nicht nur mit ihren Schwächen, sondern auch mit ihren Stärken und in ihrer Vielseitigkeit dargestellt werden. Interessant ist nur ein Dialog, in dem auch das theoretische Potenzial und die Aktualität der kritisierten soziologischen (wissenschaftlichen) Diskurse zutage treten. Zu den Problemen soziologischer Diskussionen (nicht nur des „Positivismusstreits“: vgl. Kap. XVI. 6) gehören Versuche der Gesprächspartner, einander aus psychologischen, ideologischen oder institutionellen Gründen auf theoretischer Ebene zu karikieren und anschließend auf die Karikatur mit Pseudoargumenten einzuschlagen. Es ist schlimm genug, dass das ideologische Engagement in vielen Fällen wissenschaftliche Verständigung behindert; aber es sollte wenigstens jederzeit versucht werden, die Gegenposition in ihren wesentlichen Aspekten - und möglichst ihrem Selbstverständnis entsprechend - wiederzugeben. Im nächsten Abschnitt wird dieser Versucht gemacht - und zwar so, dass Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Touraines und Habermasʼ Gesellschaftsmodellen deutlich werden. 2. Subjekt, Handlung und soziale Bewegung: Touraines Aktantenmodell Die beiden für die Soziologie so wichtigen Begriffe „Handlung“ und „soziale Bewegung“ sind vom Subjektbegriff ableitbar, weil sie sich auf Aktivitäten individueller und kollektiver Subjekte beziehen und zugleich andeuten, dass „Subjekt“ eine dynamische Instanz ist, die anderen Instanzen Widerstand leistet, indem sie versucht, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Dass „Subjekt“ keine statische, bloß denkende Wesenheit ist wie im deutschen Idealismus (etwa in Kants Satz „Ich denke“), lässt eine Definition Touraines aus den späten 90er Jahren erkennen, die Subjektivität als ein Werden, als Aktivität erscheinen lässt: „Diese Anstrengung des Individuums, Akteur zu werden, nenne ich Subjekt (…).“ 25 Diese Definition bezieht sich auch auf die „soziale Bewegung“ als Kollektivsubjekt. Eine Anstrengung ist stets erforderlich, weil die sozialen Verhältnisse nicht dazu angetan sind, eine spontane Entfaltung des Subjekts zu fördern. Wie Adorno und Horkheimer, wie andere Vertreter der Kritischen Theorie befürchtet Touraine, dass der Einzelne seine Subjektivität an die kulturindustriell verwaltete Gesellschaft verlieren könnte, die kommerzielle Zerstreuungen aller Art bietet und dadurch vom Wesentlichen, von der Frage nach einer besseren, humaneren Welt, ablenkt: „Das Subjekt wird in der 25 A. Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents, Paris, Fayard, 1997, S. 32. <?page no="696"?> Touraines Handlungssoziologie 680 heutigen Welt genauso von der Konsumgesellschaft bedroht, die uns manipuliert, oder von der Suche nach einem Vergnügen, das uns unseren Leidenschaften ausliefert, wie es früher von der Unterwerfung unter das Recht Gottes oder der Gesellschaft bedroht wurde.“ 26 Dieser Satz lässt zweierlei erkennen: Es geht darum, jenseits aller Religionen eine weltliche Moral durchzusetzen. Diese meidet auch Durkheims Vergottung der Gesellschaft, und das weltliche Subjekt als Individuum oder Bewegung wird mit der Durchsetzung der Moral als „Menschlichkeit“ oder „Menschenrecht“ beauftragt. Da das Subjekt in Touraines Diskurs anders als bei Durkheim (vgl. Kap. IX) als Verfechter der „Menschlichkeit“ der Gesellschaft entgegengesetzt wird oder gar als moralische Instanz deren Stelle einnimmt („das Subjekt ersetzt die Gesellschaft in der Definition des Guten“) 27 , liegt die Vermutung nahe, dass sich Touraine ein zur Freiheit verurteiltes Subjekt im Sinne von Sartre vorstellt. Dieses Subjekt beruft sich in seinen Entscheidungen weder auf Gruppenzugehörigkeiten noch auf Ideologien oder Weltanschauungen. Tatsächlich deuten einige Äußerungen Touraines zu Sartres Existenzphilosophie auf eine solche Auffassung der Subjektivität hin. In seinem langen Gespräch mit Farhad Khosrokhavar antwortet Touraine auf die Frage, ob er denn nie von Sartres Philosophie fasziniert war: „Ja, natürlich! Meine Schriften enthalten eine Sartresche Komponente.“ 28 Er erklärt, dass die französischen Intellektuellen und er selbst nach der Befreiung Frankreichs im Jahre 1944 „in einer Welt der Sinnlosigkeit und der Herrschaft von Sartre, dem Philosophen der Freiheit, fasziniert waren“. 29 Später fügt er hinzu: „Anders gesagt, die Sinnlosigkeit schwebt über uns, und der Sinn kann nur erscheinen, wenn wir erkennen, dass wir das Hauptziel unseres Handelns sind.“ 30 Man meint hier, Antoine Roquentin, den Helden von Sartres Erstlingsroman La Nausée (dt. Der Ekel) aus dem Jahr 1938 zu hören. Man wird auch an Sartres Behauptung aus L’Etre et le Néant (1943, dt. Das Sein und das Nichts) erinnert, dass wir es sind, die die Wertskala, nach der wir handeln, ins Leben rufen: „(…) Ich kann mich nicht auf einen Wert berufen angesichts der Tatsache, dass ich es bin, der für das Dasein der Werte bürgt.“ 31 Das Problem, das Touraine von Sartre erbt, besteht darin, dass es keine Werte und auch keine Ethik jenseits der Gesellschaft gibt: Werte wie 26 Ibid., S. 98. 27 A. Touraine, La Fin des sociétés, Paris, Seuil, 2013, S. 453. 28 A. Touraine, F. Khosrokhavar, La Recherche de soi, op. cit., S. 61. 29 Ibid. 30 Ibid., S. 117. 31 J.-P. Sartre, L’Etre et le Néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris, Gallimard, 1943, S. 75. <?page no="697"?> Touraines Handlungssoziologie 681 „Freiheit“, „Gleichheit“ oder „Gerechtigkeit“ sind stets sozial, und „Freiheit“ bedeutet bekanntlich Verschiedenes in verschiedenen Gesellschaften. „Alles ist sozial“, antwortet Bourdieu (im nächsten Kapitel) als Soziologe dem Idealisten Touraine, der Subjekte und ihre Werte jenseits der Gesellschaften ansiedelt. „Die Studie des historischen Subjekts“, bemerkt Touraine in seinem ersten theoretischen Buch Sociologie de l’action (1965, 2000), „ist vor allem eine Soziologie der Freiheit.“ 32 Es fragt sich nur, ob es noch eine Soziologie ist: ob Touraine, der sehr viel später, in La Fin des sociétés (2013), von einer „nachsozialen Situation“ (situation post-sociale“) 33 spricht, nicht dem von ihm verehrten Sartre in einen ontologischen Idealismus folgt. Touraine kehrt zur Soziologie zurück, wenn er das individuelle und kollektive Handeln im Bereich der Historizität (historicité) ortet. Mit Historizität meint er die globale Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung, um die Klassen und historische, auf das gesellschaftliche Ganze zielende Bewegungen (etwa die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung oder ökologische Bewegungen) mit Arbeitgebern oder staatlichen Instanzen kämpfen. Es geht dabei um die Frage, welches Gesellschaftsmodell sich langfristig durchsetzt und von wem, von welcher Klasse oder Bewegung es durchgesetzt wird. Touraine selbst definiert Historizität wie folgt: „Ich habe Historizität das Ensemble von kulturellen Modellen genannt, mit deren Hilfe eine Gesellschaft ihre Normen in Bereichen wie Wissen, Produktion und Moral hervorbringt.“ 34 „Historizität“ bezeichnet demnach ein reflexives Verhalten, in dessen Verlauf die Gesellschaft im Anschluss an Änderungswünsche, Konflikte und Kontroversen ihrer eigenen Entwicklung eine neue Richtung geben kann. Es geht letztlich um die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich selbst umzugestalten: „Bezeichnen wir als Historizität diese Arbeit an der Arbeit, diese Selbsttransformation der Gesellschaft.“ 35 Mögliche Beispiele wären die Sozialpartnerschaft, die aus den Klassenkonflikten zwischen Arbeit und Kapital, Arbeitnehmern und Arbeitgebern hervorging (und den Klassengegensatz entschärfte), oder die Energiewende, die in Deutschland als neues Energiemodell von grünen Bewegungen und Bürgerinitiativen durchgesetzt wurde. Touraine selbst nennt das vorläufig wohl gescheiterte Projekt der Arbeiter- und Angestelltenselbstverwaltung. 36 32 A. Touraine, Sociologie de l’action, Paris, Seuil (1965), 2000 (erw. Ausgabe), S. 123. 33 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 72. 34 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 423. 35 A. Touraine, Pour la sociologie, op. cit., S. 94. 36 Vgl. ibid., S. 167. <?page no="698"?> Touraines Handlungssoziologie 682 Damit ist die soziale Bewegung als kollektiver Aktant und Kollektivsubjekt angesprochen. Sie wird von Touraine wie das individuelle Subjekt als kritische und streitbare (contestataire) Instanz aufgefasst: „Dies ist der Grund, warum die Idee des Subjekts vor allem streitbar ist, und dies rechtfertigt die extreme Formulierung, die zum Titel dieses Kapitels wurde: das Subjekt als soziale Bewegung.“ 37 In der nachindustriellen Gesellschaft (vgl. Abschn. 3), in der die Klassenkonflikte zunehmend entschärft werden, glaubt Touraine, die Klasse als historisches Subjekt durch die Bewegung ersetzen zu können: „Dies ist der Grund, warum der Begriff soziale Bewegung den der sozialen Klasse ersetzen soll (…).“ 38 Schon in seinem 1965 erschienen Buch Sociologie de l’action unterscheidet Touraine drei Typen von Bewegungen nach ihren Motivationen: 1. Sie können sich selbst im Hinblick auf ihre Identität definieren und etwa als Berufsgruppen für den Erhalt oder die Änderung dieser Identität kämpfen (man denke an die Widerstände der Bauern gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, vor allem in Polen). 2. Oftmals definieren sie sich als Opposition gegen ein System oder eine Politik (etwa ökologische Bewegungen, die den „Atomstaat“ radikal in Frage stellen, um eine Wende in der Energiepolitik herbeizuführen). 3. Von diesen Bewegungen, die konkrete Ziele verfolgen, unterscheidet Touraine schließlich Bewegungen, die sich von sozialen Ideen leiten lassen („mouvements d’idées sociales“), ohne konkrete Ziele vor Augen zu haben (als Beispiel wären die Studentenbewegungen des Jahres 1968 zu nennen, denen es nicht an Ideen fehlte, wohl aber an klaren Zielsetzungen). Nur eine Synthese dieser drei Typen und ihrer Motivationen lässt eine historische Bewegung im eigentlichen Sinn entstehen. Dazu bemerkt Touraine in Sociologie de l’action: „Man kann nur dann vom historischen Handeln, von Bewegungen im konkreten Sinne sprechen, wenn diese drei Prinzipien koexistieren und zusammenwirken.“ 39 Ihr Zusammenwirken meint er in der Frauenbewegung zu erblicken, die sowohl vom weiblichen Identitätsbewusstsein als auch vom Widerstand gegen männliche Herrschaft und von der sozialen Idee einer gerechteren Gesellschaft zusammengehalten wird. In seinen Augen geht es um zwei konkurrierende Modelle der Modernisierung: Während das männliche Modell der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer, Habermas) gehorcht und auf elitärer Herrschaft gründet, ist das weibliche Modell auf Gerechtigkeit und Gleichheit ausgerichtet: „(…) Die Frauen sind notgedrungen die 37 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 282. 38 Ibid. 39 A. Touraine, Sociologie de l’action, op. cit., S. 161. <?page no="699"?> Touraines Handlungssoziologie 683 Hauptakteure des globalen Gesellschaftswandels, der das so elitäre und männliche westliche Modernisierungsmodell zur Zeit erschüttert.“ 40 Wie bei Luhmann und Habermas wird auch hier das hohe Abstraktionsniveau, auf dem sich die Argumentation bewegt, zum Problem. „Die Frauen“ (in welchem Land? ) bilden keine homogene internationale Bewegung, die willens und in der Lage wäre, ein zusammenhängendes Programm als alternatives „Modernisierungsmodell“ zu verwirklichen. Es kommt hinzu, dass es vielen Frauen und Frauengruppen - etwa Politikerinnen - primär darum geht, in bestehende Machtgefüge aufgenommen zu werden, und nicht darum, die männlich vorkonstruierten Machtgebilde als solche in Frage zu stellen. Dass sich andere Frauen sehr wohl für eine alternative Art der Modernisierung einsetzen, mag durchaus zutreffen 41 , rechtfertigt jedoch nicht Touraines rhetorische Frage, ob das „menschliche Subjekt eine Frau“ sei: „Le sujet humain est-il une femme? “, mit der ein Kapitel in La Fin des sociétés überschrieben ist. Denn sie kündigt eine homogene und recht idealistische Auffassung der Frauenbewegung(en) an, die der Tendenz zu Elite- und Oligarchiebildungen, die hier im letzten Abschnitt zur Sprache kommt, nicht Rechnung trägt. Die begriffliche Abstraktion prägt auch Touraines Aktantenmodell, in dem das „Subjekt“ im allgemeinsten Sinne zum Auftraggeber der individuellen und kollektiven Akteure (auch der Bewegungen) wird. Letzteren fällt bisweilen auch die Funktion der Helfer (adjuvants, Greimas) zu, die den individuellen Subjekten als Akteuren den Rücken stärken sollen. Dem „Subjekt“ steht im Rahmen des als relevant postulierten Gegensatzes von System und Subjekt als Gegenauftraggeberin die „Macht“ in allen ihren Formen, vor allem aber in ihren systemischen Gestalten als „Wirtschaft“ und „Politik“, gegenüber. Wie bei Habermas leisten die individuellen und kollektiven Subjekte den Systemen „Geld“ („Wirtschaft“) und „Macht“ („Politik“) als Antisubjekten Widerstand. In diesem Kontext wird die „Historizität“ zum umkämpften Objekt-Aktanten: Es geht um die entscheidende Frage, wer - Subjekt oder Antisubjekt - die Weiterentwicklung der Gesellschaft als Modernisierung bestimmt. Während die „Systeme“ als Antisubjekte der Modalität des „Interesses“ gehorchen, handeln die Subjekte im Namen ihrer „Rechte“ als „Menschenrechte“, die sie langfristig verwirklichen möchten. Diese „Rechte“ könnten als der zweite Objekt-Aktant aufgefasst werden, dessen sich die Subjekte nach ihrer Übernahme der „Historizität“ bemächtigen könnten. Es überrascht kaum, dass in Touraines Erzählung das „Subjekt“ 40 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 292. 41 Vgl. F. Gaspard, „Le Sujet est-il neutre? “, in: F. Dubet, M. Wiewiorka (Hrsg.), Penser le Sujet. Autour d’Alain Touraine (Colloque de Cerisy), Paris, Fayard, 1995, S. 151. <?page no="700"?> Touraines Handlungssoziologie 684 als Fokalisator (Genette) auftritt, aus dessen Sicht Situationen, Ereignisse und Handlungen dargestellt werden (vgl. Abschn. 4). Wir haben hier ein manichäisches Modell vor uns, zu dem Danilo Martuccelli etwas lapidar bemerkt: „(…) auf der einen Seite das Subjekt, auf der anderen das System“. 42 Er fügt hinzu: „Das Subjekt wird zu einer Kraft, die zu identifizieren immer schwieriger wird (…).“ 43 Es ist wie immer eine der Aufgaben des Aktantenmodells - als heuristischer Hilfskonstruktion, nicht als realistischer Abbildung - Terminologie und diskursive Gliederung erhellend zu ordnen. Dass das „Subjekt“ in seiner allgemeinsten, abstraktesten Gestalt die Funktion des Auftraggebers erfüllt, wird in Touraines Buch Un Nouveau paradigme (2005) deutlich, wo „die Idee des Subjekts als Ideal des Akteurs, des Individuums, das Akteur sein will“ 44 , definiert wird. Dort heißt es auch, das Subjekt sei „in jedes Individuum eingegangen als Recht, ein Individuum zu sein, das imstande ist, sich allen unpersönlichen Mächten gegenüber zu behaupten, die es zerstören“. 45 Im darauffolgenden Satz ist von einer Situation die Rede, in der der „Tod Gottes“ dazu führt, dass jeder Mensch zu seinem eigenen Schöpfer wird. Er wird es auch in Touraines Diskurs als Erzählung, indem er selbst einen neuen Auftraggeber erschafft, in dessen Auftrag er handelt: Das allgemeinste, höchste „Subjekt“ als Ursprung der Subjektivität und der Handlungsfähigkeit. Diesen Sachverhalt bestätigt eine Textstelle in Touraines neuerem Buch La Fin des sociétés, wo das „Subjekt“ als „Fähigkeit, ein Individuum in einen Akteur zu verwandeln“ 46 , aufgefasst wird. Komplementär dazu ist am Ende des Bandes von der „Macht des Subjekts, Akteure entstehen zu lassen“ („pouvoir du sujet de faire naître des acteurs“) 47 , die Rede. Anders als Durkheim, der die „Gesellschaft“ als Auftraggeberin zur Gottheit stilisierte, lässt der ehemalige Katholik Touraine das „Subjekt“ an Gottes Stelle treten. Hier zeigt sich, dass Religionen und Ideologien weiterhin die Diskurse der Soziologie prägen, zumal „Gott“ in allen monotheistischen Diskursen als Auftraggeber auftritt und die Propheten, Heiligen und Gläubigen zu Beauftragten macht. Touraines vollständiges Aktantenmodell nimmt in der folgenden Passage klare Konturen an: „Das Subjekt kommt sowohl im Kampf gegen die Apparate als auch durch den Respekt des Anderen als Subjekt zustande; 42 D. Martuccelli, „Alain Touraine, le Sujet de la condition moderne“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 500. 43 Ibid., S. 501. 44 A. Touraine, Un Nouveau paradigme, op. cit., S. 197. 45 Ibid., S. 196. 46 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 203. 47 Ibid., S. 606. <?page no="701"?> Touraines Handlungssoziologie 685 die soziale Bewegung ist das kollektive Handeln zur Verteidigung des Subjekts gegen die Macht der Ware, des Wirtschaftsunternehmens und des Staates. Ohne diesen Übergang besteht die Gefahr, dass sich das Subjekt in der Individualität auflöst (…).“ 48 Hier tritt das Subjekt nicht als Auftraggeber auf, sondern als individuelles Subjekt („sujet personnel“, sagt Touraine an dieser Stelle) und als Kollektivsubjekt (Bewegung) oder Helfer des Einzelnen. Wir haben es folglich mit drei komplementären Subjektbegriffen zu tun: das Subjekt als Auftraggeber, als individuelles Subjekt (als einzelner Akteur) und als kollektiver Subjekt-Aktant: als Bewegung, die sich aus zahlreichen Akteuren zusammensetzt. Michel Wieviorka, Touraines langjähriger Kollege und Mitarbeiter, konkretisiert diese Darstellung des Aktantenmodells, wenn er „die Macht der Finanzen und die Macht der Politik“ („le pouvoir financier et le pouvoir politique“) 49 als die von der Gegenauftraggeberin „Macht“ beauftragten Antisubjekte identifiziert. Sie kämpfen mit dem Subjekt als „Individuum“ und „Bewegung“ um die „Historizität“ als gesellschaftliche Entwicklung und um die „Verwirklichung oder Nichtverwirklichung der Rechte“ als Objekt- Aktanten. Zu diesen Antisubjekten gehören als Widersacher (opposants, Greimas) auch die faschistischen, nationalistischen oder fundamentalistischen „Gegenbewegungen“, die Touraines Meinung nach die „Historizität“ in die falsche Richtung drängen. Es fragt sich, wie ergiebig es ist, im Rahmen eines manichäischen (ideologischen) Modells dieser Art, dem „Subjekt“ die „Systeme Macht und Geld“, den Bewegungen „Gegenbewegungen“ gegenüberzustellen. Schließlich ist bekannt, dass aus einer Bewegung (etwa der proletarischen in der Sowjetunion) eine totalitäre „Antibewegung“ werden kann und dass der Staat jungen Menschen Stipendien gewährt und die Renten der Älteren sichert - und dies nur tun kann, wenn die Wirtschaft es ihm ermöglicht. Im letzten Abschnitt soll auch deutlich werden, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, Bewegungen und Gegenbewegungen sauber voneinander zu trennen, weil den Einen als Bewegung erscheint, was die Anderen für eine Gegenbewegung halten. Auch der von Touraine euphorisch beschriebene Kampf für die Durchsetzung der Menschenrechte als Teil der Subjektivität ist nicht so universalistisch, wie er annimmt, weil jemand wie Amitai Etzioni (vgl. Kap. X. 6) auch die Pflichten einmahnen würde, die wir der Gesellschaft, der Menschheit und der Natur gegenüber haben und die die Rechte ergänzen (sollten). Hat die Pflicht, dem Schwächeren beizustehen oder den Verunglückten zu retten, nicht ebenso universellen Charakter wie die Rechte der Individuen? 48 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 331. 49 A. Touraine, Pour la sociologie, op. cit., S. 218. <?page no="702"?> Touraines Handlungssoziologie 686 Es kommt hinzu, dass Touraine die Rechte „über die Gesetze“ stellt („les droits sont au-dessus des lois“) 50 und dadurch der Willkür subjektiver Deutungen Tür und Tor öffnet. Im Zusammenhang mit dieser Darstellung drängt sich die Frage auf, wie sich Touraines Aktantenmodell als Grundlage seiner Erzählung von Habermasʼ Konstruktion, der es in mancher Hinsicht ähnelt, unterscheidet. Der Klarheit halber sollen nur zwei wesentliche Unterschiede angesprochen werden: Den Antisubjekten „Macht“ und „Geld“, die bei beiden Autoren der instrumentellen Vernunft gehorchen, stehen bei Touraine nicht die Akteure der kommunikativen Vernunft gegenüber, sondern das Subjekt; der umkämpfte Objekt-Aktant ist nicht die „Lebenswelt“, sondern die „Historizität“ (und langfristig die zu verwirklichenden „Menschenrechte“). Der erste Unterschied wird in der folgenden Passage aus La Fin des sociétés verdeutlicht, wo von einer „Konfrontation zwischen globalisierten Interessensystemen und dem Subjekt, das im Namen von menschlichen Grundrechten handelt“ 51 , die Rede ist. (Das „Subjekt“ tritt hier wieder als Auftraggeber auf, der die individuellen und kollektiven Subjekte beauftragt.) Diese Abweichung von Habermas bringt eher Nachteile als Vorteile mit sich, weil Touraine die Systeme zwar wie Habermas mit der instrumentellen Vernunft („raison instrumentalisée“, „logique instrumentale“) 52 verknüpft, ihnen aber keine kommunikative Vernunft im Sinne von Habermas gegenüberstellt, sondern eine nur vage beschriebene „kreative Freiheit“ („liberté créatrice“) 53 , die moralischen und ästhetischen Charakter hat. Auf dieser Ebene hat Habermasʼ Modell den Vorteil, den „sprachlosen“ Mächten die recht genau definierte „kommunikative Vernunft“ entgegensetzen zu können. Die Vorzüge von Touraines Modell machen sich im Bereich des Objekt- Aktanten „Historizität“ bemerkbar, weil dieser als Begriff konkrete soziohistorische Situationen wie die deutsche „Energiewende“ oder die seinerzeit (1980) in Polen von der Solidarność-Bewegung initiierte demokratische Wende bezeichnet. In beiden Fällen ging es um die Weiterentwicklung der Gesellschaft im Zusammenhang mit ihrer Umwelt oder ihrer Politik. Im Gegensatz dazu ist Habermasʼ Lebensweltbegriff zu vage, weil die stark kommerzialisierte und durch Machtkämpfe (etwa in Schulen und Familien) beschädigte Lebenswelt sich nicht klar von den Systemen „Geld“ und „Macht“ abhebt. - In beiden Theorien wäre eine konkretere, empirisch verankerte Begrifflichkeit wünschenswert. 50 A. Touraine, Nous, Sujets humains, op. cit., S. 249. 51 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 179. 52 Ibid., S. 179. 53 Ibid. <?page no="703"?> Touraines Handlungssoziologie 687 3. Postindustrielle Gesellschaft und „das Ende der Gesellschaften“: Touraines Stellung zwischen Moderne und Postmoderne Das Aktantenmodell mit seinen Relevanzkriterien bildet stets die Grundlage einer fiktionalen oder theoretischen Erzählung. Wo die handelnden Instanzen bestimmt wurden, können Erzählung, Epos oder Drama beginnen. Wie sieht nun Touraines Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung aus? Sie beginnt mit einem dramatischen Ereignis: dem Ende der Industriegesellschaft und dem Verschwinden des revolutionären Proletariats von der Weltbühne. Den eigentlichen Wendepunkt der Erzählung bilden die Revolten des Jahres 1968, die mit dem Auftritt neuer („kultureller“) Bewegungen zusammenfallen, welche in der postindustriellen Gesellschaft die Arbeiterbewegungen als historische Bewegungen ablösen. Auf höchster, allgemeinster Ebene unterscheidet sich Touraines Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung nicht wesentlich von der anderer Soziologen (etwa Durkheims oder M. Webers). Ihren Kern bildet der Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft, wobei die staatlich organisierte merkantilistische Gesellschaft (société marchande: z.B. die des französischen Absolutismus unter Ludwig XIV) eine Vorstufe zur Industriegesellschaft bildet, die „auf der Ebene der Klassenbeziehungen“ 54 strukturiert wird, während die postindustrielle Gesellschaft die „differenzierteste“ 55 soziale Ordnung darstellt. Als Arbeits- und Betriebssoziologe, der sich mit der Entwicklung der Industriegesellschaft, der Organisation von Betrieben und Arbeiterstreiks befasst hat 56 , reagiert Touraine besonders empfindlich auf Umschichtungen innerhalb der Industriegesellschaft, die darauf hinauslaufen, dass schließlich eine neue, postindustrielle Gesellschaft entsteht. In ihr werden Dienstleitungen, Kommunikation (Information) und Wissenschaft als Technologie zu Triebfedern sozialer Entwicklung. Sie lassen die Industrie als Wachstumsfaktor in den Hintergrund treten - ohne sie freilich zum Verschwinden zu bringen. Während der amerikanische Soziologe Daniel Bell, der den Ausdruck postindustrielle Gesellschaft (post-industrial society) prägte, diese Gesellschaft primär im Zusammenhang mit dem immer schneller wachsenden Dienstleistungssektor (dem nach Landwirtschaft und Industrie „tertiären“ Sektor) definiert, betont Touraine stärker die ebenfalls zunehmende Bedeutung von Kommunikation, Wissenschaft und Technologie. Dabei weist er 54 A. Touraine, Production de la société, Paris, Seuil, 1973, S. 185. 55 Ibid. 56 Vgl. A. Touraine, L’Evolution du travail ouvrier aux usines Renault, Paris, CNRS, 1955 sowie A. Touraine, O. Ragazzi, Ouvriers d’origine agricole, Paris, Seuil, 1961. <?page no="704"?> Touraines Handlungssoziologie 688 auf die Rolle neuer Bewegungen hin, die die Arbeiterbewegungen des Industriezeitalters allmählich ablösen. Es lohnt sich, die beiden Modelle der postindustriellen Gesellschaft kurz zu vergleichen. Aus Bells Sicht sind für das Entstehen der postindustriellen Gesellschaft fünf Faktoren wesentlich: 1. „der Übergang von einer Güterproduzierenden zu einer Dienstleistungswirtschaft“; 2. „der Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe“; 3. „die Zentralität theoretischen Wissens als Quelle von Innovationen“; 4. „die Steuerung des technischen Fortschritts und die Bewertung von Technologie“; 5. „die Schaffung einer neuen ‚intellektuellen Technologie‘“ 57 , die sich auf die Organisation und die „Methode des Erfindens“ konzentriert, d.h. es ablehnt, das Erfinden dem Zufall zu überlassen (vgl. Kap. XII. 6). Es ist interessant zu beobachten, wie sich Touraines Studie La Société post-industrielle (1969) mit Bells Studie The Coming of Post-Industrial Society (1973), in der Touraine nicht erwähnt wird, überschneidet 58 , sie ergänzt und im Bereich der Klassen, vor allem aber der Bewegungen, erweitert. Der theoretische Dialog dient nicht nur der Überprüfung und „Erschütterung“ von Theorien, sondern auch ihrer Vervollständigung und Stärkung. Touraine bestätigt weitgehend Bells Entwicklungsdiagnose 59 , wenn er in einem ersten Schritt zum Niedergang der Industrie in Westeuropa und Nordamerika bemerkt: „Die Industrie schafft nicht nur keine neuen Stellen mehr, sondern verliert die alten.“ 60 Komplementär dazu stellt er etwas später fest: „Der Anteil der Industrieprodukte an den Ausgaben der Konsumenten nimmt, wie auch der der Landwirtschaft, stetig ab.“ 61 Er bestätigt Bells Erkenntnisse, wenn er die wirtschaftlich relevante Rolle von Wissen und Wissenschaft unterstreicht und die neuen Produktivkräfte nennt: „Spitzenindustrien, Forschungs- und Technologiezentren, Universitäten, Informationsunternehmen usw.“ 62 57 D. Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt-New York, Campus, 1989, S. 32. Da Bells Daten schon älter sind, seien hier kurz neuere Daten (2017) aus Europa und den USA angeführt, die das sich verändernde Verhältnis von Industrie und Dienstleistungen (Anteil der Beschäftigten) veranschaulichen: Eurozone: Landwirtschaft: 3,2 %, Industrie: 23,6 %, Dienstleistungen: 72,5 %; USA: Landwirtschaft: 1,6 %, Industrie: 18,5 %, Dienstleistungen: 79,9 % (Quelle: London, The Economist-Profile Books, 2017). 58 Daniel Bell hat als erster in verschiedenen Artikeln den Begriff „postindustrielle Gesellschaft“ eingeführt, sein Buch aber nach Touraines La Société post-industrielle (1969) im Jahre 1973 veröffentlicht. 59 Vgl. aber die Kritik an Bell und Touraine sowie am Begriff der „postindustriellen Gesellschaft“ in: A. Giddens, Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften (1973), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S. 317-329. 60 A. Touraine, L’Après-socialisme, Paris, Grasset-Fasquelle, 1980, S. 52. 61 Ibid. 62 A. Touraine, La Société post-industrielle, op. cit., S. 136. <?page no="705"?> Touraines Handlungssoziologie 689 Er erweitert diese Erkenntnisse, wenn er die Auswirkungen der wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen auf die Rolle der Arbeiterklasse betrachtet und feststellt: „Die Arbeiterklasse ist in der programmierten Gesellschaft kein privilegierter Akteur mehr.“ 63 (Touraine bezeichnet die postindustrielle Gesellschaft auch als „programmierte Gesellschaft“.) Diese Entwicklung ist darauf zurückzuführen, dass Differenzierung und Arbeitsteilung eine Schwächung der Klassensolidarität bewirken. Diese Schwächung hängt u.a. damit zusammen, dass die soziale Distanz zwischen qualifizierten und ungelernten Arbeitern zunimmt, weil die ersteren den Angestellten und dem technischen Personal sowohl im Produktionsals auch im Konsum- oder Statusbereich immer ähnlicher werden. (Als Beispiel sei der Arbeiter oder Angestellte genannt, der in einer Autofabrik das Funktionieren der Roboter überwacht.) Das rasche Wachstum von Wissenschaft, Technologie und Technik lässt aus Touraines Sicht eine Technokratie entstehen, deren oft eigenmächtiges Auftreten (etwa im Umweltbereich) neue Konfliktherde entstehen lässt. Sie sind auf den Gegensatz von „Technokraten“ und „Konsumenten“ 64 zurückzuführen und rufen neue gesellschaftskritische Bewegungen auf den Plan: „Auf die technokratische Utopie, der zufolge wirtschaftliches Wachstum gleichsam von selbst gesellschaftlichen Fortschritt mit sich bringt, konnte eine Oppositionsbewegung nur mit einer Gegenutopie antworten: mit dem Bild einer gemeinschaftlichen, spontanen und egalitären Gesellschaft.“ 65 Diese Gegenutopie kristallisiert sich in der Mai-Bewegung des Jahres 1968 heraus, auf die Touraine mit seinem Buch La Société post industrielle (1969) reagiert. Es stellt insofern einen Wendepunkt in seiner soziologischen Erzählung dar, als der Autor die Struktur seines Aktantenmodells zwar beibehält, die Funktionen im Subjektbereich aber mit neuen Aktanten besetzt: mit den neuen kulturellen Bewegungen (Studierende, Frauen, „Grüne“), die nun den Systemen „Macht“ („Politik“, „Staat“) und „Geld“ („Wirtschaft“) Widerstand leisten. Als umkämpfter Objekt Aktant erscheint wieder die „Historizität“: die Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Es gilt, sie den „Technokraten“ als Vertretern (Akteuren) der kollektiven oder mythischen Antisubjekte „Macht“ und „Geld“ streitig zu machen. Den Wendepunkt der Erzählung kommentiert Touraine ausführlich in seinem Interview mit Farhad Khosrokhavar. Die Frage, ob nun die kulturellen Bewegungen als historische Bewegungen die Arbeiterbewegungen ablösen, bejaht er und erklärt: „Im Jahre 68 kamen die aktivsten Elemente 63 Ibid., S. 25. 64 Ibid., S. 260. 65 Ibid., S. 144. <?page no="706"?> Touraines Handlungssoziologie 690 aus der Arbeiterschaft, obwohl die historische Ausrichtung der Bewegung alles andere als proletarisch war; sie markierte sogar das Ende der Arbeiterbewegung als umfassender sozialer Bewegung. (…) In kurzer Zeit wurde eine Wirtschaftssprache von einer kulturellen und moralischen Sprache verdrängt.“ 66 Dies bedeutet zugleich, dass die nachindustrielle Gesellschaft zu einer Gesellschaft der kulturellen, ethisch motivierten Bewegungen wird. (Touraine unterscheidet nicht zwischen „Moral“ und „Ethik“ - etwa als Reflexion über Formen der Moral.) Die neuen Bewegungen setzen sich - vor allem in Touraines Critique de la modernité (1992) - für die Weiterentwicklung einer universalistischen, an Menschenrechten orientierten Moderne ein und agieren gegen die Postmoderne, die Touraine recht einseitig als Zerfallserscheinung und Negation der Moderne mitsamt ihrem Universalismus betrachtet. Aus seiner Sicht zerfällt die Moderne in vier zunehmend autonomer werdende Sphären, die früher von der staatlich organisierten Nation zusammengehalten wurden, im 20. Jahrhundert aber immer weiter auseinanderstreben, zumal der Nationalstaat die global werdende Wirtschaft nicht mehr kontrollieren kann. Sexualität und Konsum (als kommerzialisierte Sexualität) treten auf individueller Ebene auseinander, Nationalismus (als Protektionismus) und globales Wirtschaftsunternehmen (entreprise) im kollektiven Bereich, der sich vom individuellen Leben entfernt: „In der Sexualität wie im Konsum kommt es zu Verschleiß und Zerstörung; in der Politik der Unternehmen neigen Profit- und Machtstreben dazu, die Funktion der Produktion zu tilgen; und die Nationalismen gehen, wie alle Differenzierungen, mit dem Krieg schwanger.“ 67 Zentral in dieser Passage ist das „Profit- und Machtstreben“: nicht nur weil es sich auf die Antisubjekte bezieht, sondern auch deshalb, weil Touraine die Auffassung vertritt, dass die zerfallende Moderne statt von der Güterproduktion von der profitorientierten Finanzwirtschaft beherrscht wird. In La Fin des sociétés ist von einem Kapitalismus die Rede, „der die industriellen Funktionen aufgibt und alle Bereiche der menschlichen Erfahrung ausschließlich dem Profitkriterium unterwirft“. 68 Die beiden wesentlichen Aspekte des zeitgenössischen Kapitalismus sind aus Touraines Sicht: unproduktive Spekulation zwecks Profitmaximierung und Globalisierung. Über sie als wirtschaftlich-finanzielle Weltherrschaft schreibt er, sie habe „das Soziale zerstört“ („a détruit le social“). 69 Diesem Zerstörungs- und Zerfallsprozess, den Touraine mit der Postmoderne identifiziert, leistet das „Subjekt“ (in diesem Fall wieder als 66 A. Touraine, F. Khosrokhavar, La Recherche de soi, op. cit., S. 171. 67 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 125. 68 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 621. 69 Ibid., S. 227. <?page no="707"?> Touraines Handlungssoziologie 691 Auftraggeber aller Subjekt-Aktanten und Akteure) Widerstand: „Was man Postmoderne nennt und was ich als extreme Zerfallsform des rationalisierenden Modells der Moderne bezeichnet habe, ist das, wogegen das Subjekt aufbegehrt.“ 70 Es käme nun Touraines Auffassung nach darauf an, der irrational werdenden Rationalisierung mit einem Alternativentwurf zu begegnen, der die zerfallenden Elemente der Moderne (Sexualität und Konsum, Politik und Wirtschaftsunternehmen) wieder zusammenzuführt, um eine vernünftige gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Für diesen Alternativentwurf ist das „Subjekt“ als Auftraggeber der Bewegungen und der individuellen Subjekte zuständig. Touraine stellt sich eine neue, mit sich selbst versöhnte Moderne 71 vor, in der die membra disiecta der jetzigen Moderne, die er als „Hypermoderne“ bezeichnet, miteinander zu einem funktionierenden Körper verbunden werden: „Die neue Moderne - denn es geht hier sehr wohl um eine Moderne - verbindet die Vernunft und das Subjekt, die beide die kulturellen Elemente der zerfallenen Moderne wieder zusammenführen.“ 72 Vor allem die Wirtschaft soll von einer vernünftigen (staatlichen) Subjektivität verwaltet werden. Einmal mehr erinnert hier Touraines Argumentation an die von Habermas sowie an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Die von der „instrumentellen Vernunft“ dominierte Rationalisierung soll von der alternativen Vernunft eines für die Menschenrechte eintretenden Subjekts in andere, vernünftige Bahnen gelenkt werden. Im Unterschied zu den Autoren der Kritischen Theorie schlägt Touraine keinen überzeugenden Begriff dieser alternativen Vernunft vor, die bei Adorno auf die Mimesis der Kunst und die Parataxis (vgl. Kap. VI. 5), bei Habermas auf das „kommunikative Handeln“ ausgerichtet ist. Bei Touraine vertritt ein für seine Rechte und die Menschenrechte kämpfendes Subjekt diese Alternativvernunft, deren Profil neben der mit ihr konkurrierenden „instrumentellen Vernunft“ als „Zweckrationalität“ (M. Weber) recht unscharf wirkt. Es kommt hinzu, dass Touraine in seinen neuesten Publikationen die einerseits plausible, andererseits merkwürdige Ansicht vertritt, dass die gegenwärtige „hypermoderne“, von der Finanzwirtschaft dominierte Gesellschaft ihren sozialen Charakter verliert, so dass die gegen sie aufbegehrenden Subjekte keine sozialen Subjekte mehr sind, sondern ethische Instanzen. Dieser Komplex, der für eine Ära nach dem „Ende der Gesellschaften“ charakteristisch ist, in der ethische, nichtsoziale Akteure einer nichtsozialen Gesellschaft opponieren, soll hier zum Abschluss näher betrachtet werden. 70 A. Touraine, Critique de la modernité, op. cit., S. 292. 71 Vgl. Touraines neuestes Buch: Défense de la modernité, Paris, Seuil, 2018, darin vor allem Kap. IV: „La libération du sujet“. 72 Ibid., S. 255. <?page no="708"?> Touraines Handlungssoziologie 692 Touraines Ansicht ist insofern plausibel, als in einer Wirtschaftsgesellschaft, in der der Tauschwert alle kulturellen (religiösen, moralischen, politischen und ästhetischen) Werte überlagert, das Soziale tatsächlich an Bedeutung verliert. Dies gilt umso mehr, als die Wirtschaft einen globalen, weltumfassenden Charakter annimmt, so dass sie der Kontrolle durch den Nationalstaat und die nationale Gesellschaft entgleitet: „Die globalisierte Wirtschaft kann nicht mehr von einer politischen Kraft kontrolliert werden - und noch weniger von einer sozialen. Der Massenkonsum lässt die lokalen Lebensweisen verschwinden, die sich nur im Gedächtnis der Ältesten erhalten.“ 73 Auf mikrosoziologischer Ebene wirkt sich das wie folgt aus: „Die Autorität der Eltern, die noch geltenden moralischen Normen, Regeln und Sitten büßen bei der jungen Generation zusehends ihre Wirkung ein.“ 74 Diese Entwicklung wird auch von anderen Soziologen wie Daniel Bell beobachtet. Aber ist dies ein Grund, pauschal vom „Ende der Gesellschaft(en)“ und des „Sozialen“ zu sprechen? Wäre hier nicht Durkheims in jeder Hinsicht soziologischer Begriff der Anomie anwendbar? Touraines Erzählung, die nicht nur in eine „postsoziale Situation“ („situation post-sociale“) 75 , sondern auch in eine „posthistorische Gesellschaft“ („société posthistorique“) 76 mündet, ist einerseits plausibel, andererseits abstrakt und spekulativ. Es sind durchaus noch primäre und sekundäre Sozialisationsprozesse von der Familie und der Schule bis zur Universität zu beobachten. Und auch wirtschaftliches Verhalten gehorcht - stets sozialen - Normen und Regeln, für deren Einhaltung auf internationaler Ebene Organisationen und Institutionen (OECD, WTO und Weltwährungsfonds) mit wechselndem Erfolg sorgen. Es ist auch erstaunlich, dass sich Touraine auf Arnold Gehlens Posthistoire-Theorem 77 einlässt (ohne den deutschen Soziologen zu nennen), das Gehlen während des „Kalten Krieges“ angesichts der Pattstellung der zwei Machtblöcke verkündete, das aber nach dem Zerfall des Ostblocks und des Sowjetreiches seine Wirkung einbüßte: Die scheinbar blockierte Geschichte setzte sich trotz dieser spektakulären Prognose wieder in Bewegung. 73 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 134. 74 A, Touraine, Nous, Sujets humains, Paris, Seuil, 2015, S. 182. 75 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 72 76 Ibid. 77 Vgl. A. Gehlen, „Über kulturelle Konstellation“, in: W. Welsch (Hrsg.), Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, VCH, 1988, S. 141: „Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind (…).“ Gehlen spricht hier freilich von der Ideengeschichte, nicht von der Geschichte. Vgl. auch L. Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? , Reinbek, Rowohlt, 1989, zu Arnold Gehlen: S. 18-25. <?page no="709"?> Touraines Handlungssoziologie 693 Vor diesem Hintergrund ist auch Touraines These zu betrachten, dass die in der postindustriellen oder „hypermodernen“ Gesellschaft auftretenden Bewegungen nicht mehr sozialen, sondern „ethischen“ Charakter haben. Das Subjekt tritt an die Stelle der von Durkheim vergotteten Gesellschaft und avanciert selbst (als Auftraggeber: s.o.) zu einer göttlichen Instanz. „(…) Das Subjekt ersetzt die Gesellschaft als Definition des Guten“, erklärt Touraine und fügt hinzu: „Das Subjekt liegt folglich als Prinzip jedem ethischen (und nicht so sehr moralischen) Urteil zugrunde, das soziale Verhaltensweisen regelt.“ 78 Touraine erscheint alles Soziale (Familie, Region, Nation) als partikular, als ethisch nicht vertretbar. Das „Subjekt“ in seiner allgemeinsten Form (als Auftraggeber aller Subjekte) ist ein Versuch, im Rahmen einer universalistisch definierten Moderne das Menschenrecht als Recht aller Subjekte auf Subjektivität durchzusetzen. Dazu heißt es gleich am Anfang von Nous, Sujets humains: „Die Daseinsberechtigung dieses Buches liegt darin, dass es den Vorrang des Universellen vor dem Partikularen behauptet (…).“ 79 Vertreter des postmodernen Denkens wie Jean-François Lyotard und Zygmunt Bauman behaupten das Gegenteil und versuchen nachzuweisen, dass das Universelle (etwa bei Hegel) in Wirklichkeit partikular und repressiv ist. Partikular ist es auch bei Touraine, der, wie bereits angemerkt wurde, einseitig die Rechte der Subjekte betont, ohne die - auch ethisch - stets komplementären Pflichten einzubeziehen. In Touraines Le Nouveau siècle politique (2016) schlägt die in seinen wichtigsten Publikationen verbreitete Subjekt-Euphorie in eine depressive Stimmung um, wenn der Autor am Ende der Abhandlung feststellt: „Die Krise, die wir erleben und die tödlich (mortelle) sein könnte, wird im Grunde vom Verschwinden des Subjekts geprägt und allgemeiner dadurch, dass die Menschen selbst das Bewusstsein verlieren, Schöpfer (créateurs) zu sein.“ 80 Diese pessimistische Einschätzung wird schon ein Jahr zuvor in Nous, Sujets humains angekündigt, wenn Touraine beklagt, dass in Frankreich und Italien „die sozialen Bewegungen vor allem durch ihre Abwesenheit auffallen“. 81 Das rezente Auftreten der „Gelbwesten“ und vor allem der international agierenden Bewegung „Fridays for Future“ zeigt, wie prekär soziologische Diagnosen dieser Art sind. (Man könnte Touraine empfehlen, 78 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 375. 79 A. Touraine, Nous, Sujets humains, op. cit., S. 34. 80 A. Touraine, Le Nouveau siècle politique, op. cit., S. 180. 81 A. Touraine, Nous, Sujets humains, op. cit., S. 136. <?page no="710"?> Touraines Handlungssoziologie 694 sich mit Oliver Dimbath in die Probleme soziologischer Zeitdiagnostik zu vertiefen.) 82 Abermals erscheint hier das Abstraktionsniveau soziologischer Argumentation als Problem: Wer so abstrakt argumentiert wie Touraine in seinem Spätwerk, der kann heute leicht das Gegenteil von dem behaupten, was er gestern sagte: In beiden Fällen fehlt der empirische Stoff, der das Argument mit dauerhafter Substanz füllen würde. Es mag daher sinnvoll sein, einen spezifischeren Aspekt seiner Soziologie näher zu betrachten, der bereits kurz erwähnt wurde: Sein Engagement als „soziologische Intervention“. Denn Touraine geht es nicht nur darum, das Handeln von Individuen und Bewegungen „verstehend zu erklären“ (im Sinne von Max Weber), sondern auch darum, den Akteuren während ihrer Sinnsuche und Zielsetzung beizustehen. Es fragt sich, ob die Soziologie dadurch nicht überfordert wird und sich nicht der Gefahr aussetzt, den wissenschaftlichen Bereich zu verlassen und ins ideologische Abseits abzudriften. 4. Eine engagierte Soziologie: Intervention statt Wertfreiheit? Im zweiten Abschnitt wurde bereits angemerkt, dass in Touraines soziologischer Erzählung das Subjekt in seinen drei Varianten (Auftraggeber, individuelles Subjekt, Kollektivsubjekt als Bewegung) auch die Funktion des Fokalisators erfüllt. Dies bedeutet, dass die soziale Entwicklung aus der Sicht des dreigliedrigen Subjekts beobachtet und erzählt wird, wobei die Perspektive wechselt, je nachdem, ob der Autor-Erzähler aus der Sicht des Auftraggebers, des Individuums oder der Bewegung beobachtet. Wie in einem Bildungsroman, dessen Erzähler mit Anteilnahme und Sorge den Werdegang seines Protagonisten begleitet, folgt der Soziologe den Abenteuern des „Subjekts“ und den Peripetien der Subjektivität zwischen industrieller und postindustrieller Gesellschaft, zwischen Moderne und „Hypermoderne“. Seine Nähe zum Protagonisten innerhalb der Erzählstruktur ist kein Zufall, sondern zeugt vom ideologischen Engagement für das Subjekt und seine von „Wirtschaft“, „Konsum“ und „Staatsapparat“ bedrohte Freiheit. Dieses Engagement schimmert gleichsam zwischen den Zeilen an verschiedenen Stellen von Touraines Werk durch, am stärksten vielleicht im folgenden Satz aus La Fin des sociétés, in dem der Autor zwischen den nahezu synonymen Wörtern „Subjekt“ und „Befreiung“ schwankt: „Ich fühle mich besser verstanden, wenn ich das Wort Befreiung (libération) verwende, aber das Wort Subjekt ist trotz seiner scheinbaren Kälte das überschwäng- 82 Vgl. O. Dimbath, Soziologische Zeitdiagnostik. Generation - Gesellschaft - Prozess, Paderborn, Fink, 2016, S. 23, wo von der „neuen Anforderung an Zeit- und Gegenwartsdiagnosen“ die Rede ist. <?page no="711"?> Touraines Handlungssoziologie 695 lichste (le plus exaltant), das lyrischste.“ 83 Es geht hier nicht um die ästhetische Einschätzung dieses Wortes (schon Kant wusste, dass das Problem des Schönen nicht begrifflich zu lösen ist), sondern um die Nähe des Soziologen zu „seinem“ Subjekt. Denn aus dieser Nähe geht eine engagierte, „intervenierende“ Soziologie hervor, die nicht nur versucht, Subjekt und Subjektivität im sozialen oder nachsozialen Kontext besser zu verstehen, sondern darauf aus ist, den Subjekten in ihrer Auseinandersetzung mit den Systemen „Macht“ und „Geld“ durch Interventionen beizustehen. Schon in einem Werk aus den 1970er Jahren bezieht sich Touraine auf das Subjekt als Fokalisator, ohne freilich eine Erzähltheorie zu bemühen, wenn er erklärt, dass es darum geht, „den Standpunkt der Akteure einzunehmen“ („se placer au point de vue des acteurs“). 84 Was dies genau bedeutet, soll nun kurz erläutert werden. Intervention (Touraine spricht von einer „intervention sociologique“) 85 wird zunächst theoretisch aufgefasst und im Bereich der reinen Beobachtung der Gesellschaft angesiedelt: „Das Ziel der soziologischen Intervention ist nicht das Voraussagen von Ereignissen, sondern die Analyse von Mechanismen, durch die kollektives Handeln und auf höchster Ebene soziale Bewegungen zustande kommen.“ 86 Der Übergang zur eigentlichen Intervention findet statt, wenn Touraine auf die Rolle der Forscher (chercheurs) zu sprechen kommt. Ihnen fällt die Aufgabe zu, „die Selbstanalyse der Akteure zu ermöglichen und zu begleiten“ und „die Gruppe zur Bekehrung zu führen, indem sie ihr ein bestimmtes Bild von ihr selbst vor Augen halten“. 87 Der Soziologe plädiert jedoch nicht für eine Verschmelzung des Wissenschaftlers mit der Gruppe oder Bewegung, sondern für die Wahrung der Distanz zwischen Wissen und Handeln: „Die Forscher sollen daher im Umgang mit der Gruppe die Distanz zwischen Wissen und Handeln wahren, zugleich aber die Nähe zu den Akteuren, zu ihren Ideologien und ihren konkreten Zielsetzungen suchen.“ 88 An dieser Stelle tritt recht eindeutig die Wechselbeziehung von Ideologie und Theorie zutage, von der im zweiten Kapitel (Abschn. 3 und 4) die Rede war: Keine soziologische Theorie kann auf ein ideologisches Engagement verzichten, das sich stets von der Frage nach der richtigen Ge- 83 A. Touraine, La Fin des sociétés, op. cit., S. 407. 84 A. Touraine, La Société invisible, op. cit., S. 45. 85 A. Touraine, Nous, Sujets humains, op. cit., S. 217. 86 A. Touraine, Le Retour de l’acteur, Paris, Fayard, 1984, S. 155. 87 Ibid., S. 155-156. 88 Ibid., S. 156. <?page no="712"?> Touraines Handlungssoziologie 696 sellschaft leiten lässt - sowie von der komplementären Frage, ob die bestehenden Verhältnisse zu überwinden seien oder nicht. Auch Max Weber stand trotz seines Wertfreiheitspostulats dem Politiker und vor allem dem handelnden charismatischen Individuum sehr viel näher als dem rationalisierten Bürokraten, den er für die sich abzeichnende Verkrustung der Gesellschaft (wertend) verantwortlich machte. In mancher Hinsicht stand auch er - wie Touraine, der ihm viel verdankt, - auf Seiten der politischen Akteure und nicht auf Seiten der Staatsbürokratie. Abermals zeichnet sich hier das Dilemma ab, das aus dem Spannungsverhältnis von Engagement und Distanzierung (als Werturteilsfreiheit) hervorgeht. Trotz Touraines Nähe zu Weber, die er selbst bisweilen betont, steht indessen fest, das Weber sehr viel mehr Distanz zu den Akteuren wahrte als der französische Soziologe, der Intervention auch als Überzeugungsarbeit auffasst: „(…) Einer der Forscher versucht, die Akteure von den Hypothesen zu überzeugen, die gemeinsam mit ihnen erarbeitet wurden.“ 89 Es gilt, das Bewusstsein der Akteure als Subjekte in Übereinstimmung mit ihrer sozialen Situation so zu steigern, dass sie handlungsfähig werden und die aus handlungssoziologischer Sicht richtigen Ziele anpeilen. Touraine plädiert sogar für ein Engagement des Soziologen für die „Bildung neuer sozialer Akteure“ („participer efficacement à la formation de nouveaux acteurs sociaux“). 90 So weit würde Weber nie gehen. Er mag sich gefreut haben, als er feststellte, dass sich einige protestantische Gruppen in seinen Darstellungen der protestantischen Ethik wiedererkannten, aber es war trotz seiner Nähe zum Protestantismus nie seine Absicht, religiöse Gruppen zu irgendeinem Handeln zu motivieren. Touraine erweist sich hier als Erbe von Marx, der die gesellschaftliche Entwicklung ebenfalls aus der Sicht seines Fokalisators, des Proletariats, erzählte. Aber erzählt Weber die gesellschaftliche Entwicklung letztlich nicht aus der Sicht des liberalen, charismatischen Politikers oder Unternehmers, der sich gegen die schwerfällige Bürokratie auflehnt? Die Grenzen zwischen Engagement und Wertfreiheit sind fließend, wie ein Beispiel aus Webers bekanntem Aufsatz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“ nun zeigen soll. Es geht wieder um die soziale Differenzierung, die Luhmann streckenweise durchaus werturteilsfrei beschreibt: „Ob nun jemand fortschreitende Differenzierung als ‚Fortschritt‘ bezeichnet, ist an sich terminologische Zweckmäßigkeitsfrage. Ob man sie 89 A. Touraine, Nous, Sujets humains, op. cit., S. 220. 90 A. Touraine, Comment sortir du libéralisme ? , Paris, Fayard, 1999, S. 65. <?page no="713"?> Touraines Handlungssoziologie 697 aber als ‚Fortschritt‘ im Sinn zunehmenden ‚inneren Reichtums‘ bewerten soll, kann jedenfalls keine empirische Disziplin entscheiden.“ 91 Das ist zweifellos richtig, soweit Webers Argumentation reicht. Sie reicht aber nicht so weit wie das soziologische Interesse, das auch der Frage nachgeht (nachgehen muss), wie sich Differenzierung auf die Gesellschaft und auf das Verhalten von Individuen und Gruppen auswirkt. Selbst Luhmann, der Touraines Engagement und seine „weltpolitischen Gesten“ 92 keineswegs goutiert, macht sich kritische und wertende Gedanken über das beziehungslose Nebeneinander der autopoietischen Systeme und seine Auswirkungen (vgl. Kap. XV. 6). Kritische Wertung wird vollends unvermeidlich, sobald sich die Frage aufdrängt, ob durch Differenzierung - etwa im wissenschaftlichen Bereich - Individuen und Gruppen einander nicht immer fremder werden: Schütteln Systemtheoretiker oder Empiriker nicht verständnislos den Kopf, wenn sie Touraines lyrische Kommentare zum Wort „Subjekt“ lesen? Spricht nicht ein Phonologe als „strenger Wissenschaftler“ von „fancy linguistics“, wenn man in seiner Gegenwart Soziolinguistik, Psycholinguistik oder gar Ökolinguistik erwähnt? Zeugen Versuche, eine „ganzheitliche Medizin“ einzuführen, nicht von der fachlichen Zerstückelung des menschlichen Körpers durch Spezialisten, die vor lauter Zellen und Fasern den Menschen nicht mehr sehen und einander bisweilen nicht mehr verstehen? „Entfremdung“ ist stets ein wertender, kritischer Begriff, den Touraine häufig verwendet; aber wer wollte ihn angesichts der Folgen von Differenzierung und Arbeitsteilung aus der Soziologie verbannen? Es kommt hinzu, dass von der Soziologie des Gesundheitswesens oder der Arbeitswelt allgemein erwartet wird, dass sie Zustände und Organisationsformen - etwa in Krankenhäusern oder Betrieben - kritisch beurteilt. Davon zeugen u.a. die „klassischen“ Hawthorne-Experimente, die zwischen 1927 und 1932 von Elton Mayo und seinen Kollegen bei der Western Electric Company in Chicago durchgeführt wurden: Die Frage lautete, ob Produktivität durch Änderung der Arbeitsbedingungen (etwa Raumeinteilung, Beleuchtung) gesteigert werden kann. Das Experiment führte zu der Erkenntnis, dass soziale Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern für den Produktionsprozess mindestens so wichtig waren wie die materiellen Faktoren - wenn nicht wichtiger. 93 Eine Betriebssoziologie, die auf kritische 91 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973 (5. Aufl.), S. 285. 92 Vgl. N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 183. 93 Vgl. E. Mayo, The Human Problems of an Industrial Civilization (1933), New York, Macmillan, 1960 sowie Ph. Bernoux, La Sociologie des organisations (1985), 2009 (erw. Aufl.), S. 114-116 (zu E. Mayo). <?page no="714"?> Touraines Handlungssoziologie 698 Auswertung ihrer experimentell gewonnenen Ergebnisse und auf Kritik der in Betrieben herrschenden Zustände verzichten wollte, würde ihre Daseinsberechtigung verlieren. Dennoch soll dieser Abschnitt mit einem Plädoyer für Weber enden. Obwohl Werturteilsfreiheit im theoretischen Diskurs als semantisch-narrativer Struktur nicht durchzuhalten ist, weil dieser Diskurs stets von wertenden Relevanzkriterien ausgeht (Subjekt / System oder Charisma / Bürokratie), sollte sich Soziologie in einem ersten Schritt auf das von Weber praktizierte verstehende Erklären von Akteuren, Situationen oder Entwicklungen konzentrieren und erst in einem zweiten Schritt die im Diskurs angelegten Wertungen reflektieren und plausibel machen. Touraines Problem besteht darin, dass er in seinem Spätwerk das verstehende Erklären einem „ethischen“ Engagement opfert, dem die ethische Reflexion im eigentlichen Sinne (als kritische Reflexion über moralische Urteile) völlig fehlt. Eine kritische Soziologie wird diesem ideologischen Engagement, das mit der These über das „Ende der Gesellschaften“ zur Aufgabe des Sozialen und der Soziologie führt, nicht folgen. Sie wird ihr Anliegen offensiv vertreten und versuchen, Touraines ethische Wende soziologisch zu erklären. Die Wende hängt einerseits damit zusammen, dass, wie bereits angemerkt, die Wirtschaft als Tauschwert alle kulturellen Normen und Werte sekundär werden lässt und dass andererseits - vor allem in Frankreich - Randgruppen, ethnische und religiöse Minderheiten lautstark ihre Rechte einklagen. Auf diese Konfrontation zwischen einem wertindifferenten, von den Marktgesetzen bestätigten Tauschwert und den für ihre kulturellen Anliegen kämpfenden Gruppen reagiert Touraine mit einem „ethischen“ Plädoyer für das Subjekt und seine Rechte. Dabei scheint er zu übersehen, dass dieses Plädoyer selbst aus einer besonderen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation hervorgeht und folglich eine „gesellschaftliche Tatsache“ ist, die vor fünfzig Jahren niemand verstanden hätte und die in fünfzig Jahren erklärungsbedürftig sein wird. Die Soziologie kann auch eine von der Wirtschaft dominierte Gesellschaft verstehen und erklären, sofern sie versucht, die zwischenmenschlichen Beziehungen in Wirtschaftsunternehmen gruppendynamisch als sprachliche und kulturelle Prozesse zu analysieren. Dieses Vorhaben schließt eine gesellschaftskritische und engagierte Einstellung nicht aus. 5. Soziale Bewegung: Otthein Rammstedts, Michel Croziers und Niklas Luhmanns Antworten auf Touraine Der Forschungsbereich „Soziale Bewegungen“ ist ein weites Feld, und es liegt dem Autor fern, es in einem kurzen Epilog bearbeiten zu wollen. Das Hauptanliegen des hier vertretenen dialogischen Ansatzes ist ohnehin <?page no="715"?> Touraines Handlungssoziologie 699 nicht die nach Vollständigkeit strebende, umfassende Darstellung, sondern eine Konfrontation von Theorien, die u.a. deren Einseitigkeiten zutage treten lässt. Der einseitige Charakter von Touraines Ansatz tritt während der Lektüre von Otthein Rammstedts schon älterem, aber weiterhin aktuellem Buch Soziale Bewegung (1978) in Erscheinung. Dessen Autor fasst „Bewegung“ nicht als ein nach Freiheit strebendes historisches Subjekt oder als Helferin des „Subjekts“ auf, sondern beginnt mit „Vorläufige[n] Überlegungen zur faschistischen Bewegung“. Der Anfang eines Diskurses ist schon deshalb von Bedeutung, weil er aus den Relevanzentscheidungen hervorgeht und die Diskursrichtung vorgibt. Rammstedts Diskurs durchkreuzt insofern Touraines Argumentation, als er einige von deren Prämissen in Frage stellt, indem er die Bewegung nicht nur als subjektive Befreiung, sondern auch als Machtstreben mit totalitären Neigungen darstellt. Dadurch lässt er Zweifel an Touraines Grundgegensatz zwischen Subjekt und Machtsystem aufkommen. Zunächst sind jedoch gemeinsame Ausgangspositionen feststellbar, von denen hier nur die drei wesentlichen genannt werden sollen: 1. Entstehung der Bewegung in einer Krise; 2. gesamtgesellschaftlicher Anspruch; 3. Dynamik und Institutionalisierung (Integration). Eine Bewegung entsteht als Reaktion auf eine soziale Krise: etwa eine Umweltkrise, wie sie von den Katastrophen in Tschernobyl oder Fukushima ausgelöst wurde. Im Frühstadium ihrer Entwicklung wird sie von spontaner Zustimmung in der Bevölkerung getragen und entfaltet eine bemerkenswerte Dynamik. In späteren Stadien, die von sozialer Anerkennung geprägt sind, neigt sie zur Institutionalisierung und nimmt konkrete Organisationsformen an (wird zur Partei oder Gewerkschaft). Im Zusammenhang mit dem Frühstadium als Krisenstadium schlägt Rammstedt die folgende Definition vor: „Unter sozialer Bewegung soll ein Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse verstanden werden, ein Prozeß, der bewußt getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung, die nicht formal organisiert zu sein braucht.“ 94 Drei Aspekte dieser Definition sind auch in Touraines Auffassung der Bewegung wiederzufinden: der „Protest gegen bestehende soziale Verhältnisse“, das spontane Anwachsen der Gruppierung und die fehlende formale Organisation. Zum ersten Punkt („Frühstadium der Bewegung“) gehört auch ein gesamtgesellschaftlicher Anspruch: „Sie beruht auf einer sozialen Kraft und intendiert gesamtgesellschaftliche Veränderungen.“ 95 Dies meint auch Touraine, wenn er immer wieder den universellen Anspruch der Bewe- 94 O. Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 130. 95 Ibid., S. 131. <?page no="716"?> Touraines Handlungssoziologie 700 gungen hervorhebt: ihren Anspruch, als „historische Subjekte“ für die ganze Gesellschaft, ja die gesamte Menschheit, zu agieren. Stärker als Touraine betont Rammstedt, dass die Bewegung auf wachsende Dynamik angewiesen ist, weil diese ihrer Definition und ihrem Selbstverständnis innewohnt: „Die Bewegung muß sich ständig beschleunigend bewegen, muß ständig Änderungen bewirken.“ 96 Sobald die Dynamik nachlässt und Veränderungen ausbleiben, wird die Bewegung nicht mehr als solche wahrgenommen und atrophiert. (Als Beispiel könnte man die Studentenbewegungen des Jahres 1968 nennen.) Die Dynamik endet auch dann, wenn die Bewegung anerkannt und institutionalisiert wird - etwa in Form von „grünen“ Parteien oder von Umweltministerien, die „grünen“ Politikerinnen oder Politikern unterstehen. So fällt das Ende einer erfolgreichen Bewegung mit „ihre[r] Institutionalisierung“ 97 zusammen. Freilich können Bewegungen auch scheitern, weil sie - z.B. in einigen Ländern des „Arabischen Frühlings“ - von repressiven Maßnahmen erstickt werden, die bedrängte Diktatoren oder Militärmachthaber ergreifen. Komplementär dazu bemerkt Touraine, dass gerade erfolgreiche Bewegungen in einen Machtapparat integriert werden können. Ähnlich wie Rammstedt unterscheidet er drei Phasen, die die Dynamik einer Bewegung ausmachen: „die des anti-institutionellen Bruchs, die der politischen Konfrontation, die des institutionellen Einflusses“. 98 Symmetrisch zu dieser grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Touraine und Rammstedt sind auch signifikante Abweichungen feststellbar. Sie betreffen folgende Aspekte von Touraines Theorie: 1. den Gegensatz von Bewegung und Antibewegung; 2. den Gedanken, dass nur die (gute) Bewegung subjektbildend und subjektfördernd wirken kann und 3. den Gedanken an einen prinzipiellen Gegensatz von Bewegung und Macht (als System). Rammstedt zeigt vor allem im Zusammenhang mit dem Charisma-Begriff, dass das Machtstreben sozialen Bewegungen innewohnt, und Michel Crozier bestätigt diese These (vgl. weiter unten). Zum ersten Punkt ist Folgendes zu sagen: Es ist nicht sinnvoll, dualistisch-ideologisch zwischen (guten) Bewegungen und (schlechten) Gegenbewegungen zu unterscheiden, weil jeder Bewegung ein Machtanspruch innewohnt, der sie mit der Zeit in eine Gegenbewegung verwandeln kann. Diese stets gegenwärtige Ambivalenz ist nicht reduzierbar. So nahm etwa Lenins bolschewistische Bewegung die Form einer straff organisierten Partei und eines Machtapparats an, der die für die Autonomie der Räte 96 Ibid. 97 Ibid., S. 135. 98 A. Touraine, Pour la sociologie, op. cit., S. 198. <?page no="717"?> Touraines Handlungssoziologie 701 (Sowjets) agierende Kronstädter Revolte der Arbeiter und Matrosen niederschlug. Dazu heißt es in der Iswestija vom 8. März 1921: „Als die Arbeiterklasse die Oktoberrevolution machte, hoffte sie, ihre Befreiung zu erlangen. Das Resultat war aber eine noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit.“ 99 Soll man deshalb die damalige russische, von Lenin angeführte Arbeiterbewegung als „Gegenbewegung“ auffassen? In dem Fall hätte es im damaligen Russland überhaupt keine revolutionäre Bewegung im Sinne von Touraine gegeben… Eine ähnliche Entwicklung fand auf Kuba statt: Fidel Castro und seine Anhänger haben die Bevölkerung sicherlich von der korrupten Battista-Diktatur befreit und insofern eine Volksbewegung angeführt; sie haben schließlich aber selbst eine Diktatur errichtet, vor der Tausende geflohen sind. Rammstedt trägt diesen Fakten Rechnung, wenn er im Anschluss an Paretos Theorie der „Elitenzirkulation“ und an Robert Michelsʼ Theorie der Oligarchiebildung (vgl. Kap. VIII) erklärt: „So erscheint das Zentrum der sozialen Bewegung als Sender der Ideologie und der Informationen zugleich als herrschende Gruppe, die Organisation ‚soziale Bewegung‘ als oligarchisch strukturiert.“ 100 Es kommt hinzu, dass eine charismatische Persönlichkeit wie Fidel Castro diese Oligarchie in ein Instrument persönlicher Herrschaft und Machtausübung verwandeln kann. Auch Touraines Gedanke, dass nur „gute Bewegungen“ Subjektbildung und subjektive Freiheit fördern (zweiter Punkt), wird von Rammstedt, der auf Touraines Werk nicht eingeht, zumindest implizit in Frage gestellt. Denn er zeigt, wie die faschistische (nationalsozialistische) Bewegung in Deutschland an die Individuen als Subjekte appellierte (durchaus im Sinne von Althussers Diktum „die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an“) 101 : „Der Erfolg der faschistischen Bewegung beruhte vor allem darauf, daß die Ziele der Bewegung an die Hoffnungen der vielen einzelnen appellierten.“ 102 Er fügt hinzu: „(…) Nur indem er bedingungslos sich für ‚das Ganze‘ einsetze, könne dieses sich entfalten, er gewänne so Identität.“ 103 Tatsächlich rufen alle politische Parteien, Gewerkschaften, religiöse Organisationen und Bewegungen Individuen als Subjekte an und machen sie zu Subjekten - oder versuchen wenigstens, es zu tun. Es erscheint daher nicht sinnvoll, zwischen Bewegungen zu unterscheiden, die sich für die 99 G. Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1967, S. 71. 100 O. Rammstedt, Soziale Bewegung, op. cit., S. 166. 101 L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg-Berlin, VSA, 1977, S. 140. 102 O. Rammstedt, Soziale Bewegung, op. cit., S. 13. 103 Ibid., S. 14. <?page no="718"?> Touraines Handlungssoziologie 702 Freiheit des Subjekts einsetzen, und Bewegungen, die Subjektivität unterdrücken. Eine „grüne“ Ideologie kann auch zum Dogma gerinnen, das Kritik und Selbstkritik hemmt und das Subjekt als frei entscheidende Instanz verkümmern lässt. Hier gilt wie in allen anderen Fällen: Die Ideologie als dualistisch strukturierter Monolog, der sich mit der Wirklichkeit identifiziert, verhindert das Denken. Rammstedts Betrachtungsweise wirft Licht auf eine weitere Schwachstelle in Touraines Ansatz (dritter Punkt), die dadurch entsteht, dass Touraine die Bewegung als Subjekt dem Machtapparat (den Mächten „Wirtschaft“ und „Staat“ als Antisubjekten) gegenüberstellt. Das Problem besteht darin, dass jede Bewegung, die etwas bewirken will, Machtausübung beinhaltet, wie bereits im Zusammenhang mit der Subjektwerdung deutlich wurde. Nicht zu Unrecht rückt daher Rammstedt den Begriff „Bewegung“ in die Nähe der Totalitarismusforschung: „(…) In der Totalitarismusforschung wurde Bewegung gar zum Spezifikum totalitärer Systeme.“ 104 Dies ist freilich das andere Extrem, das hier dialogisch Touraines zur Euphorie neigender Theorie der Bewegung angeschlossen wird, damit sich die Extreme berühren. Die Bewegung ist beides: Befreiung durch Spontaneität und Unterwerfung der Subjekte durch unentwegtes Machtstreben, das in Institutionalisierung und Machtausübung gipfeln kann. „Power power, everybody like wants power“ 105 , kommentiert der zu später Einsicht kommende Held von Anthony Burgessʼ Kurzroman A Clockwork Orange. Als radikale Antwort auf Touraine kann auch die Studie von Michel Crozier und Erhard Friedberg L’Acteur et le système (1977, 2014) gelesen werden, deren Untertitel - Les contraintes de l’action collective / Die Zwänge kollektiven Handelns - eine nüchterne Betrachtungsweise ankündigt. In dieser Studie geht es allerdings nicht um Bewegungen, sondern, wie der Titel zu verstehen gibt, um Akteure und Systeme. Daher wird sie hier nur am Rande erwähnt. Dennoch ist sie von zentraler Bedeutung, weil sie den Machtfaktor in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellt. Als Analyse „kollektiven Handelns“ betrifft sie natürlich auch die Bewegung. Gleich am Anfang stellen die Autoren fest, dass „jede kollektive Handlungsstruktur sich als Machtsystem konstituiert“. 106 Anschließend erläutern sie diese Handlungsstruktur: „Als menschliches Konstrukt bildet, regelt, ‚zähmt‘ und schafft sie Macht, um Menschen zu gestatten, in kollektiven Unternehmungen zu 104 Ibid., S. 110. 105 A. Burgess, A Clockwork Orange (1962), London, Penguin, 1972, S. 143. 106 M. Crozier, E. Friedberg, L’Acteur et le système. Les contraintes de l’action collective, Paris, Seuil (1977), 2014, S. 25. <?page no="719"?> Touraines Handlungssoziologie 703 kooperieren. Jede seriöse Analyse kollektiven Handelns sollte daher den Machtfaktor zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen machen.“ 107 Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich aufgrund ihrer Terminologie und ihrer Relevanzkriterien wesentlich von der Touraines. Sie geht nicht vom Gegensatz System / Subjekt aus, auch nicht von den komplementären Begriffen „Subjekt“ und „Bewegung“ (als Kollektivsubjekt), sondern setzt - gleichsam eine Stufe tiefer - bei der „kollektiven Handlungsstruktur“ an, die Bewegungen zur Voraussetzung haben. In ihr erscheint der Machtfaktor als für die Handlungsstruktur konstitutiv. Mehr noch: In seinem Beitrag zu Touraines Festschrift Penser le Sujet besteht Crozier auf dem Nexus von Macht und Freiheit: „Wenn man nicht die Macht hat, etwas zu tun, ist man nicht frei, und die Freiheit ist doch der höchste Wert.“ 108 Das ist sicherlich auch Touraines Meinung; nur stellt er die „Macht“ als Wirtschafts- und Staatsmacht manichäisch-ideologisch dem subjektiven Freiheitsstreben gegenüber (wie sein Aktantenmodell zeigt). Da er sich aufgrund seiner Relevanzkriterien zu dieser Gegenüberstellung genötigt sieht, muss er „Subjekt“ und „Bewegung“ ohne den Machtfaktor denken und diesen in den Bereich der „Gegenbewegungen“ verbannen. So handelt er sich einen „blinden Fleck“ im Sinne von Luhmann ein, weil er die Bewegung nicht wie Crozier und Friedberg als vom Machtanspruch durchwirkte „Handlungsstruktur“ zu erkennen und zu beobachten vermag. Er muss sie - zumindest in der Phase ihrer Entstehung - als spontanes Freiheitsstreben auffassen, das mit den „Machtsystemen“ als Antisubjekten um die Ausrichtung der „Historizität“ als Objekt-Aktant kämpft. Dass dieser Kampf um die historische Ausrichtung erfolgreich sein könnte, bezweifelt Niklas Luhmann in Protest (1996), wo er den (neuen) sozialen Bewegungen eine Funktion im Bereich der „Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems“ zuweist. Dies bedeutet, etwas verkürzt ausgedrückt, dass das „autopoietische“ System sich zwar von den Bewegungen „irritieren“ lässt, jedoch ohne sich wesentlich zu ändern, weil sich ohnehin keine Alternative zu ihm am historischen Horizont abzeichnet. „Die Alternativen sind also ohne Alternative“ 109 , stellt Luhmann lapidar fest und erläutert die soziologische Sprache, die er für die Beschreibung von Bewegungen für geeignet hält: „Die dafür nötige Sprache unterläuft die Semantik der ‚Alternativität‘ und der Gegenbürgerlichkeit, die diesen Bewegungen als natürlich und notwendig erscheint. Sie identifiziert sich 107 Ibid. 108 M. Crozier, „Vers de nouvelles règles du jeu“, in: F. Dubet, M. Wieviorka (Hrsg.), Penser le Sujet, op. cit., S. 365. 109 N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (Hrsg. K.-U. Hellmann), Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 76. <?page no="720"?> Touraines Handlungssoziologie 704 nicht mit den Zielen dieser Bewegungen, sondern beschreibt sie als kontingente, artifizielle Formen der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems.“ 110 Im Gegensetz zu Touraines Plädoyer für eine „interventionistische“ Soziologie, die sich auf Seiten der Bewegungen engagiert, hält es Luhmann eher mit der Distanzierung als nüchterner Trennung von soziologischer Theorie und sozialer Praxis. Seine distanzierte Darstellung bedeutet im Klartext, dass die Bewegungen nicht nur Teil des Gesellschaftssystems sind, sondern zugleich eine Funktion innerhalb dieses Systems erfüllen: die der Selbstbeobachtung. „Man kann also sagen: Funktionale Differenzierung erzeugt (…) Kritik oder eben solche Protestbewegungen, Kritik als Form von Selbstbeschreibung, als Form von Aufklärung vom Typ Habermas oder wie immer.“ 111 Als „Form der Selbstbeschreibung“ des Systems können sich Bewegungen freilich nicht vornehmen, eine Kursänderung im Bereich der „Historizität“ zu bewirken. Sie können bestenfalls hoffen, die „Irritabilität der Systeme“ zu steigern (vgl. Kap. XV) und so zu einer Korrektur des Bestehenden beizutragen. Bisher haben sie auch nicht viel mehr erreicht. Die Tatsache, dass die bisherigen Proteste nicht über die etablierten Verhältnisse hinausweisen konnten, erklärt Luhmann wie folgt: „Man kann von Protestbewegungen also keine Reflexion zweiter Stufe, keine Reflexion der Reflexion der Funktionssysteme erwarten. Sie halten sich statt dessen an die Form des Protestes.“ 112 Die Reflexion der Reflexion des Systems wäre ein Nachdenken über seine Selbstdarstellung - etwa bei Hegel oder (in neuester Form) bei Luhmann. Aber selbst eine Kritik der systemischen Selbstdarstellung zielt ins Leere, sobald klar wird, dass nach dem Scheitern der verschiedenen Sozialismus-Modelle eine konkrete Alternative fehlt. Dass es im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus eine solche Alternative gab, wird bei Crozier und Friedberg klar: „Das kapitalistische Spiel ist keine Verbesserung des feudalen, es ist eine ganz andere Art von Spiel.“ 113 Das gegenwärtige Problem besteht darin, dass alle bisher verwirklichten sozialistischen „Spiele“ nur Verschlechterungen des kapitalistischen „Spiels“ im Staatskapitalismus waren. Die Folge war, dass die Spielverderber - zumindest in Osteuropa - von Volksbewegungen verjagt wurden. Diese Bewegungen haben aber im Gegensatz zum revolutionären Bürgertum des Jahres 1789 kein neues Spiel hervorgebracht, sondern das alte erneuert. 110 Ibid., S. 77. 111 Ibid., S. 185. 112 Ibid., S. 206. 113 M. Crozier, E. Friedberg, L’Acteur et le système, op. cit., S. 384. <?page no="721"?> Touraines Handlungssoziologie 705 Zusammenfassung und Ausblick: Mit Habermas verbindet Touraine die Ausrichtung der Theorie auf soziales Handeln, die ihn zugleich vom Marxismus und von den Systemtheorien Parsonsʼ und Luhmanns trennt. Marx und einigen Marxisten wie Lukács wirft Touraine vor, dass sie individuelles und kollektives Handelns (etwa des Proletariats) der historischen Notwendigkeit als Prozess unterwerfen. Auch die Systemtheorie - Touraines Kritik richtet sich vor allem gegen Parsons - wird als Unterordnung individueller und kollektiver Akteure unter den Differenzierungsprozess als Zwangsmechanismus gedeutet (dabei wird das voluntaristische Moment in Parsonsʼ Soziologie übergangen). Wie Habermas konstruiert Touraine einen Antagonismus zwischen individuellen und kollektiven Subjekten (Bewegungen) einerseits und den Systemen „Macht“ (Staat) und „Geld“ (Wirtschaftsunternehmen) andererseits, ohne jedoch die für Habermas wesentlichen Begriffe „Lebenswelt“, „Intersubjektivität“ und „kommunikatives Handeln“ zu akzeptieren. In diesem Kontext sind auch sein Aktantenmodell und seine soziologische Erzählung zu verstehen: Das „Subjekt“ im allgemeinen Sinn tritt als Auftraggeber konkreter individueller und kollektiver Subjekte (Bewegungen) auf, die den von der „Macht“ (im allgemeinsten Sinn) beauftragten Antisubjekten „Geld“ (Wirtschaft) und „Macht“ (Politik) Widerstand leisten, um sich der „Historizität“ als gesellschaftlicher Entwicklung zu bemächtigen. Diese erscheint analog zu Habermas‘ „Lebenswelt“ als umkämpfter Objekt-Aktant. Das „Subjekt“ im allgemeinen Sinn fungiert - vor allem in Touraines neuesten Arbeiten - als Fokalisator, von dessen Warte aus beobachtet und erzählt wird. Diese Erzählung kommt in einem nachmarxistischen Kontext zustande, in dem die Soziologie angesichts der Integration des Industrieproletariats in einer postindustriellen Gesellschaft Ausschau nach neunen Subjekten hält, die Touraine im Anschluss an die Studentenbewegungen des Jahres 1968 als „kulturelle Bewegungen“ bezeichnet. Von ihnen erwartet er, dass sie in einer zerfallenden Moderne (als „Hypermoderne“ oder „Postmoderne“) den engagierten individuellen Subjekten den Rücken stärken. In der Schlussbetrachtung, in der Touraines Begriff der Bewegung mit entsprechenden Begriffen bei Otthein Rammstedt, Michel Crozier und Niklas Luhmann konfrontiert wird, zeigt sich, dass Touraines vorwiegend euphorische Auffassung der „Bewegung“ und seine manichäische Gegenüberstellung von emanzipatorischen Bewegungen und (faschistischen oder nationalistischen) „Gegenbewegungen“ fragwürdig sind: Sie blenden den ambivalenten Charakter von Bewegungen aus, die sich jederzeit in „Gegenbewegungen“ verwandeln können. Rammstedt zeigt u.a., dass das Machtstreben allen Bewegungen (nicht nur den faschistischen) innewohnt. Diese Erkenntnis wird in einem anderen Zusammenhang von Crozier und Friedberg bestätigt. Schließlich versucht Luhmann zu zeigen, dass Bewegungen nicht über das Bestehende hinausweisen, weil sie als Selbstbeobachtungen des Gesellschaftssystems eine Funktion innerhalb dieses Systems erfüllen. Touraines <?page no="722"?> Touraines Handlungssoziologie 706 engagierte Soziologie der Intervention, die sich (jenseits aller Wertfreiheitspostulate) mit den Bewegungen solidarisiert, kündigt die im nächsten Kapitel kommentierte Soziologie Pierre Bourdieus an, die ein anderes, wissenschaftlich fundiertes Engagement ins Auge fasst. <?page no="723"?> 707 XVIII. Kapital und Klasse, Habitus und Feld: Pierre Bourdieus Soziologie als Gegenentwurf zu Touraine und Luhmann Inhaltsverzeichnis 1. Bourdieus Antwort auf Touraine. Für und wider Sartre: „genetischer Strukturalismus“, „Praxeologie“, „scholastische Sicht“ 2. Bourdieu zwischen Marx, Durkheim und Max Weber 3. Aspekte der sozialen Klasse und des Kapitals: Ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital 4. Sozialisation und Habitus in den „Feldern“ der Gesellschaft 5. System oder Feld? Bourdieus Antwort auf Luhmann und sein Aktantenmodell: Differenzierung 6. Vier Modelle: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Literatur 7. Feldstrategie oder Kritik? Bourdieu und Adorno 8. Soziologische Semiotik: Zwei Theorien der Theorie 9. Ein engagierter Intellektueller: Europa, „männliche Herrschaft“ und „Das Elend der Welt“ Als Vermittler zwischen Sartres existenzialistischem Subjektivismus und dem Objektivismus der Strukturalisten (vor allem Lévi-Straussʼ) bezieht Pierre Bourdieu auch eine vermittelnde Position zwischen dem Sartrianer Touraine und dem Systematiker Luhmann. Insofern besteht in diesem Kapitel eine enge Beziehung zwischen dem ersten Abschnitt, in dem Bourdieus Versuch im Mittelpunkt steht, eine Synthese von Sartres und Touraines Subjektivismus und dem strukturalistischen Objektivismus herbeizuführen, und dem fünften Abschnitt, in dem Bourdieus Theorie sozialer Differenzierung als herrschaftskritische und handlungsorientierte Alternative zu Luhmanns funktionaler Systemtheorie erscheint. Bourdieu, zusammen mit Durkheim der einflussreichste französische Soziologe, kann auch als Vermittler zwischen den Gesellschaftstheorien von Marx, Durkheim und Max Weber gelesen werden. Während seine Kritik an Herrschaftsstrukturen und Klassenantagonismen Marx und dem Marxismus wesentliche Impulse verdankt, ist seine Behauptung, „alles [sei] sozial“ aus Durkheims Soziologie ableitbar. Diese räumt in ihrer Auseinandersetzung mit Individualismus und Psychologismus (vor allem dem Herbert Spencers: vgl. Kap. IX. 3) sozialen Faktoren einen absoluten Vorrang ein. Mit Hilfe von Max Webers Religionssoziologie, in der kulturelle Orientierungen und Motivationen im Vordergrund stehen, versucht Bourdieu, die von Marx postulierte Dominanz der ökonomischen Basis zu rela- <?page no="724"?> Bourdieus Soziologie 708 tivieren, indem er den Kapitalbegriff auf die Kultur ausdehnt („kulturelles Kapital“). Zugleich leitet er aus Max Webers Konstruktion des religiösen Bereichs und dessen Dynamik seinen Schlüsselbegriff des Feldes ab, das er zunächst als „Kräftefeld“ definiert, dessen individuelle und kollektive Akteure um die Vorherrschaft ringen. Bourdieus Stellung zwischen Marx, Durkheim und Weber wird hier im zweiten Abschnitt erörtert, in dem der originelle Charakter seiner soziologischen Synthese zutage treten soll. Unzertrennlich mit dem Feldbegriff verbunden ist Bourdieus Habitus- Begriff, der den Gegensatz von Subjektivismus und Objektivismus, von Sartres (und Touraines) Subjektphilosophie und den verschiedenen Varianten des Strukturalismus überbrücken soll. Der Begriff wird im vierten Abschnitt zusammen mit dem Feldbegriff kommentiert und soll hier zunächst mit Bourdieu als „sozialisierte Subjektivität“ 1 und „System verinnerlichter Muster“ 2 definiert werden. Auf dieser Ebene wird die „Verinnerlichung der Denk-, Sprech- und Verhaltensmuster“ durch Sozialisationsprozesse in verschiedenen Feldern der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Familie und Schule) ermöglicht. Der Habitus-Begriff verbindet die subjektivistische mit der objektivistischen Sicht, indem er beschreibt, wie sich individuelle und kollektive Akteure (Aktanten) die strukturellen Regelmäßigkeiten, Wertungen und Normen des Feldes aneignen (sie „verinnerlichen“) und durch diese Aneignung befähigt werden, als kompetente Akteure im Feld aufzutreten. Da in allen modernen Gesellschaften ökonomisches und kulturelles Kapital ungleich verteilt sind, sind nicht alle Individuen und Gruppen in der Lage, sich den Habitus der verschiedenen sozialen Felder - etwa der Politik oder der Wissenschaft - anzueignen und als kompetente Akteure in einem oder mehreren Feldern aufzutreten. Angesichts dieser ungleichen Verteilung von Ressourcen und Entfaltungsmöglichkeiten, die nicht nur individuellen, sondern auch kollektiven Charakter hat, hält es Bourdieu für gerechtfertigt, von Klassen zu sprechen - obwohl der ökonomisch bedingte Klassenkampf längst nicht mehr so virulent ist wie in den von Marx analysierten Gesellschaften des Industriezeitalters. Im dritten Abschnitt - „Aspekte der sozialen Klasse und des Kapitals“ - soll deutlich werden, weshalb Bourdieu in einer veränderten sozialen und historischen Situation die Klasse nicht nur im Hinblick auf ihre ökonomischen Komponenten und ihre Stellung im Produktionsprozess definiert, sondern immer wieder auch nach ihrem Verhältnis zum kulturellen (etwa dem sprachlichen) Kapital fragt, aus dem ihr Habitus ableitbar ist. Die 1 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2013 (3. Aufl.), S. 159. 2 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1974, S. 143. <?page no="725"?> Bourdieus Soziologie 709 Sozialisierung innerhalb einer Klasse (bürgerliche Oberschicht, Kleinbürgertum oder Unterschicht) lässt beim Individuum einen Habitus entstehen, der in der modernen Wissensgesellschaft mehr oder weniger vorteilhaft sein kann. In Die feinen Unterschiede (La Distinction, 1979), seinem Hauptwerk, bemerkt Bourdieu: „Der Habitus (…) bildet die inkorporierte Klasse.“ 3 Dies bedeutet, dass der Einzelne und die Gruppe die Kultur (Gewohnheiten, Wertungen und Normen) ihrer Klasse aufnehmen und sich dabei einen entsprechenden Habitus aneignen. Dieser lässt sie als Kompetenz oder Modalität (Greimas) in der Gesellschaft mehr oder weniger erfolgreich agieren. Bourdieus Soziologie, die Philippe Cabin als „Soziologie der Entschleierung“ („sociologie du dévoilement“) 4 charakterisiert, schärft den Blick für soziale Ungleichheiten und deren Entstehung in Familie und Schule, d.h. im Laufe der primären und sekundären Sozialisation (vgl. Abschn. 3 und 4). Sie deckt auch die ideologischen Mechanismen auf, mit deren Hilfe Privilegien, Ungleichheiten und Benachteiligungen verschleiert werden. Zu diesen Verschleierungsmechanismen gehört auch die „legitime Kultur“ der bürgerlichen Oberschicht, deren natürliche Überlegenheit von den Herrschenden postuliert wird, die alles daransetzen, um die Frage nach der Entstehung dieser Überlegenheit der öffentlichen Diskussion zu entziehen (vgl. Abschn. 5). Da Bourdieu sein Augenmerk vor allem auf Kultur als Herrschafts- und Machtinstrument richtet, blendet er die kritischen Aspekte von Kultur und Kunst aus. In dieser Hinsicht weicht er wesentlich von der Kritischen Theorie - und hier vor allem von Adorno - ab. Im sechsten Abschnitt soll deutlich werden, dass Adorno (darin mit Walter Benjamin einig) die herrschaftlichen Aspekte von Kultur und Kunst durchaus wahrnimmt, dabei aber auch nach den kritischen Komponenten der Kunst fragt, die vor allem im formalen Bereich sichtbar werden. Diesen Bereich vernachlässigt Bourdieu auch in seiner ansonsten sehr anregenden und brauchbaren Sprachsoziologie, die vor allem die institutionellen und pragmatisch-funktionalen Aspekte der Sprache und des Sprachgebrauchs untersucht. Die beiden von ihm aufgeworfenen Fragen, die im Mittelpunkt des siebenten Abschnittes stehen, lauten: Weshalb ist eine Rede erfolgreich und eine andere nicht? Und: Wie garantiert institutionell verbürgte Autorität (Amt, Titel) den Erfolg einer Sprachhandlung, der ausbleiben muss, wenn die Autorität fehlt? 3 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 686. 4 P. Cabin, „Dans les coulisses de la domination“, in: Pierre Bourdieu. Son ouvrage, son héritage, Auxerre, Sciences Humaines Editions, 2008, S. 50. <?page no="726"?> Bourdieus Soziologie 710 Komplementär zum kritischen Potenzial der Kunst wird von Bourdieu die kritische Struktur des (theoretischen) Diskurses übergangen, die bei Adorno die Gestalt von Essay, Modell oder Parataxis annimmt und in der Dialogischen Theorie Nichtidentität, Konstruktivismus und Dialogizität ineinander greifen lässt. Vor diesem Hintergrund werden im siebenten Abschnitt zwei Theorieauffassungen miteinander konfrontiert: die pragmatisch-instrumentelle von Bourdieu und die hier praktizierte dialogische. Wie immer wirft die Biografie eines Soziologen wie Habermas, Touraine oder Bourdieu Licht auf seine Theorie und seine Wissenschaftsauffassung. In der ersten Phase seiner wissenschaftlichen Entwicklung befasste sich Bourdieu während eines zweijährigen Aufenthalts in Algerien mit der kabylischen Gesellschaft und entwickelte - u.a. mit Hilfe der von ihm später kritisierten Strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss - eine anthropologische Betrachtungsweise, die er auch in seiner Soziologie der französischen Gesellschaft und in seiner Wissenschaftssoziologie beibehielt. Hier lautet die wichtigste Maxime: Die eigene Gesellschaft und die eigene wissenschaftliche Tätigkeit nicht für gegeben oder „natürlich“ halten, sondern sie - wie die Gesellschaft der Kabylei, wie die Stammesgesellschaften - zum Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Betrachtung machen. Dies bedeutet, dass der Soziologe reflexiv verfahren soll, indem er seine eigene Wissenschaft sozialwissenschaftlich untersucht: Science de la science et réflexivité (2001, Wissenschaft der Wissenschaft und Reflexivität). Aber wie kam der anthropologische, der sich selbst reflektierende Blick zustande? Pierre Bourdieu (1930-2002) kam in Denguin, im Béarn (Dépt. Pyrénées Atlantiques) zur Welt und studierte an der Faculté des Lettres und an der Ecole Normale Supérieure in Paris: Grund genug, um als Kind der Provinz einen verfremdenden Blick auf die Großstadtgesellschaft und den Wissenschaftsbetrieb an der Ecole Normale zu werfen, an der er von oben herab behandelt wurde. Grund genug auch, um sich der ungleichen Chancen und der Ungleichheiten bewusst zu werden, die jemand aus der fernen Provinz in Paris an einer ihrer Elitehochschulen zu überwinden hatte. Zur weiteren Schärfung des kritischen Blicks kam es während seines Aufenthalts in dem von Kriegswirren heimgesuchten Algerien, wo er nach zweijährigem Wehrdienst an der Faculté des Lettres in Algier als Assistent arbeitete. Seine Studien der kabylischen Gesellschaft haben ihm zweierlei gezeigt: (a) dass fremde Gesellschaften nicht als exotische, vom Anthropologen getrennte Objekte zu untersuchen sind, sondern dass es notwendig ist, die Positionen und Handlungen der Akteure ihrem Selbstverständnis nach zu verstehen. (b) Zugleich wurde deutlich, dass die eigene Einstellung nicht als schlicht wissenschaftlich oder objektiv aufzufassen war, sondern als kontingente, partikulare Perspektive, die im europäischen Frankreich zustande kam, mitbedacht, reflektiert werden musste. <?page no="727"?> Bourdieus Soziologie 711 Mit diesen Erkenntnissen kehrte Bourdieu nach Frankreich zurück, wo er zunächst Assistent beim Soziologen Raymond Aron, später (1961- 1964) Maître de conférences an der Universität Lille war. 1964 wurde er zum Studiendirektor an der Ecole Pratique des Hautes Etudes (jetzige EHESS: Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales) ernannt. Im Anschluss an den Erfolg seines Hauptwerks La Distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede, 1982) folgte er 1981 einem Ruf an das Collège de France, wo auch Roland Barthes und Michel Foucault lehrten und wo er bis zu seiner Emeritierung tätig war. Seine Biografie erleichtert den Zugang zu seinem Werk in dreierlei Hinsicht: 1. Die sozial und territorial bedingten Ungleichheiten der Pariser Gesellschaft ließen ihn die Auswirkungen der Kultur als Unterscheidungs- und Legitimierungsfaktor wahrnehmen. 2. Seine Feldstudien in Algerien öffneten ihm einen neuen (nicht-objektivistischen) Zugang zur Anthropologie und zu den Sozialwissenschaften allgemein. 3. Die Herrschaftsmechanismen, gegen die die algerischen Widerstandskämpfer aufbegehrten und die er selbst in einem ganz anderen Kontext in Paris zu spüren bekam, veranlassten ihn, eine herrschaftskritische, widerspenstige Soziologie zu entwickeln. Sie fand ihren Niederschlag in dem Aufsehen erregenden Werk Das Elend der Welt (La Misère du monde, 1993, dt. 1997), das er zusammen mit anderen (Rosine Christin, Patrick Champagne, Michel Pialoux et al.) verfasste. Vom kritischen Engagement dieses Werks, das im letzten Abschnitt noch einmal zur Sprache kommt, zeugen einige Bemerkungen Bourdieus, die einem Gespräch mit Franz Schultheis entnommen sind: „Es ging uns darum, mittels empirischer Forschung vor Ort aufzuzeigen, welche sozialen Folgeerscheinungen die in den 70er Jahren begonnene und von den Sozialisten stillschweigend fortgeschriebene neoliberalistische Ära (…) gezeitigt hatte und es lag uns am Herzen, diese kritische Bilanz noch rechtzeitig vor den damaligen Parlamentswahlen zu ziehen.“ 5 Diese Passage lässt zweierlei erkennen: Bourdieu geht es nicht nur um Kritik, sondern (wie Touraine) auch um kritische Intervention. Und seine Interventionen richten sich gegen einen entfesselten Kapitalismus, den er als „Neoliberalismus“ bezeichnet - obwohl der Liberalismus der individualistischen Ära vom staatlich gelenkten Monopolkapitalismus längst liquidiert wurde. Als intervenierender Soziologe und Gegner des „Neoliberalismus“ stimmt er mit Alain Touraine überein, der, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, von der Soziologie erwartet, dass sie den gesellschaftskritischen Bewegungen als Subjekten den Rücken stärkt. Er unterscheidet sich we- 5 P. Bourdieu, F. Schultheis, „Das Elend der Welt - Eine zweifache Herausforderung“, in: P. Bourdieu et al., Das Elend der Welt, Konstanz, UVK-UTB, 2010 (2. Aufl.), S. 439. <?page no="728"?> Bourdieus Soziologie 712 sentlich von Touraine, indem er gegen alle Arten des Subjektivismus und Voluntarismus die soziale und strukturelle Bedingtheit des Handelns geltend macht und versucht, jenseits von idealistischem Subjektivismus und strukturalem Objektivismus eine dritte Position zu beziehen. 1. Bourdieus Antwort auf Touraine. Für und wider Sartre: „genetischer Strukturalismus“, „Praxeologie“, „scholastische Sicht“ In vieler Hinsicht bildet Sartres phänomenologischer Existenzialismus die Drehscheibe, um die sich Diskussionen und Kontroversen zwischen Touraine und Bourdieu bewegen. Sie bewegen sich nicht, wie Touraine in einem Kommentar zu Bourdieu glaubt, um die Frage nach einer möglichen Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft; denn Bourdieu teilt durchaus Touraines Meinung, dass soziale Bewegungen und soziologische Interventionen (etwa die Veröffentlichung eines Werks wie Das Elend der Welt) in der Gesellschaft etwas bewirken können. Insofern ist Touraines Bemerkung „für ihn ist Herrschaft total, ausweglos“ 6 irreführend. Aufschlussreicher als die Frage nach der möglichen oder unmöglichen Überwindung der herrschenden Verhältnisse ist der Gegensatz zwischen Touraines von Sartre inspiriertem voluntaristischem Subjektivismus und Bourdieus These über die soziale Bedingtheit allen menschlichen Handelns. Wenn Touraine beispielsweise in einem seiner neueren Werke - Nous, Sujets humains (2015) - von den zeitgenössischen Akteuren und Bewegungen spricht und behauptet, „diese Akteure und diese Bewegungen sind nicht mehr gesellschaftlich“ 7 , so ruft er im Gedächtnis eines informierten Lesers Bourdieus Antithese auf den Plan: „alles ist gesellschaftlich“, „tout est social“. 8 These und Gegenthese sind auf Touraines und Bourdieus gegensätzliche Einstellungen zu Sartres Existenzialismus zurückzuführen. Wenn Touraine in einem Gespräch mit Farhad Khosrokhavar, das als zentralen Begriff das Subjekt zum Gegenstand hat, erklärt, sein Denken sei von Sartre als „Philosoph der Freiheit“ 9 beherrscht gewesen, so beinhaltet diese geistige Faszination tendenziell auch ein Einverständnis mit Sartres Voluntarismus. Er kommt in dem folgenden (hier gekürzten) Satz aus L’Etre et le Néant zum Ausdruck: „Ich tauche allein und inmitten von Angst auf, angesichts des einzigen und ersten Projekts, das mein Sein ausmacht, alle Schranken, alle Stützen brechen zusammen, werden vom Bewusstsein 6 A. Touraine, „Le Sociologue du peuple. Entretien avec Alain Touraine“, in: Pierre Bourdieu. Son ouvrage, son héritage, op. cit., S. 110. 7 A. Touraine, Nous, sujets humains, Paris, Seuil, 2015, S. 71. 8 P. Bourdieu, P.-M. de Biasi, „Interview“ in: J.-P. Martin (Hrsg.), Bourdieu et la littérature. Suivi d’un entretien avec Pierre Bourdieu, Nantes, Editions Cécile Defaut, 2010, S. 257. 9 A. Touraine, F. Khosrokhavar, La Recherche de soi. Dialogue sur le Sujet, Paris, Fayard, 2000, S. 61. <?page no="729"?> Bourdieus Soziologie 713 meiner Freiheit vernichtet (néantisés); ich kann mich auf keinen Wert berufen und dadurch die Tatsache leugnen, dass ich allein es bin, der für das Dasein der Werte bürgt (…).“ 10 Touraines ethische Freiheit, die er den individuellen und kollektiven Subjekten (den Bewegungen) in der zeitgenössischen Gesellschaft zuspricht, ist auf das von Sartre geschilderte existenzielle Freiheitsbewusstsein zurückzuführen, das alle sozialen Determinanten (als „Werte“) negiert und eine Ethik der individuellen Verantwortung begründet. Touraine folgt Sartre und entfernt sich in seinem Spätwerk von der Soziologie als Wissenschaft der Sozialisation und ihrer Komponenten. Bourdieu geht den umgekehrten Weg, indem er bei Sartre zunächst eine (idealistische) „vorgeschichtslose Konfrontation zwischen Subjekt und Welt“ 11 und ein Bewusstsein bemängelt, „das sich diese Welt selbst erschafft, und folglich jeder Objektivität völlig bar [ist].“ 12 In Die Regeln der Kunst findet sich eine an diese Bemerkungen anschließbare, ausführlichere Kritik an Sartre, die dessen Vorstellung von einem sich selbst begründenden freien Schöpfer-Subjekt aufs Korn nimmt, dessen mythischen Charakter Bourdieu unterstreicht: „Mit diesem Gründungsmythos, mit dem Glauben an den ungeschaffenen ‚Schöpfer‘ (der sich zum Begriff Habitus verhält wie das Buch Genesis zur Evolutionstheorie) schreibt Sartre dem Anfang jeder menschlichen Existenz eine Art freien und bewußten Akt der Selbstdeterminierung zu, ein Ursprungsprojekt ohne Ursprung (…).“ 13 Bourdieu knüpft hier an zahlreiche - vor allem marxistische 14 - Sartre-Kritiken der 1960er und 70er Jahre an, die sich ebenfalls an Sartres historisch und sozial voraussetzungslosem Idealismus stoßen. Aber wie sieht Bourdieus Alternative zu Sartre und Touraine aus? Die Antwort auf diese Frage kann knapp ausfallen: Bourdieu schlägt nach bewährtem hegelianischen Rezept (vgl. Kap. IV. 1) eine Synthese von Subjektivismus und Objektivismus, von Existenzialismus und (Lévi-Straussʼ) Strukturalismus im „Höheren“ vor. Während der idealistische Existenzialismus Sartres die sozialen Determinanten subjektiven Handelns übersieht oder nicht wahrhaben will, reduziert der anthropologische Strukturalis- 10 J.-P. Sartre, L’Etre et le Néant, Paris, Gallimard, 1943, S. 75. 11 P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (8. Aufl.), S. 79. 12 Ibid. 13 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (7. Aufl.), S. 302. 14 Vgl. A. Schaff, Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, Frankfurt, Fischer, 1966, S. 70-71. <?page no="730"?> Bourdieus Soziologie 714 mus Lévi-Straussʼ das Subjekt auf eine „Rolle des Trägers der Struktur“ 15 oder betrachtet es als „einfaches Epiphänomen der Struktur“. 16 Aus Bourdieus Sicht sollten die Beziehungen zwischen subjektivem Handeln und dem objektiv gegebenen Strukturganzen im Mittelpunkt soziologischer und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen stehen: „Wenn man dem Studium der Relationen zwischen objektiven Beziehungen das Studium der Relationen zwischen den Individuen und jenen Beziehungen opfert oder die Frage der Beziehung zwischen diesen beiden Beziehungstypen ignoriert, verfällt man in einen Strukturrealismus.“ 17 Wesentlich klarer formuliert es Joseph Jurt, wenn er zusammenfassend kommentiert: „Der Sinn der persönlichen Handlungen ‚gehöre‘ nicht den Subjekten, er erschließe sich aus dem System der objektiven Beziehungen, in das sich die Individuen eingelassen finden.“ 18 Wer diese „objektiven Beziehungen“ durchschauen und beschreiben will, muss ein relationales Denken im Sinne des Strukturalismus entwickeln und sein Augenmerk nicht auf isolierte Substanzen, sondern auf ihre Wechselbeziehungen richten. (Analog dazu versucht der Strukturalist Saussure phonetische Einheiten und Wörter nicht als isolierte Erscheinungen, sondern in ihren Beziehungen zu anderen Einheiten der Sprache - relational - zu verstehen.) 19 Dies bedeutet zugleich, dass individuelle Subjekte (wie bei Simmel: Kap. XI) in ständigem Austausch mit Anderen und im Rahmen von vorgegebenen Strukturen, institutionalisierten Werten, Normen und Regeln handeln. In diesem Kontext fällt dem Habitus-Begriff (s.o.) die Funktion zu, eine Brücke vom voluntaristischen Subjektivismus zum deterministischen Objektivismus der Strukturalisten zu schlagen: Als Verinnerlichung oder Erwerb von sozialen Werten, Normen und Verhaltensweisen ist er die menschgewordene, individualisierte Struktur. Er ist nicht deterministisch zu deuten, sondern sollte - nach Bourdieu - als Synthese von idealistischem Voluntarismus und materialistischer Bedingtheit aufgefasst werden: eine Synthese, die schon Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“ ins Auge fasste. 20 15 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 286. 16 P. Bourdieu, Anthropologie économique. Cours au Collège de France 1992-1993 (Hrsg. P. Champagne, J. Duval), Paris, Seuil (Raisons d’agir), 2017, S. 247. 17 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, op. cit., S. 39. 18 J. Jurt, Bourdieu, Stuttgart, Reclam, 2008, S. 34. 19 Vgl. F. de Saussure, Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, de Gruyter, 1967 (2. Aufl.), S. 138. 20 K. Marx, „Thesen über Feuerbach“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut)., Stuttgart, Kröner, 1971, S. 339: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ <?page no="731"?> Bourdieus Soziologie 715 Die folgende Definition des Habitus-Begriffs könnte als implizite Polemik gegen Sartres abstrakte Auffassung des individuellen Subjekts aufgefasst werden: „In dieser Hinsicht könnte der Habitus als wirkliches im Gegensatz zum abstrakten Individuum charakterisiert werden.“ 21 Während das abstrakte Individuum des Sartreschen Existenzialismus voraussetzungslos ist und seine eigenen Werte - gleichsam ad hoc et ex nihilo - erschaffen soll, kommt das wirkliche, soziale Individuum (Bourdieu spricht auch vom „wirklichen Subjekt“) 22 dadurch zustande, dass es die Strukturen und Handlungsmuster verinnerlicht, die sein gesellschaftliches Umfeld bilden (vgl. Abschn. 4). Durch diese Vermittlung des individuellen Verhaltens mit den dieses Verhalten bedingenden sozialen Strukturen verknüpft Bourdieu die subjektive, aktive Perspektive des Existenzialismus mit der objektivistischen Perspektive des Strukturalismus, der Subjektivität für strukturell determiniert hält. Diese Verknüpfung oder Synthese der beiden einander scheinbar ausschließenden theoretischen Standpunkte bezeichnet er - nach Lucien Goldmann und in partieller Übereinstimmung mit ihm 23 - als „genetischen Strukturalismus“: „Die Soziologie, wie ich sie verstehe, ist ein genetischer Strukturalismus oder eine strukturale Genetik.“ 24 Eine umfassende Definition dieser Strukturalismusvariante könnte lauten: eine Soziologie gesellschaftlicher Strukturen, welche deren historische Hervorbringung durch individuelle und kollektive Akteure oder Aktanten untersucht, die ihre Interessen und Ansichten gegen konkurrierende Interessen und Ansichten durchzusetzen versuchen. Es geht folglich darum, soziale Strukturen und ihre Genese im historischen Prozess zu betrachten, der von individuellen und kollektiven Interessenskonflikten in Gang gehalten wird. Diese Interessen- und Handlungsorientierte Betrachtungsweise, die Struktur und Handlung aufeinander bezieht, bezeichnet Bourdieu auch als Praxeologie. 21 P. Bourdieu, Sociologie générale. Cours au Collège de France 1983-1986, Bd. II (Hrsg. P. Champagne, J. Duval), Paris, Seuil (Raisons d’agir), 2016, S. 946. 22 Ibid. 23 Vgl. L. Goldmann, „La méthode structuraliste génétique en histoire de la littérature“, in: ders., Pour une sociologie du roman, Paris, Gallimard, 1964 (dt. „Die Strukturalistisch-genetische Methode in der Literaturgeschichte“, in: L. Goldmann, Soziologie des Romans, Frankfurt, Suhrkamp, 1984); L. Goldmann, „Genèse et structure“, in: ders., Marxisme et sciences humaines, Paris, Gallimard, 1970; A. Goldmann et al. (Hrsg.), Le Structuralisme génétique. L’œuvre et l’influence de Lucien Goldmann, Paris, Denoël- Gonthier, 1977. Zu Bourdieu vgl. J. Jurt, „Génétique sociale“, in: E. Bouju (Hrsg.), Fragments d’un discours théorique. Nouveaux Eléments de lexique littéraire, Nantes, Cécile Defaut, 2015, S. 156-158. 24 P. Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992 (Hrsg. P. Champagne et al.), Berlin, Suhrkamp, 2017, S. 164. <?page no="732"?> Bourdieus Soziologie 716 Da die Akteure die strukturellen Zusammenhänge, in denen sie handeln, und ihre eigenen Interessen nicht in allen Fällen richtig einschätzen können und die Interessen ihrer Gegner nicht immer durchschauen, mahnt Bourdieu zur kritischen Distanz dem Alltagswissen als common sense gegenüber. In Übereinstimmung mit dem Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard 25 meint er, dass sich Wissenschaft nur durch einen Bruch mit dem Alltagswissen konstituieren kann. In diesem Zusammenhang hebt Joseph Jurt zwei Komponenten der „praxeologischen Erkenntnisweise“ hervor: den Bruch mit dem Alltagswissen und die Ausrichtung auf die „Praxis der Akteure“: „Der Wissenschaftler muss als Beobachter mit den Alltagserfahrungen brechen, um die Praktiken aus der Gesamtperspektive zu interpretieren. In einem zweiten Schritt muss er versuchen, die spezifischen Bedingungen der Praxis der Akteure zu rekonstruieren (…).“ 26 Hier wird deutlich, dass die Abgrenzung gegen das Alltagswissen, die das Eindringen vorgefasster Meinungen und Stereotypen in die Soziologie vermeiden soll, keineswegs bedeutet, dass die „Praxis der Akteure“ ignoriert wird. Dem Strukturalismus wirft Bourdieu vor, dass er diese Praxis ausblendet und dadurch einer scholastischen Denkweise, einer scholastic fallacy, verfällt, die darin besteht, dass „alle sozialen Akteure nach dem Bilde des Wissenschaftlers“ 27 betrachtet werden. Lévi-Strauss etwa leitet das Handeln von Stammesangehörigen aus den von ihm konstruierten Verwandtschaftsbeziehungen ab, ohne die individuellen, praktischen Anliegen der Akteure zu berücksichtigen. 28 Der homo oeconomicus, der ausschließlich nach rationalen Kriterien kalkuliert, die von Wertungen und Neigungen (Vorurteilen, Gerüchten, Ängsten) frei sind, ist eine Schimäre bestimmter (schon von Pareto kritisierter: vgl. Kap. VIII. 2) Wirtschaftswissenschaftler: „An die Stelle des gesellschaftlich konstituierten Praxis-Sinns des handelnden Subjekts wird hier der Kopf des die Praxis denkenden Wissenschaftlers gesetzt.“ 29 Ein weiteres Beispiel wäre ein „scholastischer“, praxisferner Sprachunterricht, der die grammatische 25 Vgl. G. Bachelard, La Philosophie du non, Paris, PUF (1940), 1983 (9. Aufl.), S. 8: „Der wissenschaftliche Geist kann sich nur bilden, indem er den nichtwissenschaftlichen zerstört.“ 26 J. Jurt, Bourdieu, op. cit., S. 125. 27 P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (9. Aufl.), S. 210. 28 Vgl. Claire Jacobsons „Translator’s Preface“ in: Cl. Lévi-Strauss, Structural Anthropology, New York, Basic Books, 1963, S. XV, wo der mathematische Formalismus von Lévi- Straussʼ Anthropologie betont wird: „A formal mathematical method is proposed as one approach to the study of the integration of hierarchical and communication structures.“ 29 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 156. <?page no="733"?> Bourdieus Soziologie 717 Regel (als Sicht des Linguisten) bevorzugt und dadurch verhindert, dass Schülerinnen und Schüler sprechen und schreiben lernen. Trotz der Ausrichtung auf Subjekte, Akteure und ihre Praxis haftet Bourdieus Soziologie ein gewisser Determinismus an: Er hängt, wie noch zu zeigen sein wird (Abschn. 4), damit zusammen, dass der Habitus-Begriff zwar durchaus Freiheiten, Spielräume und Innovationen vorsieht, nicht jedoch das Durchbrechen des Habitus selbst, das von wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen ebenso wie von politischen Umwälzungen vorausgesetzt wird. Galileo Galilei hat diesen Durchbruch teuer bezahlt, als er wider alle Gewohnheiten und eingeschliffenen Redensarten („die Sonne geht auf, geht unter“) behauptete, dass sich die Erde um die Sonne dreht: „Eppur si muove! “ Hier genügt kein - noch so innovativer - Habitus: Er muss gesprengt werden. Insofern hat Sartre nicht ganz Unrecht, wenn er vom Alleinsein und vom „Bewusstsein meiner Freiheit“ spricht. 2. Bourdieu zwischen Marx, Durkheim und Max Weber Bourdieu könnte im Beziehungsgeflecht zahlreicher Philosophien und Soziologien dargestellt werden. Es ist das Verdienst von Autoren wie Werner Fuchs-Heinritz, Alexandra König 30 und Stefan Zenklusen 31 , auf diesen philosophisch-soziologischen Kontext hingewiesen zu haben, zumal Bourdieu seine wissenschaftliche Laufbahn als Philosoph begann. 32 Blaise, Pascal, Immanuel Kant, Auguste Comte, Thorstein Veblen, Werner Sombart, Martin Heidegger, Norbert Elias und Erwin Panofsky, denen Zenklusen noch Aristoteles, Thomas von Aquin, Spinoza, Leibniz, Hegel und Arnold Gehlen hinzufügt, gehören alle zu Bourdieus Vorläufern, zu seinem „Intertext“, wie Barthes sagen würde. Im Folgenden sollen jedoch Marx, Durkheim und Max Weber im Vordergrund stehen: Nicht nur weil sie - zusammen mit Comte und Spencer - die Soziologie begründet haben, sondern auch deshalb, weil sie in diesem Buch ausführlich diskutiert wurden und für das Verständnis von Bourdieus Soziologie wesentlich sind. Von Marx erbt Bourdieu die Kritik am Kapitalismus als „Neoliberalismus“ und das politische Engagement für eine bessere, herrschaftsfreie Gesellschaft. Als spätmoderner Denker erbt er allerdings auch Durkheims, Simmels, Alfred und Max Webers Skepsis dem Fortschrittsglauben und der sozialen Evolution gegenüber. Karl Marxʼ Klassenkampftheorie, die als 30 Vgl. W. Fuchs-Heinritz, A. König, Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz-München, UVK-UTB, 2014 (3. Aufl.), Kap. V: „Wurzeln und Quellen, Freunde und Feinde“. 31 S. Zenklusen, Philosophische Bezüge bei Pierre Bourdieu, Konstanz, UVK, 2010, Kap. I- III. 32 Vgl. ibid., S. 7: „Bourdieu ist selbst ‚gelernter‘ Philosoph (…).“ <?page no="734"?> Bourdieus Soziologie 718 wissenschaftlicher Katalysator den revolutionären Prozess beschleunigen sollte, verliert an Glaubwürdigkeit in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der der Klassenantagonismus im „Wohlfahrtsstaat“ entschärft wird, so dass es nicht mehr sinnvoll erscheint, sich Bourgeoisie und Proletariat als einander unversöhnlich gegenüberstehende kollektive Aktanten vorzustellen. In einem Kommentar zu Bourdieus Soziologie, geht Louis Chauvel der Frage nach, „ob wir (wieder) von gesellschaftlichen Klassen sprechen können“. Seine Antwort auf diese Frage umreißt den neuen historischen und sozialen Kontext, in dem Bourdieu Marxʼ Theorie kritisch ergänzt und umdeutet: „Interessanter [als die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Klasse] ist die Zunahme derer, die sich selbst zur ‚Mittelschicht‘ rechnen und deren Prozentsatz wächst, während der Anteil derer, die sich zur Arbeiterklasse zählen, abnimmt.“ 33 Auch die Anzahl derjenigen, die sich der „Bourgeoisie“ zuordnen, nimmt ab, weil sich die meisten „Bürgerlichen“ ebenfalls der Mittelschicht zugehörig fühlen. In dieser Situation erscheint zwar Bourdieus Einteilung der Gesellschaft in drei Klassen (Bürgertum, Kleinbürgertum und Arbeiterklasse: vgl. Abschn. 3) durchaus legitim; aber ebenso wichtig wie diese Dreiteilung, die der Marxschen größtenteils entspricht, ist seine Umdeutung des Klassenbegriffs durch dessen Ausdehnung auf den kulturellen Bereich. Durch diese Erweiterung des Begriffs trägt Bourdieu einerseits der beobachtbaren Tatsache Rechnung, dass der ökonomisch bedingte Klassenantagonismus durch das Anwachsen der Mittelschicht entschärft wird, andererseits der komplementären Tatsache, dass kulturelle Unterschiede und Gegensätze in der zeitgenössischen Gesellschaft mindestens so wichtig sind wie die wirtschaftlichen. Die Modalitäten „Wissen“ und „Können“ als Bildung oder kulturelle Kompetenz gewinnen an Bedeutung, während das Eigentum an Produktionsmitteln im Übergang von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft an Bedeutung verliert. Diese Entwicklung schildert der Wissens- und Wissenschaftssoziologe Peter Weingart: „Die Konstante bleibt (…) der behauptete Gegensatz zu der vorangegangenen Epoche der Industriegesellschaft, in der das Eigentum an Produktionsmitteln bzw. die Verfügung über sie das entscheidende Kriterium gesellschaftlicher Macht und Strukturbildung war. Wissenschaftliches Wissen, so die übereinstimmende These, tritt 33 L. Chauvel, „Pouvons-nous (de nouveau) parler de classes sociales? “, in. J. Lojkine (Hrsg.), Les Sociologies critiques du capitalisme. En hommage à Pierre Bourdieu, Paris, PUF, 2003 (2. Aufl.), S. 129. <?page no="735"?> Bourdieus Soziologie 719 hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung an die Stelle materieller Produktionsmittel.“ 34 In dem von Chauvel und Weingart konstruierten Kontext ist Bourdieus Umdeutung der Marxschen Lehre zu verstehen: Das Abklingen des Klassenkampfes (seine Verwaltung durch den Staat, würde Adorno sagen) 35 führt dazu, dass sich sowohl Bürger als auch Arbeiter (etwa Techniker) zur Mittelschicht zählen und dass in der Wissensgesellschaft kulturelle Kompetenz in Muttersprache, Fremdsprache, Informatik und Wirtschaft eher Aufstiegschancen bietet als Besitz. Bourdieu zeigt, wie wichtig der kulturelle Faktor als „Lebensstil“ für vertikale Mobilität und die Gliederung der Gesellschaft ist: „Kurz, alles weist darauf hin, daß zwischen Facharbeitern und Werkmeistern, die sich ihrer Klasse konform verhalten, und den Angestellten, die, wenigstens in Gedanken, schon auf dem Weg nach oben sind, wahrhaftig eine Grenze verläuft, und zwar im Bereich des Lebensstils nicht weniger als in ihren politischen Meinungsäußerungen.“ 36 Diese Grenze ist eher kulturell als ökonomisch bestimmbar. Die Erweiterung des Marxschen Klassenbegriffs bei Bourdieu fassen Werner Fuchs-Heinritz und Alexandra König knapp und klar zusammen: „Eine solche kulturtheoretisch gesättigte Klassentheorie verabschiedet sich von den Klassentheorien des 19. Jahrhunderts, die in erster Linie auf der Analyse von Merkmalen wie Arbeitsbeziehungen oder Berufspositionen basierten.“ 37 Aus der Erweiterung des Klassenbegriff durch kulturelle Komponenten ergibt sich ein weiterer Kritikpunkt, der hier in einem anderen Kontext im Kapitel über Hegel und Marx angesprochen wurde: Marxʼ abstrakte Konstruktion der Klassen, vor allem des Proletariats, die an einigen Stellen seines Werks (nicht überall) mythische Aktanten entstehen lässt. In diesem Zusammenhang wirft Bourdieu Marx ein „scholastisches“ (s.o.) Denken vor, das die abstrakten Vorstellungen des Wissenschaftlers den leibhaftigen Akteuren und ihren Zielsetzungen überstülpt: „Indem die marxistische Theorie konstruierte Klasse und wirkliche Klasse gleichsetzt, identifiziert sie, wie Marx dies Hegel vorgeworfen hatte, die Dinge der Logik mit der Logik der Dinge (…).“ 38 34 P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 14. 35 Vgl. Th. W. Adorno, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? “, in: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 167. 36 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, op. cit., S. 608-609. 37 W. Fuchs-Heinritz, A. König, Pierre Bourdieu. Eine Einführung, op. cit., S. 149. 38 P. Bourdieu, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz, UVK, 2001, S. 129. <?page no="736"?> Bourdieus Soziologie 720 Freilich konstruiert auch Bourdieu seine verschiedenen Kapitalsorten, seine Klassen und Felder - ebenso wie die Dialogische Theorie die Geistergespräche zwischen Touraine und Luhmann oder Bourdieu und Touraine konstruiert sowie die beteiligten Theorien selbst. Jede soziologische Theorie kann nur als (narrative) Konstruktion der sozialen Welt und ihrer Diskurse verstanden werden. Bourdieus Konstruktionen unterscheiden sich allerdings vorteilhaft von den Marxschen und marxistischen dadurch, dass sie - vor allem im Falle der Klasse - mehrdimensional sind und oft auf einem soliden empirischen Fundament gründen (vgl. z.B. Die feinen Unterschiede S. 481-492 und S. 607-619). Von ihrer Mehrdimensionalität zeugen seine Versuche, Marxʼ Klassenbegriff durch Theoreme aus Durkheims und Max Webers Soziologien zu ergänzen. Der in dieser Hinsicht entscheidende Satz aus einer Vorlesung am Collège de France (30. Mai 1985) lautet: „Dies ist wohl das Loch im marxistischen Denken, das die Durkheimianer und Weberianer ausfüllen: die symbolischen Systeme sind Herrschaftsinstrumente (instruments de domination).“ 39 So hat es Durkheim, der kaum von „Herrschaft“ oder „domination“ spricht, nicht gesehen, und es ist Bourdieus eigene Konstruktion und zugleich sein Verdienst, ein Amalgam aus Marx und Durkheim hervorgebracht zu haben, in dem Kultur als System von Symbolen Herrschaft bedingt und als Herrschaftsstruktur gedacht werden kann. Ausgehend von Emile Durkheims und Marcel Maussʼ bekanntem Aufsatz „De quelques formes primitives de classification“ (Année sociologique 6, 1903), der hier im neunten Kapitel kommentiert wurde, geht auch Bourdieu davon aus, dass Klassifikationen nicht individuell, sondern sozial, kollektiv sind und von der hierarchischen Gliederung einer Gruppe oder Klasse zeugen. Für ihn ist wie für Durkheim das Individuum eine aus dem Kollektiv hervorgehende Instanz mit kollektiven Vorstellungen. Durkheims und Maussʼ Ausführungen fügt er jedoch in Anlehnung an Marx die Überlegung hinzu, dass allen Klassifikationen Herrschaftsansprüche innewohnen, von denen Machtkämpfe zeugen: „Eine vollständige Wissenschaft der Klassifizierungen sollte diesen Kampf um Klassifizierungen einschließen.“ 40 Dies bedeutet, dass kulturelle Einteilungen - wie hoch / niedrig (etwa hohe Minne / niedere Minne), wertvoll / wertlos, legitim / illegitim - alles andere als neutral oder „objektiv“ sind, weil sie von individuellen und kollektiven Machtansprüchen zeugen. Loic J. D. Wacquant, der im Anschluss 39 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. II, op. cit., S. 792. 40 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I (Hrsg. P. Champagne et al.), Cours au Collège de France 1981-1983, Paris, Seuil (Raisons d’agir), 2015, S. 84. <?page no="737"?> Bourdieus Soziologie 721 an Bourdieu („lutte des classements“) 41 von einem „Klassifizierungskampf“ 42 spricht, fasst zusammen: „Die symbolischen Systeme sind nicht einfach Erkenntnisinstrumente; sie sind auch Herrschaftsinstrumente (Ideologien in der Terminologie von Marx, Theodizeen in der von Weber).“ 43 Durkheim und Weber erscheinen in der Soziologie eher als Antipoden denn als Geistesverwandte (vgl. Kap. IX und XII). Zu verbündeten werden sie in dem Augenblick, da es um die Eigengesetzlichkeit des kulturellen Bereichs geht: Beide sind der Meinung, dass etwa Religion nicht einfach als Verkehrung realer, von der ökonomischen Basis ableitbarer Klassenverhältnisse zu verstehen ist. Sie ist ein autonomer Bereich, der eigenen Gesetzen gehorcht und bei Max Weber auf das wirtschaftliche Verhalten der Individuen einwirkt (vgl. Kap. XII. 5). Bei Weber ist - wie bei Durkheim - nicht nur die Religion, sondern die gesamte Kultur ein autonomer Bereich, der nicht auf die Widerspiegelung wirtschaftlicher Verhältnisse reduziert werden kann (dies ist bei Marx auch nicht immer der Fall, und die Tendenz zu diesem Reduktionismus wurde von verschiedenen Marxisten korrigiert). 44 Auf dem Gedanken der kulturellen Autonomie gründet Max Webers Unterscheidung von „Klasse“ und „Status“. Während Weber - durchaus im Marxschen Sinn - „Klassenlagen“ als „ökonomisch relevante Lagen“ 45 auffasst, konstruiert er den „Stand“ und die „ständische Lage“ im Kontext von Kultur und „Lebensführung“: „Wir verstehen unter ständischer Lage eine primär durch Unterschiede in der Art der Lebensführung bestimmter Menschengruppen (und also meist: ihrer Erziehung) bedingte Chance positiver oder negativer sozialer Ehre für sie.“ 46 Nicht zufällig erinnern diese Ausführungen - vor allem mit ihren Begriffen „Lebensführung“, „Erziehung“ und „Ehre“ - an Bourdieus Soziologie, in der die Erziehung in Familie und Schule im Vordergrund steht (vgl. Abschn. 4). Seine Klassentheorie könnte als eine Synthese von Marxʼ vorwiegend ökonomisch (im Hinblick auf den Besitz von Produktionsmitteln) konstruierter Klasse und Webers „ständischer Lage“ oder Status betrachtet werden. Wie sehr Webers Stand- oder Statusbegriff von Bourdieu dem Klassenbegriff einverleibt wird, zeigt die folgende Passage aus Sozialer Sinn: 41 Vgl. P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, Paris, Minuit, 1982, S. 14. 42 L. J. D. Wacquant, in: P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 30. 43 Ibid., S. 32-33. 44 Vgl. H. Lefèbvre, Der dialektische Materialismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1969 (3. Aufl.), S. 118-121. 45 M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920 (Hrsg. H. Schmidt-Glinzer), Studienausgabe, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1991, S. 25. 46 Ibid. <?page no="738"?> Bourdieus Soziologie 722 „‚Statusgruppen‘, die auf ‚Lebensstil‘ und ‚Stilisierung des Lebens‘ beruhen, sind nicht, wie Max Weber meinte, etwas anderes als Klassen, sondern herrschende Klassen, die verneint oder, wenn man so will, sublimiert und damit legitimiert werden.“ 47 Aus Webers Religionssoziologie leitet Bourdieu auch seinen Feldbegriff ab und orientiert sich dabei an Webers „Theorie der religiösen Akteure“ 48 : an den von ihm analysierten Rivalitäten zwischen Priestern, Zauberern und Propheten. Die Darstellung dieser fruchtbaren Weber-Rezeption bleibt hier aber dem vierten Abschnitt vorbehalten. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Bourdieus erweiterter Klassenbegriff durch eine Aufwertung der Kultur als autonomer Herrschaftsstruktur zustande kommt, deren Felder („Wissenschaft“, „Kunst“, „Religion“ und „Recht“) ebenfalls autonome Bereiche darstellen. Diese sind jedoch nicht gegen heteronome Eingriffe aus Wirtschaft, Politik und Journalismus gefeit. 3. Aspekte der sozialen Klasse und des Kapitals: Ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital Als Synthese von Webers kulturell definiertem Status und Marxʼ ökonomischer Klasse bezeichnet Bourdieus Klassenbegriff eine zugleich sozio-ökonomische und kulturelle Einheit, die weder monokausal aus wirtschaftlichen Verhältnissen ableitbar noch als Summe von Merkmalen (soziale Herkunft, Alter, Geschlecht) bestimmbar ist. „Eine soziale Klasse“, erklärt Bourdieu, „ist vielmehr definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht“. 49 Dies bedeutet, dass soziale Klassen nicht mehr im Rahmen der seit Marx überlieferten Dualismen Kapital / Arbeit, Bürgertum / Proletariat zu verstehen sind, sondern nur im Kontext von Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren. In nahezu allen seinen Arbeiten geht Bourdieu diesen Wechselwirkungen nach, indem er beispielsweise zu zeigen versucht, wie sich das - bisweilen fehlende - wirtschaftliche Potenzial einer Familie auf die Ausbildung und Bildung der Kinder in Schule und Universität auswirkt und schließlich auch ihren sozialen Auf- oder Abstieg mitbedingt. Die dergestalt konstruierten Gruppierungen bezeichnet er in einer seiner Vorlesungen als „objektive Klassen“. 50 Er deutet damit an, dass es sich nicht (immer) um „Klassen für sich“ im Sinne von 47 P. Bourdieu, Sozialer Sinn, op. cit., S. 254. 48 P. Bourdieu, Praktische Vernunft, op. cit., S. 61. 49 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, op. cit., S. 182. 50 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I, op. cit., S. 69. <?page no="739"?> Bourdieus Soziologie 723 Marx handelt, um Klassen, die sich ihrer sozialen Lage bewusst sind, sondern um theoretische Konstruktionen, die mit Hilfe der hier erwähnten Faktoren zustande kommen. Somit ist Bourdieus bereits erwähnte Einteilung der Gesellschaft in drei interagierende Klassen ebenfalls als Konstruktion aufzufassen. Zu dieser Dreiteilung bemerken Anne Jourdain und Sidonie Naulin: „Nach Pierre Bourdieu ist die Gesellschaft in drei Hauptgruppierungen gegliedert: das Bürgertum (bourgeoisie), die Mittelschicht (oder die ‚Kleinbürger‘) und die Unterschicht (classes populaires). Jede dieser Gruppierungen wird durch eine spezifische ‚Klassenkultur‘ gekennzeichnet (…).“ 51 Während Marx ein vorwiegend dualistisches Modell anwendet und, wie sich im vierten Kapitel gezeigt hat, nachzuweisen versucht, dass sich der Dualismus in dem Maße durchsetzt, wie die Mittelschicht verarmt und zum Proletariat absteigt, nuanciert Bourdieu sein triadisches Modell, indem er verschiedene Kriterien der Klassenzugehörigkeit unterscheidet: „Bei den unteren Klassen richten sie sich vor allem nach Geld, bei den mittleren Klassen nach Geld und Moralität, während die oberen Klassen den Akzent auf Geburt und Lebensstil legen.“ 52 Angesichts dieser Nuancierungen, die im Alltag als „feine Unterschiede“ 53 ihren Niederschlag finden, erscheint es kaum angebracht, mit Armin Nassehi von einer „Universalisierung des Ökonomischen“ 54 zu sprechen. Sie wird von der Tatsache dementiert, dass Bourdieu im Anschluss an seine triadische Einteilung drei Geschmacksrichtungen unterscheidet, die nicht unmittelbar aus dem Ökonomischen ableitbar sind: den legitimen Geschmack des (Groß-)Bürgertums, den mittleren Geschmack der Mittelschicht oder des Kleinbürgertums und den populären Geschmack der Arbeiter und Bauern. Während Bürger in der Musik Bachs Fuge und in der Malerei Brueghel oder Goya goutieren, bevorzugen Angehörige der Mittelschicht die „Rhapsody in Blue“ (G. Gershwin) oder die „Ungarische Rhapsodie“ (F. Liszt) und in der Malerei Utrillo oder Renoir. Unter Arbeitern, Handwerkern und unteren Angestellten sind Werke wie „An der schönen blauen Donau“ (J. Strauß) oder „La Traviata“ (G. Verdi) beliebt. 55 Zu den besonderen Verdiensten von Bourdieus Soziologie gehört ihre empirische Ausrichtung, durch die sie sich vorteilhaft von den abstrakten 51 A. Jourdain, S. Naulin, La Théorie de Pierre Bourdieu et ses usages sociologiques, Paris, Armand Colin, 2011, S. 67. 52 P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, op. cit., S. 72. 53 Vgl. J. Jurt, „Pierre Bourdieus Konzept der Distinktion“, in: Zs. für Literatur und Theatersoziologie 9, 2016: „Mode - Geschmack - Distinktion“, S. 23: „Die feinen Unterschiede: Lebensstile und soziale Positionen“. 54 A. Nassehi, „Sozialer Sinn“, in: A. Nassehi, G. Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 174. 55 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, op. cit., S. 36-38. <?page no="740"?> Bourdieus Soziologie 724 Systematisierungen Luhmanns unterscheidet. Bourdieu lässt es nicht bei den in einer Theorie fast unabdingbaren Abstraktionen bewenden, sondern zeigt anhand von detaillierten Nachforschungen unter Arbeitern, Kleinkaufleuten, Verwaltungsangestellten, Lehrern, Hochschullehrern und Kunstproduzenten, wie und in welchem Ausmaß besondere Geschmacksrichtungen vorherrschen. In einer schon älteren Arbeit, die er zusammen mit Alain Darbel veröffentlich hat (L’Amour de l’art, 1961), geht er der Frage nach, wie das Publikum europäischer (französischer, griechischer, niederländischer und polnischer) Gesellschaften zusammengesetzt ist. Die Hauptthese des Buches, dass Museumsbesuch und Bildungsgrad zusammenhängen, überrascht wenig; bedeutsamer sind die Einzelerkenntnisse und die ihnen entsprechenden Analysen. Zu ihnen gehört der Gedanke, dass Schulbildung und Bildung den allgemeinen Kode vermitteln, der Betrachter eines Kunstwerks befähigt, den spezifischen Kode dieses Werks zu entziffern und zu beurteilen. Bourdieu und Darbel sprechen von der „vollständigen Beherrschung des Kodes der Kodes“ („maîtrise accomplie du code des codes“) 56 , die erklärt, warum auch ein freier, kostenloser Zugang zum Museum nicht bewirkt, dass Angehörige der Unterschicht zu Kunstliebhabern werden und in die Museen strömen: Ihnen fehlt die Kompetenz, die Kunst und ihre sich wandelnden Kodes (Periodenkodes, Stilkodes) zu verstehen und sich am Kunstwerk zu freuen. Daraus folgt, dass die Freude an der „legitimen Kultur“ - etwa der „Höhenkammliteratur“ oder der abstrakten Malerei - den oberen und mittleren Schichten vorbehalten bleibt. Nicht nur die Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Faktoren (Wirtschaft, Soziales und Kultur) entscheidet über die Konstitution der drei Klassen, sondern auch deren Interaktion. In der bürgerlichen Oberschicht, die Bourdieu mit der herrschenden Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft identifiziert, ist diese Interaktion vom Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftsbürgertum (Unternehmern, Managern, Bankdirektoren) und Kulturbürgertum (Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten) geprägt. Innerhalb dieser Gruppierung gehören die Vertreter der Wirtschaft und Finanz zu den Herrschenden, die Vertreter der Kultur (die Intellektuellen) zu den Beherrschten. Bourdieu fügt hinzu, „dass Reichtum an ökonomischem Kapital und Reichtum an kulturellem Kapital umgekehrt variiert (…)“. 57 56 P. Bourdieu, A. Darbel, L’Amour de l’art. Les musées d’art européens et leur public, Paris, Minuit, 1969, S. 79. 57 P. Bourdieu, „Fraktionen der herrschenden Klasse und Aneignungsweisen von Kunst“, in: ders., Kunst und Kultur. Kultur und kulturelle Praxis. Schriften zur Kultursoziologie IV, Berlin, Suhrkamp, 2015, S. 256. <?page no="741"?> Bourdieus Soziologie 725 Das heißt, dass das Wirtschaftsbürgertum als finanziell und materiell stärkere Gruppe in der Lage ist, Kunstwerke (auch als Investitionen) zu erwerben und sie als „demonstrativen Konsum“ („conspicuous consumption“, Veblen) für Prestigezwecke zu verwenden. Im Gegensatz dazu eignen sich die finanziell relativ schwachen Intellektuellen Kunst und Kultur geistig an, indem sie sich mit ihr kritisch auseinandersetzen. In dieser Situation nimmt es nicht wunder, dass die einen auf die anderen herabblicken: Während die Wirtschaftsbürger ihre materielle und finanzielle Überlegenheit geltend machen, pochen die Intellektuellen auf ihren kulturellen Reichtum und ihr kritisches Vermögen. 58 Aus der Sicht des Kleinbürgertums (der Mittelschicht) erscheinen die beiden herrschenden Gruppierungen als Bezugsgruppen (reference groups), an denen sich der Einzelne oder das Kollektiv orientiert. Ihre legitime Kultur und ihre Lebensstile gelten als nachahmenswert. Aber das Kleinbürgertum hat nach Bourdieu nur „die Alternative zwischen einem konformistisch ‚abgeschauten‘ Benehmen, das gerade in seiner Korrektheit oder Überkorrektheit lebhaft daran erinnert, daß und was es nachäfft, und der ostentativen Abweichung, die doch nur als Eingeständnis der Unfähigkeit zur Anpassung wirken kann“. 59 Das Bezugsgruppenverhältnis, das zwischen herrschendem Bürgertum und Kleinbürgertum zu beobachten ist, findet sich auch zwischen den unteren Schichten (classes populaires) und dem Kleinbürgertum, in das Arbeiter, Handwerker und Bauern aufsteigen möchten. Auch bei ihnen geht es darum, „sich mit der nächsthöheren Gruppe gleichzusetzen oder zu identifizieren“. 60 Dies ist ein Beispiel für relationales oder strukturales, nicht strukturalistisches Denken: Soziale Klassen werden nicht isoliert betrachtet, sondern im Hinblick auf ihre Interaktion mit anderen Klassen definiert. Zugleich werden ihre soziale Praxis, etwa ihr Wunsch nach Mobilität und Aufstieg, sowie ihre Strategien, die dieser Zielsetzung dienen, zur Sprache gebracht. (Im Gegensatz dazu berücksichtigt der Strukturalismus zwar die Gruppenrelationen, blendet aber die Praxis als Strategie der Akteure aus.) Alle Zielsetzungen und Handlungsspielräume der individuellen und kollektiven Akteure hängen von ihrem Kapital ab, das ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Charakter haben kann. Zu Recht definiert Stefan Zenklusen Bourdieus Klassenbegriff im Zusammenhang mit seinem Begriff des Kapitals: „Eine Gruppe mit identischer Kapitalstruktur und 58 Ibid., S. 274. 59 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, op. cit., S. 166-167. 60 P. Bourdieu, Sozialer Sinn, op. cit., S. 249. <?page no="742"?> Bourdieus Soziologie 726 Lebensstil, die homogenen Lebensbedingungen unterworfen ist, heißt bei Bourdieu ‚Klasse‘.“ 61 Von der Tatsache, dass sich die „Kapitalstruktur“ des Wirtschaftsbürgertums wesentlich von der des intellektuellen Bürgertums oder Kulturbürgertums unterscheidet, war bereits die Rede: Während das Wirtschaftsbürgertum als herrschende Gruppe innerhalb der bürgerlichen Klasse über Geld und materielle Güter verfügt, liegt die Stärke des „beherrschten“ Kulturbürgertums (der Intellektuellen) im geistigen Bereich. Anders ausgedrückt: Während das Wirtschaftsbürgertum seine Bedeutung dem ökonomischen Kapital verdankt, verdankt das Kulturbürgertum seine Schlüsselposition in der Gesellschaft dem kulturellen Kapital. Beide Gruppierungen können sich bei ihren Zielsetzungen auf soziales Kapital - Familienbeziehungen, Freundschaften, Bekanntschaften - verlassen, wobei das Wirtschaftsbürgertum den Intellektuellen in diesem Bereich aufgrund von Geschäftsbeziehungen, die auf Interessenkonvergenzen gründen, überlegen ist. Im Zusammenhang mit der algerischen Gesellschaft definiert Bourdieu soziales Kapital als „das Bündnisnetz, mit dem die Familien im Notfall rechnen können“. 62 Mittelfristig und langfristig ist es stets möglich, eine Kapitalsorte in eine andere zu verwandeln: Eine Familie, die über beachtliches finanzielles Kapital verfügt, kann ihren Kindern eine zeitaufwendige Bildung bieten, die im Erwachsenenalter beruflichen Erfolg begünstigt und zur Mehrung des wirtschaftlichen Familienkapitals beitragen kann. Auch soziales Kapital als Beziehungsnetzwerk ist konvertibel: Es kann sowohl eine Karriereplanung erleichtern als auch in Form von Geschäftsbeziehungen wirtschaftlichen Erfolg ermöglichen. In allen diesen Bereichen sind das Kleinbürgertum und die Unterschicht im Nachteil: Ihnen steht nicht nur ein vergleichsweise bescheidenes ökonomisches Kapital zur Verfügung, sondern auch ein geringeres soziales Kapital, weil die involvierten Personen kaum Einfluss oder politische Macht geltend machen können. Im Vergleich zu den zwei bürgerlichen Gruppierungen ist ihr kulturelles Kapital nur schwach ausgebildet, weil die Zeit ihres Schulbesuchs relativ kurz war. Eine der Folgen ist, dass auch ihr symbolisches Kapital schwach ausgeprägt ist, weil es auf der Anerkennung beruht, die in der Öffentlichkeit dem Besitz der drei anderen Kapitalsorten zuteil wird. (Das symbolische Kapital ist demnach keine eigene Kapitalform, sondern resultiert aus der kumulativen Wirkung des ökonomischen, des sozialen und des kulturellen Kapitals.) Bourdieu selbst definiert das symbolische Kapital wie folgt: „Das 61 S. Zenklusen, Philosophische Bezüge bei Pierre Bourdieu, op. cit., S. 79. 62 P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis - auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (4. Aufl.), S. 124. <?page no="743"?> Bourdieus Soziologie 727 symbolische Kapital ist ein Kapital mit kognitiver Basis, es beruht auf Erkennen und Anerkennen.“ 63 Seine Wirkung wird durch das folgende Beispiel illustriert: „Das symbolische Kapital (…) bewirkt, daß man sich vor Ludwig XIV. verneigt, daß man ihm den Hof macht, daß er Befehle geben kann (….)“ 64 Die Gefahr des symbolischen Kapitals besteht darin, dass man stärker auf den sozialen Status einer Person achtet als auf ihre Gedanken und ihr Handeln. Wenn ein berühmter Wissenschaftler spricht, dessen kühne Metaphorik zumeist mit seiner Berühmtheit wächst, neigen viele dazu, an seinen Lippen zu hängen und dabei die Verschwommenheiten und Widersprüche in seiner Argumentation zu überhören. In der Politik, wo Emotionen oft ausschlaggebend sind, ist diese Gefahr bekanntlich noch größer. Kulturelles Prestige, Kulturbeflissenheit und akademische Titel können nicht nur beeindrucken, sondern auf Individuen aus kulturfernen Milieus auch symbolische Gewalt ausüben. Die Situation, in der diese Art von Gewalt herrscht, schildert Bourdieu in Über den Staat: „Während die Kenntnis der Kultur sehr ungleich verteilt ist, ist die Anerkennung der Kultur sehr weit verbreitet und, darüber vermittelt, die Anerkennung all dessen, was die Kultur garantiert: die Überlegenheit der Kultivierten über die Unkultivierten, die Tatsache, daß die Enarchen [Absolventen der Verwaltungshochschule ENA] die Machtposten einnehmen usw.“ 65 Hier wird ein neuer Aspekt sozialer Herrschaft sichtbar: Herrschaft ist nicht nur wirtschaftliche Macht (etwa Kapitalbesitz) oder politische Gewalt (etwa die Möglichkeit, Polizei und Armee zu mobilisieren), sondern auch kulturell-symbolische Gewalt, die die Herrschenden anwenden können, um die kulturell Benachteiligten in die Schranken zu weisen. Sie können sich auf die von Bourdieu erwähnte „Anerkennung der Kultur“, vor allem der „legitimen Kultur“, verlassen, die als Prestigeobjekt auf den Unterschichten lastet. Als genetischer Strukturalist, der soziale Strukturen nicht für natürliche oder naturgegebene Erscheinungen hält, sondern nach ihrer sozio-historischen Entstehung fragt, untersucht Bourdieu die Sozialisierungsprozesse in Familie und Schule. Er versucht nachzuweisen, dass in diesen beiden Institutionen (zum Verhältnis von Institution und Feld vgl. Abschn. 5) die Voraussetzungen für sozialen Erfolg oder Misserfolg geschaffen werden, weil in Familien des Bürgertums, des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft sehr unterschiedliche Kapitalverhältnisse herrschen. 63 P. Bourdieu, Praktische Vernunft, op. cit., S. 151. 64 Ibid. 65 P. Bourdieu, Über den Staat, op. cit., S. 282. <?page no="744"?> Bourdieus Soziologie 728 Ausgehend von der Frage, „wie man ökonomisches in kulturelles oder kulturelles in ökonomisches Kapital verwandelt“ 66 , zeigt er, wie in Familien des Wirtschafts- und des Kulturbürgertums ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital ineinander greifen und einander potenzieren. Dies hat zur Folge, dass die primäre Sozialisation dem bürgerlichen Kind optimale Bedingungen bietet, den Anforderungen der Schule zu genügen. Konkret bedeutet dies, dass das bürgerliche Kind als „Erbe“ („héritier“) dieser Bedingungen betrachtet werden kann. Im Laufe der primären Sozialisation nimmt es die bürgerliche, die legitime Kultur auf und sichert sich dadurch Kindern aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft gegenüber erhebliche Vorteile: etwa durch bessere Sprachbeherrschung oder durch Vertrautheit mit Kunst und Literatur, die zuhause allgegenwärtig sind. Diese Vorteile schlagen in der Schule gleich doppelt oder dreifach zu Buche, weil die legitimen Erben der Kultur dort bevorzugt behandelt werden: Sie stehen dem gebildeten Lehrpersonal näher als Arbeiter- oder Bauernkinder, und am Ende ihrer Schullaufbahn wird ihnen durch bessere Noten nicht nur ihre Performanz, sondern zugleich auch ihre - gleichsam angeborene - Kompetenz als Auffassungsgabe und Lernfähigkeit bescheinigt. Auf diese Art öffnet ihnen die Schule das Tor zur akademischen Welt, zur Universität. In Les Héritiers (1964) und La Reproduction (1970) wenden sich Bourdieu und Jean-Claude Passeron gegen die in Schulen vorherrschende „Ideologie der Begabung“, die soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Kindern auf Unterschiede im Bereich von Intelligenz und Talent reduziert: „Die Blindheit sozialen Ungleichheiten gegenüber erlaubt und verurteilt dazu, alle Ungleichheiten, vor allem im Bereich des Schulerfolgs, als natürliche Ungleichheiten, als Ungleichheiten der Begabung zu erklären.“ 67 Während in Les Héritiers die Begriffe „Intelligenz“ und „Begabung“ nur relativiert, nicht jedoch in Bausch und Bogen abgelehnt werden, verschärft sich in Bourdieus späteren Werken der Ton. In Méditations pascaliennes (1997, dt. Meditationen, 2001) ist gar vom „Mythos von der ‚natürlichen Begabung‘ und [vom] Rassismus der Intelligenz“ 68 die Rede. Bourdieu hat zweifellos Recht, wenn er, ausgehend von der durkheimianischen Prämisse „alles ist sozial“, die Ideologie einer „natürlichen geistigen Überlegenheit“ kritisch unter die Lupe nimmt. Der dialogische Kontext bringt aber - gleichsam von selbst - die Neigung hervor, jede These durch die komplementäre Gegenthese zu testen: vor allem angesichts eines ideo- 66 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. II, op. cit., S. 294. 67 P. Bourdieu, J.-C. Passeron, Les Héritiers. Les étudiants et la culture, Paris, Minuit (1964), 1966, S. 111. 68 P. Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 2013 (3. Aufl.), S. 102. <?page no="745"?> Bourdieus Soziologie 729 logischen Dualismus, dessen dogmatischer Monolog von negativen (disqualifizierenden) Konnotationen wie „Mythos“ und „Rassismus“ 69 verstärkt wird. Hinter Dualismus und Monolog verbirgt sich oft Unsicherheit. Denn es ist gar nicht so sicher, dass alles auf ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zurückgeführt werden kann. Nicht alles ist sozial, und die Gegenthese, die man mit Herbert Spencer und Charles Darwin (gegen Durkheim und Bourdieu) aufstellen könnte, lautet: Soziale Ungleichheiten sind letztlich biologisch bedingt, weil Intelligenz und Begabung ungleich verteilt sind. Freilich gerät man so in die Nähe des Sozialdarwinismus, die kein Vertreter der Kritischen Theorie goutieren kann, weil der Sozialdarwinismus weder als Ideologie noch als Theorie akzeptabel ist. 70 Außerdem übersieht er die von Bourdieu völlig zu Recht analysierten Faktoren. Akzeptabler erscheint Spencers Darstellung der Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft: „Man muss sich von den beiden Dogmen frei machen, dass die menschliche Natur unveränderlich und dass sie leicht veränderlich sei, und sich statt dessen mit der Auffassung einer menschlichen Natur vertraut machen, welche in der langsamen Folge von Generationen verändert wird.“ 71 Diese Veränderungen untersucht Bourdieu im sozialen Bereich. Die Natur als Physis oder Körperlichkeit bleibt aber als Grundlage erhalten. Das große und starke Individuum hat Vorteile, die das kleine und Schwache entbehren muss: Nicht jeder wird als Athlet, Korbballspieler, Fußballer oder Seiltänzer geboren. Dass musikalische Begabung, die sich stets in der Gesellschaft entfaltet, nicht rein gesellschaftlich, sondern erblich ist, lässt die Familiengeschichte von Johann Sebastian Bach erkennen, in der es zahlreiche Musiker zu hohem Ansehen brachten. Auch mathematische, sprachliche und künstlerische Begabung ist eine Frage des erblichen Intellekts und erst an zweiter Stelle der Sozialisation. Davon zeugen die vielen Arbeiter- und Bauernkinder, die in der Schule erfolgreicher sind als Kinder aus bürgerlichem Hause. 72 Sie sind intelligenter. Bourdieu hätte jedoch Recht mit dem Einwand, dass primäre Sozialisation in der Familie für die Ausbildung sprachlicher Fähigkeiten (Wortschatz, Syntax) wesentlich ist und dass sich Kinder aus bürgerlichen Familien in diesem Bereich entscheidende Vorteile sichern können. Insgesamt 69 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII. 2 (b): „Isotopien als Konnotationsketten: ‚over-lexicalization‘“ (S. 274). 70 Zum Sozialdarwinismus in der Soziologie vgl. S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880-1914, Cambridge-London-New York, Cambridge Univ. Press (1979), 1983, S. 154-165. 71 H. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie. Erster Theil, Leipzig, Brockhaus, 1875, S. 183. 72 Vgl. V. Troger, „Bourdieu et l’école: la démocratisation désenchantée“, in: Pierre Bourdieu - son ouvrage, son héritage, op. cit., S. 33. <?page no="746"?> Bourdieus Soziologie 730 zeigt sich, dass es sich stets lohnt, auch auf die Argumente der Gegenseite zu hören und Bourdieu mit Spencer zu lesen - und umgekehrt. 4. Sozialisation und Habitus in den „Feldern“ der Gesellschaft Der Begriff Habitus stammt aus der Scholastik des Thomas von Aquin und ist eine Übersetzung des griechischen Wortes hexis, mit dem Aristoteles körperliche Haltungen und Fähigkeiten bezeichnet. Zum historischen Sachverhalt bemerkt Bourdieu: „Dieser Begriff des Habitus hat eine lange Tradition: Die Scholastik hat ihn als Übersetzung für Aristotelesʼ hexis gebraucht.“ 73 Als erster Soziologe hat Max Weber den Habitus-Begriff an entscheidenden Stellen seines Werks verwendet, etwa wenn er in Wirtschaft und Gesellschaft vom „inneren Habitus des Fachmanns“ 74 spricht - oder an anderer Stelle (Gemeinschaften) von „ästhetisch auffällige[n] Unterschiede[n] des nach außen hervortretenden Habitus“. 75 (Bourdieu behauptet allerdings, den Habitus-Begriff einem Buch des Kunsthistorikers Erwin Panofsky - Gothic Architecture and Scholastic Thought - entnommen zu haben.) Dass „Habitus“ nicht nur Soziales, sondern auch Natürliches oder Körperliches bezeichnet, geht recht eindeutig aus einer Definition des Hexis- Begriffs hervor, den Boike Rehbein vorschlägt: „Die griechische Übersetzung des lateinischen Wortes Habitus verwendet Bourdieu meist, um die körperlichen Aspekte des Habitus zu bezeichnen (…).“ 76 Das klingt etwa so: „Der Körper ist in der sozialen Welt, aber die soziale Welt steckt auch im Körper (als hexis und eidos).“ 77 Aber auch der Habitus-Begriff selbst enthält Leibliches, Körperliches: „Der Habitus ist die inkorporierte (einverleibte) Tradition einer Gesellschaft, Klasse und Gruppe.“ 78 Von Einverleibung kann nur dort die Rede sein, wo ein Leib oder Körper Soziales (Werte, Normen, Haltungen) aufnimmt. Der Körper selbst ist jedoch Natur: Er kann stark oder schwach, groß oder klein, gelenk oder ungelenk sein, und seine Beschaffenheit entscheidet mit über das Potenzial (auch das intellektuelle), das er im Laufe der Sozialisierung entfalten kann. 73 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt, Suhrkamp, 2014, S. 127. 74 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Recht (Hrsg. W. Gephart, S. Hermes), Studienausgabe, Bd. I/ 22-3, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2014, S. 165. 75 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften (Hrsg. W. Mommsen), Studienausgabe, Bd. I/ 22-1, Tübingen, Mohr-Siebeck, 2009, S. 46. 76 B. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz, UVK-UTB, 2016 (3. Aufl.), S. 246. 77 P. Bourdieu, Meditationen, op. cit., S. 194. 78 B. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, op. cit., S. 246. <?page no="747"?> Bourdieus Soziologie 731 Dies wird oft übersehen, weil Bourdieu als Erbe Durkheims die sozialen Aspekte des Habitus und seine soziale Dynamik hervorhebt. „Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität“ 79 , erklärt er in einem Gespräch mit Wacquant und definiert den Habitus an anderer Stelle als „biologische Inkarnation des Sozialen“. 80 Man denke an die Gestik und die Intonation des Redners. Es versteht sich jedoch von selbst, dass jegliche Subjektivität verschwindet, wenn das Individuum als biologische Basis des Subjekts 81 zusammenbricht. Diesen Nexus von Biologischem und Sozialem als gleichwertigen Größen will Bourdieu anscheinend nicht wahrhaben, wenn er zum Verhältnis von Habitus und Kapital bemerkt: „Im übrigen hieß ‚Habitus‘ für die Scholastik auch so etwas wie Besitztum, Kapital. Und der Habitus ist ja auch ein Kapital, nur daß es, weil es inkorporiert ist, den Anschein von etwas Angeborenem erweckt.“ 82 Es sollte dargetan werden, dass es als musikalisches, mathematisches oder sprachliches Talent tatsächlich auch angeboren ist und nicht nur im Sozialisationsprozess zustande kommt. Da Bourdieu - ähnlich wie seinerzeit Durkheim - sporadisch eine Neigung zum sozialen Determinismus vorgeworfen wird 83 , erscheint es angebracht, die aktiven Aspekte des Habitus hervorzuheben, durch die er sich von der Gewohnheit, mit der ihn Arnold Gehlen weitgehend identifiziert 84 , abhebt. „Und warum nicht ‚habitude‘, Gewohnheit? “ - fragt Bourdieu, und erklärt: „Unter Gewohnheit wird spontan etwas Repetitives, Mechanisches, Automatisches, eher Reproduktives als Produktives verstanden. Ich wollte aber den Gedanken betonen, daß der Habitus eine sehr stark produktive Größe ist.“ 85 Das heißt, dass er als subjektive Größe (als Ensemble der Modalitäten „sein“, „wissen“, „können“ und „wollen“ im Sinne von Greimas) das soziale Umfeld durch Handlung und Umgestaltung verändern kann. Dies ist ein Aspekt von Bourdieus genetischem Strukturalismus, in dem es um die Ver- 79 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 159. 80 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I, op. cit., S. 370. 81 Zum Verhältnis von Individuum als biologischem Substrat und Subjekt vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen- Basel, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), S. 8-15. 82 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, op. cit., S. 127-128. 83 Vgl. A. Jourdain, S. Naulin, La Théorie de Pierre Bourdieu et ses usages sociologiques, op. cit., S. 37 sowie R. Jenkins, Pierre Bourdieu, London-New York, Routledge, 1992, S. 97. Dort heißt es zu Bourdieus Welt: „It is a world where behaviour has its causes, but actors are not allowed their reasons.“ In seiner Kritik am Strukturalismus zeigt Bourdieu gerade, dass die Akteure nicht zu verstehen sind, wenn ihre Absichten und Strategien nicht berücksichtigt werden. 84 Vgl. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1950), Wiebelsheim, Aula, 2009 (15. Aufl.), S. 66. 85 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, op. cit., S. 128. <?page no="748"?> Bourdieus Soziologie 732 änderung der Strukturen durch die Habitus-Formen der Handelnden geht, die nicht nur - wie in Lévi-Straussʼ Strukturalismus - Regeln folgen, sondern auch persönliche Strategien entwickeln, um bestimmte Ziele zu erreichen. Bourdieu spricht vom „Übergang von der Regel zur Strategie, von der Struktur zum Habitus“. 86 Im ersten Abschnitt sollte allerdings deutlich werden, dass aus Sartres Sicht der Habitus selbst gesprengt werden müsste, damit Neues entsteht. „Die konditionierte und bedingte Freiheit“ des Habitus, erklärt Bourdieu, stehe „der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.“ 87 Aber kommt es nicht gerade in der Wissenschaft auf diese „unvorhergesehene Neuschöpfung“ an (etwa Newtons Entdeckung der Anziehungskraft), die ganze Paradigmen im Sinne von T. S. Kuhn umwälzt? In Bourdieus Soziologie ist der Habitus allzu sehr an das Feld gebunden, in dem mit Habitus ausgestattete Akteure handeln. Komplementär dazu kann das „Feld“ als „Pendant zum Habitus-Begriff“ 88 aufgefasst werden. In einer seiner Vorlesungen spricht Bourdieu von einer „Übereinstimmung von Habitus und Feld“ („orchestration entre l’habitus et le champ“) 89 und erläutert, was er meint, wenn er hinzufügt: „Wer den Habitus eines Feldes angenommen hat, ist im Feld wie ein Fisch im Wasser (…).“ 90 Er geht auch auf den entgegengesetzten Fall von Personen ein, die „nicht den Habitus des Feldes besaßen, in das sie geworfen wurden“. 91 Diese Situation mögen Politikerinnen und Politiker veranschaulichen, denen es im wissenschaftlichen Feld (vgl. Abschn. 5) vorwiegend darauf ankommt, symbolisches Kapital (also Anerkennung) in Form von akademischen Titeln zu erwerben. Sie agieren als Fremde in der Wissenschaft, indem sie bisweilen Plagiate anfertigen, um so schnell und schmerzlos wie möglich „promovieren“ zu können. Die Entdeckung des Plagiats führt des Öfteren dazu, dass ihnen das symbolische Kapital, das sie erworben haben, um im politischen Feld zu reüssieren, aberkannt wird. Zugleich werden sie als heteronome, feldfremde Akteure aus der Wissenschaft verbannt, die dadurch ihre Autonomie behauptet, dass sie politischen Motivationen in ihrem Feld eine klare Absage erteilt. Die hier von Bourdieu zuerst angesprochene Situation, in der sich jemand im Feld bewegt „wie ein Fisch im Wasser“, ist die des Dandys in der 86 P. Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (5. Aufl.), S. 72. 87 P. Bourdieu, Sozialer Sinn, op. cit., S. 103. 88 W. Fuchs-Heinritz, A. König, Pierre Bourdieu, op. cit., S. 110. 89 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I, op. cit., S. 215. 90 Ibid. 91 P. Bourdieu, Anthropologie économique, op. cit., S. 258. <?page no="749"?> Bourdieus Soziologie 733 Salongesellschaft. Der Dandy illustriert insofern Bourdieus Habitus-Theorem, als er in jeder Hinsicht eine Inkarnation der Londoner, Pariser und Wiener Salonwelt des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts ist. In seiner Gestalt greifen Körperliches und Soziales unlösbar ineinander: Er ist ein Künstler der dezenten Kleidung, ein unnachahmbarer, kühl kalkulierender Causeur, der die mondäne Konversation in allen ihren Finessen beherrscht und stets ein beachtliches kulturelles Kapital einsetzen kann, um sie in Gang zu halten. Er ist ein Meister der mondänen Strategie, der im richtigen Augenblick das passende Bonmot parat hat und auf jede Herausforderung eines Rivalen mit einer entwaffnenden Repartie reagiert. Er lebt im „Feld“ der mondänen Salongesellschaft, kann aber auch gegen sie agieren, indem er ihre Normen ironisch kommentiert oder gar durchbricht. Die folgende Passage aus Hiltrud Gnügs Studie Der Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur (1988) veranschaulicht den „produktiven“ oder innovativen Charakter des mondänen Habitus, den der Dandy verkörpert: „Das heißt, der Dandy bedarf der gesellschaftlichen und ästhetischen Konvention, um sie zu verletzen; er muß den Balance-Akt beherrschen, in seiner Impertinenz gleichzeitig unwiderstehlich faszinierend zu sein.“ 92 Freilich ist auch der Dandy eher ein Produkt als ein Produzent der Salongesellschaft um 1900: Trotz seiner Impertinenz, die ihn zur Normverletzung treibt, weist sein Verhalten niemals über die Grenzen dieser Gesellschaft hinaus. Einer der Gründe für dieses Verharren im Bestehenden ist sein Narzissmus, der ihn von den staunenden und bewundernden Blicken der Anderen abhängig macht und ihn daran hindert, mit der mondänen Welt zu brechen, die er bisweilen verachten mag. Zum Narzissmus des Dandy, der seinem Habitus innewohnt, bemerkt Philippe Jullian: „Der Dandy ist ein Narzisst. Er will sich in bewundernden Blicken spiegeln und sucht im Porträt die Komplimente seines Spiegels.“ 93 Somit ist die Abhängigkeit des Dandy von der Salonwelt in seiner Psyche angelegt. In dieser Welt stellt der Wissenschaftler als Langweiler den Antipoden des Dandys dar und veranschaulicht den von Bourdieu genannten Fall von Personen, die als Fremde in einem Feld auftreten. In Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in dem nahezu alle Facetten der mondänen Gesellschaft zutage treten, ist es der Sprachwissenschaftler und Etymologe Brichot, der stundenlang über die Herkunft von Namen dozieren kann. Im Gegensatz zum Causeur, der durch seine Brillanz die Anwesenden fasziniert, bringt er es fertig, die Umstehenden einzuschläfern. Er 92 H. Gnüg, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, Metzler, 1988, S. 24. 93 P. Jullian, Robert de Montesquiou. Un Prince 1900-1930, Paris, Perrin, 1965, S. 64. <?page no="750"?> Bourdieus Soziologie 734 versteht nicht, dass zum Habitus des mondänen Feldes die Konversation als unterhaltsame Wortkunst gehört, und versucht, den Bewohnern der Salonwelt den feldfremden Habitus des wissenschaftlichen Räsonierens aufzuzwingen. Wie bereits angedeutet, konstruiert Bourdieu seinen Feldbegriff in Anlehnung an Max Webers Religionssoziologie, in der u.a. auch die Rivalitäten zwischen Priestern, Zauberern und Propheten erörtert werden. Während der Priester in einer bestimmten Tradition steht und zumeist routinemäßig seines Amtes waltet, durchbrechen Zauberer und Propheten als charismatische Gestalten (vgl. Kap. XII. 4) die religiöse Alltagsroutine und stiften Neues: „Freilich kann das Priesteramt an ein persönliches Charisma geknüpft sein. Aber auch dann bleibt der Priester als Glied eines vergesellschafteten Heilsbetriebs durch sein Amt legitimiert, während der Prophet ebenso wie der charismatische Zauberer lediglich kraft persönlicher Gabe wirkt.“ 94 Das Konkurrenzverhältnis zwischen Tradition und Charisma, routinemäßigem Ritual und charismatischer Innovation begründet die Rivalitäten zwischen Priestertum einerseits und Zauberern oder Propheten andererseits. Diese Rivalitäten bilden ein Spannungsfeld, das Feld des Sakralen, das Weber zwar beschreibt, aber nicht als „Feld“ bezeichnet. Bourdieus Verdienst besteht darin, dass er für das Spannungsgeflecht, das Weber im religiösen Bereich sichtbar gemacht hat, den Begriff Feld einführt und diesen in Anlehnung an Weber als ein Kräftefeld auffasst, das von Konkurrenzverhältnissen und Rivalitäten geprägt ist. Dies wird in der folgenden Definition deutlich, die Bourdieu selbst vorschlägt: „Ein Feld ist ein Kräftefeld, in dem die Akteure Stellungen einnehmen, die statistisch gesehen ihre Stellungnahmen zu diesem Kräftefeld bestimmen - Stellungnahmen, die die für das Feld konstitutive Struktur der Kräfteverhältnisse bewahren oder verändern wollen.“ 95 Joseph Jurt ergänzt: „Es ist ein Konstrukt, um Relationen sichtbar zu machen.“ 96 Zum Abschluss sollen diese Definitionen durch zwei Beispiele veranschaulicht werden. Das erste Beispiel wird im Anschluss an Max Weber konstruiert, der das sakrale Feld avant la lettre als Rivalität zwischen Priestern, Zauberern und Propheten deutet. Während die einen (die Priester) für die Erhaltung des status quo kämpfen, setzen sich die anderen (die 94 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften (Hrsg. H. G. Kippenberg), Studienausgabe der Max Weber Gesamtausgabe, Bd. I/ 22-2, Tübingen, Mohr- Siebeck, 2005, S. 28. 95 P. Bourdieu, Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie, Bd. II, Berlin, Suhrkamp, 2013, S. 265. 96 J. Jurt, „Jenseits von Subjektphilosophie und Strukturalismus: Pierre Bourdieu“, in: J. Jurt (Hrsg.), Zeitgenössische französische Denker: Eine Bilanz, Freiburg, Rombach, 1998, S. 240. <?page no="751"?> Bourdieus Soziologie 735 Propheten) für die Umgestaltung des Feldes ein, wobei sie mit ihrem Charisma die Autorität der Priesterschaft herausfordern. Analog zu diesem Modell konstruiert Bourdieu alle seine Feldmodelle, von denen im übernächsten Abschnitt (symmetrisch zum Luhmann-Kapitel) vier näher untersucht werden: das wirtschaftliche, das politische, das wissenschaftliche und das künstlerische. Letzteres wird analog zum religiösen Raum Webers konzipiert: Während sich die Vertreter der etablierten traditionellen oder als „klassisch“ anerkannten Kunst - in Übereinstimmung mit den Priestern - sowohl gegen die realistische als auch gegen die kommerzielle Kunst abgrenzen, fordern die Avantgarden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Flaubert, Mallarmé und Manet) alle bestehenden Literatur- und Kunstrichtungen charismatisch (wie die Propheten) durch ein kompromissloses Plädoyer für die l’art pour l’art Doktrin heraus. Louis Pinto fasst zusammen: „Eine literarische Schule (…) definiert sich vor allem im Gegensatz zu ihren Rivalen (…).“ 97 Im sechsten Abschnitt soll deutlich werden, dass es in den anderen Feldern der Gesellschaft so ähnlich zugeht: Im wirtschaftlichen Feld fordern kleinere Baufirmen die in Schwierigkeiten geratenen großen heraus, im politischen Feld wird die Herrschaft etablierter Parteien durch links- oder rechtsradikale Gruppierungen in Frage gestellt, und im wissenschaftlichen Feld versuchen Individuen und Gruppen, in regelmäßigen Abständen „Paradigmenwechsel“ herbeizuführen und die Praxis der etablierten „normalen Wissenschaft“ (Kuhn) revolutionär zu verändern. 5. System oder Feld? Bourdieus Antwort auf Luhmann und sein Aktantenmodell: Differenzierung Im Folgenden sollen zunächst einige Übereinstimmungen zwischen Bourdieus Theorie der Felder und Luhmanns Theorie der Systeme betrachtet werden, die aus dem den beiden Theorien gemeinsamen Differenzierungs begriff ableitbar sind. Anschließend werden die Abweichungen analysiert, die vor allem im Zusammenhang mit Bourdieus Schlüsselbegriffen Herr schaft, Interesse und Kampf zu verstehen sind, die Luhmann meidet. Anhand dieser Begriffe ist auch Bourdieus Gesellschaftserzählung als Aktan tenmodell zu konstruieren, das die Abweichungen von Luhmann verdeutlicht und erklärt. Anhand des Aktantenmodells werden die Analysen der Modellfelder „Wirtschaft“, „Politik“, „Wissenschaft“ und „Literatur“ leichter zu verstehen sein. Wie Luhmann geht auch Bourdieu vom Differenzierungsprozess aus, den die Begründer der Soziologie beschreiben und der die ihnen allen ge- 97 L. Pinto, Pierre Bourdieu et la théorie du monde social, Paris, Albin Michel (1998), 2002, S. 109. <?page no="752"?> Bourdieus Soziologie 736 meinsame Großerzählung bildet, die es allerdings nur in besonderen Varianten gibt, die bestenfalls auf ein recht abstraktes Grundmodell zurückgeführt werden können. Bourdieu fasst diese Erzählung zusammen, wenn er zu seiner Variante bemerkt: „Die Theorie der Felder beruht auf der Feststellung (die sich bereits bei Spencer, Durkheim, Weber usw. findet), daß in der sozialen Welt ein fortschreitender Differenzierungsprozeß stattfindet.“ 98 Mit Luhmann stimmt Bourdieu in dem Gedanken überein, dass die Felder - wie die Systeme - autonom sind und dass ein jedes Feld eigenen Gesetzen gehorcht, die auf die Gesetze anderer Felder nicht reduzierbar sind. Er spricht von „nicht aufeinander reduzierbare[n] ‚Grundgesetze[n]‘“ 99 , von „relativ autonomen sozialen Mikrokosmen“ 100 und erklärt in einem Sprachduktus, der an Luhmann und Hermann Broch erinnert (vgl. Kap. XV): „Zum Beispiel unterliegen das künstlerische, das religiöse oder das ökonomische Feld einer jeweils anderen Logik: Das ökonomische Feld ist historisch als das Feld des ‚Geschäft ist Geschäft‘ entstanden, business is business (…).“ 101 Diese Darstellung ist Brochs Beschreibung der „in ihrer Autonomie entfesselten Wertgebiete“ (vgl. Kap. XV) und Luhmanns Konzept der Autopoiesis gar nicht unähnlich. Doch werden Divergenzen von dem unscheinbaren Wort „relativ“ angekündigt, das als Hinweis darauf zu lesen ist, dass Bourdieus „Feld“ nur relativ autonom und keineswegs „autopoietisch“ ist, wie Luhmann es formuliert. Es wird sich zeigen, dass Bourdieus Feldtheorie ein permanentes Oszillieren zwischen Autonomie und Heteronomie ist und dass die Autonomie auch heute noch - trotz der seit Jahrhunderten andauernden Differenzierung - verteidigt werden muss. Doch soll Bourdieu selbst das Wort ergreifen, wenn es um die Differenzen geht, die ihn von Luhmann trennen, den er allerdings nicht gut zu kennen scheint (in einer Vorlesung am Collège de France warnt er die Anwesenden vor seiner Rezeption). 102 Er geht von der hier erwähnten Gemeinsamkeit aus, wenn er zunächst bemerkt: „In beiden Fällen spielt ja der 98 P. Bourdieu, Praktische Vernunft, op. cit., S. 148. Vgl. dazu: G. Kneer, „Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich“, in: A. Nassehi, G. Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann, op. cit., S. 35. Zu Recht erinnert Kneer daran, dass Bourdieu vor allem die zeitgenössische ausdifferenzierte Gesellschaft untersucht: „Dabei ist allerdings zu sagen, dass Bourdieu fast ausschließlich die Gegenwartsgesellschaften als differenzierte Sozialordnungen thematisiert.“ 99 P. Bourdieu, Praktische Vernunft, op. cit., S. 149. 100 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 127. 101 Ibid. 102 Vgl. P. Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992, Berlin, Suhrkamp (2014), 2017; S. 141: Dort ist von der „neofunktionalistischen Theorie Niklas Luhmanns“ die Rede, „die sehr allgemein ist und alles auffrißt“. (Eine Feldstrategie? ) <?page no="753"?> Bourdieus Soziologie 737 Differenzierungs- und Verselbständigungsprozeß eine zentrale Rolle.“ 103 Sogleich fügt er jedoch hinzu: „Aber trotzdem sind beide Theorien radikal verschieden.“ 104 Sie divergieren in zwei Punkten, die mit den Stichworten „Machtkampf“ und „Heteronomie“ bezeichnet werden könnten. Das „Feld“ ist zunächst ein umkämpftes Kräftefeld, „das sich nicht gemäß seiner eigenen internen Dynamik entwickelt (wie das Prinzip der Selbstreferenz impliziert), sondern durch interne Konflikte im Feld der Produktion“. 105 Bourdieu bemerkt mit einem Seitenblick auf Luhmann: „Das Feld ist ein Ort von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels.“ 106 Auf gleicher Ebene bewegt sich die Argumentation von Cornelia Bohn, die die Bedeutung des Machtbegriffs bei Bourdieu hervorhebt und aus ihm Begriffe wie „Konflikt“ und „Kampf“ ableitet: „Das Grundparadigma des Sozialen ist für Bourdieu konfliktreiches Marktgeschehen; die sich daraus ergebenden Modi des Sozialen: Tausch, Kampf und Konkurrenz.“ 107 Der zweite Divergenzpunkt, das Problem der Autonomie, wird im Vergleich zum Konfliktproblem selten erwähnt. Jedoch bemerkt Georg Kneer ganz zu Recht, dass „anders als Luhmann (…) Bourdieu (…) zwischen verschiedenen Graden der Autonomie“ 108 unterscheidet. Dieser zweite Unterschied zwischen den beiden Soziologen ist mindestens so wichtig wie der erste. Bourdieus Erzählung als Aktantenmodell soll zeigen, wie sehr die beiden Unterschiede zusammenhängen. Denn der Kampf um die Feldherrschaft ist in vielen Fällen auch ein Kampf um die Autonomie und für die Fortsetzung der Differenzierung im Interesse eines bestimmten Feldes, das gegen heteronome Eingriffe verteidigt werden muss: das wissenschaftliche Feld gegen den Journalismus, das künstlerische Feld gegen Wirtschaft und Politik usw. Im Gegensatz zu Luhmann hebt Bourdieu das Problem der Feldgrenzen hervor - und zusammen mit ihm das der Feldautonomie. Er betont, dass die Felder keine klar bestimmbaren juristischen Grenzen haben und erklärt: „Eines der großen Probleme, mit dem es eine jede Forschung, die mit dem Feldkonzept arbeitet, zu tun hat, ist die Frage, was zum Feld gehört 103 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 134. 104 Ibid. 105 Ibid. 106 Ibid., S. 134-135. 107 C. Bohn, Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus, Wiesbaden-Opladen, Westdeutscher Verlag, 1991, S. 96. 108 G. Kneer, „Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu“, in: A. Nassehi, G. Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann, op. cit., S. 47. <?page no="754"?> Bourdieus Soziologie 738 und was nicht.“ 109 Diese Frage ist nicht rein scholastischer Art, ist keine Frage der reinen Klassifikation. Sie ist zugleich Herrschafts- und Machtfrage, weil sie die Möglichkeit oder Legitimität von wirtschaftlicher Einflussnahme in Politik, politischer Einflussnahme in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst betrifft. Luhmanns Systemtheorie besticht durch ihre Klarheit und Folgerichtigkeit in der Abgrenzungsfrage: Ein autopoietisches System wie die Wirtschaft wird vom Kode zahlen / nichtzahlen strukturiert, die Politik vom Gegensatz Macht / Ohnmacht und die Wissenschaft vom Gegensatz wahr / unwahr. Die Konfrontation von Bourdieu und Luhmann erschüttert dieses Klarheitsbewusstsein, indem sie die Interferenzen zwischen den scheinbar autonomen Systemen oder Feldern sichtbar macht - und zugleich die Herrschafts- und Machtansprüche, die diese Interferenzen verursachen. Luhmann könnte jedoch die Feldtheorie mit dem Hinweis in Frage stellen, dass sie, die interferierende oder überlappende Felder und Subfelder unterscheiden möchte (und muss), sich letztlich selbst dekonstruiert, weil sie tendenziell alle Grenzen auflöst, indem sie die Interferenzen hervorhebt. Zur Dekonstruktion trägt auch die Betonung der Autonomie aller „Unterfelder“ bei. „Jedes Unterfeld hat seine eigene Logik, seine spezifischen Regeln und Regularitäten“ 110 , erklärt Bourdieu und stellt so die Kohärenz von Feldern wie Wissenschaft oder Kunst in Frage. Sollten die verschiedenen Logiken der Unterfelder (sous-champs) widersprüchlich oder inkommensurabel sein, dann kann der Begriff „Feld“ - etwa das „wissenschaftliche Feld“ - als kohärente Konstruktion angezweifelt werden. Dies gilt freilich auch für Luhmanns Systembegriff: etwa für das Kunstsystem, in dem die Literatur ganz anderen Gesetzen unterliegt als die Malerei, die Musik oder die Architektur. Bei Bourdieu kommt noch hinzu, dass die Felder und Unterfelder für Interferenzen und Eingriffe aus heteronomen Bereichen offen sind, deren Sprachen sie - im Gegensatz zu Luhmanns autopoietischen Systemen - sehr wohl verstehen. Dadurch werden die Grenzen fließend und stets neu bestimmbar. Sowohl die Systemals auch die Feldtheorie wären klarer und konkreter, wenn sie den Begriff der Institution aufgenommen und erläutert hätten, wie sich dieser Begriff zu den Begriffen „System“ und „Feld“ verhält. Im wirtschaftlichen Feld beispielsweise können Institutionen wie Börsen oder Handelskammern unterschieden werden, die sich von ihrem Umfeld durch juristisch klar bestimmbare Grenzen abheben - im Gegensatz zu „Unterfeldern“, die auf verschiedene Arten definiert werden können. Anders als Luhmann verwendet Bourdieu zwar den Institutionsbegriff regel- 109 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I, op. cit., S. 484. 110 P. Bourdieu, J. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, op. cit., S. 135. <?page no="755"?> Bourdieus Soziologie 739 mäßig, bezieht ihn aber nicht auf den Feldbegriff, so dass ein beziehungsloses Nebeneinander innerhalb seiner Theorie der sozialen Differenzierung entsteht. 111 Bourdieus Aktantenmodell als Erzählung der sozialen Differenzierung soll nun das Problem der Feldgrenzen und der Feldautonomie veranschaulichen. Wie in Luhmanns Erzählung erscheint auch in Bourdieus Modell die Differenzierung als Auftraggeberin der Felder (bei Luhmann: der Systeme). Der Prozess der Differenzierung wird zum abstrakten historischen Aktanten und Auftraggeber, wenn Bourdieu im Anschluss an Durkheims Begriff der Differenzierung feststellt: „Dieser Prozess führt dazu, dass sich die ‚soziale Welt‘ in besondere Welten aufteilt, von denen eine jede ihre Autonomie hat, ihre eigenen funktionalen Gesetze, die relativ unabhängig von ihrem Umfeld sind.“ 112 Diese besondere Variante der Differenzierungserzählung unterscheidet sich wesentlich von Marxʼ Erzählung des Klassenkampfes: Während diese vom semantischen Gegensatz Kapital / Arbeit ausgeht, gründet Bourdieus Erzählung auf dem relevanten Gegensatz Autonomie / Heteronomie (der Felder). Dadurch grenzt sie sich auch gegen Luhmanns Erzählung ab, die vom Gegensatz System / Umwelt strukturiert wird und schon durch diesen ersten Schritt als Unterscheidung die Systemautonomie der Umwelt gegenüber voraussetzt. Bourdieus Gegensatz setzt sie nicht voraus, sondern stellt sie vorab in Frage. Dass bei Bourdieu der Gegensatz Autonomie / Heteronomie zentral ist, zeigen seine Bemerkungen zu den Spannungen zwischen Autonomie und Heteronomie im Prozess der Differenzierung. So verstärken etwa die Interferenzen des Journalismus die heteronomen Einflüsse in den nach Autonomie strebenden Feldern: „Besser gesagt verstärkt dieser Journalismus in jedem der Felder - dem wissenschaftlichen, juristischen, politischen usw. - tendenziell den am meisten heteronomen Bereich. Im philosophischen Bereich stärkt er die Neuen Philosophen, die Medienphilosophen.“ 113 In Bourdieus Aktantenmodell übertragen bedeutet dies, dass die Differenzierung als Auftraggeberin die Felder als Subjekt-Aktanten beauftragt, nach größtmöglicher Autonomie zu streben, d.h. sich des Objekt-Aktanten „Autonomie“ zu bemächtigen, während die Gegenauftraggeberin Entdifferenzierung „heteronome Felder“ wie den Journalismus (als Antisubjekte) 111 Vgl. P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. II, op. cit., S. 36-37: Bourdieu geht zwar auf die „Institutionalisierung des Funktionierens des Feldes“ ein und stellt sogar fest, dass die „Institutionalisierungsgrade [der Felder] sehr ungleich sind“, definiert aber auch an dieser Stelle den Feldbegriff nicht im Zusammenhang mit dem Institutionsbegriff, der den Feldbegriff konkretisieren könnte. 112 Ibid., S. 28. 113 P. Bourdieu, Politik, op. cit., S. 286. <?page no="756"?> Bourdieus Soziologie 740 mit der Verwirklichung der „Heteronomie“ als Objekt-Aktanten beauftragt. Dazu bemerkt Bourdieu selbst: „Das journalistische Feld wird immer heteronomer (…).“ 114 Seine wachsende Heteronomie ist auf die Einwirkungen der Wirtschaft und des Finanzkapitals zurückzuführen. Beide fungieren in dem hier konstruierten Modell als von der „Entdifferenzierung“ beauftragte Antisubjekte. Die Rekonstruktion der Felder als Subjekte oder Subjekt-Aktanten ist alles andere als weit hergeholt, denn sie entspricht in jeder Hinsicht Bourdieus eigener Auffassung. In einem seiner Vorträge heißt es wörtlich: „Ich glaube, dass die sozialen Handlungen fast immer Felder als Subjekte haben.“ 115 Etwas später wird diese Subjekt-Rolle der Felder wesentlich spezifischer dargestellt: „Die Felder sind die wirklichen Subjekte, aber in vielen Fällen ist es nicht gleichgültig, dass die Entscheidung in ihrer offiziellen Form als Entscheidung eines Menschen erscheint.“ 116 In die Sprache der Strukturalen Semiotik übersetzt bedeutet dies, dass sich die Felder in Bourdieus Diskurs als kollektive oder abstrakte Aktanten aus individuellen Akteuren („Menschen“) zusammensetzen, die in ihrem Namen (etwa im Namen der Wissenschaft, der Kunst oder des Rechts) handeln. 117 Wie das geschieht, sei kurz am Beispiel des Verhältnisses von Wissenschaft und Wirtschaft veranschaulicht. Wieder geht es um die relative Autonomie des wissenschaftlichen Feldes und vor allem der Soziologie, die vom einzelnen Wissenschaftler als Akteur und Vertreter seines Feldes (des Subjekt-Aktanten) verteidigt werden soll. Als Modell dient Bourdieu die Mathematik, die die Autonomie bereits verwirklicht hat: „Ein sehr autonomes Feld, das der Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produzenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können, die sie ihnen bekanntgeben. (Mein Traum ist, daß es in der Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein. […]) Um Autonomie zu erlangen, muß man jene Art Elfenbeinturm errichten, innerhalb dessen man einander beurteilt, kritisiert, auch bekämpft, aber in Kenntnis der Sache (…).“ 118 Das Modell nimmt schließlich konkrete Kontouren an, wenn Bourdieu als Akteur des kollektiven Aktanten „soziologisches Feld“ dem kollektiven Aktanten „heteronome Intellektuelle“ gegenübertritt: „Wenn es mir unerläßlich scheint, diese heteronomen Intellektuellen zu bekämpfen, so des- 114 Ibid., S. 285. 115 P, Bourdieu, Sociologie générale, Bd. II, op. cit., S. 177. 116 Ibid., S. 178. 117 Vgl. J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive. Méthodologie et application, Paris, Hachette, 1976, S. 95: „Actants et acteurs“. 118 P. Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 88. <?page no="757"?> Bourdieus Soziologie 741 wegen, weil sie das Trojanische Pferd sind, durch das die Heteronomie, das heißt die Gesetze des Kommerzes, der Ökonomie, in das Feld Einzug halten.“ 119 Im Gesamtbild erscheint hier - wie schon bei Durkheim (vgl. Kap. IX) - die „Wirtschaft“ als gefährliche Gegenspielerin moralischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Werte, die der Soziologe im Namen seiner „Wissenschaft“ und letztlich im Namen der „Differenzierung“ als letzter Auf traggeberin zu verteidigen hat. Zugleich wird deutlich, dass jede sozialwissenschaftliche Erzählung als Aktantenmodell auf wertenden Gegensätzen und Begriffsbestimmungen gründet und daher ein politisches Engage ment beinhaltet, aus dem Bourdieu nie ein Hehl gemacht hat. Begriffe wie „Autonomie“ und „Heteronomie“ erfüllen in seinem Diskurs nicht nur die Funktion deskriptiver Termini, sondern stellen zugleich Wertsetzungen dar. Dazu bemerkt Joseph Jurt: „In den letzten Werken Bourdieus erscheint Autonomie nicht bloß als eine deskriptive Kategorie, sondern gleichzeitig als ein hoher Wert, den es zu verteidigen gilt.“ 120 Diese Einschätzung wird von dem hier konstruierten Aktantenmodell bestätigt, in dem „Autonomie“ als Objekt Aktant in Bourdieus Diskurs bestimmt werden kann. In diesem Diskurs als semantisch-narrativer Struktur kann ein sekundä res Aktantenmodell aufgezeigt werden, das sich auf die Auseinandersetzun gen zwischen kollektiven und individuellen Aktanten in einem bestimmten Feld bezieht. Analog zu dem von Max Weber beschriebenen Konflikt zwischen Priestern und Propheten zeigt Bourdieu, dass in allen Feldern der Gesellschaft Neuerer (Revolutionäre) gegen die etablierten Mächte kämpfen, um sich der Herrschaft im Feld zu bemächtigen und die Spielregeln neu zu definieren. Im politischen Feld können es rechte („konservative Revolution“) oder linke Gruppierungen sein, in der Wissenschaft begehren Entdecker (Galilei, Newton) gegen etablierte Auffassungen und Theorien auf, und in der Kunst versuchen Avantgarden (Brecht, Breton, Marinetti), den klassischen, realistischen oder romantischen Kanon zu sprengen und eine neue Schreibweise zu etablieren. So werden Auseinandersetzungen zwischen individuellen und kollektiven Aktanten in den verschiedenen Feldern zu treibenden Kräften der sozialen Evolution - und der von Bourdieu konstruierten soziologischen Erzählung. Innerhalb dieser Erzählung hört sich eine kurze Zusammenfassung der Felddynamik so an: „Ein Feld ist ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse.“ 121 Durch Begriffe wie „Kräfte- 119 Ibid., S. 90. 120 J. Jurt, Bourdieu, op. cit., S. 99. 121 P. Bourdieu, Das politische Feld, op. cit., S. 49. <?page no="758"?> Bourdieus Soziologie 742 feld“, „Kampffeld“ und „Kräfteverhältnisse“ unterscheidet sich diese Erzählung radikal von der Luhmanns, in der Veränderung vornehmlich durch „Kommunikation“, „Anpassungsdruck“, „Reduktion der Komplexität“ und „Steigerung der Systemirritabilität“ zustande kommt. Der „Machtkampf im Feld“ weicht in der Systemtheorie der „funktional-systemischen Anpassung“ im Differenzierungsprozess. Die ergänzende, ausführlichere Darstellung des Feldkonflikts stellt eine Verbindung zwischen Feld, Kampf, Gewalt und Kapital her: „Das Objekt der Kämpfe, die im Feld stattfinden, ist das Monopol auf die für das betreffende Feld charakteristische legitime Gewalt (oder spezifische Autorität), das heißt letzten Endes der Erhalt bzw. die Umwälzung der Verteilungsstruktur des spezifischen Kapitals.“ 122 Auch durch die Begriffe „Gewalt“ und „Kapital“ weicht Bourdieu entscheidend von Luhmann ab, weil diese Begriffe aus dem Herrschaftsbegriff ableitbar sind, der Bourdieu mit der Kritischen Theorie verbindet. Luhmann meidet diesen Schlüsselbegriff der kritischen Gesellschaftstheorien und versucht stattdessen, gesellschaftliche Dynamik im Rahmen der Differenzierungstheorie zu erklären. In einem Punkt sind sich die beiden Soziologen jedoch einig: in der Ansicht, dass alle Systeme oder Felder nach Autonomie streben und in dieser Hinsicht das historische Projekt der Differenzierung als ihrer Auftraggeberin verwirklichen. Im Folgenden soll gezeigt werden, auf welche Arten von Kapital es in den Feldern „Wirtschaft“, „Politik“, „Wissenschaft“ und „Kunst“ ankommt; von welchen kollektiven und individuellen Aktanten dieses Kapital als Kernmodalität des „Wissens“ und „Könnens“ erworben und eingesetzt wird; um welche Objekte (Objekt-Aktanten) gekämpft wird und wie diese Kampfdynamik das einzelne Feld und letztlich die Gesellschaft als ganze verändert. Nicht zufällig erinnert Bourdieus Terminologie an den Sport als Wettkampf und Spiel. Nur wer wirtschaftliche, politische, religiöse, wissenschaftliche oder künstlerische Interessen verfolgt, wird sich in dem entsprechenden Feld engagieren und - wie Dostoevskijs Spieler 123 - vom Spielfieber erfasst werden: „Jedes soziale Feld, ob das wissenschaftliche, das künstlerische, das bürokratische oder das politische, bringt es dahin, daß die Personen, die sich in es hineinbegeben, jenes Verhältnis zum Feld entwickeln, das ich illusio nenne.“ 124 Bourdieu erklärt: „Illusio bezeichnet die Tatsache, daß man vom Spiel erfaßt, vom Spiel gefangen ist (…).“ 125 Das Gegenteil der illusio ist „Indifferenz“: Der eine geht mit höher schlagendem 122 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, op. cit., S. 108. 123 Vgl. F. Dostoevskij, Der Spieler (1868), Frankfurt, Fischer, 2011. 124 P. Bourdieu, Praktische Vernunft, op. cit., S. 142. 125 Ibid., S. 140-141. <?page no="759"?> Bourdieus Soziologie 743 Herz in ein Casino oder ein Fußballstadion, der andere macht dort kurz Halt, um schnell eine Limonade zu trinken. 6. Vier Modelle: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Literatur Im wirtschaftlichen Feld geht es bekanntlich um Finanzkapital, Marktanteile und Marktstrategien, mit deren Hilfe die Spieler oder Aktanten versuchen, ihre Gegner aus dem Feld zu schlagen. Bourdieu unterscheidet jedoch grundsätzlich zwischen wirtschaftlichem Feld und Markt und plädiert dafür, dass „in einem ersten Schritt der Marktbegriff durch den Feldbegriff ersetzt wird und in einem zweiten Schritt der Begriff des homo oeconomicus durch den Begriff eines mit Habitus oder Disposition ausgestatteten wirtschaftlich handelnden Akteurs (agent économique)“. 126 Die beiden Schritte sind komplementär, weil der homo oeconomicus eine scholastische Konstruktion (s.o.) und ein Produkt des reinen Marktdenkens ist. Er ist eine ausschließlich rational kalkulierende, vom Wirtschaftswissenschaftler imaginierte Instanz, während der aus dem Habitus heraus wirtschaftlich Handelnde nicht nur die ökonomischen, sondern auch die sozialen Gesetze des Feldes in sich aufgenommen hat. Bourdieu bezieht sich hier insofern auf Durkheims Kritik an Spencers Individualismus und Ökonomismus (vgl. Kap. IX. 3), als er auch im wirtschaftlichen Bereich die sozialen Faktoren für entscheidend hält, die das reine Wirtschaftsdenken ausklammert. Sein Argument lautet in Kurzform: „Nicht alles ist wirtschaftlich in der Wirtschaft“. 127 Schon in seinen zahlreichen Studien über die kabylisch-algerische Gesellschaft betonte er die Wirkung nichtwirtschaftlicher (sozialer oder religiöser) Normen für das wirtschaftliche Verhalten, die bis zur „Gleichgültigkeit dem Streben nach Gewinn gegenüber“ 128 reichen kann. Im Anschluss an diese Erkenntnisse fasst Bourdieu den ökonomischen Feldhabitus als eine Synthese von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren auf. „Der Habitus ist kollektive Individualität“ 129 , bemerkt er und bringt damit zum Ausdruck, dass sich auch das im wirtschaftlichen Bereich handelnde Individuum an bestimmten kollektiven Werten und Normen orientiert, die nicht rein wirtschaftlicher Art sind. Als Beispiele führt er Kleider und Lebensmittel an 130 , die nicht nur nach dem Preisniveau und auch nicht immer nach ihrer intrinsischen Qualität beurteilt werden, sondern auch und vielleicht vor allem im Hinblick auf 126 P. Bourdieu, Anthropologie économique, op. cit., S. 235. 127 Ibid., S. 284. 128 P. Bourdieu, Sociologie de l’Algérie, Paris, PUF, 1961 (2. Aufl.), S. 91. 129 P. Bourdieu, Anthropologie économique, op. cit., S. 240. 130 Vgl. ibid. <?page no="760"?> Bourdieus Soziologie 744 den persönlichen Geschmack und die bevorzugte Lebensweise, d.h. den Habitus. Ein Kleid muss gefallen; erst dann wird nach dem Preis gefragt. Lebensmittel werden immer häufiger gekauft, weil sie gesund, nicht weil sie billig sind. Mit Bourdieu müsste man freilich hinzufügen, dass es die Besserverdienenden und Gebildeten sind, die es sich leisten können, Geschmack und Gesundheit entscheiden zu lassen - und nicht den Preis. Tatsache ist jedoch, dass sie vorrangig diesem (neuen) „Bio-Habitus“ folgen und nicht dem reinen Marktkalkül. In seinen Darstellungen des ökonomischen Feldes versucht Bourdieu stets, den Habitus als sozialen Faktor und die ihm entsprechenden Kapitalsorten zu berücksichtigen. Zum Erfolg im ökonomischen Feld trägt nicht nur das finanzielle Kapital bei, sondern auch andere Arten von Kapital: „kulturelles Kapital (…), das spezifische Formen als technologisches, juridisches und organisatorisches Kapital (zu dem Informationen über das Feld gehören) annehmen kann, kommerzielles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital“. 131 Hier wird deutlich, dass zum Erfolg im wirtschaftlichen Feld wesentlich mehr gehört als ein wirtschaftlich-finanzielles Potenzial. Ein Unternehmen muss sich um guten Ruf (um „symbolisches Kapital“) bemühen, um im Feld Vertrauen zu gewinnen und auf Dauer erfolgreich zu sein. Im Übrigen ist das wirtschaftliche Feld in seiner Dynamik so ähnlich strukturiert wie alle anderen Felder: Die etablierten Kräfte oder Spieler versuchen, ihre Herrschaft über das Feld und seine Spielregeln abzusichern und potenzielle Konkurrenten auszuschließen. Wie ihre Herrschaftsansprüche und Monopolisierungsstrategien unterwandert oder gar zunichte gemacht werden können, wird in der folgenden Passage deutlich: „Da die Feldkräfte dazu neigen, die dominanten Positionen zu stärken, kann man sich fragen, wie eine Neuordnung der Kräfteverhältnisse im Feld überhaupt möglich sei. Tatsächlich spielt hier das technologische Kapital eine entscheidende Rolle, und es gibt eine Anzahl von Fällen, in denen dominierende Unternehmen durch einen technologischen Wandel verdrängt wurden, der zur Senkung der Preise beiträgt, und kleinere Konkurrenten begünstigt.“ 132 In einer Studie über das wirtschaftliche Feld beschreibt Bourdieu die Auseinandersetzungen zwischen großen und kleinen Firmen, die sich im Frankreich der 1980er Jahre auf den Bau von Einfamilienhäusern spezialisiert haben. Er zeigt, wie eine Krise, die Anfang der 80er Jahre ausbrach, kleine regionale Unternehmen begünstigte, die mit ihrer regionalen Bauweise rascher auf individuelle Bedürfnisse von Familien reagierten, während Großunternehmen wie Maison Bouygues oder Maison Phénix nicht schnell genug ihre eher anonyme Serienfertigung von Häusern individua- 131 P. Bourdieu, Les Structures sociales de l’économie, Paris, Seuil, 2000, S. 295. 132 Ibid., S. 310. <?page no="761"?> Bourdieus Soziologie 745 lisieren konnten: „Die Krise hat das Kräfteverhältnis zugunsten der kleinen Unternehmen verändert.“ 133 In diesem Kontext tritt die Bedeutung des sozialen Faktors als Habitus, als Ensemble von Modalitäten („Sein“, „Wissen“, „Können“) im Sinne von Greimas, zutage. Es geht nicht nur darum, durch Serien- oder Massenproduktion die Kosten zu senken und dadurch die Nachfrage zu steigern, sondern auch darum, die besonderen Wünsche und Geschmacksrichtungen von Individuen und Familien zu kennen und ihnen zu entsprechen: ihrer oft regional gefärbten Vorstellung von Wohnen und Leben, die zu ihrem Habitus gehört und das Haus auch als Prestigeobjekt oder symbolisches Kapital erscheinen lässt. 134 Der Gegensatz zahlen / nicht zahlen, der laut Luhmann als Kode das Wirtschaftssystem strukturiert, kann solchen Überlegungen nicht ohne weiteres gerecht werden. Die Frage lautet: Warum zieht jemand ein teures Objekt einem funktional gleichwertigen billigen Objekt vor? Eine befriedigende Antwort auf diese Frage, eine Antwort, die alle Aspekte einbezieht, scheint nur im Bereich des kulturellen oder symbolischen Kapitals möglich zu sein - und des Habitus. Im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich besteht ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Bourdieu und Luhmann darin, dass Bourdieu sein wirtschaftliches Feld der Politik öffnet, indem er auf die Rolle des Staates - etwa beim Wohnungsbau - hinweist. Seiner Darstellung fehlt es nicht an Konkretheit: „Aber zu den wichtigsten Wechselbeziehungen mit der Außenwelt des Feldes gehören die mit dem Staat. Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nimmt oft die Form eines Wettbewerbs um die Macht über die Staatsmacht an - vor allem um die Macht über die Reglementierung und die Eigentumsrechte - und um die Vorteile, die sich aus den verschiedenen Staatsinterventionen ergeben: präferentielle Tarife, Patente, Kredite für Forschung und Entwicklung, öffentliche Aufträge für Einrichtungen, Zuschüsse für die Schaffung von Arbeitsplätzen, für Innovation, Modernisierung, Exporte, Wohnraum usw.“ 135 Von einer systemischen Schließung im Sinne von Luhmann kann hier nicht die Rede sein: Bourdieus Felder „Wirtschaft“ und „Politik“ kommunizieren miteinander in einer ihnen gemeinsamen Sprache, und dem Staat als politischer Kraft fällt im wirtschaftlichen Feld eine Schlüsselrolle zu. Abermals tritt hier der Gegensatz zwischen Luhmanns phänomenologischem 133 Ibid., S. 109. 134 Komplementär dazu wurde festgestellt, dass auch in der Werbung regionale und kulturelle Besonderheiten in zunehmendem Maße berücksichtigt werden: Vgl. V. Smith, „Visual Persuasion: Issues in the Translation of the Visual in Advertising“, in: META 1 (Presses de l’Univ. de Montréal), März 2008, S. 47-50. 135 P. Bourdieu, Les Structures sociales de l‘économie, op. cit., S. 312. <?page no="762"?> Bourdieus Soziologie 746 Trennungsdenken und Bourdieus Denken in Vermittlungen und Interferenzen in Erscheinung. Aber auf die system- und feldübergreifenden Aktivitäten von Machteliten im Sinne von C. Wright Mills (vgl. Kap. VIII. 4) geht Bourdieu ebenso wenig ein wie Luhmann. Auch das politische Feld erscheint Bourdieu als ein „Ort der Konkurrenz um die Macht“. 136 Dabei wird „Macht“ nicht wie bei Parsons (vgl. Kap. XIV) und Luhmann als Kommunikationsmedium aufgefasst, sondern als ein Aspekt von Herrschaftsverhältnissen, die unablässig in Frage gestellt und revidiert werden. So besetzen etwa in Deutschland neue Parteien wie die „Grünen“ oder „Die Linke“ (links von der SPD) Positionen im Feld, die es ihnen gestatten, um Stimmenanteile der etablierten Parteien zu werben. Der demokratische und verfassungsmäßige Konsens sorgt jedoch für Grenzen, in denen Kämpfe ausgetragen werden: „Um sich zu bekämpfen, muss man sich über die Grenzen der Uneinigkeit einig sein.“ 137 Diese Grenzen fallen auch mit der Unterscheidung zwischen Laien und Berufspolitikern zusammen, und die Autonomie des politischen Feldes wird grundsätzlich in Frage gestellt, wenn sich Laien - in welcher Form auch immer - in das politische Geschehen einmischen oder gar versuchen, politische Institutionen zu usurpieren. Zu einem solchen Usurpationsversuch kam es in Frankreich im Jahre 1980, als sich der Komiker Coluche (Michel Colucci) um die Präsidentschaft bewarb. 138 Während ihm einige Intellektuelle und ein Teil der politikverdrossenen Wählerschaft ihre Sympathien bekundeten, wurde er von allen politischen Parteien einhellig als inkompetent und gefährlich verurteilt: Schließlich war er eine inkarnierte Parodie der Politik. Aus Bourdieus Sicht ist Coluches Kandidatur wesentlich mehr als ein Scherz, weil sie zeigt, was es heißt, die Autonomie des politischen Feldes in Frage zu stellen. Wesentlich gefährlicher als Coluches laienhafte Intervention sind die politischen Auftritte von Medienmagnaten wie Berlusconi oder finanzkräftigen „Quereinsteigern“ (etwa Stronach in Österreich). Sie appellieren auf populistisch-demagogische Art an die Wünsche, Ängste und Ressentiments des Laienpublikums, um die Kräfteverhältnisse im politischen Feld zu ihren Gunsten verändern zu können. Dabei geht es nicht so sehr um die Lösung öffentlich erkannter Probleme, sondern um eine Neudefinition der Feldstruktur in Übereinstimmung mit den Interessen neuer Kräfte, die etablierte Individuen und politische Parteien herausfordern (analog zu Webers Zauberern und Propheten). Diese Neudefinition läuft zumeist auf eine neue Klassifikation gesellschaftlicher Gruppen und eine Neueinteilung der Gesellschaft hinaus: 136 P. Bourdieu, Politik, op. cit., S. 71. 137 Ibid., S. 275. 138 P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. II, op. cit., S. 800. <?page no="763"?> Bourdieus Soziologie 747 „Wenn ich im politischen Feld behaupte, dass die Grenze auf die es ankommt, zwischen Reichen und Armen verläuft, ist das Ergebnis eine bestimmte Gesellschaftsstruktur. Wenn ich sage, dass es auf die Grenze zwischen Franzosen und Ausländern ankommt, ist das Ergebnis eine ganz andere Gesellschaftsstruktur.“ 139 Die populistische oder „laienhafte“ Intervention des Front National / Rassemblement National oder der italienischen Lega läuft auf eine solche Neueinteilung und Neudefinition der Gesellschaft hinaus. Dabei ist entscheidend, dass diese neue ideologische Einteilung einen „Theorie-Effekt“ („effet de théorie“, Bourdieu) 140 zur Folge hat: ähnlich wie die marxistische Einteilung der Gesellschaft in zwei antagonistische Klassen. Indem sie Gruppen oder gar Massen mobilisiert, die im Rahmen dieses ideologischen Dualismus denken und agieren, wird sie zur sozialen Wirklichkeit. In diesen „Kämpfe[n] um das Monopol der legitimen symbolischen Gewalt“ 141 wird die Wirklichkeitsauffassung des politischen Establishments radikal in Frage gestellt - und zusammen mit ihr die von den Berufspolitikern verkörperte Feldautonomie. Daher kann Bourdieu sagen: „Heute ist eine der großen politischen Herausforderungen gerade der Kampf um die Grenzen des politischen Feldes.“ 142 An diesem Kampf nehmen nicht nur Komiker, Quereinsteiger oder „populistische“ Politiker teil, sondern auch Journalisten. Bourdieu stellt fest, dass „das journalistische Feld in gewisser Hinsicht in das politische einbezogen ist“ 143 , zumal das „Image“ von Politikerinnen und Politikern in Zeitungen und anderen Medien (vor allem im Fernsehen) zustande kommt. Zusammen mit dem Journalismus dringen auch ökonomische Kräfte ins politische Feld ein, weil die Berichterstattung der Medien weitgehend den Marktgesetzen gehorcht. Bekanntlich spielen bei der Erstellung von Fernsehprogrammen die Einschaltquoten häufig eine entscheidende Rolle. So ist es zu erklären, dass Bourdieu immer wieder auf die durch den Journalismus vermittelten ökonomischen Interferenzen im politischen Feld zu sprechen kommt. Dabei greifen „Markt“ und „Menge“ unauflöslich ineinander: „Die Ausstrahlungskraft des journalistischen Feldes stärkt tendenziell in jedem Feld die Akteure und Institutionen, die dem Pol am nächsten stehen, der dem Effekt der Menge und des Marktes am stärksten unterworfen ist (…).“ 144 139 P. Bourdieu, Propos sur le champ politique, Lyon, Presses Univ. de Lyon, 2000, S. 63. 140 Vgl. P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I, op. cit., S. 114. 141 P. Bourdieu, Politik, op. cit., S. 278. 142 P. Bourdieu, Propos sur le champ politique, op. cit., S. 73. 143 P. Bourdieu, Politik, op. cit., S. 301. 144 Ibid., S. 297. <?page no="764"?> Bourdieus Soziologie 748 Dies bedeutet unter anderem, dass in der Berichterstattung der Medien das Fernsehen führend ist und dass in diesem stark kommerzialisierten Medium das ins Rampenlicht gerückt wird, was am ehesten die Gemüter erregt: der politische Skandal (die vielen „Watergates“), die Korruptionsaffäre oder das Privatleben von Politikerinnen und Politikern. Unterbelichtet oder ausgeblendet bleiben die zentralen wirtschaftlichen und sozialen Probleme: etwa die der Obdachlosen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass dieser „kommerziellen Logik“ eine „demokratische Legitimität verliehen“ 145 wird: Die Rechtfertigung lautet, dass das Medium dem Interesse der Öffentlichkeit Rechnung trägt. Als Soziologe hofft Bourdieu auf eine Kehrtwende in dieser Entwicklung: darauf, dass die Journalisten, statt propagandistisch im Auftrag des Kommerziellen in Politik und Soziologie einzugreifen, die Öffentlichkeit mit soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut machen. Hier wird deutlich, dass Bourdieus Auffassung des politischen Feldes in mindestens drei wesentlichen Punkten von Luhmanns Betrachtungsweise abweicht: 1. Im politischen Feld wird das Medium Macht nicht funktional im Interesse der Gesamtgesellschaft verwaltet, sondern wird in Übereinstimmung mit Herrschaftsansprüchen eingesetzt, die auf eine Veränderung der Kräfteverhältnisse im Feld aus sind und zugleich die Feldautonomie in Frage stellen können. 2. Anders als bei Luhmann wird die Autonomie des Feldes nicht als vollendete Tatsache, sondern als Problem betrachtet: Sie muss als Objekt-Aktant stets gegen heteronome Interessen und Einwirkungen verteidigt werden. 3. Unter diesen heteronomen Interessen erscheint die Wirtschaft als dominante Kraft. Im Luhmann-Kapitel wurde ein Gespräch zwischen Luhmann und William Rasch zitiert, in dem Rasch nach der Dominanz der Ökonomie in der Gesellschaft fragt und Luhmann antwortet: „Ich glaube, dass wir es mit einer symmetrischen Beziehung zu tun haben, und es ist schwierig, daraus eine asymmetrische zu machen, etwa zu sagen, dass die Wirtschaft das Erziehungssystem beherrscht.“ 146 Bourdieus Antwort könnte lauten, dass das nicht so schwierig ist und dass die wirtschaftlichen Interferenzen im Erziehungssystem - vor allem im amerikanischen - nicht erfunden werden müssen. 147 Seine Analysen der Beziehungen zwischen Politik, Journalismus 145 Ibid., S. 297-298. 146 N. Luhmann, in: W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation, Stanford, Univ. Press, 2000, S. 207. 147 Craig Calhoun erklärt diese Interferenzen mit der zunehmenden Konvertibilität der verschiedenen Kapitalsorten im Kapitalismus: „Capitalism, moreover, seems to have a logic of increasing convertibility.“ (C. Calhoun, „Habitus, Field, and Capital: The Question of Historical Specificity“, in: C. Calhoun et al., Bourdieu. Critical Perspectives, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1993, S. 68.) <?page no="765"?> Bourdieus Soziologie 749 und Wirtschaft zeigen jedenfalls, wie die Felder (oder Systeme) ineinander greifen. Dabei wird die Glaubwürdigkeit der „Autopoiesis“ als Extremform der Autonomie zumindest erschüttert. Zur Wechselbeziehung von Autonomie und Heteronomie im wissenschaftlichen Feld wurde weiter oben schon einiges gesagt: Nach Bourdieu wird auch das sozialwissenschaftliche Feld von der journalistisch-ökonomischen Heteronomie bedroht. Es hat sich allerdings gezeigt, dass das mathematische Feld (aus Bourdieus Sicht) auf dieser Ebene keinerlei Gefahr ausgesetzt ist. Daher drängt sich die Frage auf: Gibt es überhaupt ein homogenes und autonomes wissenschaftliches Feld, wenn die Autonomiegrade der Teilfelder so verschieden sind? Wenn Bourdieu in Über das Fernsehen von einer Angleichung der Soziologie an das mathematische Modell träumt (s.o.), wenn er in Le Métier de sociologue (1968) gemeinsam mit Chamboredon und Passeron für eine Forschung plädiert, die „ausschließlich wissenschaftlichen Kontrollen unterliegt“ („recherche soumise à des contrôles strictement scientifiques“) 148 , so folgt er einem bestimmten Szientismus, der Wesentliches übersieht. Gemeint sind die ideologischen Interferenzen im lexikalischen, semantischen und syntaktisch-narrativen Bereich, die in allen sozialwissenschaftlichen Diskursen aufgezeigt werden können und die alle Sozialwissenschaften qualitativ von der Mathematik und den Naturwissenschaften unterscheiden. Während sich Gegensätze wie Pluspol / Minuspol oder Lauge / Säure in Physik und Chemie universeller Akzeptanz erfreuen, stoßen soziologische Gegensätze wie Gemeinschaft / Gesellschaft, System / Umwelt oder System / Lebenswelt in den Sozialwissenschaften auf Widerspruch. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die von ihnen ausgehenden Diskurse als groß angelegte Erzählungen der Gesellschaft. Bourdieu argumentiert an dieser Problematik der ideologischen Interferenzen im Diskurs als semantisch-narrativer Struktur vorbei: Sein Augenmerk richtet sich primär auf die institutionellen und pragmatischen Aspekte der Sprache (vgl. Abschn. 6 und 7) und auf die Wirkung fremder Felder in der Wissenschaft. Eines der Kernprobleme, das er im Gegensatz zu Luhmann an zahlreichen Stellen seines Werks anschneidet, betrifft die schwache Autonomie der Soziologie und der Sozialwissenschaften allgemein. Zur Soziologie bemerkt er: „Mehr als jede andere Wissenschaft wirft sie Probleme auf, die, wie man so sagt, alle Welt betreffen, mit denen alle Welt sich auszukennen glaubt und über die sie sogar ein Urteil haben zu dürfen 148 P. Bourdieu, J.-C. Passeron, J.-C. Chamboredon, Le Métier de sociologue. Préalables épistémologiques, Den Haag-Paris, Mouton-Bordas (1968), 1973, S. 103. <?page no="766"?> Bourdieus Soziologie 750 meint.“ 149 Komplementär dazu fragt er sich in Science de la science et réflexivité (2001), „warum die Sozialwissenschaften so viel Mühe haben, ihre Autonomie anerkennen zu lassen, warum es so schwierig ist, einer Entdeckung außerhalb und sogar innerhalb des Feldes Anerkennung zu verschaffen“. 150 Auf diese Frage könnte man mit einer Gegenfrage antworten: Gibt es in den Sozialwissenschaften überhaupt Entdeckungen im Sinne der Naturwissenschaften? Sollte Bourdieu behaupten, er habe das „wissenschaftliche Feld“ entdeckt, könnte Luhmann das „autopoietische Wissenschaftssystem“ als Alternative vorschlagen. Ein Vertreter der Weberschen Soziologie und des Kritischen Rationalismus wie Raymond Boudon 151 würde beide Begriffe verwerfen, weil sie in seinen Augen Pseudoentdeckungen bezeichnen. Das Problem besteht darin, dass die Soziologie Begriffe verwendet, die zwar einen theoretischen Wert besitzen, zugleich aber von einem besonderen ideologischen Engagement zeugen. Dies wird bei Touraine deutlich, der soziale Bewegungen nicht nur analysiert, sondern sich mitsamt seiner Begrifflichkeit mit ihnen solidarisiert. Bei Bourdieu sieht das Verhältnis von Ideologie und Theorie nicht viel anders aus: Er tritt als engagierter Intellektueller auf, der einerseits zwar für die Autonomie des soziologischen Feldes kämpft, zugleich jedoch versucht, seine wissenschaftlichen Kenntnisse für eine produktive, weltverändernde Gesellschaftskritik fruchtbar zu machen. Der Widerspruch besteht darin, dass er durch dieses ideologisch-politische Engagement, das in seiner Terminologie zum Ausdruck kommt, die Heteronomie in sein Feld hineinträgt. Seine Argumente sind keineswegs neutral oder wertfrei: Indem er Herrschaftsansprüche, Klassengegensätze und Ungleichheiten betont und von „symbolischer Gewalt“ spricht, stellt er sich gegen Soziologen wie Talcott Parsons, Raymond Boudon und Niklas Luhmann. Bourdieu könnte einwenden, dass Kontroversen auch die Naturwissenschaften prägen. Das ist sicherlich der Fall; der Unterschied besteht darin, dass Naturwissenschaften eine einheitliche (z.T. mathematische), wertneutrale Terminologie eigen ist, die - im Gegensatz zur Terminologie der Sozialwissenschaften - in der Öffentlichkeit nicht kontrovers diskutiert wird. Die Naturwissenschaften kennen keine Reizwörter wie „Klasse“, „Kleinbürgertum“ oder „symbolische Gewalt“, und ihre z.T. heftigen Konflikte sind keine ideologisch-politischen Kämpfe. 149 P. Bourdieu, Über den Staat, op. cit., S. 312. 150 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité. Cours du Collège de France 2000-2001, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 170. 151 Vgl. R. Boudon, La Sociologie comme science, Paris, La Découverte, 2010, S. 28. <?page no="767"?> Bourdieus Soziologie 751 Dies übersieht Bourdieu, wenn er von einem scheinbar homogenen „wissenschaftlichen Feld“ spricht und es wie folgt definiert: „ein strukturiertes Kräftefeld und zugleich ein Feld, in dem um die Erhaltung oder Umgestaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird“. 152 Wie in der Wirtschaft und der Politik stehen auch im wissenschaftlichen Feld die etablierten „Orthodoxen“ (Webers „Priester“) den marginalen Neuerern und „Häretikern“ (Webers „Propheten“) gegenüber. Bourdieu zeigt, wie Wissenschaftlergruppen mit verschiedenen Kapitalarten und Strategien (Modalitäten) einander bekämpfen, wobei nicht nur wirtschaftliches, sondern auch soziales oder symbolisches Kapital zum Tragen kommt. Die Strategien haben stets zwei Seiten: eine rein wissenschaftliche und eine feldorientierte. Wenn beispielsweise eine Forschergruppe vor einer anderen eine Entdeckung macht, kann dies zur symbolischen Vernichtung der Rivalen beitragen: „Eine Entdeckung kann ein symbolischer Mord sein, der nicht intendiert sein muss (…).“ 153 Obwohl Bourdieu im Gegensatz zu Luhmann die Autonomie des sozialwissenschaftlichen Feldes relativiert und Machtkämpfe in diesem Feld sichtbar macht, in deren Verlauf verschiedene Kapitalsorten und Strategien über Sieg oder Niederlage entscheiden, sind sich beide Soziologen darin einig, dass die Wahrheit als Faktum im Feld oder System zustande kommt. Dazu bemerkt Bourdieu: „Die wissenschaftliche Tatsache wird nur dann als wissenschaftliche Tatsache zur Wirklichkeit, wenn sie von der Gesamtheit des Feldes hervorgebracht wird (…).“ 154 Vergleichbare Aussagen finden sich in Luhmanns Die Wissenschaft der Gesellschaft, wo es von der Wissenschaft heißt: „Alles, was sie kommuniziert, ist entweder wahr oder unwahr, was immer sich im System bewegt.“ 155 In der Soziologie ist die Lage möglicherweise komplexer, als sie von den beiden Soziologen dargestellt wird. Denn der Konsens, der sich in den hier zitierten Sätzen abzeichnet, nämlich dass Fakten oder Wahrheiten im Feld oder System zustande kommen, ist ein Scheinkonsens, weil „Feld“ oder „System“ zwar vergleichbare, aber doch heterogene Begriffe sind und heterogenen Diskursen angehören. Es könnte bestenfalls von einem Konsens im Dissens die Rede sein, der mit dem Konsens der Physiker, dass Kupfer Strom leitet, nicht zu vergleichen ist. Bourdieus größtes Verdienst in diesem Bereich besteht wohl in seinem Plädoyer für eine reflexive Soziologie, die den Soziologen anhält, über seinen eigenen Standort im Feld nachzudenken und objektivistischen Illu- 152 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 69. 153 Ibid., S. 109. 154 Ibid., S. 145. 155 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 273. <?page no="768"?> Bourdieus Soziologie 752 sionen abzusagen. Die „kritische Reflexivität“ 156 wird in Bourdieus Inauguralvortrag am Collège de France (1982) zur Praxis: Es geht darum, den Stellenwert eines solchen Vortrags und des Collège de France im wissenschaftlichen Feld zu reflektieren, um kritische Distanz der Institution gegenüber zu gewinnen und „um die Freiheit Institutionen gegenüber zu verteidigen“ („défendre la liberté à l’égard des institutions“). 157 - Unreflektiert bleiben jedoch die sprachlichen, semantischen und narrativen Verfahren des institutionalisierten Diskurses, die Bourdieu auch in der Literatur nicht untersucht. Charakteristisch für Bourdieus Analysen des literarischen (künstlerischen) Feldes ist seine funktional-pragmatische Betrachtungsweise, in der Herrschaftsansprüche, Positionen und Strategien im Vordergrund stehen. Der Prozess, den er beschreibt, weist drei Aspekte auf: 1. die historischgenetische Entstehung der Feldautonomie; 2. das konfliktträchtige Gegeneinander von Schriftstellergruppen und einzelnen Autoren; 3. die wirtschaftlichen und politischen Einwirkungen auf das künstlerische und literarische Feld. Während er im ersten Punkt weitgehend mit Luhmann übereinstimmt (Autonomie als Folge der Differenzierung), weicht er im zweiten und dritten Punkt durch die Betonung des Konflikts als treibender Kraft der Entwicklung und durch die Hervorhebung heteronomer Interferenzen von ihm ab. Als Soziologe und Vertreter eines historischen oder genetischen Strukturalismus kann sich Bourdieu nicht mit dem ahistorischen Postulat der künstlerischen und literarischen Autonomie zufrieden geben. Anders als der Linguist und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson, der sechs Sprachfunktionen untersucht und feststellt, dass die „poetische Nachricht“ (oder Sprache) im Gegensatz zu den anderen Sprachformen nichts kommuniziert, sondern auf sich selbst verweist, d.h. um ihrer selbst willen existiert und daher autonom ist 158 , lässt es Bourdieu nicht bei dieser Feststellung bewenden. Er fragt im Rahmen seines genetischen Strukturalismus nach der sozio-historischen Entstehung dieser Autonomie. Jakobson und dem Literaturwissenschaftler Gérard Genette wirft er vor, dass sie die künstlerische und literarische Autonomie verabsolutieren und ihre historische Entstehung übersehen. Zur Semiologie (Semiotik) bemerkt er: „Von Jakobson bis Genette klammert sie die Historizität der Kulturwerke tendenziell aus und behandelt den literarischen Gegenstand als autonome Einheit (…).“ 159 156 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 215. 157 P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, op. cit., S. 55. 158 Vgl. R. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. I, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1972. 159 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 313. <?page no="769"?> Bourdieus Soziologie 753 Er nimmt sich vor, die „historische Anamnese“ 160 der künstlerisch-ästhetischen Autonomie zu schreiben und geht bis auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft zurück, in der die ästhetische Autonomie des Schönen (vor allem des Naturschönen) mit den zwei komplementären Thesen begründet wird, es „gefalle ohne Begriff“ und werde mit „interesselosem Wohlgefallen“ 161 betrachtet. Die beiden Thesen sind insofern komplementär, als die erste These besagt, dass das Schöne in Natur oder Kunst nichts Nützliches begrifflich mitteilt, während die zweite These zu verstehen gibt, dass es zwar mit Wohlgefallen, aber ohne Fragen nach seinem Wozu, seinem Nutzen wahrgenommen wird. Insgesamt handelt es sich hier um eine antiutilitaristische Ästhetik, die nicht schlicht als gegeben aufzufassen ist und auch nicht aus sich selbst erklärt werden kann. Dazu bemerken Bourdieu und Darbel: „Der Soziologe nimmt sich nicht vor, Kants Formulierung, der zufolge ‚das Schöne ohne Begriff gefällt‘, zu widerlegen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen zu definieren, die diese Erfahrung ermöglichen (…).“ 162 Diese Erfahrung hat ihren Ursprung im Bildungsbürgertum, einer historisch entstandenen Gruppierung, die über genug Muße verfügt, um Kunstwerke und das Schöne allgemein zu goutieren, ohne nach dem Wozu zu fragen. Das Kleinbürgertum, die Arbeiter oder Bauern fragen sehr wohl nach diesem Wozu und nehmen eher eine utilitaristische Haltung an, die Kants Ästhetik negiert: Sie ziehen Urlaubs- oder Hochzeitsfotos einem abstrakten Gemälde vor und wenden sich eher der Unterhaltungsliteratur oder dem nützlichen Sachbuch zu als einem hermetischen Gedicht, dass sich der Sinngebung entzieht und um seiner selbst willen gelesen werden will (etwa weil es Fragen aufwirft, ohne sie zu beantworten). In seinen Analysen des literarischen Feldes zeigt Bourdieu, wie sich die Autonomieästhetik im Frankreich des 19. Jahrhunderts allmählich durchsetzt. Als einer der Hauptvertreter dieser Ästhetik erscheint ihm in Les Règles de l’art (1992, dt. Die Regeln der Kunst, 2001) Gustave Flaubert (1821-1880), dessen Roman L’Education sentimentale (1870, dt. Die Erzie hung des Herzens, 1957) er seine Hauptanalyse widmet. Abermals wird ein Feld als Auseinandersetzung um den legitimen Standpunkt aufgefasst: „Die Erziehung des Herzens bietet sicher das vollendetste Beispiel jener Konfrontation mit der Gesamtheit der relevanten Positionierungen.“ 163 Um welche Feldpositionen geht es hauptsächlich? Bourdieu erklärt: „Als Verteidiger des L’art pour l’art nimmt Flaubert im literarischen Produk- 160 Ibid., S. 453. 161 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S. 69 und S. 93: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“ 162 P. Bourdieu, A. Darbel, L’Amour de l’art, op. cit., S. 162. 163 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 166. <?page no="770"?> Bourdieus Soziologie 754 tionsfeld eine neutrale Stellung ein, die durch eine (als zweifache Ablehnung erfahrene) zweifache negative Beziehung definiert ist: zur ‚sozialen Kunst‘ und zur ‚bürgerlichen Kunst‘.“ 164 Anders argumentiert Luhmann, der die Kommunikation zur Grundlage seiner Systemtheorie macht und im Innovationsprinzip die treibende Kraft der Kunstentwicklung erblickt: „Die Kunst lebt innovativ, lebt in hohem Maße von der Negation ihrer eigenen Vergangenheit.“ 165 Im Gegensatz zu Luhmann bindet Bourdieu die Innovation in die Feldkämpfe ein, die bei ihm zum Movens der Kunstentwicklung werden. Als Intellektueller, als Angehöriger der Beherrschten innerhalb des herrschenden Bürgertums (s.o.) richtet Flaubert seine schärfsten Attacken gegen die Bourgeoisie und ihre Kunst. So erscheinen neben dem Prozess der Differenzierung Kritik, Abgrenzung und Konflikt als Hauptursachen der Veränderung und Erneuerung. Flauberts Sieg im Feld weist eher politische, moralische und juristische als literarische Komponenten auf, denn er gewinnt den Prozess, den der Skandal um seinen Roman Madame Bovary ausgelöst hat. „Nach seinem Prozeß stand Flaubert als größter Schriftsteller seiner Zeit dar (…)“ 166 , fasst Joseph Jurt zusammen. Hier werden die heteronomen, politischen und juristischen, Interferenzen im literarischen Feld sichtbar, mit denen sich Luhmann kaum befasst. Bourdieu hingegen verknüpft sie immer wieder mit eigentlich literarischen Rivalitäten. Er schenkt einige Aufmerksamkeit Flauberts Kritik an Balzacs Realismus und betont, dass in der Erziehung des Herzens eine einheitliche Erzählerperspektive, die bei Balzac stets vorhanden ist, fehlt: „Wie Manet gibt Flaubert die einheitliche Perspektive von einem festen und zentralen Standpunkt aus auf (…).“ 167 Bourdieu fügt hinzu, dass „jeder privilegierte Standort fehlt“. 168 Er führt diesen Gedankengang, der in Erzähltheorie und Ideologiekritik münden könnte, jedoch nicht weiter aus. An diesem Punkt könnte eine Textsoziologie oder Soziosemiotik einsetzen, um nach den kritischen Komponenten einer Schreib- oder Erzählweise zu fragen. Denn Flauberts Verzicht auf eine einheitliche Erzählperspektive ist mit Nietzsches Perspektivismus 169 vergleichbar und weist wie dieser 164 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, op. cit., S. 203. 165 N. Luhmann, „Ist Kunst codierbar? “, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 34. 166 J. Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1995, S. 136. 167 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 185. 168 Ibid. 169 Vgl. F. Nietzsche, Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 497: „(…) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind (…)“. <?page no="771"?> Bourdieus Soziologie 755 dialogische Aspekte auf: Wenn es den wahren oder „realistischen“ Standort nicht gibt, ist es vielleicht lohnend, heterogene Diskursperspektiven dialogisch aufeinander zu beziehen. Bourdieu klammert diskursanalytische und diskurskritische Komponenten aus und konzentriert sich bei einem Dichter wie Stéphane Mallarmé auf dessen Feldposition, d.h. auf seine soziale Herkunft und seinen „Salon“. Dies gilt auch für die Symbolisten und die „Décadents“: „Die aus besseren Kreisen (das heißt aus dem mittleren und hohen Bürgertum und dem Adel) hervorgegangenen hochgebildeten Symbolisten stehen in Gegensatz zu den oft aus Handwerkerfamilien stammenden Décadents, von denen kaum einer studiert hat, ganz wie der Salon (die Dienstagempfänge Mallarmés) in Gegensatz zum Café (…).“ 170 In dieser Hinsicht stimmt er weitgehend mit der empirischen Literatur- und Kunstsoziologie eines Hans Norbert Fügen überein: Auch ihr geht es primär um die literarische Kommunikation und die Rivalitäten zwischen Künstlergruppen und Strömungen - nicht aber um die Strukturen der Texte. 171 Im Gegensatz zu diesen Empirikern betont Bourdieu den Klassencharakter der Konflikte, die literarischen Strategien und die Eigendynamik des Feldes. In der Soziologie des literarischen Textes geht es jedoch um wesentlich mehr: um die semantischen, syntaktischen und narrativen Verfahren der Texte, die im Falle von Flaubert oder Mallarmé als kritische Reaktionen auf eine bestimmte gesellschaftliche und sprachliche Situation zu verstehen sind. Wenn sich Mallarmé für einen hermetischen Stil entscheidet, so nicht deshalb, weil es ihm um die Anhäufung von symbolischem Kapital geht, sondern weil er meint, auf diese Art am ehesten dem zu entgehen, was er als „universelle Reportage“ („universel reportage“) 172 bezeichnet: der entstehenden „Medienkommunikation“, die in jeder Hinsicht den Marktgesetzen gehorcht. Ihm ist es wie seinem Freund und Schüler Paul Valéry und in Deutschland Stefan George um die kritische Distanz zu allen kommerzialisierten und ideologischen Sprachen zu tun. Dieser sprach- und ideologiekritische Aspekt der Literatur tritt bei Bourdieu nicht in Erscheinung. Mallarmés Kritik der Ideologien und marktgängigen Diskurse macht noch einen weiteren, von Bourdieu vernachlässigten Aspekt der Literatursoziologie sichtbar: die Tatsache, dass ein literarischer Text nicht nur mit Literatur interagiert, sondern implizit und explizit, affirmativ oder kritisch auf nichtliterarische Texte antwortet: auf politische, juristische, philosophi- 170 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 423. 171 Vgl. H. N. Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden, Bonn, Bouvier, 1974 (6. Aufl.), S. 187-192: „Dichterkreise“. 172 S. Mallarmé, Kritische Schriften (Französisch und Deutsch), Hrsg. G. Goebel, B. Rommel, Gerlingen, Lambert Schneider-Bleicher, 1998, S. 228. <?page no="772"?> Bourdieus Soziologie 756 sche und wissenschaftliche Soziolekte. Er ist, wie Eugenio Coseriu zeigt 173 , ein Universalexperiment mit der Sprache, in das unzählige Textsorten eingehen. Bourdieus Paradox besteht darin, dass er als Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kultursoziologe die literarische Evolution vorwiegend im literarischen Feld untersucht, während diese Evolution, wie Brechts Episches Theater und sein Verhältnis zum Marxismus oder zur Oktoberrevolution zeigen, weit über den literarischen Bereich hinausweist. Dies hat Bernhard Lahire bemerkt, der Bourdieu zu Recht ein „Eingeschlossen-Sein in den engen Grenzen des Feldes“ 174 vorwirft. Um seine Kritik zu konkretisieren, verweist er auf Kafkas Prozess-Roman, in dem nicht nur literarische, sondern auch und vor allem juristische Diskurse kritisch verarbeitet werden. Sein Beispiel ergänzt die hier angeführten Beispiele: Wie Kafka geht es Mallarmé und Brecht nicht primär um Feldstrategien und um die Akkumulation von symbolischem Kapital im Feld, sondern um eine weitreichende Kritik der gesellschaftlichen und sprachlichen Verhältnisse ihrer Zeit. An diesem Punkt setzt die Konfrontation zwischen Bourdieu und Adorno ein. 7. Feldstrategie oder Kritik? Bourdieu und Adorno Bourdieus Verdienst besteht zweifellos darin, dass er die Verhältnisse im literarischen (künstlerischen) Feld untersucht und dabei die historische Dynamik des Feldes erklärt. Seine Kultur- und Kunstsoziologie eignet sich besonders gut für die Erklärung der Machtkämpfe rivalisierender literarischer Gruppen, auf die er in Die Regeln der Kunst immer wieder eingeht. André Bretons Rolle als Anführer der französischen Surrealisten tritt zutage, „wenn er in seinen Beziehungen zu konkurrierenden Gruppen wie der Tzaras oder der Golls und Dermées, die ebenfalls die Bezeichnung Surrealismus für sich in Anspruch nehmen, nachdrücklich herauskehrt, was sie unterscheidet“. 175 Hier werden abermals die „feinen Unterschiede“ angesprochen, die das gesamte Feld der Gesellschaft durchziehen und in soziale Kategorien einteilen. Freilich ist diese Betrachtungsweise auch auf Mallarmés Mardis, seine Dienstagsempfänge, anwendbar sowie auf Stefan George und „seine Lesungen im intim feierlichen Kreis gleichgesinnter Künstler und Gelehrter“ 176 , von denen bei Michael Winkler die Rede ist. Eine Soziologie von Georges 173 Vgl. E. Coseriu, „Thesen zum Thema Sprache und Dichtung“, in: W.-D. Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik, München, Fink, 1971, S. 185. 174 B. Lahire, „Le Champ et le jeu: la spécificité de l’univers littéraire en question“, in: J.-P. Martin (Hrsg.), Bourdieu et la littérature, op. cit., S. 152. 175 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 380. 176 M. Winkler, George-Kreis, Stuttgart, Metzler, 1972, S. 19. <?page no="773"?> Bourdieus Soziologie 757 Dichtung sollte jedoch nicht bei der Position des George-Kreises im literarischen Feld Halt machen. Die aristokratische Attitüde des Kreises mag zum Teil seiner Positionierung im literarischen Feld gedient haben. Sie ist aber nicht auf eine Feldstrategie reduzierbar, weil sie auch Kritik beinhaltet: Kritik des romantischen Klischees, der utilitaristischen Ideologie und der kommerzialisierten Kommunikation des Alltags. Am Beispiel von Stefan Georges Lyrik macht Adorno die Ambivalenzen der Literatur sichtbar, indem er zeigt, wie bei George Ideologie und Ideologiekritik alternieren: „(…) Bei George klaffen Ideologie und gesellschaftlicher Gehalt weit auseinander.“ 177 Der herrschaftliche Gestus, den Adorno in verschiedenen Gedichten Georges aufzeigt, geht häufig einher mit Gesellschaftskritik, die - wie bei Mallarmé - stets als Sprachkritik auftritt. Der kritische Stil wird gewonnen, „indem er asketisch ausspart, was immer die Distanz von der vom Kommerz geschändeten Sprache mindern könnte“. 178 Genau diese Distanz hatte Mallarmé im Sinn, als er seine Dichtung im Gegensatz zur „universellen Reportage“ sah. Im Anschluss an Mallarmé, der von der „reinen Sprache“ spricht, bemerkt Adorno in seinem Kommentar zu Georges lyrischem Subjekt: „Es muß sich gleichsam zum Gefäß machen für die Idee einer reinen Sprache.“ Er fügt hinzu: „Ihrer Errettung gelten die großen Gedichte Georges.“ 179 „Sprache als Herrschafts- und Gesellschaftskritik“: Dies sei die Kurzfassung von Adornos Replik auf Bourdieus Kultursoziologie. In dieser Kurzfassung ist der Gedanke enthalten, dass es nicht bloß um Lyrik und ihren Stil geht, sondern auch um den theoretischen Diskurs, der vom literarischen nicht zu trennen ist. Davon zeugt der zwischen Literatur und Theorie vermittelnde Essay, der in Adornos Werk eine privilegierte Position einnimmt. Im Gegensatz zur dualistisch strukturierten Ideologie und zum herrschaftlichen System, die sich beide mit der von ihnen dargestellten (eigentlich: konstruierten) Wirklichkeit identifizieren, geht der Essay von der Nichtidentität zwischen Wirklichkeit und Rede aus: „Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung (…).“ 180 Dadurch widersetzt er sich sowohl dem sich mit der Wirklichkeit identifizierenden Monolog der Ideologie als auch dem System, das nicht minder monologisch verfährt und dadurch die Zwangsmechanismen der Ideologie reproduziert. 177 Th. W. Adorno, „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, in: ders, Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 97-98. 178 Ibid., S. 101. 179 Ibid. 180 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 22. <?page no="774"?> Bourdieus Soziologie 758 Anders als für Bourdieu ist für Adorno die Wechselwirkung von Theorie und Literatur oder Kunst von entscheidender Bedeutung. Dies wird in der mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung deutlich, in der sich die Kritische Theorie in ihrer Kritik am instrumentellen Denken des Rationalismus (vgl. Kap. VI) zur herrschaftsfreien Mimesis der Kunst bekennt. Die Nähe der kritischen Literatur zur Kritischen Theorie zeigt sich mit aller Deutlichkeit in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, wo es zum Essay heißt: „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, - denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein - glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.“ 181 Es geht bei Musil wie in Adornos Variante der Kritischen Theorie um eine essayistische Betrachtungsweise, die den Ambivalenzen der Wirklichkeit Rechnung trägt und sowohl den ideologischen Dualismus als auch die begriffliche Geschlossenheit des Systems (die Reduktion auf einen Begriff) meidet. Musils essayistischer, paradigmatisch (assoziativ) konzipierter Roman kann als eine kritische Replik auf die ideologischen Diskurse seiner Zeit (auf Nationalismus, Faschismus, Klerikalismus und Bolschewismus) gelesen werden. Hier wird deutlich, dass Literatur nicht auf „Feldstrategien“ reduzierbar ist: Sie ist eine kritische Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen, ideologischen und kommerziellen Diskursen ihrer Zeit und zugleich Gesellschaftskritik. Diese tritt nicht so sehr in expliziten Aussagen hervor, sondern in der Textstruktur: in Flauberts Perspektivismus, in Musils Essayismus, in Mallarmés und Georges vieldeutiger Semantik. Adorno würde Bourdieu vorwerfen, dass er durch seine Hervorhebung von Feldpositionen und Feldstrategien Kunst und Literatur auf die „instrumentelle Vernunft“ reduziert, die in einigen Arbeiten Horkheimers und in der Dialektik der Aufklärung mit Hilfe der Kunst kritisiert wird. Adorno selbst schlägt die entgegengesetzte Richtung ein: Er orientiert sich an der kritischen Kunst (Hölderlins, Mallarmés, Kafkas), um eine kritische Gesellschaftstheorie der Nichtidentität zu entwickeln, die nach essayistischer Offenheit, einem Denken in Modellen und zuletzt nach einer parataktischen Anordnung des Diskurses strebt. Von einem Verständnis für essayistische Offenheit kann bei Bourdieu nicht die Rede sein. Davon zeugt ein Kommentar von Joseph Jurt, in dem Bourdieu als Feldstratege und Gegner des Essayismus auftritt: „In den Gesprächen der 1980er Jahre beklagt er sich immer wieder über die Domi- 181 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. I (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 250. <?page no="775"?> Bourdieus Soziologie 759 nanz des Essayismus, gegenüber dem er einen schweren Stand habe.“ 182 Gemeint sind hier der vorwiegend nach Brillanz strebende essayistische Stil und die überragende Stellung des Semiotikers und Essayisten Roland Barthes. Er war im literarisch-wissenschaftlichen Feld sicherlich erfolgreich, sah sich selbst jedoch nicht als „Feldstrategen“: eher als einen Autor, der, zwischen Literatur und Wissenschaft stehend, mit den verschiedensten Textsorten experimentierte und dem vor allem (wie Adorno) essayistische Offenheit am Herzen lag. Sie betrachtete er als Alternative zum ideologischen Diskurs. Im Gegensatz zu Barthes und Adorno nimmt Bourdieu den Essayismus nicht als kritisches Experimentieren mit der Sprache, sondern als Feldstrategie wahr. Der Essayismus stellt jedoch gerade das strategisch-instrumentelle Denken in Frage. 183 Es soll hier nicht entgegen allen Beteuerungen Adornos kritisches gegen Bourdieus strategisches Denken dualistisch ausgespielt, sondern der Frage nachgegangen werden, wie die beiden Betrachtungsweisen einander ergänzen (könnten): ähnlich wie Formalismus und Marxismus, von denen im zweiten Kapitel die Rede war (vgl. II. 5). Möglicherweise hätte Adorno, der sehr viel Sinn für Ambivalenz hatte, diese Frage selbst aufgeworfen - obwohl ihm wie Bourdieu ein bestimmter monologischer Narzissmus eigen war, der dazu neigte, die gegnerische Position einseitig als „positivistisch“ zu verurteilen. Die Ambivalenz von Literatur und Kunst besteht darin, dass sie aufgrund ihrer stilistischen Verfahren wie Collage, Pastiche und Parodie sowohl Strategie als auch Kritik sind. Vor allem bei Gruppen und Strömungen wie Surrealismus, Vorticismus und Futurismus sind Machtansprüche nicht zu übersehen, die oft mit politischen Strategien einhergehen. Breton erhob, wie sich weiter oben gezeigt hat, einen Alleinvertretungsanspruch auf die Bezeichnung „Surrealismus“, und Marinetti versuchte eine Zeit lang sogar, als Verbündeter Mussolinis mit diesem im politischen Feld zu konkurrieren. 184 In dieser Hinsicht ist an Bourdieus Betrachtungsweise nichts auszusetzen, und gegen Adornos soziologische Ästhetik ließe sich einwenden, dass sie die kritischen Aspekte der „Höhenkammliteratur“ hervorhebt und dabei deren Feldstrategien aus dem Blickfeld verschwinden lässt. Diese Strategien, auf die kein Künstler und keine Künstlergruppe verzichten kann, weil gesellschaftlicher Erfolg nie ganz ohne Bedeutung ist, 182 J. Jurt, „Raymond Picard, Roland Barthes, Pierre Bourdieu. Ein paar (auch persönliche) Schlaglichter“, in: Lendemains 158/ 159, 2015, S. 256. 183 Vgl. Vf., Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. VI. 184 Vgl. W. Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, Stuttgart, Metzler, 1998, S. 158. <?page no="776"?> Bourdieus Soziologie 760 schließen jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft nicht aus. Und in der Literatur findet diese Auseinandersetzung, wie die Russischen Formalisten wussten 185 , auf sprachlicher Ebene statt. Liest man vor diesem Hintergrund die Manifeste der französischen Surrealisten und der italienischen Futuristen, so stellt man fest, dass gesellschaftskritische und strategische Komponenten nicht zu trennen sind. Diese Überlegung könnte ein gemeinsames Erkenntnisinteresse Adornos und Bourdieus begründen: die Beobachtung der Wechselwirkung von Feldstrategie (Ideologie) und Kritik bei einem Dichter wie George oder einem Surrealisten wie Breton. Im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) stößt man auf Mallarmés Hauptanliegen, die Sprache der Dichtung von allen kommerziellen und ideologischen Stereotypen zu reinigen. Bretons Kampfansage an das Klischee ist im folgenden Satz nicht zu überhören: „Ich glaube nicht, daß es in absehbarer Zeit ein surrealistisches Klischee gibt.“ 186 Dies ist fast ein Jahrhundert später keineswegs mehr sicher; aber im vorliegenden Fall gilt die von Mallarmé geerbte sprachkritische Absicht. Zugleich ist das Manifest - wie die Bezeichnung bereits andeutet 187 - auch ein strategischer Versuch, eine bestimmte Ästhetik und Poetik zusammen mit einer neuen Schreibweise zu institutionalisieren: im Feld als die legitime Schreibweise durchzusetzen, würde Bourdieu sagen. Vom Versuch, das Neue im Feld als legitim anerkennen zu lassen, zeugen die folgenden Bemerkungen Bretons: „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens.“ 188 Nicht zufällig wird dieser Definition des Surrealismus im Manifest das Wort „ENZYKLOPÄDIE“ vorangestellt: Was in der Enzyklopädie steht, erfreut sich institutioneller Anerkennung, und Breton hofft natürlich, so bald wie möglich einen „enzyklopädischen Status“ zu erreichen. 189 Ein ähnlicher Wille zur Institutionalisierung, zum Erfolg im Feld ist auch in Marinettis „Manifest des Futurismus“ feststellbar: „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit 185 Vgl. J. Tynjanov, „Über die literarische Evolution“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB, 1969, S. 453: „Das außerliterarische Leben steht vor allem durch sein sprachliches Moment in Korrelation zur Literatur.“ 186 A. Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek, Rowohlt, 1996, (9. Aufl.), S. 37. 187 Vgl. W. Fähnders, „Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus“, in: S. Bartoli, D. Böhme, T. Floreancig (Hrsg.), Das Subjekt in Literatur und Kunst, Tübingen, Francke, 2011. S. 243: „Manifestantismus“. 188 A. Breton, Manifeste des Surrealismus, op. cit., S. 26-27. 189 Vgl. Vf., „L’institutionnalisation des langages littéraires“, in: P. Maurus (Hrsg.), Actualité de la sociocritique, Paris, L’Harmattan, 2013. <?page no="777"?> Bourdieus Soziologie 761 in die Welt (…).“ 190 Zugleich soll aber ein neuer Stil begründet werden, der mit den Klischees der Klassik und den verbrauchten romantischen Stereotypen bricht. Dieser Stil besingt die urbane Welt und die technisierte Moderne: „Wir werden die großen Menschenmengen besingen (…), besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden (…).“ 191 In diesem Text sind Strategie und Sprachkritik kaum auseinanderzuhalten. Marinetti stand dem Faschismus nahe und verherrlichte in seinen Manifesten Gewalt und Krieg; dennoch sollte man die kritischen und innovativen Gedanken seines Werks nicht übersehen: Sie richten sich gegen verbrauchte Themen und Formen des Erzählens, des Dichtens, der Syntax. Sie zeigen, dass das Gesellschaftliche im Diskurs als semantisch-syntaktischer und narrativer Struktur zu suchen ist. 8. Soziologische Semiotik: Zwei Theorien der Theorie Dieser Abschnitt ist insofern eine Fortsetzung des vorigen, als er zeigen soll, dass Bourdieu eine Sprachtheorie und eine Theorie der Sprachhandlungen entwickelt hat, die sich vorrangig an der Frage orientiert, wer für einen Diskurs verantwortlich ist und was er mit ihm in seiner sozialen Umwelt (im Feld) bewirkt. Der komplementären Frage, wie ein Diskurs als semantisch-narrative Struktur beschaffen ist und was er als Struktur bewirkt, geht er nicht nach. Es geht hier nicht einfach um das Anliegen des Autors, der wissen möchte, wie Gesellschaft in soziologischen Theorien erzählt wird, sondern um den bekannten linguistischen Gedanken, dass linguistische Semantik, Syntax und Pragmatik komplementär sind: zwei Aspekte der Sprachwissenschaft. Brigitte Schlieben-Lange definiert die Pragmatik ganz allgemein als „Wissenschaft vom Sprechen als Tätigkeit“. 192 Diese hat es primär mit dem sozialen Kontext, der Kommunikationssituation und der Interaktion von Sprechenden zu tun. Diesen Komponenten und ihrer institutionellen Einbettung in das Feldgeschehen und seine Herrschaftsstrukturen gilt Bourdieus Interesse - und nicht der semantischen, syntaktischen und narrativen Beschaffenheit von Aussagen und Diskursen als übergreifenden Einheiten. Charakteristisch für diese Betrachtungsweise sind die folgenden Bemerkungen aus Ce que parler veut dire (1982, dt. Was heißt sprechen? , 1990): „Der Versuch, die 190 F. T. Marinetti, „Manifest des Futurismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders (Hrsg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarden (1909-1938), Stuttgart-Weimar, Metzler, 1995, S. 5. 191 Ibid. 192 B. Schlieben-Lange, Linguistische Pragmatik, Stuttgart-Berlin-Köln, Kohlhammer, 1979 (2. Aufl.), S. 22. <?page no="778"?> Bourdieus Soziologie 762 Macht sprachlicher Äußerungen sprachlich zu begreifen, die Suche nach der Ursache der Logik und der Wirkung der Sprache der Setzung (sic: Orig.: langage d’institution = institutionalisierte Sprache) in der Sprache selber, übersieht, daß die Sprache ihre Autorität von außen bekommt, woran konkret das skeptron erinnert, das bei Homer dem Redner gereicht wird (…).“ 193 Diese Argumentation ist sicherlich richtig, so weit sie reicht, und es fehlt nicht an Beispielen, die sie veranschaulichen und plausibel erscheinen lassen: Wenn die Eltern etwas sagen, hat es für ein Kind eine ganz andere Bedeutung, als wenn ein Bruder oder eine Schwester etwas behauptet. Der Rede eines Bürgermeisters oder Ministers wird in der Regel mehr Aufmerksamkeit zuteil als den Einwürfen eines der zahlreichen Anwesenden, und der Schuldspruch eines Gerichts hat einen anderen Status und eine andere Wirkung als die Anschuldigungen eines Zeugen. Fazit: „Was im Munde des einen ‚inkompetentes Gerede‘ wäre, ist eine vernünftige Vorhersage im Munde des anderen (…).“ 194 Dennoch verdanken Aussagen und Reden ihre Autorität nicht nur der gesellschaftlichen Stellung einer Person oder einer Institution (Gericht), sondern auch einem Kollektiv, „weil nämlich jede Sprache, die sich bei einer ganzen sozialen Gruppe Gehör verschaffen kann, eine autorisierte und mit Autorität dieser Gruppe belehnte Sprache ist (…).“ 195 Wenn jemand im Namen des Parteivorsitzes spricht, hat sein Wort eine Autorität, die einzelne Parteimitglieder vergeblich beanspruchen würden. Bourdieu berücksichtigt durchaus auch die Tatsache, „daß im Sprachhabitus der ganze Klassenhabitus zum Ausdruck kommt“ 196 , dass Angehörige der Unterschicht „aus Überkorrektheit zu Fehlern neigen“ oder sich „aus forcierter Lässigkeit zu recht gequälten Kühnheiten“ 197 hinreißen lassen. Insgesamt führen seine Analysen zu der Einsicht, dass die Autorität, die den Sprechenden zuteil wird, mit ihrer Klassenzugehörigkeit zusammenhängt und dass die legitime Sprache, die diese Autorität begründet, die Sprache der herrschenden Klasse in ihrer Doppelgestalt als Wirtschaftsbürgertum und Kulturbürgertum ist. Diese legitime Sprache ist zugleich eine symbolische Macht, die in vielen Fällen in symbolische Gewaltanwendung übergehen kann. Kulturelle und symbolische Machtausübung wird von Theoretikern übersehen, die dazu neigen, „Machtbeziehungen auf Kommunikationsbeziehungen zu redu- 193 P. Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, S. 73. 194 P. Bourdieu, Das politische Feld, op. cit., S. 97. 195 P. Bourdieu, Politik, op. cit., S. 13. 196 P. Bourdieu, Was heißt sprechen? , op. cit., S. 63. 197 Ibid. <?page no="779"?> Bourdieus Soziologie 763 zieren“. 198 Diese Kritik trifft auch Luhmann, der die Gesellschaft als Kommunikationszusammenhang konstruiert und Machtausübung - wie Geldzirkulation - als Kommunikationsvorgang deutet: als Sinnkonstitution im System. Dazu bemerkt Bourdieu: „Die symbolischen Systeme beziehen ihre eigene Macht daher, dass die Machtverhältnisse, die in ihnen zum Ausdruck kommen, als Sinnverhältnisse verkannt werden.“ 199 Wenn eine Instanz (die Eltern oder ein Gericht) empfiehlt, ein Jugendlicher solle „einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen“, also Jura studieren, statt Gitarre zu spielen oder Gedichte zu schreiben, so definiert sie nicht nur gesellschaftlichen Sinn, sondern übt zugleich Macht aus. Zu Recht spricht Bourdieu daher von der „verdrängte[n] politische[n] Dimension der alltäglichsten symbolischen Praktiken“. 200 Diese Dimension wirkt sich auch im wissenschaftlichen Feld aus, wo jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlergruppe danach strebt, ihrer Position und ihrer Auffassung von Wissenschaft oder Theorie mit Hilfe bestimmter Feldstrategien zur Dominanz zu verhelfen. Bourdieu nimmt sich vor, diese Strategien und ihren institutionellen Kontext durch Reflexivität transparent zu machen. Louis Pinto spricht in diesem Zusammenhang vom „Nachdenken über den wissenschaftlichen Blick“. 201 Es geht, wie sich im sechsten Abschnitt gezeigt hat, um den Blick des Wissenschaftlers und seine Position im Feld: etwa am Collège de France, wo seinem Diskurs aufgrund seiner Stellung eine bestimmte Autorität zufällt. Es geht auch darum, „das objektivierende Subjekt, den objektivierenden Standpunkt [zu] objektivieren“ 202 und seinen Diskurs als eine mit besonderer Autorität ausgestattete Rede zu durchschauen. Unberücksichtigt bleibt dabei die Diskursstruktur, die auch unabhängig vom sprechenden Subjekt eine Wirkung ausübt: einen „Theorie-Effekt“ („effet de théorie“), wie Bourdieu selbst sagt, wobei er jedoch nicht an die Diskursstruktur denkt, sondern an die pragmatische Wirkung in der gesellschaftlichen Kommunikation: etwa an die Wirkung der Marxschen Klassenkampftheorie auf die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts. Die Wirkung eines Diskurses ist jedoch auch aus seiner Semantik und seiner Erzählstruktur ableitbar: vor allem dann, wenn ein Diskurs - wie bei Marx - dualistisch aufgebaut ist und Einheiten wie Kapital und Arbeit, Bürgertum und Proletariat einander schroff gegenüberstellt. 198 P. Bourdieu, Langage et pouvoir symbolique, Paris, Seuil, 2001 (erw. Aufl. von Ce que parler veut dire / Was heißt sprechen? , op. cit.), S. 206. 199 Ibid., S. 210. 200 P. Bourdieu, Homo Academicus, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (6. Aufl.), S. 302. 201 L. Pinto, Pierre Bourdieu et la théorie du monde social, op. cit., S. 159. 202 P. Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 219. <?page no="780"?> Bourdieus Soziologie 764 Ein solcher Diskurs wird leicht zur Ideologie, weil er Ambivalenzen, Übergänge (etwa zwischen Proletariat und Kleinbürgertum) und Nuancen nicht zulässt. Von Ambivalenzen und Nuancen wollen die Rezipienten von Ideologien nichts hören. Sie sehnen sich nach der klaren, eindeutigen Unterscheidung zwischen „Gut“ und „Böse“. Ihre Sehnsucht befriedigt der ideologische, der manichäische Diskurs, der durch seinen dogmatischen Dualismus den Dialog ausschließt und sich explizit oder implizit mit der Wirklichkeit identifiziert (im Sinne von Adornos „Identitätsdenken“). Ein Beispiel führt Niklas Luhmann an: „Heute sollte man eher erschrecken, wenn man im Wahlkampfstab einer politischen Partei die Äußerung hört: ‚Die Leute wollen doch nur wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind, und das sagen wir ihnen‘.“ 203 Hier kommt es nicht so sehr auf die Position der Partei im politischen Feld an, sondern auf den Dualismus oder Manichäismus der Diskursstruktur, die Nachdenken und Fragen monologisch verhindert. Zusammen mit der institutionellen Position und Einstellung des Wissenschaftlers sollte auch seine Einstellung zum eigenen theoretischen Diskurs als semantisch-narrativer Struktur reflektiert werden. Denn wissenschaftliche Theorie ist selten frei von ideologischen (dualistischen, monologischen) Verfahren. Ein Beispiel aus Bourdieus Soziologie wurde bereits angeführt: Seine pauschale Aussage, „alles [sei] sozial“, bringt eine dualistische Gegenüberstellung von „Natur“ und „Gesellschaft“, von „Intelligenz“ oder „Begabung“ auf der einen und „Erziehung“ (Sozialisation) auf der anderen Seite hervor. Der Dualismus wird dadurch verstärkt, dass die Begriffe „Begabung“ und „Intelligenz“ durch die Verknüpfung mit „Mythos“ und „Rassismus“ negativ konnotiert werden, wenn vom „Mythos der ‚natürlichen Begabung‘ und de[m] Rassismus der Intelligenz“ 204 die Rede ist. Ideologische Aussagen dieser Art können der Soziologie, deren Wissenschaftlichkeit und Autonomie Bourdieu zu Recht gegen ökonomische und politische Interferenzen verteidigt, nur schaden. Daher wird hier zum Abschluss der Vorschlag gemacht, dass Bourdieus institutionelle oder pragmatische Reflexion, die die Position des Wissenschaftlers und seiner Theorie im Feld meint, durch die Reflexion der diskursiven (semantischen, syntaktischen und narrativen) Verfahren seitens des Diskurssubjekts der Theorie ergänzt wird. Dialogische Theorie zielt nicht nur auf Kritik und „Erschütterung“ der miteinander verglichenen oder einander relativierenden Theorien ab, sondern versucht auch, die Ebenen zu bezeichnen, auf denen sie einander er- 203 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 325. 204 P. Bourdieu, Meditationen, op. cit., S. 102. <?page no="781"?> Bourdieus Soziologie 765 gänzen. Da der komplementäre Charakter von linguistischer Semantik und Syntax auf der einen und linguistischer Pragmatik auf der anderen Seite von niemandem angezweifelt wird, ist es naheliegend, dass eine Verknüpfung von Bourdieus pragmatischem (institutionellem) Theorie- und Wissenschaftsbegriff mit dem sozio-semiotischen ein Gewinn wäre. 9. Ein engagierter Intellektueller: Europa, „männliche Herrschaft“ und „Das Elend der Welt“ Dieser Epilog könnte zu einer längeren Abhandlung über Pierre Bourdieu werden, weil vor allem sein Buch Die männliche Herrschaft (La Domination masculine, 1998) und der von ihm edierte Sammelband Das Elend der Welt (La Misère du monde, 1993) nicht nur von seinem Engagement als Intellektueller zeugen, sondern auch Fragen aufwerfen, die sein Gesamtwerk betreffen: etwa die Frage der Überlappung von männlicher Herrschaft und Klassenherrschaft, die von ihm nur sporadisch angeschnitten wird. Hier soll das eingangs bereits erwähnte Engagement im Mittelpunkt stehen. Bourdieu engagiert sich anders als Sartre und der Sartrianer Touraine. Während Sartre und Touraine den ethischen Aspekt ihres Engagements hervorheben und Touraine die zeitgenössischen Bewegungen eher für ethisch als für sozial motiviert hält, wie sich weiter oben und im vorigen Kapitel gezeigt hat, will Bourdieu als engagierter Intellektueller Soziologe, Wissenschaftler bleiben. Dazu bemerkt Joseph Jurt: „Anlässlich einer Debatte in London im März 2001 zusammen mit seinem Freund Eric Hobsbawm brachte Bourdieu die Kontinuität seiner Haltung auf die Formel: ‚keine Wissenschaft ohne Engagement. Kein Engagement ohne Wissenschaft‘.“ 205 Diese Einstellung entspricht bis zu einem gewissen Grad der Touraines, dessen Interventionen zugunsten emanzipatorischer Bewegungen durchaus eine soziologische Fundierung beanspruchen. Der Unterschied besteht wohl darin, dass Touraine die ethische über die wissenschaftliche Motivation stellt, während bei Bourdieu das Engagement aus der wissenschaftlichen Erkenntnis hervorgeht. Sein von Durkheim geerbtes Motto „alles ist sozial“ könnte als Leitmotiv über seinem Plädoyer für ein soziales Europa und die Gleichberechtigung der Geschlechter stehen. In einem leicht manichäisch geprägten Diskurs, der bisweilen dem ideologischen Dualismus verfällt, plädiert Bourdieu für eine Unterordnung der Wirtschaft und der Finanz unter das Soziale und die Politik. 205 J. Jurt, Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu, Göttingen, Wallerstein, 2012 (2. Aufl.), S. 234. <?page no="782"?> Bourdieus Soziologie 766 Der folgende Text stammt aus Contre-feux (1998), einer Streitschrift, deren polemischer Ton nicht für das Gesamtwerkt Bourdieus charakteristisch ist: „Heute steht die Rückeroberung der Demokratie von der Technokratie auf dem Spiel: Es muss Schluss sein mit der Tyrannei der ‚Experten‘ im Sinne der Weltbank oder des Weltwährungsfonds, die ohne Diskussionen die Urteile des neuen Leviathan durchsetzen (…).“ 206 Diesen programmatischen Bemerkungen liegt der Vorschlag zugrunde, Wirtschaft und Weltfinanz der demokratischen Kontrolle zu unterstellen. Selbst wenn man die Entwicklung des zeitgenössischen Kapitalismus nicht mit Wohlwollen betrachtet, wird man sich fragen, ob eine solche Kontrolle gegen den Willen der Experten (ohne Anführungszeichen) durchgesetzt werden kann, ohne das Wirtschaftssystem zu ruinieren und soziales Unheil (Staatspleiten, Arbeitslosigkeit, Verlust der Kaufkraft) herbeizuführen. Mit Luhmann wird man einwenden, dass das Wirtschaftssystem auf inkompetente Interventionen aus der Umwelt sehr empfindlich reagiert und im Extremfall zusammenbrechen könnte (wie in der Sowjetunion der 1920er Jahre und im China der „Kulturrevolution“). Es wäre notwendig, ein Alternativsystem zu entwerfen, das sozialer ist als das bestehende - ohne weniger effizient zu sein. Von einem solchen Entwurf als blueprint sind sowohl Bourdieu als auch Touraine noch weit entfernt. Mit Bourdieu wird man jedoch weitgehend einverstanden sein, wenn er sich für eine europäische Gewerkschaftsbewegung einsetzt, die das Soziale über die wirtschaftlichen Imperative stellt: „Eine europäische Gewerkschaftsbewegung, die zum Motor eines sozialen Europa werden könnte, muss noch erfunden werden (…).“ 207 Leider macht sich Bourdieu eine Rhetorik zu eigen, die gegen die „Brüsseler Technokraten“ („technocrates de Bruxelles“) 208 wettert, aber nicht einmal andeutet, wodurch diese sich von den Pariser oder Berliner „Technokraten“ (ohne negative Konnotationen: Beamten) unterscheiden und vor allem: wer sie denn ersetzen sollte. Soziale oder demokratische Bewegungen können nicht an ihre Stelle treten, weil ihnen die Einsicht in wirtschaftliche und finanzielle Zusammenhänge fehlt. Bourdieu, der sich die Einmischung der „heteronomen Intellektuellen“ (der Journalisten) in wissenschaftliche Angelegenheiten verbittet, kann nicht umstandslos für eine demokratische oder soziale Kontrolle der Experten, zu denen oft Wissenschaftler gehören, plädieren. Wie soll diese Kontrolle ohne inkompetente, folgenschwere Einmischung konkret aussehen? Als Europäer wird man ihm jedoch Recht geben, wenn er sich in einer Rede vor dem Deutschen Gewerkschaftsbund für einen europäischen 206 P. Bourdieu, Contre-feux, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 31. 207 P. Bourdieu, Contre-feux II, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 18. 208 P. Bourdieu, Contre-feux, op. cit., S. 47. <?page no="783"?> Bourdieus Soziologie 767 (föderalen) Staat ausspricht : „Nur ein europäischer Sozialstaat (Etat social européen) könnte der zersetzenden Wirkung der monetaristischen Wirtschaft begegnen.“ 209 Nur ein solcher Staat, meint er, könne eine politische Kontrolle über die Europäische Zentralbank ausüben. Wie Touraine warnt Bourdieu vor dem Erstarken des Nationalismus in Europa und vor einem unkontrollierten Neoliberalismus, der ausschließlich wirtschaftliche Kriterien gelten lässt und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht. Wie in seiner Abhandlung über die Wirtschaft (Les Structures sociales de l’économie, 2000: s.o.) stellt er sowohl auf theoretischer als auch auf politischer Ebene das Soziale in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und bekräftigt dadurch sein Engagement für eine Verknüpfung von Wissenschaft und Politik. Sie liegt auch seinem Buch Die männliche Herrschaft zugrunde, in dem Geschlecht immer wieder als soziale Konstruktion erscheint. Das Hauptverdienst des Buches besteht wohl darin, dass in ihm auf genetischer Ebene deutlich wird, wie sehr die anatomischen (biologischen) Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Laufe der Gesellschaftsentwicklung kulturell konstruiert werden: und zwar so, dass der historische Konstruktionsprozess durch sein Ergebnis als Faktum verdeckt wird. Dieses Ergebnis wird schließlich naturalisiert, d.h. als natürlich oder naturgegeben aufgefasst und als naturgewollt gerechtfertigt: „Das gesellschaftliche Deutungsprinzip konstruiert den anatomischen Unterschied. Und dieser gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird dann zu der als etwas Natürliches erscheinenden Grundlage und Bürgschaft der gesellschaftlichen Sichtweise, die ihn geschaffen hat.“ 210 Hier wird die Bedeutung des genetischen Strukturalismus für die Ideologiekritik erkennbar: Während Ideologien etwas, das in gesellschaftlichen Prozessen entstand, als natürlich darstellen, um sich durch dieses „Naturalisierungsverfahren“ mit der Wirklichkeit identifizieren zu können (nach dem Motto: „so ist es, und es geht nicht anders“), versucht die Soziologie als genetische Methode, das vom ideologischen Diskurs Verdeckte wieder sichtbar zu machen: den sozialen Entstehungsprozess (der Geschlechterbeziehungen, der Kunstautonomie). Bourdieu zeigt parallel zu seinen Untersuchungen über die Klassenherrschaft, dass nicht nur die Herrschenden (in diesem Fall die Männer) an den natürlichen Ursprung des Geschlechterunterschieds und die auf ihm gründenden Herrschaftsverhältnisse glauben, sondern auch die Beherrschten, die Frauen: „Die Beherrschten wenden vom Standpunkt der Herrschenden aus konstruierte Kategorien auf die Herrschaftsverhältnisse an und lassen 209 Ibid., S. 68. 210 P. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (4. Aufl.), S. 23. <?page no="784"?> Bourdieus Soziologie 768 diese damit als natürlich erscheinen.“ 211 Kurzum: Herrschende und Beherrschte glauben an die naturalisierende Ideologie, die die historische Genese der Herrschaft unsichtbar macht. Boike Rehbein formuliert es so: „Herrschende und Beherrschte haben das Herrschaftsverhältnis inkorporiert (…).“ 212 Von den Männern sagt Bourdieu, sie seien „gleichfalls Gefangene und auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung“. 213 Diese gemeinsame Gefangenschaft im Ideologischen ist wohl der Hauptgrund, warum es nicht einfach ist, die herrschenden Verhältnisse zu ändern. Wie manifestiert sich die „männliche Herrschaft“ konkret? Bourdieus Antwort lautet: in der Reduktion der Frau auf ein Objekt. Die Frau wird vom Mann als Objekt des Verlangens konstruiert und stellt sich in vielen Fällen entsprechend dar: „Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein (esse) ein Wahrgenommenwerden (percipi) ist.“ 214 Dieser Hinweis auf den Objektcharakter der Frau wird von Luce Irigaray im Kontext der Markt- und Tauschgesellschaft erläutert: „In unserer Gesellschaftsordnung werden die Frauen von den Männern ‚produziert‘, benutzt, ausgetauscht. Ihr Status ist der von Waren.“ 215 Im Anschluss daran fragt sie, was geschehen würde, „wenn die Frauen aus zwangsläufig aphasischen Objekten der Konsumtion oder des Austauschs auch zu ‚sprechenden Subjekten‘ - und natürlich nicht nach dem männlichen oder exakter, nach dem phallokratischen Modell - würden? “ 216 Bourdieu antwortet auf diese Frage und trifft sich in einem wesentlichen Punkt mit Touraine, indem er auf die Subjektwerdung der Frau in der zeitgenössischen Gesellschaft hinweist: auf die „immense kritische Arbeit der feministischen Bewegung“. 217 Diese hat zur Folge, „daß die männliche Herrschaft sich nicht mehr mit der Evidenz dessen, was sich von selbst versteht, aufzwingt (…).“ 218 Anders gesagt: Die Darstellung dieser Herrschaft als eines natürlichen Sachverhalts wird immer seltener akzeptiert, weil sich Frauen als Subjekte immer häufiger zu Wort melden, statt im Zustand „aphasischer Objekte“ (Irigaray) zu verharren. Dieser Erfolg der Ideologiekritik ist auch auf Bourdieus Engagement zurückzuführen, das in diesem Fall darin besteht, die „männliche Herrschaft“ beim Namen genannt zu haben. Dadurch hat er eine ähnliche Wirkung, 211 Ibid., S. 65. 212 B. Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, op. cit., S. 205. 213 P. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, op. cit., S. 90. 214 Ibid., S. 117. 215 L. Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin, Merve, 1979, S. 86. 216 Ibid., S. 87. 217 P. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, op. cit., S. 154. 218 Ibid. <?page no="785"?> Bourdieus Soziologie 769 einen ähnlichen „Theorie-Effekt“ erzielt wie seinerzeit Marx, als er die Gegensätze Kapital / Arbeit und Bürgertum / Proletariat zu Ausgangspunkten seines Diskurses und zu Grundlagen seines Aktantenmodells machte. Bourdieu geht zwar gelegentlich auf Überschneidungen zwischen männlicher Herrschaft und Klassenherrschaft ein, geht aber nicht so weit, die beiden Herrschaftstypen in einem einheitlichen Modell zu integrieren. Sein Engagement und seine Kritik des Herrschaftsdenkens, die ihn mit der Kritischen Theorie verbinden 219 , nehmen eine besondere Gestalt in Das Elend der Welt an, einem Sammelband, den er zusammen mit anderen herausgab und der seine Affinität zur soziologischen Spätmoderne erkennen lässt: Diese hofft zwar seit Durkheim und Tönnies auf eine Wende zum Besseren, betrachtet jedoch das soziale Geschehen mit wachsender Sorge. Die Autorinnen und Autoren des Bandes versuchen, zwei Perspektiven zu verknüpfen: die mikro- und die makrosoziologische. In mikrosoziologischer Perspektive wird das „positionsbezogene Elend (…) dessen, der es erfährt“ 220 , sichtbar, während die makrosoziologische Perspektive ein Versuch ist, den Gesamtzusammenhang zu beleuchten, der das individuelle und kollektive Elend verursacht. Hier soll dieser Nexus von Besonderem und Allgemeinem näher betrachtet werden und nicht so sehr zufallsbedingte, rein partikulare Leiden, die durch Krankheit, Unfall oder persönlichen Konflikt verursacht wurden. Die Verknüpfung von Mikro- und Makroebene, von Besonderheit und Allgemeinheit macht sich vor allem in Bourdieus Kritik des Neoliberalismus bemerkbar, die er mit ähnlicher Vehemenz vorbringt wie Touraine. 221 Die neoliberale Politik führe dazu, dass sich der Staat aus dem Immobiliensektor zurückzieht und die öffentliche Bauförderung zum Niedergang verurteilt: „Und genau der Rückzug des Staates und der Niedergang der öffentlichen Bauförderung, die im Lauf der 70er Jahre über die Ersetzung der ‚Baubeihilfen‘ durch die ‚personenbezogenen Mietbeihilfen‘ noch bestätigt wurden, sind im wesentlichen verantwortlich für das Entstehen von Orten gesellschaftlichen Abstiegs.“ 222 Etliche Beiträge zum Band Das Elend der Welt schildern die Folgen dieses Abstiegs von Städten und Stadtvierteln: Bandenbildung, Drogenhandel und ein oft unterbrochener oder erheblich 219 Vgl. U. Bauer et al. (Hrsg.), Bourdieu und die Frankfurter Schule. Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus, Bielefeld, Transcript, 2014, darin vor allem: U. Bauer, U. H. Bittlingmayer, „Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln? “, S. 73: „Bourdieus Eintreten für die symbolische Revolution visiert diese radikale Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung an und befindet sich auf der gleichen Ebene wie Marcuses Forderung nach einer Kulturrevolution (…).“ 220 P. Bourdieu et al., Das Elend der Welt, op. cit., S. 18. 221 Vgl. A. Touraine, Comment sortir du néolibéralisme? , Paris, Fayard, 1999. 222 P. Bourdieu et. al., Das Elend der Welt, op. cit., S. 128. <?page no="786"?> Bourdieus Soziologie 770 erschwerter Schulunterricht, von dem eine Lehrerin aus der Provinz berichtet. 223 Ein weiterer Aspekt neoliberaler Politik ist die Rationalisierung der Wirtschaft, die zur Schließung unrentabler Betriebe führt und zu dem, was Touraine als „Entindustrialisierung“ (Frankreichs, Großbritanniens) bezeichnet. Die Rede ist von der Krise im nordfranzösischen Longwy: „Ausgelöst wurde die Krise vor allem durch die Schließung der meisten metallverarbeitenden Betriebe (…).“ 224 Diese auf der Makroebene herrschende Politik hat weitreichende Folgen für die von Arbeitslosigkeit oder Frühpensionierung Betroffenen. Ein mit 50 Jahren pensionierter Metallarbeiter berichtet: „Sie diskutieren, sie rufen sich die alten Geschichten ins Gedächtnis, aber sie haben nichts mehr zu tun. Deshalb gibt es in Longwy jetzt ein großes Problem mit Scheidungen. Die Paare verstehen sich nicht mehr (…).“ 225 Das Zitat veranschaulicht nicht nur das besondere soziale Problem, sondern auch das sprachliche Gesamtkonzept des Bandes: Die Leidtragenden kommen selbst zu Wort, aber ihr Wort nimmt eine allgemeine Bedeutung im sozio-ökonomischen Kontext an, der sporadisch erläutert wird. Die Frage, ob und wie dieser Kontext geändert werden könnte, wird von Bourdieu (wie von Touraine) nur andeutungsweise und recht abstrakt beantwortet. Sein Plädoyer für eine europäische Sozialpolitik, eine europäische Gewerkschaftsbewegung und einen „europäischen Staat“ ist zwar - aus europäischer Sicht - sinnvoll, aber nicht konkret genug. Der von Bourdieu nicht aufgeworfenen Frage nach der Durchführbarkeit einer Arbeiter- und Angestelltenselbstverwaltung wäre die juristische Frage anzuschließen, ob eine Gesetzgebung möglich sei, welche die Belegschaft eines Betriebs, der Insolvenz anmeldet, ermächtigt, nach eingehenden Beratungen mit Wirtschaftsexperten und den politisch Verantwortlichen (auch auf europäischer Ebene), den Betrieb zu übernehmen und in eigener Regie weiterzuführen. So könnte eine - wenn auch bescheidene - Alternative zum bestehenden System in diesem System keimen. Die kritische Soziologie muss konkreter werden. Zusammenfassung und Ausblick: Bourdieu selbst bezeichnet seine Theorie als „genetischen Strukturalismus“ und deutet damit an, dass er Subjektivismus und Objektivismus überwinden und die Struktur als durch Handlungen vermittelt auffassen will. Dadurch negiert er Touraines ethischen, subjekt- 223 Vgl. R. Christin, „Die Französischstunde“ in: P. Bourdieu et al., Das Elend der Welt, op. cit. S. 310-313. 224 P. Bourdieu et al., Das Elend der Welt, op. cit., S. 210. 225 Ibid., S. 211. <?page no="787"?> Bourdieus Soziologie 771 orientierten Voluntarismus, der in Sartres idealistischer Auffassung subjekti ver Freiheit verwurzelt ist. Ihm stellt er ein relationales Konzept von Gesellschaft gegenüber, dem zufolge jedes subjektive Handeln in ein Netzwerk von individuellen und kollektiven Relationen eingebettet ist. Dieses Kon zept ist zwar „soziologischer“ als Touraines bisweilen idealistischer Subjekti vismus, unterschätzt aber die Entscheidungsfreiheit von Individuen und Gruppen. Bourdieus Verdienst besteht darin, dass er im Anschluss an Durkheim und Weber die sozialen Determinanten menschlichen Denkens und Handelns analysiert und dabei Marx Klassenbegriff neu definiert, indem er ihn auf den kulturellen Bereich ausdehnt. Dabei bezieht er den Klassen begriff nicht nur auf den Besitz von Produktionsmitteln und von ökonomischem Kapital, sondern auch auf andere Kapitalsorten, die nicht auf den wirtschaftlichen Faktor zu reduzieren sind: auf soziales, kulturelles und symbolisches Kapital. Obwohl jede dieser Kapitalsorten in eine andere kon vertiert werden kann (ökonomisches Kapital ermöglicht eine gute Ausbil dung oder das Knüpfen sozialer Beziehungen), gehorcht jede eigenen Gesetzen. Diese Gesetze tragen wesentlich zur Konstitution von Feldern bei, die - wie Luhmanns Systeme - im Differenzierungsprozess nach Autonomie stre ben. Tatsächlich fasst Bourdieu - analog zu Luhmann - die Differenzierung als Auftraggeberin der Felder und die Entdifferenzierung als heteronome Vereinnahmung oder Gegenauftraggeberin auf. Dabei werden die „Felder“ von Bourdieu selbst als „Subjekte“ (oder als Subjekt-Aktanten im Sinne der Strukturalen Semiotik) aufgefasst. Ihr Objekt-Aktant ist die „Autonomie“, die von heteronomen Interferenzen (etwa von Eingriffen des Journalismus in das wissenschaftliche Feld) des Öfteren in Frage gestellt wird. Die Autonomie oder Eigengesetzlichkeit der Felder lässt einen für jedes Feld spezifischen Habitus entstehen, der mit dem Habitus anderer Felder kollidieren kann. In seinen Analysen verschiedener wissenschaftlicher Felder - z.B. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst - zeigt Bourdieu, wie einzelne Gruppierun gen (etwa Avantgarden im künstlerischen Feld) um die Macht im Feld ringen und dabei versuchen, das Feld umzugestalten. Dadurch unterscheidet sich Bourdieus Auffassung des Feldes von Luhmanns Auffassung des Systems: Das Feld kommt nicht nur durch Differenzierung, sondern auch durch Machtkämpfe zustande. Der zweite wesentliche Unterschied zwischen den beiden Soziologen betrifft den Differenzierungs und Autonomisierungsprozess selbst: Während Luhmann von einem radikalen Autonomiebegriff ausgeht (Autonomie als Autopoiesis), beobachtet Bourdieu die verschiedenen Autonomiegrade der Felder: So ist etwa die Mathematik innerhalb des wissen schaftlichen Feldes wesentlich autonomer als die Soziologie. Aber kann in diesem Fall noch von einem einheitlichen „wissenschaftlichen Feld“ die Rede sein? Bourdieus Ansatz ist - wie der Luhmanns - vorwiegend funktional: Bourdieu geht zwar der Frage nach, wie politische, wissenschaftliche und li terarische Diskurse in der Gesellschaft wirken, befasst sich aber nicht mit <?page no="788"?> Bourdieus Soziologie 772 ihrer semantischen oder narrativen Struktur, die ebenfalls (etwa als ideologischer Manichäismus) über ihre Wirkung entscheidet. Dennoch untersucht er in Das Elend der Welt auch die sprachlichen Konstruktionen von „Geschlecht“, „Männlichkeit“, „Weiblichkeit“ und sozialer Klasse und lässt gleichsam en passant durchblicken, dass ein anderes Engagement als das Touraines möglich ist: das wissenschaftliche Engagement des Soziologen. Im nächsten Kapitel soll parallel zu Bourdieus Versuch, Subjektivismus und Strukturalismus miteinander zu vermitteln, ein analoger Versuch von Anthony Giddens betrachtet werden, der in ein Plädoyer für individuelle Selbstbestimmung mündet, dem sich Ulrich Beck anschließt. <?page no="789"?> 773 XIX. Doppelte Hermeneutik und Strukturierung, Risikogesellschaft und reflexive Moderne: Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck (Giddens antwortet Habermas und Bourdieu) Inhaltsverzeichnis 1. Doppelte Hermeneutik: Giddensʼ Antwort auf Habermas 2. Theorie der Strukturierung. Struktur und „Agency“ in Raum und Zeit: Giddensʼ Antwort auf Bourdieus Habitus-Konzept 3. Späte Moderne („late modernity“) als Enttraditionalisierung und Individualisierung: „disembedding“ 4. Giddensʼ Aktantenmodell als Kritik an Marx und der Moderne: Kapitalismus vs. ökosoziale Demokratie im Zeitalter der Globalisierung 5. Reflexive Moderne als „Zweite Moderne“: Die Diskussion zwischen Giddens, Ulrich Beck und Scott Lash 6. Risikogesellschaft und reflexive Moderne in kosmopolitischer Globalisierung: Ulrich Becks Gesellschaftsmodell 7. Individualisierung, Risiko und „Life politics“: Von Ulrich Beck zurück zu Anthony Giddens Der britische Soziologe Anthony Giddens und sein deutscher Gesprächspartner Ulrich Beck stehen für eine hermeneutische, gesellschaftskritische Soziologie. Sie konzentriert sich auf den Übergang von der modernen Industriegesellschaft zu einer reflexiven Moderne („reflexivity of modernity“, Giddens), die Beck im Gegensatz zur „Ersten“ als „Zweite Moderne“ bezeichnet. Die Kernthese, die beiden Soziologen gemeinsam ist, lautet: dass die Problematik der industriellen Moderne, die der Rationalisierung und dem Fortschrittsglauben verhaftet war und noch einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das Denken beherrschte, allmählich von einer neuen sozialen Konstellation abgelöst wird, in der angesichts der Risiken und Gefährdungen, die von Atomenergie, Klimawandel, Wirtschaftsglobalisierung und Krankheitserregern wie BSE und HIV ausgehen, ernste Zweifel an Fortschritt und Modernisierung aufkommen. Diese Zweifel führen dazu, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft zunehmend Stimmen laut werden, die zu einem selbstkritischen Nachdenken über den Modernisierungsprozess und die Moderne als ganze auffordern. Die Moderne wird reflexiv, und diese selbstkritische Wende läutet eine Zweite Moderne (Beck) oder eine Reflexive (High) Modernity (Giddens) ein. In dieser verunsicherten, reflexiven Moderne geht - Giddens zufolge - das Vertrauen in die modernen Teleologien, die den soziologischen Er- <?page no="790"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 774 zählungen von Marx, Comte und Spencer zugrunde liegen, verloren. Dazu heißt es unmissverständlich in Giddens Konsequenzen der Moderne (The Consequences of Modernity, 1990): „Die ‚Geschichte‘ ist nicht auf unserer Seite, sie hat keine Teleologie und liefert uns keine Garantien.“ 1 In der reflexiven Moderne weicht der hegelianische und rationalistische Glaube der modernen Philosophen-Soziologen Marx, Comte und Spencer an ein Fortschreiten der Gesellschaftsgeschichte zu immer höheren Stadien dem Zweifel der Moderne an sich selbst und der Selbstkritik der Soziologie, die, wie sich zeigen wird, auf die gesamte Wissenschaft ausgedehnt wird. Auch Ulrich Beck verabschiedet sich von der modern-marxistischen Großerzählung als Heilsgeschichte. Thomas Schmid bemerkt zu Becks Argumentation, „daß man ihr den schmerzhaften Verlust der marxistischen Heilsgewißheit fast auf Schritt und Tritt anmerkt“. 2 Dies gilt auch für Giddens, dessen Frühwerk (Capitalism and Modern Social Theory, 1971; A Con temporary Critique of Historical Materialism, 1981) als permanente Auseinandersetzung mit dem hegelianischen Marxismus gelesen werden kann. So heißt es beispielsweise im Vorwort zur zweiten Auflage des letztgenannten Werks: „A Contemporary Critique of Historical Materialism seeks to move away from all forms of teleology (…).“ 3 Da nicht nur in diesem Kapitel, sondern in dem Buch insgesamt die Entwicklung soziologischer Theorien als ein Prozess in drei Phasen erzählt (konstruiert) wird, in dessen Verlauf sich eine reflexive und selbstkritische Spätmoderne bereits in den Werken Paretos, Durkheims, Tönnies und Georg Simmels zu Wort meldet und die modernen Großerzählungen von Marx, Comte und Spencer radikal in Frage stellt, ist es notwendig, die hier vorgeschlagene Konstruktion mit den Konstruktionen von Giddens und Beck zu vergleichen. Beide Soziologen gehen von dem Gedanken aus, dass die selbstreflexive und selbstkritische „Zweite Moderne“ erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt, als die Gefahren, die die Moderne als wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technologischer Fortschritt selbst hervorbringt (Kernkraftwerke, Atomwaffen, Umweltzerstörung, Wirtschaftskrisen) nicht mehr zu übersehen sind. Es wird immer schwieriger, sie in den rationalistischen oder hegelianischen Fortschrittsdiskurs zu integrieren. Dieser Gedanke ist zwar plausibel, weil die von Kernwaffen und Umweltkatastrophen ausgehenden Risiken tatsächlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Bewusstsein vieler Menschen drangen (Wirtschaftskrisen 1 A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1995, S. 190. 2 Th. Schmid, „Die Chancen der Risikogesellschaft“, in: U. Beck, Politik in der Risikoge sellschaft. Essays und Analysen, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (2. Aufl.), S. 221. 3 A. Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism, Basingstoke-London, Macmillan, 1995 (2. Aufl.), S. IX. <?page no="791"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 775 traten schon im 19. und im frühen 20. Jahrhundert auf: man denke an das Jahr 1929). Er ist aber auch einseitig, weil er die Tatsache außer Acht lässt, dass schon „Klassiker“ der Soziologie - wie Pareto, Durkheim, Tönnies, Simmel, Alfred und Max Weber - kritisch über die Gefahren der Modernisierung nachdachten und den modernen Fortschrittsglauben nicht mehr gelten ließen. Freilich ging es in ihren Theorien nicht um die atomare Bedrohung und den damals noch nicht beobachteten Klimawandel. Es ging um die Arbeitsteilung und die schwächer werdende soziale Solidarität (Durkheim), den Zerfall der Gemeinschaft (Tönnies), für deren Stärkung Giddens plädiert, die zerstörerische und zugleich befreiende Macht des Geldes (Simmel), die „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft (A. Weber), von der auch bei Beck die Rede ist, und die Auswirkungen der Rationalisierung als Bürokratie (M. Weber). Tönnies gibt beispielsweise zu verstehen, dass er Marxʼ „Zuversicht in die Zukunft nicht teilt“ 4 , Simmel relativiert in „Vom Sinn der Geschichte“ zusammen mit den modernen Teleologien den stets wertenden Fortschrittsglauben 5 , und Pareto hat wohl als erster die modern-hegelianische Großerzählung von Marx in Frage gestellt, als er eine spätmoderne, kreisförmige Erzählung im Sinne Nietzsches entwarf: die ewige Wiederkehr der Eliten. Kein Soziologe vor oder nach ihm hat den hegelianisch-marxistischen Diskurs so umfassend angezweifelt. Es kommt hinzu, dass von Nietzsche beeinflusste Schriftsteller wie Kafka und Musil, die Ulrich Beck (nicht zufällig) immer wieder zitiert, über die Moderne und vor allem über deren Fortschrittsglauben kritisch nachdachten. Musil zog nicht nur die großen Erzählungen der Moderne in Zweifel, sondern das Erzählen als solches: „Wir wollen uns nichts mehr erzählen lassen, betrachten das nur noch als Zeitvertreib.“ 6 Man sollte in diesem Zusammenhang auch an Hermann Broch erinnern, der hier im Luhmann-Kapitel ausführlich zu Wort kam und die systemische Differenzierung als einen Aspekt der unkontrollierbar werdenden Modernisierung darstellte. Zeugt all dies nicht von einer reflexiv, selbstkritisch und skeptisch werdenden Moderne, deren Anfänge bis in Nietzsches 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden können? Dies ist der Grund, weshalb in der hier vorgeschlagenen Konstruktion die gesellschaftliche und soziologische Spät- 4 F. Tönnies, Marx. Leben und Lehre (Hrsg. A. Bammé), Profil Verlag, München-Wien, 2013, S. 182. 5 Vgl. G. Simmel, „Vom Sinn der Geschichte“, in: ders., Aufsätze 1887-1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Gesamtausgabe, Bd. II (Hrsg. O. Rammstedt), Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 403. 6 R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. VIII (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 1412. <?page no="792"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 776 moderne bereits mit den „Klassikern“ der Soziologie beginnt - und nicht wie bei Giddens und Beck erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies bedeutet keineswegs, dass Giddensʼ und Becks Konzept der „reflexiven Moderne“ (der „Zweiten Moderne“, Beck) für unbrauchbar erklärt wird. Es wird hier als die letzte Phase eines spätmodernen, reflexiven Denkens gedeutet, das den Übergang zur Postmoderne ankündigt, deren Begrifflichkeit Beck ablehnt, die Giddens aber in einigen seiner Schriften antizipiert: etwa in Kritische Theorie der Spätmoderne, wo er am Ende die „Konturen einer postmodernen Ordnung“ 7 skizziert. Hier wird deutlich, dass die gesellschaftliche Entwicklung auf verschiedene Arten erzählt werden kann und dass die Erzählungen als Konstruktionen der Gesellschaft einander nicht nur widersprechen, sondern auch ergänzen. Dass Becks Denken einer selbstkritischen, reflektierenden Spätmoderne angehört, lässt die Ambivalenz als eine der strukturierenden Grundfiguren seines Diskurses erkennen. Sie ersetzt das dualistische Entweder / Oder durch das dialektische Sowohl-als-Auch, wobei allerdings eine offene, nietzscheanische (nicht-hegelianische) Dialektik „jenseits von Gut und Böse“ begründet wird. In ihr sind sowohl Gutes als auch Böses, Heil und Unheil, Moderne und Antimoderne vorstellbar. Man vergleiche die folgenden beiden Aussagen Nietzsches und Becks aus Ecce Homo und Politik in der Risikogesellschaft: „Gesamt-Ansicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang und auf Stärke deuten.“ 8 Komplementär dazu heißt es bei Beck: „Wo Fortschritt und Verhängnis ineinander verwoben erscheinen, werden die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung von der obersten bis zur untersten Etage gegensätzlich buchstabiert.“ 9 Nun sind Giddens und Beck alles andere als Nietzscheaner; ihre geistige Verwandtschaft mit Nietzsche ist aus der Ambivalenz als Zusammenführung unvereinbarer Werte, als Einheit der Gegensätze ableitbar, die die gesamte Spätmoderne (auch den literarischen Modernismus Kafkas, Musils, Brochs) strukturiert. 10 Anders als bei Hegel geht aus dieser Einheit kein synthetisierender Diskurs hervor, der Widersprüche im Höheren aufhebt, sondern ein offener, kritischer (nietzscheanischer) Diskurs des Zweifels. In diesem Zusammenhang vergleicht Beck das nach Eindeutigkeit strebende 19. Jahrhundert mit dem 20. Jahrhundert der Ambivalenz: „Dort: 7 A. Giddens, Kritische Theorie der Spätmoderne, Wien, Passagen Verlag, 1992, S. 52. 8 F. Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, in: Werke, Bd. VI (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 624-625. 9 U. Beck, Politik in der Risikogesellschaft, op. cit., S. 131. 10 Vgl. Vf., L’Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2. Aufl.). <?page no="793"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 777 Trennung, Spezialisierung, das Bemühen um Eindeutigkeit, Berechenbarkeit der Welt - hier: Nebeneinander, Vielheit, Ungewißheit, die Frage nach dem Zusammenhang, Zusammenhalt, das Experiment des Austausches, des eingeschlossenen Dritten, Synthese, Ambivalenz.“ 11 Er lässt jedoch außer Acht, dass der möglicherweise bedeutendste Vertreter der spätmodernen Ambivalenz Nietzsche war, der im Jahre 1900 starb. Die reflexive, selbstkritische Spätmoderne setzt in dem hier vorgeschlagenen Entwurf daher wesentlich früher ein als in Giddensʼ und Becks soziologischen Erzählungen. Es fragt sich, warum die beiden Autoren die Selbstkritik der Moderne so spät beginnen lassen. Die Antwort könnte lauten, dass sie das endgültige Scheitern des Marxschen Emanzipationsversprechens, das sie selbst erlebt haben, als eine Zäsur auffassen, die eine neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung beginnen lässt. Robert S. Boynton stellt fest, Giddens (geb. in London im Jahre 1938) sei, „ein Mann der Sechzigerjahre“. 12 Er studierte von 1956 bis 1959 Soziologie und Psychologie in Hull (Yorks.), wo er sein Bachelor-Diplom erwarb, und von 1959 bis 1960 an der London School of Economics (MA). 1961 wurde er Lecturer an der Universität Leicester, wo er Norbert Elias kennen lernte, und 1970 Lecturer für Soziologie an der Universität Cambridge, wo er 1985 nach mehreren gescheiterten Anläufen zum ersten ordentlichen Professor für Soziologie ernannt wurde. (Im konservativen Cambridge waren die Widerstände gegen das Fach Soziologie in den 80er Jahren noch recht stark.) Aus der Affinität seines Denkens zur Politik der Labour-Partei (Tony Blairs, Gordon Browns) 13 hat er nie ein Hehl gemacht, und diese Nähe zur Sozialdemokratie erklärt sich z.T. aus der Erkenntnis, dass die Versprechen des Marxismus nicht in Erfüllung gehen können. In diesem wesentlichen Punkt überschneidet sich Ulrich Becks Denken mit dem des britischen Soziologen. Beck (1944-2015) studierte in München Soziologie, wo er 1972 promovierte und sich 1979 habilitierte. Von 1979 bis 1981 war er Professor an der Universität Münster, von 1981 bis 1992 an der Universität Bamberg und von 1992 bis zu seiner Emeritierung an der LMU München. Er starb im Jahre 2015. Auch von ihm gilt, dass er „ein Mann der 60er Jahre war“, der versuchte, die Leere, die nach dem „Verlust der marxistischen Heilsgewißheit“ (Th. Schmid) entstand, auszufüllen. 11 U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (5. Aufl.), S. 9. 12 R. S. Boynton, „The Two Tonys: Why is the Prime Minister so Interested in what Anthony Giddens Thinks? “, in: Ch. G. A. Bryant, D. Jary (Hrsg.), The Contemporary Giddens. Social Theory in a Globalizing Age, Basingstoke-New York, Palgrave, 2001, S. 198. 13 Vgl. A. Giddens, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1998, S. 73-75; ders., Where Now for New Labour? , Cambridge, Polity, 2002. <?page no="794"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 778 Im fünften Abschnitt, in dem im Rahmen des hier zugrunde gelegten dialogischen Ansatzes die Diskussion zwischen Giddens, Scott Lash und Beck kommentiert wird, soll deutlich werden, dass sowohl Giddens als auch Beck auf diesen Verlust mit der Konstruktion einer reflexiven Moderne reagieren. Sie ist - durchaus in Übereinstimmung mit Soziologen wie Tönnies, Simmel und Max Weber - als selbstkritische Spätmoderne konzipiert. In ihr verheißen nicht mehr Klassen (Marx) oder Gruppen von Industriellen (Saint-Simon, Comte) eine bessere Zukunft, sondern soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen rufen Risiken und Gefahren ins Bewusstsein, die im Laufe der industriellen Modernisierung entstehen und die menschliche Existenz bedrohen. Es geht nicht um Gefahren allgemeiner Art (etwa Erdbeben oder Seuchen), sondern um Gefahren, die als Nebenwirkungen menschlicher Entscheidungen auftreten. Soviel zum Verhältnis von Moderne und Spätmoderne und zu den Möglichkeiten, es erzählend zu konstruieren (vgl. Abschn. 3-6). Im Folgenden soll in den ersten beiden Abschnitten gezeigt werden, welche Bedeutung Giddensʼ „Doppelte Hermeneutik“ für das soziologische Engagement (die soziologische Intervention in der Gesellschaft) hat und wie sie mit seiner Theorie der Strukturierung als Theorie des Handelns und der Agency zusammenhängt. Letztere könnte als ein Entwurf aufgefasst werden, der Pierre Bourdieus Theorie des Habitus kritisch ergänzt. Im vierten Abschnitt soll Giddensʼ soziologische Erzählung als Aktantenmodell rekonstruiert werden, und die letzten drei Abschnitte befassen sich mit Giddensʼ und Becks Konstruktionen der reflexiven Moderne und mit der Frage, wie diese Konstruktionen voneinander abweichen: einer Frage, die auch die beiden Soziologen selbst beschäftigt. Im letzten Abschnitt wird spätmoderne Individualisierung im Sinne von Beck und im Hinblick auf Giddensʼ Life politics kommentiert. 1. Doppelte Hermeneutik: Giddens ʼ Antwort auf Habermas In partieller Übereinstimmung mit Habermasʼ hermeneutischem und kommunikativem Ansatz geht Giddens von dem Gedanken aus, dass sich die Sozialwissenschaften wesentlich von den Naturwissenschaften unterscheiden: Sie haben es nicht mit sprachlosen Objekten, sondern mit Subjekten zu tun, die jederzeit mit ihren Gedanken und Aussagen auf die wissenschaftlichen Befunde reagieren können. Die These aus Giddensʼ Hauptwerk Die Konstitution der Gesellschaft (The Constitution of Society, 1984) lautet: „Die Sozialwissenschaften stehen anders als die Natur- <?page no="795"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 779 wissenschaften unvermeidlich in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung zu ihrem Gegenstand.“ 14 Komplementär dazu stellt Giddens in New Rules of Sociological Method, einem Buch, dass als hermeneutische Antwort auf Durkheims eher positivistisches Programm in Die Regeln der soziologischen Methode zu lesen ist 15 , fest, dass wir es in den Sozialwissenschaften folglich mit einer „vorinterpretierten Welt“ („pre-interpreted world“) 16 und nicht einfach mit „sozialen Fakten“ zu tun haben. Daher kann die Soziologie nicht umhin, Interpretationen zu interpretieren. Diese Sichtweise rechtfertigt den Ausdruck doppelte Hermeneutik (double hermeneutic): „Die Konstruktion von Gesellschaftstheorie schließt deshalb eine doppelte Hermeneutik ein, die nirgendwo eine Parallele findet (…).“ („The construction of social theory thus involves a double hermeneutic that has no parallel elsewhere […].“) 17 Dies bedeutet zugleich, dass Verallgemeinerungen in der Soziologie einen anderen Status haben als in den Naturwissenschaften - und zwar deshalb, weil z.B. die Analysen und Vorhersagen von Klimaforschern keinerlei Auswirkungen auf die Klimaentwicklung haben, die definierbaren Gesetzen gehorcht, während Aussagen von Sozialwissenschaftlern zur steigenden Kriminalität oder zunehmenden Luftverschmutzung in bestimmten Stadtbereichen oder Regionen sehr wohl auf das Verhalten von Akteuren einwirken können. Dies trifft auch auf self-fulfilling prophecies zu, für die Wissenschaftler- oder Expertengruppen verantwortlich sind, die eine Wirtschafts- oder Finanzkrise ankündigen: Ihre Voraussagen können das Verhalten von Individuen und Gruppen beeinflussen. Eine besondere Wirkung auf soziales Verhalten und die Terminologie der Medien üben auch Begriffe wie „Klasse“ (Marx) „Charisma“ (M. Weber) „Rolle“ (Parsons), „Mobilität“ (P. A. Sorokin, R. Bendix) aus, die nicht selten in Zeitungen oder Fernsehberichten anzutreffen sind. Kurzum, soziologische Terminologie und Argumentation wirken sich auf die soziale Praxis aus, weil Menschen soziologische Begriffe und Gedanken aufgreifen, die schließlich ihr Handeln mitbedingen oder rechtfertigen können. Konkrete Beispiele sind „Klasse“ und „Entfremdung“: Marx beschrieb nicht nur die von ihm beobachtete Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern machte sich auch Begriffe wie „Klasse“ und „Ent- 14 A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt-New York, Campus, 1997 (3. Aufl.), S. 405. 15 Vgl. E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (8. Aufl.), S. 61. 16 A. Giddens, Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung, Frankfurt-New York, Campus, 1984, S. 179. (A. Giddens, New Rules of Sociological Method, London, Hutchinson, 1976, S. 146.) 17 Ibid. <?page no="796"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 780 fremdung“ zu eigen, die als ideologische Katalysatoren die konfliktreiche soziale Praxis lange Jahre in Bewegung hielten. Giddens selbst erklärt: „Die Beziehung zwischen dem theoretischen Vokabular der Sozialwissenschaften und den Alltagsbegriffen aber ist veränderlich: So wie die Sozialwissenschaftler alltägliche Begriffe - ‚Sinn‘, ‚Motiv‘, ‚Macht‘ usw. - aufnehmen und sie in einem besonderen Sinn gebrauchen, so neigen auch die Handelnden dazu, Begriffe und Theorien der Sozialwissenschaften zu übernehmen und als konstitutive Elemente in die Rationalisierung ihres eigenen Verhaltens aufzunehmen .“ 18 Hier wird die „doppelte Hermeneutik“ konkret als Wechselbeziehung von Wissenschaft und sozialem Alltag dargestellt: Während die Sozialwissenschaft bei der Konstruktion ihrer Begriffe aus dem Reservoir der Umgangssprache schöpft, versuchen Laien, sich im Alltag mit Hilfe soziologischer Begriffe zu orientieren. Politikerinnen oder Politikern wird bisweilen „Charisma“ oder „fehlendes Charisma“ bescheinigt, und wer etwa von „Klassenjustiz“ spricht, kann sich dem Vorwurf aussetzen, das politische Klima mit „Klassekampfparolen zu vergiften“. Hier wird deutlich (darauf geht Giddens allerdings nicht ein), dass die „doppelte Hermeneutik“ nicht immer fruchtbar ist, weil sie zur Ideologisie rung oder Trivialisierung wissenschaftlicher Begriffe führen kann. „Charisma“ kann bisweilen bedeuten, dass jemand einen Politiker unterhaltsam oder bei fehlendem Charisma langweilig findet, und dies hat u.U. nichts mit dem historisch bahnbrechenden Denken und Handeln zu tun, das Max Weber meinte. 19 Trivialisierungen dieser Art ist auch die Psychoanalyse ausgesetzt, wenn jemand beispielsweise bemerkt: „das habe ich völlig verdrängt“ - und ebenso gut sagen könnte: „das habe ich ganz vergessen“. Mit „Verdrängung“ im Sinne von Freud hat dies nichts mehr zu tun. Tatsache ist jedoch, dass Freud diese Metapher der Alltagssprache entnahm, so dass die „doppelte Hermeneutik“ auch auf die Psychoanalyse anwendbar ist. Giddens setzt sich nicht primär mit der Ideologisierung der Sozialwissenschaften im Alltag auseinander, sondern versucht, die von Alfred Schütz und der Ethnomethodologie Garfinkels 20 aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis des wissenschaftlichen Diskurses zu seinen Objekten als (Ko-) Subjekten in einem neuen Kontext zu beantworten. Insgesamt werden die 18 Ibid., S. 195-196. 19 Zum Charisma-Begriff bei M. Weber vgl. A. Giddens, Politics and Sociology in the Thought of Max Weber, Cambridge, Polity, 2013, S. 44-53. 20 Vgl. A. Giddens, Politics, Sociology and Social Theory. Encounters with Classical and Con temporary Social Thought, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1995, 2004, Kap. VIII sowie H. Garfinkel, Seeing Sociologically. The Routine Grounds of Social Action, Boulder- London, Paradigm Publishers, 2006, S. 107-117: „Actor“. <?page no="797"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 781 hier im ersten und zwölften Kapitel vorgebrachten Einwände gegen Max Webers Wertfreiheitspostulat bestätigt: Es ist nicht ohne weiteres möglich, in der Soziologie Neutralität zu wahren, wenn es um die Definition und Erklärung sozialen Verhaltens und Handelns geht. In aller Knappheit kann dieses Problem als Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis der Akteure und dem Fremdverständnis der sie beobachtenden Instanzen aufgefasst werden. 21 Giddens selbst stellt diese Diskrepanz wie folgt dar: „In jeder Forschungssituation kann es von den Beteiligten akzeptierte Überzeugungen geben, die so quer liegen zu den Überzeugungen des Beobachters, daß der Beobachter eine kritische Distanz ihnen gegenüber ausdrückt (…).“ 22 Er bringt auch ein Beispiel: „Was aus der einen Perspektive eine ‚Befreiungsbewegung‘ ist, kann aus der anderen eine ‚terroristische Organisation‘ sein.“ 23 Nun könnten Befürworter der Wertfreiheit einwenden, dass es doch möglich sein müsse, beide Perspektiven darzustellen, ohne sie zu bewerten. Die Antwort auf diesen Einwand lautet: dass der Diskurs und sein Aktantenmodell letztlich darüber entscheiden, wo das Gute und wo das Böse ist. Es ist zwar durchaus möglich und auch sinnvoll, das Selbstverständnis der Faschisten und der Nationalsozialisten zu rekonstruieren (schließlich will man wissen, worum es geht oder ging und verfährt tatsächlich verstehend-erklärend im Sinne von Weber); aber man kann es nicht bei dieser Rekonstruktion des Selbstverständnisses bewenden lassen, ohne zum Komplizen dieser Gruppierungen zu werden. Es kommt hinzu - und das ist aus theoretischer Sicht wichtiger -, dass der Diskurs von Giddensʼ kritischer Soziologie ähnlich wie die Diskurse der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus als Erzählungen der gesellschaftlichen Entwicklung eine solche Neutralität nicht zulässt: Seine Strukturen (narrative Sequenzen, kausale Erklärungen, Vergleiche) drücken letztlich eine Gesamtbewertung als Erklärung aus. Auf dieser Ebene drängt sich ein Vergleich mit Bourdieus Wissenschaftssoziologie auf. Bourdieu zeigt, wie sehr der wissenschaftliche Diskurs in die sozio-linguistischen Auseinandersetzungen des Alltags involviert ist und hebt die Bedeutung der Klassifizierung für diese Auseinandersetzungen hervor. Es stellt sich heraus, dass der Diskurs „wieder Teil der Realität der Klassifizierungskämpfe“ 24 wird. Sein Fazit lautet: „Also 21 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.). 22 A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, op. cit., S. 394. 23 Ibid. 24 P. Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, S. 100. <?page no="798"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 782 kann er nur kritisch distanziert oder komplizenhaft scheinen, je nach dem kritischen oder komplizenhaften Verhältnis, das der Leser selber zu der beschriebenen Realität hat.“ 25 Giddensʼ Auffassung des sozialwissenschaftlichen Diskurses stimmt insofern mit der Bourdieus überein, als auch Giddens im Rahmen seiner „doppelten Hermeneutik“ an der These festhält, dass es eine nichtengagierte, wertfreie Sozialwissenschaft nicht geben kann, weil kein Diskurs um eine kritische Stellungnahme zur gesellschaftlichen Situation herumkommt. Insofern kann man Christopher G. A. Bryant nur zustimmen, wenn er seine Gesamteinschätzung von Giddensʼ Theoriebegriff in der folgenden Feststellung gipfeln lässt: „Es kommt hinzu, dass Sozialwissenschaft nur politisch sein kann in einer Situation, in der die Beschreibungen von Handlungen von den Akteuren selbst beanstandet werden. Wenn sich ein Sozialwissenschaftler für eine bestimmte Terminologie entscheidet, so bedeutet dies, dass er andere Terminologien ablehnt - eine Vorgehensweise, die zugleich kritisch und politisch ist.“ 26 Indem Giddens seine „doppelte Hermeneutik“ auf alle sozialen Bereiche ausdehnt und keine Ausnahmen gelten lässt, weicht er wesentlich von Jürgen Habermasʼ Auffassung der Hermeneutik ab, die den Arbeitsbereich der instrumentellen Vernunft zurechnet und gegen den kommunikativen Bereich der hermeneutischen Verständigung abgrenzt. Wir haben es hier mit zwei Varianten der kritischen Gesellschaftstheorie zu tun, die es sich in diesem einen kontroversen Punkt zu vergleichen lohnt, zumal der Vergleich Giddensʼ (hier konstruierte) Antwort auf Bourdieu antizipiert, die auf die Rolle von „Macht“ und „Agency“ ausgerichtet ist. Richard Kilminster mag durchaus Recht behalten, wenn er zu dem Schluss kommt, dass Giddensʼ Kritik an Habermas 27 lediglich Kritiken rekapituliert, die im Laufe der Jahre an die Adresse des deutschen Philosophen gerichtet wurden. 28 Hier wird Giddensʼ Kritik nicht wegen ihrer Originalität wiedergegeben, sondern weil sie zu einem besseren Verständnis seines Werks beiträgt. Das erste kritische Argument betrifft Habermasʼ Unterscheidung von Arbeit und Interaktion im Sinne eines „kommunikativen Handelns“. Habermas wirft Marx vor, in seiner Auffassung der gesellschaftlichen Ent- 25 Ibid. 26 Ch. G. A. Bryant, „The Dialogical Model of Applied Sociology“, in: Ch. G. A. Bryant, D. Jary, Giddensʼ Theory of Structuration. A Critical Appreciation, London-New York, Routledge, 1991, S. 190. 27 Zu Giddensʼ Kritik an Habermas vgl. auch: „Habermasʼ Critique of Hermeneutics“, in: A. Giddens, Studies in Social and Political Theory, London, Hutchinson (1977), 1980, S. 156-164. 28 Vgl. R. Kilminster, „Structuration Theory as a World-View“, in: Ch. G. A. Bryant, D. Jary (Hrsg.), Giddensʼ Theory of Structuration, op. cit., S. 93. <?page no="799"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 783 wicklung die Rolle der Arbeit zu privilegieren und dabei die Bedeutung des „kommunikativen Handelns“ (etwa des „Rollenhandelns“) zu vernachlässigen: „(…) Die Strukturen des Rollenhandelns bezeichnen gegenüber den Strukturen der gesellschaftlichen Arbeit eine neue Entwicklungsstufe; die Regeln des kommunikativen Handelns, also intersubjektiv geltende und rituell abgesicherte Handlungsnormen lassen sich nicht auf Regeln des instrumentellen oder strategischen Handelns zurückführen.“ 29 Giddens lässt diese Trennung von Arbeit als instrumenteller Tätigkeit und verständigungsorientiertem, kommunikativem Handeln nicht gelten: „[Arbeit] ist nie (außer vielleicht im Zustand der Entfremdung) nur von instrumenteller Vernunft erfüllt, und Interaktion ist auch nicht bloß auf gegenseitiges Verstehen und ‚Konsensus‘ ausgerichtet, sondern auch auf die Realisierung von Zielen, die sich nicht selten gegenseitig ausschließen.“ 30 Dies bedeutet, dass Arbeit Kommunikation voraussetzt (z. B. in der Feldarbeit oder im Teamwork) und dass kommunikatives Handeln nicht frei ist von instrumentellen Erwägungen. Davon zeugen etwa Familiensituationen, in denen sich die Frau überlegt, mit welchen Strategien sie ihren Mann dazu bringen könnte, sich mehr in der Hausarbeit zu engagieren, ebenso wie Projektanträge, in denen die schwache Homogenität des Projekts durch die Überbetonung der gemeinsamen Interessen aller Beteiligten und der „Synergieeffekte“ der (in Wirklichkeit nur sporadischen) Kooperation kaschiert wird. Nicht zufällig erwähnt Giddens auch den Konsensgedanken („consensus“), den seiner Meinung nach Habermas von Parsons übernimmt. „(…) Habermas scheint bereit zu sein, wesentliche Elemente von Parsonsʼ Soziologie an Bord zu holen“ 31 , heißt es etwa in Politics, Sociology and Social Theory (1995). Giddens denkt hier vor allem an die Dominanz von Werten und Normen in Parsonsʼ Soziologie, die den Konsens als Grundlage des Funktionalismus begründet. Er spricht von Habermasʼ „Tendenz, Interaktion auf Kommunikation und Normen zu reduzieren“. 32 Im Gegensatz zu Habermas unterstreicht er die Bedeutung von „Macht und Kampf“ („power and struggle“) 33 in sozialer Interaktion und Kommunikation. Um seiner Argumentation Nachdruck zu verleihen, weist er darauf hin, dass die psychoanalytische Praxis, die Habermas als Modell des verständigungsorientierten Handelns präsentiert 34 , außer Verständigung 29 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 152. 30 A. Giddens, Interpretative Soziologie, op. cit., S. 82. 31 A. Giddens, Politics, Sociology and Social Theory, op. cit., S. 257. 32 Ibid. 33 Ibid. 34 Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt, Suhrkamp (1968), 1973, Kap. III. 10: „Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds psychoanalytische Sinnkritik“. <?page no="800"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 784 (kommunikativem Handeln) durchaus auch Machtspiele involviert, „da die Beziehung zwischen dem Analytiker und dem Patienten immer noch ein beachtlich schiefes oder gar autoritäres Verhältnis ist (…)“. 35 Konsequent beanstandet er auch das Fehlen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Machtfaktoren und Strategien in Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns. 36 Mit Habermas verbindet Giddens jedoch der Gedanke, dass soziale Bewegungen und Bürgerinitiativen die schlimmsten Exzesse des neoliberalen Kapitalismus eindämmen könnten: „(…) Er [Habermas] neigt dazu, die neuen sozialen Bewegungen als primär defensive Aktionen zu betrachten, die auf die Verteidigung der Lebenswelt gegen weiter gehende Kolonisierung aus sind.“ 37 Im vierten Abschnitt wird sich zeigen, dass auch Giddens - wie Touraine und Bourdieu - seine Hoffnungen teilweise auf die Demokratisierung und Ökologisierung des Kapitalismus durch diese sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen setzt. Seine Kritik an Habermas führt unmittelbar ins Zentrum seiner Theorie der sozialen Strukturierung, die versucht, ein in Funktionalismus und Strukturalismus gestörtes Gleichgewicht zwischen Handlung (Agency) und Struktur wiederherzustellen. Dabei spielt der Machtfaktor (power), den Giddens in den konsensorientierten Soziologien von Parsons und Habermas vermisst, eine entscheidende Rolle. Es soll deutlich werden, dass dessen Hervorhebung auch die Differenz von Bourdieu markiert. 2. Theorie der Strukturierung. Struktur und „Agency“ in Raum und Zeit: Giddens ʼ Antwort auf Bourdieus Habitus-Konzept Die Kernthese, die im Mittelpunkt von Giddensʼ Theorie der Strukturierung steht, lautet: dass Parsonsʼ Funktionalismus sowie der linguistische (Saussure) und anthropologische (Lévi-Strauss) Strukturalismus die Struktur mit ihren Normen und Regeln in den Vordergrund stellen, so dass Handlungsspielraum und Handlungsfähigkeit der Akteure (Subjekte) aus dem Blickfeld verschwinden. Giddens nimmt sich vor, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren und das Verhältnis von Handlung und Struktur neu zu bestimmen - und zwar zugunsten der handelnden Akteure. Das Ergebnis dieser Neubestimmung bezeichnet er als Dualität von Struktur (duality of structure): „(…) Es geht da- 35 A. Giddens, Interpretative Soziologie, op. cit., S. 69. 36 Vgl. A. Giddens, In Defence of Sociology. Essays, Interpretations and Rejoinders, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1996, S. 191-197. 37 Ibid., S. 190. <?page no="801"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 785 rum, die Bewußtheit der Akteure mit den strukturellen Momenten sozialer Systeme zu vermitteln.“ 38 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Bourdieu, der, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, ebenfalls versucht, kritisch zwischen Strukturalismus und Voluntarismus als subjektiver Freiheit zu vermitteln, fehlt bei Giddens. 39 Daher soll am Ende dieses Abschnitts seine „Antwort auf Bourdieu“ im Anschluss an seine „Theory of Structuration“ rekonstruiert werden. In einem ersten Schritt wird diese Theorie jedoch als Neubestimmung des Verhältnisses von Akteur (Handlung) und Struktur näher betrachtet. Von Talcott Parsons distanziert sich Giddens, wie sich im vorigen Abschnitt gezeigt hat, durch seine Kritik an der konsensuellen Ausrichtung des Funktionalismus und an dem ihr innewohnenden Gedanken, dass das Handeln von Akteuren vorwiegend durch internalisierte Werte und Normen bestimmt wird. Wie in seiner Kritik an Habermas geht er in seiner Kritik an Parsonsʼ Funktionalismus vom Machtbegriff aus, den Parsons aus Giddensʼ Sicht als reinen Kommunikationsbegriff neutralisiert. Gegen diese Neutralisierung des Machtfaktors im Rahmen einer Konsenstheorie wendet Giddens ein, dass sich eine solche Theorie über den Nexus von Macht und Herrschaft hinwegsetzt: „Aber was der Parsonsschen Analyse völlig entgeht, ist die Tatsache, dass Macht, auch im Sinne von Parsons, stets über jemanden ausgeübt wird! “ 40 Sie ist daher ein Aspekt der Herrschaft. Wo Macht ausgeübt wird, regt sich Gegenmacht, weil zwei konträre Willensäußerungen kollidieren. Dabei geht es nicht nur um Machtansprüche, sondern auch um Kreativität: um Versuche, der sozialen Entwicklung eine bestimmte Wende zu geben und die Wirklichkeit zu verändern: „Macht in diesem allgemeinen Sinne meint die Umgestaltungsfähigkeit (transformative capacity) menschlichen Handelns: die Fähigkeit menschlicher Wesen, in einen Ereignisablauf einzugreifen, um ihn zu verändern.“ 41 Ergänzend heißt es in einem anderen Zusammenhang: „‚Subjekte‘ sind an allererster Stelle Handelnde.“ („‚Subjects‘ are first and foremost agents.“) 42 Einem Handeln, das sich - wie bei Parsons - nach verinnerlichten Werten und Normen richtet, geht diese Art von sich selbst ermächtigender Kreativität oder Agency ab. (Vermutlich würde sich Parsons diese Kritik nicht gefallen lassen und auf die „voluntaristischen“ Aspekte seiner 38 A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, op. cit., S. 81. 39 Vgl. ibid., S. 186, wo Giddens lediglich auf den Zeitfaktor in Bourdieus Arbeiten über die Kabylei (Algerien) eingeht. 40 A. Giddens, Politics, Sociology and Social Theory, op. cit., S. 207. 41 Ibid., S. 214. 42 A. Giddens, Social Theory and Modern Sociology, Cambridge, Polity (1987), 2007, S. 98. <?page no="802"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 786 Handlungstheorie hinweisen. Aber eine Rekonstruktion seiner Replik würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen [vgl. Kap. XIV].) Analog zu seiner Kritik an Parsonsʼ Funktionalismus, der die systemische und strukturelle Bedingtheit des Handelns hervorhebt, wendet Giddens gegen Saussures und Lévi-Straussʼ Strukturalismus ein, dass er sich allzu sehr vom Primat der Struktur leiten lässt. Wie - lange vor ihm - Michail Bachtin und Valentin Vološinov 43 erinnert er daran, dass Saussure die Sprache als synchrones System betrachtet und die diachrone Perspektive, in der Sprache als historischer Prozess erscheint, der von menschlichen Sprachhandlungen und ihrer Umgestaltungsfähigkeit in Gang gehalten wird, vernachlässigt. Saussure wirft er vor, dass er die raumzeitliche Bewegung der Sprache aus dem Blick verliert: „Die langue existiert nicht in einem raum-zeitlichen Zusammenhang (…).“ 44 Wie bei Parsons steht aus Giddensʼ Sicht auch bei Saussure und Lévi-Strauss die systemisch-strukturelle Regel im Vordergrund, und die Kreativität handelnder Akteure tritt hinter ihr zurück. Saussures parole wird als individuelle Anwendung der im Sprachsystem (langue) festgelegten Regeln aufgefasst. Im Anschluss an ein Lévi-Strauss-Zitat, das die Dominanz des Kollektivs und der Struktur in der Strukturalen Anthropologie illustriert, fasst Giddens in Central Problems of Social Theory seinen kritischen Befund zusammen: „Ist eine noch deutlichere Wiederholung von Saussures Unterscheidung von langue und parole in einem gesellschaftlichen Kontext vorstellbar? “ - fragt er und fügt hinzu: „Die Aktivität menschlicher Subjekte ist ‚individuell‘ und ‚kontingent‘ im Vergleich zum überindividuellen Charakter des Kollektivs, der im Mythos zum Ausdruck kommt. Die logische Kluft, die das ‚Individuelle‘ vom ‚Sozialen‘ trennt, ist so groß wie schon bei Durkheim und Saussure.“ 45 (Es sei in diesem Kontext daran erinnert, dass bei Saussure der Begriff der kollektiven Gewohnheit [habitude collective] 46 , die das sprachliche Regelsystem trägt, von Durkheim stammt.) Nach diesen Kritiken an Funktionalismus und Strukturalismus drängt sich die Frage nach Giddensʼ Alternative auf. Sie fasst Giddens - wie bereits angedeutet - mit dem Ausdruck duality of structure zusammen. Was bedeutet dieser Ausdruck genau? Zunächst ist duality von dualism zu unterscheiden. Während das Wort „Dualismus“ bedeutet, dass Struktur und Handlung auseinanderfallen, meint „Dualität“ genau das Gegenteil: eine 43 Vgl. V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S. 126. 44 A. Giddens, Social Theory and Modern Sociology, op. cit., S. 95. 45 A. Giddens, Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, Basingstoke-London, Macmillan, 1979, S. 24. 46 Vgl. F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 100. <?page no="803"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 787 Wechselbeziehung von Struktur und Handlung, in der die Struktur den Handelnden nicht nur Beschränkungen auferlegt, sondern ihnen auch Möglichkeiten und Ressourcen bietet: sie zu etwas befähigt und ihre Agency als Handlungsfähigkeit stärkt. In einem seiner Aufsätze spricht Giddens von der „centrality of agency“. 47 Wird die Struktur auf Seiten des Objekts angesiedelt und die Handlung auf Seiten des Subjekts, so erscheint der Gegensatz von „Dualismus“ und „Dualität“ als Ergänzung der in der Philosophie gängigen Subjekt-Objekt- Unterscheidung. Dabei wird diese Unterscheidung von Giddens nicht als Gegensatz, sondern als Wechselbeziehung aufgefasst: „Der Subjekt-Objekt- Dualismus kann nur dann auf befriedigende Art beseitigt werden, wenn wir einsehen, dass dies nicht ein Gegensatz, sondern eine Dualität (duality) ist.“ 48 Diese „Dualität der Struktur“ kann als Wechselbeziehung gedacht werden, wenn erkannt wird, dass Strukturen außer Normen und Regeln auch Ressourcen bereitstellen: „Aber die strukturellen Eigenschaften von Institutionen bestehen nicht nur darin, dass sie Einschränkungen auferlegen, sondern auch darin, dass sie zum Handeln befähigen (…).“ 49 Komplementär dazu heißt es in Jörn Lamlas Studie über Giddens, „Handeln und Struktur“ seien als Dualität aufzufassen, „also als zwei Seiten einer Medaille, die in jeder sozialen Praxis zusammenwirken“. 50 In Übereinstimmung mit Giddens betont Lamla „die Kreativität des handelnden Individuums“ 51 im Konzept der „Dualität von Struktur“. Giddens selbst führt als Beispiel die Sprache an, die einerseits die Optionen der sprechenden Subjekte mit ihren Regeln einschränkt, andererseits dem Individuum gestattet, seine „kognitiven und praktischen Fähigkeiten“ 52 zu erweitern. Dabei wird Sprache als historisches System durch die individuelle parole (Saussure) ständig verändert: Man denke an die feministische Sprachkritik, die auf eine Änderung der Strukturregeln zielt. Im Zusammenhang mit den „strukturellen Eigenschaften“ erwähnt Giddens auch die Institution. Sie könnte als der zeitliche und räumliche Aspekt des strukturierten Handelns definiert werden, weil sie die Kontinuität und Homogenität des Handelns gewährleistet. Dieses Handeln muss institutionalisiert sein, um Wiederholbarkeit (Rekursivität) von Handlungen über längere Zeiträume zu ermöglichen. Giddens erklärt: „Die Theorie der 47 A. Giddens, „A Reply to my Critics“, in: D. Held, J. B. Thompson, Social Theory in Modern Societies. Anthony Giddens and his Critics, Cambridge, Univ. Press, 1989, S. 258. 48 A. Giddens, Central Problems in Social Theory, op. cit., S. 47. 49 A. Giddens, Politics, Sociology and Social Theory, op. cit., S. 196. 50 J. Lamla, Anthony Giddens, Frankfurt-New York, Campus, 2003, S. 17. 51 Ibid., S. 43. 52 A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, op. cit., S. 224. <?page no="804"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 788 Strukturierung betrachtet ‚Struktur‘ als Regeln und Ressourcen, die an der sozialen Reproduktion rekursiv mitwirken; institutionalisierte Aspekte sozialer Systeme besitzen Strukturmomente in dem Sinne, daß Beziehungen über Zeit und Raum hinweg stabilisiert werden.“ 53 Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts mag das Universitätsseminar dienen. Es ist eine zeitlich und räumlich definierte und im Rahmen der Institution „Universität“ institutionalisierte Struktur, die ihre Existenz den im Vorlesungsverzeichnis angekündigten Zeiten und Räumen verdankt. Trotz der Institutionalisierung durch Normen und Regeln bietet das Seminar den Beteiligten auch Möglichkeiten, es auf verschiedene Arten zu gestalten oder umzugestalten. Sie können beispielsweise entscheiden, Tische und Stühle so anzuordnen, dass sie eine Runde bilden, in der Lernende und Lehrende nicht im Rahmen eines hierarchischen Gegeneinander diskutieren, sondern in einem kreisförmigen Miteinander Formen der Dialogizität erproben können. Sie können sich beispielsweise vornehmen, den von Habermas im Zusammenhang mit der „idealen Sprachsituation“ vorgeschlagenen „Rollentausch“ auf seine Tragfähigkeit als Diskussionsgrundlage zu überprüfen und zugleich der Frage nachzugehen, ob in dieser Kommunikationssituation der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) von allen Anwesenden erkannt und anerkannt wird. Giddensʼ Gedanke, dass institutionalisierte Strukturen nicht nur Zwang ausüben, sondern auch Möglichkeiten bieten und Kreativität ermöglichen („enabling“ sind), ist daher durchaus nachvollziehbar. Das hier beschriebene dialogische Experiment wird von der Institution durch Bereitstellung von Ressourcen erleichtert. Hier gilt, was Wolfgang Bonß u.a. zu Giddensʼ Handlungstheorie bemerken: „Giddens geht vielmehr davon aus, dass Ordnung oder Geordnetheit praktisch und immer wieder aufs Neue hervorgebracht wird.“ 54 Plausibel erscheint auch Giddensʼ Gedanke, dass die Begriffe Struktur und Institution einander ergänzen, weil Institutionen (Universitäten, Akademien, Banken) räumliche und zeitliche Kohärenz des Handelns ermöglichen und dadurch zur Stabilisierung von Strukturen beitragen: „(…) Institutions may be regarded as practices which are deeply sedimented in timespace.“ 55 Sie ermöglichen soziale Routinen des Handelns. Dazu bemerkt Derek Gregory: „Giddens betrachtet daher Zeit-Raum-Routinen als die materielle Grundlage der Rekursivität sozialen Lebens (…).“ 56 Es ist sicherlich 53 Ibid., S. 45. 54 W. Bonß et al., Handlungstheorie. Eine Einführung, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 234. 55 A. Giddens, Central Problems in Social Theory, op. cit., S. 80. 56 D. Gregory, „Presences and absences: time-space relations and structuration theory“, in: D. Held, J. B. Thompson, Social Theory of Modern Societies, op. cit., S. 197. <?page no="805"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 789 Giddensʼ Verdienst, die Faktoren Raum und Zeit in den Mittelpunkt soziologischer Diskussionen gerückt zu haben. Mit Hilfe dieser Faktoren unterscheidet Giddens zwei Formen der Integration: soziale Integration und Systemintegration. Während erstere faceto-face relations oder die Kopräsenz der Akteure meint, bezieht sich die zweite auf räumlich und zeitlich versetzte Beziehungen, die nicht auf die Anwesenheit der Akteure angewiesen sind, weil ihre institutionalisierten Kommunikationsformen (Post, Telefon, Internet) Kontinuität und Permanenz gewährleisten. Giddensʼ eigene Unterscheidung soll im Original wiedergegeben werden, weil sie nicht ganz unproblematisch ist: „We can define social integration as concerned with systemness on the level of face-to-face interaction; system integration as concerned with systemness on the level of relations between social systems or collectivities.“ 57 Zunächst fällt auf, dass im zweiten Teil dieser Doppeldefinition der zu definierende Terminus („system integration“) in abgewandelter Form wieder in der Definition selbst vorkommt („systemness“, „systems“). Es kommt hinzu, dass Begriffe wie „system“ und „systemness“ nicht näher bestimmt werden: Was genau macht ein „System“ aus? Diese Begriffe kommen nicht einmal in dem von Giddens gemeinsam mit Philip W. Sutton verfassten Nachschlagewerk Essential Concepts in Sociology (2017) vor. Sind sie nicht essentiell? Man könnte die Begriffe „Sozialintegration“ und „Systemintegration“ im Zusammenhang mit Tönniesʼ „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ näher bestimmen. Während soziale Integration gemeinschaftliche Beziehungen zwischen regelmäßig Anwesenden meint, bezieht sich Systemintegration auf Beziehungen und Netzwerke, deren Akteure einander möglicherweise gar nicht kennen und trotz ihrer permanenten oder temporären Abwesenheit interagieren (etwa über e-mail). Nicht zufällig verweist Giddens in diesem Zusammenhang auf den - schon von Tönnies untersuchten - Unterschied zwischen Dorfgemeinschaft und der geldwirtschaftlich organisierten Stadtkultur. 58 Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die raum-zeitlichen Komponenten dieser Begriffsbildung: Während soziale Integration durch räumliche und zeitliche Nähe geprägt ist, funktioniert (moderne) Systemintegration in und trotz raum-zeitlicher Dislozierung. 59 Beide Integrationsarten verdanken jedoch ihre Entwicklung und Dynamik der Agency, der Hand- 57 A. Giddens, Central Problems in Social Theory, op. cit., S. 76-77. 58 Vgl. A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, op. cit., S. 196-197. 59 Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang Danilo Martuccelli von der „Trennung und Neukombinierung von Raum und Zeit“ bei Giddens. Vgl. D. Martuccelli, „Anthony Giddens, la condition moderne comme distanciation espace-temps“, in: ders., Sociologies de la modernité. L’itinéraire du XX e siècle, Paris, Gallimard, 1999, S. 517. <?page no="806"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 790 lungsfähigkeit (Kreativität) von Individuen und Gruppen, die in Luhmanns Systemtheorie übergangen wird und in Bourdieus Theorie des Habitus möglicherweise zu kurz kommt. Es lohnt sich, diese Theorie, die im vorigen Kapitel kommentiert wurde, zum Abschluss mit Giddensʼ Konzept der Agency zu konfrontieren. Der Unterschied zwischen Giddensʼ und Bourdieus Handlungstheorien wird von Giddens und Sutton in dem schon erwähnten Nachschlagewerk Essential Concepts in Sociology wie folgt zusammengefasst: „In neueren Theoriearbeiten kann man nachlesen, dass Giddens eher von einer Agency- Perspektive ausgeht (agency perspective), während Bourdieus Theorie mehr einen strukturalen Standpunkt einnimmt.“ 60 Es fragt sich, ob diese Einschätzung wirklich zutrifft und wie Bourdieu, der ebenfalls versucht, Handlung und Struktur aufeinander zu beziehen, auf sie reagieren würde. Bourdieu, der seinen Ansatz als „genetischen Strukturalismus“ bezeichnet, könnte schwerlich behaupten, dass der Strukturbegriff in seinem Werk sekundär ist - oder den Begriffen Individuum, Subjekt und Handlung untergeordnet. (Es ist merkwürdig, dass sowohl Bourdieu als auch Giddens das Wort „Subjekt“ bisweilen in Anführungszeichen setzen, gegen den Subjektbegriff polemisieren, ihn dann aber regelmäßig verwenden.) 61 Gegen die von Giddens und Sutton vorgebrachte Einschätzung könnte Bourdieu jedoch einwenden, dass auch er einen Begriff eingeführt hat, in dem sich die Subjektivität der Akteure artikuliert und der mit Giddensʼ Agency-Begriff vergleichbar ist: den Strategie-Begriff. Von ihm heißt es in einem langen Interview, das unter dem Titel Rede und Antwort in Buchform erschien: „Dieser Begriff ist ein Instrument, das den Bruch mit dem objektivistischen Standpunkt und der Auffassung eines akteurlosen Handelns, wie es der Strukturalismus (unter Rückgriff auf den Begriff des Unbewußten) voraussetzt, ermöglicht.“ 62 Agency oder Strategie? Diese Frage ist möglicherweise nicht zielführend, weil die beiden Schlüsselbegriffe vieldeutig, interpretierbar sind und ihre Gegenüberstellung in eine unabschließbare Diskussion münden könnte. Sinnvoller scheint die Frage zu sein, in welchen Diskursen sie verwendet werden, weil der Diskurs als semantisch-narrative Struktur letztlich über den Stellenwert aller seiner Begriffe entscheidet. Dabei spielt die komplementäre Frage nach der im Diskurs konstruierten begrifflichen Hierarchie eine entscheidende Rolle. 60 A. Giddens, P. W. Sutton, Essential Concepts in Sociology, Cambridge, Polity, 2017, S. 25. 61 Vgl. A. Giddens, Social Theory and Modern Sociology, op. cit., S. 98 sowie P. Bourdieu, Sociologie générale, Bd. I. Cours au Collège de France 1981-1983 (Hrsg. P. Champagne, J. Duval), Paris, Seuil-Raisons d’agir, 2015, S. 288. 62 P. Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 83. <?page no="807"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 791 Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass der Habitus-Begriff, dem der Strategie-Begriff untergeordnet ist, einerseits einen determinierenden, andererseits einen „ermöglichenden“, produktiven Aspekt hat. Auf die Frage, warum er nicht das Wort „Gewohnheit“ („habitude“) statt „Habitus“ verwendet, antwortet Bourdieu: „Ich wollte aber den Gedanken betonen, daß der Habitus eine sehr stark produktive Größe ist.“ 63 (Vgl. Kap. XVIII. 4.) Diese Betonung des aktiven Aspekts, klingt zwar nach „Agency“, wird jedoch durch Bourdieus Bemerkungen zur „Übereinstimmung von Habitus und Feld“ 64 relativiert. Habitus in diesem Sinne bedeutet demnach, dass die Akteure, die in einem Feld agieren, dessen Normen und Werte „verinnerlicht“ haben, wie Parsons es ausdrücken würde. Hier könnte Giddens Dissens anmelden und kritisch anmerken, dass Bourdieu - wie Parsons und die Strukturalisten - die Subjektivität der Akteure (ihre Agency) ihrer Integration in die Normenwelt des Feldes opfert. Er könnte hinzufügen, dass Bourdieu „Macht“ vorwiegend als kollektive Macht auffasst, die in Feldern zustande kommt, und nicht als das Vermögen von Individuen, Felder zu verändern. Diesen Einwand müsste Bourdieu jedoch nicht gelten lassen, weil er immer wieder zu zeigen versucht, wie einzelne Schriftsteller (etwa Flaubert) danach streben, die Machtverhältnisse im literarischen Feld zu verändern. 65 Tatsächlich lässt jedoch Bourdieus Aktantenmodell, das seinem Diskurs zugrunde liegt, eine Vormachtstellung des Feldes erkennen, das in letzter Instanz über das Verhalten individueller Akteure entscheidet. Davon zeugt der folgende Satz aus Sociologie générale: „Die Felder sind die wirklichen Subjekte (…).“ 66 Dieser Satz könnte dahingehend gedeutet werden, dass scheinbar - auf den ersten Blick - Individuen handeln, letztlich aber das Feld als kollektiver Aktant die entscheidende Instanz ist. Die aktantielle Anordnung von Bourdieus Diskurs legt somit die Vermutung nahe, dass der individuelle Akteur dem kollektiven Aktanten Feld untergeordnet wird und dass die von ihm entwickelten Strategien als „Feldstrategien“ letztlich Feldimperative sind. Daher ist der eingangs bei Giddens und Sutton zitierten Einschätzung der Differenz zwischen Giddens und Bourdieu grundsätzlich zuzustimmen. 63 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (5. Aufl.), S. 128. 64 P. Bourdieu, Sociologie générale., Bd. I, op. cit., S. 215. 65 Vgl. P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (7. Aufl.), S. 422-427. 66 P. Bourdieu, Sociologie générale. Cours au Collège de France 1983-1986, Bd. II (Hrsg. P. Champagne, J. Duval), Paris, Seuil-Raisons d’agir, 2016, S. 178. <?page no="808"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 792 3 Späte Moderne („late modernity“) als Enttraditionalisierung und Individualisierung: „disembedding“ Die Beantwortung der Frage nach den Spielräumen individuellen Handelns, die von Marx bis Durkheim und Luhmann eher am Rande der Theorien (wenn überhaupt) aufgeworfen wird, hängt - wie alle soziologischen Antworten - von den Beobachtungen des Theoretikers Giddens ab. (Im vierten Teil dieses Buches wird sich zeigen, dass postmoderne Soziologen anders beobachten und die soziale Entwicklung daher anders erzählen.) Aus Giddensʼ Beobachtungen gehen bestimmte Relevanzkriterien hervor, die bewirken, dass für die Entwicklung der zeitgenössischen Gesellschaft nicht primär kollektive Aktanten wie „Klassen“, „Systeme“ oder „Felder“, sondern Individuen verantwortlich gemacht werden. Der Einzelne tritt in seinem Diskurs immer wieder als Fokalisator auf, aus dessen Sicht die soziale Entwicklung betrachtet und beurteilt wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Giddens als Erbe eines für Großbritannien charakteristischen liberalen Individualismus 67 von Bourdieu, der eher der Gedankenwelt der Durkheim-Schule und ihrem Begriff des Kollektivbewusstseins verpflichtet ist. Insofern ordnen Johnson, Dandeker und Ashworth Giddens zu Recht der „subjectivist tradition“ 68 zu, die aus einer Variante des Individualismus hervorging. Was Matthias Junge in seinem Buch über Individualisierung zu Ulrich Beck bemerkt, gilt uneingeschränkt auch für Giddens: „Aber in den Mittelpunkt des Interesses rückt der gewachsene Möglichkeitsspielraum des Individuums und damit seine Chance zur Beeinflussung und Mitgestaltung von Vergesellschaftungsprozessen.“ 69 Dies ist der unmittelbare Kontext, den Giddens anhand seiner Beobachtungen konstruiert (erzählt) und in dem er die Frage nach den Spielräumen individuellen Handelns und nach der Bedeutung von Agency als Handlungsfähigkeit aufwirft. Den erweiterten Kontext bildet Giddensʼ Theorie des disembedding (wörtlich: „Entbettung“) als Traditionsauflösung, die den unmittelbaren Kontext als Hinwendung zum Individuum einrahmt und erklärt. Die Auflösung von Traditionen setzt Individuen und Gruppen frei und verurteilt sie zu selbständigen Entscheidungen, die ihre Religiosität, ihre politische Orientierung oder ihre private Lebensform betreffen. Disembedding als Auflösung des Traditionszusammenhangs wird von Giddens in aller Knappheit in Modernity and Self-identity (1991) mit Hilfe 67 Vgl. S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880-1914, Cambridge, Univ. Press (1979), 1983. 68 T. Johnson, Ch. Dandeker, C. Ashworth, The Structure of Social Theory. Dilemmas and Strategies, Basingstoke-London (1984), 1987, S. 205. 69 M. Junge, Individualisierung, Frankfurt-New York, Campus, 2002, S. 39. <?page no="809"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 793 von Metaphern definiert. Um semantische Abweichungen auszuschließen, die in Übersetzungen kaum zu vermeiden sind, wird das Original wiedergegeben: „(…) The ‚lifting out‘ of social relations from local contexts and their rearticulation across indefinite tracts of time-space. This ‚lifting out‘ is exactly what I mean by disembedding, which is the key to the tremendous acceleration in time-space distanciation which modernity introduces.“ 70 Komplementär dazu verhält sich eine Erläuterung dieses Sachverhalts in Giddensʼ In Defence of Sociology (1996), wo Globalisierung als traditionsauflösender Faktor erscheint (von ihr wird im nächsten Abschnitt ausführlicher die Rede sein). Abermals wird der Raum-Zeit-Aspekt ins Zentrum der Problematik gerückt: „Tradition ist Zeitorganisation und daher auch Raumorganisation; dies gilt auch für die Globalisierung, bis auf die Tatsache, dass die eine der anderen zuwiderläuft.“ 71 Wie der Gegensatz von sozialer und Systemintegration erinnert Giddensʼ Erzählung der „zerfallenden Tradition“ an Ferdinand Tönniesʼ Erzählung „von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“, die wohl zu den „Urerzählungen“ der Soziologie gehört. Denn das „Herausheben gesellschaftlicher Beziehungen aus lokalen Kontexten“ entspricht bei Tönnies dem Übergang von der Dorfgemeinschaft zu einer auf Geldwirtschaft gründenden Stadtgesellschaft, in der Anonymität herrscht. Vor diesem Hintergrund erscheint „Globalisierung“ als Verstädterung und Anonymität im Weltmaßstab. In seinem Frühwerk A Contemporary Critique of Historical Materialism (1981) stellt Giddens eine Beziehung zwischen dem „Entbettungsprozess“ und der Geldwirtschaft als Vermittlung durch den Tauschwert her. Dabei beruft er sich auf Simmel, der stets auf die Ambivalenz des Geldes achtete: auf seine destruktive Wirkung, die vor allem Marx hervorhob, und seine Fähigkeit, Individuen aus traditionellen Bindungen und Zwängen freizusetzen. So spricht er beispielsweise in seiner Philosophie des Geldes von der „Bedeutung der Geldwirtschaft für die individuelle Freiheit“. 72 Diese Freiheit kommt u.a. dadurch zustande, dass die Geldwirtschaft alle traditionellen Zusammenhänge auflöst: etwa wenn griechische Fischer merken, dass es viel ergiebiger ist, „Piratenfahrten“ für Touristen zu veranstalten, als der Tradition zu folgen und vergeblich die mühsam geflickten Netze auszuwerfen. Diese Freiheit zwingt aber zu reflexivem Verhalten 70 A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell (1991), 1994, S. 18. 71 A. Giddens, In Defence of Sociology, op. cit., S. 51. 72 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, Bd. VI (Hrsg. D. P. Frisby, K. Ch. Köhnke), Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (10. Aufl.), S. 392. <?page no="810"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 794 und zu riskanten Entscheidungen: Was geschieht, wenn die Touristen (aus welchen Gründen auch immer) ausbleiben? Dieses Beispiel ist insofern von Bedeutung, als es in nuce den riskanten und reflexiven Charakter der Modernisierung erkennen lässt, die sowohl Chancen als auch Unwägbarkeiten und Unsicherheiten auf individueller und kollektiver Ebene mit sich bringt. Giddens und Sutton gehen von dem Gedanken aus, dass die Moderne von der Aufklärung, also von der Mitte des 18. Jahrhunderts, bis in die 1980er Jahre hineinreicht. Das heißt, dass sie nicht, wie etwa Jean-François Lyotard oder der französische Soziologe Michel Maffesoli (vgl. Kap. XXIII) meinen, von der Postmoderne, sondern von einer selbstkritischen, reflexiven Spätmoderne abgelöst wird bzw. in diese neue Moderne mündet. (Im Gegensatz dazu wird hier davon ausgegangen, dass der Spätmoderne, die von 1850 bis 1950 oder 1960 währt und als Selbstkritik der Moderne aufzufassen ist, eine multidimensionale, nicht auf eine Ideologie oder Weltanschauung reduzierbare Postmoderne folgt, die diese Selbstkritik radikalisiert, indem sie in einigen Theorien mit der Moderne bricht: vgl. Einleitung.) 73 Giddens und Sutton definieren die Spätmoderne oder late modernity im Hinblick auf die negativen Auswirkungen der Modernisierung, die der modernen Fortschrittsgläubigkeit ein Ende bereiten und zum Nachdenken über die Moderne als ganze zwingen: „Eher als das Totenläuten für die Moderne bedeutet dies, dass die negativen Aspekte der Moderne wie etwa die Umweltzerstörung aufgedeckt und angegangen werden, die das gesellschaftliche Leben viel unsicherer machen, weil der alte Glaube an die Wissenschaft als Weg zur Wahrheit und an Autoritäten schwindet.“ 74 Diese Passage ist deshalb wichtig, weil sie wesentliche Aspekte von Giddensʼ Konstruktion der Spätmoderne enthält und zugleich als Einführung in das Denken von Ulrich Beck gelesen werden kann. 1. Die Moderne mündet in den 1980er Jahren nicht in eine wie auch immer definierte Postmoderne, sondern in eine reflexiv werdende Spätmoderne. 2. Deren Reflexivität wird von den negativen Aspekten der Modernisierung erzwungen, die von den Erfindungen und Erfolgen der Moderne (Kernspaltung, Genmanipulation, Industrialisierung der Landwirtschaft) nicht zu trennen sind. 3. Unsicherheit und Reflexivität sind auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Wissenschaft, die die ambivalenten Erfolge der Forschung zu verantworten hat, nicht länger das Ansehen genießt, das ihr aufgrund ihrer bahnbrechenden Entdeckungen im 19. Jahrhundert zuteil wurde, als noch Auguste Comte ein aufgeklärtes und befriedetes „wissenschaftliches Stadium“ vor Augen hatte. (Aber diese Wissenschaftsgläubigkeit würde man auch bei spät- 73 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), S. 21-36. 74 A. Giddens, P. W. Sutton, Essential Concepts in Sociology, op. cit., S. 12. <?page no="811"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 795 modernen Soziologen wie Tönnies, Simmel und Max Weber vergeblich suchen - könnte man im Rahmen der hier vorgeschlagenen Konstruktion einwenden.) Da es im Anschluss an Giddensʼ Handlungstheorie als Agency primär um Enttraditionalisierung und Individualisierung in der Spätmoderne geht, soll zum Abschluss die spätmoderne Reflexivität auf individueller Ebene betrachtet werden. Schon in seinem Frühwerk The Class Structure of the Advanced Societies (1973, dt. Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, 1984) beobachtet Giddens eine zunehmende gesellschaftliche Individualisierung, die damit zusammenhängt, dass der Klassenantagonismus, den Marx beschrieb, im Wohlfahrtsstaat durch soziale Absicherung und eine Zunahme der Mobilität entschärft wird. Klassenzugehörigkeit verliert zwar nicht ihre Bedeutung, aber die Aufstiegschancen der Einzelperson werden in zunehmendem Maße von individuellen Fähigkeiten bestimmt, für die es auf dem Markt eine Nachfrage gibt. Dies führt zur Lockerung des Klassenbewusstseins im Sinne von Marx: „Eine Klasse ist noch nicht einmal eine ‚Gruppe‘; der Begriff bezieht sich meiner Definition zufolge auf ein Bündel von Strukturierungsformen, die auf gemeinsamen Niveaus der Marktchancen basieren.“ 75 Dieser Prozess der Individualisierung führt in der Spätmoderne, wie sie von Giddens beobachtet und konstruiert wird, einerseits zu einem Anwachsen individueller Autonomie und Selbstverantwortung, andererseits zu einer risikoreichen Existenz, die weder durch Gemeinschaftsbande noch durch Klassensolidaritäten abgesichert ist. Vor diesem Hintergrund kommt in der spätmodernen Gesellschaft auf individueller Ebene nur ein reflexives Verhalten in Frage, das Chancen und Risiken gegeneinander abwägt. Dieses Verhalten betrachtet Giddens aus der Sicht des Individuums, das ihm als Fokalisator im Erzählprozess dient. Dazu heißt es in Modernity and Self-Identity: „Die Reflexivität der Moderne erstreckt sich bis in den Kern des Ichs. Anders gesagt, im Kontext der nachtraditionellen Ordnung wird das Ich zu einem reflexiven Projekt.“ 76 Was bedeutet das konkret? Im Anschluss an das bisher Gesagte bedeutet es zunächst, dass die Lebensweise („lifestyle“, Giddens) nicht mehr durch Tradition überliefert, sondern individuell ausgewählt wird: „is ‚adopted‘ rather than ‚handed down‘“. 77 Es bedeutet ferner aus individueller Sicht, dass Identität nicht nur Kontinuität beinhaltet, sondern Kontinuität, 75 A. Giddens, Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S. 239. 76 A. Giddens, Modernity and Self-Identity, op. cit., S. 33. 77 Ibid., S. 81. <?page no="812"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 796 die dem Einzelnen bewusst ist und von ihm reflektiert wird: „continuity as interpreted reflexively by the agent“. 78 Wo im Zusammenhang mit dem Individuum von einem „reflexiven Projekt“ die Rede ist, drängt sich die Frage nach dem narzisstischen Charakter dieses Projekts auf. Mit ihr setzt sich Giddens recht ausführlich auseinander und reagiert kritisch auf Christopher Laschs Studie The Culture of Narcissism (1980), von der hier im „Vierten Teil“ (Kap. XXII. 4) ausführlicher die Rede sein wird. Laschs These über den Anstieg des Narzissmus in der zeitgenössischen (vor allem amerikanischen) Gesellschaft hält er entgegen, dass sie auf der Annahme gründet, Individuen seien passive Wesen, die soziale Ereignisse erleiden und nicht beherrschen oder zumindest beeinflussen: „Das Individuum erscheint als passives Wesen, das den ihm äußeren sozialen Mächten ausgeliefert ist (…).“ 79 Es soll hier nicht entschieden werden, ob Lasch tatsächlich von dieser Annahme ausgeht, die Giddensʼ Theorie der Agency zuwider läuft. Wichtiger ist die Tatsache, mit der sich Giddens nicht befasst: dass die Abhängigkeit vieler Menschen von Fernsehen, Smartphone und virtuellen Welten im Internet wie „Second Life“ 80 immer wieder nachgewiesen wurde und dass diese Abhängigkeit häufig einen narzisstischen Einschlag hat. Unübersehbar sind beispielsweise die narzisstischen Aspekte der virtuellen Welt „Second Life“, die den Beteiligten die Gelegenheit bietet, sich als „Avatar“ in Übereistimmung mit ihren geheimsten Wünschen zu stilisieren. 81 Ein reflexives Projekt der „self-identity“ kann durchaus produktiv und altruistisch sein; es kann aber auch in die Art von Narzissmus abgleiten, die in „Second Life“ herrscht. Giddensʼ Problem besteht in diesem Fall darin, dass er den gesunden, produktiven Narzissmus, der für nahezu jedes Individuum konstitutiv ist, nicht - im Anschluss an die zahlreichen Narzissmus- Debatten 82 - vom malignen, destruktiven Narzissmus unterscheidet und die beiden Narzissmus-Typen nicht aufeinander bezieht. Er scheint nur den destruktiven Typ zu kennen und geht nicht der Frage nach, ob ein produktiver Narzissmus nicht auch dem im Rahmen seiner Agency-Theorie positiv konnotierten „reflexiven Projekt“ zugrunde liegt. 78 Ibid., S. 53. 79 Ibid., S. 175. 80 Vgl. S. Stillich, Second Life. Wie virtuelle Welten unser Leben verändern, Berlin, Ullstein, 2007. Es geht hier nicht so sehr um „Second Life“, sondern um die im Untertitel erwähnten „virtuellen Welten“ allgemein. 81 Vgl. M. S. Meadows, I, Avatar. The Culture and Consequences of Having a Second Life, Berkeley (CA), New Riders, 2008. 82 Vgl. Vf., Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, Kap. I. <?page no="813"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 797 Dabei ist jedoch die Anschlussfrage nicht zu vermeiden, ob dieser produktive Narzissmus des „Lifestyle“ nicht jederzeit in einen destruktiven (z.B. körperorientierten) Narzissmus übergehen kann. Die beiden Narzissmus-Varianten sind nicht sauber voneinander zu trennen: zumal „Reflexivität“ stets auch „Beschäftigung mit sich selbst“ meint und der Narzissmus von Freud reflexiv als Rückführung der Libido in das Ich definiert wird: „Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden (…).“ 83 Insgesamt zeigt sich, dass Giddens im Zusammenhang mit seiner Agency-Theorie die individuelle Autonomie in der Spätmoderne einseitig aufwertet und die Möglichkeit ihres Zerfalls in heteronom wirkenden Massenmedien, in Vereinsamung und Narzissmus nicht wahrnimmt. Im folgenden Abschnitt wird die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Rolle Reflexivität und Agency auf gesellschaftlicher Ebene spielen und wie sie zu einer Neudefinition von „Spätmoderne“ im Sinne von Giddens beitragen können. Zu dieser Definition gehört auch das Aktantenmodell als Handlungsstruktur einer neuen Ära. 4. Giddens ʼ Aktantenmodell als Kritik an Marx und der Moderne: Kapitalismus vs. ökosoziale Demokratie im Zeitalter der Globalisierung Reflexivität bedeutet im vorliegenden Fall zweierlei: Nachdenken über eine problematisch werdende Moderne, deren wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Erfolge unabsehbare Risiken mit sich führen und: Nachdenken über die Denktradition des Marxismus, die auf die neuen Herausforderungen der Spätmoderne keine Antworten parat hält. Sowohl aus Giddensʼ Sicht als auch in dem hier vorgelegten Entwurf erscheint der hegelianische Marxismus (vgl. Kap. IV) als eine Metonymie der Moderne, in der ein aufgeklärter Fortschrittsglaube mit einem religiösen Erlösungsdenken zusammenfällt. Diese dynamische Synthese, die in der Oktoberrevolution von 1917 einen ihrer Höhepunkte erreichte und bis 1968 die Gemüter erregte, wird als eine Entwicklung zu stets höheren Stadien erzählt: als Befreiung oder Emanzipation der Menschheit. Einer der wesentlichen Aspekte von Giddensʼ Theorie der Moderne ist deren Abkehr von dieser Erzählung, in der die Weltgeschichte trotz aller Revolutionen und Brüche eine sinnvolle Einheit oder Totalität bildet. Gleich am Anfang von Giddensʼ Buch Konsequenzen der Moderne (The Consequences of Modernity, 1990) dient der marxistische Diskurs in seiner Vielfalt als Kontrastfolie, gegen die sich das eigene Denken abhebt: „Selbst die Theorien, die - wie zum Beispiel der Marxismus - die Bedeutung diskontinuierlicher Übergänge betonen, fassen die Menschheitsgeschichte so auf, 83 S. Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914), in: Studienausgabe, Bd. III: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt, Fischer, 1982, S. 42. <?page no="814"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 798 als habe sie eine Gesamtrichtung, die von allgemeinen dynamischen Prinzipien bestimmt werde.“ 84 Nicht zufällig beruft sich Giddens auf Derridas Dekonstruktion und Lyotards postmoderne Kritik der großen Metaerzählungen (Christentum, Aufklärung, Marxismus), wenn er feststellt, dass wir gegenwärtig nicht mehr an die Teleologien dieser Großerzählungen glauben: „Die Geschichte weist in Wirklichkeit nicht die Form der ‚Totalität‘ auf, die ihr von entwicklungsgeschichtlichen Auffassungen unterstellt wird (…).“ 85 Die Spätmoderne - von Giddens gelegentlich als „High modernity“ oder „Hochmoderne“ 86 bezeichnet - ist zu unübersichtlich, zu fragmentiert, als dass sie eine sinnerfüllte Einheit oder Totalität im Sinne von Hegel ergeben könnte, die noch Marx und den Marxisten vorschwebte. Beim Anbruch der Spätmoderne im Sinne von Giddens geht nicht nur der Glaube an eine Entwicklung verloren, die das „Wesen vollendet“, wie Hegel meinte, sondern auch die moderne Zuversicht, sich der historischen Wahrheit als sinnvoller Totalität bemächtigen zu können. Das Verschwinden der Zuversicht und der modernen Sicherheiten, die auf Tradition, Religion und Gemeinschaft gründeten, hängt mit der spätmodernen Skepsis zusammen. Sie rührt daher, dass die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte in der Lage ist, sich selbst durch einen Atomkrieg zu vernichten oder durch Umweltzerstörung eine stufenweise Selbstvernichtung in die Wege zu leiten. Angesichts dieser Großrisiken, die jederzeit in Katastrophen ausarten können, kann von einer Menschheitsgeschichte als sinnerfüllter Teleologie oder Totalität nicht mehr die Rede sein. In der spätmodernen Gesellschaft, so Giddens, wird danach gestrebt, die alten Sicherheiten, die Traditionen und Religionen boten, durch neue Sicherungen zu ersetzen. Er spricht von dem neuen, aber stets labil geschichteten Vertrauen in abstrakte Systeme (Rechtssystem, politisches System, Gesundheitswesen), die zumeist Expertensysteme sind und auf Sachkenntnis gründen. Dieses Vertrauen hängt nicht von face-to-face relations und Kopräsenz als sozialer Integration, sondern von der Systemintegration (vgl. Abschn. 2) ab, die trotz Abwesenheit der miteinander kommunizierenden Akteure über größere Entfernungen und Zeiträume hinweg entsteht. In der Spätmoderne kommt Vertrauen folglich jenseits aller Traditionen zustande und ist ein Ergebnis von disembedding, von „Entbettungsprozessen“: „Vertrauensbeziehungen beruhen auf entbetteten abstrakten Systemen.“ 87 84 A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, op. cit., S. 13. 85 Ibid., S. 14. 86 Ibid., S. 186. 87 Ibid., S. 128. <?page no="815"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 799 Sascha Lübbe, der sich in einer kürzeren Arbeit recht ausführlich mit dem Begriff „Vertrauen“ bei Giddens befasst, erläutert den neuen, spätmodernen Kontext dieses Begriffs: „Das Vertrauen in Entbettungsmechanismen ist (…) in hohem Maße erzwungen. Durch seinen anonymen Charakter zählt es für Giddens zu den gesichtsunabhängigen Bindungen - also zu den Vertrauensbeziehungen, die keine gemeinsame Anwesenheit der Akteure voraussetzen.“ 88 Kann aber erzwungenes Vertrauen noch als Vertrauen gelten? Gründete Vertrauen in traditionalen Gesellschaften nicht auf Personenkenntnis, die zugleich Wertschätzung war, d.h. wörtlich: Achtung für die Werte und Normen, die diese Personen verkörperten? Giddens behauptet freilich nicht, dass die persönliche Komponente des Vertrauens in der Spätmoderne völlig verschwindet. Wir glauben nicht „gezwungenermaßen“ an das Gesundheitssystem, sondern schenken der Ärztin oder dem Arzt persönliches Vertrauen - es sei denn, dass es sich um eine medizinische Konsultation im Internet handelt, die gänzlich innerhalb der Systemintegration abläuft. Dieses Beispiel lässt bereits eine für die Spätmoderne symptomatische Verschiebung vom persönlichen zum „erzwungenen“ Vertrauen in mehr oder weniger anonyme Expertensysteme erkennen. Zu dieser Verschiebung kommt es in einer von Arbeitsteilung und Differenzierung dominierten „Risikogesellschaft“ (Beck), in der die Laienmehrheit immer wieder von Expertengruppen enttäuscht wird, die ein Medikament, ein Vertilgungsmittel oder eine Technologie für „unbedenklich“ erklären und ihr Urteil später vor einer immer skeptischer werdenden Öffentlichkeit revidieren müssen. Die wachsende Skepsis dieser Öffentlichkeit erklärt, weshalb nicht nur die Intellektuellen (Soziologen wie Giddens oder Beck) den teleologischen Erzählungen der Moderne misstrauen, sondern auch die Laien. Sie können nicht mehr so recht an Comtes „Wissenschaft“ oder das „letzte Gefecht“ glauben, das bei Marx die „klassenlose Gesellschaft“ einläuten sollte. Vor diesem zugleich ideologischen und theoretischen Hintergrund ist es verständlich, dass Giddens das Marxsche Aktantenmodell, in dem „Kapital“ und „Arbeit“, „Bürgertum“ und „Proletariat“ einander unversöhnlich gegenüber stehen, durch ein spätmodernes Modell ersetzt, dessen Objekt Aktant sich bisweilen im Ungewissen verliert. Dieses Modell ist in einen „utopischen Realismus“, „utopian realism“ 89 eingebettet, der von der Zweideutigkeit und Unsicherheit zeugt, die nicht nur die Spätmoderne als ge- 88 S. Lübbe, Vertrauen - ein modernes Phänomen. Anthony Giddens „Konsequenzen der Moderne“ und die Bedeutung von Vertrauensverhältnissen für die Organisation moder ner Gesellschaften, München, Grin-Verlag, 2006, S. 9. 89 A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, op. cit., S. 190-195. <?page no="816"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 800 sellschaftliche Problematik, sondern auch die Soziologie der Spätmoderne durchdringt. Abermals distanziert sich Giddens von Marx, der dennoch sein Hauptbezugspunkt 90 bleibt: „Einen Ausgleich zwischen utopischen Idealvorstellungen und Realismus müssen wir heute in weitaus stringenterer Manier herstellen, als zur Zeit von Marx erforderlich war.“ 91 Dieser Wille zum Ausgleich prägt Giddensʼ Aktantenmodell, das als spätmoderner Kompromiss von der Suche nach Ersatz für das verschwundene Proletariat zeugt. Wie sieht es genau aus? In Übereinstimmung mit seiner Zurückweisung der hegelianisch-marxistischen Teleologie verzichtet Giddens auf die Geschichte als Auftraggeberin des Subjekt-Aktanten, des „Proletariats“. Die Marxsche Erzählung wird in Die Konstitution der Gesellschaft einer radikalen Revision unterzogen: „Was immer Geschichte auch sein mag, sie ist sicher nicht in erster Linie ‚die Geschichte von Klassenkämpfen‘ und Herrschaft ist auch nicht in letzter Instanz in einem irgendwie verallgemeinerten Sinne auf Klassenherrschaft gegründet.“ 92 Dieser Satz könnte als direkte Replik auf die bekannte These aus dem Kommunistischen Manifest gelesen werden: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ 93 Es geht hier nicht nur um eine These und ihre Kritik oder Widerlegung. Es geht zugleich darum, dass die von Marx beobachtete Gesellschaft sich nicht seinen Voraussagen entsprechend entwickelt hat, weil es nicht zu der prognostizierten Verelendung des Proletariats, zum Abstieg der Mittelschicht in proletarische Verhältnisse und zur vorrevolutionären Polarisierung der Gesellschaft zwischen „Arbeit“ und „Kapital“ kam. Im Gegenteil: Ein Teil der Arbeiterklasse stieg in die Mittelschicht auf, und der Rest der Arbeiter erkämpfte sich einen höheren Lebensstandard und eine bessere soziale Absicherung. Diese kurze Zusammenfassung ist zugleich eine Wiedergabe der Marxschen Erzählung, die ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat und daher nach einer „Umerzählung“ verlangt. In der von Giddens konstruierten Spätmoderne stößt diese als notwendig empfundene „Umerzählung“ auf erhebliche Hürden: nicht nur, weil die „Geschichte“ als Auftraggeberin nicht mehr 90 Vgl. A. Giddens, Capitalism and Modern Social Theory. An Analysis of the Writings of Marx, Durkheim and Max Weber, Cambridge, Univ. Press, 1971, S. 247: „It is to hold that Marx’s analysis poses issues which must still be regarded as problematic for modern sociology (…).“ 91 A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, op. cit., S. 192. 92 A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, op. cit., S. 313. 93 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 525. <?page no="817"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 801 zur Verfügung steht, sondern auch deshalb, weil der von Marx als relevant postulierte Gegensatz von „Kapital“ und „Arbeit“ und der ihm entsprechende Gegensatz zwischen den kollektiven Aktanten „Bürgertum“ und „Proletariat“ in dieser Form nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Wie Touraine und Bourdieu spricht Giddens vor diesem Hintergrund nicht allgemein von „Kapital“, sondern vom „neoliberalen Kapitalismus“, der im Begriff ist, sich im Zeitalter der Globalisierung weltweit durchzusetzen. Ihm fällt in Giddensʼ Erzählung die Funktion des Antisubjekts zu, dem sich ein Subjekt, wenn auch defensiv, entgegenstellen sollte. Wie in vielen anderen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen ist es die Aufgabe des Partei ergreifenden Erzählers (und Giddens ist ein solcher), auf der Ebene der Modalitäten nach Schwächen des Antisubjekts zu fahnden. Giddens findet sie im „Neoliberalismus“, der Ideologie (Modalität) des „neoliberalen Kapitalismus“. Ihre zwei wichtigsten Komponenten, „Marktfundamentalismus und Konservatismus“ („market fundamentalism and conservatism“) 94 , stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, weil die wertindifferente Marktorientierung mit konservativen Werten wie „Familie“, „gemeinschaftliche Bindungen“ und „nationale Solidarität“ kollidiert: etwa wenn ein nationaler Großkonzern im Ausland produzieren lässt, weil die Arbeitskräfte dort billiger sind. Trotz dieses inneren Widerspruchs ist das Antisubjekt „neoliberaler Kapitalismus“ global auf dem Vormarsch, und Giddens spricht von der „voracious expansion of the ‚created space‘ of capitalism“. 95 Es kommt hinzu, dass der Neokapitalismus Helfer hat, zu denen (wie bei Touraine) das „Finanzwesen“ 96 , die „Großkonzerne“ und „übernationale Einrichtungen“ wie der Internationale Währungsfonds gehören. Was hat der Erzähler Giddens diesem mächtigen und mächtig expandierenden Antihelden entgegenzusetzen? Es ist ein aus den Risiken und Krisen der Spätmoderne hervorgehender Subjekt-Aktant: die „ökosoziale Demokratie“. Ihr fällt die Aufgabe zu, Gesellschaft, Umwelt und Individuum gegen die „voracious expansion“ des neoliberalen Kapitalismus zu verteidigen. Es fragt sich wie. „Demokratisierung“ ist - wie bei Habermas - die Hauptmodalität dieses Aktanten, der sie der „Liberalisierung“ der Märkte und der Vermarktung der gesamten Gesellschaft entgegensetzt: „Was wir in den demokratischen Ländern brauchen, ist eine Vertiefung, gleichsam eine Demokratisierung 94 A. Giddens, The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1998, S. 15. 95 A. Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism, op. cit., S. 251. 96 A. Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 25. <?page no="818"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 802 der Demokratie.“ 97 (Man achte darauf, dass hier eher ein Wunsch geäußert, als eine beobachtbare Tatsache beschrieben wird.) Zur Vervollständigung des Aktantenmodells und der Erzählung werden auf der Subjekt-Seite Helfer (adjuvants, Greimas) gesucht, die es mit den Widersachern (opposants), den Helfern des entfesselten „neoliberalen Kapitalismus“, aufnehmen könnten. In seinem Frühwerk knüpft Giddens noch an die Überlegungen einiger Neomarxisten wie André Gorz an und fragt nach dem Zustand der „neuen Arbeiterklasse“: „Wichtiger jedoch ist, daß unbestimmt und zweideutig bleibt, in welchem Sinn die ‚neue Arbeiterklasse‘ eine ‚Klasse‘ ist.“ 98 Unbestimmt ist folglich auch, ob sie in das neue Aktantenmodell aufgenommen werden kann, das es gestatten würde, die gesellschaftskritische, antikapitalistische Erzählung fortzusetzen. Anders als der Neomarxist Lucien Goldmann, der wie der frühe Gorz alle seine Hoffnungen auf die „neue Arbeiterklasse“ oder „nouvelle classe ouvrière“ setzte 99 , gibt Giddens diesen Aktanten in seinem Spätwerk auf. An seine Stelle treten als Helfer des Subjekts, der „ökosozialen Demokratie“, die sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen. In Konsequenzen der Moderne unterscheidet Giddens vier „Typen sozialer Bewegungen“: Arbeiterbewegungen, demokratische Bewegungen (Redefreiheit), Friedensbewegungen und ökologische Bewegungen. Später räumt er auch dem Feminismus als Bewegung einen zentralen Platz ein. 100 Man meint, eine Passage aus Alain Touraines Werk zu lesen, wenn man in Jenseits von Links und Rechts (Beyond Left and Right, 1994) auf die folgenden Sätze stößt: „Ein zweites Gebiet der Demokratisierung, das ebenfalls globale Ausbreitung gefunden hat, ist das Umsichgreifen von sozialen Bewegungen und Selbsthilfegruppen. Derartige Bewegungen und Gruppen bringen die heute gesteigerte Reflexivität des lokalen wie globalen Lebens zum Ausdruck, tragen aber auch ihrerseits dazu bei.“ 101 Die Aktanten der globalen Spätmoderne, die aus deren Reflexivität, aus deren Nachdenken über militärische, ökologische und wirtschaftliche Risiken hervorgehen, sind die „Bewegungen“ und „Selbsthilfegruppen“, die sich der Verwirklichung des neoliberal-kapitalistischen narrativen Programms („globale Durchsetzung der Marktgesetze um jeden Preis“) im Na- 97 Ibid., S. 95. 98 A. Giddens, Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, op. cit., S. 244. Vgl. A. Giddens, Social Theory and Modern Sociology, Cambridge, Polity (1987), 2007, Kap. XII: „The perils of punditry: Gorz and the end of the working class“. 99 Vgl. L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël-Gonthier, 1971, S. 167. 100 Vgl. A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, op. cit., S. 196. 101 A. Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt, Suhrkamp, 1999 (3. Aufl.), S. 169. <?page no="819"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 803 men einer „ökosozialen Demokratie“ entgegenstellen. Ihr Objekt-Aktant, Telos ihrer Erzählung, ist die „ökosoziale Gesellschaft“, die jedoch in eine ungewisse Zukunft verlegt wird. Giddens spricht in diesem Zusammenhang von „dialogischer Demokratie“, in der wissenschaftliche und staatliche Einrichtungen auf Wünsche und Vorschläge von Laiengruppen reagieren. (Auch diese „dialogische Demokratie“ ist jedoch keine Realität, sondern entspringt dem Wunschdenken des Soziologen.) Er stellt sich vor, dass die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Politik mit Laiengruppen in einem globalen, „kosmopolitischen“ Zusammenhang stattfindet, in dem Bewegungen, Bürgerinitiativen und internationale Organisationen wie „Amnesty International“ oder „Greenpeace“ Antworten auf politische und ökologische Gefahren finden, die der globalen Vernetzung der Großkonzerne adäquat sind. Unberücksichtigt bleibt dabei die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Netzwerke und Interaktionen (z.B. der Börsen) täglich funktionieren und sich in einem rasanten Tempo entwickeln, während Bewegungen und Bürgerinitiativen nur sehr sporadisch auftreten. Ulrich Beck fasst dieses Dilemma in einer lapidaren Feststellung zusammen: „Soziale Bewegungen - bedeuten, einmal wörtlich genommen, Kommen und Gehen. Vor allem Gehen. Die Selbstauflösung ist ihr führendes Mitglied.“ 102 Liest man diese Bemerkungen parallel zu Alain Touraines Feststellung, dass in neuester Zeit „die sozialen Bewegungen vor allem durch ihre Abwesenheit auffallen“ 103 , dann kann das von Giddens konstruierte Aktantenmodell nur skeptisch stimmen, weil es nichts enthält, was den Erfolg des aus ihm ableitbaren narrativen Programms gewährleisten könnte. (Abermals wird deutlich, dass bei Giddens Wirklichkeitsbeschreibung und Wunschdenken derart ineinander fließen, dass es schwierig wird, sie auseinanderzuhalten.) Giddens stand der Labour Partei von Tony Blair und Gordon Brown 104 nahe und beeinflusste zeitweise auch die Politik von New Labour. Von dieser Politik ist im heutigen Großbritannien nicht mehr viel zu spüren, wohl auch deshalb nicht, weil sie der „voracious expansion“ des globalen Kapitals nicht viel entgegenzusetzen hatte. Liest man aufmerksam die folgende Passage aus Giddens Buch The Politics of Climate Change (2011), in der „ökologische Modernisierung“ definiert wird, versteht man auch, warum dem so ist: „Ecological modernization has been defined as ‚a partnership in which governments, businesses, moderate environmentalists, and scientists cooperate in the restructuring of 102 U. Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 99. 103 A. Touraine, Nous, Sujets humains, Paris, Seuil, 2015, S. 136. 104 Vgl. z.B. A. Giddens, Over to you, Mr. Brown. How Labour Can Win Again, Cambridge, Polity, 2007. <?page no="820"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 804 the capitalist political economy along more environmentally defensible lines‘.“ 105 Giddens fügt hinzu: „I have no quarrel with any of these emphases and am therefore in general a supporter of the ecological modernization approach.“ 106 Who isn’t? Jeder vernünftige Manager oder „moderate environmentalist“ könnte dieser „sozialen Partnerschaft“ ohne Vorbehalte zustimmen. Nicht die eher peinliche Frage, was Marx zu ihr sagen würde, ist hier entscheidend, sondern die Frage, ob auf diese Art die schlimmsten Exzesse der kapitalistischen Wirtschaft, die Giddens selbst beschreibt, verhindert oder wenigstens eingedämmt werden können. Es fragt sich auch, ob diese kompromissbereite Passage, die auch Staat und „businesses“ einbezieht, nicht Giddensʼ Aktantenmodell (als Grundlage der Erzählung) auflöst, in dem das „neoliberale Kapital“ als konkret-kompaktes Antisubjekt agiert, während das Subjekt „ökosoziale Demokratie“ eher dem Wunschdenken entspringt. Ist es nicht seit eh und je mit dem Staat liiert, dem bei Giddens eine sehr zweideutige Rolle zufällt? Es wird sich zeigen, dass das „neoliberale Kapital“ als Aktant auch bei Beck mit negativen Konnotationen versehen wird. 5. Reflexive Moderne als „Zweite Moderne“: Die Diskussion zwischen Giddens, Ulrich Beck und Scott Lash Die folgenden Kommentare zur Diskussion, die sich vor allem auf den Band Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse (1996) konzentrieren, erfüllen drei komplementäre Funktionen: 1. Sie sollen im Rahmen des hier vertretenen dialogischen Ansatzes zu einem besseren Verständnis von Theorien durch Vergleich und Konfrontation beitragen. 2. Sie sollen einen Übergang von Giddensʼ Theorie der „reflexiven Moderne“ (oder „High modernity“) zu Becks vergleichbarer Auffassung der „Zweiten Moderne“ bilden, die ebenfalls reflexiven Charakter hat. 3. Sie sollen schließlich die Abweichungen zwischen Giddensʼ und Becks Theorien hervorheben, um Becks Ansatz, der im sechsten Abschnitt dargestellt wird, mit schärferen Konturen zu versehen. Es mag zunächst sinnvoll sein, einige Gemeinsamkeiten ins Gedächtnis zu rufen, welche die kritischen Gesellschaftstheorien von Habermas, Touraine, Bourdieu, Giddens und Beck miteinander verbinden. Allen fünf Soziologen ist der Gedanke gemeinsam, dass das global agierende und expandierende Kapital zu einer Gefahr für Gesellschaft und Umwelt wird: für die „Lebenswelt“, die individuelle und kollektive Subjektivität, die Auto- 105 A. Giddens, The Politics of Climate Change, Cambridge, Polity (2011), 2017, S. 72. 106 Ibid., S. 73. <?page no="821"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 805 nomie der Felder „Kunst“, „Wissenschaft“, „Erziehung“, die vergesellschaftete Natur. Ein Vergleich dieser soziologischen Theorien lässt eine ihnen gemeinsame Schwäche erkennen: Sie haben dem globalen Kapital, dessen destruk tive Wirkung sie beschreiben, nichts Nennenswertes entgegenzusetzen. Habermas „Lebenswelt“ ist von Macht- und Geldbeziehungen durchwirkt (was u.a. bei Ehescheidungen auffällt), so dass es in der zu verteidigenden Stadt „Lebenswelt“ von Trojanischen Pferden nur wimmelt. Touraine gibt selbst zu, dass die sozialen Bewegungen, die dem „Subjekt“ den Rücken stärken könnten, durch „ihre Abwesenheit auffallen“. Bourdieu kann nur mit Bedauern feststellen, dass es immer noch keine europäische Gewerkschaft gibt, die dem internationalen Kapital die Stirn bieten könnte und dass das von Marktgesetzen beherrschte „journalistische Feld“ in das Feld der Sozialwissenschaften hineinregiert. Giddens Subjekt Aktant „ökosoziale Demokratie“ (als Demokratisierung) ist eher eine Wunschvorstellung als eine real agierende Instanz, und Becks Gegensatz zwischen einem neoliberalen, kapitalistischen „Globalismus“, der den Marktgesetzen folgt, und einer „kosmopolitischen Globalisierung“, die sich an Menschenrechten orientiert (siehe weiter unten), lässt ebenfalls ein Ungleichgewicht der Terme erkennen. Während der „Globalismus“ als Ideologie der von Konzernen dominierten Weltwirtschaft durchaus präsent ist, erscheint die vom Soziologen beschworene kosmopolitische Gesinnung als gesellschaftskritisches Wunschbild. Eine weitere Gemeinsamkeit, die ein Vergleich von Giddens und Becks Theorien sichtbar macht, ist der Gedanke, dass die Moderne als Modernisierungsprozess die Industriegesellschaft als Klassengesellschaft - die Erste Moderne - hinter sich gelassen hat. 107 Sie ist in eine neue Phase eingetreten, die einen innovativen soziologischen Zugang erheischt: vor allem deshalb, weil in der Ersten Moderne Risiken noch örtlich begrenzt und überschaubar waren, während sie gegenwärtig globale Ausmaße annehmen, weil Katastrophen im Bereich der Kernenergie (Tschernobyl, Fukushima) oder der Klimawandel die gesamte Menschheit bedrohen. Giddens und Beck stimmen mit Habermas und Touraine in der Ansicht überein, dass dieser neue soziologische Zugang eine reflexive Erneuerung („Vollendung“, Habermas) der Moderne sein sollte und nicht ein Ausweichen in „postmodernes Denken“. Dieses wird von den Autoren sehr unterschiedlich, auch einseitig aufgefasst und mitunter verzerrt. 108 107 Vgl. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 65, wo von „Globalität und Allbetroffenheit“ die Rede ist. 108 Vgl. A. Giddens, Konsequenzen der Moderne, op. cit., S. 63: „Moderne oder Postmoderne? “ sowie U. Beck, J. Willms, Freiheit oder Kapitalismus, Frankfurt, Suhrkamp, <?page no="822"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 806 Abermals wird deutlich, wie verschieden Erzählungen der gesellschaftlichen Entwicklung sein können. Während sich Giddens, wie bereits angemerkt, eine postmoderne Phase jenseits der Moderne zumindest vorstellen kann und sie auch in groben Zügen skizziert (als „System nach Knappheit“, „vielschichtige demokratische Partizipation“, „Entmilitarisierung“, „Humanisierung von Technologie“: eine Auffassung, die als Wunschvorstellung mit keiner bestehenden Konstruktion der „Postmoderne“ übereinstimmt) 109 , fasst sie Habermas als „konservative Reaktion“ auf die Modernisierung auf 110 , Touraine lehnt sie als Zerfallserscheinung der Moderne ab 111 , und Beck verweist sie ins Reich der Schimären: „Bei der ‚Postmoderne‘ beginnt bereits alles zu verschwimmen. (…) ‚Post‘ ist das Codewort für Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt.“ 112 Es fragt sich allerdings, ob „Spät“ eine brauchbare Alternative zu „Post“ ist, zumal sich Theorien der „Spätmoderne“ und der „Postmoderne“ in mindestens drei wesentlichen Punkten überschneiden: in ihrer Ablehnung moderner Großerzählungen und deren Teleologien, in ihrer Skepsis modernen Fortschrittsideologien gegenüber und in ihrer Hervorhebung der (kulturellen, kosmopolitischen) Vielfalt zeitgenössischer Gesellschaften. Ein Postmodernist wie Zygmunt Bauman, der von Beck immer wieder zitiert und im nächsten Kapitel ausführlich kommentiert wird, fasst die Postmoderne als radikale Selbstkritik der Moderne (ihres Fortschrittsglaubens, ihres Universalismus) auf. Er entfaltet Giddensʼ und Becks spätmodernen Kerngedanken im postmodernen Kontext: den Gedanken einer selbstkritischen Reflexivität. Dieser Gedanke ist sowohl bei Giddens als auch bei Beck zentral. Er führt in die Problematik von Ulrich Becks Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (1986), das zugleich mit der Katastrophe von Tschernobyl erschien und dieser Katastrophe zweifellos, wie Richard Münch bemerkt 113 , einen Teil seiner Wirkung, nicht jedoch seine Be- 2000, S. 118: „(…) die Postmoderne, also das Argument, daß alles relativ sei (…).“ Welcher postmoderne Denker - außer Michel Maffesoli (Kap. XXIII) - behauptet so etwas? 109 Vgl. A. Giddens, Kritische Theorie der Spätmoderne, op. cit., S. 52. 110 Vgl. J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig, Reclam, 1990, S. 52-54. 111 Vgl. A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 216-226: „Les postmodernismes“. Touraine versucht wenigstens nicht, die Postmoderne auf ein Schlagwort wie „Relativismus“ zu reduzieren. 112 U. Beck, Risikogesellschaft, op. cit., S. 12. Die „Postmoderne“ wurde von Autoren wie Lyotard, Wolfgang Welsch und in der Soziologie Zygmunt Baumans relativ klar definiert: als Pluralisierung, Partikularisierung und Anerkennung von Alterität. Alle diese Definitionen überschneiden sich mit Giddensʼ und Becks Auffassung der „Spätmoderne“ oder der „Zweiten Moderne“ im Sinne von Beck. 113 Vgl. R. Münch, „Von der Ersten zur Zweiten Moderne. Ulrich Becks Theorie der Reflexiven Modernisierung“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. III: Gesellschaftstheorie, <?page no="823"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 807 deutung verdankt: „Der Modernisierungsprozeß wird ‚reflexiv‘, sich selbst zum Thema und Problem.“ 114 Analog dazu bemerkt Giddens in The Third Way (1998): „Modernisierung, die ökologisch empfindlich ist, setzt sich nicht für ‚immer mehr Moderne‘ ein, sondern ist sich der Probleme und Grenzen der Modernisierungsprozesse bewusst.“ 115 Komplementär dazu heißt es in Giddensʼ Buch Jenseits von Links und Rechts: „Die Entwicklung der sozialen Reflexivität ist der ausschlaggebende Faktor (…).“ 116 Aber war Moderne als Modernisierungsprozess nicht schon immer „reflexiv“, wie Richard Münch meint? 117 Wo von „Prozessen“ und „Entwicklungen“ die Rede ist, wird Gesellschaft beobachtet und erzählt. Und wo erzählt wird, drängt sich seit Diderot 118 und seinen modernistischen Erben, Romanciers wie Kafka, Musil und Pirandello, die Frage auf, ob nicht auch andere Erzählungen möglich wären. Im vorliegenden Fall lautet die Frage, ob ein reflektierendes Innehalten im Modernisierungsprozess nicht doch einen Bruch mit der ersten, „industriellen Moderne“ einleitet, der zur Folge hat, dass die Moderne gleichsam von außen als gefährliche, möglicherweise fatale Verkettung von Ereignissen betrachtet wird, aus der man schleunigst ausbrechen sollte (bevor es zu spät ist). Giddensʼ und Becks „Spätmoderne“ oder „Zweite Moderne“ (Beck) wäre dann in Wirklichkeit eine Postmoderne, die sich von den Mythen der modernen Industriegesellschaft - „revolutionäre Überwindung“, „Fortschritt“, „Verwissenschaftlichung“ - verabschiedet. (Weiter oben hat sich gezeigt, wie sehr sich Giddensʼ und Becks reflexive oder „Zweite Moderne“ mit der Postmoderne Baumans und Lyotards überschneidet.) Aus erzähltheoretischer Sicht käme auch noch Luhmanns modernes Modell in Frage, das ohne spätmoderne oder postmoderne Aufgeregtheiten der Frage nachgeht, ob die Probleme der Modernisierung nicht mit modernen Mitteln in den Griff zu bekommen sind: etwa durch Steigerung der Systemirritabilität in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Eine Ab- Frankfurt-New York, Campus, 2004, S. 520: „Mit Tschernobyl im Rücken war der Begriff der Risikogesellschaft dafür prädestiniert.“ 114 U. Beck, Risikogesellschaft, op. cit., S. 26. 115 A. Giddens, The Third Way, op. cit., S. 67. 116 A. Giddens, Jenseits von Links und Rechts, op. cit., S. 26. 117 Richard Münch bejaht diese Frage, wenn er bemerkt: „Es gibt keine einfache Modernisierung. Alle Modernisierung ist reflexiv.“ (R. Münch, „Von der Ersten zur Zweiten Moderne. Ulrich Becks Theorie der Reflexiven Modernisierung“, in: ders., Soziologische Theorie, Bd. III, op. cit., S. 535.) Mit Giddens und Beck ließe sich freilich einwenden, dass erst die atomare Gefährdung und die Erfahrung des Klimawandels ein Umdenken und Nachdenken über die Erste Moderne und ihre Fortschrittsgläubigkeit bewirkt haben. 118 Vgl. D. Diderot, Jacques le Fataliste et son Maître, in: ders., Contes et romans (Hrsg. M. Delon), Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 2004. <?page no="824"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 808 kehr von der „Ersten (industriellen) Moderne“ sei gar nicht notwendig, könnte Luhmann, dem „Reflexivität“ durchaus vertraut ist 119 , einwenden: denn das Instrumentarium der Moderne sei in jeder Hinsicht geeignet, die von der industriellen Moderne geschaffenen Probleme zu lösen. Ist die deutsche „Energiewende“ nicht ein Anfang, der in die richtige Richtung weist? (Allerdings ist sie nur begrenzt wirksam, solange die Nachbarländer in Ost und West unbeeindruckt neue Kernkraftwerke bauen.) Giddens und Beck wäre diese Erzählung, die Reflexivität als Kontinuität konstruiert, zu selbstgenügsam. Sie könnten einwenden, dass Reflexivität täglich durch neue Risiken und Katastrophen erzwungen wird, so dass Kontinuität als „weiter so“ nicht mehr in Frage kommt. Das vom Menschen selbst produzierte Risiko als „manufactured uncertainty“ 120 , von der Giddens spricht, nimmt eher zu als ab und lässt vermuten, dass die entstehenden Probleme (Gefahr eines Atomkrieges, globale Erwärmung, Hungersnot) nicht mit den Mitteln der Ersten Moderne zu lösen sind: „Von Menschen produziertes Risiko ist ein Ergebnis des menschlichen Eingreifens in die Natur und in die Bedingungen sozialen Lebens.“ 121 Daher, so könnten Giddens und Beck folgern, können Eingriffe im alten (industriellen) Stil die Lage nicht wesentlich verbessern, zumal in der zeitgenössischen Gesellschaft Expertenwissen in zunehmendem Maße traditionelles Wissen („so haben wir es immer gemacht“) ersetzt: „Expertise comes widely to replace tradition“. 122 Da die Standpunkte und Gutachten von Experten häufig divergieren, müssen sie in Frage gestellt, kritisch reflektiert werden. Beck ist sich mit Giddens einig, dass der Begriff „Risiko“ im zeitgenössischen Kontext nicht „Risiko“ in einem ganz allgemeinen Sinn meint, weil es Naturkatastrophen, Kriege und Krankheiten (etwa Erdbeben, Pest oder Cholera) schon immer gegeben hat, sondern, wie Giddens es ausdrückt: „von Menschen produziertes Risiko“, das in Wissenskulturen, im Dialog zwischen Laien und Experten zu reflektieren ist. Giddens spricht in diesem Zusammenhang von „institutioneller Reflexivität“. 123 Die Kernfrage, um die es in der Diskussion zwischen Giddens, Beck und Scott Lash geht, lautet: Was genau wird reflektiert? Die Art, wie diese Frage beantwortet wird, lässt einen wesentlichen Unterschied zwischen Giddens und Lash auf der einen und Beck auf der anderen Seite erkennen. 119 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 372. 120 A. Giddens, In Defence of Sociology, op. cit., S. 224. 121 Ibid. 122 Ibid., S. 46. 123 A. Giddens, „Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft“, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (6. Aufl.), S. 157. <?page no="825"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 809 Diesen Unterschied fasst Beck in seinem Kommentar zur Diskussion zusammen: „In der ersten Sicht - für die die Beiträge von Anthony Giddens und Scott Lash stehen - wird ‚reflexive‘ Modernisierung (wortkonsequent, sinnentsprechend) wesentlich an Wissen (Reflexion) über Grundlagen, Folgen, Probleme von Modernisierungsprozessen gebunden, in der zweiten Sicht, für die mein Beitrag steht (…), wesentlich an Nebenfolgen von Modernisierungen.“ 124 Diese Nebenfolgen, auf die sich Becks spätmoderne Risikotheorie konzentriert, gehören dem Bereich des Nicht-Wissens (sowohl des Nicht-Wissen-Könnens als auch des Nicht-Wissen-Wollens) 125 an. Beck fügt erklärend hinzu: „Kurz und zugespitzt gesagt: „Nicht Wissen, sondern Nicht- Wissen ist das ‚Medium‘ reflexiver Modernisierung.“ 126 Radikaler als Giddens stellt Beck die Autorität des Expertenwissens und, wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, auch der Wissenschaft in Frage. Als Beispiele nennt er „die meist ungewollte, unfreiwillige Aufdeckung von Halbwissen, Nicht-Wissen, verdrängtem Nicht-Wissen und entsprechenden Bornierungen im Experten-Wissen selbst“. 127 Zu Recht bemerkt Scott Lash, dass Beck im Gegensatz zu Giddens moderne Reflexivität als „wachsende Freiheit von und zur Kritik der Expertensysteme“ 128 auffasst. Als konkretes Beispiel für risikoreiches Nichtwissen könnte der anfangs sorglose Umgang mit dem feuerfesten Asbest-Material im Baugewerbe angeführt werden. Auch die zuständigen Wissenschaftler- und Expertengruppen wussten nicht (konnten nicht wissen? ), dass dieser Stoff krebserregend ist und menschliche Gesundheit akut gefährdet. In allen Gebäuden, in denen er als Brandschutzschicht verwendet worden war, musste er wieder entfernt werden. Zum Gesundheitsrisiko gesellte sich in diesem Fall also ein wirtschaftlich-finanzielles Risiko. Ein neueres Beispiel ist das so vielseitige und praktische Plastik, das die Weltmeere verseucht, aber aus dem Alltag kaum noch wegzudenken ist. Komplementär zu Giddensʼ Frage „was wissen wir? “ stellt sich somit Becks Frage: „Was wissen wir nicht oder können / wollen wir nicht wissen? “ Beide Fragen beziehen sich auf latente, unabschätzbare Risiken und 124 U. Beck, „Wissen oder Nicht-Wissen? Zwei Perspektiven ‚reflexiver Modernisierung‘“, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, op. cit., S. 289. 125 Vom Ignorieren der Nebenfolgen vor allem im Zusammenhang mit der Dritten Welt spricht Beck in Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Eröffnungsvortrag zum Soziologentag „Unsichere Zeiten“ am 6. Oktober 2008 in Jena, Frankfurt, Suhrkamp, 2008, S. 29: „Das Nebenfolgenprinzip“. 126 U. Beck, „Wissen oder Nicht-Wissen? “, op. cit., S. 298. 127 Ibid., S. 302. 128 S. Lash, „Reflexivität und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Gemeinschaft“, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, op. cit., S. 205. <?page no="826"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 810 stecken den Horizont ab, auf dem sich die Umrisse reflexiver Moderne abzeichnen: „Arten, Konstruktionen und Folgen des Nicht-Wissens über Risiken industrieller Modernisierung sind das Schlüsselproblem im Übergang zur zweiten, reflexiven Moderne.“ 129 Im Bereich des Nichtwissens können kollidierende wissenschaftliche Hypothesen und die für sie verantwortlichen und miteinander konkurrierenden Wissenschaftler- und Expertengruppen auftreten. Beck spricht in diesem Zusammenhang von einer „Pluralisierung von Rationalitäten und Wissensakteuren“. 130 Dabei gerät er abermals in die Nähe postmoderner Denker wie Lyotard, Bauman oder Welsch, die in der Vielfalt der miteinander konkurrierenden Rationalitäten ein Charakteristikum der Postmoderne erblicken. Diese Vielfalt zwingt zum Dialog, der stets Reflexion und Selbstreflexion beinhaltet. Die Originalität von Scott Lashs Beitrag zur Diskussion besteht u.a. darin, dass er auf die fehlende ästhetische Reflexion bei Giddens und Beck hinweist: „Meine Argumentation“, lautet der Kernsatz in seinem Kommentar, „unterschied sich von derjenigen Becks/ Giddensʼ hauptsächlich in dem Hinweis auf die ästhetische (hermeneutische) Dimension.“ 131 Diese Dimension findet Lash in „Lebensstil-Affinitätsgruppen“ 132 , die beispielsweise einen „grünen“ Lebensstil und eine ihm entsprechende Architektur bevorzugen. Eine ähnliche Einstellung kommt in der „Abkehr von Massenproduktion und Massenkonsum“ 133 , wie es in Lashs Buch Sociology of Postmodernism heißt, zum Ausdruck. Obwohl sich Lashs Ansatz in wesentlichen Punkten mit Giddensʼ und Becks Argumenten überschneidet, weicht er als soziologische Erzählung an entscheidender Stelle von der Moderne-Spätmoderne-Erzählung der beiden anderen Autoren ab. Im Gegensatz zu Giddens, der die Postmoderne in eine ungewisse Zukunft verlegt, im Gegensatz zu Beck, der, wie sich gezeigt hat, vom Postmoderne-Begriff nichts hält und in seinem Beitrag zur Diskussion pauschal vom „postmodernen Untergangslamento“ 134 spricht, bezieht sich Lash immer wieder auf die „Postmoderne“, die er vor allem auf kulturtheoretischer Ebene definiert. 135 Auch hier wird deutlich, 129 U. Beck, „Wissen oder Nicht-Wissen? “, op. cit., S. 306. 130 Ibid., S. 313. 131 S. Lash, „Expertenwissen oder Situationsdeutung? Kultur und Institutionen im desorganisierten Kapitalismus“, in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, op. cit., S. 341. 132 Ibid., S. 357. 133 S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge (1990), 1992, S. 37. 134 U. Beck, „Wissen oder Nicht-Wissen? “, op. cit., S. 292. 135 Vgl. S. Lash, „Reflexivität und ihre Doppelungen“, op. cit., S. 243 sowie „Expertenwissen oder Situationsdeutung? “, op. cit., S. 359. <?page no="827"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 811 dass soziologische Theorien als Erzählungen eher provisorische Konstruk tionen als realistische Wiedergaben der sozialen Wirklichkeit sind. 6. Risikogesellschaft und reflexive Moderne in kosmopolitischer Globalisierung: Ulrich Becks Gesellschaftsmodell Im vorigen Abschnitt und in der Einleitung wurden die Umrisse von Ulrich Becks Theorie erkennbar: Sie überschneidet sich in wesentlichen Punkten mit Giddens Soziologie (Spätmoderne als selbstkritisches Nachdenken über moderne Risiken) und weicht durch ihre Hervorhebung unerkannter Nebenfolgen der Modernisierungsprozesse von Giddens Ansatz ab. Das wirklich Faszinierende an Becks Diskurs, das bisher wenig Beachtung fand, ist jedoch die spätmoderne Figur der Ambivalenz, die Nietzsches Denken durchwirkt und für die modernistischen (spätmodernen) Romane Kafkas, Prousts, Musils und Thomas Manns Doktor Faustus charakteristisch ist. 136 In Jenseits von Gut und Böse stellt Nietzsche den Glauben der Metaphysiker „an die Gegensätze der Werte“ in Frage und fasst die Möglichkeit ins Auge, „daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein“. 137 Diese spätmodern-modernistische Ambivalenz als Einheit der Gegensätze ohne (hegelianische) Synthese wird in Thomas Manns Roman Doktor Faustus in nahezu allen ihren Aspekten ausgeleuchtet, konkretisiert. Im Zusammenhang mit einer der letzten Kompositionen des fiktiven „Tonsetzers“ Adrian Leverkühn bemerkt der Erzähler: „Nun, hab ich nicht, als ich von Leverkühns apokalyptischem Oratorium ein Bild zu geben suchte, auf die substanzielle Identität des Seligsten mit dem Gräßlichsten, die innere Einerleiheit des Engelskinder-Chors mit dem Höllengelächter hingewiesen? “ 138 Auch bei Beck geht es um eine drohende Apokalypse, die sich aus dem Zusammenwirken von atomarer Hochrüstung, Klimawandel und einem sorglosen Umgang mit neuen, unerprobten Technologien ergeben könnte. Wie Thomas Mann und sein zutiefst ambivalenter Held Leverkühn betrachtet Beck die Entwicklung der Menschheit als eine prekäre Gratwanderung 136 Vgl. Vf., L’Ambivalence Romanesque, op. cit., Kap. IV: „Ambivalence et structures narratives“ sowie Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmo dernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, Kap. II: „Joyce und Proust: Der Künstlerroman in der Spätmoderne“. 137 F. Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 568. 138 Th. Mann, Doktor Faustus (1947). Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt, Fischer, 2001 (2. Aufl.), S. 644. <?page no="828"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 812 zwischen Heil und Unheil, wobei das Streben nach Heilung und Erlösung jederzeit in eine Katastrophe umschlagen kann. Davon zeugt eine seiner Hauptthesen, der zufolge es gerade die Erfolge der Modernisierung sind, die auch die tödlichen Gefahren oder Risiken hervorbringen, so dass es jederzeit zu einer „Identität des Seligsten mit dem Gräßlichsten“ kommen könnte. So heißt es etwa in Becks Weltrisikogesellschaft (2007), einem Buch, das den Proustschen Untertitel Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit trägt, im nietzscheanischen Sprachduktus: „Die Kategorie des Risikos eröffnet eine Welt dies- und jenseits der klaren Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen, wahr und falsch, gut und böse.“ 139 Es ist eine nietzscheanische, spätmoderne Welt der Ambivalenz, die auch Kafkas Prozess-Welt ist, in der sich die Iustitia jäh in eine „Göttin der Jagd“ verwandelt. 140 (Es ist kein Zufall, dass Beck immer wieder Autoren wie Kafka und Musil zitiert.) Von Ambivalenz zeugt vor allem das für Beck so wichtige Theorem der Nebenfolge, das ihn von seinem Geistesverwandten Giddens unterscheidet. Die Nebenfolgen der Erfolge von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie sind es, die in der Zweiten Moderne Risiken global vergrößern. Beck führt die Kernspaltung als bahnbrechende, jedoch ambivalente Erfindung an: „Die Geburtsstunde dieser Risikogesellschaft datiert von dem Schock der Kernphysiker über die politischen Folgen der Kernspaltung. Dieser Schock bewirkte eine Aufklärung über sich selbst, stiftete Reflexivität.“ 141 Er spricht von „der historisch völlig neuartigen entscheidungsbedingten Selbstvernichtungsmöglichkeit allen Lebens auf dieser Erde (…)“. 142 Sie ist nicht einseitig als reine Negativität zu betrachten, sondern im Rahmen der Ambivalenz: als Folge oder Nebenfolge des so erfolgreichen und in der Ersten (industriellen) Moderne einseitig gerühmten Fortschritts. Doch die Ambivalenz als Koinzidenz von Fortschritt und Barbarei, Heilsversprechen und Vernichtung kann nicht immer so klar bezeichnet werden wie im Falle der Kernspaltung, in der noch wissenschaftliche Entdeckung und politische Folgen klar zu unterscheiden sind. Man kann Umweltvergiftung zwar verbieten, aber der Bereich des Nicht-Verbotenen ist ein weites Feld wahrscheinlicher Unwahrscheinlichkeiten, so dass es zu „nichtgiftigen Vergiftungen“ kommen kann: „Je geringer der Bereich des Verbotenen, 139 U. Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 22. 140 Vgl. F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1958, S. 108. 141 U. Beck, J. Willms, Freiheit oder Kapitalismus. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms, Frankfurt, Suhrkamp, 2000, S. 198-199. 142 U. Beck, Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (2. Aufl.), S. 121. <?page no="829"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 813 desto größer ist der Bereich der nichtgiftigen Vergiftung, die unsichtbar, unkontrollierbar gemachte Gefährdungen auf Dauer stellt.“ 143 Wie in der spätmodernen Romanliteratur geht das ironische Paradox der „nichtgiftigen Vergiftung“ aus der Ambivalenz als Einheit der Wertgegensätze hervor. Daher lautet Becks Rezept für die nachindustrielle Gesellschaft der Zweiten Moderne: „(…) die Erfindung einer Zivilisation, um die unvorhersehbaren Folgen der eigenen Entscheidungen vorhersehbar zu machen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren“. 144 Wie ist aber Kontrolle in der Ambivalenz möglich? Gentechnologie als solche mag (wie Kernspaltung) unbedenklich sein; unüberschaubar und riskant sind jedoch ihre unabsehbaren Anwendungsmöglichkeiten, die auf mehr oder weniger skrupellose Art genutzt werden können. Sie werden von verschiedenen Wissenschaftlergruppen sehr unterschiedlich beschrieben und bewertet, so dass sich die Ambivalenz auch der Wissenschaft bemächtigt, die in der Ersten Moderne über jeden Verdacht erhaben war. Eine der Kernthesen von Becks Risikogesellschaft lautet: „In Risikodefinitionen wird das Rationalitätsmonopol der Wissenschaften gebrochen.“ 145 Angesichts fragwürdiger oder umstrittener wissenschaftlicher Aussagen zur „Sicherheit“, „Verträglichkeit“ oder „Umweltverträglichkeit“ von Technologien, Medikamenten oder Stoffen wird Wissenschaft gespalten: weil solche Behauptungen mit ebenso fundierten oder unfundierten Gegenbehauptungen konfrontiert werden, so dass Argumentationen zumindest zeitweise unentscheidbar werden. These und Antithese kollidieren, ohne eine Synthese im „Höheren“ zu bilden, ohne die gesuchte Wahrheit hervorzubringen. Beck spricht in diesem Zusammenhang von „Formen der Verwissenschaftlichung des Protests gegen Wissenschaft“. 146 Er will damit sagen, dass Laien in zunehmendem Maße wissenschaftliche Argumente gegen wissenschaftliche Gutachten ins Feld führen, wenn sie der Meinung sind, dass es sich ganz oder teilweise um Gefälligkeitsgutachten handelt, die partikularen Interessen entgegenkommen. Dadurch, meint Beck, unterscheidet sich die gegenwärtige Fortschritts- und Wissenschaftskritik von der (romantischen) vergangener Jahrhunderte: Die Argumente richten sich nicht mehr gegen die Wissenschaft als solche, sondern gegen ihre ideologisch-politische Fungibilität. Dabei behaupten die Kritiker, wissenschaftliche Ansichten zu vertreten und beschuldigen die Gegenseite, Wissenschaft für ihre Zwecke zu missbrauchen. 143 Ibid., S. 190. 144 U. Beck, J. Willms, Freiheit oder Kapitalismus, op. cit., S. 147. 145 U. Beck, Risikogesellschaft, op. cit., S. 38. 146 Ibid., S. 262. <?page no="830"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 814 In den meisten Fällen lässt sich die Gegenseite solche Kritik nicht gefallen und beruft sich ihrerseits auf wissenschaftliche Werte und Normen. So wird Wissenschaft in der Ambivalenz gespalten, und das Adjektiv „wissenschaftlich“ immer wieder mit Anführungszeichen versehen (zumal es in der Werbung für Kosmetika skrupellos ausgeschlachtet wird). Dabei löst sich die Vorstellung von der „wahren Wissenschaft“, ja von Wahrheit selbst in der Ambivalenz, im Aufeinandertreffen konträrer Argumente und Glaubensbekenntnisse auf. Naturwissenschaft und Technologie mögen über wertfreie Terminologien verfügen, aber ihre Erkenntnisse können jederzeit für ideologische Zwecke eingesetzt werden. Dadurch setzt sich Wissenschaft zusammen mit Institutionen wie Politik und Wirtschaft einem permanenten Verdacht aus. Zu diesen drei Institutionen bemerkt Beck: „Sie gelten nicht mehr als Risikomanager, sondern als Quelle des Risikos.“ 147 Wie bei Robert Musil bringt Ambivalenz bei Beck sowohl Paradoxie als auch Ironie hervor, weil gerade die Instanzen, die für Wahrheit und Sicherheit bürgen sollten, diese in der Zweiten Moderne grundsätzlich in Frage stellen. Dazu bemerkt Beck, der das Wort „Ambivalenz“ sporadisch verwendet und sogar von der „Ambivalenz der Weltrisikogesellschaft“ 148 spricht: „Die Radikalisierung der Moderne bringt diese Ironie des Risikos hervor: die Wissenschaften, der Staat und das Militär werden zu einem Teil des Problems, das sie bewältigen sollten.“ 149 Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass auch Becks spätmoderne Erzählung als Aktantenmodell von der Ambivalenz geprägt ist. Sogar in dieser Hinsicht ähnelt sie den spätmodernen Romanen Kafkas, Musils und Prousts, deren fragmentarischer Charakter nicht einfach aus biografischen Brüchen und Verwerfungen ableitbar ist, sondern mit der Tatsache zusammenhängt, dass das Erzählen durch die beobachtete Ambivalenz grundsätzlich erschwert wird: Wo Wahrheit und Lüge, Gutes und Böses, Held und Antiheld nicht mehr sauber zu unterscheiden sind, dort wird auch Greimasʼ Aktantenmodell, das Eindeutigkeit und Dualismus (Subjekt / Antisubjekt) voraussetzt, in Frage gestellt. Zugleich kommen Zweifel an der Erzählbarkeit des Romans und der Wirklichkeit auf: „? Paradoxon: den Roman schreiben, den man nicht schreiben kann“ 150 , heißt es in Musils nachgelassenen Fragmenten. Schon im Zusammenhang mit Giddensʼ Soziologie wurde deutlich, dass die Aktantenfunktionen nicht mehr eindeutig definiert werden konnten: Ist der spätmoderne Staat Helfer oder Widersacher der „ökosozialen Demo- 147 U. Beck, Weltrisikogesellschaft, op. cit., S. 106. 148 Ibid., S. 208. 149 Ibid., S. 108. 150 R. Musil, Gesammelte Werke, Bd. VII (Hrsg. A. Frisé), Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 826. <?page no="831"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 815 kratie“? Könnten sogar die internationalen Konzerne als Helfer in das narrative Programm dieses Subjekt-Aktanten aufgenommen werden? Diese Ambivalenz nimmt bei Beck extreme (nietzscheanische) Formen an und droht das gesamte Aktantenmodell mitsamt der auf ihm gründenden Erzählung zu sprengen. „Ist es überhaupt denkbar“, fragt Beck in einem Interview, „dass sich das sich globalisierende Kapital zum Akteur einer kosmopolitischen Erneuerung der Demokratie aufschwingt? “ 151 Noch expliziter wird der Diskurs in Weltrisikogesellschaft, wo Beck seine Frage aus dem Interview zu bejahen scheint: „Es zeichnet sich ein neues Bündnis zwischen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und den Großkonzernen ab.“ 152 Die Frage ist nun eindeutig beantwortet, aber das Aktantenmodell droht zu zerfallen: Sind die „Großkonzerne“ - in Becks Diskurs - nicht die Widersacher der zivilen Bewegungen? Bei Marx und noch bei einem Vertreter der Kritischen Theorie wie Habermas wäre so etwas nicht denkbar. Denn Becks Frage und Antwort erschüttern die Grundfeste des gesellschaftskritischen Aktantenmodells und wecken Zweifel an der Erzählbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung. Wie sieht sein Modell konkret aus? Zunächst fällt auf, dass sich Becks soziologisches Handlungsmodell in einem wesentlichen Punkt mit Greimasʼ Auffassung des Aktantenmodells überschneidet. Die Aktanten werden auch im soziologischen Kontext im Hinblick auf ihre Funktionen und Modalitäten definiert: „Die Machtchancen der globalen Akteure, ihre Ressourcen, ihr Handlungsraum, ihr Status sind nicht nur prinzipiell aufeinander bezogen, die Akteure kommen überhaupt erst durch ihre ‚Spielzüge‘, aufgrund ihrer Selbstinterpretation, Artikulation, Mobilisierung, Organisierung zustande, gewinnen (oder verlieren) im Gegeneinander ihre Identität und ihre Handlungsmacht.“ 153 Während der Ausdruck „im Gegeneinander“ auf den funktionalen Zusammenhang verweist, bezeichnen Wörter wie „Status“ und „Ressourcen“ die Modalitäten („Sein“, „Wissen“, „Können“) der Aktanten. Vor diesen Hintergrund drängt sich der Gedanke auf, dass die „Großkonzerne“ über wesentlich stärkere Modalitäten („Ressourcen“) verfügen als ihre ökosozialen Gegenspieler, die gezwungen sind, sich funktional am Widersacher zu orientieren und zu definieren, indem sie sein Handeln verneinen („bremsen“), ohne ein eigenes narratives Programm in die Wege leiten zu können. Im Übrigen stimmt Becks Modell weitgehend mit Giddensʼ Modell überein. Beck spricht in Weltrisikogesellschaft von einem „Universaldrama“ 154 , 151 U. Beck, J. Willms, Freiheit oder Kapitalismus, op. cit., S. 288. 152 U. Beck, Weltrisikogesellschaft, op. cit., S. 16. 153 U. Beck, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 153-154. 154 Ibid., S. 185. <?page no="832"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 816 das sich bei näherer Betrachtung seines Werks aus folgenden Akteuren und Aktanten zusammensetzt: Das kollektive oder eher: abstrakte (stets konstruierte) Antisubjekt ist - wie bei Giddens - ein „neoliberaler, globaler Kapitalismus“. Von ihm zeugt die folgende narrative Sequenz, in der ein Teil der zeitgenössischen sozio-ökonomischen Entwicklung rekonstruiert wird: „Es breitet sich ein global desorgansierter Kapitalismus aus.“ 155 Er hat im Prinzip zumindest keinen Gegenspieler (kein Subjekt), das ihm die Stirn bieten könnte: „Denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime - weder ökonomisch noch politisch.“ 156 Ähnlich wie Luhmann spricht Beck zwar von „Weltgesellschaft“, versieht den Begriff aber mit einer anderen Bedeutung, weil er an der Vorstellung des Nationalstaates festhält, den er als kollektiven Aktanten auftreten lässt: allerdings in einem transnationalen, globalen Kontext, der tradierte Vorstellungen vom autonomen oder gar autarken Staat obsolet werden lässt und einen „methodologischen Kosmopolitismus“ erheischt, der den „methodologischen Nationalismus“ 157 ablösen soll. Die Ideologie des „global desorganisierten Kapitalismus“, die mit seinem (narrativem) Programm zusammenfällt, bezeichnet Beck in partieller Übereinstimmung mit Giddens auch als „neoliberalen Globalismus“. 158 Dessen Zukunftsvision könnte als Ausdehnung des rein marktwirtschaftlichen Denkens auf die gesamte Welt definiert werden (Beck spricht von der „neoliberale[n] Ideologie als Weltmarktherrschaft“). 159 Anhand der hier zusammengetragenen Textelemente nimmt das Antisubjekt nun als „neoliberaler, globaler Kapitalismus“ Gestalt an. Im Sinne des Aktantenmodells fragt Beck selbst: „Wer sind die Akteure des neoliberalen Globalismus? “ 160 Die Antwort lautet: „Weltbank, WTO, OECD, multinationale Unternehmen sowie andere internationale Organisationen, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben.“ 161 Diese Instanzen (zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds: IWF/ IMF) können demnach als Helfer des neoliberalen, globalen Kapitalismus aufgefasst werden. Angesichts dieses multiplen und mächtigen Antisubjekts, das einem unfassbaren Proteus gleicht, stellt sich für Beck die Frage: „Was sind die politischen Alternativen? “ 162 Die Suche nach Alternativen findet im Rahmen des von Beck als relevant postulierten Gegensatzes von negativ konno- 155 U. Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (3. Aufl.), S. 32. 156 Ibid. 157 U. Beck, Der kosmopolitische Blick, op. cit., S. 131. 158 U. Beck, Was ist Globalisierung? , op. cit., S. 204. 159 Ibid., S. 151. 160 Ibid., S. 204. 161 Ibid. 162 Ibid. <?page no="833"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 817 tiertem Globalismus und positiv konnotierter Globalisierung statt. „Globalismus“ ist, wie bereits angedeutet, sowohl Ideologie als auch narratives Programm (Greimas) des „neoliberalen Kapitalismus“. Dies kommt recht deutlich in Becks Buch Was ist Globalisierung? zum Ausdruck: „Die semantische Hegemonie, die öffentlich geschürte Ideologie des Globalismus ist eine Machtquelle, aus der die Unternehmensseite ihr strategisches Potential bezieht.“ 163 In diesem Satz ist zweierlei wichtig: Die Ideologie des Antisubjekts wird für übermächtig, für „hegemonial“ gehalten; für sie und ihre Durchführung als narratives Programm ist die „Unternehmensseite“ (die internationalen Konzerne) verantwortlich. Als Alternative erscheint Beck die „kosmopolitische Demokratie“ 164 , die anhand anderer Textstellen in seinem Werk 165 als „ökosoziale kosmopolitische Demokratie“ 166 und als Subjekt-Aktant der Erzählung rekonstruiert werden könnte. Ein solcher Subjekt-Aktant kristallisiert sich aus Becks Sicht in einem transnational integrierten Europa (in der EU) heraus. Eher als die locker verbundene UNO oder der von der Globalisierung überholte und anachronistisch werdende Nationalstaat wäre die EU in der Lage, dem Globalismus-Programm des „neoliberalen Kapitalismus“ Widerstand zu leisten: „Ohne Europa gibt es keine Antwort auf Globalisierung. Was Europa ist oder sein soll, muß also nicht aus der Vergangenheit hervorgezaubert, sondern als politische Antwort auf die Zukunftsfragen politisch entworfen werden - in allen Themenfeldern: Arbeitsmarkt, Ökologie, Sozialstaat, internationale Migration, politische Freiheiten, Grundrechte. Nur im transnationalen Raum Europa kann die einzelstaatliche Politik vom Objekt drohender zum Subjekt gestalteter Globalisierung werden.“ 167 Aus semiotischer Sicht ist hier die diskursive Konstruktion des Subjekt- Aktanten als „Subjektwerdung“ von Bedeutung. Während ein schwaches, zerfallendes Europa zum Spielball internationaler Großunternehmen zu werden droht, hat ein sich einigendes und schließlich integriertes Europa die Möglichkeit, dem Globalismus-Programm des „neoliberalen Kapitals“ erfolgreich die Stirn zu bieten. In der zitierten Passage zeichnet sich demnach ein Gegenprogramm des Subjekt-Aktanten als Gegenentwurf zum „Globalismus“ ab: „ökosoziale kosmopolitische Globalisierung“. Dabei drängt sich die Frage nach den Helfern auf, die den Subjekt-Aktanten „ökosoziale kosmopolitische Demokratie in europäischer Gestalt“ bei der Verwirklichung seines Programms einer „ökologischen, sozialen und 163 Ibid., S. 203. 164 Ibid., S. 152. 165 Vgl. ibid., S. 223: „ein soziales und ökologisches Europa“. 166 U. Beck, Gegengifte, op. cit., S. 288: „Ökologische Demokratie“. 167 U. Beck, Was ist Globalisierung? , op. cit., S. 262. <?page no="834"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 818 kosmopolitischen Gesellschaft“ (Objekt-Aktant) unterstützen könnten. Auf sie verweisen die Schlüsselbegriffe in Becks Text: „Ökologie“, „Sozialstaat“, „internationale Migration“, „politische Freiheiten“ und „Grundrechte“. In Übereinstimmung mit ihnen nennt Beck immer wieder transnationale Organisationen wie „Greenpeace“, „Frauenbewegungen“, „Amnesty International“ und „Bürgergruppen“, die sich als Helfer des Subjekts profilieren könnten. Er spricht in diesem Zusammenhang von Subpolitik und versucht zu zeigen, wie Bewegungen, Non-Governmental Organisations (NGOs) und Bürgerinitiativen gleichsam von unten auf Wirtschaft und Politik einwirken konnten: „Innen- und Außenpolitik, Umwelt und Technikpolitik sind wesentlich von unten nach oben durch Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung inhaltlich angeregt und mindestens in den Zielpunkten (mit-)gestaltet worden.“ 168 Im vorletzten Wort „(mit-)gestaltet“ schimmert Ambivalenz durch, weil es zu verstehen gibt, dass die Helfer des Subjekts (der „ökosozialen kosmopolitischen Demokratie“) letztlich doch - nolens volens - am narrativen Programm des Antisubjekts, des „neoliberalen Kapitalismus“, mitwirken und sich so in den verhängnisvollen Gesamtzusammenhang einbinden lassen. Als Denker dieser Ambivalenz wendet Beck in Schöne neue Arbeitswelt gleichsam gegen sich selbst ein, „daß diese Greenpeaces und Amnesty Internationals und wie sie alle heißen gleichsam als Friedenstauben, als Schönwettervögel gelten, deren öffentliche Präsenz und politischer Einfluß sich immer dann verflüchtigt, wenn es ernst wird“. 169 (An Beispielen fehlt es leider nicht: von der Erdölgewinnung in der kanadischen Arktis und der Abholzung tropischer Regenwälder bis zum syrischen oder jemenitischen Bürgerkrieg.) Nicht zufällig setzt an dieser Stelle auch die Kritik an Becks Ansatz ein. Stefan Breuer bezieht sich auf die gesellschaftskritischen Kollektivsubjekte oder Helfer, wenn er bemerkt: „Da diese Subjekte aber keine exterritorialen Instanzen, sondern Elemente der Systeme sind, die sich hinter ihrem Rücken formiert haben, ist von ihrer Aktivität ebensowenig Hoffnungsverkündendes zu erwarten wie von der Eigengesetzlichkeit der Systeme.“ 170 In die gleiche Kerbe schlägt Christoph Lau, wenn er die sozialen Bewegungen, auf die sich Beck beruft, mit der in den Kapitalismus integrierten Sozialdemokratie vergleicht und ihre Aktivitäten als „melioristische An- 168 U. Beck, Die Erfindung des Politischen, op. cit., S. 164-165. 169 U. Beck, Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S. 171. 170 S. Breuer, „Das Ende der Sicherheit. Ulrich Becks ‚Gegengifte‘“, in: U. Beck, Politik in der Risikogesellschaft, op. cit., S. 273. <?page no="835"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 819 strengung zur Begrenzung und Minderung von Risiken“ 171 bezeichnet. Durch ihre Präsenz weisen sie nicht über das global-kapitalistische System hinaus, sondern rechtfertigen dessen Weltprogramm, indem sie es durch „konstruktive Kritik“ mitgestalten (s.o.). Nicht zufällig rufen Becks Kritiker immer wieder Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung in Erinnerung, auf die sich auch Beck des Öfteren bezieht. In ihr ging es nicht darum, am Kapitalismus als instrumenteller Vernunft und Naturbeherrschung etwas zu verbessern, sondern darum, der herrschenden Vernunft eine andere entgegenzusetzen: die mimetische, versöhnungsbereite Vernunft kritischer Kunst (vgl. Kap. VI). Auch Marx lag nichts daran, den Kapitalismus zu verändern; er sollte abgeschafft und seine bürgerlich-hegelianische durch eine neue, proletarisch-praktische Vernunft ersetzt werden. Dies meint Breuer, wenn er bemerkt: „Man müßte die gesamte Gesellschaft ändern, um dieser Unverantwortlichkeit beizukommen - aber wer sollte das tun? “ 172 Abermals stellt sich hier die Frage nach dem Subjekt der Geschichte und dem verschwundenen Proletariat, auf dessen Verschwinden Adorno mit einer radikalen Hinwendung zur Kunst reagierte. Unschlüssig umkreist Becks Diskurs Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, ohne eine Lösung der in ihr angeschnittenen Probleme anzubieten. Zu diesem Werk heißt es in Gegengifte: „Das Projekt der technischen Unterwerfung und Perfektionierung der Natur, weitergedacht und durchgeführt, muß früher oder später (und dieses Später sind wir) auch auf die Menschennatur übergreifen. Dabei überlagern und potenzieren sich Natur- und Subjektbeherrschung in einem bestimmten Sinne.“ 173 Angesichts dieser prägnanten Zusammenfassung von Adornos und Horkheimers Kernproblem nehmen sich Becks Lösungsvorschläge in narrativer Form recht bescheiden aus: Den Subjekt-Aktanten „ökosoziale kosmopolitische Demokratie“ kann man jederzeit konstruieren - aber gibt es ihn auch? Seine Helfer - Greenpeace, Amnesty International, Friedensbewegungen - mögen durchaus real sein; aber schlägt gesellschaftliche Entwicklung eine andere Richtung ein, nur weil es Greenpeace gelingt, die öffentliche Meinung so weit gegen Shell aufzubringen, dass dieser internationale Konzern darauf verzichtet, eine Bohrinsel in der Nordsee zu versenken? Zur Stärkung von Becks Position trägt Rainer Winter mit seinem Buch Widerstand im Netz bei, in dem er zeigt, wie sich Protestbewegungen über digitale Medien sammeln und ihre Aktivitäten bündeln können: „Dabei kann eine transnationale Öffentlichkeit gerade durch den Zugang und die 171 Ch. Lau, „Neue Risiken und gesellschaftliche Konflikte“, in: U. Beck, Politik in der Risikogesellschaft, op. cit., S. 254. 172 S. Breuer, „Das Ende der Sicherheit“, op. cit., S. 272. 173 U. Beck, Gegengifte, op. cit., S. 48. <?page no="836"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 820 kompetente Nutzung digitaler Medien, die das demokratische Potential des Internets entfalten, gefördert und getragen werden.“ 174 Die Ambivalenz des Internets besteht indessen darin, dass es auch zur Entfaltung antidemokratischer (nationalistischer, rechtsradikaler) Kräfte beiträgt und daher nicht in seiner Gesamtheit als Instrument der Demokratisierung aufzufassen ist - zumal es auch die Kommunikation der global agierenden Konzerne beschleunigt und intensiviert. Daher drängt sich abermals der hier gegen Giddens gerichtete Einwand auf: Können die sporadisch durchgeführten Aktionen von Greenpeace, Amnesty International oder anderen Non-Governmental Organisations es mit den täglich intensiv kommunizierenden und zusammenarbeitenden Großkonzernen und ihren Organisationen (WTO, IWF) aufnehmen? Zu Recht fragt sich Klaus Dörre in diesem Zusammenhang, ob solche Aktionen nicht darauf hinauslaufen „nur die schlimmsten Folgen ökologischer Zerstörung einzudämmen, die Gefahrenproduktion aber beizubehalten? “ 175 Die wohl unvermeidliche Bejahung dieser Frage bedeutet, dass wir weit davon entfernt sind, die in der Dialektik der Aufklärung umrissenen Gefahren zu bannen, weil sie täglich wachsen. 7. Individualisierung, Risiko und „Life politics“: Von Ulrich Beck zurück zu Anthony Giddens Bisher war im Zusammenhang mit Becks Werk vor allem von gesellschaftsbedrohenden Risiken auf der Makroebene die Rede. Das so entstandene Bild ist insofern unvollständig, als Beck immer wieder auf den Nexus von Makro- und Mikroebene zu sprechen kommt und zeigt, wie sich in der späten Moderne Traditionsschwund, Zerfall der Klassensolidarität, Verwissenschaftlichung, wachsendes Risiko und Individualisierung auf die Lebensgestaltungen von Einzelpersonen auswirken. Die Moderne, so lautet die Diagnose, läutet die Herauslösung der Individuen aus dem Traditionszusammenhang ein und bietet riskante Chancen. Nach Durkheim, Tönnies und Simmel, den Beck immer wieder erwähnt, stellen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim fest: „Die Moderne, die mit dem Anspruch der Selbstermächtigung des Subjekts angetreten ist, löst ihr Versprechen ein. Mit der Durchsetzung der Moderne tritt in kleinen und 174 R. Winter, Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation, Bielefeld, Transcript, 2010, S. 35. 175 K. Dörre, „Schafft sich autoritäre Technokratie selbst ab? Oder: Welche ‚Gegengifte‘ braucht die ‚Risikogesellschaft‘? “, in: U. Beck, Politik in der Risikogesellschaft, op. cit., S. 238. <?page no="837"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 821 großen Schritten an die Stelle von Gott, Natur, System das auf sich selbst gestellte Individuum.“ 176 Dieser Diagnose kann nur zugestimmt werden, zumal sie nicht nur von den hier genannten Soziologen, sondern auch von älteren Philosophen und Kritikern des Hegelschen Systems wie Nietzsche, Sören Kierkegaard, Max Stirner und Jean-Paul Sartre vorweggenommen wird. Zu Recht zitieren Beck und Beck-Gernsheim Jean-Paul Sartre: „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt.“ 177 Diese Ansicht rückt jedoch nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung ins Blickfeld und belässt den komplementären Aspekt im Dunkeln: die Vereinsamung und Isolierung des individuellen Subjekts, die Subjektivität schwächen und in eine Krise stürzen können. Nicht erst in David Riesmans bekannter soziologischer Studie The Lonely Crowd (1950, dt. Die einsame Masse, 1958) wird die Schwächung der Individuen in einer von der Vereinzelung und Vereinsamung geprägten Massengesellschaft zur Sprache gebracht, sondern schon bei Sartre selbst, auf dessen Werk sich Beck und Beck-Gernsheim beziehen. In seinem Erstlingsroman La Nausée (1938, dt. Der Ekel,1949) lässt Sartre einen Protagonisten auftreten, der aus allen Traditions- und Wertzusammenhängen heraustritt und sich schließlich sowohl von der äußeren wie von der ihm innewohnenden Natur als Subjekt, als Kulturwesen bedroht fühlt. In Albert Camusʼ L’Etranger (1942, dt. Der Fremde, 1948) gehorcht der Romanheld jenseits aller kulturellen Wertsetzungen seinen natürlichen Impulsen und geht als individuelles Subjekt unter. Ähnlich ergeht es Michele Ardengo in Alberto Moravias Roman Gli indifferenti (1929, dt. Die Gleichgültigen, 1956), dessen Unfähigkeit, sich eine der tradierten Wertsetzungen zu eigen zu machen, ihn als autonomes Subjekt an seiner eigenen Indifferenz zugrunde gehen lässt. Diese Literatur wird deshalb in Erinnerung gerufen, weil sie zeigt, dass der Existenzialismus als spätmoderne (modernistische) Strömung nicht nur die Individualisierung und den modernen „Selbstermächtigungsanspruch des Subjekts“ betont, sondern auch die Kehrseite der individuellen Subjektivierung hervortreten lässt: den möglichen Zerfall des Subjekts jenseits von Tradition, Wertsystem und Klassensolidarität. Von Beck (Beck- Gernsheim) wird diese Kehrseite durchweg vernachlässigt. Dabei entgeht Beck die Herauslösung der Individuen aus der schützenden und identitätsfördernden Klassensolidarität, die die Schwächung des Einzelnen durch Traditionsverlust beschleunigt, keineswegs. „Individuali- 176 U. Beck, E. Beck-Gernsheim, „Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie“, in: U. Beck, E. Beck- Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 20. 177 Ibid., S. 14. <?page no="838"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 822 sierungsprozesse rauben den sozialen Klassenunterschieden ihren lebensweltlichen Identitätsgehalt (…)“ 178 , heißt es etwa in Becks Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse? “. An anderer Stelle ist ergänzend vom „Verblassen des Klassencharakters und der Klassenerfahrung im Wohlfahrtsstaat“ 179 die Rede. Beck geht durchaus auch auf die sozialen Folgen dieser „Entbettungsprozesse“ (disembedding, Giddens) ein, die er aus der Sicht des Individuums betrachtet, das auch bei ihm als Fokalisator fungiert. „Vereinsamung“ gehört zweifellos zu den Hauptthemen des Buches Risikogesellschaft, dessen Autor zusammenfassend feststellt: „Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist - zu Ende gedacht - der oder die Alleinstehende.“ 180 Dass diese Vereinsamung zur Verunsicherung und Schwächung des individuellen Subjekts führen kann, wird von Beck ebenfalls erkannt und auch hervorgehoben: „Die Konsequenz ist, daß die Menschen immer nachdrücklicher in das Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung hineingeraten.“ 181 Erstaunlich ist, dass er im Gegensatz zu den spätmodernen Schriftstellern, die, wie sich gezeigt hat, moderne Subjektivität angesichts der „Entbettungsprozesse“ mit Sorge betrachten, ohne jemals den Subjektbegriff aufzugeben, recht einseitig die kreativen Seiten der Subjektwerdung und Identitätsbildung hervortreten lässt. In dieser Hinsicht stimmt er im Wesentlichen mit seinem Geistesverwandten Giddens überein. Trotz der destruktiven Wirkung der Marktmechanismen, auf die er (wie Giddens) des Öfteren zu sprechen kommt und die täglich Werte wie „Ehrlichkeit“, „Zuverlässigkeit“ und „Wahrhaftigkeit“ in wirtschaftlich-finanziellen und politischen Skandalen in Frage stellen, weist er Hermann Brochs Gedanken an einen „Zerfall der Werte“ 182 zurück und spricht von „Wandel“: „So betrachtet erleben wir derzeit keinen Verfall, sondern einen Wandel der Werte, der den Anforderungen einer Zweiten Moderne angemessen ist.“ 183 Solche Behauptungen werden bei Beck (wie bei Giddens) selten empirisch konkretisiert. Wer das wirtschaftliche und politische Geschehen beobachtet und Bourdieus Analysen des „journalistischen Feldes“ kennt, mag freilich zu einem anderen Befund gelangen. 178 U. Beck, „Jenseits von Stand und Klasse? “, in: U. Beck, E. Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, op. cit., S. 57. 179 U. Beck, Gegengifte, op. cit., S. 246. 180 U. Beck, Risikogesellschaft, op. cit., S. 199. 181 Ibid., S. 156. 182 Vgl. H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/ 32), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 418 ff. 183 U. Beck, Weltrisikogesellschaft, op. cit., S. 391. <?page no="839"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 823 In diesem Kontext spricht Beck von „Perspektiven einer persönlich-biographischen Lebensführung“ 184 , von der „Individualisierung sozialer Risiken“ 185 , vom „tägliche[n] Ringen um die Autonomie des Lebens“ 186 und von einer „altruistisch verstandenen sozial bewußten Individualität“ 187 , die er für ein Kernelement sozialer Bewegungen hält. Es soll nicht bestritten werden, dass es diese Art von Individualität gibt und dass sie als „Engagement“ zum Fortbestand und zur Dynamik sozialer Bewegungen beiträgt. Beck fasst jedoch wie Giddens Individualisierung und Subjektivierung eindimensional auf, wenn er trotz seiner Hinweise auf die Vereinsamung und Verunsicherung des Einzelnen versucht, das „Wertsystem der Individualisierung“ 188 gegen jeglichen Egoismus- und Narzissmus-Verdacht abzuschirmen: „Diese neuen Wertorientierungen werden daher auch leicht als Ausdruck von Egoismus und Narzißmus (miß)verstanden.“ 189 Vereinsamung und Verunsicherung können selbstverständlich in soziales, politisches oder religiöses Engagement münden. Sie können aber auch bewirken, dass sich isolierte Individuen in einer kommerzialisierten Gesellschaft einem narzisstischen Konsum hingeben, der vor allem den eigenen Körper zum Gegenstand macht: in Kleidung, kosmetischer Pflege und täglichem Training. Im letzten Teil dieses Buches soll deutlich werden, dass in einer vom Tauschwert beherrschten Gesellschaft „neue Wertorientierungen“ möglicherweise eine nur untergeordnete Rolle spielen, während die von Werbung und Medien begünstigte, konsumbedingte Ausrichtung auf das eigene Ich dominant ist. Diese Flucht in Egoismus und Narzissmus ist jedoch nicht das einzige Risiko der späten Moderne oder Postmoderne. Möglich ist auch eine Flucht in religiöse Sekten oder stammesähnliche Gruppen, die Michel Maffesoli (vgl. Kap. XXIII) als postmoderne „Stämme“ (tribus) bezeichnet. Er versucht zu zeigen, dass in diesen Gruppierungen Individualität völlig untergeht, weil ihre Mitglieder Konformismus, Anpassung und Ähnlichkeit (mechanische Solidarität, Durkheim) geradezu suchen. Sie flüchten aus der Welt der undurchschaubaren Abstraktionen, Institutionen und Abhängigkeiten. Schließlich ist auch die Flucht in radikale, subjektnegierende Ideologien eine alltäglich beobachtbare Realität: im religiösen Fundamentalismus, im rechts- oder linksradikalen Populismus oder im militanten Regionalismus. 184 U. Beck, „Jenseits von Stand und Klasse? “, op. cit., S. 46. 185 Ibid., S. 58. 186 U. Beck, Weltrisikogesellschaft, op. cit., S. 388. 187 Ibid., S. 393. 188 U. Beck, Risikogesellschaft, op. cit., S. 157. 189 Ibid. <?page no="840"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 824 „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an“ 190 , schreibt Althusser, und Karl-Dietrich Bracher ergänzt: „Das Bedürfnis nach Weltanschauungen, die Anfälligkeit für den Gebrauch und Mißbrauch politischer Ideologien wird gerade im Augenblick der neuen dramatisierten Fortschrittsbrechungen spürbar und mobilisierbar.“ 191 Ideologien mögen sich im Übergang von der Ersten zur Zweiten Moderne oder zur Postmoderne wandeln, aber sie können jederzeit Individuen als Subjekte, als „Unterworfene“ (sub-iectum = Zugrundeliegendes, Unterworfenes) vereinnahmen. 192 Beck unterscheidet zwar grundsätzlich Risiko-Biografien von Gefahren- Biografien, verzichtet aber auf eine konkrete Benennung und Beschreibung der Gefahren, wenn er lediglich feststellt, „daß die Grenze zwischen noch kalkulierbarer Risiko-Biographie und nicht mehr kalkulierbarer Gefahren-Biographie der Subjektivität des Meinens, Unterstellens, Erwartens, Hoffens und Unkens Tor und Tür öffnet“. 193 Die spätmoderne Ambivalenz, die auch in diesem Text gleichsam zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommt, bewirkt, dass die Grenze zwischen Risiko und Gefahr unbestimmbar wird, weil die Flucht in Narzissmus, Sekte, „Stammesgemeinschaft“ (Maffesoli) und Ideologie jederzeit möglich ist. Das sagt Beck jedoch nicht; er bleibt an der Grenze von Risiko und Gefahr stehen und lässt den häufig kommentierten Nexus von Individualismus, Egoismus und Narzissmus 194 außer Acht. Die Kehrseite der individualistischen Medaille wird bei Gilles Lipovetsky in L’Ere du vide (1983, wörtl. Die Ära der Leere) sichtbar, wo vom „Schwund des öffentlichen Raums“ 195 und seiner Wertsetzungen die Rede ist. Im Mittelpunkt steht „der sich selbst suchende Narzisst, ganz und gar von sich selbst eingenommen und jederzeit in Gefahr zu versagen oder zusammenzubrechen, sobald ein Rückschlag droht, dem er ungeschützt, ohne äußere Hilfe begegnen muss“. 196 Diese spätmodern-postmoderne Gestalt kommt auch bei Giddens nicht vor, der Individualisierung vorwiegend als Emanzipationsprozess betrachtet, ohne auf ihre Schattenseiten zu achten. In seinen Life politics steht die 190 L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg-Berlin, VSA, 1977, S. 140. 191 K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart, DVA, 1982, S. 18. 192 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VIII: „Die diskursiven Verfahren der Ideologie“. 193 U. Beck, Was ist Globalisierung? , op. cit., S. 256. 194 Vgl. A. Wintels, Individualismus und Narzißmus. Analyse zur Zerstörung der Innenwelt, Mainz, Grünewald, 1999. 195 G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris, Gallimard (1983), 1993, S. 61. 196 Ibid., S. 67. <?page no="841"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 825 Selbstgestaltung im Vordergrund: „Der Körper selbst wurde emanzipiert - die Bedingung für seine reflexive Neustrukturierung.“ 197 Dass Reflexivität auch Selbstbezogenheit im Sinne des Freudschen Narzissmus bedeuten kann, wurde weiter oben erwähnt. Sie wird durch ihre Ausrichtung auf den kommerziell umworbenen Körper noch verstärkt. Diese Tatsache bleibt zusammen mit der ideologischen Vereinnahmung des Individuums sowohl bei Giddens als auch bei Beck unterbelichtet. Dadurch entsteht eine Leerstelle in der Theorie. Es ist eine der Aufgaben des Dialogs und des Vergleichs, Leerstellen dieser Art sichtbar zu machen. Da sie zumeist durch Einseitigkeiten hervorgebracht werden, die mit der Neigung eines jeden Diskurses zusammenhängen, sich monologisch mit der Wirklichkeit zu identifizieren und Gegenpositionen absichtlich oder unabsichtlich auszuschließen, lässt Dialogizität die Gegenstimme zu Wort kommen. Dadurch wird zwar nicht der Gesamtzusammenhang erfasst, sehr wohl aber auf seine Existenz hingewiesen, der keine Theorie gerecht werden kann, weil alle Relevanzkriterien und die aus ihnen hervorgehenden Diskurse (Erzählungen) partikular sind. Zusammenfassung und Ausblick: Anthony Giddens und Ulrich Beck werden in Übereinstimmung mit ihrem Selbstverständnis als Vertreter einer Spätmoderne („late Modernity“, Giddens, „Zweite Moderne“, Beck) kommentiert, die die beiden Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen lassen, als angesichts der atomaren Bedrohung, der sich häufenden Umweltkatastrophen und der Ausbreitung neuer Epidemien (HIV, BSE) Zweifel an der Beherrschbarkeit des als ambivalent erscheinenden modernen Fortschritts aufkommen: Seine Segen ziehen risikoreiche Nebenfolgen nach sich, die ein Reflexivwerden der Moderne erzwingen. Dieser Gedankengang ist zwar nachvollziehbar, sollte aber durch die Überlegung ergänzt werden, dass die Selbstkritik der Moderne nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern schon bei Soziologen wie Pareto, Tönnies und Simmel einsetzt, die Marxʼ, Comtes und Spencers Fortschrittsglauben nicht mehr teilen. Die Stichworte „Reflexivität“ und „Selbstkritik“ (der Moderne) charakterisieren die sich in wesentlichen Punkten überschneidenden Soziologien von Giddens und Beck. Giddensʼ „doppelte Hermeneutik“ zeugt davon: Sie gründet auf dem Gedanken, dass die Soziologie es (anders als die Naturwissenschaften) nicht mit sprachlosen Objekten zu tun hat, sondern mit Menschen und Menschengruppen, die zugleich Subjekte sind, deren Alltagssprache in die soziologische Terminologie eingeht und sich dieser Terminologie bedient. Dieser Ansatz ist 197 A. Giddens, Modernity and Self-Identity, op. cit., S. 218. <?page no="842"?> Von Anthony Giddens zu Ulrich Beck 826 durchaus als kommunikativ und hermeneutisch zu bezeichnen, unterscheidet sich aber von Habermasʼ Theorie des Kommunikativen Handelns in zwei Punkten: Giddens akzeptiert nicht Habermasʼ Unterscheidung zwischen Arbeit als instrumentellem und Kommunikation als verständigungsorientiertem Handeln: denn, gibt er zu bedenken, Arbeit ist ohne Kommunikation nicht vorstellbar. Zugleich wendet er gegen Habermas ein, dass nahezu allen Formen sozialer Interaktion ein Machtfaktor innewohnt. Diesen fasst er nicht nur negativ auf und betont in seiner Theorie der „duality of structure“, einem Versuch, Subjektivismus und Objektivismus, Handlung und Struktur zusammenzuführen, dass Macht auch individuelle Freiheit fördert und dass die Struktur den Handelnden nicht nur Beschränkungen auferlegt, sondern ihnen auch Möglichkeiten bietet, indem sie ihre Handlungsfähigkeit als „Agency“ stärkt. Diese Perspektive, die aus Giddensʼ Begriff des „disembedding“ als Herausführung der Individuen aus Tradition und Unmündigkeit ableitbar ist, wird sowohl von der sozialen als auch von der systemischen Integration verdeutlicht: Vor allem die systemische Integration (durch Post, Telefon, Internet) bietet Individuen neue Spielräume. In dieser Hinsicht weicht Giddens, der die „Agency“ als Handlungsfähigkeit betont, von Bourdieu ab, der mit seinem Habitus-Begriff eher den strukturalen Standpunkt einnimmt. Der Agency-Begriff wohnt auch Giddensʼ Aktantenmodell inne, in dem das Subjekt „ökosoziale Demokratie“ und seine Helfer (Bewegungen, Bürgerinitiativen) dem Antisubjekt „neoliberaler Kapitalismus“ Widerstand leisten. Die Diskussion zwischen Giddens, Beck und Scott Lash zeigt, dass Becks Aktantenmodell weitgehend dem seines britischen Gesprächspartners entspricht. Beck hebt jedoch die dem „neoliberalen Kapitalismus“ innewohnende Globalisierungstendenz stärker hervor, die eine Ideologie des „Globalismus“ begleitet. Als Alternative befürwortet er eine „ökosoziale kosmopolitische Globalisierung“, in der einem sich vereinigenden Europa eine besondere Rolle zufällt. Becks Ambivalenz besteht darin, dass er schließlich auch Regierungen und internationale Konzerne in den „ökosozialen, kosmopolitischen“ Prozess einbeziehen möchte. An diesem neuralgischen Punkt droht sein Aktatenmodell zu zerfallen, weil nicht mehr erkennbar ist, wer zu den Helfern und wer zu den Widersachern des Subjekt- Aktanten „ökosoziale Demokratie“ gehört. Im nächsten Kapitel soll im Zusammenhang mit Baumans Kritik der Moderne deutlich werden, dass sich spätmoderne und postmoderne Auffassungen der Gesellschaft überschneiden, dass aber die von Giddens und Beck vorwiegend positiv konnotierte Individualisierung als zunehmende moderne Autonomie an Grenzen stößt. <?page no="843"?> 827 Vierter Teil: Postmoderne Soziologien Nicht die Frage, ob der Postmoderne-Begriff etwas Konkretes bezeichnet oder eine Schimäre evoziert, ist relevant, sondern die Frage, welchen Erkenntnisgewinn er ermöglicht und was man mit Hilfe postmoderner soziologischer Theorien beobachten kann. Diese Theorien gehen von bestimmten Schlüsselbegriffen aus, deren Komplementarität im Folgenden konstruiert und plausibel gemacht werden soll. Die realistisch-mimetische Frage, ob sie in ihrer Komplementarität der Wirklichkeit entsprechen, ist nicht entscheidend, weil der hier vorgeschlagene Entwurf bestenfalls durch andere Konstruktionen als begriffliche Klassifikationen ersetzt werden kann, die - je nach individueller oder kollektiver Wahrnehmung - als ergiebiger oder weniger ergiebig erscheinen mögen. Dies gilt auch für die in diesem Buch vorgeschlagene globale Konstruktion der Entwicklung „von der Moderne über die Spätmoderne zur Postmoderne“: Sie hat heuristischen Charakter und konkurriert mit den Entwürfen von Touraine, Giddens und Beck. Dieser Konstruktivismus gilt nicht in gleichem Maße für alle Gegenstände der Sozialwissenschaften. Der Deutsche Bundestag etwa kann in Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie auf verschiedene Arten konstruiert werden, aber diese Konstruktionen sind an einem konkreten Gegenstand größtenteils überprüfbar. Epochenbegriffe haben einen anderen Status: Sie bezeichnen keine konkreten Gegenstände, sind kultur- und sprachbedingt und haben einen hypothetisch-heuristischen Charakter. Davon zeugt der „Sturm- und Drangbegriff“, den es im Englischen und Italienischen nicht gibt: In britischen und italienischen Enzyklopädien werden daher Autoren der deutschen Sturm- und Drangzeit (etwa Goethe und Schiller) häufig als „Romantiker“ klassifiziert. Der Nachweis, dass wir in der Postmoderne und nicht etwa in der „Spätmoderne“ („late modernity“, Giddens) oder der „Zweiten Moderne“ (Beck) leben, wird kaum jemals gelingen. Er gelingt auch dann nicht, wenn man es wie Fredric Jameson mit kategorischen Behauptungen versucht: „The point is that we are within the culture of postmodernism to the point where its facile repudiation is as impossible as any equally facile celebration is complacent and corrupt.“ 1 1 F. Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham-North Carolina, Duke Univ. Press, 1991, S. 62. <?page no="844"?> Postmoderne Soziologien 828 Im Folgenden soll weder widerlegt noch gefeiert, sondern es soll anhand der bisher vorliegenden Ergebnisse die Konstruktion einer Problematik vorgeschlagen werden, in der bestimmte komplementäre Probleme ineinander greifen, auf die verschiedene soziologische Theorien (Bauman, Baudrillard, Sennett, Foucault, Maffesoli) teils unterschiedlich, teils übereinstimmend reagieren. Von Marx bis Simmel und Habermas wird das Eindringen der Marktgesetze und der Geldwirtschaft in nahezu alle sozialen Bereiche beobachtet, und Ulrich Beck spricht von einem neoliberalen „Globalismus“, der sich anschickt, die Welt seinem Profitdenken zu unterwerfen. Die Frage, wer in dieser Erzählung am längeren Hebel sitzt, beantwortet er recht eindeutig: „Doch während die neuen Anbeter des Marktes handeln, und zwar sehr effektvoll, begnügen sich die Kommunitarier im wesentlichen mit Kosmetik.“ 2 Vor diesem Hintergrund wird die Postmoderne in einem ersten Schritt als Wirtschaftsgesellschaft betrachtet, in der Werte wie „Menschlichkeit“, „Wahrheit“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ dem alles vermittelnden Tauschwert unterworfen sind und dadurch problematisch werden. Baudrillard, der in diesem „Vierten Teil“ nach Baumann kommentiert wird, mag maßlos übertreiben, wenn er behauptet, dass der Tauschwert der einzige übrig gebliebene Wert ist, so dass er nicht einmal bezeichnet werden kann; aber er hat gar nicht so Unrecht, wenn man ihn cum grano salis so deutet, dass er eine Entwicklung beschreibt, die noch nicht abgeschlossen ist. Denn auch Bauman reagiert auf dieses Problem, indem er in anderen Zusammenhängen auf die „Kommodifizierung“ der Gesellschaft und der Menschen hinweist - und es gibt zahlreiche Studien, die das Vordringen der Marktmechanismen in nahezu alle Bereiche der Gesellschaft belegen. 3 In diesem Kontext werden die von Jean-François Lyotard in La Condition postmoderne (1979, dt. Das postmoderne Wissen, 1986) verabschiedeten „Metaerzählungen“, die Großerzählungen des Christentums, des Rationalismus und des Marxismus, unglaubwürdig, weil sie auf Werten wie „Menschlichkeit“, „Wahrheit“ (im Sinne von Comtes „wissenschaftlichem Stadium“) und „Gerechtigkeit“ (im Sinne von Marx) gründen, die dem „Wieviel“ (im Sinne von Simmel) weichen. Dadurch entsteht das Problem der Glaubwürdigkeit gesellschaftlicher Werte, auf das nahezu alle spätmodernen und postmodernen Diskurse reagieren. 2 U. Beck, „Kinder der Freiheit“, in: U. Beck (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 26. 3 Vgl. M. Priesching, „Vermarktlichung - ein Aspekt des Wandels von Koordinationsmechanismen“, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 18: „Alles käuflich“, Marburg, Metropolis Verlag, 2002, S. 20. <?page no="845"?> Postmoderne Soziologien 829 Eines verbindet postmoderne Soziologen wie Bauman, Baudrillard, Sennett und Maffesoli mit ihren spätmodernen Vorgängern von Pareto bis Giddens und Beck: die von Lyotard diagnostizierte „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“. 4 Es fällt jedoch auf, dass diese Skepsis bei den Postmodernen stärker ausgeprägt ist als bei den Autoren der Spätmoderne. Diese neue Einstellung hängt u.a. damit zusammen, dass es Marxisten und Sozialisten nicht gelungen ist, die kapitalistischen Verhältnisse zu überwinden und dass die zuletzt im Jahre 1968 angestrebte Überwindung misslang. Auf dieses moderne Scheitern folgt die postmoderne „Verwindung“, die Gianni Vattimo für ein Merkmal unserer Epoche hält: „Es ist nun genau der Unterschied, zwischen Verwindung und Überwindung, der uns helfen kann, das ‚post‘ der Postmoderne philosophisch zu bestimmen.“ 5 Aber was bleibt nach dem Zerfall der großen „Metaerzählungen“, der Individuen und Gruppen mit neuen Problemen konfrontiert? Man könnte antworten: die unzähligen ideologischen Reaktionen auf den „Nihilismus des Tauschwerts“ (Vattimo) 6 , die religiöse Grundsätze, Lebensweisen, Sprachregelungen, Essgewohnheiten und Glaubensbekenntnisse aller Art dogmatisieren und als Kleinideologien in dualistisch strukturierten Diskursen monologisch verteidigen. Ihre Konflikte tragen zusammen mit den Marktmechanismen, denen sie sich widersetzen, wesentlich zur Entwertung des Wertsystems und seiner Wort-Werte bei. Davon zeugt George Orwells bekannte Parodie der ideologischen Propaganda in Nineteen eighty-four: „WAR IS PEACE, FREEDOM IS SLAVERY, IGNORANCE IS STRENGTH“. Die ideologischen Partikularismen, die sich oft in Subkulturen artikulieren und von Michel Maffesoli mit postmodernen „Stämmen“ assoziiert werden, erscheinen zugleich als Reaktionen auf den modernen Universalismus, den Philosophen wie Descartes, Kant und Hegel vertraten und der sich in seiner einfachsten Form in dem Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ niederschlug. Friedrich H. Tenbruck, der keinesfalls als postmoderner Denker einzustufen ist, fasst die Möglichkeit ins Auge, dass wir uns vom modernen Universalismus, auf dem Descartesʼ Cogito, Kants Ethik und Marxʼ „klassenlose Gesellschaft“ gründen, werden verabschieden müssen: „Nur eine Alternative wäre denkbar: daß der Gedanke der universalistischen Wahrheit am Ende wieder aus der Welt käme, so wie er einmal in sie hineingekommen ist. Auf solchen Pluralismus, in dem die Wahrheit sich auf dem Platz einer wie immer definierten praktischen und faktischen Richtigkeit 4 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Passagen, 1986, S. 14. 5 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. 6 Ibid., S. 25: „Auf diese Weise ist der Nihilismus die Reduktion von Sein auf Tauschwert.“ <?page no="846"?> Postmoderne Soziologien 830 einzelner Aussagen bescheiden müßte, deuten viele Anzeichen hin. Denn seit langer Zeit sind wieder Lehren offensichtlich erfolgreich, welche sich nicht an universalistischen Wahrheitskriterien orientieren. Es sind auch nicht nur religiöse Sekten und Kulte, welche sich rein für das anbieten, was sie sind, ohne nach anderen Bekenntnissen zu fragen. Auch durch die neue Jugendkultur weht mächtig der partikularistische Zug (…).“ 7 Dies ist eine treffende Beschreibung des Übergangs vom modernen Universalismus zum postmodernen Partikularismus. Er gehört zu den Kernthemen der folgenden Kapitel. Dieser Partikularismus, der die Gesellschaft als Vielfalt oder fragmentierte Welt erscheinen lässt, kann durchaus als Pluralismus gefeiert werden. Dazu bemerkt Wolfgang Welsch, ein Vertreter der Postmoderne: „Die Romantik hat noch für Einheit plädiert oder ihr zumindest nachgetrauert. Die Postmoderne folgt einem anderen Leitbild: Sie setzt radikal auf Vielheit.“ 8 Dieses Plädoyer für Vielfalt wird von postmodernen Soziologen - von Bauman bis Sennett und Maffesoli - variiert. Dabei wird zumeist übersehen, dass drastische Pluralisierung oder Partikularisierung, die oft im beziehungslosen Nebeneinander esoterischer Weltbilder zum Ausdruck kommt, in Indifferenz als Austauschbarkeit von Wertungen und Positionen umschlagen kann: Den Außenstehenden, Nicht- Mitgliedern und Uneingeweihten erscheinen diese Weltbilder als unverständlich und austauschbar: als indifferent. Dadurch wird die Wertindifferenz des Tauschwerts nicht nur bestätigt, sondern verstärkt. Sie wird bestätigt, weil zwischen den vielen Subkulturen und ideologischen Glaubensbekenntnissen nur der Geldwert, der von allen anerkannt werden muss, vermitteln kann. Durch ihre Konflikte entwerten die Ideologien die Sprache und steigern die marktbedingte Wert-Indifferenz, die sie ihrem Selbstverständnis nach bekämpfen. Dies ist der Grund, weshalb die Indifferenz zu den Hauptcharakteristika der Postmoderne gehört. Eine mehrdimensionale Konstruktion der Postmoderne als Problematik (als Ensemble komplementärer Probleme) setzt daher voraus, dass nicht nur der „Pluralismus“ als Vielfalt wahrgenommen wird, sondern auch und vor allem der Nexus von Werte-Pluralismus und tauschwertvermittelter Indifferenz. 9 Wo Kulturwerte inmitten von marktbedingter Indifferenz dem von Maffesoli verkündeten Relativismus (vgl. Kap. XXIII) zum Opfer fallen, herrscht Orientierungslosigkeit. Sie ist für die Krise des individuellen Subjekts in der 7 F. H. Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990 (2. Aufl.), S. 118. 8 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991 (3. Aufl.), S. 36. 9 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016, S. 101-106. <?page no="847"?> Postmoderne Soziologien 831 postmodernen Gesellschaft verantwortlich und für die Skepsis, mit der Autoren wie Baudrillard, Foucault und Maffesoli den Subjektbegriff betrachten. Postmoderne sollte jedoch auf keinen Fall eindimensional als „Verschwinden des modernen Subjekts“ konstruiert werden, wie es bei Luhmann geschieht, der kein Vertreter der Postmoderne ist, sondern eine Postmoderne-Diskussion beobachtet, in der das Subjekt-Problem häufig erörtert wird, „so daß sich fast der Verdacht aufdrängt, eine Gesellschaft ohne Subjekte wäre nicht mehr eine moderne, sondern eine postmoderne Gesellschaft. Und darum geht heute der Streit“. 10 Nach dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass es in der Postmoderne als Problematik um sehr viel mehr geht als um das „Verschwinden des Subjekts“, das als Thema nur im Zusammenhang mit den anderen Problemen zu verstehen ist: im Zusammenhang mit der tauschwertbedingten Indifferenz, dem Zerfall der Werte und der auf ihnen gründenden Metaerzählungen sowie den ideologischen Reaktionen, die dieser Zerfall hervorruft - und von ihnen noch beschleunigt wird. In dieser Situation wird das individuelle Subjekt hin- und hergerissen zwischen der Scylla der Indifferenz als Orientierungslosigkeit und der Charybdis der ideologischen Vereinnahmung, die oft mit der Unterwerfung unter ein Kollektiv einhergeht. Dieser Unterwerfung hat der postmoderne Michel Maffesoli eine ganze Studie gewidmet, in der er sich mit zeitgenössischen Jugendgruppen befasst, die er als „Stämme“ bezeichnet (vgl. Kap. XXIII). Insgesamt zeigt sich, dass die Postmoderne - wie die Romantik, die Moderne oder die Spätmoderne - nur als relativ komplexe Problematik zu verstehen ist, auf deren Probleme wissenschaftliche, philosophische und politische Diskurse sehr unterschiedlich reagieren. Ihre Komplexität soll in den folgenden Kapiteln in ihren verschiedenen Aspekten zutage treten. 10 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 1029. <?page no="849"?> 833 XX. Moderne und Ambivalenz, Postmoderne, flüchtige Moderne und Individualisierung: Zygmunt Baumans kritische Soziologie als Antwort auf Giddens und Beck Inhaltsverzeichnis 1. Baumans kritische Soziologie als Soziologie der Postmoderne und postmoderne Theorie: Vom „legislator“ zum „interpreter“ 2. Von der „Dialektik der Aufklärung“ zur Postmoderne Lyotards: Vom Universalismus zum Partikularismus 3. Von der Moderne zur Postmoderne, zur „flüchtigen Moderne“: Baumans Aktantenmodelle und die ambivalente Rolle des Nationalstaates 4. Individualisierung und „Life politics“ in der flüchtigen Konsumgesellschaft: Baumans Antwort auf Giddens und Beck 5. Flüchtige Kunst oder „Ende der Kunst“? 6. Individuelle Autonomie. Flüchtigkeit und Narzissmus in der Postmoderne: Gilles Lipovetsky antwortet Bauman Die Soziologien Alain Touraines, Anthony Giddensʼ, Ulrich Becks und Zygmunt Baumans haben zweierlei gemeinsam: die Abkehr vom Historischen Materialismus als moderner Teleologie und das Festhalten an einer kritischen Soziologie, die nach der Möglichkeit einer besseren Gesellschaft fragt (vgl. Abschn. 1). Die Abkehr von der marxistischen Moderne, die stets eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse anpeilt, hat auch bei Bauman eine intensive Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie zur Folge, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der historischen Immanenz des Marxismus brach (vgl. Kap. VI), ohne ihr marxistisches Erbe zu verleugnen. Vor allem in seinem Hauptwerk über Moderne und Ambivalenz (Modernity and Ambivalence, 1991) knüpft Bauman an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) an, um seine Kritik am repressiven Charakter eines universalistischen Rationalismus und sein Plädoyer für Partikularität, Alterität und die Freiheit des Individuums plausibel zu machen. Seine Erzählung „von der universalistischen, vereinheitlichenden Moderne zur postmodernen Partikularität und zur ‚flüchtigen Moderne‘“ stützt sich in ihrer postmodernen Phase auf die Philosophie Jean-François Lyotards. Deren Hauptanliegen ist: den modernen Universalismus (Descartesʼ, Kants, Hegels) durch einen postmodernen Partikularismus zu ersetzen, der den Blick für die irreduzible (sprachliche, kulturelle) Differenz und die Alterität des Anderen schärft. Im zweiten Abschnitt soll hier Baumans Weg von der partikularisierenden Dialektik der Aufklärung Adornos und Hork- <?page no="850"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 834 heimers zu Lyotards postmodernem Partikularismus nachgezeichnet werden. Es wird sich zeigen, dass Bauman einerseits der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers näher steht als dem postmodernen Denken, weil er den Individualisierungsprozess in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rücken lässt, andererseits eher Lyotard als den Frankfurter Denkern folgt, wenn er die für Adorno so wichtige gesellschaftliche (kollektive) Utopie mit Hinweisen auf deren Privatisierung und Partikularisierung verabschiedet. Schon dadurch bezieht er einen postmodernen Standpunkt, von dem aus Utopie als Relikt moderner Illusionen erscheint. Allerdings stellt Bauman in seinen Analysen der „flüchtigen Moderne“ auch die Individualisierung (als Subjektwerdung) in Frage, wenn er behauptet, das Individuum werde in der „flüchtigen Konsumgesellschaft“ auf eine Ware, einen „Fetisch“ reduziert: „Der Individualismus ist in der Verbrauchergesellschaft, was die Ware in der Industriegesellschaft war: ein Fetisch (…).“ 1 Hiermit wird individuelle Subjektivität, das „seiner selbst mächtige und bewußte Subjekt, [das] nicht kapituliert“ 2 , von dem Adorno spricht, grundsätzlich in Frage gestellt, und Bauman nähert seine Zeitdiagnose dem postmodernen Denken Lyotards, Jean Baudrillards (Kap. XXI) und Michel Maffesolis (Kap. XXIII) an. Dieses Denken geht vom Zerfall oder vom Verschwinden des individuellen Subjekts aus. Obwohl in Baumans Gesamtwerk der Gegensatz Universalismus / Partikularismus zentral ist, ändert sich seine Erzählung und das ihr zugrunde liegende Aktantenmodell im Übergang von der Moderne zur Postmoderne und von dieser zur „flüchtigen Moderne“ (vgl. Abschn. 3). Während der „Staat“ als negativ konnotierter kollektiver Aktant in der Moderne für Rationalisierung, Vereinheitlichung oder Gleichschaltung sorgt und im Auftrag des „Universalismus“ handelt, tritt er in der „flüchtigen Moderne“ als Befürworter eines moralischen Handelns auf, das auf soziale Sicherheit, Solidarität und Pluralität ausgerichtet ist. Im dritten Abschnitt soll deutlich werden, dass in Baumans Diskurs zwei - grundsätzlich unvereinbare - Aktantenmodelle und die ihnen entsprechenden Erzählungen koexistieren. Dieses Schwanken zwischen Diskursstrukturen hängt mit dem Zerfall der Marxschen Erzählung zusammen, in der das Proletariat als Subjekt- Aktant im Auftrag der „Geschichte“ die klassenlose Gesellschaft (als Objekt- Aktanten) verwirklichen sollte. 3 Das Verschwinden dieser Erzählung stürzt 1 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 134. 2 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 193. 3 Vgl. P. Beilharz, Zygmunt Bauman. Dialectic of Modernity, London, Sage, 2000, S. 5, wo Beilharz Baumans Kritik an Marx und den Marxisten (z.B. G. Lukács) zusammenfasst: <?page no="851"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 835 die kritischen Gesellschaftstheorien der Spät- und Postmoderne in eine schwere Krise, weil eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse nicht mehr möglich erscheint. Dies bedeutet, dass Gesellschaftskritik auf die Frage zurückgeworfen wird, ob und wie die Katastrophe, auf die die gesellschaftliche Entwicklung zuzustreben scheint, noch zu vermeiden sei. Im vierten Abschnitt wird sich zeigen, dass die „sozialen Bewegungen“, die in den Aktantenmodellen Touraines, Giddensʼ und Becks eine wichtige Rolle spielen, von der Bühne der „flüchtigen Moderne“ verschwunden sind. Die Frage, wer, welche Kraft für eine Alternative zum Kapitalismus sorgen könnte, bleibt unbeantwortet. Daher verschwindet in der Postmoderne und in der „flüchtigen Moderne“ auch der Glaube an ein Telos, ein Ziel der Geschichte. In Baumans Buch Flüchtige Moderne (Liquid Modernity, 2000) ist vom „allmählichen Kollaps und de[m] schnellen Zerfall frühmoderner Illusionen“ die Rede, und es folgt der Satz: „Es schwindet der Glaube an ein Ende des Wegs, auf dem wir voranschreiten, an ein erreichbares Telos des historischen Prozesses, an einen Zustand der Perfektion (…).“ 4 Das Schwinden dieses Glaubens ist nicht nur für eine gesellschaftliche Situation kennzeichnend, aus der die Diskurse Touraines, Giddensʼ und Becks hervorgingen, sondern ist auch aus Baumans Lebenslauf ableitbar, der in seinen frühen Phasen vom Marxismus geprägt war. Zu Recht charakterisiert Matthias Junge Baumans Gesinnung oder Weltanschauung als „naturalistische[n] Humanismus im Sinne von Marxens Frühschriften“. 5 Diesen Humanismus hat sich Bauman als Grundeinstellung bis an sein Lebensende bewahrt. Bauman (1925-2017) wurde in Posen / Poznań in einer jüdisch-polnischen Familie geboren, die nach dem nationalsozialistischen Angriff auf Polen (1939) in die UdSSR floh, wo sich Bauman 1943 der polnischen Armee anschloss, in der er es nach dem Krieg bis zum Major brachte. Er war in dieser Zeit Mitglied der Polnischen Arbeiterpartei und überzeugter Marxist. (In dieser Hinsicht ist sein Werdegang durchaus dem Lyotards vergleichbar, der sich der von Cornelius Castoriadis mitbegründeten Gruppierung und Zeitschrift Socialisme ou Barbarie [1949-1965] anschloss, später jedoch dem Marxismus abschwor.) Nach einem Studium der Sozialwissenschaften wurde Bauman 1961 Dozent für Soziologie an der Warschauer Universität und distanzierte sich im Laufe der Zeit vom offiziellen Marxismus. Dies war einer der Gründe, weshalb er „The victims of Bauman’s critique are all those, reformists and revolutionaries alike, who ascribe to the suffering peoples some historical vocation or mission (…).“ (Vgl. Kap. IV.) 4 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (8. Auf.), S. 39. 5 M. Junge, Zygmunt Bauman: Soziologie zwischen Moderne und Flüchtiger Moderne. Eine Einführung, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 12. <?page no="852"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 836 nach dem Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten, als eine Welle des Antisemitismus Polen heimsuchte, 1968 aus dem Hochschuldienst entlassen wurde und mit seiner Familie seine Heimat verlassen musste. Nach Aufenthalten in Israel, Kanada, den USA und Australien wurde er 1971 auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Leeds in Großbritannien berufen, den er bis zu seiner Emeritierung (1990) innehatte. Er wurde 1998 mit dem Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Von seinen marxistischen Anfängen zeugen seine frühen Werke: etwa Socialism: The Active Utopia (1976). Dass die sozialistische Utopie nicht in das 21. Jahrhundert hinübergerettet werden kann, wird jedoch auch in seinem Frühwerk deutlich, wo er u.a. zeigt, wie sich eine Arbeiterelite von der restlichen Arbeiterklasse 6 trennt und als privilegierte Gruppe in das kapitalistische System aufgenommen wird. 7 Die Tatsache, dass das „Proletariat“ auf diese Art auseinanderdividiert wurde, bietet eine Erklärung dafür, dass es als kollektiver Aktant nicht die historische Rolle übernehmen konnte, die ihm von Marx zugedacht war (vgl. Kap. IV). Baumans Kritik moderner „Metaerzählungen“ (Lyotard) und ihrer Teleologien führt zu einer selbstkritischen und skeptischen Einschätzung der Soziologie und ihrer Vertreter: vor allem ihrer modernen Begründer Marx, Comte und Spencer, die meinten, in der gesellschaftlichen Entwicklung Gesetze zu erkennen, und erwarteten, dass nach diesen Gesetzen gehandelt wird. Vor allem Comtes Plädoyer für „wissenschaftliches“ oder „wissenschaftskonformes“ Regieren ist in seinen programmatischen Schriften nicht zu überhören. Bauman mahnt zu mehr Bescheidenheit: Der Soziologe kann nicht Gesetzgeber oder legislator sein, sondern muss sich mit der Rolle des interpreter begnügen. 1. Baumans kritische Soziologie als Soziologie der Postmoderne und postmoderne Theorie: Vom „legislator“ zum „interpreter“ Diese Einschränkung, die von der wachsenden Skepsis modernen Großentwürfen gegenüber zeugt, hält Bauman nicht davon ab, eine engagierte und kritische Soziologie ins Auge zu fassen, die sich von den Ideologemen des Alltagsdenkens distanziert. Wie Giddens weist er auf die Wechselbeziehung 6 Vgl. D. Smith, Zygmunt Bauman. Prophet of Postmodernity, Cambridge, Polity, 1999, S. 70, wo der Autor die drei Gruppierungen erwähnt, die Bauman in seinem Frühwerk unterscheidet: „(…) The working class, the organized labour movement and the elite leadership of that movement.“ 7 Vgl. Z. Bauman, Between Class and Elite. The Evolution of the British Labour Movement. A Sociological Study, Manchester, Univ. Press, 1972 sowie Socialism. The Active Utopia, London, Allen and Unwin, 1976. <?page no="853"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 837 zwischen sozialer Welt und soziologischer Terminologie hin, die eine klare Trennung der Sozialwissenschaft von ihren Objekten als vergebliche positivistische Liebesmühe erscheinen lässt. Zugleich insistiert er jedoch wie Giddens auf der Notwendigkeit kritischer Distanz zum Alltag, dessen common sense bisweilen für natürlich und unabänderlich hält, was von Menschen hervorgebracht wurde und durchaus vergänglich ist. Zur Wechselbeziehung von Sozialwissenschaft und sozialem Leben bemerkt er in Vom Nutzen der Soziologie (Thinking Sociologically, 1990): „Die vom Soziologen erforschten Aktionen und Interaktionen besitzen längst Namen, und selbst Theorien wurden in wie diffuser und undeutlicher Form auch immer gebildet, und zwar von den Akteuren selbst.“ 8 Die Soziologie, betont Bauman, sei „mit dem Gesunden Menschenverstand verschwistert“ und könne sich daher „die erhabene Gleichgültigkeit der Geologie oder Chemie im Umgang mit ihm“ 9 nicht leisten. Diese durchaus realistische Einschätzung einer doppelten Hermeneutik, die eine von den Akteuren des Alltags schon gedeutete soziale Wirklichkeit noch einmal deutet, erinnert an Giddensʼ wesentlich ältere Studie New Rules of Sociological Method (1976). In ihr wird ebenfalls eine positivistische Trennung von wissenschaftlichem Subjekt und seinem Objektbereich als illusorisch kritisiert (vgl. Kap XIX. 1). Bauman scheint dem Autor von New Rules zu folgen, wenn er einerseits die Verwandtschaft zwischen Sozialwissenschaft und Alltagsdenken hervorhebt, andererseits aber eine kritische Distanz zu diesem Denken für unerlässlich hält, weil solches Denken vertraute Bräuche, Stereotypen, Handlungen und Institutionen nicht hinterfragt, sondern sie als gegeben dogmatisiert und festschreibt. Von einer engagierten Soziologie erwartet Bauman, dass sie in diesem Fall als kritischer Störenfried auftritt und das allzu Vertraute verfremdet: „Wenn die Soziologie auf diese vertraute, von Gewohnheiten und sich gegenseitig bestätigenden Überzeugungen regierte Welt trifft, fungiert sie als zudringlicher und oft störender Fremder.“ 10 Man könnte im Sinne der Dialogischen Theorie noch einen Schritt weiter gehen (aber dieser Schritt ist entscheidend) und eine bestimmte soziologische Theorie, die stets aus dem Alltag und seinen Ideologien hervorgeht, mit einer ihr ganz oder teilweise widersprechenden Theorie konfrontieren, um ihre „Überzeugungen“ und vertrauten Annahmen zu erschüttern. Im vorliegenden Fall könnte beispielsweise die von Touraine, Giddens und Beck geteilte Annahme, dass soziale Bewegungen auf die Entwicklung der Gesellschaft einwirken, durch Baumans Hinweise auf die Irrelevanz der Bewegungen relativiert werden (vgl. Abschn. 3). Solche Hin- 8 Z. Bauman, Vom Nutzen der Soziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (3. Aufl.), S. 22. 9 Ibid. 10 Ibid., S. 27. <?page no="854"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 838 weise sind dazu angetan, unser Vertrauen zu Touraines Subjekt-Theorie zu erschüttern und sie mit kritischen Fragen zu konfrontieren - ohne sie in ihrer Gesamtheit zu widerlegen. In weitgehender Übereinstimmung mit Giddens, den er in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, plädiert Bauman für eine selbstkritische, reflektierende Soziologie, die nicht nur über ihr symbiotisches Verhältnis zum Alltagsverstand nachdenkt, sondern auch über ihre Stellung in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund ist sein Aufsatz „Is there a Postmodern Sociology? “ (1988) zu lesen, dem eine Schlüsselrolle in seinem Werk zukommt. In diesem Aufsatz denkt er über die sich wandelnde Position der Soziologie in der Gesellschaft nach und plädiert für eine postmoderne Soziologie, die den groß angelegten Entwürfen, Teleologien und Utopien der Moderne absagt. Sie weist ihren Vertretern, die in der Moderne als Gesetzgeber (legislators) auftraten, die bescheidenere Rolle von Interpreten (interpreters) zu. Postmoderne Soziologie ist nicht länger, wie seinerzeit das moderne Denken, „ein Instrument der Voraussage und der Kontrolle“ („a tool of prediction and […] of control“) 11 , wie es der Autor von Legislators and Interpreters (1987) in Anlehnung an Comtes Maxime „savoir pour prévoir“ („wissen, um zu planen“) ausdrückt. Sie verträgt sich eher mit dem Geist einer postmodernen Problematik, die nach Gianni Vattimo durch das schwache Denken (pensiero debole) 12 zu charakterisieren wäre: ein Denken, das auf die allgemein gültigen Formulierungen von Thesen, historischen Gesetzen und Definitionen verzichtet. An seiner eigenen Stellung in der Postmoderne lässt Bauman in dem oben erwähnten Aufsatz keinen Zweifel aufkommen: „Der Leser wird bemerkt haben, dass ich ‚Moderne‘ aus der Sicht und der Erfahrung der ‚Postmoderne‘ definiere und nicht umgekehrt (…).“ 13 Noch klarer äußert er sich zur neuen Ausrichtung seiner Theorie in Intimations of Postmodernity, wo es von der Soziologie heißt: „It must transform itself into a postmodern sociology.“ 14 Insofern deutet Jens Kastner im Zusammenhang mit Baumans Werk „postmoderne Theorie“ ganz richtig „als eine notwendige Folge postmoderner Gesellschaftlichkeit“. 15 11 Z. Bauman, Legislators and Interpreters. On Modernity, Post-modernity and Intellectuals, Cambridge, Polity, 1987, S. 3. 12 Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 94, G. Vattimo, P. A. Rovatti (Hrsg.), Il pensiero debole, Mailand, Feltrinelli, 1983 sowie M. G. Weiß, Gianni Vattimo. Eine Einführung, Wien, Passagen, 2006 (2. Aufl.), S. 35-46. 13 Z. Bauman, „Is There a Postmodern Sociology? “, in: Theory, Culture and Society, Bd. V: „Postmodernism“, London, Sage, 2.-3. Juni, 1988, S. 226. 14 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S. 26. 15 J. Kastner, Zygmunt Bauman. Globalisierung, Politik und flüchtige Kritik, Wien-Berlin, Turia und Kant, 2015, S. 88. <?page no="855"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 839 In seinen Arbeiten über die „flüchtige Moderne“ („liquid modernity“) verwendet Bauman den Begriff „Postmoderne“ zwar kaum noch, stattet aber die „flüchtige Moderne“ oder „Konsumgesellschaft“ mit Eigenschaften aus, die größtenteils mit denen der Postmoderne übereinstimmen: Vielfalt (Pluralität), Fragmentierung, Partikularisierung, Individualisierung. Auch die „flüchtige Moderne“ steht, wie sich im dritten Abschnitt zeigen wird, im Gegensatz zum modernen Universalismus als Einheitsstreben, das den modernen Soziologen (Marx, Comte und Spencer) als Gesetzgebern oder legislators gemeinsam war. Dazu heißt es in Moderne und Ambivalenz: „Moderne Herrscher und moderne Philosophen waren zuerst und vor allem Gesetzgeber; sie fanden Chaos vor und gingen daran, es zu zähmen und durch Ordnung zu ersetzen.“ 16 Da Bauman in diesem Fall keine Beispiele anführt, soll hier ein kurzer Text aus Auguste Comtes Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne (1820) veranschaulichen, was gemeint ist: „Das Gesetz, das der Geschichte der Wissenschaften und Techniken sowie der allgemeinen Geschichte zugrunde liegt, beherrscht auch den Menschen; es ist die ‚eigentliche Vorsehung‘: Sie tritt an die Stelle der alten theologischen Vorsehung.“ 17 Hier wird deutlich, was Bauman leider nicht ausführt: dass die modernen sozialen „Gesetze“ nicht nur den Naturwissenschaften (vor allem der Physik und der Astronomie) nachempfunden waren, sondern - wie bei Marx - auch in theologischen Vorstellungen, die Comte gerade überwinden wollte, wurzeln. Baumans Gedanke, dass innerhalb der postmodernen Problematik berechtigte Zweifel an der Allgemeingültigkeit moderner „Gesetze“ und an der Autorität der Gesetzgeber aufkommen, ist jedoch plausibel und bestätigt einige Kernargumente, die Giddensʼ und Becks „reflexiver Moderne“ zugrunde liegen. An die Stelle des legislator tritt also der interpreter, der weder Gesetze noch Gesetzmäßigkeiten verkündet, sondern sich mit Deutungen begnügt, die er durchaus als Hypothesen oder Konstruktionen auffasst und zur Diskussion stellt. Matthias Junge weist darauf hin, dass Bauman - als interpreter - gesellschaftliche Erscheinungen mit Hilfe von Max Webers Begriff des Idealtypus konstruiert, der jedoch als Begriff in seinem Werk kaum vorkommt: „Aber der Idealtypus als Methode wird nicht explizit entfaltet, vielmehr wird er in der Anwendung vorgeführt.“ 18 Wie sieht diese Anwendung konkret aus? 16 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt, Fischer, 1995, S. 39. 17 A. Comte, Sommaire appréciation de l’ensemble du passé moderne, Paris, L’Harmattan, 2006, S. 78. 18 M. Junge, Zygmunt Bauman, op. cit., S. 13. <?page no="856"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 840 Im Zusammenhang mit seinen Konstruktionen von „Moderne“ und „Postmoderne“ spricht Bauman zwar von Modellen, aber diese Modelle könnten durchaus auch als Idealtypen im Sinne von Weber aufgefasst werden. Denn der Idealtypus ist eine Konstruktion, die wesentliche Aspekte eines sozialen Phänomens (etwa des Puritanismus) bündelt, die nicht alle in der Wirklichkeit anzutreffen sind - oder nur im äußerst seltenen Idealfall. Zur Beziehung von Moderne und Postmoderne heißt es etwa in Ansichten der Postmoderne (Intimations of Postmodernity, 1992), der Postmoderne-Begriff stelle „die intime, genetische Bindung heraus, die diese neuen, postmodernen gesellschaftlichen Verhältnisse zur Moderne haben - der gesellschaftlichen Formation, die im gleichen Teil der Welt im Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts entstand und ihre letzte Gestalt, die sich später in den soziologischen Modellen der modernen Gesellschaft niederschlagen sollte (oder in den von der modernen Soziologie geschaffenen Gesellschaftsmodellen), während des neunzehnten Jahrhunderts annahm (…)“. 19 Es ist hier von „Gestalten“ und „Modellen“ die Rede, die als Konstruktionen durchaus Webers „Idealtypus“ entsprechen, der von Weber allerdings nicht historisch-genetisch konzipiert war, obwohl ihm historische Komponenten selten fehlten. Von Webers verstehender, nach Wertfreiheit strebender Soziologie weicht Bauman durch sein kritisches Engagement ab, das hier eingangs zur Sprache kam. In Flüchtige Moderne bekennt er sich ohne Umschweife zu einer engagierten Soziologie. Eine „wertfreie“ oder „neutrale“ Soziologie ist für ihn unvorstellbar: „Man hat keine Wahl zwischen einer ‚neutralen‘ und einer ‚engagierten‘ Art, Soziologie zu betreiben. Eine Soziologie, die sich nicht einläßt, ist unmöglich.“ 20 Soziologie reagiert stets auf das Selbstverständnis individueller und kollektiver Akteure und kann nicht umhin, dieses Selbstverständnis direkt oder indirekt - in ihren Erzählungen als Aktantenmodellen - zu deuten und zu bewerten. Dies ist jedoch nicht der einzige Aspekt von Baumans Plädoyer für eine engagierte und kritische Soziologie; der andere ist sein stets gegenwärtiger ethisch-moralischer Standpunkt, dessen Grundlage der „naturalistische Humanismus“ bildet, von dem Matthias Junge spricht (s.o.). Er ist es, der Bauman immer wieder für soziale Solidarität eintreten lässt und ihn mit Adorno und Horkheimer, den Autoren der Dialektik der Aufklärung, verbindet. 19 Z. Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg-Berlin, Argument-Verlag, 1995, S. 221. 20 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 252. <?page no="857"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 841 2. Von der „Dialektik der Aufklärung“ zur Postmoderne Lyotards: Vom Universalismus zum Partikularismus In Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, von der im sechsten Kapitel ausführlicher die Rede war, richtet sich die Kritik vor allem gegen einen positivistischen Rationalismus, der die Vernunft für Zwecke der Naturbeherrschung instrumentalisiert. Indirekt wendet sie sich gegen jede Art von Systemdenken, auch und vor allem gegen das hegelianische, das Adorno in seiner Negativen Dialektik aufs Korn nimmt. Charakteristisch für das von Adorno und Horkheimer gemeinsam verfasste Werk ist der folgende Satz, der auch für das Verständnis von Baumans Soziologie von besonderer Bedeutung ist: „Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt.“ 21 Was für die Aufklärer gilt, gilt auch für die von der Aufklärung geprägte, von Bauman rekonstruierte und radikal kritisierte Moderne: Sie ist auf Vereinheitlichung, Berechenbarkeit und Herrschaft über die Natur aus. Insofern kennt sie nur die instrumentelle Vernunft, die dem Ziel der Naturbeherrschung dient. Diese Vernunft wird von Horkheimer in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft beschrieben: „Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium gemacht worden.“ 22 Statt des Ausdrucks „operativer Wert“ hätte Horkheimer auch den Ausdruck „instrumenteller Wert“ verwenden können. Bauman bezieht sich indirekt auf Horkheimer und die Dialektik der Aufklärung, wenn er von „instrumenteller Vernunft“ spricht, die in der Moderne zur herrschenden Vernunft wurde: „Das genau ist gemeint, wenn man die moderne Handlungsweise als rational bezeichnet: Sie steht unter dem Diktat der instrumentellen Vernunft, die die tatsächlichen Resultate mit dem intendierten Ziel vergleicht und die Aufwendungen an Ressourcen und Arbeit ermittelt.“ 23 In diesem Satz erinnert das Adjektiv „rational“ auch an Max Webers Konzept der Rationalisierung (vgl. Kap. XII), die als Gesellschaftsprozess von der Zweckrationalität beherrscht wird. Diese konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Mittel und Zweck (welche Mittel muss ich einsetzen, um einen bestimmten Zweck, ein bestimmtes Ziel zu erreichen? ) und wirft nicht die Frage nach dem vernünftigen oder unvernünftigen Charakter der Zwecke oder Ziele auf. 21 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik, der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 17. 22 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt, Fischer, 1967, S. 30. 23 Z. Bauman, Vom Nutzen der Soziologie, op. cit., S. 266-267. <?page no="858"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 842 Matthias Junge erinnert daran, dass Bauman nicht nur die instrumentelle Vernunft der Positivisten als moderne Vernunft kritisiert, sondern zugleich auch die den Zivilisationsprozess beherrschende Zweckrationalität im Sinne von Max Weber. Dabei bezieht er sich auf Baumans Buch Modernity and the Holocaust (1989), in dem die Judenverfolgung im Nationalsozialismus als eine Folge instrumenteller, zweckrationaler Natur- und Menschenbeherrschung gedeutet wird. Sie schlägt - wie schon in der Dialektik der Aufklärung - in Irrationalismus und Barbarei um, weil sie die Frage nach dem vernünftigen oder unvernünftigen, dem moralisch akzeptablen oder inakzeptablen Charakter der Zwecke oder Zielsetzungen nicht zulässt. Zur Kernthese des Buches bemerkt Junge: „Diese These knüpft direkt an die Rationalisierungsthese Max Webers an und versucht zu zeigen, dass der Holocaust eine in der Struktur der Moderne angelegte Möglichkeit war.“ 24 Der Versuch, bestimmte Menschengruppen zu vernichten, wurde im Rahmen einer rein instrumentellen Zweck-Mittel-Rationalität unternommen, die ausschließlich Objektbeherrschung und Effizienz in den Blick nahm und alle anderen Erwägungen ausklammerte. Es fragt sich allerdings, ob die Moderne als ganze mit der instrumentellen Vernunft (Horkheimer, Bauman) und der Zweckrationalität (M. Weber) identifiziert werden kann. Bauman vertritt zwar die Ansicht, die Moderne habe stets nach Einheitlichkeit und Eindeutigkeit gestrebt und jede Art von Ambivalenz bekämpft (vgl. Abschn. 3): etwa die Ambivalenz des Juden, der sowohl Deutscher als auch Jude war. Er scheint aber kein Auge für die Ambivalenz der Moderne selbst zu haben. Diese hat nicht nur durch ihre Vervollkommnung von Technik und Bürokratie Konzentrationslager, Gaskammern und sowjetische Gulags ermöglicht, sondern auch die Emanzipation der Juden, Protestanten (in Frankreich) und anderer Gruppen. Von dieser Emanzipation zeugt ein Brief des jüdisch-deutschen Publizisten und Schriftstellers Ludwig Börne (1786-1837: eig. Löb Baruch), der daran erinnert, dass vor dem deutschen Befreiungskampf gegen die französische Besatzung auch in Deutschland, wo französisches Recht galt, jüdische Bürger gleichberechtigt waren: „Ehe der Kampf begann, genossen wir in Frankfurt, wie überall in Deutschland, wo französische Gesetzgebung herrschte, gleiche Rechte mit unsren christlichen Brüdern.“ 25 Dies bedeutet, dass die moderne, postrevolutionäre französische Gesetzgebung eine Gleichberechtigung und Anerkennung des Anderen bewirkte, die im damaligen Deutschland die Restauration feudal-absolutis- 24 M. Junge, Zygmunt Bauman, op. cit., S. 55. 25 L. Börne, „Brief aus Paris. März 1832“, in: Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie. Von der Literaturkritik zur Gesellschaftskritik: Ludwig Börne. Eine Auswahl, zusammengestellt und eingeleitet von S. Schlaifer, Stuttgart, Klett, 1973, S. 92. <?page no="859"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 843 tischer Verhältnisse wieder in Frage stellte. Die Moderne mag mit ihrer Bürokratie und ihren Techniken Vernichtungslager ermöglicht haben, sie kann aber nicht pauschal für die Negation von Ambivalenz und (jüdischer) Alterität verantwortlich gemacht werden. Für den Antisemitismus in Ländern wie Deutschland, Polen und Russland waren - und sind zum Teil noch - auch vormoderne Defizite in den Bereichen Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit verantwortlich. Von Adorno und Horkheimer übernimmt Bauman nicht nur die Kritik der instrumentellen Vernunft, sondern auch das Plädoyer für Partikularität und individuelle Besonderheit, das ihn mit Lyotard verbindet. In der Dialektik der Aufklärung richtet sich dieses Plädoyer vornehmlich gegen Positivismus und Rationalismus; in Adornos Negativer Dialektik in erster Linie gegen Hegels Systemdenken. Es richtet sich zugleich gegen die gesamte idealistische Tradition, die das Einzelne, Besondere und Vergängliche (also auch das Individuum) durch eine Auflösung im Begrifflichen negiert. Adorno erklärt: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteresse bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte.“ 26 Diese Gedanken greift Lyotard vor allem in seinem Buch Der Widerstreit (Le Différend, 1983) auf und setzt sich für ein postmodernes Denken ein, das dem Besonderen in seiner Differenz und Alterität gerecht wird. In Le Différend spricht er vom „Niedergang universalistischer Diskurse“ („déclin des discours universalistes“) 27 der idealistischen Philosophie und des Marxismus, insistiert auf der Besonderheit von Sprachen, Kulturen und „Sprachspielen“ (im Sinne von Wittgenstein) und behauptet, „daß es weder eine mögliche Vereinheitlichung noch eine Totalisierung der Sprachspiele in einem Metadiskurs gibt“. 28 Verkündet wird ihre irreduzible Vielfalt oder Pluralität. Es ist hier nicht der Ort, diese These näher zu untersuchen und nach der Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit von Sprachen - der Ethik, der Wissenschaft, der Ästhetik, der Jurisprudenz oder der Politik - zu fragen. 29 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist Lyotards Behauptung, dass nicht nur die großen Metaerzählungen des Christentums, der Aufklärung und des Marxismus keine universelle Geltung beanspruchen können, son- 26 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 17-18. 27 J.-F. Lyotard, Le Différend, Paris, Minuit, 1983, S. 11. 28 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau, 1986, S. 109. 29 Vgl. zu diesem Problem: Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), S. 194-197. <?page no="860"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 844 dern dass auch ethische, rechtswissenschaftliche oder erkenntnistheoretische Verallgemeinerungen nicht möglich sind. Entscheidend ist auch sein Insistieren auf dem Besonderen und seiner kognitiven, kulturellen oder moralischen Alterität, die keine begriffliche, hegelianische „Aufhebung“ im Universellen gestattet. Denn diese postmoderne Hervorhebung von Partikularität und Pluralität findet sich auch bei Bauman, der sich stets für eine „Toleranz gegenüber der Differenz“ 30 einsetzt und in Moderne und Ambivalenz erklärt, das „postmoderne Auge“ betrachte „die Differenz mit Behagen und Freude: Differenz ist schön und darum doch um nichts weniger gut“. 31 In einem negativ-defensiven Sinne, aber durchaus in Übereinstimmung mit Bauman äußert sich Lyotard, wenn er in Moralités postmodernes für Differenzen im Pluralismus und für ihren Schutz eintritt: „Wir müssen uns ununterbrochen für die Rechte der Minderheiten, die Frauen, die Kinder, die Homosexuellen, den Süden, die Dritte Welt, die Armen, die Bürgerrechte, das Recht auf Kultur und Erziehung, die Rechte der Tiere, der Umwelt usw. einsetzen.“ 32 Diese Liste postmoderner Desiderate ließe sich verlängern, sie enthält aber keine konkreten Vorschläge: etwa zur Überbrückung der Kluft zwischen Arm und Reich oder zu einer möglichen Erziehungsreform. Dies, könnte Lyotard einwenden, sei auch nicht die Aufgabe postmoderner Philosophie. Aber wie reagiert eine postmoderne Soziologie auf diese Probleme? 3 Von der Moderne zur Postmoderne, zur „flüchtigen Moderne“: Baumans Aktantenmodelle und die ambivalente Rolle des Nationalstaates Ausgehend von Baumans Position eines kritischen postmodernen Soziologen, dessen Denken sich zwischen der Dialektik der Aufklärung und Lyotards partikularisierender Philosophie der irreduziblen Pluralität und Differenz bewegt, lässt sich im Folgenden seine Erzählung „von der Moderne zur Postmoderne, zur flüchtigen Moderne“ als ein Gegeneinander von Aktanten im philosophisch-soziologischen Kontext rekonstruieren. Es wird sich zeigen, dass zwei Aktantenmodelle koexistieren und dass vor allem das zweite Aktantenmodell, das auf die „flüchtige Moderne“ („liquid modernity“) anwendbar ist, soziologischer und erzähltheoretischer Kritik nicht standhält: Der „Nationalstaat“, der in der Moderne als Antisubjekt und Gegner des Partikularen auftritt, verwandelt sich in der „flüchtigen Moder- 30 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, Hamburger Edition, 1999, S. 146. 31 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, op. cit., S. 311. 32 J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S. 66. <?page no="861"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 845 ne“ ohne Angaben von Gründen in ein positiv konnotiertes Subjekt, dessen Schwäche (als „Schwäche der Politik“) es allerdings für eine Niederlage in Baumans Erzählung prädestiniert. Doch was genau stellt sich Bauman unter der Moderne vor? Sie wurde im zweiten Abschnitt provisorisch als eine Epoche definiert, deren universalistische Gesinnung sie nach Einheitlichkeit streben lässt. Ihr Hauptanliegen fasst Bauman knapp und klar zusammen: Es gilt, „alle Unterschiede im Namen eines universalen Menschenbildes einzuebnen“. 33 Die Moderne als „feste Moderne“ (im Gegensatz zur „flüchtigen Moderne“) war eine Gesellschaft der Produzenten, der „Arbeiter und Soldaten“ 34 , die in längeren Zeiträumen dachte, langfristig plante und auf „Dauerhaftigkeit“ eingestellt war. In Baumans Buch Leben als Konsum (Consuming Life, 2007) wird sie in großen Zügen dargestellt: „All das war in der Gesellschaft von Produzenten, in der festen Moderne (…), einer Gesellschaft (…), die auf Umsicht und langfristiges Planen, auf Dauerhaftigkeit und Sicherheit und vor allem auf dauerhafte, langfristige Sicherheit setzte.“ 35 Für Sicherheit, Planung und Dauer bürgte der Nationalstaat, dessen Grundlage das Volk als Nation war. Bauman geht von dem Gedanken aus, dass der Nationalstaat als „Volksgemeinschaft“ (eine Vokabel aus der NS-Zeit) ein Ersatz für die vormoderne Gemeinschaft im Sinne von Tönnies war. Er spricht von der „Romanze von Staat und Nation“ und erklärt: „Die Nation, gleichsam der Ersatz für Gemeinschaft im Zeitalter der Gesellschaft, entwickelt sich auf der Suche nach einer neuen Existenzform zurück zur Gemeinschaft.“ 36 Dieses Streben nach neuer Gemeinschaftlichkeit ist zugleich ein Streben nach Einheit, Homogenität und Allgemeingültigkeit: nach universeller Geltung im Rahmen des staatlichen Territoriums. Der moderne Nationalstaat bürgt - nach Bauman - für diese Einheit als Allgemeinheit auf seinem Gebiet, das er nicht nur territorial, sondern auch kulturell gegen die Andersheit der Nachbarstaaten abgrenzt. Innerhalb seines Bereichs fördert er Einheitlichkeit als Homogenität und grenzt Andersheit aus: „Nationalstaaten fördern den ‚Nativismus‘, die Bevorzugung der Einheimischen vor den Einwanderern, und verstehen unter ihren Untertanen ‚die Einheimischen‘. Sie unterstützen und fördern die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität.“ 37 In diesem Zusammenhang erklärt Bauman: „Der Nationalstaat wurde von Beginn an auf die Rolle 33 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, op. cit., S. 145. 34 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, Hamburg, Hamburger Edition, 2007, S. 254. 35 Z. Bauman, Leben als Konsum, Hamburg, Hamburger Edition, 2009, S. 44. 36 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 217. 37 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, op. cit., S. 87. <?page no="862"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 846 eines kollektiven Gärtners festgelegt (…).“ 38 (Man beachte hier die Auffassung des Staates als eines kollektiven Aktanten.) Die „Gärtner“-Metapher hat weitreichende Implikationen: Der Gärtner- Staat unterscheidet sorgfältig zwischen Gartenpflanzen (Zierpflanzen) und Unkraut; er kann im Extremfall beschließen, das parasitäre Unkraut zu vertilgen, d.h. konkret: gegen „artfremde“ Menschen auf seinem Territorium mit einem Genozid vorzugehen. Bauman denkt vor allem an die deutschen Juden oder jüdischen Deutschen, deren Vernichtung mit modernsten bürokratischen und technischen Mitteln durchgeführt wurde. Als Fremder definiert, unentscheidbar zwischen Freund und Feind stehend, wurde der Jude zum Vertreter einer Ambivalenz, die zu tolerieren der moderne Staat - Baumans Ansicht nach - nicht bereit war. Die „Gärtner“-Metapher, die Bauman als solche nicht kommentiert, hat den Vorteil, dass sie die Willkür veranschaulicht, mit der Individuen und Behörden der Ambivalenz als Unentscheidbarkeit begegnen. Was genau ist Unkraut in unserem Garten? Haben wir es gepflanzt oder nicht? Wenn wir es gepflanzt haben, ist es kein Unkraut, und wir werden es natürlich nicht wieder herausreißen - oder hat der Wind irgendwelche Samen zu uns herübergetragen? Dann ist es Unkraut. Aber es blüht so schön, schöner womöglich als so manche Pflanze, die wir täglich (vergeblich) umsorgen. Also lassen wir es stehen. Auf gesellschaftlicher Ebene erweist sich die Garten- oder Gärtner-Metapher als fruchtbar. Baumans Landsmann Emeryk Czapski wurde (große Teile Polens - z.B. Warschau - gehörten im 19. Jahrhundert zu Russland) vom Petersburger Hof nicht lange geduldet: Man ernannte ihn zum Gouverneur von Weißrussland und verbannte ihn als russischen Polen oder polnischen Russen nach Minsk. 39 Wer - noch heute, in verlängerter oder anhaltender Moderne - mit mehreren Staatsbürgerschaften „sein“ Generalkonsulat betritt, um einen neuen Pass zu beantragen, muss u.U. feststellen, dass es möglicherweise nicht mehr „sein“ Konsulat ist, weil der Beamte fälschlich behauptet, der Antragsteller habe die Staatsbürgerschaft, auf die er sich beruft, verloren. Erst ein erfolgreicher Papierkrieg setzt das Recht auf die vom Staatsbeamten bekämpfte Zweideutigkeit oder gar „Dreideutigkeit“ durch. Nach dem Zerfall Jugoslawiens wird die stets ambivalente Bezeichnung „Serbo-Kroatisch“ nicht mehr akzeptiert: Man hat eindeutig Serbisch oder Kroatisch zu sprechen und darauf zu achten, dass man in Serbien nicht kruh (Brot), sondern hleb (Brot) sagt, nicht hlače (Hose), sondern panta- 38 Ibid. 39 Vgl. M. Czapska, Europa w Rodzinie (Europa in der Familie), Paris, Libella, 1970, S. 49- 63. <?page no="863"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 847 lone (frz. pantalon! ): So kehrt das Unheimliche-Nichtheimische durch eine Hintertür als Fremdwort wieder zurück. Freilich hat Bauman auch Unrecht, weil sich doch weiter oben gezeigt hat, dass sich der moderne französische Staat nach der Revolution von 1789 nicht in allen Fällen als „Gärtner“ sah und die jüdische Andersheit od er Ambivalenz nicht nur anerkannte, sondern sie als gleichberechtigte Staatsbürgerschaft auch in deutschen Landen zeitweise durchsetzen konnte. Die Moderne war (ist) durchaus auch zu Toleranz und Emanzipation fähig: Sie ist selbst ambivalent und sollte in ihrer Ambivalenz wahrge nommen werden. Zugleich hat aber Bauman im Hinblick auf Frankreich auch wieder Recht, weil alle französischen Regierungen, stärker noch als ihre Nachbarn, nach einer administrativen, kulturellen und sprachlichen Vereinheitlichung strebten. 40 In diesem Fall kann man seiner Kurzcharakteristik der Moderne in Postmodern Ethics nur zustimmen: „The war against the local, the irregular and the spontaneous was merciless (…).“ 41 Der moderne Nationalstaat, dessen Auftraggeberin in Baumans erstem Aktantenmodell die „Universalvernunft“ ist, erscheint dort somit als Anti subjekt par excellence: Er führt einen Krieg gegen alles Besondere, Partikulare, das als Andersheit oder Abweichung nicht in seinem vereinheitlichenden Konzept aufgeht. Dem monomanen Streben des modernen Staates nach Einheit und „Einzigkeit“ widersetzt sich das „menschliche Individuum“ als Subjekt Aktant, dessen Auftraggeberin die „Partikularität“ ist: „Nur aus dem Kampf gegen diese Art von ‚Einzigkeit‘ kann das menschliche Individuum, i.e. das menschliche Individuum als moralisches Subjekt, i.e. als verantwortliches Subjekt, das Verantwortung für seine Verantwortlichkeit übernimmt, geboren werden.“ 42 Dieses Subjekt tritt nicht nur als Subjekt Aktant von Baumans Erzählung auf, sondern zugleich auch als ihr Fokalisator, aus dessen Sicht erzählt wird: Aus der Sicht des ambivalenten und verfolgten Individuums erzählt Bauman die Geschichte der Moderne, deren Entwicklung seiner Meinung nach schnurstracks in die Vernichtungslager und Gulags der Nationalsozialisten und Kommunisten führt. Nationalsozialismus und Kommunismus erscheinen in dieser Erzählung als Modelle der Moderne: „Weder die nazistische noch die kommunistische Vision standen im Widerspruch zu dem kühnen Selbstvertrauen und der 40 Vgl. R. Balibar, Les français fictifs, Paris, Hachette, 1974. Renée Balibar zeigt, wie in der Schule, vor allem im Literaturunterricht, ein einheitliches Nationalfranzösisch entsteht. 41 Z. Bauman, Postmodern Ethics, Oxford, Blackwell, 1993, S. 135. 42 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, op. cit., S. 357. <?page no="864"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 848 Hybris der Moderne. Sie boten lediglich an, das besser zu tun, wovon andere moderne Mächte träumten, was sie vielleicht sogar versuchten, aber nicht erreichten.“ 43 Das ist nun nicht ganz sicher, und Baumans Erzählung krankt an den vielen soziologischen Erzählungen eigenen Abstraktionen, Verallgemeinerungen und Spekulationen. Abermals sollte auf die Demokratiedefizite und die schwach ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit in Ländern der Zwischenkriegszeit wie Italien, Deutschland und Russland erinnert werden, wobei hinzugefügt werden muss, dass die Weimarer Republik sowohl Rechtsstaat als auch Demokratie war, von großen Teilen der Bevölkerung jedoch nicht akzeptiert wurde. Der Einwand lautet: In modernen Demokratien wie Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Kanada oder den USA hätten Ideologien des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Stalinismus kaum Chancen gehabt. Sie haben dort nie eine Breitenwirkung erzielt. Diese Demokratien sind es aber, die dem „Idealtypus“ der toleranten, freiheitlichen Moderne am nächsten kommen, nicht die Staaten, in denen die Rechtsstaatlichkeit zusammenbrach, weil - etwa im Spanien der 1930er Jahre oder in Japan vor dem Zweiten Weltkrieg - vormoderne, traditionalistische Einstellungen und Strukturen dominierten. 44 Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass der von Bauman konstruierte „Idealtypus Moderne“, zwar einige Aspekte dieser Periode in einem neuen Licht erscheinen lässt (z.B. die Neigung zu Rationalisierung und Vereinheitlichung: etwa in den Nationalsprachen als Hochsprachen), andere Aspekte (etwa die fortschreitende Demokratisierung und Pluralisierung) aber im Dunkeln belässt oder verdeckt. Wie sieht nun Baumans „Idealtypus“ der Postmoderne oder der „flüchtigen Moderne“ aus? Den Kern seiner Erzählung bildet in diesem Fall der „Übergang [von] der Produzenten/ Soldaten-Gesellschaft zu der des gefühlesammelnden Konsumenten“ 45 oder kürzer formuliert „von der Produktionszur Konsumgesellschaft“. Die Frage, ob der so erzählte Übergang tatsächlich stattgefunden hat, zumal in Europa, Japan, den USA und China Strom, Flugzeuge, Schiffe, 43 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, op. cit., S. 46. 44 Zum Zusammenbruch von Demokratie und Rechtsstaat im Europa der Zwischenkriegszeit vgl. D. Berg-Schlosser, „Makro-qualitative vergleichende Methoden“, in: D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft, Opladen, Leske-Budrich-UTB, 1997, S. 77, wo „Überleben oder der Zusammenbruch demokratischer Systeme“ in der Zwischenkriegszeit untersucht wird. Bauman wendet den Begriff „Moderne“ zu pauschal an und abstrahiert von den Ambivalenzen und Widersprüchen der modernen Problematik, die keineswegs auf „Universalismus“ und „Vereinheitlichung“ festzulegen ist. 45 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 254. <?page no="865"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 849 Waffen und Konsumartikel aller Art produziert werden, soll hier nicht erörtert werden, um nicht eine Reise vom Hundertsten ins Tausendste anzutreten. Es mag der Hinweis genügen, dass Massenkonsum ohne Massenproduktion nicht möglich ist und dass die im Produktionsbereich bisweilen entstehenden Überkapazitäten eine permanente und möglichst steigende Nachfrage der Konsumenten erfordern. Die Konsumgesellschaft ist zugleich eine Gesellschaft steigender Produktion, in der um Marktanteile und Absatzmöglichkeiten für Produkte gekämpft wird. Dem von Bauman konstruierten Übergang von der Produktionszur Konsumgesellschaft entspricht ein Übergang von der produzierenden Moderne zur konsumierenden Postmoderne oder „flüchtigen Moderne“. Als „Idealtypus“ wird die Moderne von Konstanz und Dauer, die „flüchtige Moderne“ hingegen von Beschleunigung, Veränderung, Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit geprägt. Insofern stimmt sie mit Baumans Auffassung der Postmoderne überein, die in Intimations of Postmodernity als „waning of certainty and objectivity“ („Schwinden von Gewißheit und Objektivität“) 46 definiert wird. In Flaneure, Spieler und Touristen bemerkt Bauman im Zusammenhang mit der Postmoderne, dass „der feste institutionelle Rahmen, der die eingegangenen Verpflichtungen aufrechterhielt, zusammenbrach“ 47 , und stellt auch die Postmoderne als Konsumgesellschaft 48 dar: „Die ‚postmoderne Individualitätsbildung‘, die oben skizziert wurde, zielt auf die Formung des perfekten Konsumenten.“ 49 Ergänzend heißt es in Flüchtige Moderne, „daß die postmoderne Gesellschaft ihre Mitglieder in erster Linie als Konsumenten und nicht als Produzenten in die Pflicht nimmt“. 50 Die Frage, wie sich nun Baumans Konstruktion der Postmoderne von seiner Konstruktion der „flüchtigen Moderne“ („liquid modernity“) unterscheidet, kann mit dem Hinweis auf die Dominanz zweier verschiedener semantischer Ebenen oder Isotopien - Unsicherheit und Beschleunigung - in den zwei Konstruktionen beantwortet werden: Während in der Postmoderne der Zusammenbruch kognitiver und moralisch-institutioneller Gewissheiten dominiert („Schwinden von Gewißheit und Objektivität“), herrschen 46 Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, London-New York, Routledge, 1992, S. 24. (Ansichten der Postmoderne, op. cit., S. 52.) 47 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 253. 48 Zu Baumans Auffassung der Postmoderne als Konsumgesellschaft vgl. S. Piwko, Soziologische Gegenwartsdiagnosen - Thesen Zygmunt Baumans im Kontext der Postmoderne, München, Grin-Verlag, 2006, S. 8: „Postmoderne Lebensformen sind demnach Lebensformen von sich primär als Konsumenten (und nicht mehr nur als Produzenten) definierenden Individuen (…).“ 49 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 252. 50 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 93. <?page no="866"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 850 in der „flüchtigen Moderne“ der rasche soziale Wandel und die von ihm bedingte Oberflächlichkeit vor. Die Beantwortung der Frage ist freilich auch nur eine mögliche Konstruktion, die allerdings von einigen Teildefinitionen Baumans bestätigt wird. So heißt es etwa in Wir Lebenskünstler (The Art of Life, 2008): „Die flüchtige Moderne befindet sich im Zustand permanenter Umwälzung (…).“ 51 Etwas weiter ist von der „flüchtige[n] Moderne mit ihrem Geschwindigkeitskult und der Sucht nach immer neuer Beschleunigung, nach dem Neuen und Neuesten und der Veränderung um der Veränderung willen“ 52 die Rede. Während also die Bezeichnung „flüchtige Moderne“ den raschen Wandel meint, der unsere Gesellschaft prägt, hebt die Bezeichnung „Postmoderne“ die aus diesem Wandel ableitbare Unsicherheit und Fragmentierung 53 hervor. Es handelt sich daher um zwei Aspekte einer und derselben sozialen Formation. Diese Darstellung wird auch von David Lyon in einem Gespräch mit Bauman bestätigt, in dessen Verlauf er erklärt: „Die gegenwärtigen Lebensverhältnisse lassen sich als ‚Spät‘- oder ‚Postmoderne‘ oder eben bildhafter als ‚flüchtige‘ Moderne beschreiben.“ 54 Diese Art, Metaphern in der Wissenschaft zu handhaben, ist nicht gerade hilfreich, zumal, wie sich gezeigt hat, die Unterscheidung von „Spätmoderne“ und „Postmoderne“ für Giddens und Beck wesentlich ist. Sie bleibt auch in diesem Buch relevant, weil die Spätmoderne (seit etwa 1850) hier als eine von der Ambivalenz der Werte geprägte, sich selbst kritisch reflektierende Problematik erscheint, die Postmoderne (seit etwa 1960) hingegen als eine von der Wertindifferenz des Tauschwerts (des Marktes) dominierte Wirtschaftsgesellschaft betrachtet wird, in der das kritische Nachdenken über die Moderne keineswegs fehlt. Auch Bauman beobachtet die sich ausbreitende Herrschaft des global werdenden Kapitalismus und stellt, wenn auch nicht explizit, eine Tendenz zur marktbedingten Indifferenz fest. Er selbst verwendet den Begriff Indifferenz, der hier die tendenzielle Austauschbarkeit von Positionen, Werten und Normen bezeichnet, selten, zitiert aber in Flüchtige Moderne Harvie Ferguson, der den indifferenten Zustand der Postmoderne anschaulich beschreibt: „In der postmodernen Welt werden alle Unterscheidungen ver- 51 Z. Bauman, Wir Lebenskünstler, Frankfurt, Suhrkamp, 2010, S. 105. 52 Ibid., S. 135. 53 Vgl. den englischen Originaltitel von Z. Baumans Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit.: Life in Fragments. Essays on Postmodern Morality, Oxford, Blackwell, 1995. 54 D. Lyon in: Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (4. Aufl.), S. 13. <?page no="867"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 851 flüssigt, Grenzen lösen sich auf, und alles kann als sein eigenes Gegenteil erscheinen.“ 55 Versinnbildlicht wird diese Austauschbarkeit durch den Markterfolg des Beststellers: Ist er gut, weil er sich gut verkauft oder schlecht, weil er den schablonenhaften Vorstellungen der großen Zahl entspricht? Wohl beides - unentscheidbar. Schon Marx notierte zur „verkehrenden Macht des Geldes“, es sei „die Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und natürlichen Qualitäten“. 56 Bauman kann sich vorstellen und befürchtet, dass die Moral aus einer Gesellschaft jenseits aller Unterscheidungen, Qualitäten und Wertsetzungen verschwinden könnte: „Unsere geradezu undenkbare Aussicht ist die einer Gesellschaft ohne Moral.“ 57 Sie ist deshalb denkbar, ja gut vorstellbar, weil die Macht, die den atemberaubenden Wandel dieser Gesellschaft antreibt und in Gang hält, das neoliberale globale Kapital ist: „global capital“ 58 , wie es in Baumans Buch Globalization heißt. In seinem Spätwerk löst es den „Nationalstaat“ als Antisubjekt ab. Die Akteure, die beauftragt werden, das narrative Programm dieses (kollektiven, abstrakten oder mythischen) Aktanten zu verwirklichen, und zwar als globale Herrschaft des „Kapitals“, die zum Objekt-Aktanten wird, sind die „multinationalen Konzerne“, denen schon bei Touraine, Giddens und Beck die Rolle der Bösewichte zufiel. Die Erzählung, der dieses Aktantenmodell zugrunde liegt, hört sich in Flüchtige Moderne so an: „Mit der sprunghaft fortschreitenden Globalisierung wird das ‚Kaufen einer Regierung‘ zunehmend überflüssig. Die krasse Unfähigkeit der Staaten, mit den ihnen verbliebenen Ressourcen (…) zu haushalten, genügt bereits, um Regierungen nicht nur gegenüber dem Unvermeidlichen gefügig zu machen, sondern sie zu aktiver Kooperation mit den ‚Globals‘ anzuspornen.“ 59 Eine solche Erzählung, in der es dem Antisubjekt (dem „globalen Kapital“) gelingt, seine potenziellen Widersacher (die „Staaten“) in Helfer zu verwandeln, kann nicht gut enden, zumal Bauman - zur Verwunderung einiger Kommentatoren - das frühere Antisubjekt „Nationalstaat“ nun als Subjekt in die neue Erzählung (das neue Aktantenmodell) einsetzt. In Unbehagen in der Postmoderne (Postmodernity and its Discontents, 1997) spricht er von „Politik“, meint aber den Nationalstaat, der nun nicht 55 H. Ferguson in: Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 105. 56 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart Kröner, 1971, S. 299. 57 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 64. 58 Z. Bauman, Globalization. The Human Consequences, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1998, S. 68. 59 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 225. <?page no="868"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 852 mehr als repressiver „Gärtner“ auftritt, sondern für „Freiheit, Verschiedenheit und Solidarität“ sorgen soll. Er wird von der „Partikularität“, seiner neuen Auftraggeberin, mit einem narrativen Programm beauftragt, das dem der multinationalen Konzerne, dem „global capital“, das im Auftrag des alle Besonderheiten negierenden „Tauschwertuniversalismus“ handelt, entgegengesetzt ist. Die in der Wirtschaftsgesellschaft drohende Indifferenz soll der Solidarität weichen: „Eine postmoderne Politik, deren Ziel eine lebensfähige politische Gemeinschaft ist, muß sich (…) durch das triadische Prinzip von Freiheit, Verschiedenheit und Solidarität leiten lassen (…).“ 60 Dabei fällt der „Solidarität“ eine Schlüsselfunktion zu, und Politik (Staat) erscheint als ein Mittel, das gegen die Indifferenz fördernde wirtschaftliche Globalisierung eingesetzt werden könnte. Hiermit ist der im früheren Werk (etwa in Moderne und Ambivalenz) geschmähte Nationalstaat als postmodernes Subjekt legitimiert. Zum neuen Aktantenmodell bemerkt Jens Kastner: „Genau diese Legitimation aber liefert Bauman, wenn er den Staat als Republik und im Gegensatz zur neoliberalen Globalisierung beschreibt.“ 61 Das Problem besteht wohl darin, dass eine Erzählung - auch eine soziologische - ohne die Symmetrie eines Aktantenmodells (Subjekt / Antisubjekt, Held / Antiheld) jegliche Dynamik verliert, ein happy end ausschließt und der Monotonie der Verzweiflung überantwortet wird. Diese Verzweiflung macht sich bei Bauman zwischen den Zeilen bemerkbar, sooft er vom „‚Absterben‘ der Nationalstaaten“ („‚withering away‘ of nation-states“) 62 oder von einer „postnationalen Phase der Moderne“ 63 spricht. Wo der Held als Staat oder Nation im Sterben liegt, kann die Geschichte nicht mehr gut ausgehen, zumal Bauman auch die von Touraine, Giddens und Beck als Helfer des Subjekts mobilisierten Bewegungen aus seinem Aktantenmodell verbannt. Anders als bei Touraine, bei dem sie als richtungsweisende Kollektivsubjekte auftreten, erscheinen Bewegungen bei Bauman als zu vernachlässigende Größen, denn es „fehlt bislang ein Nachweis ihrer Fähigkeiten als Konstrukteure und Erbauer des Neuen“. 64 Etwas konkreter wird die Argumentation in Leben als Konsum: „Server saugen alle Spuren von Dissens und Protest auf und speichern sie, sodass die flüchtig-moderne Politik 60 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, op. cit., S. 369. 61 J. Kastner, Zygmunt Bauman, op. cit., S. 60-61. 62 Z. Bauman, Globalization, op. cit., S. 57. 63 Z. Bauman, Gemeinschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (4. Aufl.), S. 110. 64 Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin, op. cit., S. 69. <?page no="869"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 853 ungerührt und ungebremst weiterfließen und Auseinandersetzungen und Argumente durch markige Sprüche und Fototermine ersetzen kann.“ 65 Abermals verdrängen Metaphorik und Rhetorik empirisch gestützte Argumentation: Denn es ist keineswegs so, als hätten die polnische Solidarność, die grünen Bewegungen in Nord- und Mitteleuropa und die Frauenbewegungen auf der ganzen Welt keinerlei Veränderungen bewirkt. Es ist hier nicht der Ort, ihre Erfolge aufzuzählen. Entscheidend ist, dass Bauman in seiner Einschätzung der Bewegungen wesentlich von Giddens und Beck abweicht. Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, dass sich diese Abweichung auch auf seine Zeitdiagnose und seine Auffassung der Individualität (der individuellen Subjektivität) in Postmoderne und „flüchtiger Moderne“ auswirkt. 4. Individualisierung und „Life politics“ in der flüchtigen Konsumgesellschaft: Baumans Antwort auf Giddens und Beck Nicht die Bewegungen, die bei Touraine den individuellen Subjekten den Rücken stärken sollen, sorgen für die Dynamik von Baumans Erzählung, sondern eine außerordentlich mobile, exterritoriale, globale Machtelite, die im Auftrag des „globalen Kapitals“ und der „multinationalen Konzerne“ (der „Globals“) unterwegs ist. Sie ist die schwer zu bestimmende, schwer zu fassende Helferin des Antisubjekts „Weltkapital“ und gehört zu den Hauptcharakteristika der „flüchtigen Moderne“: „In der flüchtigen Moderne steht die seßhafte Mehrheit unter der Herrschaft der nomadisierenden, exterritorialen Elite.“ 66 Bauman spricht in Globalization (1998) von einer „global elite, the elite of mobility“ 67 und erklärt: „Dank der neuen ‚Körperlosigkeit‘ der Macht in deren vorwiegend finanzieller Gestalt werden die Machthaber wirklich exterritorial, auch wenn sie körperlich ‚ortsgebunden‘ sind.“ 68 Diese „körperlose“, „exterritoriale“ Machtausübung, die durch die elektronischen Kommunikationsmedien (Handy, Internet, E-Mail) erleichtert wird, führt dazu, dass es „zunehmend schwieriger, vielleicht ganz unmöglich wird, soziale Anliegen durch wirksame kollektive Handlungen auszudrücken“. 69 Das heißt, dass die sozialen Bewegungen, deren Wirkung Bauman ohnehin nicht sehr hoch veranschlagt, gegen die neue Art der „flüchtigen“ Machtausübung im Auftrag des „globalen Kapitals“ nur wenig ausrichten können. 65 Z. Bauman, Leben als Konsum, op. cit., S. 142. 66 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 21. 67 Z. Bauman, Globalization, op. cit., S. 19. 68 Ibid. 69 Ibid., S. 69. <?page no="870"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 854 Im Rahmen dieser Erzählung, in der der Subjekt-Aktant „Nationalstaat“ als positiv konnotierte, aber geschwächte Instanz auftritt und die „sozialen Bewegungen“ als ernst zu nehmende Helferinnen entfallen, entsteht eine Zeitdiagnose, die wesentlich von Giddensʼ und Becks Diagnosen abweicht. Den beiden Soziologen könnte Bauman, der im Anschluss an Beck auch von „Risikogesellschaft“ und ihren Unwägbarkeiten spricht 70 , antworten, dass sie das globale Wirken der neuen mobilen Machteliten nicht berücksichtigen und das Protestpotenzial der Bewegungen oder Bürgerinitiativen maßlos überschätzen. Dadurch entsteht eine neue, sehr viel skeptischere Erzählung, in der das Fortschreiten der wirtschaftlich-finanziellen Globalisierung (als „Globalismus“ im Sinne von Beck) ungebremst weitergeht. Das Ergebnis dieser Entwicklung nimmt Bauman mit dem Ausdruck „negatively globalized planet“ („negativ globalisierte[r] Planet“) 71 vorweg. Es ist ein Ergebnis, das Touraine, Giddens und Beck um jeden Preis verhindern wollen, indem sie dem Subjekt-Aktanten „ökosoziale Demokratie“ helfende Instanzen wie „Bewegungen“ und „Bürgerinitiativen“ zur Seite stellen. Baumans Umerzählung der spätmodern-postmodernen Geschichte kündigt die resignierende, negative Erzählung Baudrillards an, die im nächsten Kapitel zur Sprache kommt. Aus der Asymmetrie von Baumans Aktantenmodell, die durch die Übermacht des Antisubjekts, des „globalen Kapitals“ und seiner Beauftragten (der „multinationalen Konzerne“, der „Machtelite“), zustande kommt, geht ein erheblich geschwächtes individuelles Subjekt hervor, das über sehr viel weniger Autonomie verfügt als das Subjekt von Giddensʼ und Becks „Life politics“. Dieses wird dem globalen Kapital gegenüber durch Bewegungen und Bürgerinitiativen gestärkt. Beck spricht von den „Akteuren der zivilgesellschaftlichen Internationale“ 72 , die auf die Ergebnisse von UNO-Weltkonferenzen einwirken können. (Die marxistischen Konnotationen, die von einer gewissen Nostalgie zeugen, sind kaum zu überhören.) Aus seiner Sicht stärken kollektive Initiativen die Bürgerrechte und erweitern den Handlungsspielraum der Individuen in der Demokratie: „Die europäische Demokratie gewinnt ihre Seele mit und durch Bürgerarbeit.“ 73 In diesem Kontext ist die individuelle Autonomie möglich, die Giddens seinen „Life politics“ zugrunde legt. In Modernity and Self-Identity steht in 70 Vgl. Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 42. 71 Z. Bauman, Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty, Cambridge, Polity, 2007, S. 25. (Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg, Hamburger Edition, 2008, S. 42.) 72 U. Beck, Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (2. Aufl.), S. 172. 73 Ibid., S. 175. <?page no="871"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 855 der Rubrik „Life politics“ Entscheidungsfreiheit an erster Stelle: „Political decisions flowing from freedom of choice and generative power (power as transformative capacity).“ 74 Giddens spricht wörtlich von „potentialities for self-expression and creativity“ 75 und erklärt: „The reflexive project of the self might therefore be the very hinge of a transition to a global order beyond the current one.“ 76 Es ist, als wollte Bauman die Kehrseite der spätmodern-postmodernen „Life-politics“- Medaille zeigen, wenn er in allen Einzelheiten die Unterwerfung zeitgenössischer Individuen als Arbeitnehmer unter die elektronische Kontrolle der mobilen Machtelite beschreibt. Während in der „soliden Moderne“ die Kontrolle der „Arbeiter und Soldaten“ durch eine Art Panoptikum (Gesamtschau) gewährleistet wurde, das in Fabrikhallen oder Kasernen räumlich begrenzt war, erfolgt die elektronische Kontrolle in der „flüchtigen Moderne“ über e-mail und Handy. Sie ist mobil, an keinen Raum gebunden: „Wie die Schnecke, die ihr Haus immerzu bei sich trägt, so müssen die Beschäftigten in der schönen neuen flüchtig-modernen Welt ihr jeweils persönliches Panoptikum selbst hervorbringen (…). Sie sind uneingeschränkt verantwortlich dafür, sich selbst in gebrauchsfähigem Zustand zu erhalten und ihren störungsfreien Betrieb zu gewährleisten (wer sein Mobil- oder Smartphone zu Hause läßt, um einen Spaziergang zu machen, und sich damit der lückenlosen Verfügung seines Vorgesetzten entzieht, kann in ernsthafte Schwierigkeiten geraten).“ 77 Die Vorgesetzten gehören häufig der neuen mobilen Machtelite an, deren Angehörige an keinen Standort gebunden sind und unerwartet von einem Flughafen aus anrufen können. In dieser von Unsicherheit 78 , Risiko und Eigenverantwortung geprägten Situation sind Individuen in der „flüchtigen Moderne“ einem permanenten Stress ausgesetzt, weil das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit keine uneingeschränkte Entspannung als „Abschalten“ (des Handys) ermöglicht, sondern im Gegenteil ständige Selbstkontrolle erfordert. 74 A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1991, S. 215. 75 Ibid., S. 223. 76 Ibid. 77 Z. Bauman, in: Z. Bauman, D. Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin, op. cit., S. 78-79. 78 Zur Veranschaulichung dieser Unsicherheit sei der Bericht einer jungen Französin zitiert, die in Berlin an verschiedenen Start-ups mitwirkt und sich ihrer prekären Lage am Arbeitsmarkt bewusst wird: „Und das ist es, was mich am meisten ängstigt: Es sind unsichere Zeiten, in denen wir arbeiten. (…) Mit voller Wucht werden diese Menschen mit dem Prekariat der Arbeitswelt konfrontiert - nur, dass man es ihnen nicht ehrlich sagt.“ (M. Ramadier, „Die Lüge vom digitalen Traum“, in: Forschung und Lehre 11/ 18, S. 948.) <?page no="872"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 856 Baumans Ausdruck „in gebrauchsfähigem Zustand“ deutet an, dass jeder für seine Einsatzbereitschaft und indirekt seinen Marktwert als Arbeitskraft verantwortlich ist. Jeder wird zu seinem eigenen Manager, und diese Situation, in der ununterbrochen Herrschaft über sich selbst oder die eigene Natur im Sinne der Dialektik der Aufklärung ausgeübt wird, kann sowohl Depression als auch Burnout zur Folge haben - zumal sich in der „flüchtigen Moderne“ Arbeitsbedingungen, Arbeitsweisen und Arbeitsabläufe aufgrund technischer Innovationen laufend ändern. Aber wird hier nicht - weitab von allen „Konsumgesellschaften“ - eine „Gesellschaft gestresster Produzenten“ dargestellt, die von „Konsumentenfreiheit“ nur träumen können, während sie sich selbst „managen“? Eine der größten Schwächen von Baumans Soziologie besteht wohl darin, dass sie den Nexus von Produktion und Konsum in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht in den Griff bekommt. Einige seiner Befunde werden jedoch von neueren Studien zur Soziologie der Arbeitswelt teilweise bestätigt. So heißt es etwa in Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst (2007) zum „Arbeitskraftunternehmer“ als Selbstmanager: „Für den Arbeitskraftunternehmer verschwimmen die Grenzen zwischen Erwerbstätigkeit und Freizeit, Berufs- und Privatleben, und der Ökonomisierungsdruck erfasst alle Bereiche des Alltags.“ 79 Eine der Folgen dieser Drucksteigerung erwähnen Sighard Neckel und Greta Wagner in Leistung und Erschöpfung (2013): „Seit 2004 sind die Arbeitsunfähigkeitstage wegen Burnout um das 18-Fache gestiegen (vgl. BKK Gesundheitsreport 2012, S. 43).“ 80 An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung Relevanzkriterien und Selektionsverfahren in der soziologischen Theoriebildung zukommt: Während Touraine, Giddens und Beck die Verbindung von kollektivem und individuellem Handeln für relevant halten und ihr Augenmerk auf Situationen richten, in denen soziales Engagement individuellen Handlungsspielraum erweitert und die Befähigung der Einzelperson zur Identitätsbildung stärkt, nimmt Bauman im Produktionsbereich die neuen Kontrollmechanismen in den Blick, die individuelle Subjektivität drastisch einschränken. Da eine Theorie, die allen Aspekten der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen könnte, nicht in Sicht ist, weil sich Relevanzen auch widersprechen, bietet sich das dialogische Verfahren an, das verschiedene Theorien miteinander konfrontiert. 79 U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 48. 80 S. Neckel, G. Wagner, „Einleitung: Leistung und Erschöpfung“, in: S. Neckel, G. Wagner (Hrsg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 2013, S. 13. <?page no="873"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 857 Aus der von Stress und Burnout geprägten Arbeitswelt fliehen die Individuen der „flüchtigen Moderne“ in Privatheit und Konsum. Wie Richard Sennett, von dem hier im vorletzten Kapitel ausführlich die Rede sein wird, stellt Bauman ein Schrumpfen der Öffentlichkeit zugunsten der Privatsphäre fest: „Die Kultur der Öffentlichkeit schnurrt zusammen auf die öffentliche Darstellung privater Affären.“ 81 Deren Bedeutung für die entstehende Mediengesellschaft hat schon Leo Löwenthal hervorgehoben. 82 Die Privatsphäre fällt vielfach mit der Welt des Konsums zusammen, in der Individuen abermals zur Ware werden. Während sie als Produzenten genötigt sind, sich auf dem Arbeitsmarkt als attraktive Arbeitskräfte zu präsentieren und sich selbst zu managen, müssen sie als Konsumenten versuchen, sich als zahlungskräftige Verbraucher (als Geldquellen) darzubieten. Dazu bemerkt Bauman in Leben in der Flüchtigen Moderne: „In der Konsumgesellschaft sind die Menschen selbst Konsumprodukte, erst diese Eigenschaft macht sie zu vollwertigen Mitgliedern dieser Gesellschaft.“ 83 Er zeigt, wie es aufgrund dieser Orientierung am Konsum, an marktgängiger Mode und Statusbildung zu einer flüchtigen Individualisierung kommt, die die Menschen voneinander trennt und zur Vereinsamung verurteilt, statt sie zu solidarisieren. Anders als Giddens und Beck stellt er Individualisierung nicht als kreative Selbstentfaltung im Rahmen von „Life politics“, sondern als negativen Prozess dar, der Freiheit zur Vereinzelung verkommen lässt und die Trennung vom Anderen zur Folge hat: „Aufgrund dieser Neuinterpretation der Freiheit als Freiheit des Konsumenten verliert der Andere seinen Status als Objekt ethischer Verantwortung und moralischer Sorge.“ 84 Die Freiheit des Konsumenten, so könnte man ergänzen, ist eine narzisstische Freiheit, die von der Suche nach Selbstbestätigung in Freizeit, Mode und den von der Werbung gepriesenen Ereignissen und Erlebnissen geprägt ist. Alle diese Bereiche werden von den Marktgesetzen beherrscht und sind - wie Bauman selbst sagt - „kommodifiziert“, durch den Warentausch geregelt. Anders als Giddens und Beck, die Individualisierung trotz aller Risiken und Unwägbarkeiten als Chance der Selbstverwirklichung auffassen, meint Bauman, in ihr vorwiegend „Kommodifizierung“, d.h. ein „Zur-Ware-Werden“ der Konsumenten zu erkennen. (Die Agentur, die einem bestimmten Hotel gegen hohe Vermittlungsgebühren Touristengruppen besorgt, verwandelt diese in heißbegehrte, umkämpfte Ware.) Bauman wendet sich ge- 81 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 49. 82 Vgl. L. Löwenthal, „Biographies in Popular Magazines“, in: ders., Literature, Popular Culture and Society, Englewood Cliffs (N. J. ), Prentice Hall, 1961. 83 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, op. cit., S. 125. 84 Ibid., S. 33. <?page no="874"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 858 gen die gängige Auffassung, der Übergang von der Produktionszur Konsumgesellschaft bedeute für die Betroffenen einen „Sprung aus der Welt der Zwänge und der Unfreiheit hin zu individueller Autonomie und Selbst- Beherrschung“. 85 Dieser Ansicht, die bis zu einem gewissen Grad auch Giddens und Beck vertreten, begegnet er mit der These des „Zur-Ware-Werdens“: „Mitglieder der Konsumgesellschaft sind selbst Produkte der Kommodifizierung; ihre deregulierte, privatisierte Verbannung in das Reich der Kommodifizierung der life politics ist das wichtigste Merkmal, das die Konsumgesellschaft von anderen Formen des menschlichen Zusammenseins unterscheidet.“ 86 Dies ist etwas ganz anderes als die von Giddens unter dem Titel Life politics gepriesene „Entscheidungsfreiheit“: „freedom of choice and generative power“ (s.o.). (Hier zeigt sich, dass ein Begriff wie „Life politics“ in verschiedenen Diskursen grundverschiedene, auch gegensätzliche Bedeutungen annehmen kann.) Die Warenwelt der Mode und des Konsums begünstigt schnellen Umsatz und das Ephemere als Lebensweise: „Was letzten Monat angesagt war, ist in diesem schon out (…).“ 87 Daher ist die „flüchtige Moderne“, in der alles wegen des schnellen Wechsels der Moden und Warenangebote nur flüchtig wahrgenommen wird, eine Welt des Vergessens. Sie ist - als Postmoderne - nicht, wie Burghart Schmidt meint, eine „Strategie des Vergessenmachens“ 88 , sondern markt- und modebedingtes Vergessen, das selbst schnell vergisst, dass es etwas vergessen hat. Die vergessliche Flüchtigkeit gegenwärtiger Gesellschaften veranschaulicht Bauman mit Hilfe von vier Menschentypen: des Flaneurs, des Spielers, des Vagabunden und des Touristen. Alle vier stehen im Gegensatz zum traditionellen und modernen Pilger. In Baumans Beschreibung erscheint er als eine Art Idealtypus: „Für den Pilger und modernen Menschen bedeutete dies in der Praxis, daß er ziemlich früh im Leben seinen Zielpunkt zuversichtlich auswählen konnte/ sollte/ mußte (…).“ 89 Dieser individuelle Zielpunkt könnte analog zu der modernen Teleologie betrachtet werden, die ein kollektives, gesellschaftliches Ziel bezeichnet: etwa das Telos der „klassenlosen Gesellschaft“, die in vielen Fällen mit dem individuellen Ziel marxistischer „Pilger“, der Revolutionäre, zusammenfiel. Stets hat der Pilger einen vorgezeichneten Weg vor Augen, der zu seinem Bestimmungsort führt. 85 Z. Bauman, Leben als Konsum, op. cit., S. 82. 86 Ibid., S. 83. 87 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, op. cit., S. 147. 88 B. Schmidt, Postmoderne - Strategien des Vergessens, Frankfurt, Suhrkamp, 1994 (4. Aufl.), S. 9. 89 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 142. <?page no="875"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 859 Anders der Flaneur als Spaziergänger: Er ist der Konsument par excellence, der Ausschau nach Waren hält, ohne etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, ohne ein Ziel zu verfolgen. Bauman stellt die Verbindung zum Konsum her, wenn er bemerkt: „Die Einkaufsstraßen leiteten die postmoderne Verbreitung des Flaneurs ein (…).“ 90 Komplementär dazu heißt es bei Walter Benjamin, an den Bauman immer wieder anknüpft: „Die Flanerie hätte sich zu ihrer Bedeutung schwerlich ohne die Passagen entwickeln können.“ 91 (In den Pariser Passagen, den Einkaufszentren des 19. Jahrhunderts, wurden u.a. die Luxusgüter des beginnenden Industriezeitalters ausgestellt. Fernab vom tosenden Verkehr laden sie immer noch zum Flanieren ein.) Auch Vagabund und Tourist haben keine klaren Ziele vor Augen. Während der Vagabund zur Irrfahrt verdammt ist, genießt der Tourist als Freizeitkonsument seine Ungebundenheit. Er ist überall flüchtiger Zuschauer, der nirgends lange verweilt, sich selten irgendwo bindet oder engagiert. Sein Blick ist der des oberflächlichen Ästheten: „Die Welt des Touristen ist völlig und ausschließlich durch ästhetische Kriterien strukturiert (…).“ 92 Dies gilt auch für den Spieler, dessen Beschreibung bei Bauman als eine Metonymie der gesamten „flüchtigen Moderne“ (oder Postmoderne) gelesen werden könnte: „Das Spiel kurz zu halten bedeutet, sich vor langfristigen Bindungen zu hüten: Sich zu weigern, auf die eine oder andere Weise ‚festgelegt‘ zu werden; sich nicht an einen Ort zu binden, wie angenehm sich der jeweilige Zwischenstopp auch anzufühlen mag; sein Leben nicht nur einem einzigen Beruf zu widmen; keinem Menschen und keiner Sache Beständigkeit oder Treue zu schwören.“ 93 Alle vormodernen und modernen Begriffe wie „Langfristigkeit“, „Festlegung“, „Beruf“ (statt „Job“), „Beständigkeit“ und „Treue“ werden in dieser Passage durch „Flüchtigkeit“, durch das „flüchtige Spiel“ negiert, das die Postmoderne als „flüchtige Moderne“ bewegt. Negiert werden zugleich die Öffnung zum Anderen und die Verantwortung für ihn, die Baumans Moral zugrunde liegen. Während er die Postmoderne noch als Chance betrachtete, sich dem Anderen in seiner Besonderheit zu öffnen, ihn in seiner Alterität anzuerkennen, beobachtet er in der „flüchtigen Moderne“ (die auch als negativer Aspekt der Postmoderne aufzufassen wäre) die Gefahr einer wachsenden Gleichgültigkeit dem Anderen gegenüber und eine konsumorientierte, spontane Flucht aus jeglicher Verantwortung. 90 Ibid., S. 152. 91 W. Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 34. 92 Z. Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, op. cit., S. 157. 93 Ibid., S. 145. <?page no="876"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 860 Diese Einschätzung der „flüchtigen Moderne“ als einer vorwiegend negativen Entwicklung mag eine Erklärung dafür bieten, dass Bauman zu dem resignierenden Schluss gelangt: „Offenbar gibt es zu dieser Welt, dieser Realität keine Alternative.“ 94 Bildhafter fasst er diese Zeitdiagnose in einem Gespräch mit Leonidas Donskis in einer Marx-Paraphrase zusammen: „Indeed, a spectre is haunting Europe - the spectre of the absence of alternative.“ 95 Dies bedeutet zugleich, dass moderne und spätmoderne Utopie-Vorstellungen, die noch der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers zugrunde lagen, als Anachronismen verabschiedet werden müssen. Was bleibt, sind die individuellen Utopien, die mit der Selbstverwirklichung im Konsum zusammenfallen 96 - und die „negative Utopie einer flüchtigen Moderne“ 97 , die Bauman als Kontrastfolie zu einer solidarischen, menschlicheren Gesellschaft dient. Es sollte deutlich geworden sein, dass diese negative Einschätzung der Gegenwart in seinem zweiten Aktantenmodell angelegt ist, in dem der Subjekt-Aktant „Staat“ („Republik“) dem Antisubjekt „globaler Kapitalismus“ als hoffnungslos unterlegen erscheint. 5. Flüchtige Kunst oder „Ende der Kunst“? Der folgende Exkurs in den Bereich der Kunstsoziologie und Ästhetik kann als Fortsetzung und Konkretisierung von Baumans Typologie gelesen werden: Wie der Spieler, der Tourist und der Flaneur werden Kunst und Künstler der Flüchtigkeit zeitgenössischer Verhältnisse überantwortet. Die Kultur als ganze wird von der sich beschleunigenden Strömung postmoderner Entwicklungen mitgerissen. Bauman ruft noch einmal den Gegensatz von Moderne und „flüchtiger Moderne“ in Erinnerung, wenn er in Leben in der Flüchtigen Moderne erklärt: „Um das wichtigste noch einmal zu betonen: Tugenden wie Geduld und das ‚Aufschieben von Belohnungen‘, die in der Industriegesellschaft maßgeblich waren, sind nicht länger gefragt, Dauerhaftigkeit wurde als höchster Wert entthront und durch Vergänglichkeit ersetzt. Wir leben in einer Kultur der Auflösung, der Diskontinuität und des Vergessens.“ 98 94 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, op. cit., S. 109. 95 Z. Bauman, L. Donskis, Liquid Evil. Living with TINA, Cambridge, Polity, 2016, S. 13. (TINA ist eine Abkürzung für Margaret Thatchers Lieblingsphrase „There Is No Alternative“.) 96 Vgl. Z. Bauman, Flüchtige Zeiten, op. cit., S. 150, wo Bauman feststellt, „dass der Begriff ‚Utopie‘ vor allem von Firmen aus den Bereichen Touristik, Innenarchitektur, Kosmetik und Mode vereinnahmt worden ist“. 97 Z. Bauman, Flüchtige Moderne, op. cit., S. 23. 98 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, op. cit., S. 228. <?page no="877"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 861 Dieser Auflösungsprozess hängt nicht einfach mit den alles beschleunigenden technologischen und technischen Entwicklungen zusammen, sondern auch und vor allem mit der Unterwerfung unter die Marktgesetze, die der stets fluktuierenden Beziehung von Angebot und Nachfrage gehorchen. Was gestern Mode und gefragt war, ist heute ein unverkäuflicher Ladenhüter. Zu Recht weist Bauman in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es die auf dem Markt erfolgreichen Unternehmen und ihre Marken sind, die für den Erfolg eines Künstlers bürgen, nicht die Qualität seiner Werke: „Der Ruhm der Galerie strahlt auf die ausstellenden Künstler ab.“ 99 Auf sie sind Baumans Thesen zum Selbstmanagement des zeitgenössischen Angestellten oder Free-Lance-Unternehmers anwendbar: Er muss es verstehen, sich selbst optimal darzustellen oder zu vermarkten, und als Künstler muss er die richtige Galerie wählen und in ihr seinen Vorstellungen Resonanz verschaffen. Galerie und Künstler können nicht am Markt und seinen ephemeren Konstellationen vorbeiagieren und müssen stets auf das achten, woran Bauman immer wieder erinnert: dass in den Augen der Konsumenten die Absatzzahlen letztlich die Qualität eines Produkts ausmachen. Der schon erwähnte Bestseller ist das Modell der marktproduzierten Qualität, die nichts anderes ist als eine drastische Reduktion des Qualitativen auf Quantität. Postmoderne Schönheit ist quantitativ: „Die Schönheit liegt in den Verkaufszahlen der Kassenschlager, in Platinschallplatten und Einschaltquoten.“ 100 In diesem Kontext wird die Frage, wie ein Kunstwerk zur Wirklichkeit steht, die nicht nur die Realisten, sondern auch die gesellschaftskritischen, revolutionären Avantgardisten beschäftigte, gegenstandslos. Als von der Nachfrage produzierte Ware löst sich das Kunstwerk von der sozialen Wirklichkeit ab und wird zu einem Simulakrum, das ausschließlich auf sich selbst als Markterfolg verweist. Bauman, der die ermutigenden Entwicklungen der Postmoderne (Pluralismus, Partikularisierung, Anerkennung der Andersheit) durchaus wahrnimmt, lässt sich auch ihre ästhetischen Schattenseiten nicht entgehen: „In dieser Hinsicht teilen die Künste das Elend der postmodernen Kultur insgesamt, die, wie Jean Baudrillard formulierte, eine Kultur des Simulakrum ist und nicht der Repräsentation. Die Kunst ist nun eine von vielen Wirklichkeiten (…).“ 101 Dies bedeutet, dass sie mit anderen Wirklichkeiten zu konkurrieren hat und allmählich unverbindlich wird. Sie wird zum Spiel. John Barths Kurz- 99 Ibid., S. 226. 100 Ibid., S. 242. 101 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, op. cit., S. 180. <?page no="878"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 862 geschichte Lost in the Funhouse evoziert keine bessere Welt im Sinne der Spätmoderne oder der Avantgarde, sondern mündet in die Erkenntnis, dass es keinen Wahrheitsgehalt und keine bessere Welt jenseits der Fungesellschaft gibt. 102 Diesen Befund fasst Italo Calvino lapidar zusammen: „Wir werden Roman spielen, wie man Schach spielt (…).“ 103 Das Spiel lebt für den Augenblick und ist ein Sinnbild von Baumans Flüchtigkeit, die auch seiner Auffassung der Postmoderne innewohnt. Diese Flüchtigkeit ist aber mit dem nach Permanenz oder gar Ewigkeit strebenden Kunstwerk der Klassik oder Romantik unvereinbar. Patrick Süskinds Bestseller-Roman Das Parfum ist insofern eine postmoderne Parodie der Kunst und des Kunstwerks 104 , als der Autor einen Künstler mit dem parodistischen Namen Grenouille (= Frosch) auftreten lässt, der kein Meister des Tons, des Wortes oder der Farbe ist, sondern des flüchtigen Geruchs, des Parfums. Gleich auf der ersten Seite des Romans ist vom „flüchtigen Reich der Gerüche“ 105 die Rede. Während Künstler der Klassik, der Romantik und auch der Spätmoderne (des Modernismus) ein Werk vor Augen hatten, das dem Zahn der Zeit trotzen würde, stellt Süskind einen postmodernen Künstler des Ephemeren vor: einen Künstler im Sinne von Baumans „flüchtiger Moderne“, der kein einziges bleibendes Werk hinterlässt, weil sich alle von ihm hergestellten „genialen“ Parfums verflüchtigen und nur Mittel zum Zweck sind: Sie sollen Grenouille unwiderstehlich machen. Vor diesem Hintergrund ist auch Laurent Wolfs Bemerkung in Vie et mort du tableau (Leben und Tod des Gemäldes) zu verstehen: „Die Maler entdecken die Grenzen des Bildes und setzen es der Kritik aus (…).“ 106 Jenseits der Grenzen des statischen, für die Dauer geschaffenen Gemäldes lockt das flüchtige ästhetische Ereignis als Installation oder Event. Zum Alltag und seiner Ästhetik bemerkt Bauman: „Er ist der Schauplatz einer anderen, nicht an Kunstgegenstände geknüpften Ästhetik. Hier finden kurzlebige Aufführungen und happenings statt, Installationen, die bewußt aus offenkundig vergänglichen Materialen zusammengebastelt wer- 102 Vgl. J. Barth, Lost in the Funhouse, New York-London, Doubleday (1963), 1988, S. 97. Dort heißt es vom angehenden Künstler: „He wishes he had never entered the funhouse. But he has. Then he wishes he were dead. But he’s not. Therefore he will construct funhouses for others and be their secret operator - though he would rather be among the lovers for whom funhouses are designed.“ 103 I. Calvino, Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft, München-Wien, Hanser, 1984, S. 49. 104 Vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, S. 305-321. 105 P. Süskind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich, Diogenes (1985), 1995, S. 5. 106 L. Wolf, Vie et mort du tableau 1273-1973. 1. Genèse d’une disparition, Paris, Klincksieck, 2004, S. 159. <?page no="879"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 863 den oder auch nur auf immateriellen Gedanken beruhen - Dinge und Events also, die versprechen, nicht länger zu bleiben, als man sie haben will, und die dieses Versprechen auch halten.“ 107 Im Anschluss an diese Ausführungen drängt sich die Hypothese auf, dass das Ästhetische die Kunst als Ensemble von einzigartigen, dauerhaften („zeitlosen“) Kunstwerken überlebt. Das Ästhetische als kommerzialisierte Komponente des Alltags, als Werbung, Event, Installation oder Show ist allgegenwärtig und wird nicht so bald verschwinden; in Frage gestellt wird die Kunst als nach Permanenz strebendes Kunstwerk. Sie könnte einer den Marktgesetzen gehorchenden Kulturindustrie zum Opfer fallen, die die Grenze zwischen Ästhetik und Werbung, Kunst und Kommerz verschwinden lässt. Einige englischsprachige Autoren stellen diese Grenze bewusst in Frage: „Manche mögen behaupten, dass sich Kunst grundsätzlich von Werbung und anderen Kulturprodukten unterscheidet. Wie Brown (1995) jedoch gezeigt hat, können Kunst und Werbung, ästhetisch betrachtet, ein und dasselbe sein.“ 108 Freilich kommt es auch auf die ästhetische Theorie an, die (wie im vorliegenden Fall), dem Primat des Marktes folgend, diese Ineinssetzung legitimiert. Als kommerzialisierte Ästhetik ist sie eine Ästhetik der „Flüchtigkeit“, die den schnell wechselnden Verhältnissen von Angebot und Nachfrage folgt wie das Wasser den Mäandern eines Flusses. Es ist Baumans Verdienst, den Nexus von Markt, Kunst und Ästhetik in der „flüchtigen Moderne“ aufgezeigt zu haben. 6. Individuelle Autonomie, Flüchtigkeit und Narzissmus in der Postmoderne: Gilles Lipovetsky antwortet Bauman In mancher Hinsicht stimmt die Zeitdiagnose des französischen Soziologen und Philosophen Gilles Lipovetsky (geb. 1944) mit der Baumans überein, weicht von ihr aber in wesentlichen Punkten auch ab. Die Abweichungen sind auf eine andere Art des Beobachtens zurückzuführen, die andere Relevanzkriterien zeitigt. Im Folgenden soll zunächst in aller Knappheit der Konsensbereich umrissen werden, der von Begriffen wie „Beschleunigung“, „Flüchtigkeit“ („liquidity“, Bauman, „liquéfaction“, Lipovetsky) 109 und „das Ephemere“ geprägt wird. Dem „Ephemeren“ als Mode hat Lipovetsky eines seiner wichtigsten Bücher gewidmet: L’Empire de l’éphémère (1987). 107 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, op. cit., S. 240-241. 108 A. Venkatesh, L. A. Meamber, „Arts and aesthetics: Marketing and cultural production“, in: Marketing Theory, vol. 6 (1), 2006, S. 11-12. 109 G. Lipovetsky, L’Empire de l’éphémère. La mode et son destin dans les sociétés modernes, Paris, Gallimard, 1987, S. 336. <?page no="880"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 864 Er stimmt mit Bauman (sowie mit Giddens und Beck) überein, sooft er die Herauslösung des Individuums aus der Tradition kommentiert, die ihm als Befreiungsprozess erscheint. In der Postmoderne, die Lipovetsky vor allem in L’Ere du vide (1983/ 93, dt. Narziß oder die Leere, 1995) analysiert, schüttelt der Einzelne als Konsument auch das Joch der Großideologien (Religion, Rationalismus, Marxismus) ab, und Lipovetsky stimmt auch dann mit Bauman und Lyotard überein, wenn er die Postmoderne als eine Zeit der Pluralisierung, Partikularisierung und Individualisierung konstruiert. Was Bauman befürchtet, nämlich dass sich der Einzelne in dieser Konstellation vom Anderen abwendet, betrachtet Lipovetsky als vollendete Tatsache. Vor allem in L’Ere du vide betont er im Anschluss an Christopher Laschs Studie Das Zeitalter des Narzissmus (The Culture of Narcissism, 1979) die gegenwärtige Dominanz der narzisstischen Persönlichkeit, die nach Freud alle Libido von den Objekten abzieht und in das eigene Ich projiziert: „Heute ist es Narziss, der in den Augen vieler, vor allem amerikanischer Forscher die Gegenwart symbolisiert.“ 110 Mit Bauman beobachtet Lipovetsky, wie sich in der zeitgenössischen Konsumgesellschaft 111 Individuen vom Kollektiv als Partei, Gewerkschaft oder Bewegung verabschieden und das kollektive Gedächtnis als historisches Bewusstsein dem postmodernen Vergessen überantworten (vgl. Abschn. 4). Wie bei Bauman herrscht in Lipovetskys Postmoderne die Gegenwart und verdrängt Vergangenheit und Überlieferung aus dem Bewusstsein: „Unsere Gesellschaften entziehen sich der regulierenden und integrierenden Macht der Vergangenheit; die Gegenwart wird zur gesellschaftlich vorherrschenden Zeitlichkeit.“ 112 Das heißt auch, dass die Zukunftsorientierung als Utopie, die ebenfalls aus dem historischen Bewusstsein hervorgeht, verschwindet. Lipovetsky spricht vom „Absterben der großen sozio-historischen Utopien“ 113 , und Bauman würde ergänzen, dass sich die großen kollektiven Utopien in den individuellen Utopien der Konsumwelt (Gesundheit, Schönheit, Reichtum) auflösen. Auf dieser Ebene gelangt Lipovetsky zu einem ähnlichen Ergebnis wie Bauman: Das Leben in der nachmodernen Konsumwelt folgt einem beschleunigten Rhythmus und wird flüchtiger, oberflächlicher. Lipovetsky spricht 110 G. Lipovetsky, L’Ere du vide. Essais sur l’individualisme contemporain, Paris, Gallimard (1983), 1993, S. 70. 111 Vgl. Y. Boisvert, Le Monde postmoderne. Analyse du discours sur la postmodernité, Paris, L’Harmattan, 1996, S. 85, wo im Zusammenhang mit Lipovetsky von einer „Generalisierung der Konsumkultur“ die Rede ist. 112 G. Lipovetsky, L’Empire de l’éphémère, op. cit., S. 317. 113 Ibid., S. 332. <?page no="881"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 865 vom „herrschenden Kode der Geschwindigkeit“ („code souverain de la vitesse“) und von einer „Kultur der Bewegung“ („culture de mouvement“). 114 Beschleunigung bringt Oberflächlichkeit mit sich: „Gegenwärtig wird auch die Welt des Bewusstseins vom Ephemeren und Oberflächlichen beherrscht; das ist die neue Wirklichkeit demokratischer Gesellschaften.“ 115 Trotz dieser weitreichenden Übereinstimmung weicht der französische Soziologe - vor allem in seinem Buch L’Empire de l’éphémère - von Bauman ab. Dies hängt u.a. mit der spezifischen Ausrichtung seiner Analyse auf die Mode und die ihr entsprechenden Relevanzkriterien oder Selektionen zusammen. Im Gegensatz zu Bauman, der sowohl in der Arbeitswelt als auch im Konsumbereich eine drastische Einschränkung individueller Subjektivität durch mobile Überwachung und „Kommodifizierung“ beobachtet (der Konsument selbst wird zur Ware), meint Lipovetsky, in der Entwicklung der Mode und der sie begleitenden Werbung einen Prozess individueller Emanzipation zu erkennen. Während sich die Mode im Bereich der Kleidung in der sich auflösenden ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts am Adel und im 19. Jahrhundert an der großbürgerlichen Haute Couture orientierte, befreit sie sich im 20. Jahrhundert von allen klassenspezifischen Normen und ist stark individualisiert. Im letzten Teil seines Buches L’Empire de l’éphémère dehnt Lipovetsky den Modebegriff auf die Bereiche Werbung und Medien, ja auf den gesamten Konsumbereich aus und meint, in allen diesen Bereichen eine Tendenz zur Individualisierung als Emanzipation von Traditionen, Ideologien und kollektiven Normen feststellen zu können. Trotz zunehmender Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit beobachtet er eine Zunahme individueller Autonomie: „Trotz aller Beschleunigung und Ausbreitung der Modekonformismen kommt es tatsächlich zu einer partiellen, aber wirklichen Steigerung geistiger Autonomie bei den Individuen; trotz aller Nachahmungsepidemien bewegt sich die Entwicklung auf eine größere Individualisierung des Denkens zu.“ 116 Man meint Giddensʼ und Becks Kommentare zum Thema „Life politics“ zu lesen, wenn man bei Lipovetsky auf die folgende Textpassage stößt: „(…) Die Individuen sind immer mehr imstande, sich frei zu entscheiden und sich der Macht kollektiver Diskurse zu entziehen (…).“ 117 Lipovetsky geht schließlich so weit, in der Mode- und Mediengesellschaft eine Fortsetzung der Aufklärung und eine Erneuerung ihrer Maxime „habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, zu erkennen. Er erzählt eine Zunahme individueller Autonomie. 114 Ibid., S. 250. 115 Ibid., S. 282. 116 Ibid., S. 309. 117 Ibid., S. 310. <?page no="882"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 866 Im Gegensatz zu Bauman, der die Gefahr heraufziehen sieht, dass sich der Einzelne vom Anderen, vom öffentlichen Leben und von der Moral abwendet und als Subjekt verkommt, stellt Lipovetsky (ähnlich wie Giddens und Beck) einen Nexus her zwischen Individualisierung und sozialem Engagement. Individuen engagieren sich nicht mehr, weil sie sich einem Kollektiv und seiner Weltanschauung zugehörig fühlen: „Das Reich des Ego wird nicht in einer sozialen Wüste errichtet, es hat selbst den Bereich des kollektiven Handelns kolonisiert (…).“ 118 Dies bedeutet, dass sich Einzelpersonen gegenwärtig vorwiegend aus Eigeninteresse engagieren, so dass es auf eine ganz neue Art zur Übereinstimmung von individuellen und kollektiven Anliegen kommt. Wie sind die Divergenzen zwischen den beiden Theorien zu erklären? Sie sind vorwiegend aus den divergierenden Beobachtungen und ihren Relevanzkriterien ableitbar: Während Bauman nicht nur die Welt des Konsums, sondern auch die Arbeitswelt betrachtet, und beide Welten auf die Marktgesetze und den Warentausch bezieht, nimmt Lipovetsky in L’Empire de l’éphémère vor allem die Mode in einem stark erweiterten Sinn des Begriffs in den Blick. Dadurch entgehen ihm nicht nur neue Formen der Überwachung und Entsubjektivierung im Arbeitsbereich, sondern auch das Zur- Ware-Werden (die „Kommodifizierung“) der Konsumenten. In seinem älteren Werk L’Ere du vide, in dem er das Augenmerk vor allem auf die postmoderne Indifferenz und den mit ihr einhergehenden Narzissmus richtet, entsteht ein ganz anderes Szenario. Der postmoderne Narzisst wendet sich von der öffentlichen Sphäre ab: „(…) Die Ideale und öffentlichen Werte können nur zerfallen, es bleibt nur die Suche nach dem Ich und seinem Eigeninteresse (…).“ 119 Ohne Einbettung in den sozialen Kontext muss dieses Eigeninteresse sein Ziel verfehlen, und Lipovetsky spricht vom „Zerfall der Persönlichkeit“. 120 Anders als in L’Empire de l’éphémère dient die Werbung - nun als „Gegenaufklärung“ - nicht mehr der Information und Orientierung, sondern der Sinnzerstörung: „(…) Die Werbung erzählt nichts, flacht den Sinn ab (…).“ 121 Tatsächlich bringt die Verschiebung im Bereich der Relevanzkriterien in L’Ere du vide eine ganz andere Erzählung hervor, die in einem trostlosen Befund, einer Negation des individuellen Subjekts, gipfelt: „Indem sie den Individualismus betont und seine Beschaffenheit durch die Logik des Narzissmus verändert, vervielfacht die postmoderne Gesellschaft die Tenden- 118 Ibid., S. 328. 119 G. Lipovetsky, LʼEre du vide, op. cit., S. 61. 120 Ibid., S. 159. 121 Ibid., S. 211. <?page no="883"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 867 zen zur Selbstzerstörung (…). 122 Diese Tendenzen werden durch Selbstmord-Statistiken belegt. Sowohl beim Theorienvergleich als auch beim Vergleich einzelner Werke, die einer und derselben Theorie angehören, wird deutlich, dass Veränderungen in der Semantik, im Bereich der Relevanzkriterien, verschiedene, mitunter sogar unvereinbare Erzählungen zeitigen können. Davon zeugt auch Baumans Theorie, in deren Entwicklung dem Nationalstaat zwei widersprüchliche Rollen zufallen, so dass es zu signifikanten Abweichungen im Aktantenbereich und zur Spaltung der Erzählung als Gesamterscheinung kommt. Zusammenfassung und Ausblick: Baumans Denken geht - wie das von Giddens und Beck - aus der marxistischen Problematik hervor und aus der Erkenntnis, dass der moderne Marxsche Diskurs der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation nicht mehr gerecht wird. Anders als Marx und Comte kann der zeitgenössische, nachmoderne Soziologe nicht mehr Gesetze verkünden und legislator sein, sondern muss sich mit der Rolle des Interpreten (interpreter) begnügen. Dieser Verzicht auf die Formulierung allgemein gültiger Gesetze geht einher mit einem Übergang vom modernen Universalismus zum postmodernen Partikularismus, den Bauman im Anschluss an Jean-François Lyotard und andere postmoderne Denker vollzieht. Seine Kritik der Moderne ist von einer Partikularisierungstendenz durchzogen, die in dem Vorwurf gipfelt, der moderne Nationalstaat habe mit seiner Ausrichtung auf Universalismus, Einheit und Homogenität das Partikulare, Individuelle und Ambivalente, das er mit dem Judentum assoziiert, systematisch unterdrückt und schließlich versucht, es in Vernichtungslagern auszumerzen. Diese Auffassung der Moderne ist einseitig, weil sie deren eigene Ambivalenz als Universalisierung und Pluralisierung nicht wahrnimmt. In seinem ersten Aktantenmodell, in dem das Antisubjekt „Nationalstaat“ im Namen des modernen „Universalismus“ (Auftraggeber) das von der „Partikularität“ beauftragte individuelle Subjekt negiert, wird dieses Subjekt zu Baumans Fokalisator, aus dessen Sicht er die Entwicklung der Moderne und den Übergang zur Postmoderne bzw. zur „flüchtigen Moderne“ erzählt. In der Postmoderne oder der „flüchtigen Moderne“, die in Baumans Diskurs zu Synonymen werden, kommt es zu einem Strukturwandel des Aktantenmodells und der Erzählung: Der „Nationalstaat“ erscheint nicht länger als Antisubjekt und Widersacher des Individuums, sondern als Subjekt, das sich dem neuen Antisubjekt, dem nach Vereinheitlichung strebenden neoliberalen „Weltkapital“, widersetzt und für „Freiheit, Verschiedenheit und 122 Ibid., S. 303. <?page no="884"?> Zygmunt Baumans kritische Soziologie 868 Solidarität“ sorgen soll. Die postmoderne Partikularisierungstendenz bleibt zwar erhalten, soll nun aber von dem ehemaligen „Antihelden Staat“ durchgesetzt werden. Ihm steht die im Auftrag des „Weltkapitals“ agierende „globale Machtelite“ gegenüber, die sich anschickt, auch den Nationalstaat der kapitalistischen Globalisierung zu unterwerfen. Dieser globalisierende Unterwerfungsprozess erfasst auch die Individuen, die in der Arbeitswelt von einer neuartigen elektronischen Kontrolle oder Selbstkontrolle dominiert werden. Die Konsumwelt, in die Individuen flüchten, um dieser Kontrolle zu entgehen, erscheint Bauman nicht als Alternative, weil die von der Werbung verlockten Konsumenten selbst „kommodifiziert“, zur Ware werden. In diesem Kontext stellt Bauman grundsätzlich die Individualisierungstheorien Giddensʼ und Becks in Frage, die individuelle Autonomie und die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung betonen. Individualität wird aus Baumans Sicht auch durch das flüchtige, unbeständige Treiben der postmodernen Gesellschaft ausgehöhlt, in der Konsumenten als Touristen, Flaneure und Spieler der Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit überantwortet werden. Dieser Flüchtigkeit ist auch die postmoderne Kunst ausgesetzt, die in einer kommerzialisierten Kultur nicht mehr nach Permanenz strebt, sondern sich tendenziell in Werbung und Unterhaltung auflöst. Im letzten Abschnitt werden Baumans Zeitdiagnosen teilweise von Gilles Lipovetsky bestätigt, der zeigt, wie in einer nachmodernen Konsumwelt das Leben einem sich beschleunigenden Rhythmus folgt und seinen Sinn verliert. Im nächsten Kapitel steht Jean Baudrillards Soziologie im Mittelpunkt: Für sie ist der Sieg des Antisubjekts „Weltkapitalismus“ (als Tauschwert) eine vollendete Tatsache. <?page no="885"?> 869 XXI. Tauschwert, Simulacrum und Simulation in der Mediengesellschaft: Jean Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz und der Sieg des Antisubjekts (Baudrillard antwortet Giddens, Beck und Bauman) Inhaltsverzeichnis 1. Vom Wesen zum Schein, von Hegel und Marx zu Nietzsche: Baudrillards Stellung in der Postmoderne 2. Die Auflösung des Gebrauchswerts im Tauschwert als „Wert“ und der Zerfall des Aktantenmodells als „Ende der Geschichte“ 3. Simulacrum und Simulation: Die hyperreale Wirklichkeit der Konsumgesellschaft 4. Die Auflösung des Subjekts: Baudrillards Antwort auf Giddens, Beck und Bauman 5. Die Auflösung der Kunst im Kommerz: Baudrillard und Bauman 6. Sinnverlust: Von Baudrillard zu Cornelius Castoriadis „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen“ 1 , bemerkt Theodor W. Adorno in seiner Aphorismensammlung Minima Moralia. Ähnliches könnte von Jean Baudrillards Soziologie der Konsum- und Mediengesellschaft behauptet werden. Mit ihren oft maßlosen Übertreibungen schärft sie den Blick für extreme Formen der Markt- und Medienwelt, die für bestimmte Entwicklungen zeitgenössischer Gesellschaften kennzeichnend sind, ohne diesen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit zu entsprechen. Es mag sein, dass so mancher Konsument meint, die Qualität eines Produkts dem Preisschild entnehmen zu können, und dass viele Menschen die Wirklichkeit mit den Ereignissen am Fernsehschirm verwechseln. Aber dies gilt längst nicht für alle. Indem Baudrillard extreme Situationen und Weisen der Wahrnehmung zur Regel erhebt, macht er zwar auf typische Trends aufmerksam, verzichtet zugleich aber auf eine Gesamtdarstellung und blendet gegenläufige Tendenzen aus. Seine Darstellung ist eine Karikatur, in der wir unsere Welt aber mühelos wiedererkennen. Dies ist in großen Zügen das Problem, das im Folgenden von verschiedenen Seiten beleuchtet werden soll, wobei auch in diesem Kapitel der Grundsatz gilt, dass sowohl die Stärken als auch die Schwächen einer 1 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 56. <?page no="886"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 870 soziologischen Theorie betrachtet werden sollen, so dass klar wird, wo ihre Wahrheitsmomente zu finden sind. Wie die Übertreibungen der Psychoanalyse sind auch die Baudrillards in vieler Hinsicht wahr. Dies ist der Grund, warum sich eine ausführliche Lektüre und Analyse seiner Schriften lohnt. Man hat bisher allzu oft nur die Übertreibungen hervorgehoben und aus ihnen auf die Nichtigkeit von Baudrillards Schriften geschlossen. Übersehen wurden dabei die Wahrheitsmomente, die in diesen Übertreibungen enthalten sind. Reduziert man mit Michael Billig Baudrillards Theorie auf Schlagworte wie „smoke of élitism“ und „grandly depopulated style“ 2 (gemeint ist ein „menschenferner Stil“), so lässt man sich den gesamten Wahrheitsgehalt seines Ansatzes entgehen. Um ihm gerecht zu werden, soll im Folgenden (Abschn. 1) zunächst in aller Knappheit der philosophische Kontext skizziert werden, in dem Baudrillards Denken entstanden ist, in dem es sich entwickelt hat. Nachgezeichnet wird sein Weg von einem selbstkritischen und immer skeptischer werdenden Marxismus, wie er in Le Système des objets (1968, dt. Das System der Dinge, 1991) und La Société de consommation (1970) zum Ausdruck kommt, zu einem radikalen Nietzscheanismus, der das hegelianische und marxistische Wesen im Schein und in der postmodernen Indifferenz als Austauschbarkeit der Wertsetzungen auflöst. Dieser philosophisch-soziologische Werdegang ist - wie der des postmodernen Lyotard - vom Scheitern der Mai-Revolte des Jahres 1968 geprägt. 3 Nicht ohne Nostalgie schreibt Baudrillard in marxistischem Sprachduktus über die Graffiti des Mai 68: „Im Mai sind die Mauern und ihre Wörter das wahre revolutionäre Medium (…).“ 4 Doch das wahre Wort setzt sich nicht durch, und Baudrillard stellt im Rückblick fest: „Es war nach 1968, dass die politische Welt für mich ihren Zauber verlor (…).“ 5 Aber wer war, wer ist Jean Baudrillard? Er wird 1929 in Reims geboren und besucht das Lycée Henri IV in Paris, wo er auch Kontakt zum bekannten Historiker Pierre Vidal-Nacquet hat. Er studiert weder Philosophie noch Soziologie, sondern Germanistik an der Sorbonne und übersetzt später Texte von Karl Marx, Bertolt Brecht und Peter Weiß. Anfang der 1960er Jahre lernt er den Marxisten Henri Lefebvre (1901-1991) kennen, der 1967 zum Direktor der „Abteilung Soziologie“ an 2 M. Billig, „Sod Baudrillard! On Ideology Critique in Disney World“, in: H. W. Simons, M. Billig (Hrsg.), After Postmodernism. Reconstructing Ideology Critique, London, Sage, 1994, S. 164-165. 3 Zum Mai 1968 vgl. C. Castoriadis, Cl. Lefort, E. Morin, Mai 1968, Paris, Fayard, 1968. 4 J. Baudrillard, Pour une critique de l’économie politique du signe, Paris, Gallimard, 1972, S. 218. 5 C. Francblin (Hrsg.), Jean Baudrillard, Paris, Imec-Artpress, 2014, S. 22-23. <?page no="887"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 871 der Universität von Paris X (Nanterre) ernannt wird. Baudrillard schreibt bei ihm eine soziologische Dissertation, die er 1968 unter dem Titel Le Système des objets veröffentlicht. Er wird später Assistent und schließlich Maître de conférences bei Lefebvre - ohne jemals Professor zu werden. Stattdessen übernimmt er 1986 die Leitung des „Institut de Recherche et d’Information Socio-Economique“ an der Universität von Paris IX (Dauphine). Er wird 1990 pensioniert und stirbt im Jahre 2007 mit 77 Jahren. In seinem Nachruf in Libération (7. März 2007) beschreibt Robert Maggiori Baudrillards Abschied vom Marxismus und von der hegelianisch-rationalistischen Auffassung der Geschichte, die nun als „katastrophaler Prozess“ („processus catastrophique“) aufgefasst wird und nicht mehr als Fortschreiten zu immer höheren Entwicklungsstadien (vgl. Kap. IV, Kap. V). Die Entwicklung tritt auf der Stelle, so dass Baudrillard zu der für die Postmoderne charakteristischen Einsicht gelangt, wir seien am Ende der Geschichte angekommen: „Alles bewegt sich, und nichts ändert sich. Betrug und Illusion werden stets wahrer, das Wirkliche verschwindet hinter dem Hyperrealen.“ 6 Damit sind die weiteren Phasen in Baudrillards Werdegang vorgezeichnet. Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, wie sehr Baudrillards Entwicklung von Hegels und Marxʼ Welt des Wesens zu Nietzsches Scheinwelt mit der wachsenden Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert und seinem Eindringen in alle Lebensbereiche zusammenhängt. Diese tendenzielle Reduktion der Gesellschaft auf den Markt (auf „ihre“ Wirtschaft) ist die eigentliche Ursache für die sich ausbreitende Indifferenz als Austauschbarkeit aller Werte (nicht als Gleichgültigkeit). Es soll deutlich werden, dass die Entfaltung der Gedanken, auch und vor allem der soziologischen, in einen sich rasch wandelnden sozialen Kontext eingebettet ist und nicht losgelöst von diesem Kontext zu verstehen ist. Dieser Kontext einer total werdenden Herrschaft des Tauschwerts als Weltkapital bewirkt, dass das, was vom Neoliberalismus als „das Gute“ (Marktgesetz, freier Handel, Profit) bezeichnet wird, keinen Gegner mehr hat. Dies hat zur Folge, dass das Aktantenmodell der kritischen Gesellschaftstheorien (Touraines, Giddensʼ, Becks: „ökosoziale Demokratie vs. Weltkapital“) zerfällt. Das „Kapital“ als Antisubjekt hat bei Baudrillard nicht nur keinen Gegner, sondern auch keine Widersacher mehr (als „Helfer des Subjekts“: etwa soziale Bewegungen). Das System hat sich sogar das kritische Denken einverleibt: „(…) Das kritische Denken und die berühmte ‚Arbeit des Negativen‘ werden vom System instrumentalisiert, und wir begeben uns auf die 6 R. Maggiori, „Jean Baudrillard au-delà du réel“, in: Libération, 07.03.2007, S. 5. <?page no="888"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 872 verzweifelte Suche nach einem antagonistischen Pol.“ 7 Wo die Möglichkeit eines Aktantenmodells grundsätzlich in Frage gestellt wird, zeichnet sich auch ein Ende der Geschichte als Erzählung ab. Vom Tauschwert und seinen Marktgesetzten erfasst, erscheint die Konsum- und Medienwelt Baudrillard als geschlossenes System von Simulakren und Simulationen, als virtuelle oder hyperreale Welt, aus der kein Weg ins Freie führt. Hegels, Marxʼ und Lukácsʼ Wesen als Wahrheit des gedanklich erfassten Gesamtzusammenhangs (Hegel: „Das Wahre ist das Ganze“, vgl. Kap. IV. 1) verflüchtigt sich im Schein der Simulation: „So ist das Simulacrum nicht etwas, das die Wahrheit verdeckt, sondern etwas, das die Abwesenheit der Wahrheit verdeckt.“ 8 An dieser Auffassung der Gesellschaft als Schein wird im dritten Abschnitt Kritik im Sinne der Kritischen Theorie geübt: Trotz der scheinbar unumschränkten Herrschaft des Scheins (eine von Baudrillards nützlichen Übertreibungen) sind Wirklichkeit und Wahrheit (als Wahrheitsmoment: auch von Baudrillards eigener Theorie) nicht unzugänglich. Der vierte Abschnitt schließt insofern an den dritten an, als er zeigt, wie Baudrillards Auffassung der Gesellschaft als totaler Simulation oder Illusion, die nicht als solche wahrgenommen wird, den auch bei anderen postmodernen Autoren (Lyotard, Deleuze, Foucault) zentralen Gedanken an eine Auflösung des individuellen Subjekts im spätkapitalistischen System aufkommen lässt. Klar und anschaulich stellt diesen Vorgang Nadine Salamé dar, wenn sie fragt: „Wird der vom Konsum ferngesteuerte Mensch nicht selbst auf ein Objekt reduziert? “ 9 Immer wieder beschreibt Baudrillard diesen Vorgang der Fernsteuerung durch Werbung oder Medien und reagiert damit kritisch auf Giddensʼ und Becks Gedanken der Selbstverwirklichung durch „Life politics“. Zugleich radikalisiert er Baumans Gedanken der individuellen „Kommodifizierung“: der Verwandlung der Individuen in Waren, in passive Konsumenten und Katalysatoren einer zum Wachstum verurteilten Wirtschaft. Der fünfte und vorletzte Abschnitt ist der „Auflösung der Kunst im Kommerz“ gewidmet und kann parallel zum fünften Abschnitt des vorigen Kapitels gelesen werden: „Flüchtige Kunst oder ‚Ende der Kunst‘“? Er bezieht sich vor allem auf Baudrillards Text Le Complot de l’art und die Kontroversen, die er in Frankreich ausgelöst hat. Auch hier spielt die Herrschaft des Marktes und das Zur-Ware-Werden der Kunst eine entscheidende Rolle. 7 J. Baudrillard, Carnaval et cannibale suivi de Le Mal ventriloque, Paris, L’Herne, 2008, S. 43. 8 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité ou l’intelligence du Mal, Paris, Galilée, 2004, S. 25. 9 N. Salamé, L’Hyperréalité du monde postmoderne selon Jean Baudrillard. Essai de lecture analytique et critique, Paris, L’Harmattan, 2016, S. 177. <?page no="889"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 873 Baudrillard scheint an die Überlegungen des vorigen Kapitels anzuknüpfen, wenn er feststellt, dass die Ästhetisierung der Welt durch den Kommerz - auch durch die „Warenästhetik“ im Sinne von Wolfgang F. Haug 10 - zur Auflösung der Kunst führt: „Und für mich bedeutet die Tatsache, dass die ganze Welt ästhetisch wird, das Ende von Kunst und Ästhetik.“ 11 Im letzten Abschnitt wird im Anschluss an Baudrillards Gedanken des „Sinnzerfalls“ ein Aspekt von Cornelius Castoriadisʼ Soziologie der „Bedeutungslosigkeit“ („insignifiance“) beleuchtet. Es geht in diesem Fall nicht um eine Replik auf Baudrillard, sondern eher im Gegenteil um eine Ergänzung seines Ansatzes und um dessen Aufwertung. Es soll gezeigt werden, dass ein in jeder Hinsicht ernst zu nehmender Philosoph und Soziologe wie Castoriadis zu ähnlichen Einsichten gelangt wie der oft geschmähte Denker von Nanterre. 1 Vom Wesen zum Schein, von Hegel und Marx zu Nietzsche: Baudrillards Stellung in der Postmoderne In Hegels Augen war die Erkennbarkeit der Wirklichkeit und ihrer historischen Entwicklung über jeden Zweifel erhaben. Hier soll nochmals an die berühmten Sätze aus der Phänomenologie des Geistes erinnert werden: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ 12 Dieses nimmt im Laufe der Geschichte klare Konturen an und tritt schließlich als Absolute Idee oder Wahrheit in Erscheinung. Obwohl Hegel die ästhetische Erkenntnis der Kunst dem begrifflichen Erkenntnismodus der Philosophie unterordnet, ist er überzeugt, dass die Kunst fähig ist, die Scheinwelt des Alltags zu durchbrechen und die wahre Wirklichkeit sichtbar zu machen: „Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit.“ 13 Im Zusammenhang mit diesen Behauptungen, die für Hegels moderne Zuversicht charakteristisch sind, soll antizipierend festgestellt werden, dass Baudrillard an die Möglichkeit, aus der medial vermittelten Scheinwelt der Postmoderne auszubrechen, nicht mehr glaubt. Im Gegenteil: Zeit- 10 Vgl. W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 20. 11 J. Baudrillard, Le Complot de l’art, Paris, Sens et Tonka (1996), 2005, S. 147. 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. 13 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. I, Werke, Bd. XIII, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 22. <?page no="890"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 874 genössische Kunst betrachtet er als kommerzialisierte Replika der Konsumwelt, nicht als deren Erkenntnis oder gar Kritik (vgl. Abschn. 5). Sein Bruch mit Hegels modernem Wahrheitsanspruch bringt einen Bruch mit Georg Lukácsʼ hegelianischem Marxismus mit sich, der wahre Wirklichkeitserkenntnis mit der Stellung des Proletariats in Gesellschaft und Geschichte verknüpft. Analog zu Hegels Kunst vermag das Proletariat aufgrund seiner privilegierten Position als ausgebeutete Klasse und potenzielle Auflösung des Klassensystems „den Schein und die Täuschung“ der kapitalistischen Welt zu durchschauen. Lukács spricht von „seine[r] Fähigkeit, die Totalität der Gesellschaft als konkrete, geschichtliche Totalität zu sehen; die verdinglichten Formen als Prozesse zwischen Menschen zu begreifen; den immanenten Sinn der Entwicklung (…) positiv ins Bewußtsein zu heben und in Praxis umzusetzen“. 14 Noch Baudrillards um sechzehn Jahre älterer Zeitgenosse, der Marxist Lucien Goldmann (1913-1970), versuchte, Lukácsʼ Einschätzung der Lage (in den 1920er Jahren) zu aktualisieren und die „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“) 15 als neues revolutionäres oder zumindest radikal-reformistisches Kollektivsubjekt auftreten zu lassen. Nach dem Scheitern der Mai-Revolten von 1968, das so manchen linken Pariser Intellektuellen zum Umdenken und zur Selbstkritik zwang, kann Baudrillard, der noch in seinem Frühwerk an die Gedankengänge des Marxismus anknüpft, an die marxistischen Entwürfe und Utopien nicht mehr glauben: sicherlich nicht an Lukácsʼ These über den „Marxismus als wissenschaftliche[n] Standpunkt des Proletariats“. 16 Er schlägt den von Karl Löwith nachgezeichneten Weg ein, der von Hegel über Marx zu Nietzsche führt. 17 Im Gegensatz zu Hegel und den Marxisten glaubt Nietzsche weder an die Erkennbarkeit der Wirklichkeit noch an die Wahrheit: „Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen…“ 18 Zusammen mit der „wahren Welt“ und ihrer Erkennbarkeit wird in Nietzsches Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ auch der Wahrheitsbegriff verabschiedet, und zwar mit Hilfe 14 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien zur marxistischen Dialektik, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 338. 15 Vgl. L. Goldmann, La Création culturelle dans la société moderne, Paris, Denoël, 1971, S. 167-168, wo Goldmann die Vermutung äußert, dass sich „die neuen technokratischen Schichten“ für die Arbeiter- und Angestelltenselbstverwaltung entscheiden würden: eine Fehleinschätzung der Lage. 16 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 308. 17 Vgl. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg, Meiner, 1986 (9. Aufl.), S. 205-206. Der im Untertitel erwähnte Bruch wird nicht nur von Baudrillard, sondern auch von Derrida, Lyotard und Deleuze nachvollzogen: Das Feindbild aller dieser Philosophen ist Hegel. 18 F. Nietzsche, „Götzen-Dämmerung“, in: ders., Werke, Bd. IV (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 958. <?page no="891"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 875 eines semiotischen Tricks, den postmoderne Philosophen wie Derrida und Deleuze in allen seinen Varianten angewendet haben: durch die Projektion des Wahrheitsbegriffs aus dem begrifflichen Bereich auf die Ebene der rhetorischen Figuren, auf der er sich im Vieldeutigen verflüchtigt. Nietzsche fragt: „Was ist also Wahrheit? “ und antwortet: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und vorbildlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen (…).“ 19 Diese rhetorische Antwort, die selbst einen Wahrheitsstatus beansprucht (die Wahrheit über die Wahrheit), ist eine Teilwahrheit: Sie trifft auf wahre Sätze der Mathematik, der Logik und der Astronomie nicht zu - ebenso wenig wie auf statistisch fundierte wahre Sätze der Soziologie: etwa auf den Satz, dass „bei wachsender Anzahl der Kommunikationsteilnehmer die Chancen auf Verständigung abnehmen“. Eher trifft Nietzsches Kritik Marxʼ und Engelsʼ Satz aus dem Kommunistischen Manifest: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ 20 Dieser Satz mag rhetorisch wirksam sein, hält aber (wie Max Weber gezeigt hat) einer soziologischen Analyse nicht stand. Baudrillard kann sicherlich nicht pauschal als Nietzscheaner bezeichnet werden, zumal das hegelianisch-marxistische Erbe (vor allem als materialistische Gesellschaftskritik) in seinem Denken nachwirkt. Mit Nietzsche verbinden ihn jedoch drei Gedanken, die ihn zugleich von Hegel und Marx trennen: 1. dass die Wahrheit als vom Schein verdecktes Wesen nicht mehr zu haben ist und dass Kunst gegenwärtig im kommerzialisierten Schein aufgeht; 2. dass sich die gesellschaftliche Entwicklung auf kein rational definierbares Ziel zubewegt, indem sie immer höhere Stadien durchläuft, und 3. dass es keine klar bestimmbare Hierarchie der moralischen, politischen, ästhetischen Werte gibt, die das gesellschaftliche Leben regelt. Diese drei Gedanken sollen nun näher betrachtet werden. Von Hegel, Marx und der Dialektik verabschiedet sich Baudrillard gleich auf der ersten Seite von Les Stratégies fatales (1983, dt. Die fatalen Strategien, 1983): „Das Universum ist nicht dialektisch - es ist auf Extreme gerichtet und nicht auf das Gleichgewicht; es unterliegt einem radikalen Antagonismus, das heißt weder der Versöhnung noch der Synthese.“ 21 (Man 19 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: Werke, Bd. V, op. cit., S. 314. 20 K. Marx, F. Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“, in: K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 525. 21 J. Baudrillard, Die fatalen Strategien, München, Matthes und Seitz, 1991, S. 7. <?page no="892"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 876 achte auf die kritische, antihegelianische Festsetzung neuer Relevanzkriterien, die diesen Satz zum Ausgangspunkt einer neuen, antihegelianischen Erzählung machen.) Betrachtet man den Kontext näher, in dem sich Baudrillard auf Nietzsche als Hegels Antipoden bezieht, so wird im Hinblick auf den ersten Punkt deutlich, dass er zwar Nietzsches Schein-Begriff für brauchbar hält, weil er auf die heutige Konsum- und Modewelt anwendbar ist, sich ihn aber nicht wie der Ästhet Nietzsche als positiven Wert zu eigen macht. In seinen Augen zeugt die zum Schein gewordene Konsumwelt eher vom „Fazit ihrer Beschädigung“, wie Adorno sagen würde. Zunächst stellt er fest, dass „die Mode ihren Rausch an der bloßen Oberfläche“ findet und setzt seine Argumentation mit einem Nietzsche-Zitat fort, das er auf die Mode bezieht: „Findet sie dadurch ihre Unschuld wieder, die Nietzsche den Griechen zusprach: ‚O diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! ‘“ 22 Liest man dieses Zitat im Kontext, so wird alsbald klar, dass Baudrillard keineswegs am „Rausch an der bloßen Oberfläche“ teilnimmt, sondern ganz im Gegenteil die scheinbare Unschuld des Scheins als Erbe des Marxismus und der Kritischen Theorie (er bezieht sich immer wieder auf Marcuse) radikal in Frage stellt. Er ist nur insofern Nietzscheaner, als er innerhalb der postmodernen Konstellation keine Möglichkeit sieht, ein Hegelsches Wesen hinter dem Schein sichtbar zu machen und daher Nietzsches Schein-Begriff, den er negativ konnotiert, auf die Konsumgesellschaft anwendet. Analog dazu ist der zweite Punkt zu betrachten, in dem sich Baudrillards Denken mit dem Nietzsches überschneidet. Er ist mit Nietzsche einer Meinung, wenn es gilt, sich von Hegels Auffassung der Geschichte als kumulativer Entwicklung zu immer höheren Stadien gesellschaftlichen Zusammenlebens zu distanzieren. Zugleich schwindet der Fortschrittsglaube, der Hegel, Comte und Marx verband: „Die lineare Bewegung der Moderne und des Fortschritts ist zerbrochen.“ 23 Daraus folgt eine Ablehnung der Marxschen Vorstellung von einer historisch notwendigen Überwindung kapitalistischer Verhältnisse: „Seit langem ist klar, dass alles, was aus diesem kritischen und revolutionären Denken, dieser dialektischen Form der Überwindung, hervorgeht, keinerlei 22 J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München, Matthes und Seitz, 1982, S. 135. 23 J. Baudrillard, A l’ombre du millénaire ou le suspens de l’an 2000, Paris, Sens et Tonka, 1998, S. 15. <?page no="893"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 877 Substanz hat.“ 24 Freilich wird dieser Gedanke an eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse mit Nostalgie verabschiedet, denn in Paroxys mus (Le Paroxyste indifférent, 1997) spricht Baudrillard von einer „Gesellschaft, die ihre Transzendenz verliert“ („une société en perte de transcendance“). 25 Mit Nietzsche verbindet ihn auch eine zirkuläre Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung, die er zwar nicht als „ewige Wiederkehr des Gleichen“, wohl aber als Recycling (recyclage) denkt: „Die Geschichte wurde nur aus der zyklischen Zeit herausgerissen, um dem Recycling zu verfallen.“ 26 Konkret meint er, dass soziale Erscheinungen wie „die Kirche, der Kommunismus, die Demokratie, die Ethnien, die Konflikte, die Ideologien - unendlich recyclet werden können“. 27 Diese Argumentation ist aus soziologischer Sicht nicht akzeptabel, weil sie aufgrund ihrer Immunisierung (Popper) rationaler Kritik unzugänglich ist. Dass ethnische Konflikte und die sie begleitenden Ideologien nicht aus der Welt zu schaffen sind und in irgendeiner Form wiederkehren werden, mag man Baudrillard zugestehen; aber der Kommunismus ist in Europa so gut wie verschwunden, die Kirchen machen einen sichtbaren Struktur- und Funktionswandel durch - ebenso wie die Demokratie und die sie stützenden Ideologien, die wiederum auf die kirchlichen Institutionen einwirken. Es ist folglich nicht sinnvoll, gesellschaftliche Entwicklung zyklisch aufzufassen. Hier ist vor allem die Feststellung wichtig, dass diese zirkuläre Auf fassung der Geschichte den Gedanken an eine Überwindung der kapitalisti schen Verhältnisse ausschließt. Dieser Verzicht auf den Gedanken der Überwindung kann insofern der postmodernen Problematik zugerechnet werden, als er in Lyotards Kritik der großen Metaerzählungen, zu denen auch der Marxismus gehört, implizit ist 28 und sich zugleich bei Gianni Vattimo, dem italienischen Philosophen der Postmoderne, findet. Nach Vattimo zeichnet sich postmodernes Denken, wie sich in der Einleitung zum „Vierten Teil“ gezeigt hat, dadurch aus, dass es die revolutionäre Überwindung des Marxismus durch die Ver windung ersetzt hat. 29 Freilich ist diese Kritik der „Überwindung“ und der teleologischen Geschichtsentwicklung nicht der einzige Aspekt der Postmoderne als Problematik. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Zerfall des 24 J. Baudrillard, Carnaval et cannibale, op. cit., S. 90. 25 J. Baudrillard, Paroxysmus, Wien, Passagen, 2002, S. 66. (Le Paroxyste indifférent. Ent retiens avec Philippe Petit, Paris, Grasset-Fasquelle, 1997, S. 70.) 26 J. Baudrillard, Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin, Merve, 1994, S. 50. 27 Ibid. 28 Vgl. J.-F. Lyotard, Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S. 171, wo vom Marxismus behauptet wird, er sei „gestorben“ („défunt“). 29 G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. <?page no="894"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 878 Wertsystems in der marktbedingten Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte (Punkt 3 oben). In L’Illusion de la fin (1992, dt. Die Illusion des Endes, 1992) spricht Baudrillard von einer „Umwertung, die sich zur Unterschiedslosigkeit, zur Ununterscheidbarkeit von Werten zurückwendet, die ihrerseits in einer Ästhetik der Pluralität, der Differenz etc. fetischisiert wird“. 30 Hier ist der von ihm nicht weiter ausgeführte Gedanke wesentlich, dass der postmoderne Pluralismus, den im Anschluss an Lyotard Autoren wie Wolfgang Welsch stets mit Zustimmung erwähnen 31 , eine von ihnen nicht bemerkte Kehrseite hat: die Fragmentierung von Gesellschaft und Kultur und die aus ihr ableitbare Austauschbarkeit der Perspektiven, Positionen und Wertsetzungen. 32 Die sich absolut setzenden und einander befehdenden religiösen, politischen und moralischen Positionen erscheinen dem unvoreingenommen (Konsumenten-)Blick schließlich als austauschbar, indifferent. Der einzige Wert, der die Engagierten und die Gleichgültigen verbindet, ist der von allen anerkannte wert-indifferente Tauschwert des Geldes, der jenseits aller kulturell bedingten Überzeugungen wirkt. Dies meint Baudrillard mit dem Ausdruck „Ununterscheidbarkeit der Werte“: Von ihr wird die postmoderne Gesellschaft als Tausch- und Wirtschaftsgesellschaft in zunehmendem Maße geprägt. Eines der Wahrheitsmomente von Baudrillards Theorie besteht darin, diese Entwicklung sichtbar gemacht zu haben. 2. Die Auflösung des Gebrauchswerts im Tauschwert als „Wert“ und der Zerfall des Aktantenmodells als „Ende der Geschichte“ Marx und Engels gingen stets davon aus, dass der den kapitalistischen Markt beherrschende Tauschwert mitsamt dem Warentausch und dem Warenfetischismus eine authentische Wirklichkeit verdeckte: die Wirklichkeit der Gebrauchswerte. In Das Kapital erscheint der Gebrauchswert als die Grundlage des Tauschwerts: „Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In 30 J. Baudrillard, Die Illusion des Endes, op. cit., S. 147. 31 Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VSH, 1991 (3. Aufl.), S. 4: „Postmoderne wird hier als Verfassung radikaler Pluralität verstanden, Postmodernismus als deren Konzeption verteidigt.“ Nicht berücksichtigt wird hier die Tatsache, dass Fragmentierung die Kehrseite der pluralistischen Medaille ist, auf der auch die Folgen dieser Fragmentierung sichtbar werden: die Austauschbarkeit von partikularistischen Positionen in der Indifferenz. 32 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.) S. 103-104. <?page no="895"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 879 der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des - Tauschwerts.“ 33 Wer sich Schuhe kauft, achtet im Allgemeinen auf ihren Gebrauchswert und fragt sich, ob sie bequem sind und ihm das Gehen oder Laufen erleichtern. Man kann sich auch Schuhe kaufen, weil man meint, dass sie elegant aussehen. Schönheit kann durchaus noch als Gebrauchswert angesehen werden, weil sie dem erfolgreichen Auftreten in der Gesellschaft zuträglich ist. Im Extremfall kann sich eine Käuferin nicht nur für Eleganz entscheiden, sondern auch und vor allem für einen auf den ersten Blick erkennbaren Markennamen, der einen hohen Preis und zugleich mit ihm eine distinguierte Person ankündigt (mögen die Schuhe auch ein wenig drücken! ). In diesem Fall könnte man mit Thorstein Veblen von „demonstrativer Verschwendung“ 34 und von einer Vorherrschaft des Tauschwerts sprechen. Wie Bauman ist Baudrillard der Meinung, dass in der postmodernen Konsumgesellschaft diese Situation zur Regel wird, weil Markenartikel, Modetrends, neue Gadgets aller Art und Bestseller nicht mehr nach ihrem Gebrauchswert, sondern nach ihrem Tauschwert als Marktwert beurteilt werden - und zusammen mit ihnen auch die sie erwerbenden Konsumenten, die auf dem von Differenzen strukturierten Statusmarkt aufsteigen. Wer ein teures Auto fährt, dessen Preis allgemein bekannt ist, hofft in vielen Fällen auf höhere Wertschätzung in seinem sozialen Umfeld, das bisweilen (wie beim Bestseller-Autor) die Qualität der Person mit der gezahlten Geldquantität verwechselt. Baudrillard hat diesen vom Tauschwert dominierten postmodernen Kontext im Sinn, wenn er die These vorbringt, dass Marx den Gebrauchswert zu Unrecht für die Grundlage des Tauschwerts hält. Schon in Le Miroir de la production (1973), einem durchaus noch von Marx inspirierten Text, distanziert er sich von der für Das Kapital wesentlichen Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, die eine der Grundlagen des gesamten Marxismus bildet: „Dort, wo die marxistische Analyse am überzeugendsten ist, dort tritt auch ihre Schwäche zutage: nämlich in der Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert.“ 35 Weit davon entfernt, die Grundlage des Tauschwerts zu bilden, verflüchtigt sich der Gebrauchswert in Baudrillards Theorie im Tauschwert. Damit zerfällt auch die Grundlage der Marxschen und marxistischen Kritik: Wo der Gebrauchswert als Basis aller vom Markt unabhängigen 33 K. Marx, Das Kapital, Bd. I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1981, S. 18. 34 T. Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt, Fischer, 2011, S. 294. 35 J. Baudrillard, Le Miroir de la production ou l’illusion critique du matérialisme historique, Paris, Galilée, 1975, S. 10. <?page no="896"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 880 authentischen (kulturellen) Werte verschwindet, büßt auch die Gesellschaftskritik als Kritik der kapitalistischen Marktgesellschaft ihr Fundament ein. Vor diesem Hintergrund ist der Untertitel des Buches Le Miroir de la production zu verstehen: L’illusion critique du matérialisme historique (Die kritische Illusion des Historischen Materialismus). Kritik im Sinne des Marxismus und der Kritischen Theorie ist nicht mehr möglich, weil sich die Welt des Gebrauchswerts und der von ihm ableitbaren kulturellen (religiösen, politischen, moralischen, ästhetischen) Werte im Schein des Tauschwerts auflöst. Ausgehend von dieser Zeitdiagnose geht Baudrillard in seinem Buch La Gauche divine (1985, dt. Die göttliche Linke, 1986) vom Verschwinden der kritischen, marxistisch-revolutionären Politik aus. Dort ist von der „Involution des Politischen“ und von der „Resorption des Politischen“ 36 die Rede und schließlich auch vom „Schluß mit dem großen marxistischen Versprechen“. 37 Damit verabschiedet sich Baudrillard endgültig von der Vision einer revolutionären Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie er die von ihm behauptete Auflösung des Gebrauchswerts und der auf ihm gründenden politischen und moralischen Werte plausibel macht. In seiner Antwort auf Marxʼ Kritik der Politischen Ökonomie konstruiert er in Pour une critique de l’économie politique du signe (1972) und sehr viel später in La Transparence du Mal (1990, dt. Die Transparenz des Bösen, 1992) ein vierstufiges Modell, das die historische Entwicklung des Verhältnisses von Gebrauchswert und Tauschwert veranschaulichen soll: Einem „natürlichen Stadium“ („stade naturel“) des Gebrauchswerts folgt ein „kommerzielles Stadium“ („stade marchand“) des Tauchwerts und diesem ein „strukturales Stadium“ („stade structural“) als Zeichenwert. Diesem dritten Stadium „entsprach ein Code, und der Wert [gemeint ist der Tauschwert] entfaltete sich hier unter Bezugnahme auf ein Ensemble von Modellen“. 38 Das heißt, dass er nicht mehr auf Objekte als Gebrauchsgegenstände bezogen wurde. Das letzte oder „fraktale Stadium“ beschreibt Baudrillard in Die Transparenz des Bösen: „Im vierten Stadium, dem fraktalen oder vielmehr viralen oder noch besser bestrahlten Stadium des Werts, gibt es überhaupt keinen Bezugspunkt mehr, der Wert strahlt in alle Richtungen, in alle Lücken, ohne irgendeine Bezugnahme auf irgend etwas, aus reiner Kontiguität.“ 39 36 J. Baudrillard, Die göttliche Linke, München, Matthes und Seitz, 1986, S. 19. 37 Ibid., S. 18. 38 J. Baudrillard, Die Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin, Merve, 1992, S. 11. 39 Ibid. <?page no="897"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 881 In La Transparence du Mal ist gar von einer „Epidemie des Werts“ („épidémie de la valeur“) 40 die Rede. Diese Metaphorik, die in den medizinischen Bereich hineinreicht, jedoch keinerlei soziologische Klärung herbeiführt, sollte dahingehend gedeutet werden, dass eine Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert, die Marx, der von Baudrillard dem „kommerziellen Stadium“ des Konkurrenzkapitalismus zugerechnet wird, noch vornehmen konnte, gegenwärtig nicht mehr möglich ist. Tatsächlich ist schon in Pour une critique de l’économie politique du signe von einer „Verallgemeinerung des Tauschwerts“ 41 die Rede, die zu verstehen gibt, dass alle Bereiche der postmodernen Gesellschaft durch den Tauschwert vermittelt sind, so dass es keinen Wertbereich jenseits des Tauschwerts mehr geben kann. Diese Sicht der Dinge wird zu Recht von Klaus Kraemer relativiert, der daran erinnert, dass „Waren im allgemeinen und massenmedial erzeugte Kulturwaren im besonderen (…) einen unhintergehbaren symbolischen Gebrauchswert [besitzen]“. 42 Ohne sich auf den französischen Denker zu beziehen, führt W. Hoebig das entscheidende Argument gegen Baudrillards Tauschwert-Theorie ins Feld: „Das Kapital ist zwar gleichgültig gegen den Gebrauchswert, nichtsdestotrotz aber nur Kapital, solange es Gebrauchswerte produziert.“ 43 Konkret: ohne Sohlen, die wenigstens eine Zeit lang halten, sind die elegantesten und teuersten Schuhe wertlos, weil sie unbrauchbar sind. Hier wird deutlich, dass Baudrillard mit Habermas, Touraine und Giddens zwar eine reale Entwicklung (die Vorherrschaft des Tauschwerts) analysiert, sie aber so weit ins Extreme treibt, dass er den Wahrheitsbereich des empirisch Beobachtbaren verlässt. Trotz solcher Kritik beharrt er auf seinem Standpunkt und erläutert ihn sehr viel später in L’Echange impossible (1999, dt. Der unmögliche Tausch, 2000), wo das Geld als negatives Prinzip beim Namen genannt wird: „Dieser Fetischismus des Geldes, vor dem alle Aktivitäten gleichwertig sind, bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß keine dieser Aktivitäten mehr über eine klare, distinkte Zweckbestimmung verfügt. Das Geld wird nun zur universellen Retranskription einer sinnentleerten Welt.“ 44 40 J. Baudrillard, La Transparence du Mal. Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris, Galilée, 1990, S. 13. 41 J. Baudrillard, Pour une critique de l’économie politique du signe, op. cit., S. 101. 42 K. Kraemer, „Schwerelosigkeit der Zeichen? Die Paradoxie des selbstreferentiellen Zeichens bei Baudrillard“, in: R. Bohn, D. Fuder (Hrsg.), Baudrillard. Simulation und Verführung, München, Fink, 1994, S. 68. 43 W. Hoebig, Bedürftigkeit - Entfremdung der Bedürfnisse im Kapitalismus, Berlin, Max- Planck-Institut für Bildungsforschung, 1984, S. 263. 44 J. Baudrillard, Der unmögliche Tausch, Berlin, Merve, 2000, S. 173. <?page no="898"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 882 Es erscheint hier als Ursprung der Indifferenz, sofern diese als Austauschbarkeit aller Werte (nicht einfach als Gleichgültigkeit von Personen) aufgefasst wird, die alle kulturellen Wertsetzungen schließlich in Frage stellt. Man wird an Habermasʼ Thesen zur „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch die Systeme „Macht“ und „Geld“ erinnert (vgl. Kap. XVI. 1). Nun stellt sich die Frage, welche Mächte oder Kräfte für diese Entwicklung verantwortlich sind. In Baudrillards Diskurs als Erzählung fällt dem Geld als „Kapital“ oder „Tauschwert“ die Rolle des Antisubjekts zu. In dieser Hinsicht unterscheidet sich sein Aktantenmodell nicht grundsätzlich von den Modellen Touraines, Giddensʼ und Becks, in denen das „globale Kapital“ (der „Globalismus“, Beck) als zerstörerische Kraft identifiziert wird. Der entscheidende Unterschied zu den spätmodernen Aktantenmodellen besteht darin, dass in Baudrillards Konstruktion der Subjekt-Aktant fehlt. Dieses Fehlen ist für postmoderne Erzählungen (Lyotards, Vattimos) charakteristisch. Während bei Touraine das Subjekt als soziale Bewegung, bei Giddens und Beck die von Bewegungen und Bürgerinitiativen gestützte „öko-soziale Demokratie“ dem globalen Kapital Widerstand leisten, beherrscht in Baudrillards L’Ecran total (1999, dt. Der totale Schirm) das Antisubjekt unangefochten das Feld. Die universellen Werte des Humanismus „verlieren ihre Autorität“ („perdent de leur autorité“) 45 , und die von ihnen legitimierten „Besonderheiten“ („singularités“) 46 der Sprachen, Kulturen, Individuen werden von dem sich ausbreitenden Weltkapital hinweggefegt. Sie leisteten eine Zeit lang Widerstand, sind dazu gegenwärtig aber nicht mehr in der Lage: „Aber von nun an gelingt es ihnen nicht mehr, denn die triumphierende Globalisierung (mondialisation) fegt alle Differenzen und Werte hinweg und kündigt eine völlig indifferente (Un-)Kultur an.“ 47 In Le Pacte de lucidité (2004, dt. Der Pakt mit dem Luziden), sieben Jahre nach L’Ecran total erschienen, wird deutlich, dass das Antisubjekt - wie bei Touraine, Giddens und Beck - mit dem (neo-)liberalen Weltkapital identifiziert wird. Dort ist von der „letzten Etappe“ die Rede, „die der Liberalismus in seiner unaufhaltsamen Bewegung auf einen allumfassenden Tausch hin durchläuft“. 48 Angesichts dieses zerfallenen Aktantenmodells, in dem das Subjekt der Geschichte oder der gesellschaftlichen Entwicklung fehlt, wird Baudrillards These über das „Ende der Geschichte“ (als „posthistoire“) ver- 45 J. Baudrillard, L’Ecran total, Paris, Galilée, 1997, S. 178. (Wo nach dem dt. Titel in Klammern die Jahreszahl fehlt, stand keine dt. Übersetzung zur Verfügung.) 46 Ibid. 47 Ibid. 48 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité, op. cit., S. 44. <?page no="899"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 883 ständlich: Wo der „Bösewicht“ endgültig den Sieg davonträgt, ist eine sinnvolle Fortsetzung der Handlung nicht mehr denkbar. Die Geschichte gelangt an ihr Ende und ist nur noch als Recycling (recyclage) schon dagewesener Ereignisse erzählbar. Aber ist das noch eine Erzählung? Auf diese Frage weist der Untertitel von Baudrillards Buch Die Illusion des Endes. Der Streik der Ereignisse hin: Die Ereignisse „streiken“, weil sie als Wiederholungen des Immergleichen nichts Neues mehr bewirken. Die Geschichte tritt gleichsam auf der Stelle oder dreht sich nietzscheanisch im Kreis. Diese Auffassung gründet auf Baudrillards Annahme, dass der Tauschwert die gesamte soziale Wirklichkeit beherrscht, so dass kulturelle Werte im politischen, moralischen oder ästhetischen Sinne nicht mehr zur Verfügung stehen. Auf diese Werte - Toleranz, Gleichheit, Humanität, Kritik durch Kunst - berufen sich jedoch kritische Theorien der Gesellschaft von Adorno und Horkheimer bis Touraine, Giddens und Beck. Es ist eine Frage der Beobachtung und der Relevanzbestimmung: Ist der Gegensatz Gebrauchswert / Tauschwert noch relevant oder nicht? In diesem Buch, das von der Kritischen Theorie ausgeht, lautet die Antwort: Ja. Baudrillard kann diese Frage nur verneinen, weil er seine Argumentation nicht nur ins Extreme, sondern zugleich ad absurdum führt - was nicht bedeutet, dass ihr keinerlei Erkenntniswert innewohnt. Indem er die totale Herrschaft des Tauschwerts proklamiert, erklärt er jede Art von kritischer Gesellschaftstheorie, zu der er sich ja selbst bekennt, für überflüssig. Dass er die Wirklichkeit nicht immer auf so eindimensionale Art konstruierte, zeigt sein Buch L’Echange symbolique et la mort (1976, dt. Der symbolische Tausch und der Tod, 1982), in dem er, Marcel Maussʼ Arbeit über die Gabe (vgl. Kap. IX. 4) folgend, in archaischen Stammesgesellschaften einen Tauschvorgang zu erkennen meint, der jenseits aller Marktgesetze stattfindet und als unabschließbarer Prozess von Gabe und Gegengabe von selbstloser Großzügigkeit zeugt. Es muss wohl nicht hinzugefügt werden, dass Marcel Mauss seinen Ansatz in diesem Werk kaum wiedererkannt hätte. In seinem Nachwort fasst Gerd Bergfleth anschaulich zusammen, worum es in Der symbolische Tausch und der Tod, das manche für Baudrillards Hauptwerk halten, geht: „Der symbolische Tausch ist das absolut Andere in Baudrillards Universum: das Prinzip einer universellen Subversion, das das Prinzip der universellen Simulation umkehren und aufheben soll. Die Andersartigkeit beinhaltet zunächst eine vollkommen andere Tauschform, die ökonomisch nicht mehr gefaßt werden kann: die Form der Generosität, die keine Äquivalenz kennt und keinen Wert bildet, die aber dafür auf dem Weg der Reziprozität den sozialen Zusammenhalt garantiert. Das Modell <?page no="900"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 884 des symbolischen Tauschs ist der soziale Tausch der Primitiven, wie er sich im Gabentausch konkretisiert.“ 49 Die kritische Funktion des „symbolischen Tauschs“ in Baudrillards Diskurs erläutert Samuel Strehle: „Das Symbolische negiert, dekonstruiert, zerstört das Ökonomische, wie umgekehrt das Ökonomische das Symbolische zerstört.“ 50 Die Alternative zur depravierten Gegenwart wird von Baudrillard - wie seinerzeit von Rousseau - in eine zugleich vormoderne und präkapitalistische Gesellschaftsform projiziert, und diese Projektion erweist sich als ausweglos. Von ihrer Ausweglosigkeit zeugt Baudrillards Aufwertung des Opfers und der Opferriten, in denen auch Leben und Tod getauscht werden. Das postmoderne Opfer, wie es Baudrillard versteht, verwirklicht sich im Todestausch des Terrorismus. Der Terrorist opfert seine Geisel und zugleich sich selbst. Baudrillards Rechtfertigung lautet: „In einem System, das zum Weiterleben auffordert und das das Leben kapitalisiert, ist der Todestrieb die einzige Alternative.“ 51 Er erscheint möglicherweise deshalb als einzige Alternative, weil sich Baudrillard selbst in einem Diskurs verschanzt hat, aus dem es wegen der Tilgung des Gegensatzes Gebrauchswert / Tauschwert und der Absolutsetzung des Tauschwerts keinen Ausweg gibt. Entscheidet man sich für andere Relevanzkriterien, wird möglicherweise wieder Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Baudrillard hat sich nicht anders entschieden, sondern verharrte in seiner Erzählung, distanzierte sich jedoch in seinem Spätwerk, etwa in Paroxysmus, von der „Todesrevolte“ gegen den Spätkapitalismus. Er spricht dort vom „symbolischen Tausch“, „ohne nostalgisch zu den Positionen von Der symbolische Tausch zurückkehren zu wollen“. 52 Mit dem Verzicht auf die „Todesrevolte“ erübrigt sich auch die Frage nach dem Fokalisator, dessen Funktion eine Zeit lang der Terrorist erfüllte, aus dessen Sicht Baudrillard das kapitalistische System betrachtete. In seinem Spätwerk fällt auch er der postmodernen Eindimensionalität zum Opfer. Baudrillards Art, die Gesellschaft zu beobachten und zu erzählen, lässt dreierlei erkennen: (a) Die semantischen Verfahren (Relevanzen, Selektionen, Definitionen) entscheiden letztlich darüber, welche Richtung ein Diskurs als Erzählung einschlägt. (b) Wird dieser Diskurs nicht mit konkurrierenden Diskursen und Tatsachen (etwa mit der Permanenz des Ge- 49 G. Bergfleth, „Baudrillard und die Todesrevolte“, in: J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 370-371. 50 S. Strehle, Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2012, S. 59. 51 J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 280. 52 J. Baudrillard, Paroxysmus, op. cit., S. 73. <?page no="901"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 885 brauchswerts) konfrontiert, besteht die Gefahr eines ideologischen Monologs, dem das Aussagesubjekt selbst zum Opfer fallen kann. (c) Eine kritische Theorie der Gesellschaft, die sich auf diese Art selbst ideologisiert, kann in Ausweglosigkeit oder Verzweiflung und im Extremfall in eine Apologie der Gewalt münden. - Die Aufgabe einer kritischen Theorie, wie sie hier aufgefasst wird, ist: im offenen Dialog nach Auswegen zu suchen. 3. Simulacrum und Simulation: Die hyperreale Wirklichkeit der Konsumgesellschaft In den Kommentaren zum Werk Baudrillards wird zu wenig auf den Nexus von Tauschwert und Simulation, von Markt und medialer Wirklichkeit geachtet. In ihrem ansonsten verdienstvollen Buch L’Hyperréalité du monde postmoderne selon Jean Baudrillard (2016: Die Hyperrealität der postmodernen Welt nach Jean Baudrillard) setzt sich Nadine Salamé ausführlich mit Baudrillards Thesen über die Hyperrealität der Medien- und Konsumgesellschaft auseinander. Sie geht aber mit keinem Wort auf das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert und auf die Herrschaft des Tauschwerts in Baudrillards Werk ein. 53 Für das Verständnis von Baudrillards Konsum- und Medientheorie ist jedoch die Wirkung der Marktgesetze in der Medienwelt entscheidend, zumal hier auch die Kohärenz seines Werks auf dem Spiel steht. Grundlegend sind drei Gedanken, die es Baudrillard gestatten, Wirtschaft als Markt und Gesellschaft als Kultur miteinander zu vermitteln: Der erste Gedanke stellt eine Analogie her zwischen Ferdinand de Saussures Theorie der sprachlichen Zeichen und Marxʼ Theorie der Warenwelt. Sowohl für sprachliche Zeichen als auch für Waren gilt, dass sie nicht unabhängig voneinander, sondern stets im funktionalen Zusammenhang bedeuten: Saussure betont in einem Kapitel über den „Wert“ der Zeichen immer wieder, dass die Wörter einer Sprache „sich gegenseitig begrenzen“ („se limitent réciproquement“) 54 , so dass Wörter wie „befürchten“, „fürchten“, „Angst haben“ („redouter“, „craindre“, „avoir peur“) nur als (semantische) Gegensätze bedeuten: „Wenn befürchten nicht existierte, fiele sein Inhalt seinen Konkurrenten zu.“ 55 Analog dazu stellt Marx fest, dass Waren nur im wechselseitigen Bezug bedeuten und so einen Wert als Tauschwert annehmen. Man denke an das Kompensationsgeschäft (Tauschgeschäft, Ausgleichsgeschäft), in dem Waren gegeneinander aufgerechnet werden. 53 Vgl. N. Salamé, L’Hyperréalité du monde postmoderne selon Jean Baudrillard, op. cit., S. 13-14: Das „Verschwinden der Wirklichkeit“ als Verdrängung durch das „Hyperreale“ wird nirgends erklärt, weil das Ökonomische unberücksichtigt bleibt. 54 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 160. 55 Ibid. <?page no="902"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 886 Wichtig ist auch der zweite Gedanke, der Saussures Konstruktion des Sprachsystems und Marxʼ Konstruktion des Warensystems in einer neuen Konstruktion des Zeichen-Wert-Systems zur Synthese bringt, in der Konsumwaren als Zeichen für soziale Differenzen fungieren. „Fortan werden Waren als Zeichen produziert“ 56 , kommentiert Nicolas Poirier Baudrillards Ansatz. Dabei spielt Thorstein Veblens Überlegung eine zentrale Rolle, dass Menschen in einer sozialen Welt der Differenzen leben und versuchen, sich selbst durch Unterscheidungen zu definieren: durch den „feinen Unterschied“, würde Bourdieu sagen (vgl. Kap. XVIII. 3). Diese Welt der Unterschiede wird von Mode, Werbung und Medien beherrscht: Sie ist in jeder Hinsicht marktabhängig. Die Praxis des Konsums definiert Baudrillard als „Prozess der Bedeutung und der Kommunikation, der auf einem Kode gründet, der die Praktiken des Konsums festhält und mit Sinn versieht“. 57 Er erklärt, dass es sich um einen „Prozess der sozialen Klassifizierung und Differenzierung“ 58 handelt, in dem die Waren als Werte nicht nur einen Kode bilden, sondern auch eine Werthierarchie. Kode und Werthierarchie werden von der Werbung bestimmt und sind durch den Tauschwert als Marktwert vermittelt. Wesentlich ist nun Baudrillards dritter Gedanke, der die beiden anderen Gedanken ergänzt: dass dieser Kode als Zeichen-Wert-System zu einer neuen Wirklichkeit wird, die als System von kommerzialisierten Simulacra zur alleinigen Wirklichkeit wird. Das Simulacrum (lat. Bild, Abbild, Traumbild, Trugbild) als „Warenbild“ verselbständigt sich und löst sich von allen Referenten (den bezeichneten Objekten) ab. Baudrillard erklärt in La Société de consommation: „Es ist die Verallgemeinerung dieser Ersetzung des Referenten durch den Kode, die den massenmedialen Konsum definiert.“ 59 Diese Definition ist auch der entscheidende Schritt, der die Tauschwertmit der Medienproblematik verknüpft: Durch die Verselbständigung des marktbedingten (von Werbung und Medien gesteuerten) Zeichenkodes dringt die Abstraktion des Tauschwerts in die Medienwelt ein und bestimmt ihren Funktionsmodus. Dadurch wird sie zu einer Hyperrealität, die sich der Hyperrealität des Geldes angleicht, von dem Baudrillard sagt: „Das Geld wird zu einer noch sonderbareren Hyperrealität.“ 60 (Er zielt vor allem auf Spekulationsge- 56 N. Poirier, „Baudrillard et la critique du marxisme“, in: N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, Lormont, Le Bord de l’Eau, 2016, S. 101-102. 57 J. Baudrillard, La Société de consommation - ses mythes, ses structures, Paris, Denoël, 1970, S. 79. 58 Ibid. 59 Ibid., S. 194. 60 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité, op. cit., S. 23. <?page no="903"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 887 schäfte.) Den Gedanken an eine marktbedingte Entstehung von Medienwelten, die sich zu einer eigengesetzlichen Hyperrealität verdichten, übernimmt Baudrillard von Guy Debord, der in La Société du spectacle (1967) erklärt: „Im Spektakel als Abbild der herrschenden Wirtschaft ist der Zweck nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel hat nur sich selbst zum Zweck.“ 61 Die Hyperrealität kommt dadurch zustande, dass die Simulacra der Werbung und der Medien von allen Referenten (Objekten) abgelöst werden und auf keine Wirklichkeit im herkömmlichen Sinne mehr hinweisen. Dies ist zweifellos eine von Baudrillards Übertreibungen, denn die Werbung ist kaum jemals von Referenten oder Objekten (Autos, Zigaretten, Parfums, Sandstränden) losgelöst. Dennoch bezieht sie sich vor allem auf der Ebene der Konnotationen (der „Sekundärbedeutungen“) auf eine fiktive Welt des Scheins: der Simulacra. Hier tritt ein weiteres Wahrheitsmoment von Baudrillards Theorie zutage: die mögliche Verselbständigung des auf der Konnotationsebene entstandenen Scheins. Der Semiotiker Winfried Nöth hat diesen Vorgang durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht. Wenn etwa „Beefeater. London Dry Gin“ zusammen mit der „Imperial State Crown“ (einem der britischen Kronjuwelen) abgebildet wird, so konnotieren der Gin und sein Konsum „Vornehmheit“. Wenn für die Zigarettenmarke „Consulate“ mit dem alliterierenden Slogan „cool, clean, consulate“ geworben wird, der zusammen mit einer offenen Zigarettenschachtel über einem Canyon schwebt, auf dem ein Mann und eine Frau Kanu fahren, so konnotiert die „coole“ Zigarette die gesunde Natur - also gerade das Gegenteil von dem, was sie ist. 62 Dadurch entsteht eine eigene Welt der Konnotationen, die schon Roland Barthes in den Mythen des Alltags 63 beschrieb. Diese Welt ist nicht die Welt der Waren als Gebrauchswerte oder der „wirkliche[n] Funktionalität der Dinge“ 64 , von der in Le Système des objets (1968, dt. Das System der Dinge, 1991) die Rede ist, sondern eine fiktive Welt der Konsumenten-Sehnsüchte, die Wolfgang F. Haug in seiner Kritik der Warenästhetik untersucht: „Aus Sehnsucht nach dem Geld wird in der kapitalistischen Produktion die Ware nach dem Bilde der Sehnsucht des Käuferpublikums gebildet. Dies Bild wird die Werbung später abgetrennt von der Ware verbreiten.“ 65 61 G. Debord, La Société du Spectacle, Paris, Buchet-Chastel, 1967, Gallimard, 1992 (erw. Neuausgabe), S. 21. 62 Vgl. W. Nöth, Dynamik semiotischer Systeme. Vom altenglischen Zauberspruch zum illustrierten Werbetext, Stuttgart, Metzler, 1977, S. 53 und S. 76. 63 Vgl. R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt, Suhrkamp, 1964. 64 J. Baudrillard, Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt-New York, Campus, 1991, S. 163. 65 W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, op. cit., S. 26. <?page no="904"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 888 In diesen zwei Sätzen ist in nuce die gesamte Simulationstheorie Baudrillards enthalten - bis auf ihren Extremismus. Denn in Haugs zweitem Satz heißt es: „abgetrennt von der Ware“. Dies bedeutet, dass die Ware als Gebrauchswert vom „Bild der Werbung“ abgelöst wird, so dass sich die Bilderwelt als Welt der Simulacra verselbständigt. Bei Haug bedeutet dies jedoch zugleich, dass die Welt der Gebrauchswerte weiterhin erkennbar ist und der Kritik an Tauschwert, Werbung und Schein (Simulation) als Maßstab erhalten bleibt. Bei Baudrillard ist dies nicht mehr der Fall. Bei ihm ersetzt die aus Bildern der Medien und der Werbung bestehende hyperreale Welt die wirkliche Welt von früher. Sieht man sich seine Theorie dieser Bilderwelt der Werbung und des Konsums näher an, so fallen Parallelen zwischen der Entstehung dieser Welt und den weiter oben kommentierten vier Stadien der Vermittlung durch den Tauschwert auf. Dem „natürlichen Stadium des Gebrauchswerts“ entsprechen Bilder (images), die eine „tiefer liegende Wirklichkeit“ („réalité profonde“) bezeichnen. Im kommerziellen Stadium des „Warenkapitalismus“ entstehen Bilder, die die Wirklichkeit maskieren oder entstellen. Das „strukturale Stadium des Monopolkapitalismus“ wird von Bildern geprägt, die die Abwesenheit einer solchen Wirklichkeit maskieren. Das vierte oder „fraktale Stadium“ des staatlich organisierten Kapitalismus, in dem jeglicher Wirklichkeitsbezug verloren geht, beherrschen schließlich Bilder ohne Bezug zur Wirklichkeit, d.h. reine Simulacra. Dazu heißt es in Simulacres et Simulation: „Der Übergang von Zeichen, die etwas verdecken, zu Zeichen, die darüber hinwegtäuschen, dass es gar nichts gibt (qu’il n’y a rien), ist der entscheidende Wendepunkt.“ 66 Die Frage, die sich nicht nur hier, sondern an zahlreichen Stellen von Baudrillards Werk aufdrängt lautet: ob es diesen „entscheidenden Wendepunkt“ wirklich gibt oder konkreter: ob Baudrillards - stets narrative - Konstruktion dieses „Wendepunktes“ im Dialog der Theorien haltbar ist. Die Antwort der Kritischen Theorie (in allen ihren Varianten und Konstruktionen) lautet, dass sie nicht haltbar ist, weil sie in Austauschbarkeit und Willkür mündet. Von dieser Austauschbarkeit als Indifferenz und Willkür zeugen die folgenden Sätze aus Der symbolische Tausch und der Tod: „Das Zeitalter der Simulation wird überall eröffnet durch die Austauschbarkeit von ehemals sich widersprechenden oder dialektisch einander entgegensetzen Begriffen. Überall die gleiche Genesis der Simulakren: die Austauschbarkeit des Schönen und Häßlichen in der Mode, der Linken und der Rechten in der Politik, des Wahren und Falschen in allen Botschaften der Medien, des 66 J. Baudrillard, Simulacres et simulation, op. cit., S. 17. <?page no="905"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 889 Nützlichen und Unnützen auf der Ebene der Gegenstände, der Natur und der Kultur auf allen Ebenen der Signifikation.“ 67 Es mag sein, dass die Indifferenz als Austauschbarkeit der Positionen und Werte eine erkennbare Tendenz innerhalb der extrem fragmentierten Postmoderne ist. Aber es ist keineswegs notwendig, sich dem Trend anzuschließen und sie auch noch in die Theorie aufzunehmen. Beim ersten der von Baudrillard angeführten Beispiele mag man mit Kant noch konzedieren, dass sich über Geschmacksurteile (begrifflich) nicht streiten lässt, aber Baudrillard hätte auffallen müssen, dass die Position der weit links stehenden französischen Trotzkisten (unter Arlette Laguiller und Alain Krivine), die sich in den 1980er Jahren für die „Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“ einsetzten, mit dem Nationalismus des Front National (jetzt: Rassemblement National) nicht zu vereinbaren war. Hier kann von Austauschbarkeit nicht die Rede sein. Und von „fake news“ kann nur dort die Rede sein, wo es auch halbwegs zuverlässige Nachrichten gibt. Dies führt zu der Frage nach der diskursiven Beschaffenheit und Brauchbarkeit von Baudrillards Medientheorie der Simulation. Von Simulation (simulatio, lat. = Verstellung, Vorwand, Täuschung) kann nur dann gesprochen werden, wenn Aussagen oder Verhaltensweisen nachweislich falsch sind. In den Medien kommen sie relativ selten vor und werden dort meistens als Irrtümer korrigiert. Baudrillard sieht es anders, weil er die zu radikale Ansicht vertritt, dass sich in Kommunikation und Information das System der Zeichen verselbständigt hat und keinen Objektbezug mehr zulässt. In L’Ecran total zirkulieren Zeichen ohne Referenten: „Science fiction? Kaum. Das eigentliche Prinzip der Information und Kommunikation ist das eines nicht mehr referentiellen Wertes, der nur noch auf der reinen Zirkulation gründet.“ 68 Diesem Prinzip entspricht im vierten, „fraktalen“ Stadium eine rein fiktive Finanzwirtschaft, in der Pleiten nur noch einen „hyperrealen“ oder „virtuellen“ Charakter haben. Die Zahlungsunfähigkeit der USA erscheint vor diesem Hintergrund als reine Fiktion: „Wenn die Vereinigten Staaten jetzt schon virtuell zahlungsunfähig sind (en rupture virtuelle de paiement), so wird das keinerlei Folgen haben - es wird nie zu einem Jüngsten Gericht dieses virtuellen Bankrotts kommen.“ 69 Das ist leider nicht ganz sicher: Griechenlands Staatsbankrott war eine durchaus reelle Gefahr, die nur durch die Interventionen der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF) abgewendet wurde. Ein Staatsbankrott der USA würde sich verheerend auf die Weltwirtschaft auswirken und wird schon deshalb immer wieder 67 J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, op. cit., S. 20-21. 68 J. Baudrillard, L’Ecran total, op. cit., S. 40. 69 Ibid., S. 151. <?page no="906"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 890 verhindert; aber das (für Baudrillard) Unvorstellbare kann immer noch Wirklichkeit werden - ebenso wie der von vielen für begrenzbar gehaltene und daher realisierbare Atomkrieg. Nicolas Poirier stellt Baudrillards Position zu Recht als Übertreibung dar, wenn er erklärt, dass nach Baudrillard „die Wirklichkeit schließlich völlig von der Hyperrealität des Kodes und der Simulation absorbiert wurde, wobei das Simulationsprinzip das Wirklichkeitsprinzip ersetzt“. 70 Dies ist zweifellos ein Extremismus, der einer Überprüfung der - immer noch zugänglichen - Wirklichkeit nicht standhält, vor allem wenn es in Pa roxysmus heißt, „nichts find[e] mehr ohne Bildschirm statt“. 71 In Das per fekte Verbrechen (Le Crime parfait, 1995) ist gar von einer „totalen Simulation“ 72 die Rede. Dort wird auch die These zusammengefasst, die nicht nur für dieses Buch gilt, sondern für das gesamte Spätwerk: „So ist die Prophezeiung eingetroffen: wir leben in einer Welt, in der es die wichtigste Aufgabe des Zeichens ist, die Realität verschwinden zu lassen und dieses Verschwinden zugleich zu vertuschen.“ 73 Sieht man sich die Ereignisse am TV-Schirm im Zusammenhang mit ihrer Rezeption näher an, so stellt man fest, dass Wirklichkeit und Fiktion sehr wohl unterschieden werden. Alle erwachsenen Zuschauer sind sich des Unterschieds zwischen „Aktenzeichen X/ Y ungelöst“ (das Äquivalente in anderen europäischen Ländern hat) und einem Fernsehkrimi bewusst und werden fiktionale nicht auf wirkliche Ereignisse beziehen. Meldungen über Kriege, Vulkanausbrüche oder Erdbeben sind im Allgemeinen keine „fake news“ und können faktisch überprüft werden. Baudrillard würde wahrscheinlich einwenden, dass er die Existenz der Wirklichkeit keineswegs leugnet und dass man ihm zu Unrecht vorgeworfen hat, reale Ereignisse wie die Terroranschläge des 11. September 2001 und den Golfkrieg geleugnet zu haben: etwa in La Guerre du Golfe n’a pas eu lieu (1991: Der Golfkrieg fand nicht statt). Wie lautet nun sein empirisch begründbares Argument? Ganz allgemein könnte es lauten: Die Medienwirklichkeit ist eine konstruierte Wirklichkeit, deren Konstruiertheit von den Rezipienten nicht mehr wahrgenommen und der Wirklichkeit schlechthin gleichgesetzt wird, die dadurch irreal oder „hyperreal“ wird oder wirkt. Eine schon ältere Karikatur auf der Titelseite von Charlie Hebdo mag veranschaulichen, was gemeint ist: Eine strickende Frau sitzt neben ihrem schon schlummernden Mann auf dem Sofa vor dem Fernseher, beobachtet, 70 N. Poirier, „Baudrillard et la critique du marxisme“, in: N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, op. cit., S. 113. 71 J. Baudrillard, Paroxysmus, op. cit., S. 80. 72 J. Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München, Matthes und Seitz, 1996, S. 15. 73 Ibid., S. 17. <?page no="907"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 891 wie zwei Atompilze, von denen der eine größer ist, in den Himmel steigen, und sagt: „Die Russen haben gewonnen.“ Der hyperreale Witz besteht darin, dass der Gedanke an einen lebensgefährlichen Atomkrieg bei der Frau gar nicht aufkommt: In ihren Augen wird auch der Krieg zum Spiel. In diesem Sinne fand auch der Golfkrieg für viele Menschen „im Fernsehen“ (nicht) statt. Tatsache ist, dass Fernsehnachrichten mit Hilfe bestimmter Selektionsverfahren, die auf Relevanzkriterien gründen, konstruiert werden. Relevant ist aus kommerziellen Gründen das Spektakuläre, das für hohe Einschaltquoten sorgt: Konflikte, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Epidemien usw. Dies wirkt sich auf den Rezeptionsbereich aus: Viele Menschen, die eine Überschwemmung in Bangladesch zu sehen bekommen, genießen einfach den Nervenkitzel und sind froh zuhause auf dem Sofa im Trockenen zu sitzen, vor allem wenn ihnen kurz davor ein Vulkanausbruch in Mittelamerika (wo schon wieder? ) gezeigt wurde - oder wenn sie sich nach längeren channel-switching plötzlich im Golf von Bengalen wiederfinden, von dem sie keine konkrete Vorstellung haben. Nachrichten verwandeln sich so in Spektakel ohne spezifischen Wirklichkeitsbezug. Warum das so ist, verdeutlicht ein Seminar zum Thema „Literatur und Politik“. Im Zusammenhang mit George Orwell, der in Burma bei der britischen Kolonialpolizei diente, wird ein Student nach dem heutigen Namen von Burma gefragt. Etwas verunsichert antwortet er mit einer Gegenfrage: „Bangladesch? “ Als Zuschauer wird er sich wahrscheinlich wundern, warum eine muslimische Minderheit aus Burma-Myanmar, das er für Bangladesch hält, nach Bangladesch flüchtet. In diesem Fall lösen sich die Zeichen tatsächlich von der bezeichneten Wirklichkeit ab, die im Ungewissen verschwimmt. Ob etwas als „hyperreal“, sinnlos oder real rezipiert wird, hängt demnach auch von der Aufnahmefähigkeit des Publikums ab - und von den „spektakulären“ Konstruktionsverfahren der Fernseh- oder Zeitungsredaktionen. In Die fatalen Strategien wiederholt Baudrillard, Fernsehen und Wirklichkeit seien nicht mehr unterscheidbar, „denn es gibt kein referentielles Universum mehr“. 74 Sinnvollerweise müsste das Argument lauten: Aufgrund der hier analysierten Produktions- und Rezeptionsvorgänge können sich diese realen Ereignisse in Medien-Events, in Spektakel verwandeln. Hätte Baudrillard, statt sich über die empirische Soziologie zu mokieren 75 , anhand von Befragungen untersucht, wie und bis zu welchem Grad diese Transmutation erfolgt, wäre seine Theorie glaubwürdiger. Grundsätzlich gilt: Wirklichkeit und Fiktion sind ebenso unterscheidbar wie Gebrauchswert und Tauschwert. 74 J. Baudrillard, Die fatalen Strategien, op. cit., S. 105. 75 Vgl. C. Francblin (Hrsg.), Baudrillard, op. cit., S. 26. <?page no="908"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 892 4. Die Auflösung des Subjekts: Baudrillards Antwort auf Giddens, Beck und Bauman Neben dem Ende der Geschichte, der sich ausbreitenden Indifferenz und der Herrschaft des Scheins gehört die These über die Schwächung oder den Zerfall des Subjekts zu den Hauptthemen der Postmoderne. So spricht etwa Gianni Vattimo vom „gespaltenen Subjekt“ („soggetto scisso“) und der „Individualität als Vielfalt“ („individualità come molteplicità“) 76 , und Bauman versucht zu zeigen, wie eingeschränkt die Freiheit des konsumierenden Subjekts ist, das, ohne es zu merken, selbst zur Ware wird. Ausgehend von der Herrschaft des Tauschwerts, der durch die Zeichen der Werbung als Schein-Wert vermittelt wird, radikalisiert Baudrillard, wie nicht anders zu erwarten war, Baumans Position und lässt von ihr nichts als die Überdeterminierung des (Nicht-)Subjekts übrig. „Umgeben von Waren und vom Tauschwert, ist der Mensch selbst nicht mehr als Tauschwert und Ware“ 77 , heißt es in Pour une critique de l’économie politique du signe. Da bisher immer wieder die Wechselbeziehung von Übertreibung und wahrer Erkenntnis bei Baudrillard zur Sprache kam, soll auch diesmal nach dem Wahrheitsgehalt dieser Übertreibung (und es handelt sich um eine solche) gefragt werden. Ein Beispiel mag ihn veranschaulichen. In der Zeit vom 27. September 2012 untersucht Nina Brnada unter dem Titel „Mit Schrott zum Bankrott“ die Kaufgewohnheiten von Österreicherinnen. Im folgenden Fall geht es um Gabi aus der Steiermark: „Manchmal gelingt es Gabi, das Objekt ihrer Begierde wieder in das Regal zurückzulegen. Dann hat sie es geschafft, zumindest für dieses eine Mal. Meistens aber schafft sie es nicht. Deshalb stehen sechs Werkzeugkästen in ihrer Abstellkammer. Und im Keller türmen sich hochwertige Möbel. Sie besitzt Dutzende Tupperware-Schüsseln. Und bunte Kerzen im Wert von 600 Euro.“ 78 Nicht zufällig heißt es von ihrem Wohnzimmer: „Der riesige Flachbildschirm verdeckt die halbe Wand.“ 79 Er lässt auf ein Leben in der virtuellen Welt der Werbung schließen. Nicht zu Unrecht spricht Baudrillard in diesem Zusammenhang von „Verführung“: „Alles ist Verführung, alles ist nichts anderes als Verführung.“ 80 Konkreter erläutert er diesen Sachverhalt in seinem Buch über die Konsumgesellschaft, wo von der „gegenwärtigen Dressur zum systema- 76 G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Mailand, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S. 49-50. 77 J. Baudrillard, Pour une critique de l’économie politique du signe, op. cit., S. 163. 78 N. Brnada, „Mit Schrott zum Bankrott“, in: Die Zeit, 27.09.2012, S. 17. 79 Ibid. 80 J. Baudrillard, Von der Verführung, München, Matthes und Seitz, 1992, S. 116. <?page no="909"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 893 tischen und organisierten Konsum“ 81 die Rede ist. Dort erzählt er auch in aller Kürze die Geschichte des Subjekts: „Die ‚Person‘ als absoluter Wert mit ihren untilgbaren Charakterzügen und ihrem spezifischen Gewicht, wie sie die gesamte westliche Tradition als subjektkonstituierenden Mythos gebildet hat, mit ihren Leidenschaften, ihrem Willen, ihrem Charakter oder … ihrer Banalität, diese Person ist abwesend, tot, weggefegt aus unserer funktionalen Welt.“ 82 Hier zeichnet sich eine ganz andere gesellschaftliche Situation mit völlig anderen Handlungsstrukturen als bei Touraine, Giddens und Beck ab. Nicht von Selbstverwirklichung als „Life politics“ ist die Rede, sondern von „Verführung“, „Dressur“ und „organisiertem Konsum“, der in erster Linie dem kapitalistischen Produktionssystem dient. Anders als Bauman, der dazu neigt, die „flüchtige Moderne“ als Konsum von ihrem Produktionsbereich abzukoppeln, nimmt Baudrillard immer wieder den Nexus von Pro duktion und Konsum in den Blick. Der entscheidende Satz lautet: „(…) Das System der Bedürfnisse ist das Produkt des Produktionssystems.“ 83 Dies bedeutet, dass nicht einzelne Bedürfnisse ad hoc und für Einzelpersonen produziert werden, sondern dass das gesamte System der Bedürfnisse als „Zeichen Wert System“ von der Wirtschaft als Produktion hervorge bracht und gesteuert wird. Baudrillard fügt hinzu, dass der systematische Charakter der Bedürfnisproduktion nichts mit der Bedürfnisbefriedigung des einzelnen Individuums und seinem Verhältnis zu einem bestimmten Objekt zu tun hat. Das System hat die große Mehrheit der Konsumenten im Visier und nicht Einzelfälle, die sich möglicherweise nicht steuern lassen. Im Anschluss an David Riesmans Buch über Die einsame Masse, in dem ein Übergang vom autonomen, sich selbst bestimmenden oder inner direc ted Individuum zum heteronom denkenden und handelnden oder other directed Individuum beschrieben wird 84 , bietet sich die Hypothese an, dass sich das Produktionssystem vor allem an die heteronomen, von außen oder von den Anderen gesteuerten Individuen richtet. Dadurch erreicht es eine Anpassung der Verhaltensmuster der Konsumenten an die Bedürfnisse der Produzenten: vor allem der internationalen, global wirkenden Großkonzerne. Subjektivität als individuelle Autonomie wird so in Heteronomie verwandelt: in die Unterwerfung individueller Subjekte unter die Produktionsimperative des globalen oder global werdenden Kapitals. Im Anschluss an den Ausdruck „fraktales Stadium“, der die uneingeschränkte Herrschaft des Tauschwerts und des Scheins meint, bezeichnet 81 J. Baudrillard, La Société de consommation, op. cit., S. 115. 82 Ibid., S. 125. 83 Ibid., S. 103. 84 Vgl. D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerika nischen Charakters, Darmstadt-Berlin-Neuwied, Luchterhand, 1956. <?page no="910"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 894 Baudrillard den zeitgenössischen, postmodernen Menschen als homo fractalis. Er spricht von „der endgültigen Abdankung seiner Identität und seiner Freiheit, seines Ichs und seines Überichs“. 85 Die psychoanalytische Terminologie ist hier kein Zufall, weil Baudrillard von der Überlegung ausgeht, dass das vom Produktionssystem bedingte Verhalten der Konsumenten durch deren Unbewusstes vermittelt wird. Dabei werden, wie Nadine Salamé es ausdrückt, „Luxusgüter in lebensnotwendige Gegenstände verwandelt“ 86 - und zwar ohne dass sich die Meisten dessen bewusst sind. Statt bewusst, reflektierend zu handeln, werden Individuen „gehandelt“ und vom System der „Hyperrealität“ als virtueller Wirklichkeit fremdbestimmt. Wie in Luhmanns „subjektloser“ Soziologie ersetzen bei Baudrillard System und Operation die individuelle Handlung: „Statt Kategorien des Handelns zu sein, werden alle Kategorien zu Kategorien der Operation.“ 87 In diesem Kontext sind die folgenden Bemerkungen aus Baudrillards Mots de passe (2000, dt. Paßwörter, 2000) zu lesen: „In diesem Sinne ist es das Virtuelle, das uns denkt: Wir brauchen kein Subjekt des Denkens oder Handelns mehr, alles geschieht über technologische Vermittlungen.“ 88 Komplementär dazu heißt es in Carnaval et cannibale (2008): „Tatsächlich verliert sich das Subjekt - die Instanz des Willens, der Freiheit, der Darstellung (…).“ 89 Vergleicht man solche Aussagen mit Alain Touraines euphorischen und oft monotonen Plädoyers für das Subjekt in allen seinen individuellen und kollektiven Gestalten sowie mit Giddensʼ und Becks Thesen über die Selbstverwirklichung der Individuen in „Life politics“, kann man nur stutzig werden: Was trifft nun zu? Weit davon entfernt, das individuelle Subjekt als eine vom System ferngesteuerte Marionette aufzufassen, spricht Giddens von einem bewussten Subjekt, einem „reflexive project of the self“. 90 Und Ulrich Beck hält unbeirrt am Individualisierungsprozess fest, wenn er über den „Kern des Neuen“ in der Spätmoderne schreibt: „Dieser richtet sich auf Selbstaufklärung und Selbstbefreiung als eigentätigen, lebenspraktischen Prozeß (…).“ 91 In dem von Baudrillard konstruierten Kontext klingen derlei Aussagen über „reflexive Projekte“, „Selbstaufklärung“ und „Selbstbefreiung“ 85 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité, op. cit., S. 50. 86 N. Salamé, L’Hyperréalité du monde postmoderne selon Jean Baudrillard, op. cit., S. 127. 87 J. Baudrillard, „Facticité et séduction“, in: J. Baudrillard, M. Guillaume, Figures de l’altérité, Paris, Editions Descartes, 1992, S. 109. 88 J. Baudrillard, Paßwörter, Berlin, Merve, 2002, S. 38. 89 J. Baudrillard, Carnaval et cannibale, op. cit., S. 49. 90 A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1991, S. 223. 91 U. Beck, „Jenseits von Stand und Klasse? “, in: U. Beck, E. Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt, Suhrkamp, 1994, S. 56. <?page no="911"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 895 bestenfalls nach idealistischer Verblendung, schlimmstenfalls nach unreflektierter Ideologie. Man fühlt sich eher von Baudrillards extremer Position angezogen als von Touraines, Giddensʼ und Becks spätmodernen Subjekttheorien, wenn man in dem weiter oben kommentierten Zeit-Artikel von Nina Brnada über den 42-jährigen Wiener Arbeiter Klaus liest: „Erst vor zwei Jahren beichtete er seiner Frau seinen obsessiven Konsum, seitdem befindet er sich in Therapie.“ 92 Das klingt weder nach „reflexivem Projekt“ noch nach „Selbstbefreiung“. Widersprüche im Theoriebereich sollten weder zur „Dekonstruktion“ der Soziologie noch zu ihrer Verabschiedung als Pseudowissenschaft Anlass geben. Sie können durchaus fruchtbar sein: wenn man Baudrillards Thesen als heilsame Übertreibungen versteht, die Touraines, Giddensʼ und Becks Positionen „erschüttern“, zugleich aber von diesen relativiert und in vernünftige Dimensionen übergeleitet werden. Liest man den Zeit-Artikel über das „obsessive Kaufverhalten“ von Österreicherinnen und Österreichern aufmerksam, so fällt auf, dass Gabi Kellnerin war (sie musste ihren Beruf aufgeben) und Klaus Arbeiter ist. So drängt sich im Anschluss an Bourdieus Soziologie der „feinen Unterschiede“ (vgl. Kap. XVIII) die Vermutung auf, dass sich das Konsumverhalten von Schicht zu Schicht oder von Klasse zu Klasse ändert und dass die Autonomie individueller Subjekte in höher gelegenen Schichten zunimmt. Hätte Baudrillard, statt sich von der empirischen Soziologie zu distanzieren, individuelle Autonomie und Heteronomie (Fremdbestimmung) im Zusammenhang mit schichten- oder klassenspezifischen Faktoren und mit Hilfe von Befragungen untersucht, hätte er seine Pauschalurteile möglicherweise zurückgenommen und sehr viel nuancierter argumentiert. Diese Kritik trifft allerdings auch Touraine, Giddens und Beck: Touraines Soziologie der Subjektivität berücksichtigt nur ansatzweise die Integrations- und Manipulationsmechanismen des Produktionssystems und seiner Werbung, die bei Baudrillard die Szene beherrschen. Auch Giddens und Beck gehen kaum jemals der Frage nach, welche gesellschaftliche Gruppen in der Lage sind, „Selbstreflexion“, „Selbstbefreiung“ und „Life politics“ zu praktizieren und welche nicht. Auch unabhängig von Befragungen und anderen empirischen Nachforschungen, die freilich stets notwendig sind, geht man kein allzu großes Wagnis ein, wenn man annimmt, dass Studierende, Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Intellektuelle allgemein weniger für „obsessiven Konsum“ anfällig sind als Angehörige „bildungsferner Gruppen“. 92 N. Brnada, „Mit Schrott zum Bankrott“, op. cit., S. 17. <?page no="912"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 896 Dies bedeutet konkret, dass individuelle Subjektivität als Autonomie eine gruppenspezifische Variable ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen sowohl Pauschalurteile über das „Verschwinden des Subjekts“ 93 als auch Thesen über (stets riskante) „Selbstaufklärung“ oder „Selbstbefreiung“ im Rahmen von „Life politics“ als empirisch fragwürdig. Individuelle Subjektivität ist zweifellos gefährdet in einer Welt, die zunehmend von Großkonzernen, politischen Parteien, Massenkundgebungen und Werbeagenturen beherrscht wird. Sie ist jedoch keineswegs verschwunden, zumal sie auch in traditionalen Gesellschaften nicht restlos in der Tradition aufging, wie die Kritiken an Religion und Kirche (etwa die Galileo Galileis) zeigen. Auch heute meldet sich noch kritische Subjektivität jenseits von Werbung und Konsum zu Wort: etwa bei Soziologen wie Guy Debord, Pierre Bourdieu und - Jean Baudrillard. 5. Die Auflösung der Kunst im Kommerz: Baudrillard und Bauman Den sozialen Kontext, in dem Bauman den Niedergang der Kunst beobachtet, fasst ein im vorigen Kapital zitierter Satz aus seinem Buch Leben in der Flüchtigen Moderne zusammen: „Wir leben in einer Kultur der Auflösung, der Diskontinuität und des Vergessens.“ 94 Es ist, als wollte Baudrillard an diese Zeitdiagnose anknüpfen, wenn er in Simulacre et simulation (1981) vom „ungeheuren Prozess der Sinnzerstörung“ 95 spricht und etwas später Hegels Ausdruck „Furie des Verschwindens“ 96 auf Deutsch zitiert, um eine „Welt des Verschwindens“ („monde de disparition“) 97 zu beschreiben, in der sich die Wirklichkeit, der Sinn, die Geschichte, das Soziale und das Individuum auflösen oder schon aufgelöst haben. Tatsächlich setzt er in mancher Hinsicht Baumans Gedankengänge fort, wenn er in Le Complot de l’art (1996, 2005, dt. Der Komplott der Kunst) zu zeigen versucht, wie sich zeitgenössische Kunst im Kommerz auflöst, weil sie die vom Tauchwert durchwirkte Realität lediglich reproduziert, statt sich ihr zu widersetzen oder über sie hinauszuweisen. Auf dieser Ebene geht Baudrillard von den Prämissen der Kritischen Theorie Adornos und Marcuses aus, indem er auf den Verlust der „kritischen Transzendenz“ und 93 Vgl. P. Bürger, Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 236-237 sowie die Kritik an Bürgers Betrachtungsweise in: Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), S. 83- 84. 94 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 228. 95 J. Baudrillard, Simulacres et simulations, op. cit., S. 229. 96 Ibid., S. 231. 97 Ibid. <?page no="913"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 897 der „zweiten Dimension“ im Sinne von Marcuse hinweist. 98 Insofern merkt Nicolas Poirier zu Recht an, dass Baudrillard „im Anschluss an die von der Frankfurter Schule vorgebrachte Kritik“ 99 argumentiert. Kritische Transzendenz und zweite Dimension verschwinden, weil Kunst und Wirklichkeit in einer Welt verschmelzen, in der die Ästhetisierung der Waren, der Werbung und des Konsums bewirkt, dass Kommerz und Schönheit im schönen Schein der Marktgesellschaft identisch werden. Baudrillard spricht vom „Hypermarkt der Kultur“ („hypermarché de la culture“) 100 und stellt fest, dass die zeitgenössische Kunst nichtig ist, weil sie nichts von der Werbung unterscheidet: „Nichts unterscheidet sie von den Verfahren der Technik, der Werbung, der Medien, der Rechner.“ 101 Das Ineinanderwirken von Marktgesetz und Technik hat zur Folge, dass die Kunst in einer Wirklichkeit aufgeht, die „alles absorbiert hat, was sie negierte“. 102 In dieser Situation bleibt der Kunst nichts anderes übrig, als von postmoderner Indifferenz zu zeugen: „Die Kunst kann sich nur noch der allgemeinen Bedeutungslosigkeit und Indifferenz anpassen.“ 103 Diese ist letztlich die Indifferenz des Marktes und des ihn beherrschenden Tauschwerts. Jean-Paul Curnier gibt Baudrillards Standpunkt wieder, wenn er erklärt: „(…) Was in den Werken der ganz offiziell anerkannten und geförderten Künstler, die ich hier genannt habe, bewundert wird, das ist der Markt selbst.“ 104 Dieser Standpunkt wird von Yves Michaud nuanciert, der nicht nur das Verhältnis von Kunst und Kommerz betrachtet, sondern auch bemüht ist, zwischen hoher und kommerzieller Kultur sowie zwischen Einstellungen gesellschaftlicher Gruppen zu unterscheiden. Dabei nimmt er außer der Kommerzialisierung auch die Fragmentierung oder Pluralisierung der postmodernen Gesellschaft in den Blick, die bewirkt, dass die unzähligen Positionen, Meinungen und Bewertungen austauschbar, in-different werden. Die Höhenkammkultur des Bildungsbürgertums wird einerseits von einer kommerzialisierten Kultur, andererseits von einer Vielzahl von Subkulturen auf Seiten der Konsumenten an den Rand gedrängt: „Die Kunst, nicht nur im Sinne der schönen Künste, sondern auch im Sinne der Höhenkammkultur, wurde nicht nur von der kommerzialisierten Kultur margi- 98 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité, op. cit., S. 90. 99 N. Poirier, „Présentation“, in : N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, op. cit., S. 32. 100 J. Baudrillard, Simulacres et simulation, op. cit., S. 102. 101 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité, op. cit., S. 89. 102 Ibid., S. 90. 103 Ibid., S. 92. 104 J.-P. Curnier, „Baudrillard et le ‚Complot de l’art‘ (Nullité et nudité des idoles)“, in: N. Poirier (Hrsg.), Baudrillard, cet attracteur intellectuel étrange, op. cit., S. 188. <?page no="914"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 898 nalisiert, sondern wurde außerdem in Übereinstimmung mit divergierenden Interessen von Konsumentengruppen zerstückelt.“ 105 Michaud gelangt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Baudrillard und bestätigt die hier vertretene These, dass die Fragmentierungs- und Partikularsierungstendenzen, die die postmoderne Gesellschaft beherrschen, nicht zu Meinungsaustausch und Dialog führen, sondern in Indifferenz münden. Im folgenden Satz kristallisiert sich der Nexus von Koexistenz, Toleranz und Indifferenz heraus: „Heutzutage koexistiert alles konfliktfrei, aber weniger im Frieden der Koexistenz als in deren Indifferenz, d.h. ohne Austausch (…).“ 106 Diese Indifferenz hat ein Anwachsen der Gleichgültigkeit in der Öffentlichkeit zur Folge, und Michaud stellt fest, dass seit 1995 die Anzahl der Besucher von Museen für zeitgenössische Kunst „jährlich um 20 % abnimmt“. 107 Dieses bemerkenswerte Desinteresse hängt nicht nur mit der Tatsache zusammen, dass zeitgenössische Kunst in vielen Fällen Bestehendes eindimensional reproduziert, sondern auch mit ihrem flüchtigen Charakter, den Bauman betont. Im Unterschied zu Bauman hebt Baudrillard nicht so sehr die Flüchtigkeit der Kunstinstallationen und Events hervor, sondern vor allem ihr Haften an der Wirklichkeit und ihrer Banalität. Die Kunst ist bemüht, „sich die Banalität, den Abfall, das Mittelmaß als Wert und Ideologie anzueignen“. 108 Sie fordert zwar die zum Stereotyp verkommene Höhenkammkunst heraus, aber rekapituliert lediglich Altbekanntes, weil sie endlos die provozierenden Gesten von Marcel Duchamp und Andy Warhol variiert, von denen sich niemand mehr provozieren lässt. Als Marcel Duchamp im Jahre 1917 ein Pissoir als ready-made ausstellt, um anzudeuten, dass alles, was in Museen oder Galerien geboten wird, ipso facto zur Kunst wird, stellt er die „Institution Kunst“ 109 in Frage und zugleich auch die Individualität des Kunstwerks sowie die „Vorstellung vom individuellen Schöpfertum“ 110 , wie Peter Bürger es ausdrückt. Doch diese Art von Provokation wirkt nicht mehr, weil sie, in dem Maße, wie sie 105 Y. Michaud, La Crise de l’art contemporain, Paris, PUF (1997), 2006, S. 59-60. 106 Ibid., S. 62. 107 Ibid., S. 59. 108 J. Baudrillard, Le Complot de l’art, op. cit., S. 85. 109 Vgl. P. Bürger, „Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie“, in: ders., Vermittlung - Rezeption - Funktion, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 176-177 sowie P. Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 70-71. 110 P. Bürger, Theorie der Avantgarde, op. cit., S. 71. <?page no="915"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 899 nachgeahmt wird, abstumpft oder im Sinne des Russischen Formalismus „automatisiert“ 111 wird. Einen ähnlichen Prozess beobachtet Baudrillard bei Andy Warhol, wenn er erklärt: „Das, worum es in seinem Werk geht, ist eine Herausforderung an die Vorstellung selbst von Kunst und Ästhetik.“ 112 Wenn Warhol im Jahre 1965 aufgereihte Suppendosen malt, „greift er den Begriff der Originalität auf originelle Art an“ 113 , wenn er 1986 das Experiment mit den Soup Boxes wiederholt, so „reproduziert er das Nichtoriginelle auf nichtoriginelle Art“. 114 Baudrillard fügt hinzu: „Abermals ästhetisiert offizielle Kunst die Ware (…).“ 115 Dies trifft in noch stärkerem Maße auf Warhols Nachahmer zu. Hier gilt auch die komplementäre These, dass die „Warenästhetik“ (W. F. Haug: vgl. Abschn. 3) die gesamte Gesellschaft ästhetisiert und dadurch die Kunst vereinnahmt, weil diese im Wettbewerb mit dem ästhetisierenden Kommerz den Kürzeren ziehen muss. Im Zusammenhang mit Baudrillard bemerkt Fabien Danesi, „dass die Gesellschaft als ganze eine Ästhetisierung erfährt“. 116 Diese wird jedoch nicht, wie es sich die Surrealisten seinerzeit erhofften, von der Kunst, sondern vom Kapital und seinen Werbeagenturen vorangetrieben. Hiermit kehrt die Argumentation zum dritten Abschnitt des vorigen Kapitels zurück. An dessen Ende wurden zwei amerikanische Autoren zitiert, die behaupten, dass „Kunst und Werbung, ästhetisch betrachtet, ein und dasselbe sein“ können. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass sich Kunst in der marktvermittelten Ästhetik des Alltags auflöst: in Event, Reklame und Werbespot. Allerdings ist Baudrillards Betrachtungsweise zu pauschal und sollte in Übereinstimmung mit Yves Michauds Ansatz auf soziale Gruppierungen bezogen, konkretisiert und korrigiert werden. Ähnlich wie die postmoderne Literatur, in der sicherlich nicht alles dem Bestseller-Markt zugerechnet werden kann (man denke etwa an die Werke von Christoph Ransmayr, an Jürgen Beckers experimentelle oder Michel Houellebecqs revoltierende Prosa), so gehen auch Kunst und Film nicht in serieller Produktion oder Hollywood-Spektakel auf: Davon zeugen die Bilder von Neo Rauch in Deutschland oder die Filme von Michael Haneke in Österreich. Im An- 111 Zur Wechselwirkung von „Automatisierung“ und „Entautomatisierung“ (als Innovation und neuer Sehweise) vgl. J. Tynjanov, „Das literarische Faktum“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB, 1969, S. 413. 112 J. Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, op. cit., S. 126. 113 J. Baudrillard, Le Complot de l’art, op. cit., S. 48. 114 Ibid. 115 Ibid., S. 49. 116 F. Danesi, L’Extase esthétique. Jean Baudrillard et la consommation / consumation de l’art, Paris, Sens et Tonka, 2014, S. 13. <?page no="916"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 900 schluss an Michauds Überlegungen käme es darauf an, sowohl Baumans als auch Baudrillards etwas zu allgemeine Befunde mit Hilfe von Gruppenanalysen zu nuancieren, um divergierende kollektive Einstellungen zu verschiedenen Kunstformen näher bestimmen zu können. Immerhin kann festgestellt werden, dass sich Baumans und Baudrillards Recherchen in einem wesentlichen Punkt überschneiden: in der Erkenntnis, dass Oberflächlichkeit, Flüchtigkeit und marktvermittelte Nichtigkeit die zeitgenössische Kunst bedrohen. Dies gilt auch für die Literatur: Nicht die Werke von Calvino, Ransmayr, Becker oder Houellebecq beherrschen die Regale und Auslagen des Buchhandels, sondern die zumeist amerikanischen Bestseller, die ihre Bedeutung dem Tauschwert verdanken: „500.000 copies sold! “. 6. Sinnverlust: Von Baudrillard zu Cornelius Castoriadis Zu Baudrillard bemerkt Thomas Gil in einer schon älteren Kurzdarstellung: „Für manchen steht fest, daß man sich mit ihm nicht zu beschäftigen hat. Für wiederum andere ist Baudrillard ein faszinierender Autor voller genialer Ideen und Ansichten.“ 117 Da sich ein Kommentar zu der ersten Einschätzung am Ende eines Baudrillard-Kapitels erübrigt, mögen einige Bemerkungen zur zweiten ausreichen. Man kann zweifellos von Baudrillards oft dreisten Übertreibungen fasziniert sein: zumal wenn man ahnt, das sie nicht nur absurd, sondern in gewisser Hinsicht auch noch wahr sind. Im folgenden Epilog geht es vor allem darum, Baudrillard vom Stigma der Unverständlichkeit oder Unwissenschaftlichkeit durch einen kurzen Vergleich mit dem griechisch-französischen Philosophen und Soziologen Cornelius Castoriadis (1922-1997), dem Mitbegründer der Gruppe Socialisme ou Barbarie (1949), zu befreien. Dessen Werk - vor allem L’Institution imaginaire de la société (1975, dt. Gesellschaft als imaginäre Institution, 1984) - wurde bisher von niemandem als unseriös verworfen. 118 Wie überall in diesem Buch geht es um die Beantwortung der Frage, warum es sich lohnt, eine Theorie näher kennen zu lernen - statt sie, Gerüchten folgend, links liegen zu lassen. Zurück zu Baudrillard. Es hat sich gezeigt, dass das Ineinanderwirken von Tauschwert und Technik eine sinnleere Hyperrealität hervorbringt, die vom Recycling von schon Dagewesenem geprägt ist. Eine sinnvolle, Vergangenheit und Zukunft verbindende Erzählung dieser Pseudorealität 117 Th. Gil, „Jean Baudrillards Theorie der Gegenwart“, in: J. Jurt (Hrsg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva, Freiburg, Rombach, 1999, S. 163. 118 Zum Werk von Castoriadis vgl. G. Gamm, „Das Gesellschaftliche und das Imaginäre: Cornelius Castoriadis“, in: J. Jurt (Hrsg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva, op. cit., S. 175-192. <?page no="917"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 901 erscheint nicht mehr möglich. Zur Sinnzerstörung durch das Geld als Tauschwert bemerkt Baudrillard in Der unmögliche Tausch, dass das Geld den „Ausfall des Sinns“ und „die Bedeutungslosigkeit der Welt“ 119 zum Ausdruck bringt. Diese Sinnentleerung der sozialen Welt wird in Simulacres et simulation im Zusammenhang mit den vom Marktmechanismus gesteuerten zeitgenössischen Medien konkretisiert. Dort ist von einer „Implosion des Sinnes“ („implosion du sens“) 120 die Rede, und Baudrillard erklärt: „Diese muss im Anschluss an McLuhans Formel medium is message analysiert werden, deren Reichweite längst nicht erforscht wurde.“ Er fügt hinzu: „Deren Bedeutung besteht darin, dass alle Sinninhalte von der alles beherrschenden Form des Mediums aufgesogen wurden. Das Medium allein wird zum Ereignis - und dies ganz unabhängig davon, ob die Inhalte konformistisch oder subversiv sind.“ 121 Dabei lösen sich alle Gegensätze und Unterschiede in der Indifferenz auf. Entscheidend ist, dass Cornelius Castoriadis in seinem Buch La Montée de l’insignifiance (1996, dt. Das Anwachsen der Sinnlosigkeit) Baudrillards Befunde in jeder Hinsicht bestätigt, obwohl seine Erkenntnisinteressen (Bürokratiekritik, Probleme sozialer Ungleichheit, Festhalten an der Idee des Sozialismus, Psychoanalyse) stark von denen Baudrillards abweichen. Auch hier geht es darum, Wahrheitsmomente durch die Konfrontation relativ heterogener Theorien zutage treten zu lassen. Wie Baudrillard stellt Castoriadis fest, dass die Gesellschaft vom Geld als Tauschwert beherrscht wird, „dass der einzige Wert das Geld ist, der Profit, und dass der oberste Wert des gesellschaftlichen Lebens im Imperativ ‚bereichert euch‘ zum Ausdruck kommt“. 122 Castoriadis bezweifelt, dass die Gesellschaft auf dieser Grundlage fortbestehen kann. Denn die von Soziologen wie Durkheim und Parsons analysierten und als mehrheitlich konsensfähig beurteilten Wertsysteme lösen sich bei Castoriadis restlos auf: „Aber man hat es schon gesagt, der Zerfall kann vor allem am Verschwinden der Bedeutungen (disparition des significations) und an der fast völligen Auslöschung der Werte beobachtet werden. Und diese ist letztlich eine Bedrohung des Systems insgesamt.“ 123 Baudrillard, der das System durchweg negativ konnotiert, würde diese „Bedrohung“ eher als Befreiung begrüßen. 119 J. Baudrillard, Der unmögliche Tausch, op. cit. S. 173. 120 J. Baudrillard, Simulacres et simulation, op. cit., S. 123. 121 Ibid. 122 C. Castoriadis, La Montée de l’insignifiance. Les Carrefours du labyrinthe, Bd. IV, Paris, Seuil, 1996, S. 107. 123 Ibid., S. 106. <?page no="918"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 902 Castoriadis teilt jedoch Baudrillards Ansicht, dass die revolutionären Sprüche des Jahres 1968 von der Werbung vereinnahmt wurden: „Das Wort ‚revolutionär‘ - ähnlich wie die Wörter ‚Kreation‘ und ‚Fantasie‘ - sind zu Slogans der Werbung verkommen (…).“ 124 Er führt die Pasta von Panzani an, mit der für eine revolutionäre Küche geworben wird. Man könnte das „revolutionäre Waschmittel“ hinzufügen, das weißer als seine Konkurrenten wäscht, und sollte auch an Baumans Recherchen erinnern, die zeigen, dass das Wort „Utopie“ vorwiegend in der Werbung zu finden ist: im Zusammenhang mit Lebensstil, Reisen, Wohneinrichtungen usw. Es ist, als wollte Baudrillard diesen Befund ergänzen, wenn er in seinem Amerika-Buch, in dem er den Postmoderne-Begriff verwendet 125 , zur hyperrealen, eindimensionalen Utopie der amerikanischen Gesellschaft bemerkt: „Die Vereinigten Staaten sind die verwirklichte Utopie.“ 126 In diesem postmodernen Kontext erlischt der moderne Glaube an das Fortschreiten der Geschichte zu stets höheren Stadien der Emanzipation, und auch die bescheideneren Hoffnungen spätmoderner Soziologen - von Durkheim und Luhmann bis Giddens und Beck - auf eine Wende zum Besseren gehen verloren. Zusammen mit dem kapitalistischen Fortschrittsglauben wird auch der revolutionäre von Marx und Engels desavouiert. Castoriadis konkretisiert den Schlüsselbegriff seines Hauptwerks L’Institution imaginaire de la société (das Kollektiv-Imaginäre, auf dem die Gesellschaft gründet), wenn er feststellt: „Der Fortschritt ist eine vorwiegend kapitalistische imaginäre Bedeutung, auf die Marx selbst hereinfiel.“ 127 Es ist, als wollte er an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung anknüpfen, wenn er im Rückblick und mit einem Seitenblick auf Marx den gesamten historischen Prozess als Anhäufung von Katastrophen umdeutet: „Die Geschichte der Menschheit ist keine Geschichte von Klassenkämpfen, es ist eine Geschichte der Schrecken (histoire des horreurs) - obwohl sie nicht nur das ist.“ 128 Diese in vieler Hinsicht postmoderne Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung überschneidet sich mit der Baudrillards und auch Baumans. Sie sollte nicht mit der Worthülse „Pessimismus“ verabschiedet werden - auch wenn man die Ansichten der postmodernen Denker nicht teilt, u.a. weil man sich von der dialogischen, vielsprachigen und sozialen Entwicklung Europas noch einiges verspricht. 124 Ibid., S. 102. 125 Vgl. J. Baudrillard, Amerika, München, Matthes und Seitz, 1987, S. 69. 126 Ibid., S. 110. 127 C. Castoriadis, La Montée de l’insignifiance, op. cit., S. 112. 128 Ibid., S. 109. <?page no="919"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 903 Zusammenfassung und Ausblick: Wie andere postmoderne Denker (Lyotard, Vattimo, Derrida) geht Baudrillard von Nietzsches Kritik der Metaphysik aus und spielt Nietzsches subversives Denken gegen Hegels System aus. Den in diesem System zentralen Begriff des Wesens ersetzt er durch Nietzsches Idee des Scheins, die er allerdings - wie die Hegelianer und Marxisten - weiterhin negativ konnotiert und auf die Scheinwelt des Konsums anwendet. Mit Nietzsche verbindet ihn auch die Ablehnung der modernen Teleologie. Sie ersetzt er durch Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr, die er als Recycling, als endlose Abwandlung des Bestehenden, umdeutet. Damit verschwindet der von Hegelianern und Marxisten postulierte historische Sinn als kumulative soziale Entwicklung. Sinn und Sinngebung scheitern auch daran, dass in der fragmentierten (pluralisierten) Gesellschaft der Tauschwert schließlich zum einzigen von allen anerkannten Wert wird, der alle religiösen, moralischen, politischen und ästhetischen Wertsetzungen aushöhlt und einen Indifferenzzusammenhang entstehen lässt, in dem ein Engagement für bestimmte Werte der Bedeutungslosigkeit verfällt. Baudrillard entwickelt ein vierstufiges Modell, das zeigen soll, wie der von Marx und den Marxisten postulierte Gegensatz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert gegenstandslos wird, weil sich der Tauschwert im letzten - „fraktalen“ - Stadium in allen sozialen Bereichen durchsetzt und Gebrauchswerte unkenntlich macht. Zusammen mit ihnen werden alle anderen Werte hinfällig, die in früheren Stadien als Alternativen zum Tausch- oder Geldwert in Frage kamen. In diesem Kontext, der vom Sieg des Antisubjekts als „Kapital“ oder „Tauschwert“ über alle kulturellen Werte überschattet wird, ist kein sinnvolles Aktantenmodell vorstellbar, weil ein Subjekt der Geschichte, das dem Antisubjekt Widerstand leisten könnte, in einer vom Schein des Tauschwerts geprägten Welt fehlt. Entscheidend ist der Nexus zwischen dieser Welt und der den Marktgesetzen gehorchenden Wirklichkeit der Medien, die Baudrillard als ein „Zeichen-Wert-System“ auffasst, das vom simulacrum (Bild, Trugbild) dominiert wird. Als Begleiterscheinung des Tauschwerts verselbständigt es sich und wird zu einer „Hyperrealität“, die als Werbung, Konsum und Unterhaltung die eigentliche Wirklichkeit überdeckt oder ersetzt. Auf diese Weise, meint Baudrillard, werde die Wirklichkeit unsichtbar gemacht. Seine These über das Verschwinden der Gebrauchswerte und die komplementäre These über das Verschwinden der Wirklichkeit gehören zu seinen Übertreibungen: Die kapitalistische Wirtschaft orientiert sich zwar am Tauschwert als Gewinn, kann aber nur überleben, wenn sie Gebrauchswerte produziert; analog dazu bringen zwar die Medien eine eigene Wirklichkeit hervor, aber die meisten Menschen sind nach wie vor in der Lage, wahre von falschen Nachrichten zu unterscheiden. Wo Tauschwert und medial vermittelte „Hyperrealität“ herrschen, kann von individueller Autonomie oder Kritikfähigkeit nicht mehr die Rede sein: Baudrillard führt einige bedenkenswerte Argumente gegen Giddensʼ und Becks <?page no="920"?> Baudrillards postmoderne Soziologie der Indifferenz 904 Individualisierungstheorien und ihre Autonomiepostulate ins Feld. Als Ergänzung zu Baumans Kunstsoziologie wird im fünften Abschnitt gezeigt, wie sich in Baudrillards Theorie Kunst in Serienkunst und flüchtiger Kommerzialisierung auflöst. Seine Betrachtungen werden im letzten Abschnitt durch Kommentare zu Cornelius Castoriadis ergänzt, der einige Thesen Baudrillards bestätigt. Auch Castoriadis ist der Meinung, dass in einer von ihrem eigenen Markt beherrschten Gesellschaft alle Sinngebungen zerfallen. Im vorletzten Kapitel wird gezeigt, wie Richard Sennett diese negative Auffassung der postmodernen Gegenwart relativiert. <?page no="921"?> 905 XXII. Öffentlichkeit, Urbanität und Intimität, das flexible Subjekt und der Narzissmus: Richard Sennett antwortet Habermas und wird von Christopher Lasch und David Le Breton ergänzt Inhaltsverzeichnis 1. Der Zerfall der Öffentlichkeit und der Niedergang des Subjekts in Intimität und Narzissmus: Sennetts Antwort auf Habermas und sein Aktantenmodell 2. Das flexible Subjekt in der Kultur des neuen Kapitalismus 3. Konsum und Intimität, destruktive Gemeinschaft und Narzissmus: Die offene Stadt als Alternative 4. „Die Kultur des Narzissmus“: Christopher Laschs kritische Ergänzungen 5. Körpernarzissmus: David Le Bretons Konkretisierung der Subjektschwäche 6. „Kinder der Freiheit“: Ulrich Becks Antwort auf das „postmoderne Lamento“ Wie Zygmunt Bauman setzt sich der amerikanische Soziologe Richard Sennett mit Problemen der postmodernen Konstellation auseinander: mit Partikularisierung, Pluralisierung der Gesellschaft und der Schwächung des individuellen Subjekts, das sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte aus dem öffentlichen Bereich in die Intimsphäre des Narzissmus zurückzieht. Seine soziologische Erzählung wird hier im ersten Abschnitt als Aktantenmodell rekonstruiert. Als einer der bedeutendsten Vertreter der Stadtsoziologie veranschaulicht Sennett diese Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung durch Analysen der Urbanisierung und des sich wandelnden Stadtlebens. Seine Theorie ist alles andere als eine distanzierte, wertfreie (M. Weber) Beobachtung von Prozessen: Sennett ist ein engagierter Soziologe und Sozialphilosoph, der sich für eine neue, kommunikationsorientierte Stadtplanung einsetzt. Sie soll im Optimalfall eine neue Öffentlichkeit und ein neues, öffentlich engagiertes Individuum ins Leben rufen. Es kommt hinzu, dass er ein Befürworter der hier praktizierten Dialogizität (vgl. Einleitung und Kap. II. 4-5) und des dialogischen Denkens im Sinne von Michail M. Bachtin ist. Allerdings bezieht sich sein Dialog-Begriff auf das sozio-kulturelle Zusammenleben und nicht auf die Theoriebildung. Mit Bachtin verbindet ihn die hermeneutische Tradition des Verstehens, die Narrativität einschließt. In diesem Sinne definiert Dominik Skala Sen- <?page no="922"?> Sennett antwortet Habermas 906 netts theoretische Orientierung: „Kulturwissenschaftlich inspirierte Soziologie in seinem Sinne ist eine verstehende und narrative.“ 1 Obwohl es nie möglich ist, Theorie oder Literatur integral aus der Biografie einer Autorin oder eines Autors abzuleiten, erscheint es im vorliegenden Fall durchaus sinnvoll, Sennetts Interesse für Stadtgeschichte (seit der Antike), Stadtplanung und Stadtsoziologie zu seinen frühen Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Sennett wurde 1943 in Chicago als Kind russischer Einwanderer geboren und wuchs in Cabrini Green Housing Project, einer Sozialsiedlung, auf. In seinem Werk bezieht er sich immer wieder auf sein Leben in diesem Stadtteil, das seine Beobachtungen der Stadtgesellschaft nachhaltig geprägt hat: „Wenn ich in Chicago war, kehrte ich gelegentlich nach Cabrini Green zurück, begann aber auch, alle zwei Wochen samstags ein Wohnprojekt in Spanish Harlem in New York zu besuchen.“ 2 Er erinnert sich an die Zeit „als Wohnprojekte wie Cabrini Green während der 1950er Jahre im Elend versanken“. 3 Diese Erinnerungen an missglückte Stadtplanung und Verelendung haben nicht nur seine Stadtsoziologie, sondern auch seine Analysen von klassenbedingter Ungleichheit geprägt, die seinem mit Jonathan Cobb verfassten Buch The Hidden Injuries of Class (1972) zugrunde liegen, in dem es um die Probleme von „blue-collar workers“ geht. Sennett entfaltete früh ein Interesse für Musik, spielte Cello und veröffentlichte auch belletristische Werke (etwa An Evening with Brahms und The Frog who Dared to Croak: über Marx und den Marxismus). Er studierte an der Harvard Universität bei Erik Erikson und David Riesman und erwarb ein PhD in American Civilization. Er wurde zum Fellow of the Joint Center for Urban Studies der Harvard-Universität und des Massachussetts Institute of Technology (MIT) gewählt und ist zur Zeit Professor der London School of Economics und emeritierter Professor der New York University. Er hat das New York Institute for the Humanities gegründet und geleitet. 2006 wurde er mit dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart geehrt. Da in diesem Buch nicht Einzelbereiche der Soziologie (Stadt, Familie, Gesundheitswesen) im Mittelpunkt stehen, sondern die Entwicklung der Gesellschaft als Erzählung (Diskurs), richtet sich in den folgenden Abschnitten das Augenmerk vornehmlich auf Sennetts narrative Rekonstruktion eines sozialen Prozesses, in dessen Verlauf das öffentliche Leben, das im 18. Jahrhundert noch intakt schien, im 19. Jahrhundert allmählich zerfällt und 1 D. Skala, Urbanität als Humanität. Anthropologie und Sozialethik im Stadtdenken Richard Sennetts, Paderborn, Schöningh, 2015, S. 108. 2 R. Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Berlin-München, Hanser, 2012, S. 347. 3 Ibid., S. 334. <?page no="923"?> Sennett antwortet Habermas 907 im 20. einer Intimität weicht, die öffentliches Engagement nahezu ausschließt. Der soziologische Schlüsselbegriff Öffentlichkeit verweist auf Habermasʼ Arbeit Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962: vgl. Kap. XVI. 2). Im ersten Abschnitt geht es daher auch um die Frage, wie stark Sennetts und Habermasʼ Auffassungen der Öffentlichkeit divergieren und in welcher Hinsicht sie sich überschneiden und ergänzen. Es wird sich zeigen, dass Abweichungen und Übereinstimmungen letztlich ein vollständigeres Bild der Öffentlichkeit und ihrer Entwicklung ergeben. Wie in den anderen Kapiteln dieses Buches geht es auch hier darum, mit Hilfe des dialogischen Verfahrens Theorien zu testen und an ihren Schnittpunkten nach Abweichungen, Übereinstimmungen oder interdiskursiven Theoremen zu suchen. Im zweiten Abschnitt wird ein spätmodern-postmodernes Thema, das seit Georg Simmel und Alfred Weber diskutiert wird, weiterentwickelt: der Niedergang des individuellen Subjekts, das sich in einer schnell mutierenden kapitalistischen Wirtschaft (in einem „flüchtigen Kapitalismus“, würde Bauman sagen) immer öfter einer neuen Situation anpassen muss und dabei angesichts der Flüchtigkeit und Heterogenität der Erfahrungen die Orientierung verliert. In dieser Hinsicht sind sich Sennett, Bauman und Baudrillard einig: Die sich beschleunigende Entwicklung der nachmodernen Gesellschaft gewährt dem individuellen Subjekt keine Atempausen, in denen es zu sich kommen, sich auf eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren und einen Lebensentwurf als narratives Programm verwirklichen könnte. Die rasche Abfolge von Jobs, oft nur als Aufeinanderfolge von Teilzeitarbeiten mit Kettenverträgen realisierbar, hindert viele Individuen daran, einen Beruf im Sinne von Max Weber (als Berufung oder Lebensaufgabe) auszuüben. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass immer mehr Menschen in die Intimität der Zweierbeziehung oder der Kleinfamilie und in den Konsum flüchten, der mit „persönlichen“ Angeboten und „Selbstverwirklichung“ lockt. Dieses von Sennett beschriebene Szenario findet sich in abgewandelter Form auch bei Bauman und Baudrillard. „Der Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie ist nicht, eine Identität zu fundieren, sondern eine Festlegung zu vermeiden“ 4 , erklärt Bauman in Unbehagen in der Postmoderne. Sennett veranschaulicht dieses Unbehagen, das Subjektivität aushöhlt, vor allem im Zusammenhang mit Arbeitsprozessen, die von einem so raschen Struktur- und Funktionswandel geprägt sind, dass der Einzelne kaum Gelegenheit hat, sich auf seine Tätigkeit zu konzentrieren und sich in 4 Z. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg, Hamburger Edition, 1999, S. 160. <?page no="924"?> Sennett antwortet Habermas 908 ihr zu verwirklichen. Darin unterscheidet er sich wesentlich vom Handwerker traditionaler und auch moderner Gesellschaften. Im dritten Abschnitt soll deutlich werden, wie das Unbehagen am Arbeitsplatz in Sennetts Erzählung den Drang nach Selbstverwirklichung in Intimität und Narzissmus verstärkt. Anders als Bauman und Baudrillard betrachtet Sennett den Narzissmus als zentrales Problem zeitgenössischer Gesellschaften, das sich aus der Flucht in die Intimität ergibt und wesentlich zur Schwächung individueller Subjekte beiträgt. Sie sind selten in der Lage oder willens, sich öffentlich zu engagieren, weil sie, wie Freud sagen würde, ihre Libido von den Objekten des öffentlichen Lebens abziehen und in das eigene Ich investieren. In den Bereich des Narzissmus gehört bei Sennett auch die destruktive Gemeinschaft, deren kollektiver Narzissmus bewirkt, dass andersartige Personen - und das Andersartige schlechthin - abgelehnt und ausgegrenzt werden. Auch in diesem Fall wird man an Bauman erinnert, der zeigt, wie sich eine international agierende Elite in hermetischen Stadtvierteln als Ghettos einschließt, weil ihre Angehörigen ausschließlich unter sich sein wollen. Sennetts hermetische Gemeinschaft wirkt auch nach innen destruktiv, weil sie aus der Intimität und einem Persönlichkeitskult hervorgeht, der von allen Mitgliedern affektive Offenheit verlangt, die nur „um den Preis gegenseitiger Verletzung“ 5 , wie Sennett sagt, zu haben ist. Vor diesem Hintergrund fragt er nach der Möglichkeit einer humaneren Stadt, die Begegnungen zwischen grundverschiedenen Individuen und Gruppen begünstigt: „an open city“ 6 , wie es in Building and Dwelling (2018) heißt. In Übereinstimmung mit postmodernen Denkern wie Jean-François Lyotard und Zygmunt Bauman bejaht er Pluralität und Mannigfaltigkeit. Im vierten Abschnitt ist Christopher Laschs Buch The Culture of Narcissism (1979) zentral. Es bezieht sich z.T. kritisch auf Sennetts Werk, ergänzt es aber auch, weil Lasch zeigt, wie das narzisstische Individuum alles, was über seine eigene Person hinausgeht, aus dem Blick verliert: sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft, d.h. auch das Schicksal kommender Generationen. Diese bilden jedoch die künftige Gesellschaft und sollten daher im Mittelpunkt öffentlichen Denkens und Handelns stehen. Insofern kann Laschs Werk - auch The Minmal Self (1984) - als eine Abhandlung 5 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin, Berlin Verlag, 2013 (2. Aufl.), S. 393. 6 R. Sennett, Building and Dwelling. Ethics for the City, New York, Ferrar, Straws and Giroux, 2018, S. 9: „Ethically, an open city would of course tolerate differences and promote equality, but would more specifically free people from the straitjacket of the fixed and the familiar, creating a terrain in which they could experiment and expand their experience.“ <?page no="925"?> Sennett antwortet Habermas 909 über den Verfall der Öffentlichkeit und als Ergänzung zu Sennetts Forschung gelesen werden Noch einen Schritt weiter im Bereich der Intimität geht der französische Soziologe David Le Breton, der die Soziologie des Körpers zu einem seiner Forschungsschwerpunkte gemacht hat. Dieser Soziologie widmet sich der fünfte Abschnitt, in dem gezeigt wird, wie sich der Narzissmus im Bereich der Körperkultur auswirkt. Mit dem Verfall der Öffentlichkeit befasst sich Le Breton nicht, zeigt jedoch, gleichsam en passant, wie sich Frauen und Männer von öffentlichen Anliegen abwenden, um sich dem Persönlichsten und Intimsten zu widmen: ihrem Körper, auf den sie ihre gesamte Libido projizieren. Im letzten Abschnitt, der den Dialog wieder aufnimmt, geht es um die Frage, ob die Darstellungen Sennetts - aber auch die Baudrillards und Baumans - nicht zu einseitig sind. Zum Abschluss wird daher versucht, mögliche Antworten von Ulrich Beck auf Sennett, Baudrillard und Bauman zu rekonstruieren: und zwar im Hinblick auf Giddensʼ „Life politics“, die von der Prämisse ausgehen, dass das von Tradition und Unmündigkeit befreite Subjekt durchaus (riskante) Chancen hat, sich zu verwirklichen: in moderner Freiheit, jenseits von Bevormundung, Überwachung - und Narzissmus. Zugleich soll allerdings deutlich werden, dass alle hier kommentierten Autoren von einem negativen Narzissmus-Begriff ausgehen und den gesunden Narzissmus als produktive Kraft vernachlässigen. Sowohl Beck als auch die von ihm kritisierten Soziologen könnten mit Hilfe eines positiven Narzissmus-Begriffs ihre Positionen und Kritiken plausibler machen. 1. Der Zerfall der Öffentlichkeit und der Niedergang des Subjekts in Intimität und Narzissmus: Sennetts Antwort auf Habermas und sein Aktantenmodell In einem ersten Schritt erscheint es sinnvoll, die im sechzehnten Kapitel rekonstruierte Öffentlichkeitserzählung von Jürgen Habermas in Erinnerung zu rufen. Wieder geht es um die Frage, wie jemand Gesellschaft beobachtet und welche Ereignisse oder Erscheinungen er für relevant hält. Habermas beobachtet - wie andere Vertreter der Kritischen Theorie vor ihm 7 - den Niedergang des liberalen Individualismus. Ihm ist es nicht um den Zerfall der Öffentlichkeit schlechthin, sondern um die „Entstehung und 7 Vgl. M. Horkheimer, „Soziologie und Philosophie“, in: ders., Sozialphilosophische Studien, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1972, S. 80-81 sowie Vf., „Libéralisme et Théorie critique“, in: L’Ecole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris (1974), L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.). <?page no="926"?> Sennett antwortet Habermas 910 [den] Zerfall der liberalen Öffentlichkeit“ 8 zu tun. Diese wird konkreter als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ 9 definiert, die sich aus freiberuflich Tätigen, Beamten, Künstlern und Journalisten zusammensetzt und im Zeitalter der Aufklärung allmählich die Öffentlichkeit der Königs- und Fürstenhöfe ablöst, die nicht das Volk, sondern ihre Herrschaft „vor dem Volk“ repräsentierten. Zentral ist in Habermasʼ Theorie nicht dieser Übergang von der fürstlichen zur bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit, sondern die Verwandlung der letzteren in eine von den Massenmedien dominierte Gesellschaft. Die Kurzform seiner Erzählung lautet demnach: „von der bürgerlich-liberalen zur massenmedialen Öffentlichkeit“. Es hat sich gezeigt, dass diese narrative Sequenz als Teil der sie umfassenden Erzählung „Kolonisierung der Lebenswelt durch die Systeme Geld und Macht“ zu verstehen ist: Dabei repräsentieren die „zum Publikum versammelten Privatleute“ die auf Kommunikation, Verständigung und Kritik gründende Lebenswelt, welche im ausgehenden 19. und vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts von den Großkonzernen als Medienkonzernen vereinnahmt oder „kolonisiert“ wird. Dadurch sinken die Chancen, „herrschaftsfreie Kommunikation“ zu verwirklichen. Die den beiden Erzählungen zugrunde liegenden, als relevant postulierten Gegensätze sind demnach: bürgerlich-liberal / massenmedial (Teilerzählung) und Lebenswelt / Systeme „Geld“ und „Macht“ (Großerzählung), wobei die Großerzählung vom fundamentalen Gegensatz Demokratie / Kapitalismus gesteuert wird, dessen Terme zugleich als Auftraggeber und Gegenauftraggeber fungieren (vgl. Kap. XVI. 1-2). Sennett beobachtet und erzählt anders. Er stellt nicht die höfisch-absolutistische oder bürgerlich-liberale Öffentlichkeit der massenmedialen gegenüber, schneidet auch nicht das Thema „herrschaftsfreie Kommunikation“ 10 an, sondern hält den Gegensatz Öffentlichkeit / Privatsphäre (als Intimität zwischen Personen) für relevant. Er wirft Habermas vor, er habe das destruktive Potenzial des Rückzugs ins Private nicht erkannt. 11 Zu Sennetts Definition des „Öffentlichen“ bemerkt Dominik Skala: „Es bezeichnet schlicht ‚ein Leben außerhalb des Familien- und Freundeskreises‘ (…).“ 12 In The Fall of Public Man (1974, dt. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, 2008, 2013) fasst Sennett die These und zugleich die Erzählung 8 J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963), Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 11. 9 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der Gesellschaft, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand, 1978 (9. Aufl.), S. 42. 10 Vgl. M. Baumann, Frühbürgerliche Öffentlichkeit in Frankreich - Ein Vergleich der Ansätze von Jürgen Habermas und Richard Sennett, München, Grin-Verlag, 2004, S. 13. 11 Vgl. R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 72-73. 12 D. Skala, Urbanität und Humanität, op. cit., S. 111. <?page no="927"?> Sennett antwortet Habermas 911 seines Buches zusammen: „Die These dieses Buches jedoch lautet, daß diese augenfälligen Anzeichen für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Privatleben und ein öffentliches Leben, das leer ist, das Ende eines langen Prozesses markieren. Sie sind das Ergebnis eines Wandels, der mit dem Niedergang des Ancien Régime und mit der Herausbildung einer neuen, kapitalistischen, säkularen, städtischen Kultur einsetzte.“ 13 Fasst man diese Darstellung als Kernargument zusammen, um es auf Habermasʼ Kernargument zu beziehen, so ergibt sich folgendes Bild: Während Sennett behauptet, dass sich Öffentlichkeit als solche, in ihrer allgemeinen Form in der Intimität als Privatsphäre auflöst, behauptet Habermas nicht, dass Öffentlichkeit verschwindet oder sich auflöst, dass sie „leer“ ist, sondern dass sie einen Strukturwandel durchmacht: von der höfischen und bürgerlich-liberalen zur massenmedialen Öffentlichkeit. Auf narrativer Ebene mündet sein Diskurs nicht in Partikularisierung als Privatheit und Intimität, sondern (eher im Gegenteil) in eine universelle Herrschaft der Medienkonzerne (als „Macht“ und „Geld“) über die Kommunikation der Lebenswelt, die auch den Privatbereich einschließt. Anders als bei Sennett ist dieser Bereich bei Habermas nicht negativ konnotiert. Während also Sennett behauptet, dass der Rückzug ins Private zerstörerisch wirkt, vertritt Habermas die Ansicht, dass dieses Private als Lebenswelt, Zweierbeziehung, Familie oder Freundschaft von den Systemen „Macht“ und „Geld“ zerstört wird. Dadurch kommt es zu einer partiellen Umkehrung von Sennetts These: Nicht die Privatheit ist das zerstörerische Prinzip, sondern die „sprachlosen“ Systeme „Macht“ und „Geld“. Es wird sich jedoch zeigen, dass letztlich auch Sennett den „Kapitalismus“ für die eigentlich destruktive Kraft hält, weil seine Entwicklung den Rückzug der Individuen in die Intimität als Privatheit bewirkt. Sennetts und Habermasʼ Diskurse konvergieren trotz aller Abweichungen in einem wesentlichen Befund: in der Feststellung, dass in der zeitgenössischen (spätmodernen oder postmodernen) Gesellschaft die Individuen als Fernsehzuschauer zunehmend zu Passivität und Schweigen verurteilt werden. Dadurch werden sie entpolitisiert. Dazu bemerkt Sennett: „Auf das, was der Fernseher verlautbart, kann man nichts erwidern, man kann ihn nur abstellen - eine unsichtbare Handlung.“ 14 Er fügt hinzu, „daß das Fernsehen kein geeignetes Instrument zur Organisierung von politischen Initiativen oder Kampagnen ist“. 15 Komplementär dazu spricht Habermas von „kulturindustriell gesteuerten Meinungsinhalten“ 16 und von der „Desintegration der Wählerschaft als 13 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 43. 14 Ibid., S. 494. 15 Ibid., S. 495. 16 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, op. cit., S. 289. <?page no="928"?> Sennett antwortet Habermas 912 Publikum“. 17 Auch er stellt somit eine sich ausbreitende Passivität der Medienbenutzer fest, die mit ihrer Abkehr von der Öffentlichkeit als Politik einhergeht. Er ergänzt Sennetts Zeitdiagnose, wenn er erklärt, „daß die Wahlregisseure den Schwund an eigentlich politischer Öffentlichkeit nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern mit vollem Bewußtein selber betreiben müssen“. 18 Dieser Übereinstimmung im Hinblick auf die Passivität zeitgenössischer Individuen liegt jedoch ein Dissens zugrunde: Während Habermas im Rahmen seiner Erzählung „Kampf um die Lebenswelt“ die Passivität aus der Vereinnahmung der Lebenswelt durch Politik („Macht“) und Medienkonzerne („Geld“) ableitet, erklärt Sennett diese Passivität im Zusammenhang mit seiner Erzählung „Flucht aus der Öffentlichkeit in die Intimität“ und wirft Habermas vor, dass er diese Fluchtbewegung und ihre Folgen nicht wahrnimmt. Habermasʼ Antwort könnte lauten, dass Sennett diese Entwicklung überbewertet und die Auswirkungen von „Macht“ und vor allem „Geld“ auf die individuelle Subjektivität (ihre Passivität) nicht ausreichend berücksichtigt. Sennett wiederum könnte geltend machen, dass er den Faktoren „Macht“ und „Geld“ sehr wohl Rechnung trägt, um zu zeigen, wie sie im „Industriekapitalismus“ Individuen in die Intimität drängen. Abermals wird hier deutlich, dass jede theoretische Erzählung aufgrund ihrer Relevanzkriterien nur bestimmte Aspekte der sozialen Wirklichkeit (hier vor allem die Auswirkungen des Kapitalismus) zutage treten lässt und andere ausblendet, weil sie nicht alles für relevant halten kann, ohne zu zerfallen. Aber im Dialog der Theorien fällt bisweilen Licht aufs Ganze. Doch wie sieht Sennetts Erzählung als Aktantenmodell konkret aus, und wie wird sie für die Gesellschafts- und Stadttheorie fruchtbar gemacht? Sennett kann wohl nicht umhin, den anderen Soziologen - von Marx und Max Weber bis Giddens und Baudrillard - zu folgen und im „Industriekapitalismus“ (Sennett) die treibende und zugleich zerstörerische Kraft moderner Geschichte zu erkennen. So wird der „Industriekapitalismus“ zum Gegenauftraggeber in seiner Erzählung, in der er den Säkularisationsprozess vorantreibt und dadurch Individuen aus Traditionen herauslöst, die im Mittelalter und noch im Ancien Régime (bis 1789) das öffentliche Leben beherrschten. (Es sei hier an Giddensʼ Prozess des disembedding erinnert: vgl. Kap. X. 3.) In Verfall und Ende des öffentliche Lebens ist vom „Privatisierungsdruck“ die Rede, „den der Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erzeugte“. 19 Wesentlich später werden „Mystifikation und 17 Ibid., S. 257. 18 Ibid., S. 256-257. 19 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 50. <?page no="929"?> Sennett antwortet Habermas 913 Privatisierung“ als „Auswirkungen des Kapitalismus auf das öffentlichen Leben“ 20 genannt. Vor allem durch das Wort „Mystifikation“ wird der Kapitalismus negativ konnotiert und tritt als Gegenauftraggeber auf. Ihm opponiert als Auftraggeberin eine „Gesellschaft“, die als Zusammenarbeit und Solidarität durchaus durkheimianische Züge trägt. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Sennett gerade in seinem Buch Together, dessen Untertitel lautet The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation (2012, dt. Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012), ausführlich auf Durkheim (vgl. Kap. IX. 5) bezieht und indirekt sein eigenes Moralverständnis umreißt, wenn er erklärt: „In einer Hinsicht ist Durkheims Verständnis der Moral ganz einfach: Eine starke Bindung an Institutionen stärkt die Moral, eine schwache Bindung lässt sie erodieren.“ 21 Der Begriff Bindung kommt bei Sennett regelmäßig vor und verweist auf den englischen und deutschen Titel des Buches: Together, Zusammenarbeit. Diese Bindung stimmt in vieler Hinsicht mit dem Sozialen überein, das der Kapitalismus (ähnlich wie bei Durkheim) bedroht und allmählich zerstört. Der folgende Satz aus Die Kultur des neuen Kapitalismus fasst nahezu die gesamte Erzählung Sennetts als Aktantenmodell zusammen: „Auf diese Weise verringert sich das Soziale, und der Kapitalismus bleibt.“ 22 Er verweist zugleich auf die Position des Subjekt-Aktanten, der mit dem öffentlich engagierten und agierenden Individuum identifiziert werden könnte, das zu Sennetts Fokalisator wird, aus dessen Sicht er die gesellschaftliche Entwicklung erzählt. Sennett selbst könnte sich mit diesem „sozialen“ Individuum identifizieren, zumal er sich, wie die biografische Skizze zeigt, immer wieder in Theorie und Praxis für eine kommunikations- und solidaritätsfördernde Stadtplanung eingesetzt hat. Als Subjekt handelt dieses Individuum im Auftrag der „Gesellschaft“ als Öffentlichkeit, Zusammenarbeit oder togetherness. Seine Hauptmodalität ist das „soziale Engagement“, sein Objekt-Aktant die „Öffentlichkeit“, die es zu verteidigen oder zu erneuern gilt. Diesem Subjekt steht im Aktantenmodell ein Antisubjekt gegenüber, dem diese Gesellschaft gleichgültig ist und das im Auftrag des individualisierenden, isolierenden und Intimität fördernden „Industriekapitalismus“ (Gegenauftraggeber, anti-destinateur, Greimas) agiert. In Sennetts Diskurs stimmt es weitgehend mit der „Persönlichkeit“ zusammen, deren Hauptmodalität „soziale Gleichgültigkeit“ ist, die zur Aufwertung der Intimität in der Kleinfamilie oder der Zweierbeziehung führt. 20 Ibid., S. 267. 21 R. Sennett, Zusammenarbeit, op. cit., S. 342. 22 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, Berlin Verlag, 2009 (4. Aufl.), S. 66. <?page no="930"?> Sennett antwortet Habermas 914 In seiner Erzählung der gesellschaftlichen Entwicklung, der das hier rekonstruierte Aktantenmodell zugrunde liegt, zeigt Sennett, wie diese „Persönlichkeit“ als „Intimität“ (Objekt-Aktant) suchendes, desengagiertes Individuum nach der Zerstörung des Ancien Régime durch die Revolution von 1789 vor allem im 19. und 20. Jahrhundert immer stärker in Erscheinung tritt, bis sie alle Gesellschaftsbereiche durchdringt. Der Vorbote dieser „Persönlichkeit“ war - nach Sennett - der britische Politiker und Lebemann John Wilkes (1727-1797). Sein Verhalten wurde schon im 18. Jahrhundert zum Anlass, die Intimität der „Persönlichkeit“ (den persönlichen Charakter) zeitweise in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen zu stellen. Dazu bemerkt Sennett: „Die eigentliche - für die öffentlichen Konventionen seiner Zeit fatale - Verknüpfung der Person Wilkesʼ mit dem Politiker Wilkes war das Werk seiner eigenen Anhänger.“ 23 Was im 18. Jahrhundert nur ein Einzelfall war, wird im 19. und 20. Jahrhundert zur Regel. Sennett zeigt, wie Rousseau (1712-1778) mit seinem Plädoyer für affektive Ehrlichkeit, Intimität und die intime Gemeinschaft, die er der depravierten Gesellschaft der Konventionen entgegensetzt, in Philosophie und Literatur einen Wendepunkt ankündigt: die Wende vom öffentlichen zum „intimen“ oder „privaten“ Individuum, zur „Persönlichkeit“. Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen öffentlichem Leben und Theater noch fließend, und die Menschen handelten auf der Straße nach Konventionen und Regeln, die in vieler Hinsicht dem Verhalten auf den Bühnen dieser Zeit entsprachen. Diese Regeln erleichterten, ja ermöglichten das öffentliche Miteinander, die togetherness, zu der auch die Maske gehörte, die peinliche Intimitäten oder romantische „Herzensergüsse“ verhinderte. Die Maske symbolisiert Empathie als „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“ (Duden), nicht Sympathie als narzisstische Identifizierung mit dem Anderen in der Intimität. Rousseau, meint Sennett, will der Maskierung ein Ende bereiten; er möchte das „wahre Gesicht“ in Erscheinung treten lassen: „Rousseau hatte ein gesellschaftliches Leben erhofft, in dem aus Masken Gesichter und aus den äußeren Erscheinungen Charakterzeichen würden. In gewissem Sinne hat das 19. Jahrhundert diese Hoffnung erfüllt. Aus den Masken wurden tatsächlich Gesichter, doch das Ergebnis war ein Verfall der sozialen Interaktion.“ 24 In vieler Hinsicht entspricht diese Entwicklung dem Übergang von der Aufklärung zur Romantik. Während in der Aufklärung, wie Sennett be- 23 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 190. 24 Ibid., S. 384. <?page no="931"?> Sennett antwortet Habermas 915 merkt, die universalistische „Idee des natürlichen Charakters“ 25 , der allen gemeinsam war, das öffentliche Leben regelte, setzt sich in der Romantik der Gedanke durch, dass einzig das Innenleben des Einzelnen als Besonderheit authentisch ist. Dieser Gedanke verbindet Romantiker wie E. T. A. Hoffmann, Novalis und Gérard de Nerval mit Marcel Proust, in dessen Roman A la recherche du temps perdu (1913-1927, dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) das Innenleben als „künstlerischer Instinkt“ oder „unwillkürliche Erinnerung“ aufgewertet wird und öffentlich auftretende Protagonisten wie der Diplomat Marquis de Norpois abgewertet werden. 26 Im 20. Jahrhundert erreicht schließlich die Abwertung des öffentlichen Lebens zugunsten von Privatheit und Intimität ihren Höhepunkt, so dass politische Ereignisse, Auseinandersetzungen und Handlungen vorwiegend im Zusammenhang mit der „Persönlichkeit“ von Politikerinnen und Politikern betrachtet und beurteilt werden. Die Berichterstattung in den Medien lenkt von den Programmen und Handlungen ab und rückt das Persönliche, ja das Intime in den Vordergrund: „Die elektronischen Medien spielen bei dieser Ablenkung eine entscheidende Rolle, denn sie heben das ‚persönliche Leben‘ des Politikers hervor, während sie gleichzeitig seine Arbeit im Amt verdunkeln.“ 27 Die treibende Kraft hinter dieser von Sennett als fatal empfundenen Entwicklung ist, wie bereits angedeutet, der „Industriekapitalismus“ als Gegenauftraggeber, der das „intime Individuum“ ins Leben ruft und als Antisubjekt auftreten lässt. „Ins Leben ruft“ bedeutet konkret, dass der Kapitalismus die Individualisierung begünstigt und beschleunigt (z.B. durch soziale Mobilität im horizontalen und vertikalen Sinn) und im Zuge dieser Entwicklung die Großfamilie, die mit der Öffentlichkeit verwoben war, durch die Klein- oder Kernfamilie ersetzt. Diese neigt angesichts der anonymer werdenden und architektonisch kälter wirkenden modernen Großstadt dazu, sich von der Öffentlichkeit abzukapseln. „Die Familie wird zum Stabilitätsfaktor, weil sie die Möglichkeit zum Rückzug aus der Gesellschaft bietet“ 28 , erklärt Sennett. Von dieser Gelegenheit machen viele, vor allem narzisstische Individuen Gebrauch, um sich nicht der Anonymität und der Auseinandersetzung mit den Anderen und dem Andersartigen allgemein aussetzen zu müssen. So wird die Familie zum Modell einer hermetischen, nach außen abgeschotteten, narzisstischen oder destruktiven Gemeinschaft: „Die einzigen Aktionen, zu denen sich die Gruppe zusammenfindet, sind solche der 25 Ibid., S. 271. 26 Vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, S. 130-131. 27 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 464. 28 Ibid., S. 318. <?page no="932"?> Sennett antwortet Habermas 916 Reinigung, der Ausschließung und Bestrafung derer, die ‚anders‘ als die anderen sind.“ 29 Doch der kollektive und individuelle Narzissmus, der nur das Eigene, das Vertraute gelten lässt und im Nationalismus gipfelt, bringt keine starken Subjekte hervor, sondern schwächt den Willen: „Die ungeheure Angst vor dem öffentlichen Leben, die das 19. Jahrhundert erfaßt hatte, bezeugt sich heute in einer Schwächung des menschlichen Willens.“ 30 In dieser Situation hat der „Industriekapitalismus“ als Gegenauftraggeber in Sennetts Erzählung leichtes Spiel, wenn es gilt, sich die in Intimität und Narzissmus aufgewachsenen Subjekte am Arbeitsmarkt und Arbeitsplatz gefügig zu machen. In diesem Kontext sind Sennetts Abhandlungen über Die Kultur des neuen Kapitalismus (The Culture of the New Capitalism, 2007) und Der flexible Mensch (The Corrosion of Character, 1998) zu lesen. Sie werden von einem postmodernen Thema par excellence beherrscht: vom Niedergang des individuellen Subjekts, der sich wie ein roter Faden durch die Werke Baumans und Baudrillards zieht. 2. Das flexible Subjekt in der Kultur des neuen Kapitalismus Das starke individuelle Subjekt, das Sennett vorschwebt, ist das dialogische Subjekt 31 , das sich durch Empathie den Anderen öffnet und engagiert am öffentlichen Leben teilnimmt. Es ist ein Subjekt, das - auch als Kollektivsubjekt - erstarkt, indem es sich mit dem Anderen auseinandersetzt und dessen Andersheit aufnimmt. Der französische Mediävist Jacques Le Goff sieht es so ähnlich, wenn er über den ungarischen Hof Stefans I (um 1030), der die Vielfalt feiert, schreibt: „Die Gäste, die aus verschiedenen Ländern kommen, bringen verschiedene Sprachen, Sitten, Instrumente und Waffen mit, und diese große Vielfalt ist eine Zierde für das Königreich, für den Hof ein Schmuck und für die äußeren Feinde Gegenstand des Schreckens. Denn ein Königreich, das nur über eine Sprache und ein Brauchtum verfügt, ist schwach und zerbrechlich.“ 32 Sennett könnte sich dieser Auffassung anschließen, denn das Subjekt, das ihm als Fokalisator dient und in dessen Perspektive er beschreibt und erzählt, ist das vielfältige Subjekt, das sich im öffentlichen Bereich empathisch dem Anderen und Andersartigen öffnet. Es ist jedoch nicht das für den „neuen Kapitalismus“ charakteristische Subjekt, das in der Klein- 29 Ibid., S. 393. 30 Ibid., S. 455. 31 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), Kap. V: „Theorie des Subjekts: Für eine dialogische Subjektivität“. 32 J. Le Goff, La Civilisation de l’Occident médiéval, Paris, Flammarion, 1982, S. 254-255. <?page no="933"?> Sennett antwortet Habermas 917 familie oder einer zerfallenen Familie aufwächst und als Narzisst ausschließlich mit seinesgleichen sympathisiert, denen es sich affektiv mitteilen kann. Dieses Subjekt, das nicht aus öffentlicher Interaktion, sondern aus der Intimität hervorgeht, steht für die „Schwächung des menschlichen Willens“, wie Sennett sagt (s.o.). Er zeigt in seiner Soziologie der Arbeitswelt, wie dieses individuelle Subjekt unter den sich rasch wandelnden Bedingungen des „neuen Kapitalismus“ den Mechanismen der neuen Wirtschaftsform zum Opfer fällt: 1. Diese Wirtschaftsform begünstigt in der Wechselwirkung von Arbeit, Freizeit und Konsum die unmittelbare oder zumindest absehbare Gratifikation und nicht deren Projektion in eine ferne Zukunft, die für die protestantische Ethik oder die von Max Weber (vgl. Kap. XII) beschriebene innerweltliche Askese charakteristisch ist. 2. Die marktabhängigen und sich in Übereinstimmung mit Marktlagen rasch wandelnden Verhältnisse bewirken, dass der Einzelne nicht mehr mit einer lebenslangen Anstellung rechnen kann, sondern sich oft genötigt sieht, den Job zu wechseln, dessen Vorherrschaft auf dem Markt den Beruf (im Sinne von Max Webers „Berufung“) zu einer Randerscheinung werden lässt. 3. Diese Beschleunigung der Arbeitsabfolgen und Produktionsprozesse führt dazu, dass Verantwortung und Entscheidungsbefugnis vom Einzelnen auf ad hoc eingerichtete Teams übergeht, die Projekte mit kurzer Laufzeit übernehmen. 4. In dieser flüchtigen Arbeitswelt ist Flexibilität als „Teamfähigkeit“ gefragt, nicht Ausdauer und Konzentration auf eine Aufgabe. Diese Flexibilität geht jedoch nicht mit einer Erweiterung persönlicher Spielräume und Freiheiten einher, sondern mit zunehmender Selbstkontrolle. Im Folgenden sollen diese vier Aspekte der neuen, geschwächten Subjektivität näher betrachtet werden. Spätestens seit Daniel Bells Studie über Die nachindustrielle Gesellschaft (The Coming of Post-Industrial Society, 1973) ist klar, dass die für den puritanischen Protestantismus so wichtige „innerweltliche Askese“ einer eher lebensfrohen, freizeit- und konsumorientierten Einstellung gewichen ist. Bells Diagnose lautet: „Hedonismus“. Sennett schließt an diese Überlegungen an (Punkt 1), wenn er von der „Erosion der protestantischen Ethik“ 33 spricht und beschreibt, wie sich die Einstellung zur Arbeit im Laufe der Jahrzehnte ändert. Während früher langfristig gedacht und geplant wurde, wird gegenwärtig die unmittelbare Belohnung anvisiert: „Die Gruppe der früheren Generation dachte an langfristige strategische Vorteile, die heutige Gruppe dagegen an die unmittelbaren Aussichten.“ 34 33 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, op. cit., S. 64. 34 Ibid. <?page no="934"?> Sennett antwortet Habermas 918 Diese Beschleunigung im Bereich der Erwartungen hängt nicht nur mit dem Niedergang der „innerweltlichen Askese“ und einer hedonistischen Ungeduld (nach dem Motto „carpe diem“) zusammen, sondern auch mit einer „flüchtigen Arbeitswelt“ (würde Bauman sagen), in der das Jobbing in vielen Fällen den Beruf als lebenslanges Wirken verdrängt (Punkt 2). In diesem Zusammenhang bemerkt der französische Soziologe Vincent de Gaulejac in Übereinstimmung mit Sennett, dass die „beruflichen Identitäten verschwinden“. 35 Sennett selbst spricht von einer „narrative of identity“, die den „chameleon values of the new economy“ 36 zum Opfer fällt. Wer immer wieder einen neuen Job finden muss, der kann sich auf die Dauer mit keiner der vielen Tätigkeiten, die er ausübt, identifizieren. Dadurch wird seine Subjektivität als kohärenter Lebensentwurf (als Lebensprogramm) in Frage gestellt. Das Individuum wird zu einem sich seiner veränderlichen Umwelt anpassenden „Chamäleon“. Sennett veranschaulicht diese von der Flüchtigkeit geprägte Situation, indem er kontrastiv das Handwerk mit dem Job vergleicht. Das Handwerk - des Baumeisters, Schreiners, Schusters oder Maurers - bildet die Grundlage der individuellen Identität und garantiert in vielen Fällen eine lebenslange Kontinuität. Dazu gehört auch eine bestimmte Einstellung: das Achten auf Qualität, für die der Handwerker mit seiner Reputation bürgt. Eine solche Einstellung, die auf Traditionen und ihren Normen gründet, ist gegenwärtig nicht mehr gefragt: „Eine in diesem Sinne verstandene handwerkliche Einstellung findet in den Institutionen des flexiblen Kapitalismus kein gutes Zuhause.“ 37 Es kommt hinzu, dass Qualifikationen schnell veralten und nicht mehr gebraucht werden (etwa das fehlerfreie Schreibmaschinenschreiben), so dass Flexibilität und Bereitschaft zur Weiterbildung eher Anerkennung finden und belohnt werden. Diese Situation begünstigt junge, lernfähige Menschen und benachteiligt ältere. Wer sich zu stark mit seiner Tätigkeit identifiziert und sie als Langzeitbeschäftigung auffasst, gilt schnell als „besessen“ oder „verbohrt“. Geschätzt werden Mobilität und Flexibilität, nicht das Verweilen bei einer Sache, nicht Achtung vor Qualität. Diese wird quantitativen Strategien geopfert, die alle im Gewinndenken konvergieren. Als Beispiel führt Sennett eine Firma an, die „regelmäßig unausgereifte Software auslieferte“ 38 und lieber Klagen von Kunden in Kauf nahm, als 35 V. de Gaulejac, La Société malade de la gestion. Idéologie gestionnaire, pouvoir managérial et harcèlement social, Paris, Seuil (2005), 2009, S. 161. 36 R. Sennett, The Corrosion of Character, New York, Norton & Co., 1998, S. 26. Vgl. auch S. 133, wo gesagt wird, dass unter diesen Bedingungen keine „kohärente Lebenserzählung“ entstehen kann: „There can be under these conditions no coherent life narrative (…).“ 37 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, op. cit., S. 85. 38 Ibid., S. 86. <?page no="935"?> Sennett antwortet Habermas 919 ihre markt- und gewinnorientierte Praxis zu ändern. Die bei dieser Firma angestellten Programmierer forderten sie auf, „diese gewinnträchtige, aber qualitätsfeindliche Praxis auf[zu]geben“ 39 und ihnen mehr Zeit zu gewähren, sich auf die Qualität der Produkte zu konzentrieren. Unabhängig von der Frage, ob diese Firma ihre Haltung änderte oder nicht, zeigt dieses Beispiel, dass die immer intensiver werdende Vermittlung durch Tauschwert und Marktgesetz ein zentrales Problem der Postmoderne ist, das nicht nur von Baudrillard, sondern auch von Bauman regelmäßig angeschnitten wird. In dem hier konstruierten Zusammenhang ist wichtig, dass diese Vermittlung inmitten von Indifferenz und Wertezerfall sowohl die individuelle als auch die kollektive Subjektivität aushöhlt: Gruppen und Individuen identifizieren sich nicht mehr mit ihrer Tätigkeit, sondern nehmen nur noch den Gewinn als quantitativen Aspekt dieser Tätigkeit in den Blick, der Subjektivität als spezifische, qualitative Erscheinung negiert. Zur Auflösung der Subjektivität in Quantität und Flüchtigkeit trägt nicht unwesentlich die immer häufiger vorkommende Tätigkeit in Teams bei, die kurzfristig eingerichtet und bald wieder aufgelöst werden. „Die Zeit der Teams ist flexibel und orientiert sich an spezifischen, kurzfristigen Aufgaben“ 40 , bemerkt Sennett in Der flexible Mensch. Er fügt hinzu, dass in der Teamarbeit „gegenseitiges Aufeinandereingehen“ 41 im Vordergrund steht, während der Einzelne an Bedeutung verliert. Nun ist Teamarbeit an sich nichts Schlechtes: Arbeits- oder Organisationssoziologen wie Tom Burns und Michel Crozier vermochten durchaus Vorteile im Übergang vom liberalen Kapitalismus, der von der Autorität und Willkür des Unternehmers (des tycoon) geprägt war, zur teamorientierten Konzernwirtschaft zu erkennen. 42 Denn man kann diese Entwicklung auch als Demokratisierung auffassen. 43 Sennett betont eher ihre Schattenseiten, wenn er schreibt: „Teamarbeit führt uns jedoch in die Sphäre erniedrigender Oberflächlichkeit, welche die moderne Arbeitswelt überschattet.“ 44 Daran ist sicherlich etwas wahr: Man braucht nur an Missstände in der Finanzwirtschaft oder der Autoindustrie zu denken, für die - auf den ersten Blick - niemand verantwortlich gemacht werden kann, weil alles in Teams beschlossen wurde, die es nicht mehr gibt. Auch dies mag als Beispiel für die Abdankung kollektiver und 39 Ibid. 40 R. Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, Berlin Verlag, 1998, München, Siedler-Goldmann, 2000 (7. Aufl.), S. 142. 41 Ibid. 42 Vgl. T. Burns, G. M. Stalker, The Management of Innovation, London, Pergamon Press, 1961, Kap. I-II. 43 Vgl. M. Crozier, Le Phénomène bureaucratique, Paris, Seuil, 1963, S. 353. 44 R. Sennett, Der flexible Mensch, op. cit., S. 142. <?page no="936"?> Sennett antwortet Habermas 920 individueller Subjekte dienen, die durch ephemere Teams, Operationen und Systeme ersetzt werden. Die in der Teamarbeit geforderte Flexibilität bringt jedoch kein Mehr an Freiheit mit sich. Im Gegenteil: Manager übernehmen immer seltener Verantwortung und neigen dazu, sie auf die Mitglieder der Teams abzuwälzen. Dadurch büßen sie zwar ihre Autorität ganz oder teilweise ein, aber ihre Macht bleibt ihnen erhalten. Sie gestattet es ihnen, Teams, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einer Selbstkontrolle zu zwingen, die auch Bauman beschreibt, wenn er auf die Erreichbarkeit einzelner Personen über Smartphone oder Internet hinweist sowie auf die Sanktionsmöglichkeiten der Mächtigen bei fehlendem oder unzureichendem Kontakt (vgl. Kap. XX. 4). Letztlich laden diese Mächtigen alle Verantwortung auf die Schwächeren ab, die auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sich ihre Teams aufgelöst haben. Sennett sieht es so: „Der Manager, der sagt: ‚Wir sind alle Opfer von Zeit und Ort‘, ist vielleicht die gerissenste Gestalt in diesem Buch. Er hat die Kunst gemeistert, Macht auszuüben, ohne Verantwortung zu tragen.“ 45 Diese Situation bringt eine ironische Einstellung bei den Untergebenen hervor, die sich weigern, Macht ohne Autorität anzuerkennen und bei jeder Gelegenheit versuchen, sich der auf sie abgewälzten Verantwortung zu entziehen: „This game of power without authority indeed begets a new character type. In place of the driven man, there appears the ironic man.“ 46 (Dieser Satz fehlt in der deutschen Übersetzung, die an dieser Stelle nicht dem Original entspricht.) Ironie geht einher mit Distanzierung: von der eigenen Tätigkeit und der Situation, in der sie ausgeübt wird. Dabei zerfällt das soziale Dreieck, das für den älteren, liberalen Kapitalismus charakteristisch war und das Sennett in Zusammenarbeit definiert: „Die drei Seiten des sozialen Dreiecks bestanden aus verdienter Autorität, wechselseitigem Respekt und Kooperation während einer Krise.“ 47 Die ironische Haltung schließt alle drei Komponenten des „Dreiecks“ aus und veranschaulicht die destruktiven Auswirkungen des Spätkapitalismus auf das Soziale: auf Gesellschaft. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von Entfremdung sprechen, die - wie bei Bauman - dazu führt, dass sich die von Unsicherheit, Risiko und Ausbeutung Betroffenen nicht mehr mit der Firma, für die sie arbeiten, und mit ihrer eigenen Tätigkeit identifizieren. Sie flüchten in die Konsumwelt, die Intimität vortäuscht („Wir sind für Sie da“) und dem Narzissmus des Einzelnen, dem Kunden als König, huldigt. Diese Flucht erscheint als einziger Ausweg, „wenn unter den ökonomischen Bedingungen der Gegen- 45 Ibid., S. 155. 46 R. Sennett, The Corrosion of Character, op. cit., S. 116. 47 R. Sennett, Zusammenarbeit, op. cit., S. 202. <?page no="937"?> Sennett antwortet Habermas 921 wart deren inhärente Unsicherheitsfaktoren, etwa der Angst vor der eigenen Ersetzbarkeit, durch eine ‚grandiose Selbstvorstellung‘, die ‚Phantasie von Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit‘ (…) angeregt wird (…)“. 48 Die Flucht in den Konsumbereich setzt jedoch den Niedergang des individuellen Subjekts in der Arbeitswelt fort: Es wird von der Werbung vereinnahmt, die seine narzisstischen Vorstellungen vom grandiosen Selbst bestätigt, um es zu einem gefügigen Konsumenten zu machen und in eine Ware im Sinne von Bauman zu verwandeln. 3. Konsum und Intimität, destruktive Gemeinschaft und Narzissmus: Die offene Stadt als Alternative Das Versprechen der Werbung richtet sich an die in der Arbeitswelt verunsicherten, überforderten und gestressten Individuen, die ihre Wünsche in die Konsumwelt projizieren und dabei den gepriesenen Gegenstand mit dem Wunsch verwechseln, der sich an ihn heftet. Dem Gegenstand wird eine „Potenz“ zugeschrieben, die er möglicherweise gar nicht enthält. Sennett erklärt: „Insgesamt nimmt die Konsumleidenschaft zwei Formen an: die Beeinflussung durch Bilder und den Reiz der Potenz. Der Konsument, der sich auf das Spiel der Werbebilder einlässt, kann seinen Sinn für Proportionen verlieren und etwa bei der Wertschätzung eines Objekts die Vergoldung mit dem Gegenstand verwechseln.“ 49 Das Versprechen der Werbung und der komplementäre Wunsch des Konsumenten sind insofern schimärenhaft, als sie durch den Tauschwert als Geldwert vermittelt sind und mit dem Gebrauchswert der Ware kaum etwas zu tun haben. Dabei dient die Ästhetik, die Präsentation oder „Vergoldung“, wie Sennett sagt, lediglich als Köder, der den Unterschied zwischen Tauschwert und Gebrauchswert verwischt, unkenntlich macht. Dazu bemerkt Wolfgang Fritz Haug, der sich in seiner Kritik der Warenästhetik ausführlich mit der „Vergoldung“ befasst: „Das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Ware wird zum Instrument für den Geldzweck.“ 50 Für den hier entworfenen Zusammenhang ist vor allem die Tatsache von Bedeutung, dass sich das Individuum als Konsument von der Werbung täuschen, manipulieren lässt und dadurch seine Autonomie als handelndes Subjekt einbüßt. Es wird - wie bei Baudrillard - von einer sich verselbständigenden Welt der Simulacra, der Werbebilder, ferngesteuert und stürzt sich sogar, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, in Schulden, um sich seine „geheimsten Wünsche“ zu erfüllen. Statt seine Passivität und Entmündigung in der Arbeitswelt zu kompensieren, wird es auch im ver- 48 D. Skala, Urbanität als Humanität, op. cit., S. 135. 49 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, op. cit., S. 124. 50 W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (5. Aufl.), S. 17. <?page no="938"?> Sennett antwortet Habermas 922 meintlichen Konsumparadies auf ein Nicht-Subjekt reduziert: als manipulierter Käufer „kommodifiziert“, würde Bauman sagen. Sennett verknüpft diese Passivität der Konsumenten mit der einer Wählerschaft, die Politik als Ware konsumiert. Er spricht (ähnlich wie Habermas: s.o.) von einer „zutiefst passivierenden Rolle“ 51 des Individuums im „neuen Kapitalismus“ und erläutert in fünf Punkten die von ihm postulierten Parallelen zwischen Warenangebot und politischem Wahlangebot: „Dem Konsumenten-Zuschauer-Bürger bietet man: (1.) politische Plattformen an, die den Produktplattformen ähneln, wie (2.) Unterschiede nach Art der ‚Vergoldung‘. Man fordert ihn (3.) auf, dem (laut Kant) ‚krummen Holz‘ des Menschen keinen so großen Wert beizulegen, (4.) eine benutzerfreundliche Politik zu honorieren und (5.) ständig neue politische ‚Produkte‘ anzunehmen.“ 52 Anhand von Beispielen aus Großbritannien und den USA zeigt Sennett, dass in der Politik - ähnlich wie in der Warenwelt - die Versprechen als „Vergoldung“ nicht der politischen Praxis entsprechen, weil die Bürokratie nicht abgebaut wird (der Staat nicht „schlanker“ wird), die Steuern nicht wirklich gesenkt werden und die stets erfolgreich bekämpfte Korruption sich weiterhin wacker behauptet. So ersetzt das Spektakel wirkliche Politik. Inwiefern ist nun der Rückzug in die Intimwelt für die Passivität der „Konsumenten-Zuschauer-Bürger“ verantwortlich? Er fördert die Einstellung des narzisstischen Antisubjekts, das im Gegensatz zum engagierten, öffentlich agierenden Subjekt Politikerinnen und Politiker nicht nach ihren Programmen und Handlungen beurteilt, sondern fragt, was sie für seine intime Subjektivität bedeuten. Es will wissen, ob sie ihm sympathisch oder unsympathisch sind, ob es sich mit ihnen identifizieren kann oder nicht. Ihre Bedeutung für die Öffentlichkeit, für Wirtschaft und Politik tritt so in den Hintergrund oder verschwindet ganz. Dieses Antisubjekt der Intimität nimmt die Haltung des Konsumenten an, der lediglich wissen will, welche Bedeutung Gegenstände und Personen für ihn haben. Hiermit kehrt die Argumentation ins 18. Jahrhundert zurück: zu John Wilkes, dem Vorboten der narzisstischen Personifizierung, Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung. Die Frage nach der vernünftigen, erfolgreichen Politik wird im 19. und 20. Jahrhundert von der Frage nach der Person, nach ihren Gefühlen und Absichten verdrängt. Ein Politiker des 20. Jahrhunderts wie Nixon trägt im Fernsehen narzisstisch sein Innenleben zur Schau in der Hoffnung, eine Identifikation des Massenpublikums mit seiner Person zu bewirken: „In seiner berühmten ‚Checkers-Rede‘ lenkte Nixon die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von 51 R. Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, op. cit., S. 128. 52 Ibid. <?page no="939"?> Sennett antwortet Habermas 923 den Tatsachen auf seine inneren Motive, auf seine Gefühle und seine guten Absichten.“ 53 Sennett hätte hinzufügen können, dass die Intimität in solchen Fällen vom Medium Fernsehen gefördert wird, weil es die Illusion weckt, dass der Politiker - ähnlich einem Verwandten oder Freund - in der Wohnung gegenwärtig ist und die Anwesenden persönlich anspricht. Sie sollen „seine inneren Motive und seine guten Absichten“ nachempfinden und sich dabei mit ihm, dem mächtigen Präsidenten, narzisstisch identifizieren (nach dem Motto: „Hätte mir auch passieren können“ oder „so hätte ich auch gehandelt“). Narzisstische Selbstdarstellung und narzisstische Identifizierung mit dem „Größen-Ich“ am Fernsehschirm bedingen einander wechselseitig. Man könnte diese mediale Interaktion als einen Versuch auffassen, eine intime Gemeinschaft zu stiften, in der das Persönliche im Vordergrund steht, während sachliche Fragen nach dem politischen Programm und dem Handeln des Politikers im Hintergrund verschwimmen. Aber was versteht Sennett unter einer „intimen“ oder „destruktiven Gemeinschaft“? Sie ist von persönlichen Beziehungen geprägt und kann als Reaktion auf die Anonymität der Großstadt aufgefasst werden: „Die Angst vor der Anonymität, die in der modernen Gesellschaft umgeht, veranlaßt die Menschen, die Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen, zunehmend einzuengen.“ 54 Man wird hier an Zygmunt Baumans Darstellungen der hermetischen Ghettos erinnert, in die sich die Angehörigen der globalen, mobilen Elite zurückziehen, um unter sich zu sein, um ja nicht auf Andersartige zu stoßen. Diese „Einengung“ veranschaulicht der folgende Satz aus Baumans Gemeinschaften, der sich auf die „freiwilligen Ghettos“ der Wohlhabenden bezieht: „(…) Oberstes Ziel eines ‚freiwilligen Ghettos‘ hingegen ist es, Außenstehende vom Hineinkommen abzuhalten - wer drin ist, darf es jederzeit verlassen.“ 55 Sennett, der die hermetische Gemeinschaft als Intimität definiert, als „Gruppe von Menschen, zwischen denen offene Gefühlsbeziehungen möglich sind“ 56 , sieht es so ähnlich, wenn er feststellt, dass sich die intime, vom kollektiven Narzissmus zusammengehaltene Gemeinschaft darauf beschränkt, „diejenigen auszuschließen, die sich in ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer politischen Haltung oder ihrem Stil deutlich unterscheiden“. 57 53 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 490. 54 Ibid., S. 460. 55 Z. Bauman, Gemeinschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (4. Aufl.), S. 143. 56 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 540. 57 Ibid., S. 460. <?page no="940"?> Sennett antwortet Habermas 924 Er spricht von der „‚Säuberung‘ der Gemeinschaft von jenen, die nicht wirklich dazugehören“, und stellt im Anschluss an Tönnies einen Gegensatz zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ her. Dabei konnotiert er allerdings die hermetische, „destruktive Gemeinschaft“ negativ und die auf Öffentlichkeit gründende „Gesellschaft“ positiv: „So gerät die Kollektivpersönlichkeit in einen direkten Gegensatz zum Kern von Geselligkeit, zum Austausch, und die psychologisch fundierte Gemeinschaft gerät in Widerstreit mit der Komplexität von Gesellschaft.“ 58 Dieser Komplexität soll seiner Meinung nach eine zeitgenössische Stadtplanung Rechnung tragen, die darauf aus ist, Ghettoisierung zu vermeiden und Kommunikation zwischen verschiedenartigen Gruppen und Individuen zu fördern. Hier tritt ein wesentlicher postmoderner Aspekt von Sennetts Soziologie zutage, der ihn mit Lyotard und Bauman verbindet: die Aufwertung von Pluralität, Heterogenität und Alterität auf Kosten von Einheitlichkeit und Homogenität. Diese werden mit einem kollektiven Narzissmus identifiziert, der nach Bauman und Sennett für den nach nationaler Einheit und Autarkie strebenden Faschismus und den auf der „Volksgemeinschaft“ gründenden Nationalsozialismus charakteristisch ist. Dominik Skala zitiert einen Artikel von Ulrich Greiner, der 2002 in Die Zeit erschien und in dem es von Sennett heißt: „Wir verstehen danach zwar die Welt nicht besser, aber wir sind einem netten, gebildeten Herrn begegnet, der sich unserer Ratlosigkeit ein Weilchen zugesellt hat.“ 59 Es gehört zu den Hauptanliegen dieses Kapitels zu zeigen, dass diese einebnende, in Allgemeinheiten verharrende Einschätzung Sennetts Werk nicht gerecht wird. Denn Sennetts Diagnose, die durchaus ein besseres Verstehen der zeitgenössischen Gesellschaft ermöglicht, lautet: Die Öffentlichkeit wird durch den „Industriekapitalismus“, der Individualisierung, Anonymität und die Entstehung von Kleinfamilien begünstigt, zerstört und tendenziell durch narzisstische Individuen sowie destruktive, narzisstische Gemeinschaften ersetzt. Während der Journalist ratlos dasteht, schlägt Sennett Reformen im Bereich der Stadtplanung vor, die den Hermetismus der Gemeinschaften aufbrechen und eine neue Öffentlichkeit entstehen lassen sollen. Wie sehen diese Reformen konkret aus? Sennett geht von einer Kritik an modernen Gebäudekomplexen wie La Défense in Paris aus (man könnte auch das Centre Point in London nennen), die sich selbst genügen und kaum mit der Außenwelt kommunizieren. Als Alternative stellt er sich eine kommunikative, dialogische Bauweise vor, die sich durch Öffnungen nach allen Seiten auszeichnet: „Alles 58 Ibid., S. 541. 59 U. Greiner, in: Die Zeit 38, 2002: zitiert nach D. Skala, Urbanität als Humanität, op. cit., S. 99. <?page no="941"?> Sennett antwortet Habermas 925 Innere tritt in eine Verbindung zu allem Äußeren, und es entsteht ein ausstrahlendes, ausgreifendes Ganzes.“ 60 Während die anonyme Stadt der Gegenwart den flüchtigen Augenkontakt der sich exhibierenden Narzissten begünstigt, favorisiert die von Sennett anvisierte neue Architektur die verbale Kommunikation: das Gespräch. Dazu heißt es in Sennetts Civitas: „Das Ziel dieser verbal ausgerichteten Planung ist ebenfalls ein organisches: Herstellung von Solidarität durch Reden.“ 61 Die offene Bauweise erleichtert das Zusammentreffen heterogener Individuen und Gruppen. Sie begünstigt deren Interaktion und Gesprächsbereitschaft und stärkt dadurch individuelle Subjektivität als Bildung durch Dialog: „Je gebildeter ein Mensch ist, je gefestigter seine Persönlichkeit ist, desto enger ist er als gesellschaftliches Wesen mit anderen verbunden.“ 62 Dadurch sollen zwei komplementäre Probleme, die Sennetts gesamtes Werk durchziehen, gleichzeitig gelöst werden: Das narzisstische Individuum soll aus der hermetischen Gemeinschaft herausgeführt werden, und die Kommunikation mit Anderen und Andersartigen soll seine Subjektivität stärken. Die neue Großstadt, wie Sennett sie sich vorstellt, kann „die Erfahrung von Differenz vermitteln“. 63 So steht Sennett als erzählendes Ich eindeutig auf Seiten der Gesellschaft als Öffentlichkeit und hinter dem öffentlichen, kontaktfreudigen Subjekt, das zugleich sein Fokalisator ist. Seine Erzählung, die im Gegensatz zu der Baudrillards ein Telos und ein - durchaus ungewisses - happy end anpeilt, ruft dennoch Bedenken hervor. Sennett erwähnt den Herrn, der im 18. oder noch im 19. Jahrhundert beim Spazieren an den Hut tippen und eine Dame ansprechen konnte, ohne verdächtigt zu werden, intime Absichten zu verfolgen. In den 1950er Jahren war eine solche Szene in den europäischen Großstädten auch noch vorstellbar, weil die Öffentlichkeit vertrauter, „gemeinschaftlicher“ war. Inzwischen sind aber die Städte demografisch so heterogen, anonym und unsicher geworden, dass die Dame es sich gründlich überlegen wird, ob sie das Kontaktangebot des Herrn annehmen soll oder nicht. Ihr Misstrauen hängt nicht nur mit der sozialen und kulturellen Heterogenität und Anonymität, sondern auch mit der extremen Kommerzialisierung der Gesellschaft zusammen: Mit welcher Absicht grüßt der Fremde? Will er uns etwas verkaufen, uns in irgendeine Intrige verwickeln? Immer wieder merken wir, dass die oder der von uns Angesprochene zögert oder erst weitergehen will, bevor schließlich doch ein Kontakt zustande kommt. 60 R. Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Berlin, Berlin Verlag, 2011 (2. Aufl.), S. 130. 61 Ibid., S. 134. 62 Ibid., S. 130. 63 Ibid., S. 179. <?page no="942"?> Sennett antwortet Habermas 926 Man darf bezweifeln, dass sich die Anonymität einer durch Wirtschaft und Kommerz geschädigten Gesellschaft durch eine alternative Stadtplanung zurückdrängen lässt: zumal sich dabei weder die immer flüchtiger werdenden Produktionsprozesse im „neuen Kapitalismus“ ändern noch die wirkungsmächtige Werbung in die Schranken gewiesen wird. Im Grunde unterscheidet sich Sennetts Betrachtungsweise in diesem Punkt nicht allzu sehr von der Tönniesʼ (vgl. Kap. X), der für eine Stärkung gemeinschaftlicher Bande in der Gesellschaft plädiert: denn auch Sennett stellt sich eine solche Stärkung der Öffentlichkeit als verbaler Kommunikation und Solidarität vor. Es bleibt jedoch sein Verdienst, eine sehr fruchtbare Zeitdiagnose vorgelegt und konkrete Verbesserungsvorschläge in einem Bereich vorgelegt zu haben, für den er besonders kompetent ist: im Bereich der Urbanisierung. Wie in den meisten soziologischen Theorien - von Marx und Durkheim bis Luhmann und Giddens - ist die Diagnose überzeugender als das vorgeschlagene Remedium. 4. „Die Kultur des Narzissmus“: Christopher Laschs kritische Ergänzungen Am deutlichsten tritt die Beziehung zwischen Christopher Laschs Studie über den zeitgenössischen Narzissmus (The Culture of Narcissism, 1979), die sich kritisch auf Sennett bezieht, und Sennetts Auffassung des Narzissmus als einer destruktiven Kraft, die das Öffentlichkeitsbewusstsein schwächt, in Laschs These zutage, dass sich der Narzisst für nichts interessiert, was über seine eigene Existenz hinausweist. Sie lautet wörtlich: „Durch die Unfähigkeit, ‚Interesse an etwas zu finden, das über den eigenen Tod hinausreicht‘, wird der Drang nach engen persönlichen Bindungen in der Gegenwart stärker und die intime Beziehung flüchtiger denn je.“ 64 Die Argumentationen der beiden Autoren ergänzen einander insofern, als sie den Gedanken bestätigen, dass maligner Narzissmus und öffentliches Engagement einander ausschließen. Wie Sennett nimmt auch Lasch den Standpunkt des „öffentlich engagierten Subjekts“ ein und kritisiert das narzisstische Subjekt als Antisubjekt von diesem Standpunkt aus. Da am Ende dieses Kapitels ein produktiver, positiver Narzissmus ins Gespräch gebracht wird, der sich an einem gesellschaftlich anerkannten Ichideal (Freud, Lacan) orientiert, soll hier Laschs Beschreibung des narzisstischen Individuums nicht nur zur besseren Orientierung, sondern zugleich als Beispiel für die negative Auffassung des Narzissmus wiedergegeben werden: „Da der Narzißt über besonders wenig innere Reserven verfügt, erwartet er von anderen eine Bestätigung seines Selbstwertgefühls. Er braucht Bewunderung für seine Schönheit, seine Anziehungskraft, 64 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1995, S. 266. <?page no="943"?> Sennett antwortet Habermas 927 seine Berühmtheit oder seine Macht - Attribute, die gewöhnlich im Laufe der Zeit dahinwelken.“ 65 Diese Auffassung des Narzissmus als Subjekt- oder Ich-Schwäche ist sicherlich plausibel und akzeptabel, zumal sie der Auffassung Sennetts entspricht. Sie ist jedoch einseitig, wie sich im letzten Abschnitt zeigen wird: denn von berühmten Narzissten wie Napoleon I, Bismarck oder Wagner wird man schwerlich behaupten können, sie hätten „über besonders wenig innere Reserven verfügt“. Diese Ungereimtheit ist eine Diskussion wert (vgl. Abschn. 6). Lasch knüpft nicht nur an Sennetts Erzählung über den Verfall der Öffentlichkeit an, sondern setzt diese Erzählung fort, indem er zeigt, dass nicht nur die Großfamilie, sondern auch die Klein- oder Kernfamilie zerfällt und dass dieser Zerfall eine permanente Abwesenheit des Vaters zur Folge hat. Aus dieser Abwesenheit und der aus ihr resultierenden Dominanz der Mutter geht ein narzisstisches Kind hervor. Es lohnt sich, diese Entwicklung, die den infantilen Narzissmus begünstigt und schließlich eine narzisstische Persönlichkeit entstehen lässt, bei Lasch näher zu betrachten. Lasch knüpft an Alexander Mitscherlichs bekannte Studie über die „vaterlose Gesellschaft“ an, in der „von einem Leiden des Kindes an der Unsichtbarkeit des Vaters“ 66 die Rede ist, wenn er in The Minimal Self (1984) feststellt: „Die affektive Abwesenheit des Vaters ist immer wieder von Forschern beobachtet worden, die sich mit der modernen Familie befassen (…).“ 67 Diese Abwesenheit als fehlende Autorität hat die Entstehung narzisstischer Allmachtsfantasien zur Folge, die in dem Wunsch gipfeln, den Vater bei der Mutter zu ersetzten. Zur Veranschaulichung bezieht sich Lasch auf eine Fallstudie von Annie Reich: „Annie Reich beschrieb eine narzisstische Frau, die ihren ganzen Körper als einen Phallus auffasste, mit dem sie den Platz eines abwesenden Mannes einnahm, um ihre Mutter zu befriedigen.“ 68 Diese Darstellung stimmt mit Jacques Lacans Theorie des Narzissmus überein, die hier nur im Hinblick auf diesen einen Punkt wiedergegeben wird - und ohne die komplexe und schwer verständliche Terminologie. 69 In der ersten Phase der Sozialisierung als Mutter-Kind-Beziehung kann sich nach Lacan keine stabile Subjektivität bilden, weil das kindlich-narzisstische Ich danach 65 Ibid., S. 296. 66 A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München, Piper, 1973 (10. Aufl.), S. 195. 67 Ch. Lasch, The Minimal Self. Psychic Survival in Troubled Times, New York-London, Norton & Co., 1984, S. 192. 68 Ibid. 69 Zu Lacans Theorie des Narzissmus und seiner Terminologie vgl. Vf., Narzissmus und Ichideal. Psyche - Gesellschaft - Kultur, Tübingen, Francke, 2009, Kap. II. 1: „Von Freud zu Lacan“. <?page no="944"?> Sennett antwortet Habermas 928 strebt, den Vater bei der Mutter zu ersetzen und zum Phallus für die Mutter zu werden (diese Auffassung wird von der bei Lasch erwähnten Fallstudie A. Reichs bestätigt). Lacan vertritt die Meinung, dass der einzige Ausweg aus dieser inzestuös-narzisstischen Situation in einer Identifizierung des (männlichen) Kindes mit dem Vater besteht, der die symbolische Ordnung der Sprache und der sozialen Normen oder Gesetze verkörpert. Lacan selbst bemerkt: „Die eigentliche Funktion des Vaters besteht darin, (…) ein Verlangen mit dem Gesetz zu verbinden (statt zu entzweien).“ 70 Nur so, meint er, sei es möglich, das narzisstische Verlangen nach der Mutter (das Verlangen, statt des Vaters Phallus für die Mutter zu sein) zu überwinden und eine Subjektivität innerhalb der symbolischen (sozialen) Ordnung zu entwickeln. Hier greift nun Lasch die Argumentation auf, indem er zu zeigen versucht, dass in einer „vaterlosen Gesellschaft“, in der auch die Kernfamilie zerfällt und allein erziehende Mütter immer mehr den Alltag prägen, eine Identifizierung des Kindes mit dem Vater schwieriger, unwahrscheinlicher wird. Aber nicht die Mutter ersetzt den abwesenden Vater, sondern das sich allmächtig wähnende narzisstische Kind selbst. So beschreibt Lasch die Genese des Narzissmus in der zerfallenen Familie: „In den Phantasien des Kindes ist es jedoch nicht die Mutter, die den Vater ersetzt, sondern das Kind selbst. Wenn eine narzißtische Mutter, die ohnehin bereits dazu neigt, ihren Nachwuchs als bloße Erweiterung ihrer selbst aufzufassen, dem Kind den Ausfall des Vaters zu kompensieren versucht (…), dann wird das Kind belastet und hochgradig verstört (…).“ 71 Obwohl aus einer anderen Richtung kommend, trifft sich Lasch an dieser Stelle mit Sennett: Beide Theoretiker sind der Meinung, dass die neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen zu einer Schwächung des individuellen Subjekts führen. Während Lasch diese Schwächung aus dem Zerfall der Familie und der Abwesenheit des Vaters ableitet, führt sie Sennett auf den Rückzug der Individuen in die Intimität zurück, der ihre öffentliche, soziale Kompetenz aushöhlt. Sie sind sich noch in einem weiteren Punkt einig: in der Erkenntnis, dass der Narzissmus als Aufwertung des Ichs auf Kosten der Objekte, d.h. der sozialen Welt, eine Schwächung des Willens und der Subjektivität insgesamt zur Folge hat. In beiden Theorien bezieht das individuelle Subjekt seine Stärke aus seinem Engagement in der sozialen Welt der Öffentlichkeit. Die „Unfähigkeit, ‚Gefallen an etwas zu finden, das über den eigenen Tod hinausreicht‘“, von der Lasch spricht (s.o.), ist zugleich die Unfähigkeit zum öffentlichen Engagement, aus dem Sennett zufolge das Subjekt seine Kräfte und seine Bildung bezieht. 70 J. Lacan, Ecrits, Paris, Seuil, 1966, S. 824. 71 Ch. Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 249-250. <?page no="945"?> Sennett antwortet Habermas 929 Man meint Sennett zu lesen, wenn Lasch die Suche nach Intimität (nach intimer Selbstmitteilung) und die Behauptung völliger Selbstgenügsamkeit (als Unabhängigkeit von allen Anderen) als zwei Komponenten der narzisstischen Persönlichkeit erkennt: „Das Verlangen nach völliger Selbstgenügsamkeit ist für den primären Narzissmus genauso prägend wie das Verlangen nach Gemeinsamkeit und affektiver Nähe. Da der Narzissmus keinen Unterschied zwischen dem Selbst und den Anderen kennt, kommt er im späteren Leben sowohl im Verlangen nach einer ekstatischen Einheit mit den Anderen wie in romantischer Liebe als auch im Verlangen nach absoluter Unabhängigkeit von den Anderen zum Ausdruck (…).“ 72 Wie Sennett siedelt Lasch den Narzissmus in Intimität und Romantik an. Er unterscheidet das narzisstische Individuum - zumindest implizit - vom öffentlich, sozial engagierten Individuum, das die Anderen als Andersartige anerkennt, schätzt und dabei sein Denken und Tun auf eine Welt jenseits der eigenen Existenz ausrichtet. Zum Abschluss kehrt diese Betrachtung zum Anfang zurück: zu Laschs Kritik an Sennett. Aus dieser Kritik, die auch die Klassenproblematik streift 73 , werden aus Kohärenzgründen nur zwei Argumente herausgegriffen: Laschs Umkehrung von Sennetts These über die Vereinnahmung des öffentlichen Bereichs durch das Private und seine Behauptung, dass Sennetts Beschreibung des individuellen Rückzugs ins Privatleben zu „einer starken Geltung der Persönlichkeit“ führt. Zum ersten Argument merkt Lasch an: „In unseren Tagen ist dieser Eingriff von Mächten organisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, daß es ein privates Leben kaum mehr gibt.“ 74 Dieser Einwand ist durchaus plausibel, zumal auch Habermas zeigt, wie die Systeme „Macht“ und „Geld“ die Lebenswelt „kolonisieren“, zu der auch der Haushalt und die Familie als Privatsphären gehören. Komplementär dazu zeichnet Jacques Donzelot in La Police des familles (1977, dt. Die Familienpolizei) eine Entwicklung nach, an deren Ende eine nahezu totalitäre Staatsverwaltung das Familienleben regelt. Dabei erscheinen soziale Fürsorge und Unterwerfung als zwei Seiten einer Medaille. Donzelot spricht einerseits vom „Projekt eines Staates, der das Glück der Bürger organisiert, indem er Sozialhilfe leistet, allen Arbeit, Erziehung und Gesundheit bietet“, andererseits vom „Albtraum eines Staates, der möglicherweise die Bedürfnisse aller befriedigt, aber um den Preis einer Nivellierung der Schicksale und eines autoritären sozialen Korsetts“. 75 72 Ch. Lasch, The Minimal Self, op. cit., S. 245-246. 73 Vgl. Ch, Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, op. cit., S. 54-55. 74 Ibid., S. 57. 75 J. Donzelot, La Police des familles, Paris, Minuit, 1977, S. 52. <?page no="946"?> Sennett antwortet Habermas 930 Welche These gilt nun? Wird die Öffentlichkeit, wie Sennett meint, durch Privatisierung und Verpersönlichung zerstört, entleert - oder wird der Privatbereich durch öffentliche Instanzen wie (Staats-)Macht, Geld und Massenmedien vereinnahmt? In diesem Fall zeichnet sich eine mögliche Synthese dieser beiden, einander scheinbar ausschließenden Thesen ab: Sennett hat zweifellos Recht, wenn er zeigt, wie das Private und das Persönliche in Konsumwelt und Politik Eingang finden und dort schließlich eine alles beherrschende Rolle spielen. Die so „privatisierte“ Öffentlichkeit wird dadurch jedoch weder beseitigt noch „entleert“, wie er meint. Sie zerfällt auch nicht, sondern wandelt sich nur (wie Habermas gesehen hat) und dringt um so leichter über fürsorgliche Staatsverwaltung und kommerzialisierte, stark verpersönlichte Massenmedien in den Privatbereich als Lebenswelt ein. Insofern ist Sennetts These über das „Ende des öffentlichen Lebens“ (Orig. The Fall of Public Man) zu radikal und zu einseitig. Der „öffentliche Mensch“ stürzt nicht; er wandelt sich aber und dringt mit privater Maske (durchaus im Sinne von Sennett) in die Lebenswelt ein, die er „kolonisiert“. Laschs zweiter Kritikpunkt, Sennetts Darstellung ende mit dem Fazit einer „starken Geltung der Persönlichkeit“, gründet auf einem Missverständnis. Denn Sennetts Erzählung „von der Öffentlichkeit zur Intimität“ mündet keineswegs in ein „Erstarken der Persönlichkeit“. Im Gegenteil: Die von ihm beschriebene Entwicklung führt zu einer Schwächung des Willens. Davon zeugt der hier am Ende des ersten Abschnitts schon zitierte Satz: „Die ungeheure Angst vor dem öffentlichen Leben, die das 19. Jahrhundert erfaßt hatte, bezeugt sich heute in einer Schwächung des menschlichen Willens.“ 76 Lasch mag hier einiges übersehen haben. Jedenfalls konnte er, als er The Culture of Narcissism (1979) schrieb, Sennetts neuere Arbeiten - etwa The Corrosion of Character (1998) oder The Culture of the New Capitalism (2007) - nicht berücksichtigen. In diesen Arbeiten wird deutlich, dass die von Sennett beschriebenen Entwicklungen zu einer Schwächung des individuellen Subjekts führen: sowohl in der Arbeitswelt als auch im Konsumbereich. 5. Körpernarzissmus: David Le Bretons Konkretisierung der Subjektschwäche Die frappanteste und wohl auch interessanteste Übereinstimmung zwischen David Le Breton und Richard Sennett ist der Gedanke, dass die verbale Kommunikation im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung zugunsten einer visuellen Kultur, einer Kultur des Blicks, atrophiert. Eine von Le Bretons Thesen lautet nämlich, dass im Mittelalter der menschliche Körper 76 R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, op. cit., S. 455. <?page no="947"?> Sennett antwortet Habermas 931 vornehmlich der mündlichen Kommunikation innerhalb einer Gemeinschaft diente, deren Angehörige über orale Elemente miteinander verbunden waren. All dies ändert sich in der Moderne: „Der moderne Körper hört auf, den Mund zu privilegieren, das Organ der Begierde, des Kontakts zu den anderen, der durch das Wort, den Schrei oder den Gesang zustande kommt, der aus ihm dringt, durch das Getränk oder die Nahrung, die er aufnimmt.“ 77 Zugleich kommt es zu einer radikalen Individualisierung der Gesellschaft und zu einer Isolierung der aus Tradition und Gemeinschaft herausgelösten Individuen. In dieser Hinsicht knüpft Le Breton an die Diskurse Giddensʼ (disembedding), Baumans und Sennetts an. Es sei hier an Sennetts Plädoyer für eine „Verbindung von Individuum und Gemeinschaft“ 78 und eine „Herstellung von Solidarität durch Reden“ 79 erinnert. Aus der Sicht Le Bretons und Sennetts ist die zeitgenössische Gesellschaft durch einen Mangel an verbaler Kommunikation geprägt, die - zumindest tendenziell - durch den narzisstischen Blick verdrängt wird. „Die Augen sind die Organe, die am meisten von der ‚Wissenskultur‘ profitieren“ 80 , heißt es bei Le Breton. Das moderne Zusammenleben wird zu einer visuellen Kultur, in deren Mittelpunkt der gesunde, schöne, bewundernswerte Körper steht, der jedoch nicht dazu angetan ist, Kontakt und Kommunikation zwischen den isolierten und sich immer mehr isolierenden Individuen zu fördern. Dem Narzissten dienen die Anderen nicht als Gesprächspartner, deren Meinungen wichtig sein könnten, sondern als Spiegel, in denen er sein „Größen-Ich“ wiederzuerkennen hofft. In Le Bretons Buch Anthropologie du corps et modernité (1990, Anthropologie des Körpers und Moderne) ist von Narzissmus kaum die Rede, und doch ist dieser psychoanalytische, von Freud im Jahre 1914 81 eingeführte Begriff allgegenwärtig. Die Individuen, die Le Breton auftreten lässt, sind allesamt Narzissten, die meinen, ihre Existenz, Persönlichkeit und Überlegenheit ausschließlich sich selbst zu verdanken. So heißt es etwa vom Bodybuilder: „Er will niemandem etwas verdanken. Er treibt im Fanatismus der Selbstzeugung.“ 82 Hier spricht Le Breton das narzisstische Streben nach Autarkie an, von dem beim Psychoanalytiker Otto Kernberg immer wieder im Zusammenhang mit dem malignen, destruktiven Narzissmus die Rede ist. Kernberg 77 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, Paris, PUF, 2011 (6. Aufl.), S. 44. 78 R. Sennett, Civitas, op. cit., S. 131. 79 Ibid., S. 134. 80 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, op. cit., S. 44. 81 Vgl. S. Freud, „Zur Einführung des Narzissmus“ (1914), in: Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt, Fischer (1975), 1982. 82 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, op. cit., S. 236. <?page no="948"?> Sennett antwortet Habermas 932 diagnostiziert bei einigen seiner Patienten eine „Unfähigkeit der narzißtischen Persönlichkeit, abhängig zu sein“. 83 Auch bei Le Breton fantasiert der Körper-Narzisst sein Leben als ein von den Anderen unabhängiges „An-und-Für-Sich-Sein“. Seine „Selbstzeugung“, von der Le Breton spricht, schlägt sich in einer Körperkultur nieder, die vom Willen geprägt ist, Schöpfer des eigenen Körpers zu sein, ihn selbst durch Kosmetik und permanentes Training zu gestalten: „Der Körper ist kein Schicksal mehr, dem man sich überlässt, sondern ein Objekt, das man nach Gutdünken formt.“ 84 Wie diese Selbstformung konkret aussieht, veranschaulich Le Breton anhand von zahlreichen Beispielen, die zeigen, dass es in den meisten Fällen um eine Selbstdarstellung in den Augen Anderer geht. Während sich Frauen Schlankheitskuren verordnen, die bis zur Anorexie reichen, wird bei Männern das Bodybuilding häufig zur Obsession. In Anthroplogie du corps et modernité erfahren wir u.a., dass drei Millionen Amerikaner Steroide einnehmen, um ihre Muskelmasse zu vergrößern, und dass viele von ihnen Angst haben, sich mit einem zu schmalen Brustkorb oder einem zu kleinen Penis zu blamieren. Einige von ihnen nehmen sogar eine riskante Operation in Kauf, um ihr Glied zu vergrößern: „Die Operation ist der Preis, den man zahlt, um einem bestimmten Männlichkeitsbild zu entsprechen, bei dem es eher um das Erscheinen in den Augen der anderen (Männer) geht als um die Beziehung zur Frau. Die nach der Operation von einer Journalistin befragten Männer erklärten, sie hätten eine problemlose Sexualität, wollten aber ihr Image verbessern, wenn sie mit Freunden unter der Dusche stehen, am Pool, am Strand oder in öffentlichen Toiletten sind.“ 85 In dieser Passage werden zwei narzisstische Komponenten des männlichen Verhaltens sichtbar: Es geht primär um die Selbstspiegelung und Selbstaufwertung in den Augen der Anderen, d.h. um die Projektion der Libido auf das eigene Ich. Es geht nicht um die Einstellung zur Frau, die in einer Beziehung eigentlich das libidinös besetzte Objekt im Sinne von Freud sein sollte. Dies ist einer der vielen Gründe, warum im „Zeitalter des Narzissmus“ viele Zweierbeziehungen zerfallen: Die Individuen sind eher mit sich selbst und ihrem „Image“ als mit der oder dem Anderen beschäftigt. Dabei erfährt ihre Subjektivität eine entscheidende Schwächung, weil der Einzelne sich selbst auf seine Physis reduziert, deren Wert vorwiegend von den aner- 83 O. Kernberg, Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt, Suhrkamp (1978), 1983, S. 314. 84 D. Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, op. cit., S. 237. 85 Ibid., S. 239. <?page no="949"?> Sennett antwortet Habermas 933 kennenden oder kritischen Blicken der Anderen abhängt. Ihrem (Vor-)Urteil wird die Autonomie des Subjekts geopfert. Für diese Entwicklung bietet David Le Breton drei komplementäre Erklärungen an: 1. die Herauslösung der Individuen aus traditionellen Strukturen (disembedding, Giddens), 2. den „Zerfall der Werte“, von dem schon der österreichische Schriftsteller Hermann Broch in den 1930er Jahre sprach, und 3. das Vordringen des Tauschwerts und der Marktgesetze in alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Zum ersten und zweiten Punkt schreibt er (und evoziert den postmodernen Kontext): „Die zeitgenössische Welt zeugt von einer Entwurzelung aus früheren Sinnstrukturen: vom Ende der großen Erzählungen (Marxismus, Sozialismus usw.), vom Zerfall der alltäglichen Orientierungen und von einer Fragmentierung der Wertmuster.“ 86 Nicht zu Unrecht weist er darauf hin, dass so häufig von „Kommunikation“, „Kontakt“, „Wärme“ und „Liebe“ die Rede ist, weil die Werte, die diese Wörter bezeichnen, aus der Gesellschaft verschwinden. Schließlich (Punkt 3) spricht er vom „Zur-Ware-Werden der Welt“ („marchandisation du monde“). 87 Soziale Werte wie „Gesundheit“, „Schönheit“, „Stärke“ und „Schlankheit“ sind allesamt durch den Tauschwert vermittelt und seit langem integraler Bestandteil der Werbung. Wie Bauman und Baudrillard betont er den manipulativen Charakter der Werbung, die das Subjekt zu dem macht, was es ist: „Die Kardinalwerte der Moderne, die von der Werbung angepriesen werden, sind Gesundheit, Jugend, Verführung, Geschmeidigkeit, Hygiene. Es sind die Eckpunkte des modernen Diskurses über das Subjekt und seine Pflichtbeziehung dem Körper gegenüber. Aber der Mensch hat nicht immer den glatten und reinen Körper der Zeitschriften oder Werbespots; man kann sogar behaupten, dass er nur selten diesem Modell entspricht.“ 88 Und dies ist das eigentliche Problem der zeitgenössischen Gesellschaft: die Unterwerfung der Individuen unter die Rhetorik der Werbung, die Subjektivität in ihre marktgängigen Schablonen zwängt und dadurch verdinglicht: „kommodifiziert“, würde Bauman sagen. 6. „Kinder der Freiheit“: Ulrich Becks Antwort auf das „postmoderne Lamento“ Es seien der Übersichtlichkeit halber noch einmal einige Grundgedanken rekapituliert, die Soziologen wie Bauman, Baudrillard, Sennett, Lasch und Le Breton - trotz aller Abweichungen - gemeinsam sind: Der neue, 86 Ibid., S. 226. 87 Ibid., S. 227. 88 Ibid., S. 197. <?page no="950"?> Sennett antwortet Habermas 934 neoliberale Kapitalismus unterwirft die meisten Bereiche der Gesellschaft dem Marktgesetz und dem Tauschwert (der bei Baudrillard nicht mehr benannt werden kann, weil er zum „Wert“ schlechthin avanciert); in der Arbeitswelt werden die Individuen dazu angehalten, sich selbst zu kontrollieren, werden in Wirklichkeit aber von fast unsichtbaren Kontrollmechanismen ferngesteuert; dieser Fernsteuerung sind sie auch im Konsumbereich ausgesetzt, wo sie von der Werbung vereinnahmt, „kommodifiziert“ werden; ihre Subjektivität wird auch dadurch erheblich geschwächt, dass Wertsetzungen inmitten von marktvermittelter Indifferenz austauschbar werden, so dass die Wert- und Sinnsysteme der Gesellschaft zerfallen. Dadurch kommt es zu einer Desorientierung der Individuen, die sich aus der Öffentlichkeit in die Intimität zurückziehen und sich narzisstisch auf ihre Person und ihren Körper konzentrieren. In seinem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel „Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall“ (1998) reagiert Ulrich Beck auf diese postmodernen (oder: als postmodern bezeichneten) Diagnosen. Es lohnt sich, ausführlicher auf seine Argumente einzugehen: nicht nur um die (spät-)moderne Gegenstimme zu hören, sondern um eine Wirklichkeit wahrzunehmen, die ganz anders konstruiert wird. Man braucht das Kaleidoskop nur ein wenig zu drehen, die Relevanzkriterien neu zu bestimmen: und sogleich ergibt sich eine neue Konstellation, ein neues Bild der Gesellschaft. Schon die ersten Sätze des Aufsatzes kündigen eine Antwort auf das „postmoderne Lamento“ an und lassen den dialogischen Charakter aller Theorien erkennen, von denen Michail M. Bachtin sagte, dass sie stets als Reaktionen auf andere Texte zu verstehen sind - nicht als hermetische Gebilde, als Monaden: „Sind wir eine Gesellschaft der Ichlinge? Man könnte dies fast meinen, wenn man die derzeit gängigen Schlagworte Revue passieren lässt: Entsolidarisierung, Werteverfall, Kultur des Narzißmus, Egoismus-Falle, Anspruchsdenken, Hedonismus hallt es durch den öffentlichen Raum.“ 89 Becks Antwort, die recht eindeutig auf Laschs Buch The Culture of Nar cissism reagiert, lautet, dass derlei Unkenrufe der Wirklichkeit nicht gerecht werden, weil die Moderne als „Zweite Moderne“ einen zentralen Wert parat hält, der die traditionellen Werte ersetzen kann: Freiheit. Diese Argumentation ist als Bestandteil von Becks und Giddens Diskurs des dismebedding (Giddens) aufzufassen: der Herauslösung und Freisetzung von Individuen aus Traditionen und deren Zwangslagen. Schon Giddens weist darauf hin, dass diese Freisetzung nicht in Egoismus und Narzissmus münden muss, sondern als „Life politics“ durchaus die Sorge für 89 U. Beck, „Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall“, in: U. Beck (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 9. <?page no="951"?> Sennett antwortet Habermas 935 Andere und soziales Engagement einschießen kann - wobei er „Narzissmus“ wie alle hier kommentierten Autoren als pejorativen Begriff verwendet. Beck knüpft an seine beiden Hauptwerke Risikogesellschaft und Weltrisikogesellschaft (vgl. Kap. XIX. 6) an, wenn er die Auflösung der Tradition aus dem Niedergang von Religion, Nation und Arbeit (als Vollbeschäftigung) ableitet und fragt: „Wie ist Zusammenhalt, wie ist Demokratie in einer postreligiösen, nachindustriellen Gesellschaft jenseits der alten Feindbilder möglich, in der sich nicht mehr alles um die Achse der Erwerbsarbeit dreht? “ 90 In ihrer allgemeinsten Form lautet seine Antwort: Moderne Freiheit bringt jenseits von Religion, Nation und Arbeitsmoral (jenseits der Ersten Moderne) neue Werte hervor. Es fragt sich welche. Gleich am Anfang seines Aufsatzes lobt Beck in nahezu exaltiertem Sprachduktus die jugendlichen „Kinder der Freiheit“, die der etablierten Politik den Rücken kehren; „Wer sich (mit welchen Absichten auch immer, diese sind wundervoll egal) nicht um die institutionalisierte Politik (Parteien, Verbände usw.) kümmert, sondern spielerisch z.B. den Verlockungen der Werbung folgt, handelt gewollt oder ungewollt hochpolitisch, da er oder sie der Politik Aufmerksamkeit, Zustimmung, Macht entzieht.“ 91 Diese Behauptungen würden bei Soziologen wie Sennett und Bauman besorgtes Kopfschütteln, beim Satiriker Baudrillard schallendes Gelächter auslösen. Sennett würde - wohl zu Recht - einwenden, dass es sich hier nicht um „Freiheit“, sondern um eine Flucht aus Öffentlichkeit und Verantwortung handelt (tatsächlich könnte man diese Fluchtbewegung nicht besser veranschaulichen, als Beck selbst es tut). Bauman würde hinzufügen, dass diese Flucht aus der Politik kein Mehr an Freiheit, sondern Unterwerfung unter die von Beck selbst genannten „Verlockungen“ des Konsums zur Folge hat. Baudrillard würde nur anmerken, dass jemand der groß von Freiheit spricht, lediglich zeigt, wie sich junge Menschen „freiwillig“ der „Fernsteuerung“ von Markt und Werbung unterwerfen. Doch Beck lässt es nicht bei diesem Beispiel, das er sicherlich nicht optimal gewählt hat, bewenden. Sein Kernargument lautet: Moderne Freiheit zeitigt neue Werte, zu denen vor allem „Demokratie“ und „Toleranz“ gehören. Nicht von Wertezerfall, sondern von Wertewandel sollte die Rede sein: „Wertewandel und Demokratieakzeptanz gehen Hand in Hand.“ 92 Er fügt hinzu, dass „gerade mit dem Wertewandel die Toleranz gegenüber andersartigen Menschen und gesellschaftlichen Randgruppen stetig angestiegen 90 Ibid., S. 383: „Ursprung als Utopie: Politische Freiheit als Sinnquelle der Moderne“. 91 Ibid., S. 14: „Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall“. 92 Ibid., S. 17. <?page no="952"?> Sennett antwortet Habermas 936 ist, seien es nun Ausländer, Homosexuelle, Behinderte oder sozial Benachteiligte“. 93 Aus soziologischer Sicht ist diese pauschale Feststellung nicht befriedigend, weil hier ein gewisses wishful thinking im Spiel sein könnte: Es wäre notwendig (anhand von Statistiken), zwischen Rechtsprechung, offizieller Politik oder Lippenbekenntnis auf der einen und sozialem Handeln auf der anderen Seite zu unterscheiden. Niemand wird sich öffentlich gegen barrierefreie Ein- und Ausgänge aussprechen; aber Verunglimpfungen von Behinderten und sogar Angriffe auf sie (und auf Ausländer) scheinen in allen Gesellschaften zuzunehmen. Es kommt hinzu, dass Beck den oft problematisierten Toleranz-Begriff 94 zu unbekümmert verwendet. Dazu bemerkt Christopher Lasch, der hier zu Becks Gesprächspartnern gehört, in The Revolt of the Elites (um der Genauigkeit willen sei das Original zitiert): „Democracy also requires a more invigorating ethic than tolerance. Tolerance is a fine thing, but it is only the beginning of democracy, not its destination. In our time democracy is more seriously threatened by indifference than by intolerance or superstition.“ 95 Das Problem besteht darin, dass Toleranz eine negative Haltung ist (tolerieren bedeutet bekanntlich „ertragen“), die unversehens in Hass, Rache und Gewalt umschlagen kann: sobald Ideologen ihre dualistischen Schemata gegen die marktbedingte Indifferenz wenden, die ihnen stets ein Dorn im Auge ist. Dass Toleranz nicht für gutes Zusammenleben bürgt, wusste Goethe, der in Maximen und Reflexionen bemerkt: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ 96 Um dieses Thema drehen sich viele Diskussionen zeitgenössischer Soziologie. „Toleranz“ als Wert ist problematisch und - wie Lasch zeigt - zu brüchig, um eine belastbare Grundlage für Demokratie abzugeben. Was bleibt von den Werten, deren Verfall Beck bestreitet, übrig? Er untergräbt seine eigene These über die Permanenz der Werte und bestätigt die postmoderne Indifferenz, wenn er über die „Kinder der Freiheit“ schreibt, dass für sie „die überlieferten Patentrezepte des Zusammenlebens (der Ehe, Elternschaft, Familie, Klasse und Nation) ihre Überzeugungskraft und Praktikabilität eingebüßt haben“. 97 93 Ibid., S. 20. 94 Vgl. R. P. Wolff, B. Moore, H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt, Suhrkamp, 1968 (6. Aufl.). 95 Ch. Lasch, The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy, New York-London, Norton & Co., 1995, S. 89. 96 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, Gesamtausgabe, Bd. XXI, München, DTV, 1968 (2. Aufl.), S. 103. 97 U. Beck, „Kinder der Freiheit“, op. cit., S. 32. <?page no="953"?> Sennett antwortet Habermas 937 Selbst wenn dem so wäre (aber das ist keineswegs sicher), wäre es ein Desaster. Denn auch ein europäischer Föderalist wird sich hüten, einen Wert wie „Nation“ leichtfertig über Bord zu werfen: Was bliebe vom „kosmopolitischen Europa“, für das sich Beck wortgewandt einsetzt 98 , übrig ohne Nationen wie Deutschland oder das ebenfalls aus Freiheit wiedergeborene Estland; ohne Kroatien und das antike und neue Griechenland? Beck beschreibt abermals ein von ihm geleugnetes Wertevakuum, wenn er erklärt: „Selbst die siegreichen Institutionen des Westens - wie Nato, Marktwirtschaft, Sozialstaat, Parteiendemokratie, nationale Souveränität - haben ihre historische Selbstverständlichkeit, ja ihre historischen Grundlagen verloren.“ 99 Fast würde man meinen, Baudrillards Text über die „Furie des Verschwindens“ (vgl. Kap. XXI. 3) zu lesen. Wie kann Beck für „Demokratie“ als neuen Wert der freiheitlichen Moderne plädieren und zugleich die „Parteiendemokratie“ als Anachronismus verabschieden? Was bleibt von der Demokratie nach Auflösung des Parteienpluralismus noch übrig? Im Rahmen seines Diskurses könnte Beck antworten: demokratische Po litik von unten. In Bürgerinitiativen finden die Individuen wieder zu einander und widerstehen so der Atomisierung: „Die Bürgerinitiativen haben thematisch die Macht ergriffen. Sie waren es, die gegen den Widerstand der etablierten Parteien die Themen einer gefährdeten Welt auf die Tagesordnung gesetzt haben.“ 100 Das mag sein - obgleich die etablierten grünen Parteien auch nicht tatenlos zugesehen haben. Aber Bewegungen (von denen Beck in Risikoge sellschaft sagt, dass ihr „führendes Mitglied die Auflösung ist“) und sporadisch auftretende Bürgerinitiativen können das demokratische Parteiensystem nicht ersetzen: eben weil sie nicht etabliert oder institutionalisiert sind und daher Kontinuität vermissen lassen. Kurzum: Beck schießt in seiner Kritik des „postmodernen Lamentos“ mehrere Eigentore, indem er in Übereinstimmung mit Sennett einen Rückzug der Jugend aus der Politik behauptet, indem er „Toleranz“ und „Demokratie“ zu neuen Werten der „Zweiten Moderne“ erklärt, ohne das von Lasch aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen den beiden zu berücksichtigen, und indem er schließlich - gleichsam malgré lui - den Wertezer fall beschreibt, dessen Existenz er bezweifelt. Kurzum, die postmodernen Soziologen haben nicht ganz Unrecht, und ihre Kritiken sind weitaus mehr als ein leeres Lamento. 98 Vgl. U. Beck, „Kosmopolitisches Europa: Realität und Utopie“, in: ders., Der kosmopoli tische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt, Suhrkamp, 2004. 99 U. Beck, „Kinder der Freiheit“, op. cit., S. 33. 100 U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (5. Aufl.), S. 157. <?page no="954"?> Sennett antwortet Habermas 938 Abschließend sei noch etwas zu der Einseitigkeit des Narzissmus-Begriffs gesagt, den nicht nur Beck, sondern auch Sennett und Lasch als negative Bezeichnung verwenden. Doch der Narzissmus ist ambivalent: eine zugleich produktive und destruktive Kraft. Er ist in seiner Ambivalenz beides zugleich: ein Impuls, welcher der Selbsterhaltung und Selbstachtung 101 dient, der aber als Rückzug der Libido aus der Welt der Objekte auch in Krankheit, Selbstzerstörung und Tod münden kann. Zum positiven Aspekt des Narzissmus bemerkt der Psychoanalytiker Heinz Kohut: „Er ist ein positiver Aspekt menschlicher Wesen. Er bezieht sich nicht nur auf des Menschen Bewußtsein seiner selbst, sondern auch auf seine Fähigkeit, sich selber in einer anderen Person zu erfahren, zu verstehen, wie sie empfindet. Die Empathie ist eine schöpferische Erweiterung des Selbst und deshalb ein Resultat der Entwicklung des Narzißmus.“ 102 Hätte Sennett diesen produktiven Aspekt des Narzissmus berücksichtigt, hätte er ihn nicht einfach mit der Flucht in die Intimität verknüpft, sondern - in seiner Ambivalenz als Sympathie und Empathie - auch mit öffentlichem Handeln. Hätte Beck ihn wahrgenommen, hätte er - gegen Lasch und Sennett - zeigen können, wie Narzissmus als Empathie, Solidarisierung und „Politik von unten“ (Bewegungen, Bürgerinitiativen) ermöglicht. Ein junger Mensch, der sich sozial engagiert, hat möglicherweise Ichideale (große Individuen der Vergangenheit) vor Augen, mit denen er sich narzisstisch identifiziert. Er unterscheidet sich jedoch radikal, von einer Konsumentin, die dem Kosmetik-Wahn verfällt, oder einem vor dem Spiegel ächzenden Bodybuilder - und kann sehr viel in der Gesellschaft bewirken. Zusammenfassung und Ausblick: Im Gegensatz zu Habermas, der in Strukturwandel der Öffentlichkeit zeigt, wie sich Öffentlichkeit im Übergang von einer höfisch-absolutistischen und einer liberal-individualistischen zu einer von Massenmedien geprägten Welt verändert, bezieht Richard Sennett mit seiner These vom „Zerfall der Öffentlichkeit“ einen radikalen Standpunkt und wirft Habermas vor, er habe das destruktive Potenzial des Rückzugs in die Privatsphäre nicht erkannt. Diesen Rückzug und seine negativen Auswirkungen auf das öffentliche Leben untersucht Sennett sowohl im historischen Kontext als auch im Bereich der Urbanisierung. Er erneuert Durkheims Sicht der Gesellschaft, wenn er sich für eine Stärkung der Öffentlichkeit als Solidarität einsetzt. Auf historischer Ebene beobachtet er vor allem im 19. und 20. Jahrhundert eine Abkehr von der universalistischen Idee 101 Vgl. Vf., Narzissmus und Ichideal, op. cit., S. 71. 102 H. Kohut, zit. nach R. J. Butzer, Heinz Kohut. Zur Einführung, Hamburg, Junius, 1997, S. 50. <?page no="955"?> Sennett antwortet Habermas 939 der Aufklärung, der Idee eines allen Menschen gemeinsamen „natürlichen Charakters“, und eine romantische, von Rousseau angekündigte Hinwendung zur Intimität: zum Innenleben des Einzelnen als einzig authentischer Sphäre. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt, und politische Ereignisse werden eher im Hinblick auf das Privatleben der Akteure als im Hinblick auf ihre öffentliche Bedeutung beurteilt. Für diese Entwicklung macht Sennett den „Industriekapitalismus“ (als Gegenauftraggeber) verantwortlich, der die komplementären Prozesse der Individualisierung und der Bildung von Kleinfamilien begünstigt. Aus ihnen geht als Antisubjekt ein schwaches Individuum hervor, das private Intimität dem öffentlichen Engagement vorzieht. Ihm steht in Sennetts Aktantenmodell ein öffentlich engagiertes Individuum als Subjekt-Aktant gegenüber, der im Auftrag der Gesellschaft als „Öffentlichkeit“ (Auftraggeberin) handelt und in seinem Diskurs die Funktion des Fokalisators erfüllt. Sennett beobachtet, wie die vom Industriekapitalismus gesteuerte Entwicklung das schwache Subjekt der privaten Intimität begünstigt und zeigt, wie dieses Subjekt in der „Kultur des neuen Kapitalismus“ zum „flexiblen Subjekt“ wird, das im Unterschied zum Individuum der Moderne, das langfristig dachte und plante, nach unmittelbarer Befriedigung strebt. Es passt sich als „Chamäleon“ den Umständen an, die diese Befriedigung verheißen, und zieht kurzfristige Engagements in Teams einer beruflichen Laufbahn im traditionellen Sinn vor. Zu seiner Tätigkeit nimmt es eine ironische Haltung an, die Autorität, Respekt und Kooperation schwächt, und weicht der Verantwortung aus. Es flüchtet in die Konsumwelt, die an seinen Narzissmus appelliert, indem sie ihm als Kunden und König huldigt. Als Alternative zu dieser narzisstischen Intimität, die versucht, sich im Konsum zu verwirklichen, und das öffentliche Leben vernachlässigt, schlägt Sennett die offene Stadt vor, deren offene Bauweise Kontakte zwischen einander fremden Menschen begünstigt und dadurch Pluralität, Heterogenität und Alterität auf Kosten von Einheitlichkeit aufwertet. Der Narzisst soll aus der hermetischen, familiären Gemeinschaft herausgeführt werden, und die Kommunikation mit Andersartigen soll seine Subjektivität stärken. Im vierten und fünften Abschnitt wird gezeigt, wie Christopher Laschs Narzissmus-Kritik und David Le Bretons Soziologie des Körpers Sennetts Gedankengänge ergänzen: Auch sie beobachten, wie sich der mit sich selbst beschäftigte Narzisst von der Öffentlichkeit (den künftigen Generationen, Lasch) abwendet und seine Libido in den eigenen Körperkult investiert (Le Breton). Zum Abschluss wird Ulrich Becks Reaktion auf das „postmoderne Lamento“ näher betrachtet. Es zeigt sich, dass dieses „Lamento“ trotz aller Einseitigkeiten ernst zu nehmende Argumente enthält. Im letzten Kapitel wird die postmoderne Kritik an der Moderne im Zusammenhang mit Michel Foucault und Michel Maffesoli gebündelt und verdeutlicht. <?page no="957"?> 941 XXIII. Macht, Vernunft und Subjektivität, postmodernes „Stammesbewusstsein“ und der Niedergang des Individualismus: Michel Foucaults und Michel Maffesolis Antworten auf die Moderne Inhaltsverzeichnis 1. Herrschaft, Vernunft und Wahnsinn: Von der „Dialektik der Aufklärung“ zu Foucaults Aufwertung der Alterität und des Partikularen 2. Archäologie des Wissens und Episteme: Die Historisierung und Partikularisierung von Vernunft und Wahrheit 3. Macht, Diskurs und Genealogie der Subjektivität: Foucaults Aktantenmodell zwischen Mythos, Macht und Freiheit 4. Michel Maffesolis postmoderne Kritik der Moderne: Maffesoli, Foucault und Lyotard als Verfechter des Partikularen und Marginalen 5. Dionysos vs. Prometheus: Maffesolis Aktantenmodell und sein Fokalisator 6. Postmoderne „Stämme“ und der Niedergang des individuellen Subjekts: Maffesolis Antwort auf Touraine, Giddens und Beck Michel Maffesoli ist seinem Selbstverständnis nach ein Vertreter der Postmoderne; Michel Foucault ist es nicht. Im Laufe eines Gesprächs mit Gérard Raulet, das im Jahres 1985 in der Zeitschrift Telos veröffentlicht wurde, fragt er verwundert: „Was bezeichnet man als Postmoderne? Ich bin nicht auf dem Laufenden.“ 1 Da es in einem dialogischen Kontext wesentlich ist, einen Autor in Übereinstimmung mit seinem Selbstverständnis wiederzugeben, muss in einem ersten Schritt erläutert werden, warum Foucaults Theorie hier zusammen mit anderen postmodernen Soziologien der postmodernen Problematik zugerechnet wird und warum sie mit Maffesolis Auffassung der Postmoderne zu verknüpfen ist. Zurechnung und Verknüpfung können in einem Satz begründet werden: Während Foucault (1926-1984) die Moderne als teleologisches, universalistisches Herrschaftsdenken kritisiert und so dem postmodernen Denken den Weg ebnet, greift der Foucault-Leser Maffesoli (geb. 1944) einige von Foucaults kritischen Argumenten auf und lässt sie im Entwurf einer Postmoderne ausmünden, die er - ähnlich wie Bauman - als radikale Infragestellung der Moderne und ihres Universalismus auffasst. 1 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: ders., Dits et écrits 1954-1988, Bd. IV (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Paris, Gallimard, 1994, S. 446. <?page no="958"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 942 Für die Konstruktion dieses Kapitels bedeutet dies: dass Maffesolis Kritik der Moderne und seine Soziologie der Postmoderne, die im zweiten Teil des Kapitels kommentiert werden, als Ergänzungen zu Foucaults Denken erscheinen. Zugleich soll deutlich werden, dass die Ausrichtung von Maffesolis Diskurs auf Jugendgruppen als postmoderne Stämme (lat. tribus: Neotribalismus) mit Foucaults Plädoyer für eine der griechischen Antike nachempfundenen „Sorge um das Selbst“ nicht zu vereinbaren ist. Die geistige Verwandtschaft der beiden Autoren ist am konkretesten und anschaulichsten im Zusammenhang mit ihrem Nietzscheanismus zu erklären, der mit einem die gesamte französische Postmoderne - von Lyotard und Deleuze bis Derrida - prägenden Anti-Hegelianismus 2 einhergeht. „Foucault is resolutely and consistently anti-Hegelian“ 3 , bemerkt Paul Rabinow. Diese Einschätzung wird von Foucault selbst bestätigt, der sich in einem Interview danach sehnt, „endlich aus dieser Dialektik des Geistes hinauszufinden, die einst von Hegel definiert wurde“. 4 Die Alternative zu Hegel heißt Nietzsche, der sowohl dem Historismus als auch dem Systemdenken abhold war. Die einschlägige Passage in Les Mots et les choses (1966, dt. Die Ordnung der Dinge, 1969) könnte klarer nicht sein: „Auf jeden Fall hat Nietzsche für uns, und noch bevor wir geboren waren, die vermengten Verheißungen der Dialektik und der Anthropologie verbrannt.“ 5 Komplementär dazu erscheint Nietzsche dem postmodernen Maffesoli als der Denker, „der eine Totenglocke läutet: und zwar der Moderne“. 6 Als Nietzscheaner, die weder an ein Telos der Geschichte noch an eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse glauben, weil sie die Entwicklung der Menschheit als zyklische Bewegung (im Sinne von Nietzsches „ewiger Wiederkehr des Gleichen“) auffassen, gehen beide auf Distanz zum Marxismus, dem viele französische Intellektuelle (z.B. Lyotard) nach dem Scheitern der 1968er Revolten den Rücken kehrten. „Methodologie zur Welterkenntnis: Wie wird man den Marxismus los? “ 7 , lautet die Überschrift eines in Dits et écrits III abgedruckten Gesprächs, das Foucault mit 2 Vgl. Vf., Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2016 (4. Aufl.), S. 130-140. 3 P. Rabinow, „Introduction“, in: P. Rabinow (Hrsg.), The Foucault Reader, New York, Pantheon Books, 1984, S. 13. 4 M. Foucault, „Débat sur le roman“, in: ders., Dits et écrits, Bd. I, op. cit., S. 340. 5 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 1993 (12. Aufl.), S. 322. 6 M. Maffesoli, Le Temps des tribus. Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmodernes, Paris, La Table Ronde (1988), 2000 (3., erw. Ausgabe), S. 75. (Zitiert wird nach dieser Ausgabe.) 7 M. Foucault, „Méthodologie pour la connaissance du monde: comment se débarrasser du marxisme“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III, op. cit. S. 595. <?page no="959"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 943 R. Yoshimoto führte. In dieser Skizze des Spannungsverhältnisses zwischen Hegelianismus und Marxismus auf der einen und Nietzscheanismus auf der anderen Seite zeichnet sich die postmoderne Problematik ab, der beide Denker - Foucault vor allem als Kritiker der Moderne - zugerechnet werden können. Diese Problematik setzt sich aus folgenden Komponenten zusammen, von denen längst nicht alle bei postmodernen Soziologen wie Bauman, Baudrillard oder Sennett vorkommen. Bei Foucault und Maffesoli treten nahezu alle mehr oder weniger deutlich in Erscheinung: 1. Die postmoderne Partikularität des Denkens, des Fühlens, der Körper wird - wie bei Bauman - gegen den modernen Universalismus ausgespielt. 2. Aus diesem Gegensatz von Partikularismus und Universalismus geht eine Kritik an der zugleich universalistischen und idealistischen Vernunft- und Subjektauffassung hervor: an Descartesʼ Cogito und Kants abstraktem „Ich denke“. 3. In diesem von der Partikularisierung strukturierten Kontext erfahren Wahnsinn (Foucault) und archaische Leidenschaft (Maffesoli) eine drastische Umdeutung und Aufwertung als von der modernen Universalvernunft unterdrückte Alternativen. 4. Wo diese Vernunft als Denkfigur und Diskursgrundlage der Moderne entmachtet wird, dort regen sich auch Zweifel an der rationalistischen, hegelianischen und marxistischen Auffassung der Geschichte als einer vernünftigen Entwicklung der Menschheit zu stets mehr Freiheit, Wahrheit und Wohlstand. 5. Vor diesem Hintergrund einer radikalen Moderne-Kritik nimmt es nicht wunder, dass sowohl Foucault als auch Maffesoli die Autonomie und Einheit individueller Subjekte in Frage stellen: Während Foucault verschiedene Varianten ihrer Überdeterminiertheit untersucht, beschreibt Maffesoli ihre Fragmentierung und Zerrissenheit („Pluralität“) zwischen den Identitätsangeboten postmoderner „Stämme“ (zumeist Jugendgruppen), in deren Konformismus Individualität untergeht. Im Gegensatz zu Maffesoli versucht der späte Foucault, vor allem in Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, durch Rekurs auf antike Kultur- und Verhaltensmuster eine neue Form individueller Autonomie zu begründen, die im Widerspruch zum Determinismus seiner Hauptwerke steht. Im dialogischen Kontext ist dieses Kapitel als eine finale Antwort zweier postmoderner Denker auf die modernen und spätmodernen Soziologien zu lesen. Nicht nur die zukunftsweisenden Metaerzählungen Hegels, Marxʼ, Comtes und Spencers werden von Foucault und Maffesoli als Schimären verabschiedet, sondern auch die Entwürfe subjektiver Autonomie von Habermas, Touraine, Giddens und Beck. Nicht die Selbstverwirklichung in „Life politics“ beschreibt Foucault, sondern die Unterwerfung der Subjekte (assujettissement) unter den Souverän, die Disziplin und die Bio-Politik: <?page no="960"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 944 Ihm ist das Subjekt vor allem sub-iectum, Unterworfenes, nicht subiectum als Zugrundeliegendes, als hypokeimenon. 8 Analog dazu lässt Maffesoli, den sein Freund Edgar Morin als „Fahnenträger der Postmoderne“ 9 präsentiert, nicht die von Traditionen und ihren Zwangslagen emanzipierten „Kinder der Freiheit“ (Beck: vgl. Kap. XIX und Abschn. 6) auftreten, sondern zeitgenössische Barbaren, die sich unbekümmert und unreflektiert den Leidenschaften ihrer von Dionysos angeführten postmodernen „Stämme“ oder Jugendgruppen unterwerfen. Die Lebensläufe von Foucault und Maffesoli werfen Licht auf einige Aspekte ihrer Werke. Foucault wird 1926 als Kind einer Arztfamilie in Poitiers geboren. Er gibt nicht dem Druck der Eltern nach, weigert sich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und studiert statt Medizin Philosophie und Psychologie an der Ecole Normale Supérieure, wo er den Marxismus Louis Althussers (1918-1990) kennen lernt. Nach Aufenthalten in Uppsala (1955-1958), Warschau (1958) und Hamburg (1959), wo er Frankreichzentren leitet, ist er von 1962 bis 1966 als Professor für Philosophie an der Universität von Clermond-Ferrand tätig und von 1966 bis 1968 als Gastprofessor in Tunis. Von 1970 bis 1984 ist er Inhaber des Lehrstuhls für „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Collège de France. 1984 stirbt er an einer AIDS-Infektion. Für ein besseres Verständnis seiner Theorie sind Anfang und Ende seiner Biografie von Bedeutung: Foucault studiert sehr wohl Medizin, aber nicht als Mediziner, sondern als Philosoph, der zeigt, wie Mediziner Macht über Menschen als Patienten ausüben. Als Homosexueller hat er den Druck sozialer Normen, Organisationen und Institutionen zu spüren bekommen und beschließt, deren Techniken und Machtmechanismen bloßzulegen, die ihm zum Inbegriff der Moderne als Herrschaftssystem werden. Dieses Herrschaftssystem zerlegt auch der 1944 im südfranzösischen Graissessac geborene Maffesoli, der sein Buch Schatten des Dionysos (L’Ombre de Dionysos, 1985) dem Andenken seines Vaters widmet, der als Bergmann nach mehreren Unfällen im Bergwerk an Staublunge starb: „Zum Andenken meines Vaters, der, von Beruf Stollenarbeiter, seit seinem 14. Lebensjahr der Prometheischen Ideologie einen hohen Tribut entrichtet hat.“ 10 Maffesoli schließt sein Studium in Straßburg, wo er die Werke Max Webers und Georg Simmels kennen lernt, mit einer Arbeit über Marxʼ und Heideggers Technik-Verständnis ab: Explication et modification: la 8 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (4. Aufl.), S. 3. 9 E. Morin, „Salutation d’Edgar Morin“, in: G. Durand (Hrsg.), Dérive autour de l’œuvre de Michel Maffesoli, Paris, L’Harmattan, 2004, S. 26. 10 Dt. Übers. zitiert nach: R. Keller, Michel Maffesoli. Eine Einführung, Köln, Herbert von Halem Verlag, 2018, S. 13. <?page no="961"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 945 technique chez Marx et Heidegger (1971). Danach lehrt er als Assistent an der Universität von Grenoble und wird schließlich im Jahre 1981 zum Professor für Soziologie an der Universität von Paris V (René Descartes) ernannt, wo er zugleich das Centre d’études sur l’actuel et le quotidien (CEAQ) leitet, das sich mit der Soziologie des Alltags befasst. Auch in diesem Fall ist der Anfang bedeutsam: Maffesolis Abneigung gegen die „Prometheische Ideologie“, die dem Universalismus, dem Rationalismus und dem Fortschrittsdenken verpflichtet ist. Aus dieser Abneigung geht seine Erzählung der Gesellschaft als Aktantenmodell hervor: In ihr fordert Dionysos, der antike Gott der Orgie und des Rausches, Prometheus, den Gott des Feuers, des Fortschritts und der modernen Vernunftherrschaft, im Namen der Postmoderne zum Zweikampf heraus. Maffesoli ist mit anderen postmodernen Denkern wie Gianni Vattimo, Jean Baudrillard und Zygmunt Bauman befreundet. 11 Da sich sowohl Foucault als auch Maffesoli sporadisch auf Adornos und Horkheimers Kritische Theorie berufen, die hier als Dialogische Theorie weiterentwickelt wird, sollen im Folgenden sowohl Affinitäten als auch Differenzen zwischen den Theoriekomplexen zutage treten. Die Affinitäten sind vorwiegend in den Kritiken der Moderne zu beobachten; die Differenzen brechen dort aus, wo die Frage nach Alternativen akut wird. Es wird sich zeigen, dass die Kritische Theorie auch in ihrer dialogischen Gestalt nicht bereit ist, auf spätmoderne Begriffe wie Subjekt, Wahrheit und Freiheit zu verzichten. 1 Herrschaft, Vernunft und Wahnsinn: Von der „Dialektik der Aufklärung“ zu Foucaults Aufwertung der Alterität und des Partikularen Die Affinitäten zwischen der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, vor allem der Dialektik der Aufklärung (1947: vgl. Kap. VI), und Foucaults Denken springen ins Auge und wurden von Foucault selbst, wenn auch in einem späteren Stadium seiner wissenschaftlichen Entwicklung, bemerkt. In einem Interview geht er auf seine Nähe zur Kritischen Theorie ein: „Nun ist es sicher, dass ich mir sehr viel Arbeit erspart hätte, wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig kennen gelernt hätte (…).“ 12 Wesentlich später stellt er fest, das „Problem der Aufklärung“ könne „nun in Frankreich in 11 Vgl. M. Maffesoli, Michel Maffesoli. Entretiens avec Christophe Bourseiller, Paris, Bourin, 2010, S. 66: „So habe ich zusammen mit meinen Freunden, Gianni Vattimo in Italien, Jean Baudrillard in Frankreich und Zygmunt Bauman in England, Überlegungen in diesem Sinne angestellt.“ 12 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: Dits et écrits, Bd. IV, op. cit., S. 439. <?page no="962"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 946 einer bemerkenswerten Nachbarschaft zu den Arbeiten der Frankfurter Schule aufgegriffen werden“. 13 Er erklärt auch, um welches Problem es konkret geht, zu dessen Lösung die Kritische Theorie hätte beitragen können: „Von Max Weber bis Habermas. Es kommt mir vor, dass sich immer wieder diese Frage stellt: Wie sieht die Geschichte der Vernunft aus, die Herrschaft der Vernunft, wie sehen die verschiedenen Formen aus, mit deren Hilfe die Herrschaft der Vernunft ausgeübt wird? “ 14 Diese Frage verbindet Foucault mit Adorno und Horkheimer. 15 Während die Autoren der Dialektik der Aufklärung Rationalismus und Positivismus als Herrschaftsmechanismen analysieren, zeigt Foucault, wie die rationalistische Aufklärung den Wahnsinn unterdrückt und die positiven Wissenschaften des 19. Jahrhunderts den Menschen als ganzen verwalten. Foucault steht den Frankfurter Philosophen der Nachkriegszeit 16 wesentlich näher als ihrem Nachfolger Jürgen Habermas, der nicht so sehr den Nexus von Denken und Herrschaft oder Macht anvisiert, sondern nach verallgemeinerungsfähigen Prinzipien vernünftigen Denkens und Sprechens fragt. In mancher Hinsicht ist seine „Universalpragmatik“ Foucaults partikularistischen Argumenten entgegengesetzt. 17 In Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung werden die Verflechtungen von Denken und Herrschaft in allen Einzelheiten untersucht, und das schon im sechsten Kapitel kommentierte vernichtende Fazit lautet: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn.“ 18 Mit dieser Ausgangsthese, die gleich am Anfang der Dialektik der Aufklärung formuliert wird, wäre Foucault größtenteils einverstanden, zumal sie auch ein für ihn wesentliches Thema berührt: nämlich die Vereinnahmung 13 M. Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik (Hrsg. U. Bröckling), Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (3. Aufl.), S. 246. 14 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: Dits et écrits, Bd. IV, op. cit. S. 438. 15 Vgl. auch: M. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt, Suhrkamp (2009), 2012, S. 40: „Diese Form der Philosophie, von Hegel bis zur Frankfurter Schule über Nietzsche, Max Weber usw., hat eine Form der Reflexion begründet, der ich mich natürlich, in dem Maße, wie ich es vermag, anschließe.“ 16 Vgl. A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, S. 16. 17 Vgl. Vf., Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Kap. X: „Intersubjektivität und Machtstruktur: Habermas und Foucault (Althusser, Pêcheux)“. 18 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 20. <?page no="963"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 947 der Alterität des „An sich“ durch den herrschenden Geist, der nur das „Für ihn“ gelten lässt. Während aber die Dialektik der Aufklärung die Alterität als Welt der Objekte vorwiegend mit der Natur identifiziert, erblickt Foucault im Wahnsinn das Andere der Vernunft. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie dieser Wahnsinn in Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique (1961, dt. Wahnsinn und Gesellschaft, 1973) für das Andere und seine Andersheit steht und wie er als Animalität zum Naturphänomen wird. Die Nähe des Wahnsinns zur Natur soll eine Zusammenführung von Adornos, Horkheimers und Foucaults Argumentationssträngen plausibel machen und die Affinität der beiden Theorien veranschaulichen. Deren Differenz kommt am Ende des Abschnitts ebenfalls zur Sprache. Im vierten Kapitel von Foucaults Buch, in dem die Erfahrungen des Wahnsinnigen und des Wahnsinns im Vordergrund stehen, tritt immer wieder die Alterität des Wahnsinns zutage, die im 17. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, dem „klassischen Zeitalter“ Frankreichs, von der herrschenden Vernunft ausgeschlossen wird. Diese tritt als juristische Vernunft auf, und das wahnsinnige Subjekt wird im Zuge einer „doppelten Bewegung“ seiner Freiheit beraubt: „durch die natürliche Bewegung seines Wahnsinns und die juristische Aberkennung seiner Rechte, die ihn unter die Gewalt eines anderen geraten läßt“. 19 Diese Macht wird im Namen der Vernunft ausgeübt, und Foucaults Text veranschaulicht, wie das „An sich“ des Geistesgestörten zum „Für ihn“ des als gesund definierten, vernunftbegabten Geistes wird. Es ist nun eines von Foucaults Hauptanliegen, das „An sich“ des Wahnsinns als eines Denkens sui generis aufzufassen und zu beschreiben, um dem Anderen in dessen Andersheit gerecht zu werden. Denn, sagt Foucault, der Wahnsinn hat seine Wahrheit, die die Vernunft nicht kennt und daher auch nicht anerkennt: „Die menschliche Wahrheit, die der Wahnsinn entdeckt, ist aber der unmittelbare Widerspruch dessen, was die moralische und gesellschaftliche Wahrheit des Menschen ist. Der Anfangsmoment jeder Behandlung muß also die Repression jener unzulässigen Wahrheit (…) sein.“ 20 Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang René Major von der „Vernunft des Wahnsinns bei Foucault“ 21 und vom „Wahrheitskern“ („noyau de vérité“) 22 , den der Wahnsinn enthält. Die Vernunft lässt diesen „wahren 19 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981 (4. Aufl.), S. 128. 20 Ibid., S. 547. 21 R. Major, „Crises de raison, crises de folie ou ‚la folie‘ de Foucault“, in: Penser la folie. Essais sur Michel Foucault, Paris, Galilée, 1992, S. 125. 22 Ibid., S. 135. <?page no="964"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 948 Kern“ nicht gelten und missversteht dadurch sich selbst. Dazu bemerkt Heinrich Fink-Eitel: „Indem sie ihr Anderes vernichtet, ist sie tendenziell Selbstvernichtung.“ 23 Man braucht sich nur den Wahnsinn der herrschenden Vernunft in Naturzerstörung, Wettrüsten und Wirtschaftswachstum zu vergegenwärtigen, um zu verstehen, was gemeint ist. Um die Wechselbeziehung und wechselseitige Erhellung von Wahnsinn und Vernunft zu veranschaulichen, verweist Foucault immer wieder auf Kunst und Dichtung 24 , vor allem auf die Romantik E. T. A. Hoffmans und Gérard de Nervals, aber auch auf Van Gogh, Nietzsche und Antonin Artaud 25 , auf den Surrealismus André Bretons und Georges Batailles. (Man denke an Bretons L’Amour fou, 1937, dt. 1970, 1994 unter diesem Titel.) Er zeigt aber auch, dass der Wahnsinn nicht zu allen Zeiten und in allen Epochen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verbannt wurde, sondern erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als der König von Frankreich 1656 das Hôpital général gründen ließ, in dem Wahnsinnige zusammen mit Verbrechern und Prostituierten interniert wurden. Diese Maßnahme markiert den Übergang von der Renaissance, die noch auf die Stimme des Wahnsinnigen hörte, zum „klassischen Zeitalter“ der Aufklärung, das in Übereinstimmung mit Descartesʼ Rationalismus den Wahnsinn als Anomalie aus dem Alltag verbannte. Foucault beschreibt den Bruch zwischen der ersten Episteme, dem Denksystem der Renaissance, und der Episteme des klassischen Zeitalters der Aufklärung wie folgt: „Durch einen eigenartigen Gewaltakt bringt dann das Zeitalter der Klassik den Wahnsinn, dessen Stimmen die Renaissance befreit, dessen Heftigkeit sie aber bereits gezähmt hat, zum Schweigen.“ 26 Für diese Gewalttour, die Foucault als die „große Gefangenschaft“ („le grand enfermement“) bezeichnet, sind auch Descartes und der Cartesianismus verantwortlich. Als aufgeklärter Geist trennt Descartes Traum und Wahn sauber von der Vernunft und schließt sie als Irrtümer aus dem Denken aus: „Auf dem Weg des Zweifels trifft Descartes den Wahnsinn neben dem Traum und allen Formen des Irrtums an.“ 27 Es geht nun nicht um die Frage, ob der von Foucault beschriebene Bruch zwischen Renaissance und Aufklärung (dem „klassischen Zeitalter“) tatsächlich als eine Art Mutation, als jäher Übergang von einem Denksystem (als Episteme) zu einem qualitativ anderen oder als kontinuierliche Ent- 23 H. Fink-Eitel, Foucault zur Einführung, Hamburg, Junius, 1989, S. 30. 24 Vgl. U. Link-Heer, „Michel Foucault und die Literatur“, in: J. Jurt (Hrsg.), Zeitgenössische französische Denker: Eine Bilanz, Freiburg, Rombach, 1998, S. 141. 25 Vgl. L. Giard, Michel Foucault. Lire l’œuvre, Grenoble, Editions Jérôme Millon, 1992, S. 47. 26 M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, op. cit., S. 68. 27 Ibid. <?page no="965"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 949 wicklung im Rahmen des von M. Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesses (vgl. Kap. XII und Abschn. 2) aufzufassen sei. Wichtiger erscheint hier die sich verfestigende Herrschaft der Vernunft, die Adorno und Horkheimer als zunehmende Naturbeherrschung betrachten. Denn einer aufmerksamen Lektüre von Foucaults Werk über den Wahnsinn wird nicht entgehen, dass der Wahnsinn im Zuge der sich durchsetzenden Rationalisierung immer wieder mit der Animalität als Natur assoziiert wird. Der Wahnsinnige kann nicht mit den Mitteln der Medizin geheilt werden; für ihn kommt - wie für das unbändige Tier - nur die Dressur in Frage: „Deshalb gehört der Wahnsinn in diesem extremen Punkt weniger als je zur Medizin und kann in nicht größerem Maß zum Gebiet der Bestrafung gehören. Entfesselte Animalität kann man nur durch Dressur und Vertierung meistern.“ 28 Durch seine Vernunft entfernt sich der Mensch immer weiter vom Tier und von der Natur, so dass seine wahre Natur zur „Gegennatur“ wird. Foucault spricht von der „Exaltation der Gegennatur“ („exaltation de la contre-nature“). 29 Hier trifft er sich mit der Dialektik der Aufklärung, in der dargetan wird, wie das abstrakte Subjekt als Gegennatur, als Descartesʼ Cogito und Kants „Ich denke“, schließlich seiner Selbstverleugnung als Negation der Natur zum Opfer fällt: „Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig.“ 30 Foucault zeigt in seinen späteren Arbeiten, wie dieses kalkulierende und herrschende Subjekt der Moderne schließlich von seinen eigenen Herrschaftsmechanismen, seinen Macht- und Verwaltungsapparaten, Heilanstalten, Gefängnissen und Lagern unterworfen wird. Seine Analysen der Herrschaftsverhältnisse münden in eine radikale Kritik der Moderne, die - ähnlich wie bei Bauman - als repressiver Universalismus einer restlos aufgeklärten und fortschrittsgläubigen Vernunft erscheint. Dazu bemerkt Michael Makropoulos: „Der Völkermord, behauptete Foucault, sei ‚der Traum der modernen Mächte‘.“ 31 Muss man mit Bauman und Foucault die Moderne so einseitig konstruieren? Hat sie nicht auch im Rahmen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Individualisierung, Selbstbestimmung und Autonomie ermöglicht? Ähnlich einseitig ist Foucaults Konstruktion der Vernunft, die auf Gedeih und Verderb an besondere historische Machtkonstellationen gebun- 28 Ibid., S. 145. 29 Ibid., S. 393. 30 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, op. cit., S. 39. 31 M. Makropoulos, „Foucaults Moderne“, in: J. Jurt (Hrsg.), Zeitgenössische französische Denker, op. cit., S. 114. <?page no="966"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 950 den und dadurch (wie in einem anderen Kontext bei Lyotard) 32 drastisch partikularisiert wird. Im Gegensatz zu Adorno, der im Anschluss an seine Rationalismus- und Hegel-Kritik versucht, eine essayistische, parataktische Vernunft zu konzipieren, die sich an der Mimesis der Kunst orientiert, um das Partikulare mit dem Universellen zu versöhnen (vgl. Kap. VI. 5), verzichtet Foucault auf den Entwurf einer Alternativvernunft. Davon zeugt sein berühmt gewordener Satz „Im Französischen bedeutet Folter Vernunft“ („En français, la torture, c’est la raison“) 33 , der den Unterschied zwischen dem deutschen Wort „Vernunft“, das Allgemeines konnotiert, und dem eher ins Partikulare weisenden französischen Wort raison plausibel machen soll. Unberücksichtigt bleibt dabei die deutsche Redewendung „jemanden zur Vernunft bringen“, die Partikularisierung als Zwang keineswegs ausschließt. Diese Partikularisierung steht bei Foucault, der seine „Kritik der anmaßenden Vernunft“ 34 in verschiedenen Kontexten variiert, im Vordergrund und zeugt von der antimodernen Tendenz seines Denkens. Im Gegensatz zu seinem Ansatz, der Vernunft und Wahrheit relativiert, folgt Dialogizität der spätmodernen Kritischen Theorie: Sie stellt einen Versuch dar, im Dialog der Theorien Wahrheitsmomente als interdiskursive (konsensfähige) Theoreme aufzuzeigen, die über das Partikulare und Relative hinausweisen. 2. Archäologie des Wissens und Episteme: Die Historisierung und Partikularisierung von Vernunft und Wahrheit Foucaults Erzählung des Übergangs von der Renaissance, die den Wahnsinn anerkannte, zur Aufklärung, die ihn ausschloss, gründet auf einer Vorstellung der Geschichte als Diskontinuität, als Aufeinanderfolge von Brüchen zwischen unvereinbaren Denksystemen. Diese Vorstellung ist durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder etwas Neues entsteht: etwa wenn der Kapitalismus den Feudalismus, der Individualismus das Gemeinschaftsdenken ablöst. In der zweiten Hälfte dieses Kapitels wird sich zeigen, dass Michel Maffesoli beobachtet, wie eine „dionysische“ Postmoderne Gestalt annimmt, die radikal mit der „prometheischen“ Moderne bricht. 32 Vgl. J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien, Passagen, 1986, S. 109, wo der Autor behauptet, „daß es weder eine mögliche Vereinheitlichung noch eine Totalisierung der Sprachspiele in einem Metadiskurs gibt“. 33 M. Foucault, „La torture, c’est la raison“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III, op. cit., S. 395. 34 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 245. <?page no="967"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 951 Freilich kommt es in allen Fällen darauf an, wie das gesellschaftliche Geschehen konstruiert wird. Stets sind beide Konstruktionen denkbar: Kontinuität und Diskontinuität - je nachdem, wer beobachtet und was er für relevant hält. Jemand, der beobachtet, wie englische Adelige an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ihren Landbesitz verkaufen und zu Industrieunternehmern werden, wird dazu neigen, einen allmählichen Übergang zu erzählen („wie aus dem Landbesitz Industriebetriebe wurden“). Wer sich nicht für diesen Übergang interessiert, sondern für die ebenfalls beobachtbare und nachweisbare Tatsache, dass Feudalismus und Industriekapitalismus zwei grundverschiedene Gesellschaftssysteme sind, wird dieselbe Entwicklung als Diskontinuität erzählen und keineswegs im Unrecht sein. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Konstruktionen von Romantik und Realismus oder Moderne und Postmoderne. Foucault betrachtet, wie sich gezeigt hat, Hegelianismus und hegelianischen Marxismus, die beide der Kontinuität als kumulativer Entwicklung verpflichtet sind, mit einer Skepsis, die auf verschiedene komplementäre Faktoren zurückzuführen ist: auf die Tatsache, dass der Marxismus-Leninismus als Staatsideologie das marxistische Denken in Verruf brachte; auf die dogmatische Einstellung der französischen KP, der Foucault schließlich den Rücken kehrte, und auf den Einfluss des Marxisten, aber Antihegelianers Louis Althusser, der im Anschluss an Gaston Bachelard in „epistemologischen Einschnitten“ („coupures épistémologiques“) dachte und nachzuweisen versuchte, dass die Wissenschaft, die der reife Marx in Das Kapital entwickelte, nichts mit dem Humanismus seiner Frühschriften zu tun hat. 35 Von diesem Denken in Brüchen zeugt der folgende Satz aus Bachelards La Philosophie du non: „Es gibt nur eine Art des Fortschritts in der Wissenschaft, die darin besteht, mit der etablierten Wissenschaft zu brechen.“ 36 Foucault überträgt diese diskontinuierliche Auffassung der Wissenschaftsgeschichte auf die Geschichte des Wissens, die ihm als Aufeinanderfolge voneinander abgeschotteter epistemischer Systeme oder Diskursformationen erscheint. In einem Aufsatz über Nietzsche wendet er sich im nietzscheanischen Sprachduktus gegen rationalistische und hegelianische Begriffe wie Kohärenz, Kontinuität und Teleologie: „Es gibt eine ganze (theologische oder rationalistische) Tradition, die dazu neigt, das Einzelereignis in einer idealen Kontinuität aufzulösen - als teleologische Bewegung oder natürliche Verkettung.“ 37 35 Vgl. L. Althusser, Für Marx, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 33. 36 G. Bachelard, La Philosophie du non. Essai d’une philosophie du nouvel esprit scientifique, Paris, PUF (1940), 1983 (9. Aufl.), S. 32. 37 M. Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire (1971)“, in: ders., Dits et écrits, Bd. II, op. cit., S. 148. <?page no="968"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 952 Als Alternative schlägt Foucault eine Auffassung der Wissensgeschichte als Aufeinanderfolge von Brüchen oder „epistemologischen Einschnitten“ (Bachelard) vor. In Kritik des Regierens heißt es mit einem Seitenblick auf Hegels Historismus vom historisch-philosophischen Vorgehen: „Wenn es weder in eine Geschichtsphilosophie noch in eine historische Analyse umkippen will, muss es sich im Immanenzfeld der reinen Singularitäten halten. Also Bruch, Diskontinuität, Singularität, reine Beschreibung, unbewegliches Tableau, keine Erklärung, kein Übergang (…).“ 38 Von diesem Denken in Brüchen und Singularitäten (Partikularitäten) zeugt Foucaults Vorwort zu seinem Buch Die Ordnung der Dinge, in dem eine „Archäologie des Wissens“ entwickelt wird. Dabei evoziert die metaphorische Bezeichnung „Archäologie“ Ausgrabungen, die völlig verschiedene, heterogene Bauweisen und die ihnen entsprechenden - ebenfalls heterogenen - Kulturen (Epochen) zutage fördern können: „Nun hat aber diese archäologische Untersuchung zwei große Diskontinuitäten in der episteme der abendländischen Kultur freigelegt, die, die das klassische Zeitalter in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einleitet, und die, die am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Schwelle unserer modernen Epoche bezeichnet.“ 39 Die erste von Foucault aufgezeigte Diskontinuität kam im ersten Abschnitt zur Sprache: Sie fällt mit dem Bruch zwischen dem Renaissance- Denken, das den Wahnsinn zulässt, und dem des „klassischen Zeitalters“, das ihn ausschließt, zusammen. Aber wie sahen diese Denksysteme konkret aus? Die Episteme des 16. Jahrhunderts gründete auf Ähnlichkeit und Assoziation: „Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt.“ 40 Als passionierter Leser von Ritterromanen assoziiert beispielsweise Cervantesʼ Held Don Quichotte Windmühlen mit Gestalten von Riesen und eine Barbierschüssel mit einem Ritterhelm. Die „klassische“ Episteme der Aufklärung denkt anders, systematisch: in Form von Darstellungen, in denen sich Wörter und andere Zeichen auf Gegenstände beziehen. Erst im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kristallisiert sich die dritte, die „anthropologische“ Episteme heraus, die den Menschen als Objekt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt. Dazu heißt es am Ende von Die Ordnung der Dinge: „Der ‚Humanismus‘ der Renaissance, der ‚Rationalismus‘ der klassischen Epoche haben dem Menschen in der Ordnung der Welt wohl einen privilegierten Platz geben können, sie haben jedoch den Menschen nicht denken können.“ 41 (Und 38 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 254. 39 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, op. cit., S. 25. 40 Ibid., S. 60. 41 Ibid., S. 384. <?page no="969"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 953 doch trägt ein ganzer Teil von Thomas Hobbesʼ Leviathan [1651] den Titel: „Of Man“! ) José-Guilherme Merquior fasst die Reihenfolge der drei epistemischen Systeme als „Ähnlichkeit, Darstellung (représentation) und ‚Anthropologismus‘“ 42 zusammen. Mit der Entdeckung des Menschen treten die modernen Humanwissenschaften (Anthropologie, Soziologie, Psychologie) auf den Plan. Zugleich weist Merquior aber auf die Schwierigkeiten hin, die sich aus Foucaults Postulat einer absoluten Zäsur zwischen dem Denken der Renaissance und der „klassischen“ Episteme ergeben: Sie verdeckt die offenkundige Kontinuität, „die die Arbeiten von Kopernikus (…) mit denen von Kepler und Galilei verbindet, die zum Ausgangspunkt der modernen Wissenschaft wurden“. 43 Hier wird deutlich, wie wichtig Relevanzkriterien und die aus ihnen ableitbaren Selektionen und Klassifikationen für das Erzählen der Wissens- oder Wissenschaftsgeschichte sind: Nimmt man wie Merquior (und lange vor ihm Comte) die Astronomie in den Blick und nicht wie Foucault Geschichte, Wirtschaft 44 und die Humanwissenschaften, kann man die Entwicklung des Wissens auch als Kontinuum darstellen. Dies gilt auch für den Übergang oder epistemischen „Sprung“ (Althusser) von Marxʼ Frühschriften zu seinem Spätwerk: Die Relevanzen und Selektionen von Textstellen entscheiden (bei ca. 1500 S., wenn man den von Engels redigierten dritten Band nicht berücksichtigt) darüber, ob Das Kapital als wirtschafts- und geschichtswissenschaftlicher Traktat oder als gesellschaftskritisches Plädoyer gegen Entfremdung und für Menschlichkeit gelesen wird. Tatsache ist, dass eine Auffassung menschlicher Geschichte als Aufeinanderfolge von epistemischen Brüchen und geschlossenen Denksystemen zu einer drastischen Partikularisierung von Denken, Vernunft und Wahrheit führt. Anders als etwa in Hegels und Marxʼ Diskursen, in denen die besondere Denkart eines historischen Stadiums (z.B. des bürgerlichen) von einer umfassenderen, allgemeineren Denkart (des Proletariats) überwunden und aufgehoben wird, so dass sich die Universalvernunft im historischen Prozess kumulativ verwirklicht, kommt es in Foucaults Bruchdenken zu einer Fragmentierung von Vernunft und Wahrheit. Jede Episteme wird von einer anderen Vernunft und den ihr entsprechenden Regeln beherrscht und bringt folglich eine andere Wahrheit hervor als die vorangegangene oder die sie ablösende Episteme. Das analogisierende Denken der Renaissance wird vom systemisch-darstellenden Denken der Aufklärung 42 J.-G. Merquior, Foucault ou le nihilisme de la chaire, Paris, PUF, 1986, S. 147. 43 Ibid., S. 65. 44 Vgl. L. Giard, Michel Foucault. Lire l’œuvre, op. cit., S. 136. <?page no="970"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 954 („âge classique“) abgelöst und dieses vom anthropozentrischen Denken der Moderne. Nichts verbindet diese Denkformen, sie haben keine kumulative Wirkung und erscheinen als inkommensurable Partikularitäten. Eine jede verkündet ihre Wahrheit, die mit den Wahrheiten der anderen nichts zu tun hat. Von dieser Konstruktion der Episteme als Rahmenbedingung und Produktionsstätte von Wahrheit zeugt die folgende Passage aus Foucaults Aufsatz über die Intellektuellen: „Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren lässt; die Mechanismen und die Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden (…).“ 45 Abermals erscheint hier Wahrheit als an eine historische und gesellschaftliche Konstellation gebunden, in der über den Gegensatz wahr / unwahr entschieden wird, in der bestimmte Aussagen möglich, andere hingegen unmöglich sind: „was gesagt werden kann und gesagt werden soll“ 46 , erläutert im Anschluss an Foucault und Althusser Michel Pêcheux den Sachverhalt. Es handelt sich um eine „diskursive Formation“, die von einer „Theorie der diskontinuierlichen Systematizitäten“ 47 konstruiert wird: d.h. von einer Theorie, die Diskontinuität, Kontingenz und Partikularität gegen den Universalismus der idealistischen Philosophien (Descartesʼ, Kants und Hegels) ausspielt. Dabei wird freilich übersehen, dass die den Menschen seit Jahrtausenden beschäftigende Unterscheidung von Wahr und Falsch quer durch alle historischen Systeme verläuft: sonst hätte sich Galileo Galileis unzeitgemäße Wahrheit, dass sich die Erde um die Sonne dreht („Und sie dreht sich doch! “ / „Eppur si muove! “) niemals gegen die damals herrschende Wahrheit der Kirche durchsetzen können. Tatsächlich hat diese neue Wahrheit des Wissenschaftlers und Entdeckers die alte „Episteme“ (wenn es denn eine war) erschüttert und im alten Denksystem einem neuen Denksystem den Weg bereitet. Folglich muss einiges denkbar und sagbar sein, was Foucaults Episteme mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht ausschließt - und was sie dennoch schließlich verändert. Denn die Episteme als Diskursformation gründet letztlich auf sprachlich vermittelten Machtverhältnissen, die indirekt die Differenz von Wahr und Falsch bestimmen. Die entscheidende Frage stellt Hans-Herbert Kögler in seinem Buch über Foucault: „Wie kann Wahrheit von Macht unterschieden 45 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 305. 46 M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975, S. 144. 47 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt, Fischer (1991), 1997, S. 38. <?page no="971"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 955 werden, um die Analyse ihrer Beziehung in nicht-reduktiver Weise zu ermöglichen? “ 48 Habermasʼ Antwort lautet, dass eine Unterscheidung im Rahmen von Foucaults „Archäologie“ nicht möglich ist, weil in ihr jedes Denksystem als „Episteme“ letztlich in Machtverhältnissen verankert ist, die über die Sinnkonstitution in einer Gesellschaft entscheiden, „die doch erst festlegen, was innerhalb eines Diskurses jeweils als wahr und falsch zu gelten hat“. 49 Hiermit ist die Autonomie des Subjekts angesprochen und die Frage aufgeworfen, wie ein Subjekt - etwa der Wissenschaftler Galileo Galilei - innerhalb einer Episteme als Diskursformation gegen diese Diskursformation denken, sprechen und handeln kann. Im Folgenden ist daher die Frage nach der Wechselbeziehung von Determiniertheit und Freiheit im Prozess der Subjektkonstitution zentral. Es soll deutlich werden, dass Foucault diese Frage nicht befriedigend beantworten kann - ebenso wenig wie die Frage nach dem Übergang von einer Episteme zur nächsten. 3. Macht, Diskurs und Genealogie der Subjektivität: Foucaults Aktantenmodell zwischen Mythos, Macht und Freiheit Im Zusammenhang mit Luhmanns Systemtheorie bemerkt Rainer Greshoff: „ohne Akteure geht es nicht“ 50 (vgl. Kap. XV. 6). Diese These, die zur Aufdeckung von Schwachstellen in Luhmanns Systemtheorie führte, lässt auch einige Schwächen in Foucaults Argumentation zutage treten. Jean Piaget hat gar nicht so Unrecht, wenn er zu der von Foucault postulierten Aufeinanderfolge von epistemischen Systemen bemerkt, sie sei „völlig unverständlich“ 51 , so dass sich die „Vernunft ohne Grund verändert“ („que la raison se transforme sans raison“). 52 Tatsächlich fehlen bei Foucault - anders als bei Bourdieu - Hinweise auf Philosophen- oder Wissenschaftlergruppen, d.h. Akteure, die bestimmte Interessen verfolgen, einander in den Institutionen kritisieren, befehden und so zum Strukturwandel des Systems beitragen. Die von Foucault beschriebenen epistemischen Mutationen finden ohne individuelle oder kollektive Subjekte statt. Da es aber - wie Luhmann wusste (vgl. Kap. XV. 6) - in der Sprache schier unmöglich ist, jenseits von 48 H.-H. Kögler, Michel Foucault, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2004 (2., erw. Aufl.), S. 188. 49 J. Habermas, „Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault“, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 291. 50 Vgl. R. Greshoff, „Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Warum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie nicht tragen“, in: Zs. für Soziologie, Jg. 37, 6, Dezember 2008, S. 456. 51 J. Piaget, Le Structuralisme, Paris, PUF, 1974 (6. Aufl.), S. 114. 52 Ibid. <?page no="972"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 956 Subjektivität zu denken, sieht sich Foucault (wie Luhmann) genötigt, mythische Aktanten wie „Kultur“ und „Sprache“ einzuführen. In der folgenden Passage handeln sie jenseits aller individuellen oder kollektiven Instanzen: „Das Diskontinuierliche - die Tatsache, daß eine Kultur mitunter in einigen Jahren aufhört zu denken, wie sie es bis dahin getan hat, und etwas anderes und anders zu denken beginnt - führt wahrscheinlich zu einer Erosion des [sic! ] Außen, zu jenem Raum, der für das Denken auf der anderen Seite liegt, in dem vom Ursprung an zu denken es aber dennoch nicht aufgehört hat.“ 53 In diesem Satz, in dem die Diskontinuität zwischen Denksystemen erklärt werden soll, erfüllen unabhängig von allen Intentionen des Autors zunächst die „Kultur“, später das „Denken“ („pensée“) selbst die Funktion von mythischen Aktanten: Die „Kultur“ hört auf, auf eine bestimmte Art zu denken und leitet ohne erkennbaren Grund ein „Umdenken“ ein. Die spekulative Metapher einer „Erosion von außen“ („érosion du dehors“: nicht „des Außen“: s.o.) 54 räumt dem Denken die Möglichkeit ein, die Kultur gleichsam von außen zu verändern. Wie das geschieht, wird nicht erläutert: auch nicht die implizite Annahme, dass das Denken, das ja in einer Kultur entsteht, sich von dieser Kultur „abkoppelt“, um von einem „Außenbereich“ aus, wo es (anscheinend) schon immer war, auf die Kultur zersetzend einzuwirken. Dieser metapherngesegnete Diskurs übertrifft alles, was Hegels Rhetorik zu bieten hat. Etwas später erscheint das Denken (la pensée) abermals als mythischer Aktant. Es hört auf, „sich in dem Element der Ähnlichkeit zu bewegen.“ („[…] La pensée cesse de se mouvoir dans l’élément de la ressemblance.“) 55 Foucault argumentiert oft materialistisch, aber an dieser Stelle geht sein Idealismus weit über den Hegels oder Schellings hinaus. Sein Aktantenmodell nimmt konkrete, materielle Formen an (aber es wird zu einem anderen Modell), wenn es um die Konfrontation von „Macht“ und „Gegenmacht“ geht. Foucault, der als Kritiker der Macht trotz seines Determinismus auch als Denker und Befürworter der Freiheit zu lesen ist (vgl. weiter unten), konstruiert - jenseits von mythischen Aktanten - ein Modell, in dem das Antisubjekt „Macht“ vom Subjekt „Gegenmacht“ herausgefordert wird. 53 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, op. cit., S. 83. 54 Vgl. M. Foucault, Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris, Gallimard, 1966, S. 64. Zur Konkretisierung des Ausdrucks „érosion du dehors“ / „Erosion von außen“ vgl. M. Foucault, La Pensée du dehors (Das Denken von außen), Paris, Ed. Fata Morgana, 1986, S. 23: „(…) pas d’esprit à la conquête laborieuse de son unité, mais l’érosion indéfinie du dehors (…).“ 55 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, op. cit., 83. (Les Mots et les choses, op. cit., S. 65.) <?page no="973"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 957 Ohne Aktantenmodelle zu erwähnen, erkennt Stephan Moebius den relationalen (Greimas würde sagen: polemischen) Charakter der Machtausübung: „Denn aufgrund des relationalen Charakters der Macht gibt es dort, wo es Macht gibt, auch Widerstand und Gegenmacht.“ 56 In einem Gespräch über „Die Intellektuellen und die Macht“ sagt Foucault der Macht in allen ihren Aspekten und Relationen den Kampf an: „Jeder Kampf entfaltet sich um ein bestimmtes Machtzentrum, wie z.B. einen kleinen Chef, einen Hausmeister, einen Gefängnisdirektor, einen Richter, einen Gewerkschaftsvertreter, einen Chefredakteur. Diese Zentren namhaft machen, denunzieren, davon öffentlich sprechen - das ist bereits Kampf.“ 57 Wo die Akteure oder Handlanger des globalen Aktanten und Antisubjekts „Macht“ benannt werden, können auch die kollektiven Akteure des Subjekts „Gegenmacht“ auf den Plan treten: „Die Frauen, die Gefangenen, die Soldaten, die Kranken in den Spitälern, die Homosexuellen kämpfen nun in jeweils verschiedener Form gegen die jeweiligen Formen von Macht, Zwang und Kontrolle, denen sie ausgeliefert sind.“ 58 Zugleich fungiert in dieser Diskurssequenz die „Randgruppe“ als Fokalisator, aus dessen Sicht erzählt und gewertet wird. Rainer Winter bestätigt diese Auffassung von Foucaults Machttheorie, wenn er den Einwand, „daß die Disziplinarmacht alles durchdringe und Foucault es versäumt habe, einen Gegenpol zur Macht zu entwerfen“ 59 , in Anlehnung an neuere Arbeiten widerlegt. Die hier vorgeschlagene Konstruktion des Aktantenmodells von „Macht“ und „Gegenmacht“ wäre plausibel, wenn da nicht in dem von Foucault entworfenen Kontext das Problem der Modalitäten aufträte: des „Wollens“, „Wissens“ und „Könnens“. Woher sollen die individuellen oder kollektiven Aktanten der „Gegenmacht“ diese sie ermächtigenden Modalitäten nehmen, wenn sie doch nur im Rahmen der „Episteme“ denken und handeln können, in die sie hineingeboren wurden? Wie sollen sie als sozialisierte Akteure außerhalb dieses geschlossenen Systems denken oder sprechen? Die Beziehung von Determiniertheit und Freiheit bleibt ungeklärt. Tatsächlich konstruiert Foucault im Rahmen seiner Genealogie individuelle Subjektivität vorwiegend als Unterwerfung (assujettissement) unter 56 S. Moebius, „Macht und Hegemonie. Grundrisse einer poststrukturalistischen Analytik der Macht“, in: S. Moebius, A. Reckwitz (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2018 (3. Aufl.), S. 162. 57 M. Foucault, „Die Intellektuellen und die Macht (Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze)“, in: W. Seitter (Hrsg.), Von der Subversion des Wissens, Frankfurt- Berlin-Wien, Ullstein, 1978, S. 136. 58 Ibid., S. 139. 59 R. Winter, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 194. <?page no="974"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 958 Strukturen, Organisationen und Disziplinen: jedoch in kritischer, emanzipatorischer Absicht. Davon zeugt seine Auffassung der Genealogie als „eine[r] Art Unterfangen, das historische Wissen zu ‚ent-unterwerfen‘ und frei, das heißt zur Opposition und zum Kampf gegen den Zwang eines einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen theoretischen Diskurses fähig zu machen“. 60 Insofern überschneiden sich „Archäologie“ und „Genealogie“: In beiden Fällen geht es darum, subjektkonstituierende Macht- und Wissensformen gleichsam von außen 61 zu betrachten und kritisch zu relativieren. Als nietzscheanischer „Genealoge“ negiert Foucault allerdings die von modernen (Spencer) und spätmodernen (M. Weber, Giddens, Beck) Soziologen vorausgesetzte Autonomie individueller Subjekte. Er betrachtet sie vor allem als Produkte von ineinander greifenden Determinanten und distanziert sich so vom Individualismus der Moderne - sowie von dessen Autonomiepostulat, an dem die Kritische Theorie festhält. In einem Aufsatz über „Subjekt und Macht“ spricht er immer wieder von der „Objektivierung“ des Subjekts: etwa von der „Objektivierung des sprechenden Subjekts in der Grammatik, der Philologie und der Sprachwissenschaft“ 62 , die vor allem eine Unterwerfung des Einzelnen unter Strukturen und Institutionen meint. Aber könnte man nicht mit gleichem Recht auch von der Subjektivierung des Individuums, von seiner Ermächtigung durch Sozialisierung in Sprache und Wissenschaft sprechen? Nur wenn ich durch „Objektivierung“ als Sozialisierung Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, verfüge ich über eine gewisse Entscheidungsfreiheit als Kompetenz. Bei Foucault fällt die Dialektik von Objektivierung und Subjektivierung einem recht einseitigen Determinismus zum Opfer, der Sozialisierung als Befreiungs- und Ermächtigungsprozess ausschließt. Von der deterministischen Ausrichtung seiner Theorie zeugen seine frühen Werke Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique, 1963) sowie Überwachen und Strafen (Surveiller et punir, 1975). In diesem Buch, in dem u.a. der Übergang vom Strafvollzug als Rache (im Absolutismus) zum Strafvollzug als moderner Disziplinierung dargestellt wird, erscheint das individuelle Subjekt als Produkt der Macht und der von ihr ausgehenden Disziplin: „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‚ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der 60 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 17. 61 Vgl. M. Foucault, La Pensée du dehors, op. cit., 1986, S. 33-40. 62 M. Foucault, „Subjekt und Macht“, in: ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (6. Aufl.), S. 81. <?page no="975"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 959 spezifischen Machttechnologie der ‚Disziplin‘ produziert worden ist.“ 63 Unterstrichen wird zugleich die produktive Wirkung der Macht: „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“ 64 Wie das Individuum von der Disziplin und konkret vom Gefängniswesen zum Subjekt gemacht wird, veranschaulichen Foucaults Kommentare zum Panoptikum: einer „beim Bau von Gefängnissen angewendeten Bauweise, bei der die strahlenförmig angeordneten Zellen einer Etage von einem Punkt aus überblickt werden können“ (Duden). In dieser Situation, in der der Wächter von seiner privilegierten Position aus jederzeit in jede Zelle blicken kann, fühlen sich die Gefangenen ständig beobachtet und richten ihr Verhalten danach ein. Sie disziplinieren sich selbst, indem sie in Übereinstimmung mit den Normen und Erwartungen des Wachpersonals leben, die sie verinnerlichen. Luce Giard fasst zusammen: „Foucault kommt immer wieder darauf zurück: Die Disziplin bringt Individuen hervor.“ 65 Hier ist Louis Althussers Einfluss kaum zu übersehen, denn Foucault kannte zweifellos Althussers These aus dem Jahr 1970: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an“. („L’idéologie interpelle les individus en sujets.“) 66 Dies bedeutet konkret, dass die Ideologie die Individuen zu Subjekten macht. Eine komplementäre, wenn auch subtilere Form der Disziplinierung und Normierung der Individuen, ist die Medizin als Klinik, die Foucault nicht zufällig in Übereinstimmung mit der politischen Ideologie wirken lässt. Ihre Wirkung geht von ihrer als relevant postulierten Unterscheidung zwischen normal und pathologisch aus, die sie mit der Staatsideologie verbindet: „Es zeigt sich also eine Konvergenz zwischen den Forderungen der politischen Ideologie und jenen der medizinischen Technologie.“ 67 Beide verkünden die Wahrheit über Gesundheit und Krankheit, indem sie vom semantischen Gegensatz normal / pathologisch ausgehen. Zugleich bringen sie durch sprachliche, diskursive Machtausübung das sich frei wähnende Subjekt hervor. In L’Archéologie du savoir (1969, dt. Die Archäologie des Wissens, 1973) fasst Foucault seine Befunde in einem Satz zusammen, wenn er zu seiner Vorgehensweise, der „Archäologie“, bemerkt: „Die Instanz des schöp- 63 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt, Suhrkamp (1976), 1994, S. 249-250. 64 Ibid. S. 250. 65 L. Giard, Michel Foucault. Lire l’œuvre, op. cit., S. 206. 66 L. Althusser, Positions, Paris, Editions sociales, 1976, S. 122. 67 M. Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt, Fischer, 1988, S. 54. <?page no="976"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 960 ferischen Subjekts als raison d’être eines Werkes und Prinzip seiner Einheit ist ihr fremd.“ 68 Denn Individuen und ihre Werke werden als Produkte „diskursiver Praktiken“ („pratiques discursives“) erklärt, und diese Praktiken sind allen Institutionen - Gefängnissen, Kliniken, Schulen usw. - und allen Humanwissenschaften von der Medizin bis zur Psychoanalyse gemeinsam. Für sie alle gilt die partikularisierende Kurzformel aus Überwachen und Strafen: „Andere Macht, anderes Wissen.“ („Autre pouvoir, autre savoir.“) 69 Dies bedeutet, dass jede neue Machtkonstellation ein Umdenken mit sich bringt, das neue - stets partikulare - Wahrheiten zeitigt. Im historischen Kontext unterscheidet Foucault vier Phasen der Machtentwicklung und Machtkonsolidierung: Souveränität, Disziplin, Bio-Politik und Gouvernementalität. Die Souveränität, die für den Absolutismus charakteristisch ist, gründete als Machtausübung auf Recht und Moral, denen die Funktion zufiel, die Herrschaftsmechanismen zu kaschieren und stattdessen „zweierlei erscheinen zu lassen: zum einen die legitimen Rechte der Souveränität und zweitens die gesetzliche Gehorsamspflicht“. 70 Es geht um das, was Thomas Hobbes in Leviathan als „The Rights of Sovereignes by Institution“ 71 bezeichnet. Die souveräne Macht hat es nicht so sehr mit Individuen, sondern mit den „Produkten der Erde“, mit Steuern und Abgaben zu tun. Der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft liegt im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert nicht länger diese Art von Souveränität zugrunde, sondern eine neue Form von Machtausübung, die Foucault wie folgt beschreibt: „Diese nicht souveräne, folglich der Form der Souveränität fremde Macht ist die Disziplinarmacht, die sich in der Begrifflichkeit der Theorie der Souveränität nicht beschreiben und nicht begründen lässt und die normalerweise gar zum Verschwinden dieses großen Rechtsgebäudes der Theorie der Souveränität hätte führen müssen.“ 72 Diese wird jedoch - vor allem als Rechtssystem - am Leben erhalten, um die disziplinarischen Herrschaftsmechanismen in modernen Gesellschaften zu tarnen. Im Gegensatz zur souveränen Macht richtet sich die Disziplinarmacht, wie sich im Zusammenhang mit Foucaults Kommentaren zum Gefängniswesen und zum Panoptikum gezeigt hat, auf die Körper der Individuen. Dies gilt auch für die Medizin, die Foucault als die „Wissenschaft 68 M. Foucault, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt, Suhrkamp, (1973), 1981, S. 199. 69 M. Foucault, Überwachen und Strafen, op. cit, S. 290. (Surveiller et punir, Paris, Gallimard, 1975, S. 263.) 70 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 30. 71 Th. Hobbes, Leviathan, Harmondsworth, Penguin (1951), 1968, S. 228. 72 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 41. <?page no="977"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 961 von der Normalität der Körper“ („science de la normalité des corps“) 73 definiert. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert wandelt sich die Machtausübung abermals und wird zur Bio-Politik. 74 Diese hat es nicht mehr mit den Individuen und ihren Körpern zu tun, sondern mit der demographischen, medizinischen und biologischen Verwaltung und Versorgung der gesamten Bevölkerung: „Die Bio-Politik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun (…).“ 75 In den Bereich der Bio-Politik fallen unter anderem: die Geburtenrate, die Altersversorgung sowie die Gesetzgebung zur Abtreibung. Wenn in Ländern mit rückläufigen Geburtenraten (z.Z. etwa in Südkorea) Abtreibung per Gesetz erschwert wird, so ist diese Maßnahme als Bestandteil der Bio-Politik anzusehen. Foucault warnt - möglicherweise nicht zu Unrecht - vor einer Ausdehnung und Intensivierung dieser Art von Machtausübung: „Schreckliche Ausdehnung der Bio-Macht, die im Gegensatz zu dem, was ich gerade über die Atommacht gesagt habe, die ganze menschliche Souveränität überschwemmen wird.“ 76 Hier drängt sich freilich der Einwand auf, dass Foucault kaum die rechtsstaatlichen und demokratischen Mechanismen und Gegenmächte berücksichtigt, die dieser sich ausdehnenden Macht entgegenwirken (könnten). Dennoch sollte seine Warnung nicht ungehört verhallen. Schließlich führt er den Begriff Gouvernementalität (frz. gouvernementalité, engl. governance) ein, der als eine Art Synthese der drei hier kommentierten Machtformen aufgefasst werden könnte. Foucault subsumiert so viele Elemente unter diese Bezeichnung, dass sie sich semantisch aufzulösen droht und nichtssagend wird: „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, 73 M. Foucault, Résumé des cours 1970-1982, Paris, Julliard, 1989, S. 48. 74 Vgl. U. Bröckling, „Menschenökonomie, Humankapital: Zur Kritik der biopolitischen Ökonomie“, in: ders., Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Frankfurt, Suhrkamp, 2019 (3. Aufl.), S. 305: „Foucault definiert Biopolitik als ‚den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens‘ und verortet die ‚biologische Modernitätsschwelle‘ dort, wo das Kollektivsubjekt Bevölkerung als Gegenstand politischer Interventionen auftauchte, also im späten 18. beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert.“ 75 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 69. 76 Ibid., S. 78. <?page no="978"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 962 diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben (…).“ 77 Die drei wesentlichen Komponenten der „Gouvernementalität“ sind: (a) Verwaltung der Bevölkerung, der Wirtschaft („politische Ökonomie“, Foucault), des Sicherheitsapparats; (b) „Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits“. 78 (Das ist ziemlich vage: Man möchte wissen, was zu diesen „Reihen“ konkret gehört.) (c) Schließlich geht es um den Vorgang, „durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“. 79 Man gewinnt nicht sehr viel, wenn man „Gouvernementalität“ durch „Gouvernementalisierung“ definiert. 80 Als vorläufiges Ergebnis kann man aber festhalten, dass mit „Gouvernementalität“ die Gesamtheit der Macht- und Verwaltungsformen gemeint ist, die sich im Laufe der staatlichen Modernisierung gebildet hat. Foucaults Fazit lautet: „Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität (…).“ 81 Um Kohärenz und Transparenz zu gewährleisten, wurden hier nicht alle Einschnitte und Wendepunkte berücksichtigt, die Foucaults Werk in Phasen einteilen. Ein tiefer Einschnitt, der die letzte Phase ankündigt, darf jedoch nicht unerwähnt bleiben: Foucaults Hinwendung zu einer „Sorge um sich“, die sich jenseits aller Arten der subjektbildenden Machtausübung und der sozialisierenden Überdeterminierung vollzieht und eine „Kultur des Selbst (culture du soi)“ 82 einläutet. Vor allem im dritten Band der Trilogie Sexualität und Wahrheit - Die Sorge um sich - rückt im Kontext der griechischen Antike die Frage nach der Möglichkeit individueller Autonomie in den Mittelpunkt der Betrachtungen: die Frage, wie „man Kontrolle über sich ausübt, und nach der Weise, in der man die volle Souveränität über sich herstellen kann“. 83 Im Anschluss an Foucaults Analysen von Histoire de la folie (1961) bis zum ersten Band von Histoire de la sexualité (1976, dt. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 1977), wo noch behauptet wird, „die Sexualität [sei] an Machtdispositive gebunden, die jüngeren Datums sind“ 84 , 77 Ibid., S. 114-115. 78 Ibid., S. 115. 79 Ibid. 80 Vgl. auch: M. Foucault, „Die ‚Gouvernementalität‘“, in: ders., Analytik der Macht (Hrsg. D. Defert, F. Ewald), Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (7. Aufl.), S. 171-172. 81 M. Foucault, Kritik des Regierens, op. cit., S. 116. 82 M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (3. Aufl.), S. 159. 83 M. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1995 (4. Aufl.), S. 305. 84 M. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 2017 (21. Aufl.), S. 106. <?page no="979"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 963 kann die Antwort auf diese Frage nur lauten: Das geht nicht, weil Individuen als Subjekte stets von machtvermittelten Diskursformationen produziert werden. Diesen unerwarteten Sprung des Deterministen in Autonomie und Freiheit kommentiert Christopher Norris: „In short: there is a near-schizophrenic splitting of roles between (1) Foucault the ‚public‘ intellectual, thinking and writing on behalf of those subjects oppressed by the discourse of instituted power / knowledge, and (2) Foucault the avowed aesthete, avatar of Nietzsche and Baudelaire, who espouses an ethos of private selffashioning (…).“ 85 Der Widerspruch zwischen Determiniertheit und Freiheit macht sich nicht erst im Spätwerk bemerkbar, sondern schon in früheren Studien, vor allem in „Qu’est-ce qu’un auteur“ („Was ist ein Autor? “), einem Text aus dem Jahr 1969, in dem Autoren wie Homer, Aristoteles, Marx und Freud nicht so sehr als Schöpfer bestimmter Werke, sondern - grundsätzlicher - als „Begründer von Diskursarten“, als „fondateurs“ oder „instaurateurs de discursivité“ 86 bezeichnet werden. Wie kann jemand eine Diskursart begründen und zugleich sprachlich überdeterminiert sein? Zum Abschluss soll hier gezeigt werden, dass der Widerspruch in Foucaults Denken nichts mit einer „schizophrenen“ Einstellung zu tun hat, wie Norris meint, sondern mit seiner Kritik der Macht und seinem oft unterschwelligen Plädoyer für individuelle Freiheit. Die Tatsache, dass er die von ihm nachgewiesene Determiniertheit und die angestrebte Freiheit nicht miteinander vermitteln kann, hängt mit dem Fehlen eines Diskursbegriffs in seiner Theorie zusammen. In seinem Nachwort zu Die Ordnung des Diskurses erklärt Ralf Konersmann zu Foucaults Auffassung des Diskurses: „So gibt er in L’ordre du discours eine ganze Reihe von Hinweisen, aber sie sind in erster Linie verneinender Natur.“ 87 Dies bedeutet im Klartext: dass eine Definition fehlt. Im vorliegenden Buch wurde der Diskurs durchgehend als semantischnarrative Struktur mit Aktantenmodell definiert. Im Rahmen dieser Struktur kann die Wechselbeziehung zwischen Determiniertheit und Freiheit des individuellen Subjekts als Subjekt der Aussage und der Handlung verdeutlicht werden. Das Individuum wird stets in eine besondere gesellschaftliche und sprachliche Situation hineingeboren und je nach Kontext im Rahmen bestimmter Soziolekte (Gruppensprachen) und ihrer Diskurse im Laufe der primären und sekundären Sozialisation determiniert. Foucault selbst 85 Ch. Norris, The Truth about Postmodernism, Oxford, Blackwell, 1993, S. 70. 86 M. Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur? “, in: ders., Dits et écrits, Bd. I, op. cit., S. 804-805. 87 R. Konersmann, „Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L’Ordre du discours“, in: M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, op. cit., S. 77. <?page no="980"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 964 wurde in eine Arztfamilie hineingeboren und sollte Arzt werden. Er entschied sich gegen diese Laufbahn. Woher nahm er die Freiheit? Der springende Punkt ist der Nexus von Determiniertheit und Freiheit, von Sozialisation und Entscheidungsfähigkeit: Nur weil ich im Laufe der Sozialisation bestimmte Modalitäten des „Seins“ und des „Wissens“, des „Könnens“ und des „Wollens“ erworben habe, kann ich mich für oder gegen etwas entscheiden: d.h. ich kann die Relevanzkriterien festlegen, die meinen Diskurs als semantisch-narrative Struktur begründen und meinem Lebensweg eine Richtung geben. Bei der Wahl der Relevanzkriterien bin ich völlig frei, ja ich bin, wie Sartre sagen würde, „zur Freiheit verdammt“. In dieser Hinsicht stimmt Sartres Satz aus L’Etre et le Néant: „Ich habe den Sinn der Welt und meines Wesens zu verwirklichen (…).“ („J’ai à réaliser le sens du monde et de mon essence […].“) 88 Freilich gilt dieser Satz nicht uneingeschränkt, „an sich“, sondern nur in dem hier entworfenen Kontext der Wechselbeziehung zwischen Determinierung und Freiheit. Und er bezieht sich konkret auf die Relevanzkriterien und die von ihnen ableitbaren semantischen Selektionen, auf denen schließlich die Erzählung als Lebensweg gründet. Von der individuellen Freiheit zeugt die Unentschlossenheit vieler junger Menschen, die sich im Laufe ihrer Sozialisation für eine Ausbildung entscheiden sollen und mit der Aufforderung konfrontiert werden: „Du musst dich für etwas entscheiden! “ Sie sind zur Freiheit „verdammt“. Zu ihnen gehörte auch Foucault, als er sich gegen die Medizin entschied, in die er hineinsozialisiert wurde - und die er schließlich auch studierte: aber als Philosoph, indem er sie „von außen“ betrachtete: als determinierendes Machtinstrument, das er dem kritischen Blick der Freiheit aussetzte. Fazit: Foucaults Trennungsdenken fehlt der dialektische Vermittlungsgedanke: die Wechselbeziehung von Determiniertheit und Freiheit, von Handlung und Struktur. 89 88 J.-P. Sartre, L’Etre et le Néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris, Gallimard, 1943, S. 75. 89 Die Sozialwissenschaften fügen sich einen irreparablen Schaden zu, wenn sie auf Begriffe wie „Dialektik“, „Ideologie“ und „Entfremdung“ oder „Gemeinschaft“, „Kollektivbewusstsein“ und „Anomie“ verzichten, nur weil der Markt Neues verlangt, selbst wenn es wissenschaftlich fragwürdig ist. Dialektisch denken bedeutet in diesem Fall konkret: die Einheit der Gegensätze zu denken und die Überdeterminiertheit des Subjekts durch Sozialisation als Voraussetzung für seine Entscheidungsfreiheit im Bereich der Modalitäten aufzufassen. <?page no="981"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 965 4. Michel Maffesolis postmoderne Kritik der Moderne: Maffesoli, Foucault und Lyotard als Verfechter des Partikularen und Marginalen Den für postmodernes Denken offen eintretenden Maffesoli verbindet mit Foucault die Aversion gegen den modernen rationalistischen und hegelianisch-marxistischen Universalismus, der als Herrschaftsinstrument aufgefasst und kritisiert wird. Wie Foucault hält Maffesoli Ausschau nach Kräften und Tendenzen in der Gesellschaft, die der herrschenden Universalvernunft, die vor allem der Staat und seine Institutionen verkörpern, den Weg verlegen könnten. Dieser Universalvernunft wirft Maffesoli - wie Zygmunt Bauman und Jean-François Lyotard - vor, dass sie die gesellschaftliche Vielfalt und ihre Partikularitäten unterdrückt und einen rationalistischen Fortschrittsglauben legitimiert, der sich auf Natur, Mensch und Gesellschaft zerstörerisch auswirkt. Maffesoli fasst seine Analyse der Postmoderne als Ergänzung zu Foucaults Kritik der Moderne auf: „Was Foucault so überzeugend für die Moderne geleistet hat, ist nun für die sich ankündigende Epoche zu leisten.“ 90 Dieses Selbstverständnis des postmodernen Soziologen liegt auch dem Doppelcharakter dieses Kapitels zugrunde, in dem Maffesolis Ansatz als symmetrische Ergänzung zu dem Foucaults konstruiert wird. Wie Foucault kann auch Maffesoli der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Walter Benjamins angenähert werden, die ebenfalls das Partikulare - den Einzelnen und seine Erfahrung - gegen den Universalismus Descartesʼ, Kants und Hegels verteidigt. Insofern ist Enrique Carretero Pasín durchaus Recht zu geben, wenn er zur Affinität zwischen Maffesolis Denken und der Kritischen Theorie bemerkt: „Tatsächlich entwickelt Maffesoli seinen Ansatz in der Perspektive von Denkern wie Theodor Adorno und Max Horkheimer, Walter Benjamin, Georg Simmel oder Max Weber, die die verheerenden Auswirkungen der Fortschrittsideologie, der modernen Ideologie des Westens, in der Lebenswelt beobachtet haben.“ 91 Dazu ist Folgendes anzumerken: Maffesoli folgt zwar der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers (nicht jedoch Habermasʼ Universalpragmatik), wenn es gilt, das Besondere gegen rationalistische Gleichschaltung oder eine „Aufhebung im Höheren“ (Hegel) zu verteidigen. Im Gegensatz zu den Frankfurter Autoren verzichtet er aber auf jegliche Vermittlung zwischen dem Partikularen und dem Universellen. Zugleich lehnt er es ab, nach Alternativen zur bestehenden kapitalistischen Ordnung zu 90 M. Maffesoli, Notes sur la postmodernité. Le lieu fait lien, Paris, Ed. du Félin, 2003, S. 42. 91 E. Carretero Pasín, „Michel Maffesoli, la passion pour le quotidien“, in: G. Durand (Hrsg.), Dérive autour de l’œuvre de Michel Maffesoli, op. cit., S. 184. <?page no="982"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 966 fragen und verwirft jede Art von Soziologie, die eine bessere Zukunft anpeilt (auch eine spätmoderne Soziologie der öko-sozialen Demokratisierung im Sinne von Giddens oder Beck). Seine auf den Alltag und die Gegenwart (présence, présentéisme) gerichtete Soziologie, die den Gedanken an ein Jenseits der bestehenden Verhältnisse für illusorisch hält, ist „eindimensional“ im Sinne von Herbert Marcuse. 92 Konsequent verabschiedet sie nicht nur alle Utopien der Moderne, die sie (teilweise zu Recht) für gefährlich hält, sondern auch die kritische Gesinnung Adornos, Horkheimers und Habermasʼ, die vom Gedanken an eine Überwindung des Bestehenden nicht zu trennen ist. Sie ist ihrem Selbstverständnis nach affirmativ: „Dies ist übrigens der Grund, weshalb die kritische Perspektive der Affirmation weicht. Da wir nicht das Gute oder das Böse zu beurteilen haben, begnügen wir uns damit zu sagen, was der Fall ist (…).“ 93 In diesem Zusammenhang stellt Maffesoli wie Bauman einen Zerfall der Utopie in der Postmoderne fest und bemerkt zu den „jungen Generationen“, auf die er, wie sich zeigen wird, seine Erzählung ausrichtet: „Sie suchen nicht länger eine ferne, abstrakte und mehr oder weniger rationale Utopie, sondern visieren eine Vielfalt kleiner, gelebter, lückenbüßender Utopien an: so gut es geht, von Tag zu Tag, hier und jetzt.“ 94 Maffesolis Ansatz könnte als eine Theorie der Verwindung im Sinne von Heidegger und Vattimo aufgefasst werden, die Marxʼ, Adornos und Horkheimers Forderung nach Überwindung vorab fahren lässt. 95 Während Marx als Denker der Moderne an die Möglichkeit einer Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse glaubte, haben vom Marxismus enttäuschte postmoderne Intellektuelle wie Lyotard, Bauman und Maffesoli diesen Glauben - aus durchaus verständlichen Gründen - verloren. Auch die Übereinstimmung zwischen Maffesoli und Georg Simmel, auf den sich der französische Soziologe des Öfteren beruft, gilt nur mit Einschränkungen. Gemeinsam ist beiden Autoren die Ausrichtung der Theorie auf den gesellschaftlichen Alltag und seine Interaktionen als besondere Verhaltensformen (etwa von Gruppen). Maffesolis Zustimmung findet Simmel, sooft es gilt, das Besondere und Vielfältige des Alltags auf ästhetisch-essayistische Art sinnfällig zu machen. 92 Vgl. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1967. 93 M. Maffesoli, La Connaissance ordinaire. Précis de sociologie compréhensive, Paris, Klincksieck (1985), 2007, S. 37. 94 M. Maffesoli, Le Temps revient. Formes élémentaires de la postmodernité, Paris, Desclée de Brouwer, 2010, S. 95. 95 Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart, Reclam, 1990, S. 178. <?page no="983"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 967 In einem Aufsatz über Durkheim und Simmel bemerkt Maffesoli zu Simmel: „Mit Hilfe der formalen Sichtweise ist es möglich, auf das Besondere zu achten.“ 96 Dieses Besondere oder Partikulare ist nur wahrnehmbar, wenn man den Blick auf die Vielfalt oder Mannigfaltigkeit des Alltags richtet, um „das differenzierte Erscheinungsbild des Alltagslebens hervortreten zu lassen“. 97 Von Simmel weicht Maffesoli (ohne es freilich zu sagen) radikal ab, wenn Simmel das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur (die „Tragödie der Kultur“, Simmel) als eine akute Bedrohung individueller Subjektivität betrachtet (vgl. Kap. XI. 3). Denn, weit davon entfernt, die Einheit des Subjekts für ein Desiderat europäischer Kultur zu halten, plädiert Maffesoli für eine „plurale Person“ („personne plurielle“) 98 und für ein fragmentiertes Subjekt, das nichts plant und in den Tag hinein lebt. Auch in dieser Hinsicht stimmt er mit dem postmodernen Vattimo überein, der von einem „gespaltenen Subjekt“ („soggetto scisso“) 99 spricht. In Maffesolis Werk ist Pluralität (wie bei Bauman und Sennett) nicht nur ein Schlüsselbegriff, wenn es um die Beschaffenheit des individuellen Subjekts geht, sondern erstreckt sich auf die Gesellschaft als ganze. Ausgehend von Max Webers These über den modernen „Polytheismus“ 100 im Bereich der Wertungen, spricht Maffesoli in La Connaissance ordinaire (1985) von einem „Polytheismus der Werte“ („polythéisme des valeurs“) 101 , der für die postmoderne Gesellschaft charakteristisch sei. Diese fasst er als ein unüberwindliches Gegeneinander antagonistischer Wertsetzungen und Lebensweisen auf, als nichtreduzierbare Pluralität, die er in Übereinstimmung mit Lyotard, dem Denker der Postmoderne, aufwertet. Wie Lyotard geht er vom „Niedergang, ja Zerfall der Universalidee“ 102 (Lyotard) aus, die von koexistierenden Partikularitäten verdrängt wird, aus deren Konkurrenz ein postmoderner Relativismus hervorgeht: „Ich wiederhole, dass ein solcher Relativismus sicherlich ein Merkmal der Postmoderne ist.“ 103 96 M. Maffesoli, „Ein Vergleich zwischen Emile Durkheim und Georg Simmel“, in: O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 175. 97 Ibid., S. 177. 98 M. Maffesoli, Le Rythme de la vie. Variations sur les sensibilités postmodernes, Paris, La Table Ronde, 2004, S. 171. 99 G. Vattimo, Al di là del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Mailand, Feltrinelli, 1991 (4. Aufl.), S. 50. 100 M. Weber, „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik (Hrsg. J. Winckelmann), Stuttgart, Kröner, 1973, S. 271. 101 M. Maffesoli, La Connaissance ordinaire, op. cit., S. 208. 102 J.-F. Lyotard, Tombeau de l’intellectuel et autres papiers, Paris, Galilée, 1984, S. 21. 103 M. Maffesoli, Michel Maffesoli. Entretiens avec Christophe Bourseiller, op. cit., S. 61. <?page no="984"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 968 Im gesellschaftlichen Alltag zeugen das Nebeneinander und Gegeneinander von Randgruppen von diesem Relativismus der Werte, der aus einem konfliktreichen Pluralismus resultiert. Maffesoli spricht von „Stämmen“ („tribus“) in einem „sportlichen, freundschaftlichen, sexuellen, religiösen oder anderen Sinn“. 104 An anderer Stelle ist von „anomischen Gruppen“ 105 die Rede, in deren Gegeneinander es jederzeit zu einer „Umkehrung aller Werte“ („renversement de toutes les valeurs“) 106 kommen kann, die durchaus auch eine „Relativierung der Wahrheit“ bewirkt: „Der Relativismus relativiert die einzige Wahrheit und setzt die verschiedenen Kulturen zueinander in Beziehung.“ 107 Wie bei Foucault und Lyotard - nur aus anderen Gründen - kommt es so zu einer Koexistenz unvereinbarer Wahrheiten, und dem modernen Streben nach allgemein gültiger Erkenntnis verlegen postmoderne Fragmentierung, Pluralisierung und Partikularisierung den Weg. Man kann nicht umhin, an Foucaults Les Mots et les choses zu denken, wenn es in Maffesolis Buch LʼOrdre des choses (2014), das sich auf Foucault bezieht, von den Wahrheiten heißt: „Zugleich haben sie Momentcharakter. Dies bedeutet, dass sie einer bestimmten Epoche angehören.“ 108 Wie in den Philosophien Foucaults und Lyotards treten bei Maffesoli der Rationalist Descartes und der Dialektiker Hegel als zu bekämpfende Gegner der entstehenden Postmoderne auf. Maffesolis liebste Bürgen sind Nietzsche und Vilfredo Pareto, denen sein postmoderner Diskurs zwei wesentliche Impulse verdankt: Als Kritiker des Rationalismus und des Hegelianismus sind sie einerseits bemüht, die nichtrationalen Elemente (die Residuen, Pareto: vgl. Kap. VIII. 2) im menschlichen Denken bloßzulegen; andererseits stellen sie die rationalistische und hegelianische Vorstellung von der Geschichte als einem vernünftigen Prozess in Frage, der immer höhere Stadien durchläuft, bis er den vom Philosophen angepeilten Endzustand erreicht. Wie Nietzsche und Pareto beschreibt Maffesoli gesellschaftliche Entwicklung als zirkuläre, bisweilen auch als spiralartige Bewegung im Sinne von Nietzsches „ewiger Wiederkehr des Gleichen“. Im folgenden Abschnitt soll in einem ersten Schritt Maffesolis zirkuläre Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung näher betrachtet werden; in einem zweiten Schritt seine Analyse der nichtrationalen oder „dionysischen“ Momente im menschlichen Handeln. Diese Momente macht er für die Kreisförmigkeit des sozialen Geschehens verantwortlich, weil sich aus 104 M. Maffesoli, Le Temps des tribus, op. cit., S. 247. 105 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde, Paris, La Table Ronde, 2007, Perrin, 2009, S. 163. 106 Ibid. 107 M. Maffesoli, Michel Maffesoli, op. cit., S. 61. 108 M. Maffesoli, L’Ordre des choses. Penser la postmodernité, Paris, CNRS Ed., 2014, S. 28. <?page no="985"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 969 seiner Sicht keine historische Vernunft kumulativ entfaltet, sondern uralte menschliche Affekte (Residuen, Pareto) stets wiederkehren. In mancher Hinsicht stellt der fünfte Abschnitt eine Rückkehr zum achten Kapitel dar, in dem Pareto als Nietzscheaner und Kritiker der modernen Teleologien Hegels, Marxʼ und Comtes auftrat. Zugleich wird deutlich, dass die Spätmoderne einige kritische Gedanken der Postmoderne vorwegnahm, so dass der Übergang von der Moderne zur Postmoderne nicht nur als Bruch (Maffesoli), sondern auch als Kontinuität konstruiert werden kann. 5. Dionysos vs. Prometheus: Maffesolis Aktantenmodell und sein Fokalisator In Maffesolis soziologischer Erzählung vertritt Dionysos die Postmoderne, sein Widersacher Prometheus die Moderne. Während Dionysos (röm.-lat. Bacchus) als Gott des Rausches und der Orgie das Bestehende in all seiner Tragik bejaht, verheißt der Halbgott Prometheus den Menschen eine bessere Zukunft: Er stiehlt den Göttern das Feuer und stellt es den Menschen zur Verfügung. „Prometheus ist der Prototyp des Rebellen und Revolutionärs: ein Götterfeind und Menschenfreund, geächtet, gepeinigt und entfesselt.“ 109 Als affirmative, nicht-kritische Theorie feiert Maffesolis Soziologie „Dionysos“ und führt ihn im Namen der „Postmoderne“ (Auftraggeberin) als Subjekt gegen das Antisubjekt „Prometheus“, den rationalistischen und revolutionären Vertreter der „Moderne“ (Gegenauftraggeberin), ins Feld. Die Modalitäten des „Seins“ und „Könnens“ sind so verteilt, dass an einem postmodern happy end kein Zweifel aufkommen kann. Es lohnt sich, den Erzähler selbst das Wort ergreifen zu lassen: „Dionysos ist ein chtonischer, irdischer Gott, ein verwurzelter Gott, ein Gott des Genusses. Er symbolisiert die Bejahung des Lebens.“ 110 Bei dieser Rollenverteilung hat Prometheus kaum noch Chancen: „Der Verdacht lastet auf Prometheus. (…) Wie die Thematik der Befreiung hat die des ‚Energismus‘ ausgedient.“ 111 Und so ist das Ende der - in jeder Hinsicht teleologisch strukturierten - Erzählung vorprogrammiert: „Im andauernden Tanz der Götter schickt sich Prometheus an, dem aufbrausenden Dionysos Platz zu machen.“ 112 109 L. Walther (Hrsg.), Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Leipzig, Reclam, 2004 (2. Aufl.), S. 216. 110 M. Maffesoli, Le Rythme de la vie, op. cit., S. 70. 111 M. Maffesoli, L’Ombre de Dionysos. Contribution à une sociologie de l’orgie, Paris, Klincksieck, 1985, S. 37. 112 M. Maffesoli, La Part du diable. Précis de subversion postmoderne, Paris, Flammarion, 2002, S. 246. <?page no="986"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 970 Es ist paradox, dass sich Maffesoli einerseits von Prometheus distanziert, der eine bessere Zukunft verheißt, und es mit Dionysos hält, der die Gegenwart in all ihrer Tragik bejaht, es andererseits aber nicht lassen kann, eine neue Ära anzukündigen: „(…) Eine neue Welt kündigt sich an.“ („[…] Un nouveau monde est en gestation.“) 113 Man meint fast wieder Marx - und Prometheus - zu hören. Freilich würde Maffesoli einwenden, dass diese neue Ära keine bessere, menschlichere Zukunft verheißt, sondern die Gegenwart mit allen ihren Widersprüchen, Antagonismen und Konflikten rechtfertigt und die kreisförmige Bewegung der gesellschaftlichen Entwicklung bestätigt. Denn Dionysos erscheint ihm als Gott der Widersprüche, der Gut und Böse, Tragik und Komik, Hass und Liebe in sich vereinigt, ohne sie in einer hegelianischen Synthese aufzuheben. Im Gegensatz zum zukunftsorientierten Prometheus verkörpert er Nietzsches Mythos der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Schon bei Nietzsche, auf den sich Maffesoli - wie Foucault - immer wieder beruft, tritt Dionysos als zwiespältige Gestalt auf, die Wildheit und Milde in sich trägt, ohne sie jemals zu versöhnen. Von der Geburt der Tragödie bis zu den Dionysos-Dithyramben erscheint er als Inkarnation der unauflöslichen Ambivalenz: „In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmütigen Herrschers.“ 114 Diese Ambivalenz kommt auch in Dionysosʼ Frage in den Dithyramben zum Ausdruck: „Muß man sich nicht erst hassen, wenn man / sich lieben soll? “ 115 Diese Ambivalenz, die nietzscheanisch über den Gegensatz von Gut und Böse hinausweist, zerrüttet die rationalistische Werteskala, die auf dem prometheischen Leistungs- und Arbeitsethos gründet, „relativier[t] die einzige Wahrheit“ und „verbinde[t] die vielfältigen Wahrheiten miteinander“. 116 Es fragt sich, ob daraus nicht letztlich - zugleich mit dem von Maffesoli verkündeten Relativismus - die postmoderne Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte resultiert, die Baudrillard aus dem Tauschwert ableitet. Dieser Frage geht Maffesoli nicht nach, obwohl er in Le Réenchantement du monde (2007) gegen die „Welt des Kommerzes“ („monde marchand“) 117 wettert. Ihm ist die Tatsache wichtiger, dass Dionysos, der in seinen Augen den „‚Mythos‘ unserer Epoche ‚verkörpert‘“ („‚mythe incarné‘ de notre 113 M. Maffesoli, Michel Maffesoli, op. cit., S. 87. 114 F. Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus“, in: Werke, Bd. I (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 62. 115 F. Nietzsche, „Dionysos-Dithyramben“, in: Werke, Bd. IV, op. cit., S. 1259. 116 M. Maffesoli, Etre postmoderne, Paris, Les Ed. du Cerf, 2018, S. 107. 117 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde, op. cit., S. 166. <?page no="987"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 971 époque“) 118 , die in die Zukunft weisende prometheische Erzählung durch eine Ausrichtung auf die Gegenwart und den in ihr gelebten Augenblick ersetzt. Doch wie stellt er sich diese Erzählung vor, wie (re-)konstruiert er sie? Im Wesentlichen ist es die große Metaerzählung, die sich vom Christentum bis zum Marxismus erstreckt und der wir nach Lyotard mit „Unglauben“ („incrédulité“) 119 begegnen: „Und vom heiligen Augustinus bis K. Marx findet man, einem dünnen, aber starken roten Faden gleich, die radikale Verneinung dessen, was ist, im Namen dessen, was sein sollte.“ 120 Im Gegensatz dazu plädieren Dionysos und sein Erzähler Maffesoli für das Bestehende und bekämpfen eine innerweltliche Askese christlicher (protestantischer, M. Weber) oder marxistischer Provenienz, die den Verzicht auf das Heute im Namen eines besseren Morgens oder im Namen zukünftiger Generationen predigt. Diese Zukunftsorientierung ersetzt Maffesoli in Übereinstimmung mit Nietzsche und Pareto durch eine zirkuläre Auffassung der historischen Bewegung und eine nietzscheanische Aufwertung des Schicksals. Dazu bemerkt Reiner Keller: „Was letztlich stattgefunden habe, sei nichts anderes als die bereits von Vilfredo Pareto beschriebene ‚Zirkulation der Eliten‘.“ 121 Allerdings ist Maffesolis Diskurs alles andere als eine Elitentheorie, denn in ihm kommen lediglich moderne Eliten vor, die vergeblich versuchen, die sich durchsetzende und von marginalen Jugendgruppen angekündigte Ankunft der Postmoderne zu verzögern. In diesem Kontext kann Maffesolis Aktantenmodell auf der Ebene der Helfer (adjuvants, Greimas) konkretisiert werden. Als Helferinnen der Moderne und Widersacherinnen der Postmoderne erscheinen ihm die asketischen Eliten, die nach wie vor danach trachten, das christlich-marxistische narrative Programm des Prometheus zu verwirklichen, indem sie sich der Wissenschaft, dem technischen Fortschritt und den staatlichen Maßnahmen als Helfershelfern anvertrauen. In Le Temps qui revient spricht Maffesoli von den „Eliten der ausgehenden Moderne“ („élites de la modernité finissante“) 122 und erklärt in einem Interview, in dem er zwischen der „offiziellen Gesellschaft“ der Elite und der „inoffiziellen Gesellschaft“ des Volkes unterscheidet: „Erstere spricht weiterhin im Sinne der Moderne, während letztere, auch wenn sie es nicht 118 M. Maffesoli, Du Nomadisme. Vagabondages initiatiques, Paris, La Table Ronde, 2006, S. 75. 119 Vgl. J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit, 1979, S. 7. (Das postmoderne Wissen, op. cit., S. 14.) 120 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde, op. cit., S. 56. 121 R. Keller, Michel Maffesoli, op. cit., S. 32. 122 M. Maffesoli, Le Temps revient, op. cit., S. 70. <?page no="988"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 972 explizit formuliert, weiter geht, zur Postmoderne hin.“ 123 Demnach wäre das „Volk“, dessen Lebensweise den Alltag prägt, Helfer der „Postmoderne“ und Widersacher der „Moderne“. (In dem zitierten Satz deutet der Ausdruck „weiter geht“ an, dass die Postmoderne nicht einfach mit der Gegenwart identisch ist, sondern - entgegen allen Beteuerungen Maffesolis - eine positiv konnotierte Zukunft bezeichnet.) Pauschale Unterscheidungen zwischen „Elite“ und „Volk“ sind stets problematisch: Gehört Maffesoli nicht selbst - zusammen mit Lyotard, Vattimo, Baudrillard und Bauman - zu einer intellektuellen Elite, die wirkungsmächtige postmoderne Diskurse hervorgebracht hat? Wie weiß er, dass im Gegensatz zur Elite „das Volk“ (mehrheitlich) postmodern denkt und spricht oder die zukunftsorientierten Diskurse der Moderne ablehnt? Leben Bauern, Bankangestellte, Studierende und Krankenschwestern „vitalistisch“, dionysisch in den Tag hinein, lassen sie sich mehrheitlich von Maffesolis Lieblingsmaxime carpe diem leiten? Ist es nicht eher so, dass sie mit Sorge den Klimawandel, die Entwicklung der Finanzwirtschaft und die zunehmende Arbeitsbelastung beobachten? Maffesoli könnte erwidern, dass diese Einwände nicht ins Schwarze treffen, weil die hier erwähnten Gruppierungen nicht für die „inoffizielle Gesellschaft“ typisch sind. Typisch sind aus seiner Sicht die Jugendgruppen, die neuen Stämme (Rockgruppen, Punks, Hippies, Techno-Gruppen, Fußball-Fans: vgl. Abschn. 6), die in seinem Diskurs einerseits als Helfer des Dionysos (der Postmoderne als Auftraggeberin), andererseits als kollektiver Fokalisator auftreten, in dessen Perspektive die gesellschaftliche Entwicklung erzählt wird. In nahezu allen Büchern und Aufsätzen Maffesolis kommen sie vor und verkörpern dort die nichtrationale, affektive oder „vitalistische“ Alternative zur prometheischen Moderne. Während diese als universalistische Staatsmacht auftritt (als pouvoir), werden die jugendlichen Stämme vom Vitalismus der „puissance“ als Gegenmacht angetrieben. Zu ihr bemerkt Thomas Keller: „Mit puissance sociétale ist eine Kraft gemeint, die für alles offen ist, alles integriert, auch Esoterisches, Okkultes.“ 124 Letztlich opponiert hier wieder Nietzsches dionysischer Impuls der Staatsvernunft Hegels. Wie Marx, der das Proletariat bald von außen als Theoretiker beobachtet, bald seine Einstellungen und Regungen zu kennen vorgibt (vgl. Kap. IV. 4), schwankt auch Maffesoli zwischen äußerer und innerer Fokalisierung, wenn er einmal über das Handeln der Jugendgruppen berichtet und dann 123 M. Maffesoli, „Un homme entre deux ères. Entretien avec Michel Maffesoli“, in: M. Maffesoli, B. Perrier (Hrsg.), L’Homme postmoderne, Paris, Bourin, 2012, S. 150. 124 Th. Keller, „Ein französischer Lebenssoziologe: Michel Maffesoli“, in: S. Moebius, L. Peter (Hrsg.), Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz, UVK-UTB, 2004, S. 361. <?page no="989"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 973 wieder das gesellschaftliche Geschehen aus der Sicht dieser Gruppen betrachtet. Zunächst unterscheidet er die Jugendrevolten der 1960er und 70er Jahre von denen der Postmoderne: „Während die Jungen der sechziger und siebziger Jahre die Macht der Älteren herausforderten, um ihren Platz einzunehmen, nehmen die jungen Barbaren unserer Städte nicht an Wahlen teil, streben nicht nach Listenplätzen. Den Ermahnungen der Erwachsenen setzen sie die Passivität von Rauchern entgegen, wachen nur gelegentlich auf, um an grausamen Auseinandersetzungen mit der Polizei teilzunehmen.“ 125 In diesen Sätzen, die abermals den Übergang von der „Überwindung“ zur „Verwindung“ beschreiben, tritt ein weiterer Widersacher der Postmoderne, des Dionysos und der Jugendgruppen auf den Plan: der vernünftige Erwachsene der Moderne, den Maffesoli in L’Ordre des choses wie folgt beschreibt: „die Figur des seriösen Erwachsenen, des rationalen Produzenten und Reproduzenten“. 126 Sein gesamtes Werk ist ein Lobgesang auf die postmoderne Jugend und das „ewige Kind“ („l’enfant éternel“) 127 , das jenseits aller rationalen Entwürfe einen nietzscheanischen „Vitalismus“ verkörpert, der Gut und Böse, Liebe und Hass, Friedfertigkeit und Gewalt vereinigt. In Etre postmoderne (2018) kommt es dann zu einem Perspektivenwechsel: Aus der Außenansicht, in der Handlungen dargestellt werden, wird eine Innenansicht, die den Standpunkt des Erzählers mit dem seines Fokalisators verschmelzen lässt: „Dies ist aber die Dynamik des jugendlichen Vitalismus, die aufgrund eines inkorporierten Wissens weiß, dass ‚alles Große dem Sturm ausgesetzt ist‘.“ 128 Diesmal scheint der Erzähler genau zu wissen, worin der „jugendliche Vitalismus“ besteht, wie die Jugendgruppen denken, fühlen usw. Aber weiß er es wirklich, kann er es wissen? Oder konstruiert er - wie vor ihm Marx und Lukács - das Bewusstsein eines mythischen Aktanten, den es in dieser Form gar nicht gibt? Hier wird abermals deutlich, dass soziologische Erzählungen Konstruktionen sind, deren Objektivität oder Wertfreiheit niemals vorausgesetzt werden kann. Max Weber, von dessen „verstehender Soziologie“ Maffesoli ausgeht, mag das „Charisma“ durchaus wertfrei beschreiben, solange er (im Rahmen der „Wertbeziehung“) nach den Eigenschaften eines Individuums fragt, die erklären könnten, warum es so viele Menschen fasziniert und 125 M. Maffesoli, La Part du diable, op. cit., S. 64. 126 M. Maffesoli, L’Ordre des choses, op. cit., S. 173. 127 M. Maffesoli, Le Temps revient, op. cit., S. 85. 128 M. Maffesoli, Etre postmoderne, op. cit., S. 60. <?page no="990"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 974 bewegt. 129 Die von ihm angestrebte Wertfreiheit stößt dort an ihre Grenze, wo er versucht, die charismatische Persönlichkeit als treibende Kraft der Geschichte auftreten zu lassen. Denn auf dieser Ebene kommt es zu einer wertenden Konstruktion oder Erzählung der Geschichte, die mit anderen wertenden Erzählungen der Liberalen (Spencer), der Marxisten, der Feministinnen konkurriert. Dies gilt auch für Maffesoli, der sich zu Unrecht auf Max Weber und dessen Postulat der Wertfreiheit beruft, wenn er sich selbst einer „strikt axiologische[n] Neutralität“ verschreibt und sich vornimmt, „die Dinge und die Menschen so zu betrachten, wie sie sind, und nicht, wie man sie haben möchte“. 130 Dass er seinem eigenen Desiderat nicht gerecht wird, sollte hier deutlich geworden sein: Sein Engagement auf Seiten der Jugendgruppen, der postmodernen „Stämme“, die er zu seinem Fokalisator und zu Helfern des postmodernen Dionysos als Subjekt der Erzählung macht, bringt einen in jeder Hinsicht wertenden und recht einseitigen Diskurs hervor, dessen mythische Grundlage („positiv konnotierter Dionysos gegen negativ konnotierten Prometheus“) die Verwandtschaft soziologischer Theorien mit - stets wertenden - Mythen und Märchen erkennen lässt. Dies ist kein Grund, Theorien der Gesellschaft als Märchen zu verabschieden; eher ein Anlass, sie im Dialog kollidieren zu lassen, damit ihre Einseitigkeiten und Lücken sichtbar werden. Sichtbar werden im Folgenden u.a. die Lücken in Giddensʼ und Becks Darstellungen individueller Emanzipation: Denn Maffesoli zeigt, wie das Individuum in Stammessolidarität und Stammeskonformismus untergeht. 6. Postmoderne „Stämme“ und der Niedergang des individuellen Subjekts: Maffesolis Antwort auf Touraine, Giddens und Beck Die provisorische Definition postmoderner „Stämme“ als „Jugendgruppen“ soll nun konkretisiert und veranschaulicht werden. In einem langen Gespräch mit Christophe Bourseiller, das 2010 in Buchform erschien, schlägt Maffesoli eine Minimaldefinition des Begriffs Stamm vor: „Das Gefühl der Zugehörigkeit und eine gemeinsame Geschmacksrichtung.“ 131 An anderer Stelle postuliert er eine Analogie zwischen den zeitgenössischen und den archaischen Stämmen: „Wie die primitiven Stämme, die sich um ein Totem gruppieren, versammeln sich die heutigen Internauten [gemeint sind die Internet-Benutzer] um spezifische Idole. Diese sind, in Übereinstimmung 129 Vgl. M. Weber, „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, in: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, op. cit., S. 161. 130 M. Maffesoli, Etre postmoderne, op. cit., S. 13. 131 M. Maffesoli, Michel Maffesoli, op. cit., S. 75. <?page no="991"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 975 mit der Zeitlichkeit unserer Epoche, ganz und gar ephemer.“ 132 Wie Bauman erwähnt Maffesoli immer wieder den flüchtigen Charakter unserer Gesellschaften. An Beispielen, die den Stammesbegriff veranschaulichen sollen, fehlt es in seinem Werk nicht; sie sind aber recht heterogen. Die folgende Aufzählung findet sich in Du Nomadisme (2006): „Hippies, Vagabunden, Dichter, orientierungslose Jugendliche oder auch Touristen als Gefangene in Rundfahrten programmierter Pauschalreisen.“ 133 An anderen Stellen werden die spanischen „Indignados“, die deutsche „Piratenpartei“ 134 sowie Sportereignisse, Rockkonzerte und (immer wieder) „Techno-Paraden in Pariser Straßen“ 135 genannt. Den gemeinsamen Nenner bildet wohl das „kollektive Empfinden“ („sensibilité collective“) 136 , von dem bei Maffesoli in regelmäßigen Abständen die Rede ist. Zur Veranschaulichung der folgende Satz aus Le Temps des tribus (1988, 2000, dt. Zeit der Stämme, 1988): „Auf jeden Fall die buntscheckige Kleidung, die vielfärbige Haartracht und andere Punk-Erscheinungen dienen als Zement.“ 137 (Das gilt wohl nicht für die Touristen.) Symptomatisch für den postmodernen Diskurs ist der Partikularismus („particularisme“) 138 dieser Gruppierungen oder „Stämme“, die Maffesoli oft erwähnt, um sie dem Universalismus moderner Eliten und ihrer staatlichen Institutionen gegenüberzustellen. Ihnen, meint er, gehört nicht die postmoderne Zukunft, sondern den Angehörigen der neuen „Stämme“, die sich nicht länger als Bürger eines Staates oder einer Nation fühlen, sondern als Gruppenmitglieder, denen der rationalistische und hegelianische Universalismus der Vernunft, der Staatlichkeit und des Humanismus als Weltbürgerschaft nichts mehr sagt. Denn sie verdanken ihre Solidarität vor allem dem Ort des Geschehens - dem Fest, dem Rockkonzert, der Straßenschlacht. (So ist der Untertitel von Notes sur la postmodernité zu verstehen: Le lieu est lien: „Der Ort ist das Band“.) Zusammen mit den Werten der Moderne, zu denen sich trotz aller sie trennenden Kontroversen Habermas, Touraine, Giddens und Beck bekennen, geht im Neotribalismus auch die moderne Vorstellung vom autonomen Individuum unter. Maffesoli wird nicht müde zu beschreiben, wie die aus Anomie und Orientierungslosigkeit flüchtenden Jugendlichen zu konformistischen Stammesmitgliedern werden. 132 M. Maffesoli, Le Temps revient, op. cit., S. 167-168. 133 M. Maffesoli, Du Nomadisme, op. cit., S. 35. 134 M. Maffesoli, Etre postmoderne, op. cit., S. 66. 135 M. Maffesoli, Notes sur la postmodernité, op. cit., S. 102. 136 M. Maffesoli, Au creux des apparences. Pour une éthique de l’esthétique, Paris, Plon, 1990, La Table Ronde, 2007, S. 69. 137 M. Maffesoli, Le Temps des tribus, op. cit., S. 139. 138 M. Maffesoli, Michel Maffesoli, op. cit., S. 63. <?page no="992"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 976 Schon in Le Temps des tribus stellt er fest, „dass die individuelle Autonomie, die nicht länger die treibende Kraft des Individuums ist, auf den ‚Stamm‘ übergeht, die kleine gemeinschaftliche Gruppe“. 139 Wesentlich später, in Le Réenchantement du monde (2007), bestätigt er diesen Befund und erklärt, „dass das Individuum kaum zählt, während die Gruppe aufgewertet wird“. 140 In diesem Kontext ist der Untertitel von Le Temps des tribus zu verstehen: Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmodernes (Der Niedergang des Individualismus in den postmodernen Gesellschaften). Hier wird die gesamte spätmoderne Soziologie von der Kritischen Theorie und Touraine bis Giddens und Beck herausgefordert. Weit davon entfernt, an der Vorstellung eines „seiner selbst mächtigen und bewußten Subjekts“ (Adorno) 141 festzuhalten, redet Maffesoli einer sich dionysisch berauschenden Postmoderne das Wort, die die Auflösung der Person in Bacchanalien feiert. Zusammen mit der pluralistischen Gesellschaft der zahllosen Subkulturen vervielfältigt sich auch das individuelle Subjekt: Es löst sich zwischen den Gruppen, denen es in seinen verschiedenen, voneinander isolierten Lebensabschnitten angehört, auf. „Was für unteilbar gehalten wird, das Individuum, ist vor allem fragmentiert“ 142 , heißt es in La Part du diable. Außer der Kritischen Theorie werden auch die Soziologien von Touraine, Giddens und Beck in Frage gestellt, in denen sich der Einzelne aus der Bevormundung durch Traditionen löst und die Möglichkeit hat, durch Teilnahme an Bewegungen und Bürgerinitiativen seine Autonomie zu behaupten, zu stärken. Maffesoli hält nichts von dieser Einschätzung der Gegenwart. Im Gegensatz zu Touraine, der viele seiner neueren Arbeiten den sozialen Bewegungen und ihrer Bedeutung für die individuelle Subjektivität widmet (vgl. Kap. X. 2), spricht Maffesoli (wie Bauman) von der „Erschöpfung sozialer Bewegungen“. 143 Er würde wohl auch Giddensʼ „Life politics“ für eine liberal-rationalistische Fehleinschätzung heutiger Zustände halten. Diesem Urteil müsste auch die „Sorge um sich“ des späten Foucault verfallen, an die ein vollintegrierter Stammesgenosse gar nicht zu denken vermag. Wenn Beck in „Kinder der Freiheit“ von der „demokratische[n] Kultur eines rechtlich sanktionierten Individualismus für alle“ 144 spricht, so 139 M. Maffesoli, Le Temps des tribus, op. cit., S. 174. 140 M. Maffesoli, Le Réenchantement du monde, op. cit., S. 67. 141 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 193. 142 M. Maffesoli, La Part du diable, op. cit., S. 143. 143 M. Maffesoli, Au creux des apparences, op. cit., S. 260. 144 U. Beck, „Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall“, in: U. Beck (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 11. <?page no="993"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 977 könnte ihm Maffesoli entgegenhalten, dass „Demokratie“ und „Recht“ den partikularistisch, solidarisch denkenden Stammesangehörigen nichts bedeuten und die Verallgemeinerung „für alle“ beanstanden. Wenn Beck behauptet, „in der Bevölkerung gewinnen Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Selbstpolitik eine aufgeklärt-realistische Chance“ 145 , wird er von Maffesoli wohl als unbelehrbarer Rationalist und Individualist einer untergehenden Moderne verabschiedet. Wer hat Recht? Die Antwort muss wohl lauten: beide. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, zur Theoriebildung, zum Ausgangspunkt der konkurrierenden Diskurse zurückzukehren: zu ihren Relevanzkriterien und Selektionen. Von welcher „Bevölkerung“ ist in ihnen die Rede? Während Giddens und Beck eher Angehörige der Mittelschicht vor Augen haben, die nicht mehr traditional, sondern rational denken (etwa bei der Berufswahl, beim Lebensstil), erklärt Maffesoli vor allem affektiv handelnde Randgruppen (Hippies, Vagabunden, Dichter, ethnische Gruppen) für relevant und lässt seinen Diskurs eine oppositionelle, dionysisch-affektive Richtung einschlagen, die mit den rationalen Denk- und Verhaltensmustern der Moderne gebrochen hat. Touraine, Giddens und Beck könnten einwenden, dass seine Selektionen und Fokussierungen für die Entwicklung der Gesellschaft eben nicht relevant sind, weil sich die Einstellungen der Mittelschicht, zu der auch viele Jugendliche gehören, auf die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Technik entscheidend auswirken. Als Soziologe müsste Maffesoli diesen Einwand nicht gelten lassen, sondern könnte antworten, dass der Individualismus seiner Kontrahenten die zahlreichen Konformismen ausblendet, welche gegenwärtig die anomische Suche nach Gemeinschaft und Geborgenheit mit sich bringt. Er könnte auch auf die vielen religiösen Sekten und Fundamentalismen hinweisen, die diese Art von Geborgenheit bieten, der individuelle Autonomie geopfert wird. Schließlich könnte er Giddens und Beck bitten, ihm die Anziehungskraft zu erklären, die der autoritär und dogmatisch auftretende „Islamische Staat“ auf Jugendliche ausübt(e). Hier wird ein grundsätzliches Problem soziologischer Forschung und Theoriebildung sichtbar: Zu den Voraussetzungen einer soziologischen Theorie, die diesen Namen verdient, gehört ein Nachdenken über die Relevanzkriterien, auf denen sie gründet, und über die Selektionen, die diese Grundlegung mit sich bringt. Es genügt nicht von „Bevölkerung“ (Beck: „für alle“: s.o.) oder „Volk“ („peuple“, Maffesoli) zu sprechen. Konkret hätte Maffesoli zeigen müssen, dass die jugendlichen Randgruppen oder „Stämme“ für die Weiterentwicklung der Gesellschaft von 145 Ibid., S. 21. <?page no="994"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 978 besonderer Bedeutung oder gar entscheidend sind. Das hat er nicht getan. Zudem hat er der metaphorischen Bezeichnung „Stamm“ außerordentlich heterogene Gruppierungen (Hippies, Touristen, Dichter, Vagabunden, Rocker, Techno-Fans) subsumiert. Das ist aus der Sicht einer Gruppensoziologie (im Sinne von Homans oder Olmsted) 146 nicht nur fragwürdig, sondern unproduktiv: Denn wer sich für aussagekräftige Details und nicht für theoretische Nebelschwaden interessiert, möchte wissen, was eine Rocker-Gruppe zusammenhält und wie sie sich von einer Hippie- oder Touristengruppe unterscheidet: etwa im Hinblick auf den Gegensatz von ingroup und outgroup. Dabei spielt auch der Zeitfaktor eine wichtige Rolle: Ein Rockkonzert ist nach einigen Stunden zu Ende; Hippies können jahrelang in einer Wohngemeinschaft zusammen leben. Es geht hier nicht um die Gruppensoziologie, sondern um die Feststellung, dass außer einem Nachdenken über Relevanzen und Selektionen, die für die Objektkonstruktion entscheidend sind, die Verbindung zwischen Theorie und Empirie stets zu erhalten und zu festigen ist. Auch wenn es zwischen heterogenen Theorien signifikante Übereinstimmungen gibt (Maffesoli und Beck stimmen etwa in der Ansicht überein, dass sich viele Jugendliche von der offiziellen Politik abwenden), ist es unerlässlich, solche Erkenntnisse empirisch, etwa mit Hilfe von Umfragen, auf ihre Stichhaltigkeit und im Hinblick auf spezifische gesellschaftliche Gruppen zu überprüfen. Davon soll in der Schlussbetrachtung ausführlicher die Rede sein. Zusammenfassung und Ausblick: In diesem Kapitel wurde Michel Foucaults radikale Kritik der Moderne mit Michel Maffesolis Soziologie der Postmoderne zusammengeführt, die aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne hervorgeht. Maffesoli kennt Foucaults Werk und fasst es selbst als eine Ergänzung zu seiner Auffassung der Postmoderne auf. Im Mittelpunkt des ersten Abschnitts steht die Affinität zwischen Adornos und Horkheimers Kritischer Theorie und Foucaults Kritik der modernen Vernunft, die Foucault als Herrschaftsprinzip erscheint. Während in der Renaissance der Wahnsinn als das Andere der Vernunft anerkannt wurde, kam es in der Aufklärung, dem „klassischen Zeitalter“ Frankreichs, zu einer Ausgrenzung des Wahnsinns und zu einer Internierung der Wahnsinnigen (zusammen mit Verbrechern und Prostituierten). Der Wahnsinn wurde als mit der Vernunft unvereinbar definiert und aus der Gesellschaft verbannt. Zugleich wurde er 146 Vgl. G. C. Homans, Theorie der sozialen Gruppe, Köln-Opladen, Westdeutscher Verlag, 1960 und vor allem: M. S. Olmsted, The Small Group, New York, Random House, 1959, Kap. III: „Group Behavior: Some Case Studies“ und darin vor allem die Gruppentypologie, die bei Maffesoli fehlt: „Democratic, Laissez-Faire and Authoritarian Groups“. <?page no="995"?> Foucaults und Maffesolis Antworten auf die Moderne 979 der Natur (dem Tierischen) angenähert und zusammen mit der Natur den Regeln einer herrschaftlichen Vernunft unterworfen, die auch in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung kritisiert wird. Indem Foucault Renaissance und Aufklärung als grundverschiedene Denksysteme voneinander trennt, bewirkt er eine Historisierung und Partikularisierung von Vernunft und Wahrheit: Während das Denken (die Episteme) der Renaissance auf Ähnlichkeiten und Assoziationen gründet, bewegt sich das Denken der Aufklärung (des 17. Jahrhunderts) im Rahmen von systematischen Darstellungen; schließlich kristallisiert sich im Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert eine anthropologische Episteme heraus, die den Menschen als Gegenstand der Medizin und den Sozialwissenschaften unterwirft. Gegen diese Unterwerfung richtet sich Foucaults Diskurs, in dem die „Gegenmacht“ als Subjekt der „Macht“ als Antisubjekt opponiert, wobei die Unterworfenen Individuen oder Gruppen Foucault als Fokalisatoren dienen. Foucault unterscheidet vier historische Machtkonstellationen: „Souveränität“ (des Absolutismus), „Disziplinarmacht“ (der frühbürgerlichen Gesellschaft), Bio- Politik (im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert) und schließlich die zeitgenössische „Gouvernementalität“, die, wie er meint, zusammen mit der „Bio-Politik“, welche die gesamte Bevölkerung zum Gegenstand hat, in einen schleichenden Totalitarismus münden könnte. Den von Foucault analysierten Unterwerfungsmechanismen steht sein Plädoyer für individuelle Autonomie in seinem Spätwerk unvermittelt gegenüber. Eine Vermittlung von Determiniertheit und Autonomie kann nicht gelingen, so wird am Ende des dritten Absatzes argumentiert, solange ein semiotischer Diskursbegriff fehlt. In vieler Hinsicht setzt Maffesoli Foucaults Kritik an der Moderne fort, indem er in seinem Aktantenmodell die herrschaftliche Vernunft der Moderne mit der Gestalt des Prometheus, den orgiastischen Vitalismus der Postmoderne mit Nietzsches Dionysos verknüpft. Während „Prometheus“ als Antisubjekt und Beauftragter der universalistisch und rationalistisch denkenden „Moderne“ auftritt und sich auf die Hilfe „moderner Eliten“ verlassen kann, wird Dionysos als Subjekt von der nichtrational denkenden und spontan agierenden „Postmoderne“ mit der Verwirklichung eines Gegenprogramms beauftragt. Zu seinen Helfern gehören „Jugendgruppen“ oder „Stämme“ (Rock-, Techno-, Hippie-Gruppen), die Maffesoli für Vorkämpfer einer anbrechenden Postmoderne hält und zu seinen Fokalisatoren macht, aus deren Sicht er den Übergang von der Moderne zur Postmoderne erzählt. Im letzten Abschnitt werden Giddensʼ und Becks Theorien der Individualisierung und der „Life politics“ mit Maffesolis Thesen über die Entsubjektivierung der Individuen in den auf Konformismus gründenden „Stämmen“ oder Jugendgruppen konfrontiert. In der Schlussbetrachtung sollen nochmals die Grundsätze der Dialogizität als kritischer Konfrontation rekapituliert und veranschaulicht werden. <?page no="997"?> 981 Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick Inhaltsverzeichnis 1. Dialogizität als produktives Gegeneinander: Interdiskursive Theoreme (a) Wiederholung als Iterativität und Iterabilität: Dekonstruktion vs. Strukturalismus (b) Klasse, Elite, Oligarchie: Von Marx und Pareto zum Feminismus (c) Zivilisationsprozess und „Rebarbarisierung“: Zwischen Norbert Elias und Alfred Weber (d) Individualisierung und Entindividualisierung: Von Touraine, Giddens und Beck zu Bauman, Foucault und Maffesoli 2. Dialog als Korrektur: Offene Fragen (a) Systemtheorie und Subjektivität: Von Max Weber und Niklas Luhmann zu Pierre Bourdieu (b) Autonomie und Heteronomie: Differenzierung zwischen Luhmann und Bourdieu (c) Dialogizität zwischen Universalismus (Popper) und Partikularismus (Lyotard) 3. Kritik der Soziologie / Plädoyer für die Soziologie: Epilog In allen Kapiteln dieses Buches ging es darum, die Thesen oder Hypothesen, die einer bestimmten soziologischen Theorie zugrunde liegen, mit den Gegenthesen einer konkurrierenden, aber thematisch komplementären Theorie zu konfrontieren. Stets vorausgesetzt wurde die nicht besonders produktive Einsicht, dass es zwischen nahezu allen soziologischen Theorien einen Teilkonsens im Hinblick auf Erscheinungen wie „Differenzierung“, „Arbeitsteilung“, „Schichtung“ oder „soziale Mobilität“ gibt und dass von allen Beteiligten eine Beschleunigung dieser Prozesse beobachtet wird. 1 Produktiver schienen der Gedanke an eine Wechselbeziehung von Konsens und Dissens zu sein und die aus ihm hervorgehende These, dass einander widersprechende Theorien einander auch ergänzen und erhellen. Es sei an Habermasʼ und Sennetts Öffentlichkeitsbegriffe erinnert, die einander einerseits widersprechen, weil Sennett meint, dass Öffentlichkeit zerfällt, während Habermas ihren Strukturwandel untersucht; die einander andererseits jedoch auch ergänzen, weil beide Autoren beobachten, 1 Eine anschauliche Synthese dieser Beobachtungen findet sich in: H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2005. <?page no="998"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 982 wie Privatheit und Intimität in den öffentlichen Bereich eindringen und das politische Engagement der Individuen schwächen. Das konsensfähige Theorem könnte in diesem Fall lauten: dass öffentliche Debatten zunehmend von privaten und intimen Ereignissen beherrscht werden, die zu politischer Abstinenz führen (ohne dass Öffentlichkeit als solche verschwindet). Es markiert aber nicht den Abschluss der Debatte, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Kontrahenten es als der Weisheit letzten Schluss begrüßen würden. Die in allen Analysen wiederkehrende Frage lautete: Wie sieht die Gegenmeinung aus? In allen Fällen ging es darum, sich in der theoretischen Polyphonie die Gegenstimme anzuhören - und sie ernst zu nehmen. Dabei wurde keine Synthese im Rahmen einer hegelianischen oder Luhmannschen „Großtheorie“ anvisiert, sondern eine Einheit der Gegensätze, die den Widerspruch nicht aufhebt, sondern erhält, um der Offenheit des dialogischen Prozesses (im Sinne von Bachtin) Rechnung zu tragen: Meinung und Gegenmeinung sollen weiterhin koexistieren und konkurrieren, dabei aber zum besseren Verständnis einer gesellschaftlichen Erscheinung oder Entwicklung beitragen. Walter Benjamin hat dieses dialogische Verfahren in seinem Buch über Das deutsche Trauerspiel (1925, 1963) als Einheit der Extreme (der extremen Gegensätze) skizziert: „Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.“ 2 Konkreter, semiotischer drückt diesen Gedanken Julia Kristeva aus, wenn sie in ihrem Vorwort zur französischen Ausgabe von Bachtins Dostoevskij-Studie (Problemy poetiky Dostoevskogo, 1963, dt. Probleme der Poetik Dostoevskijs, 1971) die Dialogizität gegen Hegels Monolog abgrenzt: „Dostoevskijs Text stellt sich somit als eine Konfrontation diskursiver Instanzen dar: Gegenüberstellung von Diskursen, kontrapunktische, polyphone Einheit. Er bildet keine totalisierbare Struktur.“ 3 Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel dieses Buches, in dem es um eine „Konfrontation diskursiver Instanzen“ geht. Diese Konfrontation soll zum Abschluss in kompakter, punktuell-kontrapunktischer Form thesenhaft rekapituliert werden, um noch einmal das Wesentliche in Erinnerung zu rufen. Dabei geht es nicht mehr um die bekannten soziologischen Debatten - den „Positivismusstreit“, die Habermas-Luhmann-Debatte, die Diskussion zwischen Giddens, Lash und Beck -, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielten, sondern um Konfron- 2 W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925), Frankfurt, Suhrkamp (1963), 1972, S. 31. 3 J. Kristeva, „Préface“, in: M. M. Bakhtine, La Poétique de Dostoïevski, Paris, Seuil, 1970, S. 16. <?page no="999"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 983 tationen und „Geistergespräche“, die inszeniert wurden, um die Konturen von Theorien klarer hervortreten zu lassen, aber auch um sie durch „Erschütterung“ (Otto Neurath: vgl. Kap. II. 5) zu testen: um zusammen mit ihren Stärken ihre Schwachstellen sichtbar zu machen. Im Folgenden stehen zwei Typen von Konfrontation im Vordergrund: erstens ein produktives Gegeneinander von Theorien, das interdiskursive Theoreme zeitigen kann: d.h. Theoreme, die ideologisch und theoretisch (strukturell) heterogenen Diskursen und Wissenschaftlergruppen gemeinsam sind; zweitens eine Korrektur oder Korrekturmöglichkeit im Dialog, die nicht in einen Teilkonsens mündet, aber sinnvolle, weiterführende Fragen aufwirft, die zu neuen Entwürfen ermutigen. Im dritten Teil dieser kurzen Betrachtung soll die Frage beantwortet werden, weshalb der Soziologie eine Schlüsselposition unter den Wissenschaften gebührt, obwohl keine ihrer Theorien - trotz der großspurigen Ankündigungen ihrer modernen Begründer - entscheidend zur Entstehung einer besseren Gesellschaft beigetragen hat. 1. Dialogizität als produktives Gegeneinander: Interdiskursive Theoreme In diesem Abschnitt soll noch einmal konkret gezeigt werden, wie die Konfrontation heterogener Positionen zu neuen, komplexeren (dialogischen) Einsichten führen kann. Dabei wird keineswegs angenommen, dass die Vertreter dieser Positionen sich solche Einsichten zu eigen machen würden: Leider neigen die meisten Theoretiker dazu, ihren Standpunkt monologisch zu dogmatisieren und Gegenentwürfe abzulehnen. 4 Dialogizität, wie sie hier konzipiert wurde, soll diesem ideologischen Drang zum Monolog durch Öffnung des Diskurses entgegenwirken. Die hier formulierten interdiskursiven Vorschläge richten sich an „Beobachter zweiter oder dritter Ordnung“ im Sinne von Luhmann, die Auseinandersetzungen zwischen heterogenen Theorien verfolgen und nach Überschneidungen Ausschau halten: nach Konsens im Dissens. An erster Stelle steht eine aufs Wesentliche zielende, knappe Zusammenführung von Strukturaler Semiotik (Greimas) und Dekonstruktion (Derrida), die für alle Kultur- und Sozialwissenschaften von Bedeutung ist. Sie wirft die Frage nach der Kohärenz oder Inkohärenz von Texten auf, die 4 Vgl. dazu Bourdieus ablehnenden Kommentar zu Luhmann, dessen Werk er höchstwahrscheinlich nicht kannte: „Eine Neuauflage dieser Theorie [gemeint ist der Funktionalismus] wird aus Deutschland zu uns herüberschwappen, in Gestalt der neofunktionalistischen Theorie Niklas Luhmanns, die sehr allgemein ist und alles auffrißt. Diese Parenthese soll Sie vorbeugend impfen, ehe es so weit ist…“ (P. Bourdieu, Über den Staat, Berlin, Suhrkamp, 2014, S. 141.) Wäre es nicht sinnvoller gewesen, Luhmanns Theorie in dialogisch-kritischer Absicht zu empfehlen, statt das Publikum monologisch zu immunisieren? <?page no="1000"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 984 sich immer dann aufdrängt, wenn wir einen Text nicht verstehen und wissen möchten, woran es liegt. Es muss nicht immer an uns liegen, und Jacques Derrida erklärt warum. (a) Wiederholung als Iterativität und Iterabilität: Dekonstruktion vs. Strukturalismus Im Jahre 1991 fand im Anschluss an eine radikale Kritik Jacques Derridas an John L. Austins Sprechakttheorie (in How to do Things with Words, 1962) eine polemische Diskussion zwischen Derrida und dem Sprechakttheoretiker und Austin-Schüler John Searle (Speech Acts, 1969) statt. In ihr ging es u.a. um die Frage, ob ein Sprechakt, der wiederholt wird, seine Bedeutung beibehält oder ändert. 5 Während Austin und Searle behaupten, dass der Sprechakt durch Wiederholung seine Bedeutung bestätigt, stellt Derrida die Gegenthese auf und behauptet, dass sich die Bedeutung durch Wiederholung ändert, weil der Sprechakt in einem neuen Kontext wiederholt wird. Derrida nennt diese sinnzersetzende Wiederholung Iterabilität. Um Klarheit und Symmetrie zu wahren, wird im Folgenden nicht die Diskussion zwischen Derrida und Searle wiedergegeben, sondern eine Konfrontation von Derridas Dekonstruktion und Greimasʼ Strukturaler Semiotik inszeniert, weil Greimas symmetrisch zu Derridas Begriff Iterabilität den Begriff Iterativität verwendet. Die beiden Begriffe verhalten sich symmetrisch zueinander, weil sie beide die lateinischen Wörter iter (= Weg), reiterare (= wiederholen, wörtl.: den selben Weg noch einmal zurücklegen) und iterum (= wiederum) enthalten. Greimas definiert Iterativität als semantische Wiederholung (als Wiederholung eines Wortes im Diskurs als syntaktischer oder syntagmatischer Struktur) wie folgt: „Die Iterativität ist die Reproduktion auf syntagmatischer Achse von identischen oder vergleichbaren Größen (identiques ou comparables), die sich auf derselben Analyseebene befinden.“ 6 Derrida, dessen Neologismus Iterabilität zu verstehen gibt, dass sich die Bedeutung eines Wortes von Kontext zu Kontext ändert, könnte auf eine Schwachstelle in dieser Definition hinweisen: auf den Ausdruck „Reproduktion (…) von identischen oder vergleichbaren Größen“. Denn was vergleichbar ist, ist eben nicht identisch. Von dieser Tatsache leben alle vergleichenden Wissenschaften - von der Vergleichenden Soziologie bis zur Vergleichenden Sprachwissenschaft -, die nach Wechselbeziehungen von Ähnlichkeiten und Abweichungen Ausschau halten. 5 Vgl. J. Derrida, Limited Inc., Wien, Böhlau-Passagen, 1993 sowie Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Francke-UTB, 2016 (2. Aufl.), S. 51-66. 6 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 197. <?page no="1001"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 985 Zu Unrecht, könnte Derrida einwenden, identifiziert Greimas „identisch“ und „vergleichbar“ und trägt dadurch zu einer Sinnverschiebung in seiner eigenen Definition bei, die für Eindeutigkeit bürgen soll. Er könnte seine Auffassung der Iterabilität durch den Strukturalisten Greimas bestätigt sehen: „Die Iterabilität verändert und kontaminiert (elle parasite et contamine) auf parasitäre Art gerade das, was sie identifiziert und wiederholt (…).“ 7 Durch den Versuch, „identisch“ und „vergleichbar“ (gleichsam stillschweigend) zu identifizieren, kommt es in Greimasʼ Diskurs zu einer Sinnverschiebung - und er wird dekonstruierbar. „Iterativität“ oder „Iterabilität“? Wer hat Recht? Die Antwort muss wohl lauten: beide. Derrida versucht zwar, in nahezu allen Texten Sinnverschiebungen und Widersprüche nachzuweisen, verlässt sich aber immer wieder auf das rationalistische und semiotische Eindeutigkeits-Postulat, sooft er lautstark gegen Fehldeutungen und Verzerrungen seiner eigenen Aussagen und Texte (etwa bei Searle) protestiert. Es kommt hinzu, dass Wiederholung eines Wortes oder Begriffs dessen Bedeutung nicht immer in Frage stellt, sondern auch klärt, konsolidiert: Die gesamte Sprachdidaktik, die versucht, Wörter und Begriffe in verschiedenen Kontexten und anhand verschiedener Beispiele zu definieren, lebt von dieser kohärenzbildenden und eindeutigkeitstiftenden Wiederholung. Man braucht nur ein gutes Wörterbuch aufzuschlagen, um sich von diesem Tatbestand zu überzeugen. Das gemeinsame, interdiskursive Theorem kann nun zusammengefasst werden: Kohärenzbildende Iterativität und kohärenzzersetzende Iterabilität sind komplementäre Aspekte aller wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Diskurse, und man versteht Texte besser, wenn man auf ihre Wechselwirkung achtet. (Es geht hier ausschließlich um die Kultur- und Sozialwissenschaften, nicht um Mathematik, Informatik und die Naturwissenschaften, in denen Wiederholung von Zeichen deren Bedeutung nicht ändert. Auf das Problem der Wiederholung in den exakten Wissenschaften geht Derrida nicht ein.) (b) Klasse, Elite, Oligarchie: Von Marx und Pareto zum Feminismus Die Wechselbeziehungen zwischen der „Klasse“ im Sinne von Marx, der „Elite“ im Sinne von Pareto und der „Oligarchie“ im Sinne von Michels standen im Mittelpunkt des achten Kapitels, in dem die Theorien von Pareto, Mosca, Michels und C. Wright Mills kommentiert wurden. Hier soll in aller Knappheit der dialogische Aspekt noch einmal beleuchtet werden. Pareto und vor allem Michels werden als radikale Kritiker der Marxschen Klassentheorie und Geschichtsauffassung gelesen, weil sie zu zeigen 7 J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée, 1990, S. 120. <?page no="1002"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 986 versuchen, wie emanzipatorische Bestrebungen der Arbeiterklasse schließlich zu Elite- und Oligarchiebildungen führen. Die Erfahrungen im realen Sozialismus haben diese Kritiken an Marx und den Marxisten tendenziell bestätigt: Vor allem die Niederschlagung der Kronstädter Revolte (1920/ 21) und die Entmachtung der lokalen Sowjets bewirkten, dass die Arbeiterbewegung schon in der frühen Sowjetunion unter die Räder einer schwerfälligen Parteioligarchie geriet, vor deren Bürokratie Max Weber so eindringlich gewarnt hat. Komplementär dazu untersucht C. Wright Mills in seinem Buch The Power Elite (1956) die Oligarchiebildung in den USA der 1950er Jahre und deckt die Widersprüche zwischen Oligarchisierung und Demokratie auf. Demokratische Emanzipation oder Eliten- und Oligarchienbildung? Auch in diesem Fall könnte die Antwort lauten: beides. Marxʼ Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ veranschaulicht das Dilemma: Das „Proletariat“ als ganzes kann weder herrschen noch regieren. Nach erfolgreicher Revolution (1917) muss es seine Macht an eine in der Partei organisierte, handlungsfähige Elite delegieren. Als „Avantgarde des Proletariats“ verwandelt sich diese Elite im Laufe der Jahre in eine Oligarchie, der es um Machterhaltung, nicht (nur) um die Interessen der Arbeiterklasse geht. Dass dieses Problem immer noch aktuell ist, zeigt sich in der Welt der Gewerkschaften, in der sich Gewerkschaftsbosse auf Kosten von Arbeitern und Angestellten Privilegien sichern. Das Problem beschäftigt auch Feministinnen, die beobachten, wie sich - etwa in den USA - Frauen aus der Mittelschicht Rechte erkämpfen, ohne sich um das Schicksal ihrer Mitstreiterinnen aus der Unterschicht oder aus ethnischen Minderheiten zu sorgen. Emanzipationsprozess und Unterwerfung, Demokratisierung und Elitenbildung gehen oft Hand in Hand und können nicht nach hegelianischer Manier im Höheren synthetisiert werden, weil es kein „Höheres“ gibt: Die Sache bleibt menschlich-banal. Die Parallellektüre von Marx und Pareto soll nicht in die Erkenntnis münden, dass Emanzipationsstreben illusorisch ist, sondern soll zeigen, wie Emanzipation doch noch gelingen könnte - über alle Widrigkeiten und Hürden hinweg. Wird Marx mit Pareto, Mosca und Michels gelesen, ergibt sich ein dialogisches Theorem zwischen ideologisch heterogenen Diskursen: Jede Emanzipationsbewegung hat auf gegenläufige Tendenzen zu achten, die jederzeit bewirken können, dass das Gegenteil von dem erreicht wird, was ursprünglich geplant und herbeigesehnt wurde. Dabei ist wichtig, dass Pareto und Michels nicht eindimensional als Faschisten gelesen werden (Mosca war ein liberaler Antifaschist: vgl. Kap. VIII. 3), sondern auch als Realisten: als gelehrige Schüler Machiavellis, eines verhinderten Politikers, der Hegels und Marxʼ Apotheosen mit ungläubigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen hätte. <?page no="1003"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 987 (c) Zivilisationsprozess und „Rebarbarisierung“: Zwischen Norbert Elias und Alfred Weber Nicht alle Thesen des dreizehnten Kapitels sollen hier rekapituliert werden, sondern nur ein Grundgegensatz zwischen Norbert Eliasʼ und Alfred Webers Zivilisationstheorien: Während der vielschichtige Zivilisationsbegriff in Eliasʼ Soziologie vorwiegend positiv konnotiert ist (als zunehmende Selbstbeherrschung der Individuen seit der Entstehung der postfeudalen höfischen Gesellschaft), führt Weber einen negativ konnotierten Zivilisationsbegriff ein. Aus seiner Sicht droht die Gefahr, dass sich die Zivilisation als Wirtschaft, Technik und Naturwissenschaft die Kultur unterwirft, indem sie sie in eine Geldquelle (als „Kulturindustrie“, Adorno, Horkheimer) verwandelt. So fasst er die Möglichkeit ins Auge, „daß man z.B. unsere Zeit als eine geradezu ungeheure, vielleicht in der Welt einzigartige tellurische Rebarbarisierungsepoche anzusehen hat (…)“. 8 Es ist nun keineswegs so, dass Elias und Weber aneinander vorbeireden, weil Weber „Zivilisation“ mit instrumenteller, technischer Vernunft assoziiert, während Elias sie ausschließlich als Kultivierung oder Zivilisierung menschlichen Verhaltens auffasst. Denn auch bei ihm, vor allem in seinem Buch Über die Zeit, in dem die Erfindung der Uhr als Mittel der Selbstkontrolle erscheint, erstreckt sich der Begriff „Zivilisation“ auf „Urbanisierung, Kommerzialisierung und Mechanisierung“. 9 Anders als Weber geht Elias jedoch nicht auf das destruktive Potenzial dieser Teilprozesse der Zivilisation ein. Die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs, vor allem die Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager, deutet er als einen Aspekt des „deutschen Sonderwegs“ - als Ausnahme. Dass es keine Ausnahme war, zeigen Vernichtungslager in der ehemaligen Sowjetunion, in Pol Pots Kambodscha und im zerfallenden Jugoslawien der 90er Jahre. Eine Erklärung für diese Einseitigkeit als Anomalie bietet möglicherweise eine Engführung der einander widersprechenden, aber auch ergänzenden Theorien von Elias und Weber: Elias weist zwar zu Recht darauf hin, dass der in der höfischen Gesellschaft intensiver werdende Zivilisationsprozess im Vergleich zur feudalen Willkür und Gewaltanwendung zu mehr Selbstbeherrschung und Zurückhaltung der Individuen führt und dass auch technische Errungenschaften wie die Zeitmessung zu mehr Selbstkontrolle beitragen. Im Gegensatz zu Weber übersieht er aber die Tatsache, dass dem Zivilisationsprozess eine Rebarbarisierungstendenz innewohnt, die darin besteht, dass sich Wirtschaft und Technik nicht nur gegen 8 A. Weber, Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München, Piper, 1951, S. 138. 9 N. Elias, Über die Zeit, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (11. Aufl.), S. 6. <?page no="1004"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 988 die Kultur, sondern auch gegen den Menschen kehren: durch Umweltzerstörung, Ausbeutung der Arbeitskraft und Kommerzialisierung des Alltags. Bezieht man die beiden einander teilweise widersprechenden Theorien im Lichte der Kritischen Theorie (der Naturbeherrschung) aufeinander, so kann - stets als Hypothese - das folgende interdiskursive Theorem vorgeschlagen werden: Der Zivilisationsprozess ist eine ambivalente, zweigleisige Bewegung, in der einerseits barbarische Zustände der feudalen Ära allmählich überwunden werden, in der andererseits aber eine neue Barbarei ermöglicht wird: als Atomkrieg, geplanter Völkermord und elektronische Überwachung. Weniger dramatisch, aber von symptomatischer Bedeutung ist Zygmunt Baumans Auffassung des Mobiltelefons als eines mobilen Panoptikums, mit dessen Hilfe Individuen ferngesteuert und zugleich zur Selbstkontrolle gezwungen werden: zivilisatorische Selbstkontrolle als Rebarbarisierung. (d) Individualisierung und Entindividualisierung: Von Touraine, Giddens und Beck zu Bauman, Foucault und Maffesoli Im letzten Kapitel wurde auf einen Widerspruch zwischen den spätmodernen Theorien Touraines, Giddensʼ und Becks und den von Bauman, Foucault und Maffesoli vertretenen postmodernen Positionen hingewiesen: Während die Vertreter einer „späten“ oder „zweiten“ Moderne das Heraustreten der Individuen aus Traditionszusammenhang und Bevormundung im Prozess des disembedding (Giddens) betonen, zeigen die Postmodernen, wie diese scheinbar freigesetzten Individuen, der „Kommodifizierung“ (Bauman), Verwaltung (Foucault) und kollektiven Vereinnahmung in „Stämmen“ (Maffesoli) zum Opfer fallen. Während Beck in „Kinder der Freiheit“ die Zunahme individueller Spielräume in der Moderne euphorisch kommentiert, lässt sich Maffesoli mit vergleichbarer Euphorie über das Verschwinden des bürgerlichen Individualismus und Universalismus in den jugendlichen „Stammeskulturen“ aus. Abermals drängt sich die Frage auf: Wer hat Recht? - Und abermals muss die Antwort lauten: beide. Der diskursive Trick, mit dem Maffesoli die Leserschaft in seinen Bann schlägt, ist (wie so oft) im Bereich der Relevanzkriterien und Selektionen zu suchen: Indem er restriktive Selektionen durchführt und Randgruppen der Gesellschaft als Modell der gesamten Postmoderne präsentiert, kann er eine neue, „dionysische“ Ära konstruieren, die den modernen, „prometheischen“ Individualismus hinter sich lässt. In dieser Konstruktion wird der auf Ausbildung, Arbeit und Beruf ausgerichtete Individualismus der Ober- und Mittelschicht kurzerhand als moderner Anachronismus verabschiedet: übergangen. Giddens und Beck verfahren umgekehrt: Sie konzentrieren sich wie Touraine auf Angehörige der Mittelschicht, die sich (anders als Maffesolis <?page no="1005"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 989 „Stämme“) in Bewegungen und Bürgerinitiativen engagieren, oder auf Individuen, die sich einerseits neuer Spielräume erfreuen, andererseits bereit sein müssen, „riskante Chancen“ 10 zu nutzen und ein mögliches Scheitern in Kauf zu nehmen. Das Problem besteht darin, dass spätmoderne und postmoderne Theoretiker verschiedene Gesellschaftsgruppen in den Blick nehmen: die einen vorwiegend Individuen der Mittelschicht, die anderen (vor allem Foucault und Maffesoli) eher Randgruppen wie Kranke, Gefangene, Homosexuelle (Foucault) oder Hippies, ethnische Minderheiten, Rock- und Techno-Gruppen usw. (Maffesoli). Ein Versuch, die beiden konträren Perspektiven dialogisch zusammenzuführen, ergibt folgendes Bild und zugleich ein mögliches interdiskursives Theorem: Individualisierung und Entindividualisierung sind komplementäre Prozesse. Die Freisetzung von Individuen im Prozess des „disembedding“ bie tet nicht nur „riskante Chancen“ in Selbstverwirklichung und „Life politics“, sondern führt auch zu Kontaktlosigkeit und Isolierung von Individuen, die in anomische Krisensituationen geraten, aus denen verschiedene Wege hinaus führen: in Wohngemeinschaften, Kliniken, Gefängnisse (Foucault) oder in die von Maffesoli privilegierten „Stämme“, in denen das herrscht, was Erich Fromm als „Fear of Freedom“ („Furcht vor der Freiheit“) 11 bezeichnet. Für beide Theorienkomplexe gilt, dass sie einseitig sind, weil sie sich auf bestimmte Gruppen konzentrieren, die sie stillschweigend für relevant hal ten, und andere Gruppen ebenso stillschweigend ausklammern: Sie reflektieren nicht ihre Relevanzkriterien und die von ihnen ableitbaren Selektionen. Die Einbeziehung aller hier erwähnten Gruppen würde die Wech selbeziehung von Individualisierung und Entindividualisierung sichtbar machen. Auf empirischer Ebene müssten die Strukturen der Gruppen untersucht werden, damit geklärt wird, wie groß die Spielräume der Mitglieder in locker zusammenhängenden, liberalen oder autoritären (hermetischen) Gruppen sind. 2. Dialog als Korrektur: Offene Fragen Nicht immer mündet dialogische Konfrontation in ein (stets nur mögliches, hier konstruiertes) interdiskursives Theorem. In vielen Fällen wirft ein Theorienvergleich, eine Engführung heterogener Ansätze oder eine Diskussion (z.B. Tagung) Fragen auf, die offen bleiben müssen, weil kein gemeinsames Theorem vorstellbar ist. Luhmann und die Befürworter seiner Systemtheorie würden Begriffe wie „Subjekt“ oder „Akteur“ nicht akzep- 10 Vgl. H. Keupp, Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorgani sation. Sozialpsychologische Studien, Heidelberg, Asanger, 1988. 11 Vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, München, DTV, 2000 (8. Aufl.). <?page no="1006"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 990 tieren, und sie würden auch nicht Bourdieu folgen, der verschiedene Autonomiegrade von „Feldern“ („Systemen“) beobachtet. Der methodologische Individualismus und Universalismus kritischer Rationalisten wie Karl R. Popper oder Hans Albert würde sie daran hindern, den kollektiven Faktor (Sprachspiel, Soziolekt) in Diskussionen oder kritischen Überprüfungen von Aussagen zu berücksichtigen, weil er den universellen Anspruch der rationalistischen Vernunft relativiert. Dennoch werden auch in diesem Kontext Leerstellen und Schwächen von Theorien sichtbar, die zum Nachdenken anregen und zu einer Weiterentwicklung der (eigenen) Theorie einladen. (a) Systemtheorie und Subjektivität: Von Max Weber und Niklas Luhmann zu Pierre Bourdieu Trotz seines modernen Universalismus folgt Niklas Luhmann einem nachmodernen Trend, wenn er meint, auf den Subjekt-Begriff verzichten zu können. Sein Kommentar in Soziale Systeme lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: „Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.“ 12 Es fragt sich, ob der Differenzierungsprozess ohne individuelle und kollektive Subjekte als Akteure beschrieben und erklärt werden kann. Rainer Greshoff führt im Anschluss an Max Webers Handlungssoziologie die Gegenthese ein, wenn er feststellt: „Ohne Akteure geht es nicht! “ 13 Tatsächlich hat sich hier im Luhmann-Kapitel gezeigt, dass ein Verzicht auf individuelle und kollektive Subjekte als Subjekt-Aktanten bewirkt, dass in Luhmanns Diskurs „Systeme“ deren Funktionen übernehmen. In diesem Diskurs handeln Systeme und werden zudem mit menschlichen (individuellen) Modalitäten wie „Sensibilität“ und „Insensibilität“ ausgestattet. Davon zeugen die folgenden Sätze aus Soziale Systeme: „Das System gewinnt seine Freiheit und seine Autonomie der Selbstregulierung durch Indifferenz gegenüber seiner Umwelt. Deshalb kann man die Ausdifferenzierung eines Systems auch beschreiben als Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (intern Anschlußfähiges) und Steigerung der Insensibilität für alles übrige (…).“ 14 Nimmt man sich Systeme wie „Politik“ und „Wissenschaft“ vor, mit denen sich Luhmann selbst ausführlich befasst (vgl. Kap. XV. 5), so zeigt sich: dass die Einrichtung eines eigenständigen Ministeriums für Außenhandel, das aus einer Abteilung im Außenministerium hervorgeht, stets von einem kollektiven Aktanten, nämlich der Regierung eines Staates, beschlossen 12 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 111. 13 Vgl. R. Greshoff, „Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Warum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie nicht tragen“, in: Zs. für Soziologie, Jg. 37, 6, Dezember 2008. 14 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 250. <?page no="1007"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 991 wird. Dies gilt auch für die Einrichtung einer Abteilung für Computerlinguistik oder Neurolinguistik an einem Institut für Sprachwissenschaft. In diesem Fall entscheidet das Institut im Einvernehmen mit der Fakultät einer Universität. Entscheidungsträger sind in beiden Fällen kollektive Aktanten als Institutionen. Da Luhmann die Ebene der Subjekt-Aktanten (Greimas) und ihrer Handlungen auslässt, ist er genötigt, alle Subjekt- und Handlungsfunktionen den Systemen zuzuschreiben. Er selbst bemerkt ganz zu Recht: „(…) Und über Handlung kommt sozusagen das Subjekt ins System.“ 15 Das soll um jeden Preis vermieden werden. Diese Vermeidungsstrategie führt jedoch dazu, dass Systeme als Subjekte handeln müssen und sich dadurch in mythische Aktanten verwandeln. Dieser Vorgang kann im Anschluss an Ferdinand de Saussures Linguistik erklärt werden, deren einschlägige These lautet: dass die Tilgung eines sprachlichen Elements (etwa eines Wortes) zur Folge hat, dass die semantisch benachbarten Elemente seine Funktion übernehmen. Wenn es das Wort „Anhöhe“ im Deutschen nicht gäbe, würden die benachbarten Wörter „Hügel“ oder „Berg“ seine Funktion übernehmen. Konkreter: Die Tilgung des Infinitivs im Neugriechischen hatte zur Folge, dass der Konjunktiv dessen Funktion übernahm. Daher die Frage an Luhmann und seine Weggefährten: Ob sie sich eine Systemtheorie vorstellen könnten, die individuelle und kollektive Subjekt- Aktanten aufnimmt. Luhmann hätte diese Frage sicherlich verneint; aber die Theoriebildung geht weiter, und Bourdieu erklärt die Veränderungen in „sozialen Feldern“, indem er Wissenschaftler- oder Schriftstellergruppen als kollektive Aktanten gegeneinander auftreten lässt. (b) Autonomie und Heteronomie: Differenzierung zwischen Luhmann und Bourdieu Aus Luhmanns Sicht erscheinen soziale Systeme nicht nur als autonome, sondern zugleich als autopoietische Einheiten, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Hier ist Luhmanns eigene Definition: „Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.“ 16 Diese Auffassung der Autonomie als Autopoiesis mag für die Mathematik als System von Systemen gelten, das keine systemfremden Elemente (religiöser, moralischer, ideologischer oder politischer Art) aufnimmt. Bour- 15 Ibid., S. 191. 16 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 65. <?page no="1008"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 992 dieu fasst, wie sich im achtzehnten Kapitel gezeigt hat, die Mathematik als unerreichbares Ideal und Modell aller Wissenschaften (auch der Soziologie) auf und beschwert sich über die Interferenzen des Journalismus und der Medien im soziologischen „Feld“. Von einer Autonomie des „journalistischen Feldes“ kann angesichts der Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren in diesem „Feld“ nicht die Rede sein: „Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des ökonomischen Feldes steht.“ 17 Über den Journalismus, meint Bourdieu, dringe die Ökonomie auch in die Sozialwissenschaften ein. Eine stets empfehlenswerte Umkehrung der Perspektive zeigt jedoch, dass sich auch die Soziologie Ausfälle in ihre Nachbarfelder leistet: Bourdieu etwa mit seinen gesellschaftskritischen Contre-feux, in denen er sich (erfreulicherweise) für die europäische Integration einsetzt 18 , und Touraine mit seiner engagierten Schrift: Comment sortir du libéralisme? (1999: Wie können wir aus dem Liberalismus ausbrechen? ). Dies bedeutet, dass das sozialwissenschaftliche Feld auch deshalb nicht autonom ist, weil sich Soziologen (wie Journalisten) in Politik und Wirtschaft einmischen. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie im Bereich der Differenzierung auf. Wenn Bourdieu Recht hat und zwischen Feldern Autonomiegrade nachgewiesen werden können, lautet die Frage an die Systemtheorie: ob sie dieser Abstufung „von der Mathematik bis zu den Medien“ Rechnung tragen kann, ohne das Theorem der Autopoiesis aufzugeben. Denn es versteht sich von selbst, dass eine Soziologie, die wirtschaftliche, politische (ideologische) und journalistische Elemente aufnimmt, nicht als autopoietisch bezeichnet werden kann - nicht einmal als autonom. 19 Die komplementäre Frage an Bourdieu aus der Sicht der Systemtheorie lautet: wie er angesichts der von ihm beschriebenen Interferenzen und angesichts der Tatsache, dass er stark verallgemeinernd auch vom „Feld des Klassenkampfes“ („champ de la lutte des classes“), vom „Feld der ideologischen Produktion“ („champ de la production idéologique“) und vom „sprachlichen Feld“ („champ linguistique“) 20 spricht, noch Grenzen zwischen Feldern (Systemen) ziehen kann, zumal vor allem die Sprache alle „Felder“ durchzieht. 17 Ibid., S. 76. 18 Vgl. P. Bourdieu, Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung, Konstanz, UVK, 2001. 19 Vgl. zu dieser Thematik die beiden Bände von Uwe Schimank: Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Beiträge zur akteurzentrierten Differenzierungstheorie, Bd. I, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005; Teilsystemische Autonomie und politische Gesellschaftssteuerung. Beiträge zur akteurzentrierten Differenzierungstheorie, Bd. II, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 20 P. Bourdieu, Langage et pouvoir symbolique, Paris, Seuil, 2001, S. 209. <?page no="1009"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 993 Zugleich können beide Theorienkomplexe mit einer komplementären Frage konfrontiert werden: Kann es angesichts dieser Befunde eine „Wissenschaft der Gesellschaft“ (Luhmann) und ein „wissenschaftliches Feld“ (Bourdieu) geben, in dem die autonome Mathematik widerspruchsfrei mit den heteronomen Sozialwissenschaften koexistiert? (Das semantische Problem besteht darin, dass das Wort „Wissenschaft“ in der „Mathematik“ etwas anderes bedeutet als in der „Soziologie“, so dass es zu einer Sinnverschiebung im Sinne der Iterabilität kommt: ein Problem das der Dekonstruktivist Derrida mit Elan angehen würde: vgl. 1. a). Analog dazu stellt sich die Frage nach der „Kunst“: Kann man Lyrik oder Radierung zur selben Klasse zählen wie den Film und alle drei Gattungen problemlos in einem System oder Feld unterbringen? Ein Versuch, diese Fragen zu beantworten, würde eine Rückkehr zu den Kapiteln XV und XVIII bedeuten. Solche Fragen sind aber für Tagungen und andere Diskussionen geeignet. Es gehört zu den Aufgaben der Dialogischen Theorie, sie aufzuwerfen. (c) Dialogizität zwischen Universalismus (Popper) und Partikularismus (Lyotard) Dieser Abschnitt ist eine Rückkehr zum Anfang: zum zweiten Kapitel, an dessen Ende (II. 5) „Dialogizität“ als „interdiskursive Überprüfung von Theorien zwischen heterogenen Wissenschaftlergruppen“ definiert wurde. Diese Auffassung der „kritischen Überprüfung“ kann als ein Vermittlungsversuch zwischen Karl R. Poppers Universalismus und Jean- François Lyotards Partikularismus aufgefasst werden: Während Popper die Besonderheit und Eigengesetzlichkeit von kollektiven „Sprachspielen“ (Wittgenstein, Lyotard) oder Soziolekten (er nennt sie „Frameworks“ und hält sie für Mythen) 21 nicht gelten lässt und sich eine intersubjektive Überprüfung theoretischer Aussagen innerhalb einer Universalsprache vorstellt, beharrt Lyotard auf der Besonderheit von Sprachspielen, zwischen denen keine übergeordnete Metasprache universalistisch vermitteln kann. Ausgehend von diesem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz zwischen zwei konträren Positionen, versucht Dialogische Theorie, aus der Not eine Tugend zu machen und gerade die Heterogenität der Standpunkte, der Wissenschaftssprachen, für den Dialog als kritische Überprüfung von Theorien zu nutzen. Diese gründet u.a. auf der Annahme, dass alle 21 Vgl. K. R. Popper, „The Myth of the Framework“, in: E. Freeman (Hrsg.), The Abdication of Philosophy. Philosophy and the Public Good. Essays in Honour of P. A. Schilpp, La Salle (Illinois), Open Court, The Library of Living Philosophers, 1976 sowie Vf., „Framework ist kein Mythos“, in: H. Albert, K. Salamun (Hrsg.), Mensch und Gesellschaft aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1993, S. 319-327. <?page no="1010"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 994 Soziolekte als „sekundäre modellierende Systeme“ 22 (Jurij Lotman) in die Umgangssprache als Primärsystem eingebettet sind und dass dieses Primärsystem stets die Funktion einer klärenden Metasprache erfüllen kann: Das verdeutlichen alle wissenschaftlichen Wörterbücher (etwa das Wörterbuch der Soziologie), in denen Begriffe umgangssprachlich erklärt werden. Dies bedeutet, dass intersubjektive Überprüfung von Theorien im Sinne von Popper innerhalb eines wissenschaftlichen Soziolekts (z.B. des Kritischen Rationalismus) zwar notwendig und nützlich ist, jedoch nicht der Weisheit letzter Schluss sein sollte, weil sie im Extremfall nur die kollektive Doxa der Wissenschaftlergruppe bestätigt: etwa den Gedanken, dass wissenschaftliche Theorien „falsifizierbar“ sein müssen. Der Prozess der Kritik muss daher über den Bereich des eigenen, besonderen Soziolekts hinausgehen und auf den heterogenen Bereich zwischen den Soziolekten (und ihren Diskursen) ausgedehnt werden. Erst in diesem Bereich werden Identität und Alterität aufeinander bezogen und dialogisch-polemisch (Bachtin) miteinander konfrontiert. Erst hier wird radikale und umfassende Kritik möglich, weil die Angehörigen einer jeden Wissenschaftlergruppe sich genötigt sehen, ihren eigenen Sprachgebrauch gleichsam von außen, vom Standpunkt der Anderen, zu betrachten und die semantischen Grundlagen ihres Soziolekts (Relevanzkriterien, Selektionen) bloßzulegen, zu rechtfertigen. Erst die diskursive Konfrontation mit dem andersartigen Soziolekt kann zur Folge haben, dass die Doxa, die sich innerhalb einer Wissenschaftlergruppe gebildet hat, „erschüttert“ wird im Sinne von Otto Neurath (vgl. Kap. II. 5). Diese „Erschütterung“ der Doxa wurde in allen Kapiteln dieses Buches in die Wege geleitet: Es ging darum, die semantischen, syntaktischen und narrativen Strukturen einer jeden Theorie vom Standpunkt der anderen, ihr fremden Theorie zu betrachten und in Frage zu stellen. Dieses Verfahren mündet nicht in einen postmodernen Relativismus im Sinne von Maffesoli (vgl. Kap. XXIII. 4), weil es einen Versuch darstellt, durch das Partikulare (den Soziolekt) hindurch zum Universellen, zur interdiskursiven Erkenntnis, zu gelangen, die den Widerspruch zwischen den beobachteten Theorien erhält und austrägt: als Gegenthese, als gegenläufige Tendenz. Insofern ist die Dialogische Theorie eine Weiterentwicklung der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, die stets bestrebt war, das Besondere mit dem Allgemeinen zu versöhnen, statt sich wie Popper über das Besondere universalistisch-abstrakt hinwegzusetzen. 22 Vgl. J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 81. <?page no="1011"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 995 3. Kritik der Soziologie / Plädoyer für die Soziologie: Epilog Nach dieser langen Reise durch die soziologische Theoriebildung drängt sich die Frage auf, ob es möglich sei, Bilanz zu ziehen und etwas zur Bedeutung der Soziologie für die Gesellschaft als ganze und für ihre Veränderung 23 zu sagen. Diese Frage könnte ein neues Buch mit dem Titel „Wozu Soziologie? “ entstehen lassen, das es in verschiedenen Sprachbereichen schon gibt. 24 Im Folgenden sollen lediglich drei Aspekte dieser Fragestellung beleuchtet werden: die uneingelösten Versprechen der frühen (modernen) Soziologie, einige Korrekturvorschläge der Spätmoderne und die gegenwärtige Bedeutung des Fachs für die Gesellschaft, die in diesem Epilog nur an drei Beispielen verdeutlicht werden kann. Im „Ersten“ und „Zweiten Teil“ dieser Studie sollte deutlich geworden sein, dass die ehrgeizigen Entwürfe von Marx, Comte und Spencer nicht verwirklicht werden konnten, weil sie zu spekulativ waren: Die drei Autoren meinten, bestimmte Entwicklungen wahrzunehmen, die sie zu historischen Gesetzmäßigkeiten erhoben. Keine ihrer Vorstellungen - „klassenlose Gesellschaft“, „wissenschaftliches Stadium“, „Gesellschaft freier Individuen“ - wurde Realität. Im Rückblick erscheint die Prognose des viel geschmähten Auguste Comte noch als relativ aussagekräftig, weil in ihr Verwissenschaftlichung mit fortschreitender Säkularisierung einhergeht. Beide Prozesse können seit dem 19. Jahrhundert von verschiedenen Standpunkten aus beobachtet werden - selbst wenn sie nicht die Formen annehmen, die ihnen Comte gab. Auch Emile Durkheims Vorschlag, Berufsverbände oder „Korporationen“ einzurichten bzw. zu stärken, um soziale Solidarität zu erhalten, hat die Probleme der arbeitsteiligen Marktgesellschaft nicht gelöst. In den Kommentaren zu Luhmanns Systemtheorie (Kap. XV. 6) trat die Ambivalenz der von ihm befürworteten Steigerung der „Systemirritabilität“ zutage: In Systemen wie Wirtschaft und Militär kann bessere Anpassung an die Umwelt bedeuten, dass Techniken manipuliert werden, um Gesetzgebungen und Normen zu umgehen; eine militärische Anpassung als „flexible Reaktion“ („flexible response“: etwa mit Hilfe taktischer Kernwaffen) kann die Wahrscheinlichkeit eines atomaren Konflikts erhöhen, statt Frieden zu sichern. Auch Habermas, Luhmanns Gesprächspartner, bietet mit seinem Plädoyer für eine Verteidigung der „Lebenswelt“ keine überzeugende Lösung für die Probleme der heutigen Gesellschaft an. Denn es hat sich gezeigt, dass 23 Es geht hier mithin nicht um die Frage nach dem Nutzen der Soziologie als Betriebssoziologie, Verkehrssoziologie oder Soziologie des Gesundheitswesens. 24 Vgl. z.B. D. Baecker, Wozu Soziologie? , Berlin, Kadmos, 2004. <?page no="1012"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 996 diese „Lebenswelt“ von Markt- und Machtmechanismen durchwirkt ist und daher nicht ohne weiteres gegen die Systeme „Macht“ und „Geld“ abgegrenzt und verteidigt werden kann. Es kommt hinzu, dass Habermasʼ „alternative Praxis“ als Verteidigungskonzept zu abstrakt ist, weil sie nicht auf konkreten soziologischen Entwürfen gründet. Am überzeugendsten klingen vor diesem Hintergrund noch Richard Sennetts Vorschläge zu einer kommunikativen Urbanisierung, welche die öffentliche Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen begünstigt. Es lohnt sich, sie an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen. Anregend ist vor allem der von Sennett hergestellte Nexus von Technik und gesellschaftlichem Alltag: „Die modernen Bautechniken (Glaswände, Stahlgerüst, elektrische Beleuchtung) ermöglichen diese neue freie Beweglichkeit. Sie beseitigen den alten Zwang, Trennungen vorzunehmen, an bestimmten Stellen Fenster und tragende Wände zu installieren, und sie heben die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. So wird es endlich möglich, der Idee der offenen Form, wie die Aufklärung sie entwickelte, bauliche Gestalt zu verleihen (…).“ 25 Dies ist nicht nur ein konkreter Vorschlag zur Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern zugleich ein Teilprogramm für die Stärkung der Lebenswelt als Öffentlichkeit und Kommunikation. Sennetts Entwurf kann somit als eine implizite Kritik an Habermasʼ recht abstraktem Plädoyer für die Verteidigung der Lebenswelt gegen die Systeme „Macht“ und „Geld“ gelesen werden. An dieser Stelle drängt sich eine Selbstkritik der Kritischen Theorie (in ihrer Gesamtheit) auf: Sie muss konkreter werden und sich intensiver mit Problemen der Schichtung, Gruppenbildung, Urbanisierung und Regionalplanung befassen, damit ihre Kritik an Substanz gewinnt. Dies bedeutet keineswegs, dass sie sich von Diskurskritik und Ästhetik abwenden soll, im Gegenteil: Ästhetische Gedanken Adornos und Benjamins könnten in eine kritische Theorie der Urbanisierung einfließen. Anregend erscheint in diesem Kontext Alain Touraines Konzept einer „interventionistischen Soziologie“ zu sein, die soziale Bewegungen mit wissenschaftlichen Ratschlägen begleitet. Sie könnte wesentlich zur Orientierung von Bewegungen beitragen und ihre Funktion als Instanzen der Selbstbeobachtung oder „Selbstbeschreibung“ (Luhmann) der Gesellschaft konkretisieren. Inwiefern sie auf diese Art systemerhaltend oder systemverändernd wirken, soll hier nicht mehr entschieden werden. Außer Sennett und Touraine hat auch Anthony Giddens im Rahmen seiner „Doppelten Hermeneutik“ auf ein kritisches Wirkungspotenzial der Soziologie als Fach aufmerksam gemacht: Da sie ihre Terminologie größten- 25 R. Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt, Fischer (1991), 2009, S. 158. <?page no="1013"?> Dialogizität: Schlussbetrachtung und Ausblick 997 teils der Alltagssprache entnimmt und durch ihre Begriffsbildung auf diese Sprache einwirkt, können ihre Gedanken und ihre Kritik ins Alltagsbewusstsein eingehen. In diesem Zusammenhang spricht Giddens von einer „dialogischen Beziehung“ zwischen Soziologie, Politik und den Menschen (-gruppen), die zum Gegenstand der Soziologie werden: „As the condition of establishing a dialogical relation between researchers, policy-makers and those whose behaviour is the subject of study, it is inevitably one of the main contributions social research can make to the formulation of practical policy.“ 26 Auf empirischer Ebene könnten Vorkommen und Funktion soziologischer Begriffe in Zeitungen, Zeitschriften und TV-Debatten untersucht werden, die sich auf das Kollektivbewusstsein auswirken und ein „soziologisches Denken“ begünstigen. Demnach besteht das Hauptverdienst der Soziologie darin, zusammen mit anderen Sozialwissenschaften einen Bewusstseinswandel in Teilen der Bevölkerung herbeigeführt zu haben: Wenn heute eine Frau nicht mehr meint, dass es ihr natürliches Schicksal ist zu kochen und die Wohnung sauber zu halten, wenn der Sohn eines Handwerkers nicht länger stillschweigend annimmt, dass er die Werkstatt seines Vaters übernehmen wird, weil er soziale Mobilität für eine Selbstverständlichkeit hält, so hängt dieser Gesinnungswandel auch mit dem von populärwissenschaftlichen Publikationen begünstigten Eindringen sozialwissenschaftlicher (anthropologischer, soziologischer, sozialpsychologischer) Gedanken in den Alltag zusammen. Weitab von revolutionären Prophezeiungen trägt so die Soziologie in aller Stille zur Entstehung neuer Denkmuster und gesellschaftlicher Verhältnisse bei. 26 A. 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II: Theorien - Methoden - Felder, Wiesbaden, Springer VS, 2019. <?page no="1054"?> 1038 Sachregister Absolutismus 10, 108, 146, 447, 465, 487, 687, 958, 960, 979 Adaptation 310, 513-514, 517, 521, 522, 528, 544, 562 Adressat 117, 163, 165, 169, 174 affektuell (affektuelles Handeln) 414-416, 419, 469 Agency 773, 778, 782, 784-785, 787, 789-791, 792, 795-797, 826 Aktant XIV, 19, 47, 50-51, 54-57, 59-60, 64, 67, 73, 75-76, 78-80, 83-86, 88- 90, 100, 107, 113-116, 118, 122-124, 128-130, 132-137, 142, 148, 152, 159- 163, 165-166, 174,183, 185-186, 196, 201, 206, 211-212, 215, 225, 231, 234- 236, 244, 258-259, 262, 267, 271, 274, 282, 285, 291, 293-295, 304, 315, 320, 336, 349, 350-352, 355-356, 360, 376, 380-381, 387, 401, 405-406, 424-426, 428, 441, 459, 462, 471, 487, 523, 525- 526, 535, 567-568, 595, 599-601, 609, 620-621, 668, 677, 682-683, 685-686, 689, 703, 705, 708, 715, 718-719, 739, 740-742, 743, 748, 771, 791-792, 799, 801-802, 804, 815-818, 833-834, 836, 844, 846, 851, 913-914, 956-957, 973, 990-991 Aktantenmodell XIV, 58, 67, 73, 75-76, 82, 85, 97, 112-114, 122, 124, 127- 128, 138, 143, 145, 152, 159-160, 177, 181, 183, 186, 196, 215, 231, 249, 256- 257, 264-265, 283, 286, 291, 295, 314- 315, 319-320, 322, 325, 327, 347, 349, 361, 371, 376, 381, 395, 404, 420, 426, 443, 459, 461, 462, 467, 471, 493, 498, 503, 506, 522, 527, 547, 596, 599-601, 611-612, 614-616, 619-620, 671, 679, 683-684, 686-687, 703, 705, 707, 735, 737, 739, 741, 773, 778, 781, 791, 797, 799-800, 802-804, 814-815, 826, 833-834, 844, 847, 851-852, 854, 860, 867, 871, 882, 903, 905, 909, 912-914, 939, 941, 945, 955-957, 963, 969, 971, 979 Akteur XII, 21, 26, 28-30, 32, 47, 54, 56- 57, 59, 84, 88, 93, 100, 114-115, 118, 130, 160-163, 174, 227, 236, 272, 324, 349-350, 360, 406, 409, 441, 487, 498, 510-512, 523, 525-527, 534-535, 569, 599-600, 613, 619, 671-672, 675, 677, 678-679, 683-686, 689, 691, 695-696, 702, 705, 708, 710, 712, 715-717, 722, 725, 731-732, 734, 740, 747, 781, 784- 786, 789-791, 798-799, 815-816, 840, 851, 939, 955, 957, 989-990 Alterität 66, 68, 101, 243, 491, 633, 806, 833, 843, 844, 859, 924, 939, 941, 945, 947, 994 Ambivalenz XII, 184, 187, 233, 310, 319, 327, 336, 344-346, 351-352, 360-362, 364, 366, 370, 376, 380-381, 387-389, 394-396, 424, 426, 461, 464, 466, 468, 480, 522, 547-549, 596, 602, 603, 632, 700, 759, 776-777, 793, 811-815, 818, 820, 824, 826, 833, 839, 842-848, 850, 852, 867, 938, 970, 995 Anomie 246, 283, 309-313, 315, 321, 325, 395, 490, 692, 964, 975 Anthropologie 30, 158, 163, 171, 477, 708, 710-711, 714, 716, 721, 731-732, 736-738, 743, 786, 906, 931-932, 942, 953 <?page no="1055"?> Sachregister 1039 Antibewegung 227, 685, 700 Antisubjekt 55, 57-58, 84, 93, 97, 122, 160, 166, 265, 294, 349, 425-426, 428, 462, 505, 523, 527, 620, 668, 683, 685, 689-690, 739, 801, 804, 814, 816, 826, 844, 847, 851-852, 860, 867, 871, 882, 903, 913, 915, 922, 926, 939, 956, 969, 979 Arbeit 24, 51, 53, 107, 118, 125, 130, 132, 138, 139-141, 143, 148, 150, 159, 169-170, 179, 186, 193, 195, 197-198, 200, 215, 219, 227, 230, 241, 244, 264, 307-308, 321, 325, 329, 334, 337, 343- 344, 351, 356, 362, 366, 376, 384, 386, 433-434, 486, 494, 506, 541, 553-554, 567, 582-583, 585, 592, 612, 627-628, 656, 681, 722, 724, 739, 763, 768-769, 782-783, 799-801, 826, 841, 855, 871, 883, 907, 915, 917, 929, 935, 944-945, 988 Arbeiterklasse 26, 34, 37, 39-40, 58, 122-123, 127, 129, 131, 133-135, 142, 164, 211, 254-255, 263, 265, 349, 355, 360, 401, 628, 689, 701, 718, 800, 802, 836, 874, 986 Arbeitsethos 193, 432-433, 539, 970 Arbeitsteilung 10, 12, 50, 59, 63, 120, 123, 132, 137, 245-246, 283-286, 297- 298, 305-312, 314-315, 317, 319, 321, 325, 329, 332-333, 341, 360, 372, 374, 379, 381-383, 386, 422, 450, 490, 541, 559-560, 671, 689, 697, 775, 799, 981 Askese 29, 196, 259, 395, 402, 413, 429- 430, 432-434, 442, 917-918, 971 Ästhetik 69, 82, 85, 178, 183, 322, 366, 379, 386, 558, 564, 753, 759-760, 809, 843, 860, 862-863, 873, 878, 899, 921, 958, 996 Aufklärung 7, 12, 30, 38-39, 52, 71, 105, 120, 143, 146, 153-154, 174, 178-182, 187-189, 196-197, 201, 204, 206-207, 210, 217, 239, 243, 251, 268, 363, 365, 385, 391-392, 396, 422, 438, 447, 464- 465, 471, 553, 606-608, 614, 617, 625, 631-633, 649-650, 652-653, 655, 660, 691, 704, 758, 794, 798, 812, 819-820, 833, 840-844, 856, 865, 902, 910, 914, 939, 941, 945-950, 952-953, 978, 996 Auftraggeber (destinateur) 50, 56, 122, 124, 130, 142, 160-162, 164-165, 183, 186, 213, 231, 244, 262, 293-294, 315- 317, 319-322, 325, 349-350, 352, 360, 371, 381-382, 388, 462-463, 472, 487, 504, 526-527, 545, 601, 609, 619-620, 684, 739, 741-742, 771, 800, 847, 852, 913, 939, 969, 972 Autonomie XIV, 44, 53, 72, 184, 190, 203, 239, 293, 311, 319, 323, 325, 443, 445, 448, 499, 522, 574, 579, 585, 591-593, 596, 602, 609, 616, 626, 649, 652-653, 661, 663, 700, 721, 732, 736-742, 746, 748-753, 764, 771, 795, 805, 823, 826, 833, 854, 858, 863, 865, 895-896, 903, 921, 933, 943, 949, 955, 958, 962-963, 976, 979, 981, 990-992 Autopoiesis 53, 72, 547, 556-559, 572- 575, 579-580, 582-585, 587-589, 591-593, 595, 601, 609, 736, 749, 771, 991, 992 Autorität 29, 56, 116, 231, 262, 293, 298, 315, 321-322, 354, 416-417, 539, 544, 634, 643, 692, 709, 735, 742, 762-763, 809, 839, 882, 919, 920, 927, 939 Basis XIV, 24, 47-49, 53-54, 121, 126, 129-150, 159, 170, 194, 280, 287, 321, 402-403, 434, 442, 516, 588, 591, 639, 641, 707, 721, 727, 731, 879 Behaviorismus 21, 40, 42, 77-78, 81 Beobachter 6, 8, 10, 21, 39, 44, 48, 52-53, 70, 73, 76, 143, 159, 167, 194, 245, 307, 329, 447, 554, 568, 582, 589, 598, 611, 664, 716, 781, 983 Beschleunigung 419, 508, 603, 849-850, 863, 865, 917-918, 981 Besitzindividualismus 297, 354 <?page no="1056"?> Sachregister 1040 Bewegung (soziale) XVI, 14, 26-27, 40, 55, 60, 66, 161, 199, 212, 227-239, 251, 255, 276, 280-281, 295, 356, 406, 439, 539, 584, 620, 625, 671, 675, 678-682, 685-686, 689-690, 693-695, 698-705, 768, 780-781, 786, 802, 864-865, 876, 882, 992 Bewusstsein 24, 25, 33, 57, 80-81, 83, 108, 126, 131, 133, 135, 196, 234-235, 240, 248, 250, 293, 324, 366, 370, 372, 374, 384, 393, 403, 455, 459, 553, 556, 574, 578, 628, 693, 696, 712-713, 717, 774, 778, 864, 973 Bezugsgruppe 314, 725 Bio-Politik 943, 960-961, 979 Bürgertum 25, 34, 54, 58, 107-109, 122, 128, 136, 143, 148, 150, 159, 215, 220, 234, 266, 278, 291, 349, 355, 360, 424- 427, 434, 442, 456, 566, 622, 704, 718, 722-723, 725, 755, 763, 769, 799, 801 Bürokratie 28, 247, 279, 395, 420, 424- 428, 432, 437-438, 440, 453, 469, 567, 615, 665, 696, 698, 775, 842-843, 922, 986 Charisma 28, 32, 41, 395, 417-418, 420, 426-428, 438-440, 453, 567, 698, 700, 734-735, 779-780, 973 Dekonstruktion 43, 62, 222-223, 344, 510, 645, 738, 798, 895, 981, 983-984 Demokratie 31, 65-66, 140, 226, 236, 251-252, 255, 270, 274, 277-279, 281, 333, 355, 416, 418-419, 439-440, 494- 496, 528, 532, 537, 561, 611, 614-615, 617, 619-622, 626-627, 632-633, 645, 678, 766, 773, 797, 801, 802-805, 815, 817-819, 826, 848, 854, 871, 877, 882, 910, 935-937, 949, 977, 986 Derivation 259, 261, 262-263, 266-267, 282 Determinismus 99, 131, 402, 449-452, 642, 672, 717, 731, 943, 956, 958 Dialektik XII, 5, 13, 24-25, 31, 37, 38-40, 52, 58, 67-68, 70, 105, 108, 116, 121, 125-126, 133, 135, 177, 178-182, 185, 187-189, 192, 194-197, 200-201, 204-206, 208-209, 211-212, 217, 237, 239, 242-243, 251, 268,303, 323, 363, 389, 391-392, 438, 464-465, 471, 481, 533, 555, 578, 607, 613-614, 625, 631, 632-633, 642, 647, 653, 655-658, 675, 691, 729, 758, 776, 819-820, 833, 840,-844, 856, 874, 875, 902, 941-942, 945-947, 949, 958, 964, 979 Dialogizität XI, 17, 40, 71, 99, 215, 242- 243, 268, 438, 541, 552, 559, 608, 632, 710, 788, 825, 905, 950, 979, 981-983, 993 Dienstleistung 85, 506, 688 Differenzierung 10-11, 34, 59, 123, 128, 151,245, 278-280, 283, 285-286, 290- 291, 295, 301, 305, 318, 320, 329, 341, 366-367, 369, 375, 379, 389-390, 403, 484, 493, 503-504, 505-506, 511, 523, 526, 531, 541, 544-545, 547-548, 561, 564-567, 569, 584, 587, 595, 598, 601, 603, , 609, 611, 616-618, 653, 666- 667, 696-697, 704, 707, 735-737, 739, 741-742, 752, 754, 771, 775, 981, 991- 992 disembedding (Entbettung) 306, 773, 792-793, 826, 912, 931, 933, 988-989 Diskontinuität 369, 860, 896, 950-952, 954, 956 Diskurs XI, XIII, XIV, 4, 34, 37, 48-49, 53, 60-61, 69, 71, 73, 123, 125, 159,177- 178, 192, 201, 204, 208, 223, 227, 231- 233, 236, 240, 252, 268, 329, 334-335, 364, 368, 384, 398, 431, 447, 449, 460, 470, 482, 509, 554, 559, 588, 594, 598, 611, 618, 621, 642, 646-648, 652, 656, 660, 662-664, 674, 679, 684, 720, 749, 755-756, 758, 771, 781, 825, 828, 831, 835, 843, 865, 911, 931, 963, 972, 977, 985 <?page no="1057"?> Sachregister 1041 Dissens 2, 4, 35-36, 68, 111, 215, 305, 319, 330, 543, 551, 608, 636, 647, 649, 668, 751, 791, 852, 912, 981, 983 Distanzierung 18, 21-22, 42-45, 125, 232, 336, 443, 448, 450, 453, 457, 476- 477, 487, 674, 696, 704, 920 Disziplin 31, 44, 292, 302, 340, 358, 372, 413, 479, 697, 850, 852, 855, 943, 958, 959-960 Doppelte Hermeneutik 779 Doppelte Kontingenz 493, 509, 511, 544, 547, 573, 575 Drei-Stadien-Gesetz 143, 151-152, 156, 159, 369 Egoismus 108, 156, 283, 309-312, 315- 316, 325, 332, 358-360, 544, 823-824, 934 Eindimensionalität 884 Elite XI, 3, 11, 32, 41, 48, 138, 161, 249, 251-253, 255-257, 264-271, 273-280, 282, 285, 410, 428, 490, 539, 683, 775, 836, 853, 908, 923, 971-972, 975, 979, 981, 985-986 Elitentheorie 3, 249, 252, 255-257, 261, 264-266, 269, 273-274, 285, 428, 652, 971 Emanzipation XII, 12, 21, 36, 44, 105, 126, 133, 149, 156, 210, 215, 225, 227, 229, 231, 236-238, 256, 264, 281-282, 294-295, 376, 380, 422, 490, 533, 548, 617, 628, 631, 666-667, 797, 842, 847, 865, 902, 974, 986 Emergenz 59 Ende der Gesellschaften 671, 687, 691, 698 Engagement 7-8, 18, 21-24, 26-27, 34, 36, 40-45, 65, 108, 136, 177, 210, 212, 232-233, 235, 271-272, 277, 324, 340, 395, 398-400, 406, 443, 450, 453, 457, 476, 486-487, 533, 548, 589-590, 642, 660, 662, 671, 674, 679, 694-698, 706, 711, 717, 741, 750, 765, 767-769, 772, 778, 823, 840, 856, 866, 903, 907, 913, 926, 928, 935, 939, 974, 982 Entdifferenzierung 505-506, 526, 545, 739, 771 Entfremdung XI, 38, 104, 112, 119, 125, 136, 139, 141-142, 170, 200, 310, 338, 345, 347, 361, 365, 376, 383-385, 393- 395, 521, 564, 605, 651, 697, 779, 783, 881, 920, 953, 964 Entsubjektivierung 75, 92, 94-95, 866, 979 Enzyklopädie 143, 146, 151, 156-159, 167, 170, 174, 287, 301-302, 448, 760 Episteme 941, 948, 950, 952-955, 957, 979 Erfahrung 44, 58, 81, 132, 182, 192, 196, 203-204, 278, 316, 373, 378, 508, 548, 555, 613, 676, 690, 753, 807, 838, 925, 965 Erkenntnisinteresse XIV, 10, 34, 43, 611, 627, 629, 634, 655, 668, 901 Erlösung 108, 118, 136, 142, 173, 396, 812 Erschütterung 47, 68, 73-74, 244, 590, 608, 688, 764, 983, 994 Erzähler XIII, 8, 11, 53, 55-56, 58, 79, 97, 117-118, 123, 131-132, 136, 162, 235, 252, 294, 316, 346, 365, 466, 601, 620, 694, 801, 811, 969, 971, 973 Erzählerperspektive 754 Erzählung XI, XIII, XIV, XV, 1, 8-19, 23- 24, 30, 32, 38, 40-41, 45, 47-57, 60-61, 64-65, 69, 73, 75-76, 79, 83-84, 92- 93, 96-99, 101, 103, 104-105, 107- 108, 110-118, 120-123, 125, 132, 135- 136, 142-143, 145-146, 150, 152, 159- 160, 162-163, 166-167, 170, 173, 182, 185, 197, 200-201, 209, 213, 215, 217- 221, 223, 231, 244, 246, 249, 263-264, 266, 268, 270, 274, 277, 282-283, 285- 286, 288, 291, 293, 295, 306, 311, 314- 316, 322-323, 327, 329, 334, 336, 341, 347, 350, 356, 360-362, 364-365, 369, <?page no="1058"?> Sachregister 1042 376, 379, 382, 389, 395-397, 399, 401, 404, 411, 418, 420-421, 423-424, 428, 432, 438, 441, 443-444, 446-448, 453, 459, 461-462, 475, 479, 481-482, 487, 489-490, 493-494, 503-504, 506-509, 516, 522, 525-529, 536, 543, 547, 553- 554, 565, 569, 571-572, 588, 601, 609, 611, 614-623, 625-627, 631, 640, 647- 648, 651, 653, 656, 662, 668, 671, 674- 675, 683-684, 686-687, 689, 692, 694, 705, 736-737, 739, 741, 749, 774-778, 781, 793, 797, 799-808, 810, 814-815, 817, 825, 828, 833-834, 840, 844, 847- 848, 851-854, 866-867, 872, 876, 882- 884, 900, 905-906, 908, 910, 912-914, 916, 925, 927, 930, 933, 945, 950, 964, 966, 969, 971, 973-974 Essay 5, 67, 99, 177, 186, 201, 203-205, 213, 362, 364, 366, 370, 375, 378, 385, 501, 552, 633, 710, 757-759, 874, 880 Evolutionstheorie 531, 568-569, 713 Existenzialismus 177, 509, 676, 712-713, 715, 821 fait social 78, 283, 285, 298, 301-306, 324, 445 Faschismus 37, 114, 129, 177, 179, 252, 255-256, 273, 278, 318, 418, 439, 661- 662, 758, 761, 848, 924 Feld XIV, 8, 11, 31, 41, 58, 62, 65, 153, 227, 428, 483, 485, 522, 560, 577, 590- 591, 602, 637, 655, 698, 707-708, 719- 720, 722, 727, 732-754, 756-757, 759- 764, 771, 791-792, 805, 812-813, 881- 882, 904, 969, 992-993 Feldautonomie 737, 739, 747-748, 752 Feminismus XV, 60, 63, 215, 222-223, 225-226, 236-237, 252, 281-282, 366, 428, 590-591, 802, 981, 985 Feudalismus XIII, 2, 10, 146, 178, 221, 403, 422, 446, 487, 616, 618, 704, 950, 951 Figuration 443-445, 453-458, 460-462, 468-469, 473, 476, 481, 487, 530 flüchtige Moderne 833, 839, 844, 849- 850, 858-859, 893 Flüchtigkeit 833, 858-860, 862-863, 865, 868, 898, 900, 907, 918-919 Fokalisator 19, 54, 58, 75, 107, 116, 123, 131, 133, 135-136, 142, 163, 174, 185, 213, 244, 265, 270, 277, 282, 295, 315, 317, 378, 380, 389, 393, 426, 428, 462, 487, 528, 536, 601, 684, 695, 705, 792, 795, 822, 847, 867, 884, 913, 916, 925, 941, 957, 969, 972, 974 Fortschritt 10, 50, 103, 120, 143, 146- 147, 151, 154, 160-161, 168, 170, 172- 173, 179-180, 201, 245, 289, 312, 328, 330, 344, 346-347, 361-363, 385, 389- 390, 392, 395, 447, 450, 490, 689, 696, 773-774, 776, 807, 812, 902, 971 Fragmentierung 508, 547, 561, 564, 649, 651-652, 839, 850, 878, 897, 933, 943, 953, 968 Frauenemanzipation 220, 366, 625 Fremdverständnis 19, 94, 96, 101, 647, 781 Fremdzwang 462, 479, 483, 487 Funktion 43, 56, 73, 82, 113, 115, 121- 122, 136, 153, 163-165, 194, 222, 231, 234-235, 243, 259, 262, 271, 283, 290, 292, 294-295, 304-305, 307, 314, 318, 343, 349, 380, 411, 427, 429, 434, 454, 458, 459, 475, 496, 508, 511, 513, 517- 518, 525, 533, 567, 570, 581, 586, 587, 598, 602, 607, 609, 620-621, 623, 628, 657, 660, 683, 684, 690, 694, 703-705, 714, 719, 741, 801, 884, 898, 928, 939, 956, 960, 991, 994, 996-997 funktionale Differenzierung 493, 505, 565, 616 Funktionalismus 500, 536, 559, 606, 672, 676, 783-786, 983 Gabe 304, 417, 734, 883 Gattungssystem 594 Gebrauchswert 138-139, 343, 449, 871, 878-881, 883-885, 888, 891, 903, 921 <?page no="1059"?> Sachregister 1043 Gegenauftraggeber 55, 84, 122, 295, 523, 620, 910, 912-913, 915-916, 939 Gegenauftraggeberin 56, 97, 113, 122, 160, 183, 232, 315-316, 325, 334, 349- 350, 352, 360, 427, 462-463, 465, 467, 487, 505, 526, 545, 601, 609, 683, 685, 739, 771, 969 Geld 13-14, 48, 50, 52, 125, 138, 140, 240-241, 259, 343, 346, 361-363, 373, 376-380, 393, 431, 435, 505, 519, 538, 540, 561-562, 564-565, 579-580, 582-583, 585-586, 605, 609, 612, 614, 616-620, 622-623, 648, 651, 666, 668, 671, 673, 677, 683, 685-686, 689, 695, 705, 723, 726, 881-882, 886-887, 901, 910-912, 929-930, 996 Geldwirtschaft 12, 136, 247, 346, 360- 361, 363, 366, 376, 378-379, 384, 387- 388, 393, 613, 793, 828 Gemeinschaft (und Gesellschaft) 84-85, 226, 246-247, 296, 306-307, 325, 327- 360, 365-366, 375, 387-388, 404, 411, 416, 429, 431, 471, 478, 490, 493, 497, 499, 501, 503, 506, 516-517, 521, 526, 541, 591, 638, 640, 730, 734, 749, 775, 789, 793, 798, 809, 845, 852, 905, 908, 914-915, 921, 923-925, 931, 939, 964, 977 Gender 219, 223, 591 Genealogie 427, 941, 955, 957-958 Geschichte XI, XIII, 1, 10-12, 14-15, 23- 27, 29, 32, 34, 38, 47, 54, 56-58, 98, 100, 103, 107-109, 111-124, 126, 128, 130-131, 133-135, 142, 144, 160-163, 169, 178, 180, 186, 192, 194, 196, 198, 210, 216-218, 220, 222, 224, 227, 231- 233, 244, 249-250, 252-253, 260, 280, 302, 336, 340, 350, 351, 358, 368-369, 383, 385, 390, 397, 398, 401, 413, 424, 428, 449, 452, 481, 486, 507, 511, 532, 567, 598, 608, 612-613, 617, 651, 653, 657, 660, 674-675, 692, 774-775, 798, 800, 819, 824, 834-835, 839, 847, 852, 854, 862, 869, 871-878, 882-883, 892- 893, 896, 902-903, 912, 942-944, 946- 947, 950-951, 953, 968, 974 Geschlecht 43, 93, 216, 222, 224, 228, 233, 235-236, 241-244, 387, 477, 722, 767-768, 772 Gesellschaft: siehe Gemeinschaft, Gesellschaftssystem, Gesellschaftskritik, Vergesellschaftung Gesellschaftskritik 109, 112, 121, 137, 153, 187, 441, 533, 547, 596, 614, 673, 676, 750, 757-758, 835, 842, 875, 880 Gesellschaftssystem 154, 276, 493-495, 497-498, 500, 506, 509-510, 512-513, 517-518, 530, 532, 536, 544, 548, 550, 566, 570, 576-578, 594, 609 Gewalt XI, 27, 53, 60-61, 69, 99, 182, 205, 221, 267, 276, 322, 345, 354, 367, 438, 451, 462, 465, 471-472, 475, 478- 479, 482, 487, 536, 619, 727, 742, 747, 750, 761, 885, 936, 947, 973 Globalisierung 50, 543, 569-571, 690, 773, 793, 797, 801, 805, 811, 816-817, 824, 826, 838, 851-852, 854, 868, 882 Gouvernementalität 960-962, 979 Gruppensoziologie 357, 410, 978 Habermas-Luhmann-Debatte XI, 547, 604, 608-609, 611, 619, 663, 982 Habitus 707-708, 713-715, 717, 730- 734, 737, 743-745, 748, 771, 773, 778, 784, 790-791, 826 Handlung 5, 11, 47, 60, 64, 75-76, 93, 116, 121, 130-131, 210, 226, 233, 261- 262, 286, 295, 370, 407, 415, 431, 493, 497-498, 505, 510, 513, 527, 541, 562, 570, 577, 596, 598-600, 639, 666, 671, 676, 679, 715, 731, 784-787, 790, 826, 883, 894, 911, 963-964, 991 Handlungssoziologie XVI, 18-19, 27, 227, 281, 578, 671, 674, 677, 990 Hegelianismus XV, 14, 173, 175, 177, 192, 206, 212, 231, 318, 441, 551, 555, 558, 942-943, 951, 968 <?page no="1060"?> Sachregister 1044 Heilsauftrag 56, 83, 115, 231-232, 262, 315-317, 381, 525, 601-602 Helfer (adjuvant) 55, 57, 115, 119, 122, 127, 131, 133, 136, 162-163, 165, 169, 174, 177, 183, 185-186, 190, 201, 203, 208, 136, 266, 271, 294, 315, 317, 350- 352, 355-356, 366, 386, 425, 462, 487, 683, 685, 699, 801-802, 814, 816-819, 826, 851-853, 871, 971-972, 974, 979 Hermeneutik 40, 68, 77, 264, 368, 405, 631, 634, 654, 773, 778-780, 782, 825, 837, 962, 996 Herrschaft 7, 13, 28, 31-32, 37-38, 52, 125, 137, 142, 147, 155, 170, 177-178, 180-184, 187-188, 190, 192-195, 197-198, 200, 203-207, 210, 213, 215- 220, 228-229, 236, 237, 238-239, 244, 247, 249, 252, 269-271, 278, 286, 384, 403, 416-420, 422, 424, 426, 428, 436, 440, 464-467, 469, 471, 473, 485, 492- 493, 495, 538, 540-541, 544, 554, 582, 587, 622, 626, 629, 662, 666, 680, 682, 701, 707, 712, 720, 727, 735, 741, 744, 765, 767-768, 785, 800, 841, 850-851, 853, 856, 871-872, 883, 885, 892-893, 910-911, 929, 941, 945-946, 949, 974 Heterogenität 71, 165, 225, 235, 266, 276, 287, 292, 498, 542, 570-571, 608, 636, 645, 648-649, 667-668, 678, 907, 924-925, 939, 993 Heteronomie 574, 736-737, 739-741, 749-750, 893, 895, 981, 991-992 Historizität XI, 227, 494, 681, 683, 685- 686, 689, 703-705, 752 Homogenität 53, 165, 229, 270, 287, 292, 458, 542-543, 570-572, 635, 640, 642, 647, 668, 678, 783, 787, 845, 867, 924 Hyperrealität 885-887, 890, 894, 900, 903 Idealtypus 28-29, 31, 271, 337, 340, 347, 372, 395, 413-414, 416, 418-420, 441, 635, 839-840, 848-849, 858 Identität 19, 38, 66, 76, 78-84, 93-96, 98, 194-195, 199, 212, 238, 302, 358, 365, 367, 381, 413, 458, 523, 598, 624, 642, 645, 682, 701, 731, 795, 811-812, 815, 894, 896, 907, 916, 918, 944, 994 Identitätsdenken 66-67, 177, 189, 192, 287, 764 Ideologie XIII, XVI, 5-7, 9-10, 15, 18, 27, 30, 32-36, 39, 41, 44-45, 47, 53, 60-67, 69, 71-72, 85, 98, 120, 124-126, 133, 144, 158, 165, 167, 170, 208-209, 226, 232, 253, 264, 266, 268, 288-289, 293, 296, 299, 327, 331, 335-336, 343, 397- 398, 400, 402-403, 411, 427-428, 439, 441, 450-451, 457, 472, 492, 497, 532- 533, 537, 556, 588-589, 607, 624, 629, 644, 653, 662, 674, 680, 684, 695, 701- 702, 721, 728-729, 750, 755, 757, 760, 764, 767-768, 794, 801, 805, 816-817, 823-824, 826, 830, 837, 848, 865, 877, 895, 898, 944-945, 959, 964-966 Ideologiekritik 262, 303, 453, 532, 607, 634, 656, 754, 757, 767-768 illusio 742 Immanenz 27, 38, 125, 180, 186, 198- 199, 207-212, 613, 833 Indifferenz 140, 248, 378, 492, 564, 580, 653, 742, 821, 830-831, 850, 852, 866, 869, 870-871, 878, 882, 888-889, 892, 897-898, 901, 919, 934, 936, 970, 990 Individualisierung 105, 283, 291, 341, 345-346, 360, 365, 379, 773, 778, 792, 795, 820-821, 823-824, 826, 833-834, 839, 853, 857, 864-866, 915, 924, 931, 939, 949, 979, 981, 988-989 Individualismus XIII, 63, 105, 156, 157, 196, 248, 277, 283-284, 292-293, 295- 296, 307, 313, 323, 329, 331, 344-346, 361, 363, 365-366, 372, 375, 390, 398- 400, 427, 439, 442, 596, 661-663, 666, 707, 743, 792, 824, 834, 866, 909, 941, 950, 958, 976-977, 988, 990 individuelle Aktanten 130, 400, 442 <?page no="1061"?> Sachregister 1045 individuelle Autonomie 533, 797, 854, 868, 893, 895, 976-977, 979 Individuum 3-5, 12, 14, 19, 30, 32, 40- 42, 48, 55, 60, 64, 75, 80, 82-86, 88-89, 91, 93, 95, 115-116, 124, 140-141, 185-186, 196, 206, 235, 244, 248, 283, 288-289, 293-295, 297, 298, 300-304, 306, 308, 310, 314-319, 322, 324, 329, 331, 338, 344, 349, 353-354, 362-366, 370-371, 373-375, 377-380, 382, 384, 389-390, 393, 396, 400-401, 403-406, 408, 420, 424-428, 442, 444-446, 448- 450, 454-459, 465, 467, 470, 472-473, 487, 490, 518, 525-527, 530-532, 544, 549, 567, 570-571, 597-599, 612-613, 622, 626, 642, 644, 651, 653, 660, 662- 663, 669, 680, 684-685, 694, 696-697, 701, 708-709, 714-715, 720-721, 727, 729, 731, 735, 743, 745-746, 771, 779, 787, 790-793, 796, 801, 820-821, 823- 824, 826, 829, 834, 843, 846, 847, 849, 854, 855, 857, 864-866, 868, 872, 882, 893-894, 896, 905, 907-908, 911-915, 918, 919, 921, 924, 925, 928-929, 931- 934, 937-939, 958-961, 963, 974-976, 979, 982, 987-989, 995-996 Industrialisierung 10, 48, 143-144, 146, 293, 295, 341, 403, 437-438, 440-441, 452, 467, 794 Industriegesellschaft XIII, 171, 173, 182, 199, 227, 283, 292, 342, 361-362, 432, 434, 490, 504, 549, 687, 718-719, 773, 779, 805, 807, 834, 860, 966 Industrielle 161, 166 Innovation 593, 595, 734, 745, 754, 899, 919 Institution 19, 96, 98, 101, 116, 309, 379, 497, 502, 512, 530, 577, 593, 727, 738, 752, 762, 787-788, 898, 900, 902, 960 Integration 97, 104, 134-135, 215, 222, 225, 231, 236-238, 309, 314-317, 468, 473, 511, 513-515, 517, 526, 528, 542- 544, 562, 626, 699, 705, 789, 791, 798, 826, 992 Intellektuelle 26, 34-35, 37, 266, 740, 746, 765, 895, 942, 946, 966 Interaktion 17, 19, 75, 77-79, 81, 83-84, 86-89, 92-93, 100, 242-243, 248, 275, 298, 303, 324, 365, 371, 384, 444-445, 455, 461, 473, 493, 509, 511, 513-514, 537, 560, 577, 627-628, 665, 724-725, 761, 782-783, 826, 914, 917, 923, 925 Interdependenz 307-308, 310, 443-444, 449, 453-455, 457, 463, 468, 473, 476, 497, 530 Interesse 6, 12, 17, 19, 25-26, 31, 34, 36, 39, 51, 67, 85, 90, 93, 108, 113, 115, 118-119, 121, 128, 131, 149, 161, 166- 168, 174, 177, 184, 192, 220-221, 225, 227, 232, 250, 259-261, 292-293, 296- 297, 309-310, 335, 338, 343, 345, 351- 352, 357, 386, 400, 409, 411-412, 464, 498, 511, 516, 519, 522, 537-539, 542- 543, 571, 582-587, 590, 592, 594-595, 600, 607, 621, 624, 627-631, 634-635, 640, 647, 655-656, 658, 668, 674-675, 697, 715-716, 735, 737, 742, 746, 748, 761, 783, 813, 843, 898, 906, 926, 955, 986 Interpenetration 493, 497, 500, 502-503, 509, 518-519, 521-522, 530, 533, 558 Intersubjektivität 52, 589, 633-634, 642, 668, 678, 705, 946 Intertextualität 61, 559, 674, 676 Intervention 65, 671, 674, 694-696, 706, 711, 746-747, 778 Intimität 374, 905, 907-917, 920-923, 928-930, 934, 938-939, 982 Irritabilität (der Systeme) 171, 579, 604, 607, 612, 616, 648, 704 Iterabilität 981, 984-985, 993 Iterativität 981, 984-985 Jugendgruppe 15, 407-408, 410, 418 Kantianismus 393, 399 <?page no="1062"?> Sachregister 1046 Kapitalismus XIII, 5, 12, 24, 29, 31, 38, 51, 53, 57, 129, 133, 135-136, 138, 141-142, 173, 178, 183, 197-198, 219, 228-229, 263, 308, 324, 342, 357, 396, 399, 402-403, 409, 418, 421-425, 429, 431-438, 440-441, 449, 452, 467, 485, 495-496, 537, 611, 614-617, 619-622, 626-627, 632, 661, 690, 704, 711, 717, 748, 766, 773, 784, 797, 801-802, 805, 810, 812-813, 815-819, 826, 835, 850, 860, 881, 888, 905, 907, 910, 911-913, 915-922, 926, 934, 939, 950 Klasse 3-5, 10, 12, 24, 25-27, 32, 41, 48, 50, 53, 69, 88, 123-133, 136-137, 148- 149, 158, 163, 165, 168, 170, 185-186, 211, 219, 241, 246, 251, 255, 260, 262, 265-267, 269-273, 279, 285-286, 295, 305, 321, 323, 345, 395, 399-400, 403- 406, 419, 428, 432, 434-435, 457, 545, 566, 584, 595, 628, 671, 681-682, 688, 707-708, 717-726, 730, 747, 750, 762- 763, 772, 778-779, 792, 795, 802, 822, 823, 874, 894, 895, 936, 981, 985, 993 Klassenkampf 10, 27, 107, 110, 132, 145, 200, 208, 210, 216, 265, 296, 367, 401, 419, 421, 453, 613, 621, 708 Klassifikation XIV, 47-49, 51, 53-54, 57, 60-63, 73, 148, 158, 170, 194, 196, 260, 262-263, 266, 305, 324, 404, 414, 428, 481, 648, 720, 738, 746, 827, 953 Kleinbürgertum 456, 709, 718, 725-726, 728, 750, 753, 764 Kode 158, 557-558, 579, 580-583, 585, 588, 592, 606, 609, 724, 738, 745, 865, 886 Kollektivbewusstsein 24, 246, 248, 283- 284, 301, 304, 306-307, 309, 311, 324, 412, 445, 499, 503, 964, 997 Kombinationsinstinkt 267 Kommerzialisierung 138, 190, 482, 488, 620, 897, 904, 925, 987-988 Kommodifizierung 828, 857-858, 865- 866, 872, 988 Kommunikation 14, 32, 53, 55, 77, 87, 96, 177, 203, 239-340, 372, 438, 464, 510, 530, 547, 551, 556, 558, 563, 569, 570- 573, 575-578, 581-583, 587, 595, 605, 607, 612, 616, 628, 630, 634, 636, 638, 640, 644, 647, 654, 663, 666, 668, 678, 687, 742, 754-755, 757, 763, 783, 820, 826, 886, 889, 910, 911, 924-926, 930- 931, 933, 939, 996 Kommunikationsgemeinschaft 640, 647, 658-659 Kommunikationssituation 642, 644, 668, 761, 788 Kommunismus 51, 53, 57, 125, 137, 169, 272, 410, 495, 701, 847, 877 Kommunitarismus XV, 157, 327, 357- 358, 360 Komplexität 50-51, 53, 171-172, 174, 259, 287, 291, 361, 365, 374, 384, 412, 432, 448, 461, 506, 565, 579-580, 583, 586, 594, 616, 663, 667, 742, 831, 924 Konflikt 14, 50-51, 83, 128, 150, 255, 296, 304, 372-373, 393, 455, 471, 472, 485, 520-521, 531, 533-534, 540, 586, 603, 622, 636, 647, 666, 737, 741, 754, 769 Konkurrenzprinzip 63, 332, 663 Konnotationen 14, 53, 104, 128, 229, 251, 316, 330, 335-336, 342-345, 360, 424, 439, 452, 459, 463, 488, 539, 678, 729, 766, 804, 854, 887 Konsens 4, 35-36, 53, 68, 77, 91, 149, 310, 325, 330, 332, 455, 473, 496, 506, 533, 543, 551, 561, 563-564, 572, 589, 601, 608, 623, 635, 638-640, 646-647, 649, 654, 746, 751, 783, 981, 983 Konservatismus 33, 177, 535, 591, 634, 801 Konstruktion XI, XIV, XV, 2, 4-5, 7, 11, 16, 18, 23-24, 29, 31, 41, 43-44, 51-53, 60, 62, 66-67, 73, 79-80, 86, 117-118, 122-123, 132, 166-167, 169, 186, 193- 195, 216, 219, 224, 238, 263-264, 287, <?page no="1063"?> Sachregister 1047 319-320, 325, 328-329, 339, 341, 347, 365, 368-370, 376, 395, 412-414, 418, 427, 443, 446, 459, 483, 489, 491-493, 510, 528, 543, 554, 571, 578, 590, 604, 633, 641, 653, 657-658, 660-661, 686, 708, 719-720, 723, 738, 743, 767, 772, 774-776, 778-780, 794, 806, 810-811, 817, 827-828, 830, 839-840, 849-850, 882, 886, 888, 942, 949, 951, 954, 957, 973-974, 988 Konstruktivismus 21, 40-41, 44, 48, 364, 547, 550-551, 557, 559, 588, 609, 710, 827 Konsum 13, 148, 404, 432-435, 539, 689-691, 694, 725, 823, 845, 852-853, 856-860, 869, 872, 876, 885-887, 893, 895-896, 903, 905, 907, 917, 921, 939 Konsumgesellschaft 338, 680, 833-834, 839, 848-849, 853, 857-858, 864, 869, 876, 879, 885, 892 Kontingenz 6, 8, 16, 53, 67, 94, 113, 142, 365, 510-511, 541, 575, 578, 954 Kontinuität 43, 171, 250, 267, 369, 435, 509, 765, 787, 789, 795, 808, 918, 937, 951, 953, 969 Kontrakt 339, 342 Kopplung 141, 558, 580, 582, 585, 595- 596 Körperkultur 909, 932 Körpernarzissmus 905, 930 Kosmopolitismus 816 Kritik XV, 12-14, 18, 21, 23-24, 27-28, 30, 35, 52, 61, 67-68, 71, 85-87, 91, 98-100, 103, 105, 108, 111, 118, 120- 121, 124-125, 133, 137-140, 153, 160, 163, 165, 167, 169-170, 172, 175, 177- 178, 185, 187-197, 199-200, 203, 207- 209, 211-212, 216-219, 222-225, 230, 233, 238, 240, 246, 248, 253, 255, 283- 284, 287, 293, 295-297, 308, 318-319, 321-323, 325, 328, 330-331, 358, 361- 362, 364-365, 367, 372-373, 387-389, 397, 402-403, 409-411, 436-438, 440-442, 444, 454, 464, 477-481, 490, 493, 496, 509-510, 527, 529, 531, 533- 535, 538-540, 545, 548, 554, 559-561, 563, 573-574, 581, 588, 590, 598, 604- 607, 611, 614, 616, 617, 622-628, 631, 632, 633, 634, 636, 643, 646-647, 649- 651, 654-655, 657-663, 667-668, 678-679, 688, 698, 702, 704-705, 707, 709, 711, 713, 717, 719, 728, 731, 743, 753-760, 763-764, 769, 773, 782, 784- 786, 797-798, 800, 809, 814, 818, 826, 833-834, 836, 838, 841, 843-844, 862, 867, 872-875, 877, 879-881, 883, 887- 888, 895-897, 903, 910, 921, 924, 929, 936-937, 939, 941-943, 946, 949-950, 952, 954, 957-958, 960-963, 965, 978, 981, 984, 994-997 Kultur XII, 2, 3, 12, 14, 47-48, 60, 63, 66, 71, 79, 141, 184, 208, 221, 226, 230- 231, 234, 239, 248, 287, 298, 340, 344, 353, 356, 361-365, 370-371, 373, 375- 376, 380-393, 396, 401-402, 427, 434, 437-438, 441, 443-444, 453, 459-461, 469-475, 481-486, 488, 490, 502, 509, 515-517, 519, 521, 526-528, 535-536, 539, 544, 562, 571, 589-590, 622, 626, 630, 632, 636, 654, 678, 708-709, 711, 720-722, 724-725, 727-728, 756, 781, 796, 810, 844, 857, 860-861, 865, 868, 878, 882, 885, 889, 896-897, 905, 911, 913, 916-919, 921-922, 925-927, 930-931, 934, 939, 943, 946, 952, 956, 962, 967, 976, 983, 985, 987-988, 996 Kulturbewegung 483-484 Kulturbürgertum 724, 726, 762 Kulturindustrie 361, 391-392, 394, 485, 863, 987 Kunst 13, 17, 31, 39-40, 53, 68-70, 82, 136, 151, 177, 183-184, 186, 196, 200- 206, 208, 234, 239, 267, 337, 343, 365, 367, 377, 382, 386, 422-423, 438, 470, 483, 486, 547-548, 551, 567, 573-574, 582, 592, 593-595, 614, 631, 632, 647, <?page no="1064"?> Sachregister 1048 650, 664, 691, 709-710, 713-714, 722, 724-725, 728, 735, 738, 740-742, 752- 760, 771, 791, 805, 819, 833, 860-863, 868-869, 872-875, 883, 896-900, 904, 920, 948, 950, 957, 993 Kunstsystem 592, 738 Kürwille XV, 327, 347-349 Lebenswelt 13-14, 48, 51-53, 57, 73, 230, 240-241, 591, 610, 611-623, 625- 627, 630, 632-633, 635-636, 639-640, 642, 645-646, 648, 651-653, 655-656, 660-663, 665-666, 668, 671, 673, 678, 686, 705, 749, 784, 804-805, 882, 910- 912, 929-930, 965, 995-996 legislator 833, 836, 839, 867 Liberalismus 61-63, 177, 196, 249, 253- 254, 270, 283, 287-289, 292, 294, 297, 317, 331, 398, 412, 427, 591, 596, 624, 662, 711, 882, 992 Macht 3, 11, 13-14, 18, 32, 37, 48, 52, 56, 68, 98, 114, 154, 163, 198, 210, 216, 218, 221-222, 229, 233, 240-241, 247, 254, 257, 259, 260-261, 265-267, 270, 272-277, 280, 282, 288, 294, 298, 300, 345, 347, 350, 352, 354-355, 362, 375, 380, 384, 392, 416, 424, 428, 456, 472, 519, 537-540, 562, 579-580, 585-587, 595, 612-615, 617-620, 622-623, 630, 648, 650-651, 666-668, 671, 673, 677, 683, 684-686, 689, 695, 700, 702-703, 705, 718, 726-727, 738, 745-746, 748, 762-763, 771, 775, 780, 782-783, 785, 791, 805, 816, 826, 851, 853, 864-865, 882, 910-912, 920, 927, 929-930, 935, 937, 941, 944, 946-947, 949, 954-958, 960-963, 973, 979, 986, 996 Machtanspruch 75, 96, 99, 101, 354, 618, 700, 703 Makrosoziologie 243, 443-444, 452-454, 457, 487 männlich 49, 52, 213, 215-217, 219-220, 224-226, 228-229, 234, 237, 241, 243- 244, 553-554, 660, 683 Markt 15, 52, 138-139, 229, 258, 308, 321, 332, 338, 358, 376, 379, 396, 403, 422, 517, 555, 564, 583, 623, 630, 743, 747, 768, 795, 861, 863, 869, 871, 878- 879, 885, 897, 899, 904, 917, 935, 964, 996 Marktgesetz 138, 325, 331, 871, 897, 919, 934 Massenmedien 599, 622-623, 625, 797, 910, 930, 938 Mediengesellschaft 339, 626, 857, 865, 869 Mehrwert 130, 168, 257, 419 Metadiskurs 843, 950 Metaerzählung 16, 101, 103, 105-106, 146, 178, 181, 247, 250-251, 327, 421, 549, 617, 651, 798, 828-829, 831, 836, 843, 877, 943, 971 Metasprache 1, 4, 618, 649, 993-994 Metatheorie XII, 2, 4, 36, 99, 100, 544 Mikrosoziologie 79, 457 Mimesis 40, 68, 177, 201-204, 213, 239, 268, 438, 552, 588, 631, 691, 758, 950 Mittelschicht 26, 135, 149, 266, 277, 718-719, 723, 725, 800, 977, 986, 988, 989 Modalität (Modalitäten) 57-58, 83-84, 113, 126, 133, 135, 160, 163, 185-186, 196, 231, 233-234, 257-258, 267-268, 294, 317, 348-349, 360, 379, 382, 424, 427, 462, 474, 523, 527, 544, 600-601, 620, 668, 683, 709, 718, 731, 742, 745, 751, 801, 815, 913, 957, 964, 969, 990 Modell 11, 29, 51-52, 82, 88, 122, 129, 136, 158, 177, 195, 201, 205-206, 213, 232, 258, 286, 291, 315, 420, 425, 494- 496, 503, 566, 592, 600, 614, 637, 678, 682, 684, 686, 710, 723, 735, 739-740, 749, 768-769, 783, 799, 807, 815, 861, 880, 883, 903, 915, 933, 956, 988, 992 modern 47, 252, 359, 402, 490, 493, 496, 498, 526, 531, 538, 547, 774, 785-788, 790, 793, 800, 802, 855, 894, 997 <?page no="1065"?> Sachregister 1049 Moderne XV, 1, 8, 10-11, 13-16, 22, 47, 64, 76, 82, 87-88, 91, 99, 103-107, 137, 180-181, 186, 199-200, 205, 215, 221, 238, 245, 247, 251, 257, 282-284, 293, 311, 316, 327-328, 340, 361-364, 375- 376, 378, 387-390, 393, 415, 443, 447- 448, 452-453, 489-492, 494, 497, 504- 508, 523, 549, 565-566, 568, 574, 595, 598-599, 602, 604-605, 607, 611, 614- 615, 631, 633, 642, 649-653, 667, 671, 673, 687, 690-691, 693-694, 697, 705, 731, 759, 761, 773-778, 792, 794-795, 797-800, 802-808, 810-814, 820, 822-825, 827, 829, 830-835, 838-860, 862-863, 867, 876-878, 896, 916, 931, 933-935, 937, 939, 941-945, 949-951, 954-955, 958, 965-966, 969, 971-973, 975, 977-978, 981, 988 Modulationen 88 Monolog 5, 9-10, 18, 25, 47, 64, 66, 155, 212, 438, 493, 533, 541, 702, 729, 757, 982-983 Mußeklasse (leisure class) 434 Mythos 53, 104, 108, 156, 243, 319, 447, 460, 477-478, 480, 657, 728-729, 764, 786, 893, 941, 955, 970, 993 Narrativik 49, 58-59, 98 Narzissmus 79, 184, 234, 411-412, 434, 733, 759, 796-797, 823-825, 833, 863- 864, 866, 905, 908-909, 916, 920-921, 923-924, 926-929, 931-934, 938-939 Nationalsozialismus 35, 37, 95, 114, 129, 177, 179, 207, 256, 318, 335, 439, 473, 485, 487, 613, 662, 842, 847-848, 924 Nationalstaat 253, 690, 692, 817, 844- 845, 847, 851-852, 854, 867 Natur 6, 37-39, 52, 68, 113, 138, 171, 173, 177-189, 192-195, 197-198, 200-202, 207, 213, 215-217, 237, 239- 240, 243, 244, 267-268, 287-288, 293- 294, 298, 352-353, 357, 381, 434, 436, 461-467, 470-474, 477, 483-484, 486-487, 554, 556, 563, 577-578, 617, 629, 659, 685, 729-731, 753, 764, 805, 808, 819, 821, 841-842, 856, 887, 889, 947, 949, 963, 965, 979 Naturbeherrschung 38, 40, 103, 173, 177, 179-180, 181, 183-184, 186-188, 191-193, 196-203, 206, 212, 237, 239, 244, 268, 281, 387, 436, 463-464, 466- 467, 473-474, 480, 484-485, 487, 497, 528, 605-607, 615, 632, 668, 819, 841, 949, 988 Nebenfolgen 416, 809, 811-812, 825 negative Dialektik 38, 178, 185, 192, 195, 200, 205, 210, 549 Negativität 13, 153, 181, 192, 197, 199- 201, 203, 210, 441, 534, 550, 812 Neoliberalismus 60, 230, 711, 717, 767, 769, 801, 871 Neotribalismus 942, 975 Neukantianismus 63, 399, 401 Nichtidentität 21, 36, 40, 67, 181, 199- 200, 204-205, 393, 632, 710, 757, 758 Norm 6, 17, 82, 96, 219, 258, 299, 302, 307, 310, 312, 315, 324, 338, 412, 422, 487, 496, 498-500, 502, 510, 512-513, 517, 521, 527, 530, 534, 541, 544, 547, 560-561, 564, 575-576, 612, 634, 638- 639, 681, 692, 698, 708-709, 714, 730, 733, 743, 783-785, 787-788, 791, 799, 814, 850, 865, 918, 928, 944, 959, 995 Objekt 21, 23, 38-40, 42, 51-52, 56, 67, 83-84, 90, 107-108, 110-111, 115- 116, 122, 135, 161, 169, 177, 181, 183, 188-189, 192-193, 195, 203-204, 210, 212, 218, 220, 231, 234, 236, 262, 274, 288, 293-295, 315, 319, 350, 356, 360, 365, 368, 381, 383-385, 387, 391-392, 412, 462, 471, 526, 596, 598, 601, 609, 620-621, 633, 668, 683, 685-686, 689, 703, 705, 739, 741-742, 745, 748, 768, 771, 787, 799, 803, 817-818, 834, 851, 857, 872, 892-893, 913-914, 932, 949, 952 <?page no="1066"?> Sachregister 1050 Objekt-Aktant 51, 56, 83-84, 90, 115, 122, 135, 161, 183, 234, 236, 295, 315, 350, 360, 381, 427, 462, 526, 602, 609, 620, 668, 685, 739-740, 771, 799, 818, 851, 913, objektive Kultur 361, 375, 381-382, 384, 386, 389, 393-394, 396 Objektivismus 286-287, 368, 707-708, 712-714, 770, 826 Objektkonstruktion 17-18, 31, 67, 76, 286, 334, 397, 978 offene Stadt 905, 921, 939 Öffentlichkeit 21, 57, 127, 277, 322, 358, 570, 607, 611-612, 621-626, 643, 662, 668, 726, 748, 750, 799, 819-820, 857, 898, 905, 907, 909-913, 915, 922, 924- 928, 930, 934-935, 938, 948, 981, 996 Oligarchie XI, 249, 278-281, 584, 701, 981, 985-986 Organisation 83, 87, 89, 97, 132, 137, 155-156, 168, 183, 185, 190, 226, 265, 278, 286, 297, 305, 344, 359, 406, 419, 422, 432-433, 474, 479, 531, 560, 576- 577, 587, 687-688, 699, 701, 781, 799 Panoptikum 855, 959-960 Parataxis 99, 177, 201, 206, 213, 552, 633, 691, 710 Partikularismus 14, 492-493, 497, 501, 643, 652, 830, 833-834, 841, 867, 943, 975, 981, 993 Phänomenologie 23, 50, 114, 119, 182, 542, 551, 553, 555-557, 582, 873 Pluralität 14, 491, 834, 839, 843-844, 878, 908, 924, 939, 943, 967 Politik 27-28, 43, 52-53, 65, 71, 85, 89- 90, 96, 128, 136, 140, 147, 153, 155, 160-162, 169, 177, 198, 220, 225-226, 228, 230-231, 234, 259, 276, 359, 365, 368, 395-396, 398-400, 408, 411-412, 414, 416, 419-420, 423, 426-427, 429, 434, 439, 447, 483, 486, 503, 505-506, 519, 521, 547-550, 562, 564, 567, 569- 571, 573, 578-580, 582, 584-587, 589- 593, 595-596, 599, 601, 603, 609, 613, 615, 618, 620, 622-623, 644, 651, 656, 668, 682-683, 685-686, 689-691, 697, 705, 707-708, 719, 722, 727, 734-735, 737-739, 742-743, 745-748, 751, 762, 765, 767, 769-771, 774, 776-777, 803, 812, 814, 817-820, 838, 843, 845, 851- 852, 880, 888, 891, 912, 922, 930, 935- 938, 946, 954, 961, 967, 974, 978-979, 990, 992, 997 Polyphonie XII, 423, 982 Positivismus XV, 14, 21, 40-41, 61, 63, 104-105, 155, 157, 163, 169, 173, 175, 177-178, 184, 187-189, 191-193, 200, 206-207, 212, 217-218, 251, 264, 301, 534, 550, 615, 631, 637, 654-655, 657- 658, 843, 946 Positivismusstreit XI, 35, 42, 191-192, 373, 611, 619, 644, 654-656, 657, 661- 662, 982 Posthistoire 15, 692 postindustrielle (nachindustrielle) Gesellschaft 47, 110, 432-35, 673, 682, 687- 694, 705, 813, 917, 935 Postmoderne XV, 1, 5, 10-11, 13-16, 48, 76, 99, 103, 106-107, 156, 181, 199, 215, 226, 238, 247, 306, 327, 353, 360, 362, 370, 393-394, 477, 489-491, 492, 497, 507, 523, 547-548, 552, 565, 595- 596, 598, 611, 633, 642, 649-650, 653, 667, 671, 687, 690, 692, 705, 731, 759, 776, 794, 805-807, 810, 823-824, 827- 831, 833-836, 838-841, 843-845, 847-853, 858-859, 861-864, 867, 869, 871, 873, 877, 878, 889, 892, 896, 902, 907, 916, 919, 941-942, 944-945, 950- 951, 965-969, 971-974, 976, 978, 988 Pragmatik 761, 765 Praxeologie 707, 712, 715 Praxis 13, 25, 38-39, 53, 79, 114, 120, 124-125, 134, 137, 164, 190, 198-200, 208-209, 211-212, 225, 384, 398-399, 402, 408, 430, 619-621, 627-629, 633, <?page no="1067"?> Sachregister 1051 704, 716-717, 724-726, 735, 752, 754, 779, 783, 787, 858, 874, 886, 910, 913, 919, 922, 996 Primärgruppen 357 Primärrahmen 88 Probelmatik 16, 170, 184, 246, 327, 358, 467, 471, 489, 492, 523, 547, 555, 611, 613-614, 630, 650, 653, 749, 773, 793, 800, 806, 828, 830-831, 838-839, 848, 850, 867, 877, 941, 943 Produktionsmittel 125, 130, 132, 168, 321, 324, 344, 383, 385, 422, 462, 719 Produktionsprozess 34, 126, 148, 170, 218, 234, 384, 404, 434-435, 627-628, 697, 708 Proletariat 3, 6, 12, 24-26, 34, 38-40, 54, 57-58, 107-108, 110, 122-123, 125- 126, 128-129, 131, 133-137, 142-143, 148-150, 154, 159, 162-163, 165-166, 168-169, 185-186, 198, 206, 208, 211, 215, 231-232, 235, 237, 263-266, 281- 282, 291, 321, 349, 428, 456, 602, 673, 675, 718, 722-723, 763-764, 769, 799- 801, 819, 834, 836, 874, 972, 986 Prozess XI, 5-6, 10, 19, 23-24, 47, 50, 54-55, 59-60, 77, 80, 107, 116, 119, 121-122, 127, 129-131, 152-153, 156, 174, 178-181, 185-186, 198, 200, 227, 242-243, 246-248, 250, 286, 290-291, 295, 305, 308, 341, 344-345, 371, 381, 390, 421, 426, 441, 445-447, 449, 453, 455, 459, 461, 465, 470, 472, 479-480, 484, 486-487, 494-496, 504-505, 507, 512, 529-532, 544, 568, 585, 593, 595, 633, 667, 674, 678, 694, 705, 715, 718, 739, 752, 754, 756, 774, 786, 795, 812, 826, 857, 865, 871, 883, 886, 896, 899, 902, 912, 953, 955, 968, 988-989, 994 Psyche 79, 184, 233, 299, 301, 324, 457- 458, 487, 556, 578, 733, 796, 927 Psychoanalyse 30, 63, 75, 79, 81-82, 155, 184, 201, 223, 233, 262, 410, 443, 459, 469-474, 488, 628, 780, 869-870, 901, 960 Psychogenese 452, 454, 457, 459 Ratio 52, 177, 201, 203, 437 Rationalisierung 5, 10, 40, 48, 142-146, 151-152, 156, 174, 201, 262, 394-396, 398, 411, 421-427, 430, 436-437, 441- 442, 444, 452, 467-469, 477, 480, 483, 487, 617, 632, 653, 691, 770, 773, 775, 780, 834, 841, 848,949 Rationalisierungsprozess 7, 12, 39, 395, 420, 422-423, 427, 429, 440, 442, 452, 469, 483 Rationalisierungstheorie 411, 416, 423, 443, 459, 468 Rationalismus 14, 21, 27, 42, 61, 63-64, 68, 71, 85, 146, 177, 187-188, 191, 204, 251, 373, 397, 399, 430, 544, 590, 611, 615, 631, 638, 645, 652, 654-656, 659, 661-663, 668, 750, 758, 781, 828, 833, 841, 843, 864, 945-946, 948, 950, 952, 968, 993-994 Raum 23, 117, 139, 298, 368, 373, 556, 666, 735, 773, 784, 788-789, 793, 817, 855, 934, 956 Rebarbarisierung 12, 248, 443, 446, 481, 485, 487, 490, 775, 981, 987-988 Recht XI, 5, 10, 35-36, 51, 55, 71-72, 81, 87, 115, 138, 140-141, 148, 150, 156- 157, 163, 171, 173-174, 180, 186-187, 195, 215, 217-218, 233, 239, 250, 251, 256, 261, 264, 267, 270, 273, 277-278, 286, 295, 302, 307-308, 321, 332, 335, 340-341, 344, 363, 365-366, 369, 379, 384, 402, 405, 408, 418, 421, 423, 433, 448, 457-458, 471-472, 522, 528, 535, 537, 539-540, 548, 550, 567, 572, 574, 576, 578, 580-582, 584, 587, 593, 595, 602, 618, 631, 634, 659, 678, 680, 684, 693, 722, 725, 728-730, 736-737, 756, 763, 764, 766, 782, 789, 792, 809, 820- 821, 835, 842, 844, 846-847, 861, 881, <?page no="1068"?> Sachregister 1052 890, 897, 930, 935, 947, 958, 960, 965- 966, 977, 985, 987-988, 991-992 Rechtssicherheit 272, 332 Rechtssystem XIV, 72, 307-308, 422, 502, 571, 574, 580, 602, 798, 960 re-entry 581, 592 Reflexivität 490, 635, 710, 752, 763, 794- 795, 797, 802, 806-810, 812, 825 Relativismus XII, 3, 533, 806, 830, 967- 968, 970, 994 Relevanz XIII, 8, 17, 47, 49-54, 57, 69, 104-105, 140, 144, 158, 190, 192, 197, 199-200, 215, 218, 229, 240, 323, 428, 459, 537, 543, 591, 665, 667, 856, 884, 953, 978 Relevanzkriterien 6-8, 10, 17, 45, 47-52, 60-63, 67, 70, 73, 101, 105-106, 120, 122, 124, 131, 143, 148, 150, 159, 166, 170, 177, 181, 192, 194, 196-197, 215- 220, 223, 227, 229, 232, 236-237, 240, 244, 255, 266, 271, 282, 285-286, 288, 295-296, 320, 323, 329, 334, 356, 367, 370-371, 384, 388, 397, 404, 410, 412, 414, 418, 421, 423, 441, 453, 459-460, 478, 481, 501, 505, 516-517, 522, 536, 543, 554, 567, 581, 588, 615, 618-620, 629, 632, 648, 656, 662, 665, 687, 698, 703, 792, 825, 856, 863, 865-867, 876, 884, 891, 912, 934, 953, 964, 977, 988- 989, 994 Residuum 259-261, 263, 266-267, 282, 968-969 Retention 568 Revolution 7, 13, 15, 35, 38-39, 56, 107, 124, 126, 128-129, 131, 133-136, 143- 146, 148, 150, 153-154, 161, 168, 170- 173, 197-198, 207, 211, 220, 234, 246, 255, 264, 304, 365, 385, 387, 495, 565, 613, 619, 627, 641, 660, 741, 769, 847, 914, 986 Reziprozität 243, 305, 443, 453, 883 Risiko 489, 579, 773-774, 778, 795, 797, 801-802, 805, 808-809, 811-812, 819-820, 823-824, 855, 857, 920 Risikogesellschaft 773-774, 776, 799, 805-807, 811-813, 818-820, 822-823, 854, 935, 937 Rolle XIII, XIV, 4, 21-22, 30, 40, 50, 56, 58, 68, 75, 82, 85, 87-89, 92-93, 96, 112, 127-129, 133, 136, 141, 143, 145, 148-149, 163, 169, 174, 196, 211, 216, 222-223, 228, 232, 234, 240-241, 244, 262, 266, 279-280, 287, 293, 296, 303, 309, 322, 332, 334, 338, 356, 372, 397, 410-411, 413, 422, 424-425, 427, 435, 447, 463, 466, 475, 488, 493, 497, 499, 504, 506, 509, 511-513, 521, 525, 531, 533, 537, 541, 544, 551, 567, 620, 630, 632, 646, 655, 675-676, 688-689, 695, 714, 737, 740, 744, 745, 747, 756, 779, 782-784, 790, 797, 804, 823, 826, 833, 835-836, 838, 841, 844-845, 851, 867, 872, 882, 886, 915, 922, 930, 978, 982 Rollenkonflikt 533, 541 Säkularisierung 5, 48, 142-143, 145- 146, 151-152, 156, 174, 296, 301, 358, 369, 421, 617, 995 Schein 189, 193, 321, 869-870, 872-876, 880, 888, 892, 897, 903 Schichtung 17, 88, 552, 566, 981, 996 Sekundärgruppe 357 Selbstmord 12, 110, 283, 309-315, 317, 325, 867 Selbstmordrate 311-313 Selbstzwang 460, 462, 470, 479, 483, 487 Selektion XIII, 6, 28, 289, 428, 481, 537, 568 Semantik 30, 49, 54, 65, 98, 196, 220, 298, 369, 564, 567, 578, 581, 591, 602, 606, 703, 758, 761, 763, 765, 867 Simulacrum 869, 872, 885-886 Simulation 869, 872, 881, 883, 885, 888- 890 <?page no="1069"?> Sachregister 1053 Solidarität 12, 236, 242, 246, 259-260, 267, 283, 292, 296-297, 304-308, 310- 315, 317, 321, 323, 325, 333-334, 338- 339, 342, 347, 360, 365, 372, 374, 388- 389, 411, 490, 541, 560, 564, 614, 619, 775, 801, 823, 834, 840, 852, 868, 913, 925-926, 931, 938, 975, 995 Souveränität 650, 937, 960-962, 979 Sozialdarwinismus 42, 157, 283, 287, 289, 295, 729 Sozialisation 2, 19, 60, 66, 75, 77-79, 81, 143, 156, 233, 242-243, 275, 279, 302, 305, 330, 472, 493, 502, 509, 513, 530, 533, 541, 555, 662, 707, 709, 713, 728- 730, 764, 963-964 Sozialismus 7, 31, 53, 63, 99, 134, 137, 144, 149, 177-178, 198, 200, 208-211, 251-252, 255, 257, 263-265, 279, 281, 283, 294-295, 316, 323-324, 329, 355, 366, 398-399, 403, 405, 418-419, 440, 442, 561, 619, 658, 673, 704, 901, 933, 986 Soziogenese 443, 452-454, 457, 459, 487 Soziosemiotik 373, 754 Spätkapitalismus 37, 110, 199, 392, 395- 396, 434, 621, 625, 662, 719, 884, 920, 999 Spätmoderne XV, 1, 11-12, 15-16, 48, 91, 99, 103, 105-106, 181, 184, 245, 247, 251, 282-283, 327, 353, 361-362, 364, 370, 384-385, 389, 427, 431, 452, 466, 489, 491, 497, 547, 549, 588, 596, 651, 673, 769, 774, 776-778, 794-795, 797- 802, 806-807, 810-811, 825, 827, 829, 831, 850, 862, 894, 969, 995 Sprechakt 641, 646, 984 Sprechakttheorie 638-639, 646, 664, 984 Sprechsituation (ideale) 619-640, 642- 643, 654, 658-659, 668 Staat 7, 10, 13-14, 24, 56, 98, 108-109, 111, 115, 119-120, 134, 137, 172, 200, 207-208, 212, 236, 252, 256, 272, 274- 275, 294-295, 315, 317, 320, 327, 332- 333, 351-352, 354-355, 381, 398, 419, 422, 444-445, 454, 457, 459, 462, 482, 487, 505-507, 569, 570-571, 584, 586- 587, 601, 622, 647, 685, 689, 702, 705, 715, 719, 727, 736, 745, 750, 767, 769- 770, 804, 814, 816, 834, 845-848, 851- 852, 860, 868, 889, 902, 922, 965, 977, 983 Stadtsoziologie 905-906 Stamm XIV, 221, 258, 304-305, 325, 823, 831, 941-944, 972, 974-977, 979, 989 Stammesgesellschaft XIII, 304-305, 320, 477-478, 565, 616, 710, 883 Stand 241, 395, 399, 403-404, 566, 721, 759, 822-823, 894 Statik 172, 530, 532-535 Status 65, 95, 98, 231, 241-242, 321, 332, 338-339, 404, 456, 488, 497, 502, 512, 533, 541, 544, 657, 721-722, 727, 760, 762, 768, 779, 815, 827, 857 Stigma 75, 92-96, 98, 100, 900 Stigmatisierung 92-96, 458 Strategie 94-95, 468, 499, 627, 636, 725, 732-733, 759, 761, 790-791, 858 Struktur 1, 18-19, 27, 30, 45, 63, 66, 73, 82-84, 147, 164, 173, 205, 248-250, 257, 260, 265, 268, 277, 320, 322, 335, 389, 403, 441, 445, 453, 466-467, 493, 497, 512, 527-528, 535, 559, 562, 568, 575, 597, 619, 630, 640-641, 648, 657, 663, 675, 689, 698, 710, 713-715, 722, 732, 734, 741, 749, 761, 764, 770, 773, 784-788, 790-791, 809, 826, 842, 877, 907, 963-964, 982, 984, 994 Strukturalismus 82, 657, 707-708, 712- 716, 725, 731, 734, 752, 767, 770, 784- 786, 790, 981, 984 Struktur (Strukturen) XIII, XIV, 4, 44, 51- 53, 60-61, 69, 98, 100, 144, 152, 203, 221, 223, 320, 335, 365, 400, 403, 449, 503, 560, 563, 566, 575, 611, 618, 625, 635, 641, 667, 678, 714-715, 727, 732, <?page no="1070"?> Sachregister 1054 755, 781, 783, 787-788, 848, 933, 958, 989, 991, 994 Strukturierung 26, 204, 568, 773, 778, 784, 788 Strukturwandel 229, 231, 570, 612, 621- 622, 624, 662, 668, 867, 907, 910, 911, 938, 955, 981 Subjekt XII, XIII, 5, 14, 17-18, 21, 23-26, 38, 40-41, 49, 55-58, 60, 65-67, 73, 75, 77, 79-80, 83-84, 86-87, 94-95, 97- 98, 100, 107-108, 110-111, 113-116, 121-123, 126, 131, 133, 135, 142, 155, 160, 162-165, 169, 174, 177, 181-189, 192-193, 195-197, 201-202, 204, 206, 213, 215, 218, 222-227, 229, 233-235, 237-239, 242-244, 262, 264-265, 282, 287-288, 294, 302, 315, 317, 319, 325, 349-350, 356, 363, 365, 368-369, 378- 385, 387-393, 396, 400, 409, 424-428, 460, 462, 471, 485, 501, 505-506, 513, 523-527, 537, 544, 548, 569, 596-599, 601, 609, 619-620, 627, 633-634, 642- 644, 646, 653, 663, 668, 671-674, 676, 678-686, 690-691, 693-703, 705, 712-715, 717, 731, 739-740, 757, 760, 763, 768, 771, 779, 784-787, 790-791, 800-805, 814-819, 821, 824-825, 831, 834, 837, 838, 845, 847, 851-852, 854, 860, 866-867, 882, 892-895, 903, 905, 907-909, 913, 916-917, 920-922, 925-928, 933, 939, 943, 945, 947, 949, 955-956, 958-959, 963, 967, 969, 974, 976, 979, 989-991 Subjekt-Aktant 55-56, 58, 86, 113-115, 126, 131, 142, 160, 162, 165, 233-234, 238, 244, 264-265, 282, 294, 315, 317, 319, 325, 381-382, 389, 426, 428, 506, 523, 525-527, 599, 601, 609, 620, 627, 685, 691, 739-740, 771, 800-801, 805, 815, 817, 819, 826, 834, 847, 854, 860, 882, 913, 939, 990-991 subjektive Kultur 460-461 Subjektivierung 75, 92, 141, 485, 821, 823, 958 Subjektivismus 301, 707-708, 712-714, 770, 826 Subjektivität 3, 23, 38, 42, 75-77, 79, 85, 87, 94-96, 101, 177, 181-183, 194, 202, 215, 219, 222-227, 233, 238, 242, 361, 380-381, 383, 386, 390, 445, 501, 508, 523, 526, 558, 578, 582, 587, 596, 598, 600, 634, 642-645, 664, 668, 671- 674, 679-680, 684-685, 691, 693-695, 702, 708, 715, 731, 790-791, 804, 821- 822, 824, 834, 853, 856, 865, 893, 895- 896, 907, 912, 916, 917-919, 922, 925- 928, 932-934, 939, 941, 944, 955-957, 967, 976, 981, 990 Subjektschwäche 905, 930 Subjektverzicht 547, 596 Subsystem 290, 505-506, 511, 517-518, 521, 526, 544, 575, 609, 615 Supertheorie XII, 547, 551-552, 608 Syntax 298, 369, 378, 596, 729, 761, 765 System XIV, 10, 13-14, 23, 39, 47-48, 52-53, 55, 57, 63-66, 72-73, 100, 108, 112, 116-117, 119-120, 122, 138, 148, 150-151, 153-155, 160-162, 169-171, 174, 189, 192-194, 197, 204, 210, 222, 224-225, 237, 250-251, 254, 260, 261, 272, 276, 281, 283, 287, 293, 305, 334, 336, 341, 364, 367, 398, 430, 433-434, 437, 440, 490-491, 493-501, 503-531, 533-544, 547, 549, 552-563, 567-576, 578-586, 578-603, 606-610, 611-615, 617-620, 622-623, 625-627, 632, 637, 648, 651, 653, 656, 660, 662-663, 665- 667, 673, 676-678, 682-686, 697-698, 700, 702-704, 707-708, 714, 720-721, 735-736, 738-739, 742, 749, 751, 757, 763-764, 770-771, 785-789, 792, 798, 806, 818, 821, 836, 848, 870-872, 882, 884, 886-887, 889, 893-894, 901, 903, 910-911, 920, 929, 951, 953-954, 990- 991, 993-994, 996 <?page no="1071"?> Sachregister 1055 Systembildung XII, 511, 513, 547, 569, 573, 580, 585, 593 Systemtheorie 47, 72, 100, 493, 498, 502, 509, 515, 517, 520, 522-523, 525-526, 540, 547, 550-555, 558-559, 563, 565, 568-569, 573, 577, 580-581, 583, 588, 590, 593, 596, 598, 603, 604-610, 611- 612, 644, 652, 663, 665-668, 671, 674, 676-678, 703, 705, 707, 738, 742, 754, 790, 955, 981, 989-992, 995 Tatsache 9, 10, 28-29, 31, 33, 36, 41, 53, 66, 70, 88-89, 105, 116, 129, 149, 158, 159, 167, 187, 193, 220-221, 228, 241, 245, 265, 271, 274, 283-284, 293, 296, 298, 301-306, 310-313, 320, 324, 328, 334, 351, 377, 383, 387, 398, 431, 445, 449, 455, 479, 481, 493, 508, 520, 523, 531, 543, 562, 570, 572, 574, 584, 594, 601, 624, 635, 642, 646, 652, 658, 675, 680, 698, 704, 713, 718, 723, 726-727, 742, 744, 748, 751, 755, 762, 775, 780, 785, 793-795, 796, 802-803, 814, 825, 836, 864, 868, 873, 878, 881, 891, 898, 921, 951, 953, 956, 963, 970, 984, 987, 992 Tauschwert 13, 15, 107, 136, 138-140, 159, 189, 195, 308, 321, 343, 377-378, 449, 528, 547, 555, 561, 564-565, 595, 603, 605, 616, 666, 692, 698, 793, 823, 828-829, 868-869, 872, 878-886, 888, 891-892, 900-901, 903, 919, 921, 933- 934, 970 Teleologie 112, 219, 364, 443, 447-451, 504, 651, 774, 798, 800, 833, 858, 903, 951 Theodizee 108 Theoriebildung (Theorie) 3, 69, 149, 228, 296, 364, 369, 454, 553, 572, 856, 905, 977, 991, 995 Totalitarismus 14, 95, 97, 179, 192, 256, 273, 552, 658, 661-662, 669, 979 Transzendenz 144, 160, 164, 877, 896- 897 Überbau 121, 401 Überdeterminiertheit 943, 964 Überprüfung (von Theorien) 2, 47, 57, 58, 68, 69, 71-72, 74, 100, 688, 890, 993-994 Überwindung 12, 24, 26, 119, 147, 153, 174, 195, 199-200, 210, 237, 334, 356, 384, 387, 391, 495, 712, 807, 829, 833, 835, 876-877, 880, 942, 966, 973 Umwelt 48, 52-53, 57, 60, 73, 139, 173, 188, 305, 501, 513-514, 517, 519, 521, 522, 524, 526, 528, 547, 549-550, 554, 557-558, 567, 573, 575, 578-582, 586, 588, 590-594, 602, 607, 610, 612, 615, 617, 625, 648, 656, 660, 665, 667, 686, 739, 749, 761, 766, 801, 804, 818, 844, 918, 990, 995 Universalismus 10, 14-15, 76, 491-493, 497, 501, 547, 595, 649, 652, 664, 690, 806, 829, 833-834, 839, 841, 848, 867, 941, 943, 945, 949, 954, 965, 975, 981, 988, 990, 993 Urbanisierung 48, 379, 482, 566, 905, 926, 938, 987, 996 Urbanität 905-906, 910, 921, 924 Utilitarismus 166, 188, 248, 315, 347, 354, 430, 498, 516, 521, 544, 650, 667, 676 Utopie 33-34, 99, 108, 195, 228, 438, 442, 491, 533, 689, 811, 834, 836, 860, 862, 864, 902, 915, 935, 937, 966 Variation 505, 568 Verdinglichung 53, 137, 139, 142, 170, 376, 378, 380, 438, 441 Verflechtung 311, 376, 448, 468, 470, 473, 503, 571, 587 Vergesellschaftung 86, 180, 303, 318, 344, 361-362, 364-365, 371-373, 377, 393, 445, 455 Vernunft 13, 23-24, 26, 31, 37, 39, 51- 52, 56, 104, 110-111, 113-116, 118- 120, 143-147, 156, 159-163, 165-166, 169, 174, 177, 180, 182, 184-185, 187- <?page no="1072"?> Sachregister 1056 192, 203, 212, 231, 239, 245-246, 258, 268, 292, 294-295, 317, 323, 346, 352, 354, 365, 373, 383, 385, 395, 400, 408, 436-437, 440, 442, 462, 464, 467-468, 474, 487, 532, 598, 603-606, 608, 610, 611, 614-617, 619-621, 623, 627, 629- 633, 635, 647, 649-653, 655-657, 659, 664, 667-668, 682, 686, 691, 713, 716, 719, 722, 727, 728, 736, 742, 758, 782- 783, 819, 841-843, 941, 943, 945-950, 953, 955, 969, 975, 978, 987, 990 Versöhnung 23, 38-39, 68, 107-108, 110, 118-119, 125, 142, 183-184, 193- 194, 198-199, 201, 204, 363, 383, 396, 528, 652, 875 Verständigung XII, 2, 13, 52-53, 100, 570, 608, 612, 614, 617, 624, 627-631, 634-636, 640, 643, 653, 668, 679, 782- 783, 875, 910 Verwindung 199-200, 211, 237, 393, 829, 877, 966, 973 Voluntarismus 99, 500-501, 517, 642, 676, 712, 714, 771, 785 voluntaristische Theorie 498-499, 705 Wahnsinn 941, 943, 945-950, 952, 978 Ware 139-140, 170, 321, 391-392, 685, 834, 857-858, 861, 865-866, 868, 872, 887-888, 892, 899, 921-922, 933 Warenästhetik 139, 873, 887, 899, 921 Warenfetischismus 139, 878 Wechselwirkung 4, 80, 86, 321, 361, 363, 365, 371-372, 374-375, 453, 456, 485, 551, 647, 649, 758, 760, 899, 917, 985 weiblich 49, 52, 213, 215-217, 219, 224, 228, 231, 237, 243-244, 553-554, 660 Weltgesellschaft 84, 451, 547-549, 565, 569-572, 574, 577, 586-587, 602, 609, 816 Werbung 60, 378, 432-433, 594, 625, 745, 814, 823, 857, 863, 865-866, 868, 872, 886-887, 888, 892, 895-897, 899, 902-903, 921, 926, 933-935 Wert 6, 12, 15-16, 22, 28, 30, 62-63, 79, 82, 84, 138, 140, 159, 254, 270, 310, 315, 324, 338, 343, 362-363, 376-378, 396-397, 408-409, 412, 415, 419, 427, 433-434, 436, 496, 498-501, 513, 516- 518, 521-522, 527-528, 534, 536, 541, 543-544, 560-564, 567, 576, 586, 597, 638, 656, 680, 692, 698, 703, 713, 715, 722, 730, 741, 750, 776, 785, 791, 799, 811, 814, 822, 828-831, 841, 850, 860, 866, 869, 871, 875-876, 878, 880, 882- 883, 885-886, 889, 892-893, 898, 901, 903, 922, 932-937, 967-968, 970 Wertekonsens 72, 91, 521, 535, 543, 545, 547, 559-562, 609 Wertezerfall 919, 935, 937 Wertfreiheit (siehe Werturteilsfreiheit) 21-22, 27, 32-34, 43, 61, 127, 336, 395, 397-399, 407-409, 412, 418-419, 423, 428-429, 436, 439, 441, 453, 486, 589, 656, 659-660, 671, 694, 696-697, 781, 840, 967, 973-974 wertrational (wertrationales Handeln) 415, 419, 442, 499, 565, 677 Werturteilsfreiheit (siehe Wertfreiheit) 18, 22, 27, 30, 97, 127, 223, 371, 398-399, 656, 659, 672, 696, 698 Wesen 23, 54, 113, 115, 119-121, 160, 164, 190, 300, 322, 333, 345, 352, 354- 355, 363, 367, 373, 386, 483, 486, 538, 655, 785, 796, 798, 869-870, 872-873, 875-876, 925, 938 Wesenwille XV, 327, 347-349 Widersacher (opposant) 55, 93, 122, 125, 160, 162, 184, 295, 685, 802, 814-815, 826, 851, 867, 871, 972-973 Wirtschaftsbürgertum 724-726, 762 Wirtschaftssystem 517, 519, 522, 538, 567, 578-579, 585-586, 595, 745, 766 Wissenschaft XI, XIII, XVI, 1, 12, 17, 21, 34, 41, 43-44, 51, 53, 57, 61-62, 66, 72, 85, 96, 108, 126, 130, 136-137, 140, 144-145, 147, 151, 155-157, 161, 163- <?page no="1073"?> Sachregister 1057 169, 174, 177, 182, 187-188, 191, 202, 234, 249, 258, 261, 263, 269, 285, 290, 298-299, 318, 322, 327, 335, 346-347, 361-363, 365, 381-382, 396-397, 399-400, 405-407, 411, 422-423, 427, 430-431, 445, 447-449, 468, 470, 481, 483, 486, 503, 517, 519, 547-548, 552- 553, 555-558, 562, 567, 569, 573-574, 578-582, 588-591, 593-595, 597, 602, 607-609, 618, 628-629, 632, 636, 644, 650-651, 655, 659, 661, 667, 687-689, 707-708, 710, 713, 716, 719-720, 722, 732, 735, 738, 740-743, 749, 751, 759, 761, 763, 765, 767, 771, 774, 780, 783, 794, 799, 805, 807, 809, 812-814, 843, 850, 946, 951, 953, 958, 960, 971, 977, 990, 993 Wissenschaftssystem 140, 158, 567, 581, 588-590, 667, 750 Wissenssoziologie XI, 21, 32, 33-35, 42, 191, 264, 413, 450, 454, 564 Zivilisation 59, 144, 159, 172, 247-248, 269, 312, 344, 353, 443-444, 446-448, 450, 452-455, 459-465, 467-481, 483-485, 487, 529, 531-532, 632, 813, 987 Zivilisationsprozess 248, 443-444, 447- 448, 450-453, 455, 459-460, 462, 464- 467, 469-470, 477, 479-480, 482-485, 487, 533, 842, 981, 987, 988 zweckrational (zweckrationales Handeln) 415-416, 442, 496, 656 <?page no="1074"?> 1058 Personenregister Abendroth, W. 612 Abercrombie, N. 92, 404 Adenauer, K. 439 Adler, M. 61, 117 Adorno, G. 183 Adorno, Th. W. XII, XIV-XV, 5, 12-14, 16, 18, 35-40, 42, 52, 66-71, 99-100, 103, 105, 112, 114, 155-156, 167, 173, 175, 177-189, 191-212, 215-217, 227, 237-242, 246, 268, 281, 287, 318, 320- 323, 361, 363-364, 389, 391-393, 436, 438, 463-464, 471, 473, 485, 492, 533, 549, 551, 554, 604-607, 611-614, 616, 625, 627, 631-633, 647, 654-657, 659, 661-662, 667-668, 674, 679, 691, 707, 709-710, 719, 756-760, 764, 819, 833- 834, 836, 840, 841, 843, 860, 869, 876, 883, 896, 902, 945-947, 949-950, 965- 966, 976, 978, 987, 994, 996 Aijmer, K. 641 Albert, H. 28, 31, 42, 408, 611, 637, 654- 655, 657-662, 668, 821, 990, 993 Albertoni, E. A. 256, 269-270, 272, 276 Alexander, J. C. 285, 636 Alexy, R. 645 Alff, W. 146 Alpert, H. 316 Althusser, L. 61, 130, 390, 556, 701, 824, 944, 946, 951, 953-954, 959 Amstutz, M. 603 Ankersmit, F. R. XIII Apel, K.-O. 210, 634, 637, 640, 649, 658, 659 Aquarone, A. 256 Aquin, T. von 717, 730 Aristoteles 268, 510, 717, 730, 963 Arnold, M. 6, 15, 48, 109, 205, 364, 588, 692, 717, 731 Aron, R. 25, 256-257, 354, 711 Artaud, A. 948 Asholt, W. 761 Ashworth, C. 517, 524, 792 Astleitner, H. 64 Austin, J. L. 639-640, 646, 984 Bac, F. 435 Bach, J.S. 723 Bach, M. 260-262, 264, 723, 729 Bachelard, G. 716, 951-952 Bachtin, M. M. V, 2, 4, 29, 40, 61, 99, 178, 243-244, 284, 329, 552, 558, 598, 642, 647, 674, 676, 786, 905, 934, 982, 994 Backhaus, H.-G. 138 Bacon, F. 146-147, 163, 187 Baecker, D. 515, 550, 559, 995 Baglioni, G. 254 Bales, R. 502, 530 Balibar, R. 847 Balog, A. 71 Balzac, H. de 754 Bammé, A. XVI, 50, 331, 340, 353-354, 356, 464, 632, 775 Bannister, R. C. 42-43, 157, 550 Barth, J. 861-862 Barthes, R. XVI, 61-62, 288, 711, 717, 759, 887, 896 Bartoli, S. 760 Bartonek, A. 205 Bast, R. A. 406 Bataille, G. 650, 948 Baudelot, Ch. 312 Baudrillard, J. 15, 16, 215, 245, 306, 378, 497, 547-548, 596, 673, 828-829, 831, 834, 854, 861, 868-903, 907-909, 912, 916, 919, 921, 925, 933, 935, 937, 943, 945, 970, 972 Bauer, B. 6 <?page no="1075"?> Personenregister 1059 Bauer, U. 769 Bauman, Z. XII, XV, 10-16, 107, 114, 215, 245, 340, 491, 497, 547, 651, 693, 806- 807, 810, 826, 828-830, 833-867, 869, 872, 879, 892-893, 896, 898, 900, 902, 904-905, 907-909, 916, 918-924, 931, 933, 935, 941, 943, 945, 949, 965-967, 972, 975-976, 981, 988 Baumann, M. 828, 910 Baumgarten, E. 425 Beck, U. XI-XII, 10, 29, 72, 108, 186, 396, 418, 452, 489-492, 772-778, 792, 794, 799, 803-829, 833, 835, 837, 839, 850- 854, 856-858, 864-867, 869, 871-872, 882-883, 892-895, 902-903, 905, 909, 933-939, 941, 943-944, 958, 966, 974- 979, 981-982, 988 Becker, J. 217, 237-240, 899-900 Becker-Schmidt, R. 217, 237-240 Beckett, S. 202 Beck-Gernsheim, E. 820, 821-822, 894 Beerhorst, J. 229, 231 Beilharz, P. 834 Bell, D. 47, 395, 432-434, 442, 673, 687- 688, 692, 917 Bellebaum, A. 341 Bendix, R. 404-405, 779 Benhabib, S. 219 Benjamin, W. 187, 205, 709, 859, 965, 982, 996 Benseler, F. 582 Bergfleth, G. 883, 884 Berg-Schlosser, D. 848 Berlin, I. 289 Berlusconi, S. 625, 746 Bernhard, Th. 503 Bernoux, Ph. 697 Bernstein, B. 400 Biasi, P.-M. de 712 Bickel, C. 332, 342-344, 349 Billig, M. 870 Bismarck, O. von 128, 927 Bittlingmayer, U. 392, 769 Black, M. 524, 527-528 Blair, T. 777, 803 Blanck, B. 582 Bloch, E. 35, 112-116, 120-121, 195 Blok, A. 443-475, 477-479, 488 Blomaert, J. 618 Blomert, R. 450, 471 Bloor, D. 589 Blumenberg, H. 379 Bobbio, N. 253 Bogdal, K.-M. 369 Bögenhold, D. 64 Bogner, A. 448, 573 Bogusz, T. 308, 323 Böhme, D. 760 Bohn, C. 737 Bohn, R. 881 Boisvert, Y. 864 Bonacker, Th. 647 Boni, C. de 169 Bonß, W. 408, 510, 788 Borchardt, K. 55, 404 Borkenau, F. 252 Börne, L. 842 Bottomore, T. B. 274 Bouchindhomme, Ch. 646 Boudon, R. 316, 750 Bouju, E. 715 Bourdeau, M. 150, 160, 165, 167 Bourdieu, P. XIV, 16, 22, 31, 41, 49, 61, 65, 109, 173, 212, 229, 351, 411, 428, 489-490, 497, 547, 550, 577, 588, 591, 632, 644, 681, 706-770, 773, 778, 781- 782, 784-785, 790-792, 801, 804-805, 822, 826, 886, 895-896, 955, 981, 983, 990-993 Bourseiller, C. 945, 967, 974 Bovenschen, S. 239 Boyne, R. 237 Boynton, R. S. 777 Bozzetti, M. 194 Bracher, K. D. 824 Brandt, Ch. XIII <?page no="1076"?> Personenregister 1060 Brankel, A. 158 Bräu, R. 481, 486 Braungart, W. 22 Brecht, B. 35, 593, 741, 756, 870 Brede, W. 208 Breton, A. 593, 741, 756, 759-760 Breuer, S. 446, 465, 818-819 Brnada, N. 892, 895 Broch, H. 421, 521-522, 528, 538, 602, 736, 775-776, 822, 933 Brock, D. 286, 366, 520 Bröckling, U. 485, 856, 946, 961 Brown, G. 803, 777 Brown, G. S. 581 Brueghel, P. 723 Brunkhorst, H. 621 Brunt, L. 475 Bryant, Ch. G. A. 777, 782 Bubner, R. 233 Bürger, P. 593, 896, 898 Burgess, A. 702 Burkart, G. 555, 565, 568, 616 Burnham , J. 250-251, 261, 272, 281 Burnier, M.-M. 177 Burns, T. XVI, 76, 78, 98, 919 Busino, G. 255, 264 Butler, J. 215, 223-226, 233, 238, 429, 554 Butzer, R. J. 938 Buxton, W. 496 Cabin, P. 709 Cahnmann, W. J. 358 Calhoun, C. 748 Callegaro, F. 297, 311 Calvino, I. 592, 653, 862, 900 Camus, A. 104, 327 Carnap , R. 61 Carnap, R. 42 Carretero Pasín, E. 965 Cassina, C. 167 Castlereagh, R. S. 127 Castoriadis, C. 835, 869-870, 873, 900- 902, 904 Castro, F. 701 Cavalli, F. 371, 445 Cervantes, M. de 952 Chamboredon, J.-Cl. 749 Champagne, P. 711, 714-715, 720, 790- 791 Chauvel, L. 718-719 Chriss, J. J. 539 Christian, P. 364, 583 Christin, R. 711, 770 Chvatík, K. 657 Cicero, M. T. 476 Clausen, L. 330, 334 Cœur, J. 245, 456 Coleman, J. 50 Collini, S. 289, 729, 792 Collins, R. 157, 285, 359 Colliot-Thélène, C. 397 Colucci, M 746 Comte, A. XV, 5-7, 11-12, 21, 40-42, 48- 49, 51, 53, 59, 63, 76, 103-105, 107- 108, 110, 113, 142-174, 177-182, 187, 190-192, 196, 201, 207, 212, 220, 227, 231, 244, 245, 247, 249, 251, 261, 263, 270-271, 283-287, 292-293, 295-296, 298-299, 301, 305-306, 309, 319, 321, 323, 327-328, 332, 342, 346, 358, 361- 363, 365-366, 368-369, 387-388, 395-396, 398, 420-422, 424, 431, 443- 444, 447-452, 456, 481-482, 487, 490- 491, 504-506, 520, 527, 529, 549, 568- 569, 615-617, 651, 660, 673, 717, 774, 778, 794, 799, 825, 828, 836, 838-839, 867, 876, 943, 953, 969, 995 Condorcet, M. J. A. 143, 146-148, 150- 151, 159, 177 Conze, W. 226, 252, 278 Cornell, D. 219 Cortella, L. 628 Coser, L. A. 339, 534, 535 Coseriu, E. 756 Courtés, J. 4, 53, 55-57, 89, 162, 350, 406, 483, 523, 525, 600, 740, 984 <?page no="1077"?> Personenregister 1061 Craib, I. 495-496 Crozier, M. 671, 698, 700, 702-705, 919 Curnier, J.-P. 897 Currie, G. 62 Czapska, M. 846 Czapski, E. 846 Dahme, H.-J. 328, 349, 363, 382, 388 Dahrendorf, R. 535 Dalai Lama 417 Dandeker, Ch. 517, 524, 792 Danesi, F. 899 Danto, A. C. XIII, 8, 47, 104, 218 Darbel, A. 724, 753 Darwin, Ch. 288-289, 568, 729 Dautry, J. 148 De Gaulle, Ch. 440, 520 Debord, G. 392, 887, 896 Defert, D. 941, 958, 962 Deleuze, G. 650, 872, 874-875, 942, 957 Delitz, H. 308 Deliz, H. 323 Delon, M. 807 Delors, J. 673 Demirovi , A. 37, 229, 231, 236, 946 Derrida, J. 222, 224, 226, 407, 645-646, 650, 664, 798, 874-875, 903, 942, 983, 984-985, 993 Descartes, R. 146, 163, 187, 454, 524, 829, 894, 945, 948, 968 Descombes, V. 578 Devereux, E. C. 524, 527-528 Dewey, J. 76-77 Dews, P. 197 Di Marco, G. A. 32 Diderot, D. 146, 153, 174, 245, 653, 807 Dieckmann, J. 583 Dillon, M. 1 Dilthey, W. 77, 250, 368, 405 Dimbath, O. 694 Dionysos 941, 944-945, 969-974, 979 Donskis, L. 860 Donzelot, J. 929 Dörr-Backes, F. 362, 370-371, 373 Dörre, K. 820 Dostoevskij, F. 181, 244, 284, 649, 742, 982 Dowd, D. F. 435 Dressel, G. 48, 364, 588 Dreyer, W. 362, 370-371, 373 Dreyfus, A. 255, 322 Dubar, Cl. 243 Dubet, F. 26, 219, 683, 703 Duby, G. 220 Duchamp, M. 593, 898 Ducrot, O. 60 Duerr, H. P. 443, 447, 474-475, 477-481, 488 Dupin, F. 145, 190 Durand, G. 944, 965 Durkheim, E. XV, 1, 5, 7, 10-12, 42, 49- 50, 59, 63-64, 76, 78, 84, 88, 103, 105, 110, 123-124, 132, 146, 150-151, 156, 174, 178, 181, 241, 245-248, 282-287, 293, 295-324, 327-334, 337-339, 341-342, 344-345, 351, 357, 359-361, 363, 365-366, 371, 374, 379, 385, 387- 389, 393, 395, 401-402, 411, 413, 420, 423, 431, 444-445, 448-449, 490, 496- 498, 503, 516-517, 521, 543-544, 547, 549, 559-561, 564, 573, 608, 614, 623, 636, 662, 671, 680, 684, 687, 692-693, 707-708, 717, 720-721, 729, 731, 736, 739, 741, 743, 765, 769, 771, 774-775, 779, 786, 792, 800, 820, 823, 901-902, 913, 926, 938, 967, 995 Duval, J. 714-715, 790-791 Duverger, M. 2 Dux, G. 47, 216, 218, 220-222, 241 Eco, U. XV, 16, 482 Eichmann, A. 465-466 Einstein, A. 61 Eisermann, G. 250, 264, 406 Ejchenbaum, B. M. 69, 298 Elam, D. 217, 223, 225, 235 <?page no="1078"?> Personenregister 1062 Elias, N. 8, 18, 21-22, 42-45, 136, 185, 223, 232, 336, 443-485, 487, 494, 529- 533, 544, 674, 717, 777, 981, 987 Engels, F. 10, 39, 65, 123-125, 128-129, 132, 136-137, 140, 148-149, 197-199, 207, 209, 225, 229, 246, 251, 271, 355, 402, 450, 800, 875, 878, 902, 953 Erhart, W. 418 Erikson, E. 906 Eßbach, W. 109 Esser, H. 51, 59 Establet, R. 312 Etzioni, A. XV, 157, 327-360, 685 Ewald, F. 941, 958, 962 Fähnders, W. 759-761 Farrugia, F. 332 Fauconnet, P. 283, 301, 302-304, 324, 371 Fechner, R. 329-330, 333, 341, 395 Fedi, L. 152, 153 Ferguson, H. 850, 851 Fern Haber, H. 226, 238 Feuerbach, L. 112, 146, 401, 714 Fichte, J. G. 111, 125, 195, 197, 598, 633 Finer, S. E. 255, 257 Fink-Eitel, H. 948 Firnhaber, E. 470 Fischer, I. 157 Fischer-Lescano, A. 603 Flaubert, G. 754, 758 Floreancig, T. 232, 760 Fontaine, J. 49 Foucault, M. XII, 15, 68, 226, 233, 369, 508, 548-549, 596, 650, 711, 828, 831, 872, 939, 941-965, 968, 970, 976, 978, 981, 988-989 Fourier, Ch. 399 Francblin, C. 870, 891 Franco, F. 272 François I 456 Frank, M. XIII, 37, 108 Fraser, N. 215, 219, 221, 226, 230-231, 234, 238, 240-242 Freeman, E. 993 Frenckel-Brunswick, E. 179 Freud, S. 61, 75, 79, 81, 155, 184, 223, 238, 245, 262-263, 410, 412, 418, 443, 469-474, 480, 488, 650, 780, 783, 797, 864, 908, 926-927, 931-932, 963 Frey, B. S. 666 Friedberg, E. 702-705 Friedeburg, L. von 613 Frisby, D. P. 368, 377, 387-389, 793 Frisé, A. 54, 165, 203, 390, 439, 663, 758, 775, 814 Fromm, E. 989 Fuchs-Heinritz, W. 157, 161, 717, 719, 732 Fuder, D. 881 Fügen, H. N. 755 Füllsack, M. 555, 608 Gadamer, H.-G. 68, 634-635, 639, 652 Galilei, G. 130, 896, 954 Gamm, G. 900 Garfinkel, H. 780 Garibaldi, G. 253 Gaspard, F. 26, 45, 215, 218-221, 227- 230, 235, 554, 683 Gaulejac, V. de 190, 918 Gauthier, X. 239 Gehlen, A. 15, 577, 692, 717, 731 Geiger, R. L. 302 Geiger, Th. 303 Geisenhanslüke, A. 369 Genette, G. XIV, 58, 73, 75, 122, 132, 684, 752 Gerhardt, U. 29, 372, 414, 535 Gerlach, E. 120 Gershwin, G. 723 Gertenbach, L. 80 Giard, L. 265, 948, 953, 959 Giddens, A. XI-XII, XV, 47, 299, 402, 489- 492, 497, 512, 519, 688, 772-810, 812, 816, 820, 822-825, 827, 829, 833, 836- 838, 850-858, 864, 866-867, 869, 881- 883, 892-895, 902, 912, 926, 933-934, <?page no="1079"?> Personenregister 1063 941, 943, 958, 966, 974-977, 981-982, 988, 996-997 Gide, A. 184 Giegel, H.-J. 568, 628 Gil, Th. 900 Gilbert, F. 268 Giolitti, G. 254-255, 267 Glasersfeld, E. 41 Gneuss, Ch. 30, 399, 422 Gnüg, H. 733 Goebel, G. 755 Goethe, J. W. 2, 217, 375, 503, 540, 827, 936 Goffman, E. XVI, 18-19, 55, 74-78, 85- 100, 370, 459, 554, 618 Goldmann, A. 715 Goldmann, L. XVI, 26, 34, 135, 178, 186, 211, 554, 557, 715, 802, 874, 919 Goll, Y. 756 Gorbatschow, M. 145, 495 Gorp, R. van 391 Gorz, A. 26, 134-135, 673, 802 Gottschall, K. 215-216, 228, 241 Gouhier, H. 147-148, 156, 164 Gouldner, A. W. 493, 496, 521, 533-539, 541, 543, 545, 582 Goya, F. 723 Grange, J. 147 Gregory, D. 87, 788 Greimas, A. J. XIV, XVI, 4, 19, 51, 53, 55- 57, 73, 75, 83, 100, 113, 115, 122, 126- 127, 131, 162-163, 183-184, 196, 231- 233, 257-258, 262, 267, 315-316, 320, 376, 406, 483, 522-523, 525, 527, 599, 601, 619-620, 635, 683, 685, 709, 731, 745, 802, 817, 913, 957, 971, 983-985, 991 Greiner, U. 924 Greshoff, R. XIII, XVI, 1, 104, 425, 562, 574-575, 579, 582, 588, 600, 955, 990 Grimm, K. 173, 605-606 Gripp, H. 581, 619 Gripp-Hagelstange, H. 581 Grünberg, C. 179 Gründer, K. 379 Gruschka, A. 217 Guggemos, M. 229, 231 Guillaume, M. 894 Gumbrecht, H.-U. 593 Günther, H. 35, 70, 298 Habermas, J. XI, XIII, 1, 8, 13-15, 26, 35, 47-48, 52-54, 68, 73, 100, 104, 173, 177, 195, 210, 216, 218-219, 230, 240- 241, 364, 381, 384-385, 438-439, 489- 492, 496-497, 547, 551, 570, 602-667, 671-674, 677-678, 682-683, 686, 691, 704-705, 710, 773, 778, 782-785, 788, 804-806, 815, 826, 828, 881, 905, 909- 912, 922, 929-930, 938, 943, 946, 955, 975, 981-982, 995 Hahn, M. 149 Halbig, Ch. 116 Halévy, D. 626 Haller, M. 3 Haller, R. 41, 73 Hamilton, P. 494, 497, 498 Hammer, H. 185, 462, 463, 464, 532 Handke, P. 82 Haneke, M. 899 Hanke, E. 28, 247, 403, 404, 469 Harrer, J. 339, 340 Harris, Z. 641 Hartmann, M. 273, 276 Haug, W. F. 138-139, 873, 887-888, 899, 921 Hauser, A. 367 Hegel, G. W. F. XI, XV, 6-7, 11, 21-25, 31- 32, 36-39, 50, 57, 67, 69, 71, 100, 103, 107-122, 125-127, 133, 135, 142, 144, 146, 152-153, 160, 162, 171, 177-181, 183, 185-186, 189, 191-198, 201, 205, 209, 212, 217, 224, 231-232, 245, 247, 249, 251, 257, 283, 298, 315, 318-320, 336, 352, 361, 363, 364-369, 381, 383- 385, 395, 400, 405, 437, 503-504, 506- 508, 528, 532, 534-535, 537-538, 542- <?page no="1080"?> Personenregister 1064 543, 547, 549, 551, 553, 555, 572, 598, 601-602, 609, 633, 647, 657, 662-663, 693, 704, 717, 719, 776, 798, 829, 833, 843, 869, 871-876, 896, 903, 906, 942- 943, 946, 950, 952-954, 956, 965-969, 972, 982, 986 Heidegger, M. 178, 199, 222, 237, 393, 446, 717, 892, 944, 966-967 Heintel, P. 280 Heise, M. 344 Held, D. 787, 788 Helle, H. J. 388 Heller, A. 628 Hellmann, K.-U. 553, 665, 703 Hennen, M. 408 Henrich, D. 422 Henry, P. 223, 339 Herborth, B. 644 Hielscher, K. 35, 70, 298 Hill, F. G. 435 Hill, S. 92, 404 Hillmann, G. 137, 410 Hillmann, K.-H. 27, 40, 92, 273, 414, 416, 457, 513 Hinz, M. 447, 459, 460, 480 Hirst, P. Q. 319 Hjelmslev, L. 202, 522 Hobbes, Th. 268, 284, 297-298, 327, 343, 352-355, 472, 500, 544, 560, 614, 960 Hobsbawm, E. 765 Hoebig, W. 881 Hofmann, I. 320-321 Hofmannsthal, H. von 435 Hogrebe, W. 233 Hölderlin, F 107 Hölderlin, F. 206, 758 Hollstein-Brinkmann, H. 583 Holquist, M. 2 Hölscher, Th 581 Homans, G. C. 978 Homer 762, 963 Honneth, A. 636 Hook, S. 121, 260 Horkheimer, M. XIV-XV, 12, 14, 16, 36- 38, 40, 52, 66, 71, 103, 105, 112, 167, 173, 175, 177-191, 194, 196-208, 211- 212, 215, 227, 237-239, 268, 287, 354, 361, 363, 389, 391-392, 394, 436-438, 463-464, 471, 473, 485, 492, 604-605, 607, 611-616, 625, 627, 631-633, 655, 662, 667-668, 674, 679, 682, 691, 758, 819, 833-834, 840-843, 860, 883, 902, 909, 945-947, 949, 965-966, 978, 987, 994 Hörning, K. H. 626 Horster, D. 100, 548, 664 Hughes, H. S. 87, 96, 254 Husserl, E. 13, 178-179, 547, 551, 555- 557, 566, 609, 612, 635-636, 678 Ihwe, J. 752 Irigaray, L. 222-225, 233, 235, 768 Jacobson, C. 716 Jacoby, E. G. 327, 333, 334, 355 Jahraus, O. 568 Jakobson, R. 556, 752 James, W. 50, 57, 76-77, 80, 250, 261, 317, 539 Jameson, F. 434, 827 Jander, S. 22 Jarvis, S. 197 Jary, D. 777, 782 Jaspers, K. 385, 494 Jaumann, H. 418 Jaurès, J. 63, 323, 334 Jay, M. 26, 178 Jenkins, R. 731 Jepsen, P. 184 Joas, H. 77-78, 84, 319, 636 Johannes, R. 108 Johnson, T. 517, 524, 792 Jourdain, A. 723, 731 Jullian, P. 733 Junge, M. 286, 365, 366, 371, 376, 520, 792, 835, 839, 840, 842 Jurt, J. XVI, 714-716, 723, 734, 741, 754, 758-759, 765, 900, 948, 949 <?page no="1081"?> Personenregister 1065 Juvan, M. 559 Kaesler, D. XIII, 29, 104, 108, 396, 421, 452 Kafka, F. 181, 184, 202, 252, 382, 390, 420, 756, 758, 775-776, 807, 811-812, 814 Kager, R. 204 Kant, I. 5, 23, 30, 69, 111, 125, 155, 158, 196-197, 283, 298, 315, 318, 358, 361- 362, 365, 368, 371, 373-374, 395, 400- 401, 405-406, 509, 525, 598, 623, 633, 637, 642, 679, 695, 717, 753, 829, 833, 838, 889, 922, 943, 949, 954, 965 Karádi, E. 367 Karsenti, B. 304-305 Kastner, J. 838, 852 Kaube, J. 30, 398 Kaufmann, F.-X. 470 Kaufmann, K. 22 Kaufmann, S. 80 Keller, R. 944, 971 Keller, Th. 972 Kellermann, P. 169, 172, 287, 295, 527 Kempen, B. 437, 486 Kepler, J. 953 Kernberg, O. 931-932 Kettler, D. 33-34 Keupp, H. 989 Khosrokhavar, F. 675-676, 680, 689- 690, 712 Kierkegaard, S. 117-118, 179, 821 Kilminster, R. 782 Kipfer, D. 186 Kippenberg, H. G. 734 Kiss, G. 633 Klagges, D. 95 Kneer, G. XI, 1, 559, 562, 571, 574-575, 608, 655, 736-737 Koch, A. M. 31, 418-419 Kocka, J. 30, 399, 422 Kögler, H.-H. 68, 954-955 Kohl, K.-H. 340 Köhler, E. 594, 595 Köhnke, K. Ch. 377, 793 Kohut, H. 938 Konersmann, R. 963 König, A. 717, 719, 732 König, R. 336 Kontos, S. 229-230, 235-236, 239 Kopernikus, N. 953 Korsch, K. 120 Korte, H. 481 Koselleck, R. 108 Kosík, K. 555, 559 Kott, J. 449 Kraemer, K. 881 Krähnke, U. 286, 364, 366, 520 Kramme, R. 375, 382 Krauss, H. 594 Krech, V. 371, 445 Kremer Marietti, A. 157-158, 163, 169- 171 Kristeva, J. 61, 559, 674, 676, 900, 982 Krivine, A. 889 Kucher, P. H. 280 Kuzmics, H. 448, 450, 471 Lacan, J. 79, 412, 556, 926-928 Laguiller, A. 889 Lahire, B. 756 Laing, R. D. 182, 223 Lakatos, I. 54, 645 Lamla, J. 787 Landmann, M. 368 Landshut, S. 24, 109, 119, 169, 229, 308, 356, 362, 401, 538, 714, 800, 851, 875 Lasch, Ch. 796, 864, 905, 908, 926-930, 933-934, 936-939 Lash, S. 492, 773, 778, 804, 808-810, 826, 982 Lau, Ch. 818, 819 Lawrence, D. H. 184 Le Bras-Chopard, A. 165 Le Breton, D. 905, 909, 930-933, 939 Le Goff, J. 916 Leader, Z. 127 Lebel, A. 672 <?page no="1082"?> Personenregister 1066 Leck, R. M. 366, 380, 384, 388 Lefèbvre, H. 721 Lefebvre, J.-P. 116, 870 Lefort, Cl. 673, 870 Legille, S. 141 Leibniz, G. W. 717 Lenin, V. I. 7, 35, 56, 137, 207, 418, 700- 701 Lenk, K. 34 Lepenies, W. 302, 358, 413 Lepsius, M. R. 439 Levinson, D. J. 179 Lévi-Strauss, Cl. 707, 710, 713, 716, 732, 784, 786 Lichtblau, K. 329, 425 Lichtheim, G. 450 Lieber, J. 658 Lindner, B. 186 Lindner, C. 407 Linkenbach, A. 635 Link-Heer, U. 948 Linton, R. 338-339, 357, 513 Lipovetsky, G. 824, 833, 863-866, 868 Liszt, F. 723 Littré, E. 162 Locke, J. 284, 289, 297-298 Loh, W. 582 Lojkine, J. 718 Löning, M. 470 Lonitz, H. 187 Lotman, J. 648, 994 Lovibond, S. 237, 239 Löwenthal, L. 196, 857 Löwith, K. 874 Lübbe, H. 94 Lübbe, S. 799 Lüdke, W. M. 186, 202 Ludwig XIV 446, 456, 487, 622, 687, 727 Ludwig XVIII 148-149 Luhmann, N. XI, XIV, XVI, 1, 8, 10, 21-22, 32, 35, 41-42, 44, 48-50, 52-54, 59- 60, 72-73, 84, 91, 100, 109, 140, 171, 286, 290, 390, 418, 489-491, 497, 501, 508, 515, 517, 523, 543, 545, 547-613, 615-619, 638-639, 641, 644, 647-648, 652, 660, 663-667, 671, 677, 683, 696- 698, 703-705, 707, 720, 723-724, 735- 739, 742, 745-746, 748-752, 754, 763- 764, 766, 771, 775, 790, 792, 807-808, 816, 831, 894, 902, 926, 955, 981-983, 989-991, 993, 995-996 Lukács, G. 25-26, 34-35, 37-39, 45, 50, 57-58, 99, 134-135, 178, 367-368, 376, 386, 675, 705, 834, 874, 973 Lukes, S. 308 Luna arskij, A. 69-70 Lyon, D. 340, 747, 850, 852, 855 Lyotard, J.-F. 10, 16, 103, 146, 181, 206, 226, 245, 247, 327, 491, 547, 617, 648, 650-653, 664, 673, 693, 794, 798, 806- 807, 810, 828-829, 833-836, 841, 843- 844, 864, 867, 870, 872, 874, 877-878, 882, 903, 908, 924, 941-942, 950, 965- 968, 971-972, 981, 993 Macherey, P. 116, 170-171, 187, 553 Machiavelli, N. 245-246, 250-251, 253, 257, 267-268, 282, 986 Macpherson, C. B. 353-355 Maffesoli, M. XIV, XV, 15-16, 76, 245, 306, 388, 497, 548, 596, 794, 806, 823- 824, 828-831, 834, 939, 941-945, 950, 965-978, 981, 988-989, 994 Maggiori, R. 871 Maio, G. 377 Major, R. 835, 947 Makropoulos, M. 949 Mallarmé, S. 203, 205-206, 210, 322, 735, 755-758, 760 Mallet, S. 26, 135 Malraux, A. 520 Manet, E. 735, 754 Mann, Th. 58, 123, 131, 179, 362, 421, 465-466, 811 Mannheim, K. 21, 32-34, 36-37, 45, 191, 367, 446, 481, 494 <?page no="1083"?> Personenregister 1067 Marcuse, H. 196, 210-211, 216, 395, 436-438, 440-442, 467, 605, 607, 616- 617, 673, 769, 876, 896, 936, 966 Marin, L. 98 Marinetti, F. T. 741, 759-761 Markovi , M. 112 Marquard, O. 94 Marshall, A. 497-498, 543-544 Martens, W. 562, 575 Martin, D. 236 Martin, J.-P. 712, 756 Martin, S. 236 Martínez, M. XIII Martuccelli, D. 87-88, 91, 96, 309, 380, 443, 564, 684, 789 Marx, K. XI-XII, XIV-XV, 5-7, 10-12, 21- 25, 27, 32-34, 36-39, 45, 48, 50, 53-54, 56, 61, 64-65, 76, 84, 103-105, 107- 114, 118-146, 148-150, 152, 159, 163, 165, 166-167, 169-174, 177-183, 185-186, 191, 194-195, 197-201, 206-212, 216, 219-220, 222, 225, 227- 229, 231, 235, 237, 240-241, 244-247, 249, 251, 253, 261, 264, 266, 268-269, 271, 281-282, 284-286, 291, 296, 308, 320, 323-324, 327, 329, 334, 341-343, 350, 352, 355-357, 361-362, 365-369, 373, 376, 379, 384-385, 388, 395-396, 398-402, 405, 413, 419-422, 424, 429, 431-432, 434-435, 441-442, 449-451, 456, 462, 490, 504-506, 516, 529, 535, 538, 549, 555-556, 558-560, 567, 569, 583-584, 605, 611, 613, 615-616, 627- 629, 650-651, 660,-663, 666, 671-673, 675-676, 696, 705, 707-708, 713-714, 717, 719-723, 763, 769, 773-775, 778- 779, 782, 792-793, 795, 797-799, 800- 801, 804, 815, 819, 828, 834, 836, 839, 851, 860, 867, 869-870, 873-876, 878- 879, 881, 885, 902-903, 906, 912, 926, 945, 951, 963, 966, 970-973, 981, 985- 986, 995 Marxismus XV, 7, 9, 12, 14, 18, 21, 25-27, 33-37, 40-41, 56, 58, 61, 63, 65, 70, 73, 105, 120, 126, 173, 175, 177-179, 186, 192, 197-198, 206-209, 212, 215-219, 223, 228, 230-231, 236-237, 240, 244, 249, 257, 263, 269, 282-283, 298, 319- 320, 390, 395, 399, 410, 421, 428, 441, 509, 536, 553, 560, 591, 613, 627-629, 642, 644, 661, 669, 671, 673, 674-675, 678, 705, 707, 756, 759, 774, 777, 786, 797-798, 828, 833, 835, 843, 864, 870- 871, 874, 876-877, 879-880, 906, 933, 942, 944, 951, 966, 971 Marxismus-Leninismus 10, 18, 35, 65, 208, 210, 951 Massin, C. 166 Masterman, M. 54, 645 Matthes, J. 15, 573, 875-876, 880, 890, 892, 902 Maturana, H. R. 550-551, 555, 556-557, 575, 609 Maurus, P. 760 Mauss, M. 283, 301-305, 318, 324, 371, 883 May, K. 88 Mayhew, L. H. 500 Mayo, E. 697 McCarthy, Th. 628 Mead, G. H. 19, 74-87, 100, 370, 451, 637 Meadows, M. S. 796 Meamber, L. A. 863 Meisel, J. H. 252, 254, 260-261 Meja, V. 33-35 Menzer, U. 382 Merquior, J. G. 953 Merten, R. 583 Merton, R. K. 110, 310, 550 Merz-Benz, P.-U. 348, 354 Meschonnic, H. 646, 664 Michaud, Y. 897, 898-900 Michel, K. M. 186 Michels, R. XII, XV, 226, 246, 249-253, 269, 278-282, 291, 440, 985-986 <?page no="1084"?> Personenregister 1068 Mills, C. W. XV, 249, 251, 253, 269, 273- 278, 282, 285, 535, 537-538, 543, 585, 746, 985-986 Mingardi, A. 288, 294 Mitchell, J. 223 Mitscherlich, A. 79, 927 Möckel-Rieke, H. 242, 244 Moebius, S. XI, XIII, 1, 11, 608, 655, 957, 972 Mohl, E. Th. 112 Moldaschl, M. 141 Mommsen, W. J. 30, 398, 404, 440, 730 Mongardini, C. 250, 260-261, 447, 455 Montaigne, M. de 5, 68, 99, 370, 552, 633, 759, 896 Montesquieu, Ch. de 63, 283, 296, 299- 301, 331 Montini, L. 256 Moore, B. 936 Moravia, A. 91, 821 Morin, E. 172, 673, 870, 944 Morris, Ch. W. 80 Mörth, I. 448 Mosca, G. XII, XV, 3, 246, 249-256, 260- 261, 268-279, 282, 285, 291, 294, 426- 427, 439, 584, 986 Moyar, D. 116 Mozeti , G. 126, 130 Muglioni, J. 158 Muka ovský, J. 82 Müller Rommel, F. 848 Müller-Doohm, S. 628, 631, 635, 647, 656 Münch, R. 31, 96, 138, 246, 267, 340, 423, 444, 499-500, 503, 518, 540, 580, 806- 807 Münz-Koenen, I. 195 Musgrave, A. 54, 62, 645 Musil, R. 54, 165, 181, 184, 203, 232, 327, 362, 364, 370, 390, 421, 439, 548, 588, 663, 758, 775-776, 807, 811-812, 814 Mussolini, B. 90, 252, 255-256, 263, 268, 272, 418, 759 Napoleon I 458, 927 Napoleon III 128, 167, 284 Narski, I. 208-209 Nassehi, A. 559, 568, 571, 574, 599, 723, 736-737 Naulin, S. 723, 731 Neckel, S. 190, 856 Negt, O. 144 Nerval, G. de 915, 948 Neurath, O. 73-74, 590, 647, 983, 994 Nevitt Sanford, R. 179 Neyer, J. 310-311 Nieder, L. 362, 370-371, 373 Niesen, P. 644 Niethammer, L. 692 Nietzsche, F. XI, 11, 15, 22-25, 32, 48, 63, 117-118, 136, 181, 184-185, 188-189, 245-246, 249-250, 257-258, 282, 316, 327, 350, 354, 362, 364-366, 368, 370, 383, 387-389, 393, 396, 427, 490, 588, 628, 649-650, 754, 775-777, 811, 821, 869, 871, 873-877, 892, 903, 942, 946, 948, 951, 963, 967-968, 970-972, 979 Nin, A. 232 Nisbet, R. A. 318 Nixon, R. M. 922 Nollmann, G. 723, 736, 737 Norris, Ch. 963 Nöth, W. 887 Novalis (F. von Hardenberg) 201, 915 Nungesser, F. 11 Nutzinger, H. G. 481, 483 Oakes, G. 28 Odysseus 182-183, 239 Oehler, Ch. 613 Oesterdiekhoff, G. W. 444, 448, 469 Oevermann, U. 217 Olmsted, M. S. 357, 978 Orwell, G. 535, 829, 891 Osterloh, M. 666 Owen, R. 125, 399 Panofsky, E. 717, 730 Pantaleoni, M. 262 <?page no="1085"?> Personenregister 1069 Pareto, V. XI-XII, XV, 3, 11-12, 15, 32, 41, 48, 64, 103, 174, 245-246, 249-270, 273-275, 277-279, 282, 285-286, 291, 294, 327, 362, 406, 410-411, 426-429, 490, 497-498, 517, 543-544, 652, 701, 716, 774-775, 825, 829, 968-969, 971, 981, 985-986 Park, R. E. 87, 357 Parsons, T. XV, 47, 64, 72, 81, 156, 169, 286-287, 290, 366, 423, 444, 488-491, 493-544, 547, 550-551, 558-564, 573, 574, 583, 585, 590, 594, 599, 609, 611- 613, 615, 618, 623, 636, 668, 672, 676- 677, 705, 746, 750, 779, 783-786, 791, 901 Passeron, J.-Cl. 71, 644, 728, 749 Paugam, S. 310, 317 Pêcheux, M. 61, 946, 954 Peel, J. D. Y. 286-288, 451 Peirce, Ch. S. 76 Péquignot, B. 155 Perrier, B. 972 Peter, L. 323 Petit, A. 152 Pfeiffer, K. L. 593 Piaget, J. 444, 955 Pialoux, M. 711 Pinto, L. 735, 763 Pirandello, L. 181, 232, 364, 370, 807 Pisani-Ferry, F. 151 Piwko, S. 849 Plato 243, 522, 535, 662 Platon 299, 843 Platt, G. M. 512 Pöggeler, O. 111 Poggi, G. 124 Pohlmann, F. 373 Poirier, N. 886, 890, 897 Pol Pot 172, 467, 987 Popper, K. R. 22, 42, 61-63, 68, 71, 73- 74, 171, 191-192, 367, 551, 589, 644- 645, 654-655, 661-663, 668, 877, 981, 990, 993-994 Prabhat, D. 308 Prien, T. 603 Priesching, M. 828 Prieto, L. J. 66-67, 70, 218 Prince, G. 59, 733 Prometheus 15, 104, 941, 945, 969-971, 974, 979 Proust, M. 184, 202, 362, 435, 733, 776, 811, 814, 915 Pyythinen, O. 375 Quante, M. 116 Quéré, H. 646 Raab, J. 77, 86, 97 Rabau, S. 62, 559 Rabinow, P. 942 Ragazzi, O. 687 Raible, W. 556 Ramadier, M. 855 Rammstedt, A. 375 Rammstedt, O. XVI, 303, 328, 343, 349, 363, 365, 375, 382, 388, 671, 698-702, 705, 775, 967 Ransmayr, Ch. 899-900 Rasch, W. 595, 748 Raspudi , N. 584 Rattansi, A. 237 Rauch, N. 899 Raulet, G. 941 Rawls, J. 643 Reckwitz, A. 957 Reese-Schäfer, W. 559, 606 Rehbein, B. 730, 768 Rehberg, K.-S. 446-447, 455, 465 Reich, A. 927 Reichel, P. 209-210 Reichenbach, H. 42 Renn, J. 573 Renner, K. 126 Renoir, A. 723 Rétif, F. 243 Richter, M. 317 Richter, R. 64-65 Rickert, H. 28, 30, 63, 399, 406, 446 <?page no="1086"?> Personenregister 1070 Riesman, D. 277, 821, 893, 906 Ritsert, J. 210, 397, 655 Ritter, J. 107, 385, 447, 456 Ritzen, J. 1 Rocard, M. 673 Rochlitz, R. 646 Rockmore, R. 627-628 Roether, J. 79 Rohlshausen, C. 210 Rohrmoser, G. 210, 216 Rommel, B. 755 Rosa, A. A. 367 Rosa, H. 508, 981 Rosenberg, A. 35 Rosenberg, B. 339, 535 Rothacker, E. 612 Rousseau, J.-J. 35, 63, 108, 153-154, 162, 166, 174, 177, 283, 296, 299-301, 352, 884, 914, 939 Rovatti, P. A. 838 Rudolph, G. 350, 354, 417 Ruge, A. 6, 109, 112 Runkel, G. 555, 565, 568, 616 Rutte, H. 73 Ryan, A. 62 Saint-Simon, Cl.-H. de 5-7, 10-11, 48, 54, 125, 143, 146-151, 154, 159, 161, 172, 270-272, 293, 323, 342, 399, 422, 778 Salamé, N. 872, 885, 894 Salamun, K. 71, 993 Sartre, J.-P. 117-118, 178, 210, 312, 509, 624, 672, 675-676, 680-681, 707-708, 712-713, 715, 717, 732, 765, 771, 821, 964 Sauer, B. 236 Saussure, F. de 54, 203, 298, 305, 401, 522, 540-541, 576, 597-598, 599, 657, 714, 784, 786-787, 885-886, 991 Schäfers, B. 445, 447, 460, 467, 472 Schaff, A. 675, 713 Scheler, M. 34, 629-630, 668 Schelling, F. W. 37, 107-108, 201, 612, 956 Schelting, A. von 35 Scherke, K. 11 Schiffer, W. XIII, 8, 47, 64, 75, 98, 104, 218, 447 Schimank, U. XIII, 71, 73, 104, 568, 588, 992 Schischkoff, G. 451 Schlaifer, S. 842 Schlechta, K. 22, 117, 184, 249, 362, 389, 427, 754, 776, 811, 874, 970 Schlegel, F. 37 Schlick, M. 42, 61 Schlieben-Lange, B. 761 Schluchter, W. 29, 131, 318, 399, 404, 406, 418, 440-441, 501, 509, 563, 637, 640, 659 Schmid, Th. 774, 777 Schmidt, A. 190, 200, 207, 604, 721 Schmidt, B. 858 Schmidt-Glintzer, H. 430 Schmiede, R. 130 Schmied-Kowarzik, W. 200 Schmitt, H.-J. 35 Schneider, W. L. 81, 588, 755 Scholze, B. 200 Schopenhauer, A. 245, 348 Schroer, M. 526 Schröter, M. 42, 445, 450, 465, 478 Schülein, J. A. 32 Schultheis, F. 711 Schütz, A. 13, 50-51, 81, 370, 409, 499, 612, 635, 678, 780 Schweppenhäuser, E. 108 Scotson, J. L. 458 Searle, J. 639, 646, 984, 985 Seghers, A. 35 Seitter, W. 957 Sennett, R. 141, 828-830, 857, 904-931, 933, 935, 937-938, 943, 967, 981, 996 Sewing, E.-A. 183 Shelley, P. B. 127 Shils, E. 550 Siep, L. 116 <?page no="1087"?> Personenregister 1071 Sigrist, Ch. 584 Šik, O. 403 Simmel, G. 11-12, 78, 85, 87, 103, 146, 178, 181, 245, 247, 282, 303, 328-329, 343, 349, 360-393, 395-396, 401, 406, 411, 418, 421, 424, 427, 431, 439, 443, 445, 447-449, 453-455, 460-461, 486-487, 490, 497, 504, 530, 534, 549, 574, 596, 714, 717, 774-775, 778, 793, 795, 820, 825, 828, 907, 944, 965-967 Simons, H. W. 870 Skala, D. 905-906, 910, 921, 924 Skinner, B. F. 42, 77, 81 Šklovskij, V. 69-70, 593, 594 Small, A. 87, 357, 550, 978 Smelser, N. 63-64, 534, 550 Smith, A. 158, 289, 295 Smith, D. 836 Smith, V. XVI, 745 Sohm, R. 417 Sohn-Rethel, A. 346, 565 Sombart, W. 421, 435, 494, 717 Sorokin, P. A. 779 Spaemann, R. 651 Spencer, H. 11, 17, 48, 76, 84, 105, 169, 180, 247-248, 283-300, 303, 305-307, 315, 317, 324, 327, 329-332, 346, 361- 362, 368, 388, 395-396, 398, 421-422, 431, 443-445, 447-452, 454, 487, 490- 491, 497, 504, 527, 529, 531, 549, 565, 568-569, 581, 613, 615-616, 651, 660, 673, 707, 717, 729, 730, 736, 743, 774, 825, 836, 839, 943, 958, 974, 995 Sperber, D. 49 Spinoza, B. de 553, 556, 566, 717 Spykman, N. J. 380 Srubar, I. 573, 596 Stalker, G. M. 919 Stanitzek, G. 550 Staub-Bernasconi, S. 583 Stauth, G. 427 Stefan I 916 Stehr, N. 33-35 Stempel, W.-D. 756 Stepnisky, J. 1 Stillich, S 796 Stirner, M. 6, 821 Strasser, H. 333 Strauß, J. 723 Strauss, L. 28, 786 Strehle, S. 884 Striedter, J. 70, 593-594, 760, 899 Stronach, F. 746 Sukale, M. 656 Süskind, P. 862 Sutton, P. W. 789-791, 794 Svevo, I. 184, 364 Talbot, M. M. 223 Tenbruck, F. 829-830 Terneau, A. M. 149 Ternes, B. 123 Tesnière. L. 55 Thatcher, M. 409, 860 Thompson, J. B. 628, 787-788 Thurlings, Th. L. M. 151 Tiedemann, R. 39, 155, 180, 183, 195, 205, 240, 859 Tieghem, P. van 47 Timasheff, N. S. 261 Tiryakian, E. A. 413 Tocqueville, A. de 124, 136, 234 Todorov, T. 4, 60 Tönnies, F. XV, 1, 5, 11, 156, 244-247, 325, 327-361, 363, 365-366, 375, 379, 385, 387, 388-389, 393, 395, 411, 416, 421, 447, 449, 490, 494, 499, 501, 503, 517, 521, 549, 614, 630, 638, 769, 775, 778-789, 793, 795, 820, 825, 845, 924, 967 Topitsch, E. 28, 408 Touraine, A. XVI, 13-15, 23-27, 45, 58, 64, 136, 212, 219, 226-230, 244, 281, 489-490, 492, 497, 547, 550, 632, 669, 671-705, 707-708, 710-713, 720, 750, 765-770, 784, 801-806, 827, 833, 835, 837, 851-854, 856, 871, 881-883, 893- <?page no="1088"?> Personenregister 1072 895, 941, 943, 974-977, 981, 988, 992, 996 Tournay, V. 577 Toussaint, E. 141 Trappe, P. 303 Treibel, A. 43, 240, 444, 450, 452, 458, 461, 471 Tripier, P. 155 Trockij, L. (Trotzki, L. ) 35, 69 Troger, V. 729 Tucker, R. C. 108, 136 Türcke, Ch. 108 Turgot, A. R. J. 150, 151 Turner, B. S. 92, 404 Turner, J. H. 77, 87, 94, 497 Tynjanov, J. 69, 760, 899 Tzara, T. 756 Utrillo, M. 723 Vaihinger, H. 95, 637 Valade, B. 301, 316 Valéry, P. 186, 202-203, 206, 322, 755 Van Gogh, V. 948 Varela, F. 550-551, 555, 556-557, 575, 609 Vattimo, G. 199-200, 237, 393, 829, 838, 877, 882, 892, 903, 945, 966-967, 972 Veblen, T. 148, 434-435, 717, 725, 879, 886 Venkatesh, A. 863 Verdi, G. 723 Vezér, E. 367 Vidal-Nacquet, P. 870 Viehöfer, W. 364, 588 Vischer, F. Th. 112, 117, 193, 194, 367 Vischer, R. 193 Vološinov, V. N. 642, 786 Voltaire 153, 162, 166, 174, 177, 245, 464 Voß, G. G. 141 Wacquant, L. J. D. 708, 716, 720, 721, 731, 736, 737, 738 Waentig, H. 144, 187 Wagner, G. 28, 169, 184, 190, 427, 856 Wagner, R. 927 Walkley, M. A. 228 Walther, L. 969 Wandruszka, U. 597 Ward, L. 550 Warhol, A. 898-899 Watson, J. B. 42, 77, 81 Watts Miller, W. 308, 316, 319, 388 Watzlawick, P. 44 Weber, A. 12, 34, 481-486, 488, 987 Weber, M. XV, 5, 7, 11-12, 18, 21-22, 24, 27-34, 36-37, 39, 41-43, 45, 50, 55, 61, 63-64, 81, 97, 103, 123, 127, 136, 138, 146, 174, 178, 181, 234, 241, 245, 247- 248, 263-265, 271, 282, 286, 328, 336- 337, 347, 362-363, 371, 373, 388, 394- 441, 443-444, 446, 448, 452-453, 459- 460, 462, 467-470, 477, 480-487, 490, 494-499, 503-504, 506, 524, 535, 543- 544, 567, 573, 578, 582, 599, 605-606, 615-616, 630, 652, 656, 658-659, 671, 674, 678, 687, 691, 694, 696-698, 707, 717, 720-722, 730, 734-736, 741, 746, 751, 771, 775, 778-781, 795, 800, 839- 842, 875, 905, 907, 912, 917, 944, 946, 949, 958, 965, 967, 971, 973-974, 981, 986-987, 990 Weingart, P. 140, 718-719 Weiß, J. 407, 412 Weiß, M. G. 838 Weiß, P. 870 Weisstein, U 48 Wellmer, A. 630, 631 Welsch, W. 15, 491, 653, 692, 806, 810, 830, 878 Weltz, F. 613 Wendling, A. E. 125 Wenzel, H. 81, 509, 563 Wenzel, U. 573 Wenzler-Stöckel, I. 335-336 Wierlacher, A. 573 Wieviorka, M. 26, 219, 685, 703 Wiggershaus, R. 178, 186, 207, 252, 613 <?page no="1089"?> Personenregister 1073 Wild, R. 465 Wilde, O. 435 Wilkes, J. 914, 922 Willmott, P. 134 Willms, J. 805, 812-813, 815 Wilson, D. 49 Winch, P. 258 Winckelmann, J. 27, 396, 407, 697, 967 Winkin, Y. 87 Winkler, M. 756 Wintels, A. 824 Winter, R. 392, 626, 819, 820, 957 Wissel, J. 236 Wolf, L. 862 Wolff, K. H. 76, 311 Wolff, R. P. 936 Woolf, V. 184, 370 Wouters, C. 475 Wrong, D. 534 Wundt, W. 77 Wussow, Ph. Von 205 Yoshimoto, R. 943 Young, M. 134 Zander, N. 333 Zenck, M. 196 Zenklusen, S. 717, 725-726 Ziegler, G. 589 Zijderveld, A. C. 577 Zima, P. V. 79, 573, 599 Zipprian, H. 28, 427 Žmegac, V. 449 <?page no="1090"?> Dieses Handbuch bietet eine Übersicht über die soziologische Theoriebildung der letzten 200 Jahre. Beginnend mit Hegel, Marx und Comte, werden zusammen mit den Klassikern (Durkheim, M. Weber, Parsons) und der Spätmoderne (Luhmann, Habermas, Touraine) die wichtigsten soziologischen Theorien bis hin zur Postmoderne (Baudrillard, Sennett, Foucault) behandelt. Dabei wird jeweils auch der historischphilosophische Kontext rekonstruiert. Anders als die meisten Einführungen in die soziologische Theorie hat dieser Band eine dialogische Struktur: Der Bezug der Theorien aufeinander lässt ihre Stärken, Schwächen und Besonderheiten hervortreten. Im metatheoretischen Dialog werden die kommentierten Theorien getestet. Sie werden konstruktivistisch als Erzählstrukturen aufgefasst, die aus besonderen, kontingenten Perspektiven hervorgehen. Die Kapitel verknüpfen jeweils vier Ebenen miteinander: Dialogizität, Narrativität, Terminologie und Historizität. Der Band wendet sich an fortgeschrittene Studierende und eignet sich hervorragend als Begleiter für das ganze Studium der Soziologie. Soziologie ,! 7ID8C5-cfdhah! ISBN 978-3-8252-5370-7 Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel